Marcus Balzereit Kritik der Angst
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Marcus Balzereit Kritik der Angst
Perspektiven kritischer Sozialer Arbeit Band 6 Herausgegeben von: Roland Anhorn Frank Bettinger Henning Schmidt-Semisch Johannes Stehr In der Reihe erscheinen Beiträge, deren Anliegen es ist, eine Perspektive kritischer Sozialer Arbeit zu entwickeln bzw. einzunehmen. „Kritische Soziale Arbeit“ ist als ein Projekt zu verstehen, in dem es darum geht, den Gegenstand und die Aufgaben Sozialer Arbeit eigenständig zu benennen und Soziale Arbeit in den gesellschaftspolitischen Kontext von sozialer Ungleichheit und sozialer Ausschließung zu stellen. In der theoretischen Ausrichtung wie auch im praktischen Handeln steht eine kritische Soziale Arbeit vor der Aufgabe, sich selbst in diesem Kontext zu begreifen und die eigenen Macht-, Herrschafts- und Ausschließungsanteile zu reflektieren. Die Beiträge in dieser Reihe orientieren sich an der Analyse und Kritik ordnungstheoretischer Entwürfe und ordnungspolitischer Problemlösungen – mit der Zielsetzung, unterdrückende, ausschließende und verdinglichende Diskurse und Praktiken gegen eine reflexive Soziale Arbeit auszutauschen, die sich der Widersprüche ihrer Praxis bewusst ist, diese benennt und nach Wegen sucht, innerhalb dieser Widersprüche das eigene Handeln auf die Ermöglichung einer autonomen Lebenspraxis der Subjekte zu orientieren.
Marcus Balzereit
Kritik der Angst Zur Bedeutung von Konzepten der Angst für eine reflexive Soziale Arbeit
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. 1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Stefanie Laux VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-16598-1
Inhalt
Vorwort................................................................................................................. 9 Einleitung .......................................................................................................... 11 „Die Angst“ – zur Aufgabe der Pädagogik ................................................ 17 1 Von der Schwierigkeit der Bedeutung oder: Zur Etikettierungsperspektive und deren Relevanz für die vorliegende Arbeit .......................................................................... 19 1.1 Voraussetzung: Erfahrung ................................................................. 19 1.2 Folge I: Erste Fragen.......................................................................... 19 1.3 Folge II: Reflexion und Theorie – Erörterung der Etikettierungsperspektive................................................................... 21 1.3.1 Ein kurzer Überblick ............................................................ 21 1.3.2 Zu den Grundlagen der Etikettierungsperspektive und ihrer Relevanz für die Analyse des Wissens über Ängste ......................................... 23 1.3.3 Zur Dimension der Definition und deren Inhalt................... 26 1.3.4 Zur Dimension der Macht .................................................... 30 1.4 Ein erster Schluss ............................................................................... 33 2 Von der Schwierigkeit professioneller Standards in der Sozialen Arbeit................................................................ 35 3 Von der Schwierigkeit eines angemessenen Begriffs der Gesellschaft oder: Zum Konzept der sozialen Ausschließung .......... 41 3.1 Einleitung ........................................................................................... 41 3.2 Zur Auseinandersetzung um „soziale Ausschließung“....................... 42 3.2.1 Zur Entdeckung des Begriffs der „sozialen Ausschließung“ ............................................. 42 3.2.2 Zu den (mindestens) zwei Varianten, „soziale Ausschließung“ zu denken ...................................... 43 3.2.3 Sozialer Ausschluss – zur Bedingung von Erwerbsarbeit ... 47 3.2.4 Selektion – zur Funktion von Schule ................................... 51 3.2.5 Zur professionellen Ideologie der Sozialarbeit und einem kritischen Konzept von sozialer Ausschließung ........ 55 3.2.6 Schluss ................................................................................. 57
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4 Zur Bedeutung der Unterscheidung von Angst und Furcht im Alltagswissen und in Angeboten der Philosophie .................. 59 4.1 Einleitung ........................................................................................... 59 4.2 Angst und Furcht im Alltagsverständnis ............................................ 59 4.3 „Die Angst“ bei Sören Kierkegaard ................................................... 63 4.4 „Die Angst“ bei Martin Heidegger .................................................... 73 4.5 „Die Angst“ bei Ernst Bloch .............................................................. 77 4.6 Fazit ................................................................................................... 80 5 Zur Enteignung philosophischer Konzepte „der Angst“ durch psychologische Theoriebildung .................................. 83 5.1 Sigmund Freud, die Psychoanalyse und „die Angst“......................... 84 5.1.1 „Die Angst“, die eine „Neurose“ sei, in Freuds früher Angsttheorie .............................................. 86 5.1.2 „Die Angst“, die eine „Neurose“ sei, in Freuds später Angsttheorie............................................... 91 5.1.3 Zur Bestimmung des Unbestimmten „der Angst“ bei Freud........................................................... 96 5.1.4 Zur Unterscheidung von Angst und Furcht bei Freud im Vergleich zu Kierkegaard, Heidegger und Bloch .... 97 5.1.5 Zur Bestimmung „der Angst“ in „Das Unbehagen in der Kultur“ ....................................... 98 5.1.6 Zur Bestimmung der vier Merkmale „der Angst“ bei Freud ......................................................... 104 5.2 „Die Angst“ bei Dieter Duhm .......................................................... 105 5.3 „Die Angst“ bei Holger Bertrand Flöttmann ................................... 111 5.4 „Die Angst“ bei Fritz Riemann ........................................................ 114 5.5 John Broadus Watson, der Behaviorismus und „die Angst“ ............ 118 5.5.1 „Die Angst“, die eine „Störung“ sei, im Behaviorismus.... 119 5.5.2 Zum Begriff der „operanten Konditionierung“ bei Burrhus Frederic Skinner und dessen Nicht-Bezug zu einem Willen ................................ 123 5.5.3 Zur Kritik am Behaviorismus ............................................ 125 5.6 „Die Angst“, die eine „Störung“ sei, im DSM-IV ........................... 128 5.7 „Die Angst“ in der Verhaltenstherapie am Beispiel der „Sozialen Phobie“ bei Stangier/Heidenreich/Peitz und der „sozialen Unsicherheit“ bei Petermann/Petermann............. 139 5.7.1 Zu den Gegenmitteln gegen „die Angst“, die eine „Störung“ sei .................................... 147
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6 „Die Angst“ in Ratgebern ......................................................................... 155 6.1 Einleitung ......................................................................................... 155 6.2 Welchen Rat man von einem Ratgeber (nicht) erwarten kann ...... 155 6.3 „Die Angst“, die zu „überwinden“ sei ............................................. 158 6.4 „Die Angst“, „die Anpassung“ und „das Glück“ ............................. 159 6.5 Zur Diskussion der Elternratgeber über „die Angst“ ....................... 163 6.5.1 Zum Suchen und Finden der Untersuchungsgegenstände .......................................... 165 6.5.2 Zum Bild des sich-ängstigenden Kindes – oder: Zum Zusammenhang von Angst und blonden Haaren ............... 168 6.5.3 Eine Typisierung der Eltern-Ratgeber zu „der Angst“....... 172 6.5.4 Die Vertreterinnen dieser drei Typen im Vergleich ........... 176 6.5.5 Die Ratgeber im direkten Vergleich .................................. 179 7 Resümee ..................................................................................................... 205 7.1 Einleitung ......................................................................................... 205 7.2 Rückblick ......................................................................................... 206 7.3 Schluss ............................................................................................. 213 7.3.1 „Die Angst“ als Aufgabe für Pädagogik und Soziale Arbeit ...................................... 214 Literatur .......................................................................................................... 221
Vorwort Im vorliegenden Buch, hervorgegangen aus meiner Dissertation im Fachbereich Erziehungswissenschaften der Universität Frankfurt, habe ich den Versuch unternommen, zurückzutreten und zu jenem eigentlich ganz und gar körper-nahen Thema Angst einmal weitgehend auf Distanz zu gehen. In der Folge können die verschiedenen Wissensangebote zu diesem Thema und deren jeweilige Prämissen und Folgen in den Blick geraten, können diese nachgedacht und auf ihren jeweiligen Nutzen hin geprüft werden. Die zu Tage geförderten unterschiedlichen Prämissen und Folgen sind es, die diese Untersuchung für die Arbeit in sozial-pädagogischen Berufsfeldern und für die Sozialarbeit, also für die Arbeit am Sozialen, gleichermaßen relevant machen. Angst kann in allen diesen Feldern ein Thema sein. Und weil diese Arbeitsfelder, weil institutionelle Erziehung, Sozialpädagogik und Sozialarbeit in der Praxis oft nicht mehr voneinander zu trennen sind, weil also die eine Tätigkeit, das eine Feld, in das andere übergeht, werden diese unterschiedlichen Begriffe in dieser Untersuchung synonym gebraucht bzw. nicht streng voneinander geschieden. Mit der theoretischen Besinnung auf ein kritisches Konzept sozialer Ausschließung einerseits und auf die Etikettierungsperspektive andererseits als zwei bedeutende Grundlagen reflexiver Sozialer Arbeit und Sozialpädagogik (vgl. Keckeisen 1974; Anhorn, Bettinger, Stehr 2008) erhält diese Untersuchung aber dennoch vor allem für die Praxis innerhalb der Berufsfelder der Sozialen Arbeit ihre besondere Bedeutung. Die dort tätigen Expertinnen und Experten für soziale Interaktionen und Situationen erhalten mit dieser Untersuchung ein Wissen an die Hand, das geeignet sein kann, einen weiteren dieser Arbeit zugrundeliegenden Anspruch einzulösen. Es gilt demnach das Wissen über Erziehung, Soziale Arbeit, Sozialpädagogik und insbesondere das Wissen über „abweichende Personen“ (und somit auch das Wissen über Angst), statt es als unverrückbare Wahrheit zu glauben, als Wissen zu wissen. Auf dieser Grundlage können Wissensangebote analysiert und auf ihre Folgen hin geprüft werden. Der in der Praxis Tätige, der nicht (mehr) an das Wissen über Erziehung und auch nicht (mehr) an das Wissen über Gefühle glaubt, kann und muss in der Folge selbst entscheiden, für welches Wissen (also für welche Prämissen und Folgen, Folgen auch und gerade für seine Klientinnen und Klienten) er sich entscheidet. Ich hoffe, dass in Bezug auf Angst die vorliegende Arbeit diesbezüglich eine Hilfe sein kann.
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Um Zurücktreten zu können, bedarf es unverstellter Räume. Danken möchte ich daher ganz herzlich jenen, die mich schon immer darin unterstützt haben, solche Räume zu finden, und, auch gemeinsam mit ihnen, zu nutzen. Bedanken möchte ich mich daher ganz besonders und zuallererst bei Christa Balzereit. Ein herzliches Dankeschön auch an Günter Balzereit, Antje Goy, Heike Wolf und Jörg Wolf. Für die konkrete Unterstützung an meiner Arbeit und Veröffentlichung, und für zahllose hilfreiche Anmerkungen und Verbesserungsvorschläge, bedanke ich mich bei Roland Anhorn, Simone Benz, Kristina Hambach, Michael May, Till Münzberg, Gerold Scholz und bei Johannes Stehr. Und ein ganz besonderer Dank für beides, Raum und Verbesserung, an Helga Cremer-Schäfer.
Einleitung „Die Angst kennt jeder“. Das ist eine erste Behauptung, wie sie so oder so ähnlich noch zu Beginn fast eines jeden Beitrags zum Thema zu lesen ist.1 Noch bevor die jeweiligen Autorinnen und Autoren ihre Leserinnen und Leser mit der näheren Ausführung dessen vertraut gemacht haben, was denn nun genau „die Angst“ bestimme und wie diese auszudifferenzieren ist, bevor diese ihren Leserinnen und Lesern also versucht haben beizubringen, was denn „die Angst“ ausmacht, wird bereits eine Übereinstimmung in der Kenntnis der Sache vorausgesetzt.2 Mit ihrem Wissen über „die Angst“ zielen die Autorinnen und Autoren in der Folge daher auch konsequent auf eine allgemeine Gültigkeit und Anerkennung ihrer jeweiligen Wissensangebote ab. Und in dem Maße, wie behauptet wird, dass ein Thema behandelt wird, das jedem geläufig sei, und das, in dieser so besprochenen Form, zumindest ähnlich, auch jeden beträfe, sollen diesem Wissen auch Aussagen entnommen werden können, dahingehend, was „der Mensch“ ist, und wie dieser seine Angst, die jedermanns Angst ist, zu deuten hat. Getroffen werden solche Aussagen vor einer Beschäftigung mit konkreten SichÄngstigenden, vor einer Beschäftigung mit ihren jeweiligen Interessen und ihren jeweiligen Situationen. Und doch soll hierüber jeweils etwas Gültiges ausgesagt 1
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Einige Sätze diesbezüglich seien zur Illustration dieser Aussage im Folgenden aufgeführt: „Die Angst selbst brauche ich Ihnen ja nicht vorzustellen; jeder von uns hat die Empfindung, oder richtiger gesagt, diesen Affektzustand irgend einmal aus eigenem kennengelernt“ (Freud 19161917: 407). „Jeder kennt Angst. Manchmal lässt sie einen nachts jäh aufschrecken“ (SchmidtTraub 2001: 15). „Es gibt wohl kaum ein Kind, das nicht von gewissen Ängsten heimgesucht wird“ (Zullinger 1966/1993: 7). „Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, Angst gehört zu den natürlichen emotionalen Phänomenen, die menschliches Leben begleiten“ (Ennulat 2001: 9). „Angst haben wir alle. Sie gehört zu unserem Leben“ (Niederle 2000: 7). „Jedes Kind hat zuweilen Angst. Das ist ganz normal“ (Stein 1996: 7). Die logische Konsequenz aus einer jeweiligen solchen ersten Annahme wird von den Autoren und Autorinnen allerdings nicht gezogen. Statt nämlich dann über Möglichkeiten der Auseinandersetzung über dieses „allseits bekannte“ Thema nachzudenken, oder gar die Erörterung an diesem Punkt wieder zu beenden, folgt von ihrer Seite stattdessen immer zunächst doch eine oft sehr ausführlich vorgenommene Klärung dieses eben noch als „bekannt“ vorgestellten Gegenstands. In dieser Arbeit wird erst wieder im Resümee auf eine sprachliche Nennung beider Geschlechter – immer dann also, wenn sowohl Frauen als auch Männer gemeint sind – Rücksicht genommen. Für die übrigen Kapitel gilt, dass in den Kapiteln 1, 3, 4 und 5 immer die männliche Form benutzt wird und Frauen mitgemeint sind. In den Kapiteln 2 und 6 hingegen ist es, aus Gründen der geschlechtergerechten Sprache, umgekehrt, hier wird immer die weibliche Form bemüht und Männer sind mitgemeint. Eine solche Vorgehensweise dient dem besseren Lesefluss und kann, in dem Maße, wie sie irritiert, auch auf das zugrundeliegende Thema der Nichtidentität von Wissen und Gestalt selbst, siehe hierzu Kapitel 1 und 2, verweisen.
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sein. Die Annahme, dass man also etwas darüber lernt, wenn man sich mit dem Wissen über „die Angst“ beschäftigt, was „der Mensch“ sei und wie er handeln solle, und dass man auch darüber etwas erfahren kann, in was für einer Welt er sich befände, steht am Anfang dieser Arbeit. Von diesen drei zu diskutierenden Fragen her: „Was ist der Mensch?“, „Wie soll er handeln?“ und „In was für einer Welt befindet er sich?“ (jeweils gemäß der Position der jeweiligen Autorinnen und Autoren) ergibt sich die Relevanz dieser Studie für eine kritische und reflexive Erziehungswissenschaft und Soziale Arbeit. Diese Fragen werden aus einer Position heraus formuliert, die sich unter anderem dadurch auszeichnet, bestehende gesellschaftliche Verhältnisse als zum einen „gemachte“ und zum anderen als dann auch „zu verändernd möglich“ zu begreifen. Mit einer solchen Position soll in dieser Arbeit angeknüpft sein an eine Einsicht, wonach „[...] Pädagogik – sowohl in ihrer praktischen wie in ihrer erziehungswissenschaftlichen Gestalt – innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft in der Regel in Form eines Systems affirmativer Handlungs- und Erkenntnisregeln aufgetreten ist. Sie hat sich keine theoretische Basis verschaffen können, von der her es möglich gewesen wäre, das bestehende System pädagogischer Distributionen – der Verteilung von Lebenschancen nach Maßgabe geltender und materiell fundierter Herrschaftsbeziehungen – so strikt zu analysieren, daß das Denken einer gesellschaftlichen Alternative notwendig zu ihrem Geschäft gehörte“ (Mollenhauer 1972: 9).
Die Behauptung, dass „die Angst“ jede und jeder kennt, wird in der vorliegenden Arbeit daher nicht geteilt. Im Gegenteil wird stattdessen angenommen, dass man „die Angst“, als einen jeweils abstrakt gefassten, aber doch nur konkret möglichen Zustand jeweiliger Menschen, vor einer Beschäftigung mit ihrer jeweiligen Bestimmung, nicht kennt. In der Folge können dann bereits auf den ersten Blick sehr verschiedene Wissensangebote über „die Angst“ selbst einer vergleichenden Analyse zugeführt werden. Theorien über „die Angst“ finden sich vor allem auf Seiten philosophisch als auch psychologisch orientierter Autorinnen und Autoren. Die unterschiedlichen Bestimmungen, Grundlagen, Prämissen und Zwecke innerhalb dieser Wissensangebote sind das Thema dieser Studie. Diese bezieht sich also auf das Wissen über „die Angst“ und handelt von Interessen und/oder Positionen der jeweils über „die Angst“ schreibenden sozialen Akteure. Der Blick richtet sich somit weniger auf das Phänomen als solches als vielmehr auf das zur Beschreibung dieses Phänomens produzierte Wissen, auf Kategorisierungen, Definitionen, Klassifikationen, Erklärungen und auf Theorien. Die Untersuchung zielt also weniger auf Emotion und Affekt, denn auf verschiedene Versuche einer Rationalisierung eines letztlich nicht zu begreifenden Gefühls. Dies geschieht, um in der Folge – das ist das Interesse des Autors dieser Arbeit – Festschreibungen von Bedeutungen „der Angst“ einer erneuten oder auch erstmaligen Verhandlung über ihre jeweilige (Un)Angemessenheit zuführen zu kön-
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nen. Der dieser Untersuchung zugrundeliegende Gegenstand, nämlich ein in einer je bestimmten Weise sehr unterschiedlich konzeptualisierter Zustand von Menschen, wird von den Autorinnen und Autoren zumeist übereinstimmend, der Unterschiede zum Trotz, gleichermaßen bloß als „die Angst“ bezeichnet. Es wird ihnen, der Vereinfachung des Leseflusses wegen, darin zumeist gefolgt. Wegen der eingenommenen Distanz zum Wissen über diesen Zustand, weil also mit dieser Untersuchung ein Wissen über das Wissen über „die Angst“ vorliegt, ist der behandelte Gegenstand hierin immer in Anführungszeichen gesetzt – ist also immer „die Angst“. Hierzu im Verhältnis steht die in dieser Untersuchung verwendete Bezeichnung für jene Personen, die mit diesem Wissen über „die Angst“ gemeint sein sollen – die „Sich-Ängstigenden“. Die Autoren und Autorinnen verwenden hierfür zumeist die beiden Bezeichnungen „die Ängstlichen“ und „die Einzelnen“. Diese Bezeichnungen weisen den als betroffen beschriebenen Personen „die Angst“ als eine zumeist dauerhaft ihnen innewohnende Eigenschaft zu. Und speziell die Bezeichnung „die Ängstlichen“ ermöglicht es, darunter alle diese Personen unterscheidenden Merkmale, Eigenschaften, Interessen, Bedürfnisse, ihre jeweils unterschiedlichen Situationen zu subsumieren und argumentativ einzuebnen. Dagegen soll in dieser Arbeit mit der Verwendung der Bezeichnung des und der Sich-Ängstigenden zuallererst auf die gemeinten Personen als jeweils nur singulär existierende Personen selbst verwiesen sein, mit denen, „ihrer Angst“ wegen, jeweils etwas abstrakt bestimmtes geschieht bzw. besser: geschehen soll. Aber wer sagt diesbezüglich nun was genau und mit welchen Folgen für wen aus? Was also wird darüber ausgesagt, dass und warum es mit den SichÄngstigenden geschehe und wie sollen sie in der Folge ihrer Angst handeln? Ein Erkenntnisgewinn bezüglich dieser Fragen ergibt sich aus der Perspektive auf das zugrundeliegende Material. Um sich der Vielgestaltigkeit des Wissens über Angst systematisch, analytisch und methodisch annähern zu können, wurde eine Perspektive gewählt, die drei Zugänge vereint. Diesen Zugängen kann als ein Gemeinsames ein Interesse des Reflektierens über Grenzen entnommen werden. Insofern sind Fragen nach Grenzen und (Un-)Möglichkeiten von Wissen einerseits, von Handeln-Können und Nicht-Handeln-Können in den herrschenden Verhältnissen andererseits, zentrale Aspekte dieser Studie. Dem- oder derjenigen, der oder die über „die Angst“ schreibt, kann unterstellt werden, dass er oder sie damit auch ein bestimmtes eigenes Interesse, oder ein der sozialen Position, von der aus er oder sie schreibt, entsprechendes Interesse verfolgt. Zur Begründung dieser Annahme und zur Explikation dieser Interessen ist die Analyse des Materials vor dem Hintergrund der Etikettierungspers-
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pektive vorgenommen worden. Eine Darstellung dieser Perspektive und ihrer Relevanz für die vorliegende Untersuchung erfolgt im ersten Kapitel. Wissen über „die Angst“ beinhaltet immer auch eine Bestimmung „der Angst“ als ein Zustand, dem eine Unbestimmtheit hinsichtlich fehlender real gefährlicher Objekte zukommt. Es ist, so betrachtet, auch ein Wissen über das mit „der Angst“ einhergehende Nicht-Wissen. Davon, wie diese Ungewissheit „die Angst“ betreffend überbrückt wird, hängt es wesentlich ab, welche Handlungsvorschläge in der Folge den Sich-Ängstigenden gemacht werden. Das berührt einen Aspekt, der für eine erziehungswissenschaftliche Arbeit und eine sozialarbeiterische Praxis von besonderer Relevanz sein muss. Dies nämlich, insofern angenommen wird, dass – sowohl in der pädagogischen Arbeit mit Kindern als auch mit Jugendlichen – einer Angst eines Zöglings bzw. der einer Klientin oder eines Klienten in der Sozialen Arbeit regelmäßig eine besondere Bedeutung zukommen kann. Welche Aussagen genau lassen sich dazu machen, was ein jeweiliges Wissen über „die Angst“ für eine pädagogische Interaktion bedeutet? Eine Erörterung der Position Michael Wimmers hierzu geschieht im zweiten Kapitel. Wissen über „die Angst“ thematisiert immer auch, explizit oder implizit, ein bestimmtes Verhältnis des Sich-Ängstigenden zu der ihn umgebenden Situation und/oder der ihn umgebenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Es wird mittels dieser Wissensangebote implizit oder explizit immer auch deutlich gemacht, welche Verhaltensweisen in der Folge einer Angst als „normal“ und „nichtgestört“, und welche Verhaltensweisen als „abweichend“ und als „gestört“ verstanden werden sollen. Diesen Wissensangeboten lassen sich also sowohl bestimmte Verhaltensanforderungen und Verbote als auch Annahmen darüber, wie die Situation der Sich-Ängstigenden zu verstehen sein soll, entnehmen. Zum Zwecke der Einordnung entsprechender Aussagen geschah die Analyse des Materials auch vor dem Hintergrund eines ausgewählten Aspekts einer kritischen Theorie von Gesellschaft. Eine diesbezügliche Ausführung von Konzepten der „sozialen Ausschließung“ findet im dritten Kapitel statt. Eine Geschichte des Wissens über „die Angst“ zu entfalten und die jeweiligen Zusammenhänge und Entwicklungen detailliert darzulegen, kann hier nicht geleistet werden; eine solche Geschichte wäre noch zu schreiben. Der Anspruch, der dieser Studie zugrunde liegt, ist wesentlich bescheidener. Es wird sich hierin nämlich beschränkt auf eine Diskussion einiger ausgesuchter – einerseits maßgeblicher, andererseits möglichst unterschiedlicher – Angebote dazu, was „die Angst“ jeweils sein soll. Maßgebliches Wissen zu diskutieren bedeutet hierbei, solche Autorinnen und Autoren in den Blick zu nehmen, von deren Arbeiten eine jeweils bestimmte und aktuell noch fortdauernde Art des Nachdenkens über „die Angst“ ihren Anfang nahm. Dass das Wissen über „die Angst“ ein Wissen dar-
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stellt, das jeweils bestimmten Autorinnen und Autoren zuzurechnen ist und das somit auch vor dem Hintergrund ihrer sozialen und theoretischen Positionen und Interessen verstanden werden kann, dass also Wissen über „die Angst“ immer auch ein in einer besonderen Weise „gemachtes“ Wissen und kein „naturgegebenes“ ist, wird hierdurch besser nachvollziehbar. Die Relativität und Nichtbeliebigkeit eines jeglichen Wissens über „die Angst“ kann dann jeweils noch einmal umso mehr herausgestellt werden, als zusätzlich noch Wissensangebote diskutiert werden, die sehr eigene und auch abweichende Vorstellungen darüber enthalten, was „die Angst“ denn nun eigentlich genau sei. Am Beginn der Auseinandersetzung über das Wissen über „die Angst“ steht zunächst eine Übersicht über die Verwendung der Wörter „Angst“ und „Furcht“ im Alltagsverständnis und im allgemeinen Sprachgebrauch in Kapitel 4.2. Es kann hierin dargestellt werden, dass die maßgeblich von Seiten des dänischen Philosophen Sören Kierkegaard vorgenommene Unterscheidung in „Angst“ einerseits und in „Furcht“ andererseits im Alltagswissen selbst nicht angelegt war. Für die von Kierkegaard dergestalt vorgenommene Unterscheidung können daher im Kapitel 4.3 dann tatsächlich auch ganz andere Gründe expliziert werden. „Die Angst“, die unbestimmt sei, was bei ihm nicht „nicht zu bestimmen“ bedeutete, verwies auf einen Gott, zu dem er seine Leserinnen und Leser hinzuführen gedachte. Dass mittels einer solchen Unterscheidung in eine unbestimmte Angst einerseits und in eine konkrete Furcht andererseits auch deutlich andere Ziele verfolgt werden können, wird in den beiden nächsten Kapiteln deutlich. Während diese Unterscheidung bspw. Martin Heidegger dazu dienlich war, sehr grundsätzlich und von konkreten Bestimmungen real existierender gesellschaftlicher Verhältnisse unabhängig, auf ein immer währendes „Sein“ zu verweisen (Kapitel 4.4), galt „die Angst“ Ernst Bloch zuallererst als die zu bestimmende notwendige Furcht der Sich-Ängstigenden im Kapitalismus; dies zum Zwecke einer Veränderung der sie umgebenden real existierenden gesellschaftlichen Verhältnisse (Kapitel 4.5). Die bereits stattgefundene Bestimmung eines Zustands namens „die Angst“ als (zunächst) unbestimmt wird dann zuerst im Kapitel 5.1 als eine Gelegenheit für den Begründer der Psychoanalyse – Sigmund Freud – interpretiert, eine ihm und seiner Position entsprechende Möglichkeit einer Wiederbestimmung anzubieten. „Die Angst“ verweist nun ganz auf die Welt in den Sich-Ängstigenden selbst, auf deren Psyche und auf deren innere Konflikte. Dass das Nachdenken über eine Bestimmung des Unbestimmten „der Angst“ als eine schwierige und nicht einfach zu lösende Aufgabe bezeichnet werden kann, wird an Freuds eigenen Theorieangeboten hierzu deutlich. Eine frühe Angsttheorie (Kapitel 5.1.1) kann von einer späteren unterschieden werden (Kapitel 5.1.2); und war ihm „die Angst“ zu Beginn noch ein Ergebnis einer Art Vergiftung im Körper des Sich-
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Ängstigenden, so weiß Freud zuletzt auch ein bestimmtes Verhältnis von „Einzelnen“ zu der sie umgebenden Kultur als einen Grund „der Angst“ anzugeben (Kapitel 5.1.5). Im Nachgang zu Freuds Angsttheorien lassen sich wiederum sehr unterschiedliche konzeptuelle Fortentwicklungen identifizieren. Nur drei werden hier dargestellt. Während Dieter Duhm als Ziel eines Nachdenkens über „die Angst“ die Revolution im Kapitalismus kennt (Kapitel 5.2), weiß Holger Bertrand Flöttmann um die Notwendigkeit, den jeweiligen Symbolgehalt „der Angst“ zu deuten (Kapitel 5.3); Fritz Riemann schließlich diskutiert „die Angst“ vor dem Hintergrund und der Notwendigkeit einer kosmischen Ordnung (Kapitel 5.4). Eine Radikalisierung jener Bestimmung „der Angst“ als unbestimmt wird im Wissen über „die Angst“ bei John B. Watson vorgenommen, also innerhalb des von ihm maßgeblich begründeten Behaviorismus (Kapitel 5.5). Während gemäß der anderen Konzepte immer noch eine jeweils besondere Qualität an „der Angst“ festzustellen möglich ist, verweist „die Angst“ als eine radikal unbestimmte Angst nun bloß noch auf sich selbst als eine „Störung“, die es zuallererst einmal wegzumachen gilt. Zugunsten des Versuchs, allgemeine Ursachen „der Angst“ zu erklären, wird auf Vorschläge, „die Angst“ jeweils im Besonderen zu verstehen, keine Rücksicht mehr genommen. Des ganz besonderen ideologischen Nutzens wegen, den dieses Nachdenken über „die Angst“ mit sich bringt, wird direkt im Anschluss hieran eine Diskussion dieses Wissens vorgenommen (Kapitel 5.5.3). Eine besondere Radikalisierung in Hinblick auf eine allgemeine und weltweit Gültigkeit beanspruchende Standardisierung erfährt „die Angst“ mittels zweier Klassifikationssysteme: zum einen jenes der Amerikanischen Psychiatervereinigung (APA), mit dem von ihr herausgegeben DSM-IV, zum anderen mit der von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebenen ICD 10 (Kapitel 5.6). Im Anschluss hieran werden entsprechende von wissenschaftlicher Seite vorgenommene Vorschläge gegen „die Angst“ diskutiert. Schließlich kann dann auch der Einfluss dieser von wissenschaftlicher Seite vorgenommenen Konzepte „der Angst“ auf Autorinnen und Autoren von Ratgeberliteratur der letzten 61 Jahre, und auf das hierin zu findende Wissen, systematisch untersucht werden (Kapitel 6). Ein besonderer Schwerpunkt wird hierbei auf Ratgeber gelegt, die „die Angst“ von Kindern zum Thema haben, und die deren Eltern als Zielgruppe erreichen wollen. Die Frage, was genau den Kindern in Folge einer bei ihnen festgestellten Angst von ihren Eltern beigebracht werden soll und wie und zu welchem Zweck dies geschehen soll, steht hierbei im Mittelpunkt der Analyse im achten Kapitel. Ein Resümee schließlich fasst zunächst noch einmal die wesentlichen Ergebnisse der einzelnen Kapitel zusammen (Kapitel 7). Und es schließt mit eini-
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gen ganz praktischen Vorschlägen hinsichtlich dessen, was nun nach einem solchen kritischen Durchgang durch die Literatur zu tun möglich wäre. Vor dem Hintergrund des diskutierten Wissens über das Wissen über „die Angst“ wird erörtert, was es für eine professionelle Beziehung in der Sozialen Arbeit bedeuten könnte, sowohl „der Angst“, über die dergestalt nun etwas gewusst wird, als auch der je konkreten Angst eines je konkreten Menschen zu begegnen (Kapitel 7.3.1). „Die Angst“ – zur Aufgabe der Pädagogik Würde man die Intensität der professionsinternen Diskussion über Angst bei Kindern und Jugendlichen in einschlägigen Fachzeitschriften in den letzten Jahren zum Maß der Bedeutung dieses Themas für die Arbeit von Pädagoginnen und Sozialarbeitern machen, so müsste man feststellen, dass Angst in deren Arbeit eine nur geringe Rolle spielt.3 Es finden sich in diesen Zeitschriften nur sehr wenige Artikel, die sich explizit mit Angst auseinandersetzen. Lediglich in Zeitschriften für Kindergärten finden sich unregelmäßig einige Beiträge hierzu. Es sind andere Wissenschafts-Fraktionen, vor allem die Psychologie, die sich mit diesem Thema zurzeit gesellschaftlich „erfolgreich“ und anerkannt beschäftigen. Und diese Entwicklung wurde von pädagogischer Seite noch nicht aufgegriffen, geschweige denn problematisiert. Es sei daher an dieser Stelle das Wortspiel erlaubt, dass „die Angst“ zweimal eine Aufgabe darstellt: sie kann nämlich verstanden werden als eine „für die“ Pädagogik und als eine „der“ Pädagogik. Einmal ist sie eine Aufgabe insofern, als der Pädagoge oder die Sozialarbeiterin in seiner und ihrer jeweiligen praktischen Arbeit immer wieder konfrontiert sein wird mit je konkreten Ängsten eines jeweiligen konkreten Gegenübers; zum anderen kann „die Angst“ als das verstanden werden, wovor die Pädagogik aufgegeben zu haben scheint, insofern eben eine eigene Auseinandersetzung hierü3
Kein expliziter Beitrag über „die Angst“ zwischen 2000 und 2006 findet sich in den Zeitschriften: „Bildung und Erziehung“, „Pädagogische Rundschau“, „Zeitschrift für Pädagogik“, „Neue Praxis“, „Soziale Welt“. In der „Welt des Kindes“ findet sich der Titel: „Angst zu verbergen führt in eine Sackgasse“ (Ausgabe 4/2002); In der Zeitschrift „kindergarten heute“ finden sich unter der Rubrik „Psychologie für die Praxis“: „Das Monster unterm Bett“ Teil 1 (Ausgabe 5/2001) und Teil 2 (Ausgabe 6/2001), „Wohin mit der Angst“ (Ausgabe 2/2002), „Marcel ist extrem schüchtern“ (Ausgabe 5/2005) und „Warum fürchtet sich Hannes so sehr?“ (Ausgabe 10/2005). In der Zeitung „Pädagogik“ finden sich in der Ausgabe4/2005 zwar ein Thema „Krisen Unfälle Reaktionen Hilfe“ und hierzu auch sieben Artikel, aber interessanterweise steht nicht eines unter einer Überschrift, in der das Wort „Angst“ auftaucht. Stattdessen finden sich bspw. Titel wie: „Wir müssen nicht alle Antworten kennen…“ oder „Junge Menschen stark machen gegen Widrigkeiten und Belastungen“.
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ber – also sowohl über das Wissen über „die Angst“ als auch über das Phänomen selbst – innerhalb der Disziplin nicht bzw. in nur geringem Maße stattfindet. Die Veröffentlichungen der letzten Jahre zum Thema Angst lassen den Schluss zu, dass „die Angst“, bezogen auch auf Kinder und Jugendliche, zur Zeit vor allem von kognitiv-verhaltenstherapeutisch ausgerichteten Autorinnen und Autoren als ein Problem individueller innerpsychischer „Störungen“ thematisiert und bearbeitet wird. Dafür stehen zwei diesbezüglich typische Veröffentlichungen: „Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen“ (Schneider 2004) und „Angst bei Kindern und Jugendlichen“ (Essau 2003). Letztere will einen „umfassenden Überblick über den derzeitigen Forschungsstand“ geben. Von einer zumindest quantitativ gleichgewichtigen Bearbeitung verschiedener Zugänge kann dann aber nicht die Rede sein. Psychoanalytischen Erklärungsmodellen bspw. widmet Essau genau eine Seite, fast die gesamte Abhandlung beschäftigt sich mit verhaltenstherapeutischem Wissen. Dass heißt „die Angst“ wird hierin vorrangig als ein individuelles, innerpsychisches und mittels Verhaltenstraining zu lösendes Problem von Personen verstanden. Angst und „Angststörung“ werden in der Folge regelmäßig synonym verwandt. In einer solchen regelmäßig und in letzter Zeit vermehrt auftauchenden, tendenziösen Darstellung des Wissens über „die Angst“ liegt ein wichtiger Grund dafür, dass die mit Angst verbundene Vielfalt des Nachdenkens in dieser Studie einmal mehr berücksichtigt wird. Dies geschieht verbunden mit dem Interesse, dass Bedeutungen und Definitionen „der Angst“ – wie bereits erwähnt – in der Folge vielleicht einer erneuten Verhandlung über ihre jeweilige (Un-)Angemessenheit zugeführt werden können. Konjunkturen der Gegendiskurse zum herrschenden Wissen über „die Angst“, eine kritische Problematisierung des Verhältnisses von individueller Angst und gesellschaftlichen Widersprüchen oder doch zumindest Versuche einer differenzierten Darstellung, finden sich vor allem in den späten sechziger und Anfang der siebziger Jahre. Hierfür stehen z.B. der Sammelband „Die politische und gesellschaftliche Rolle der Angst“ (herausgegeben von Wiesbrock 1967), aber auch Peter Brückners Veröffentlichung „Zur Sozialpsychologie im Kapitalismus“ von 1972. Einen differenzierten Überblick über das Thema versuchen 1971 die Autoren Von Baeyer und Von Baeyer-Katte ihren Leserinnen und Lesern zu geben. Sowohl philosophische, physiologische, soziale als auch psychopathologische Aspekte der Angst werden von ihnen behandelt. In aktuelleren Veröffentlichungen findet sich eine Problematisierung des Verhältnisses von Angst und gesellschaftlichen Widersprüchen nur noch selten, typisch hierfür z.B. die Thematisierung bei Klaus Horn in „Psychoanalyse und gesellschaftliche Widersprüche“ (vgl. Horn 1998). Eine differenziertere Darstellung des Themas findet sich auch bei Bauer/Albertz (Hrsg.) in „Aspekte der Angst in der Therapiegesellschaft“ (1990).
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Von der Schwierigkeit der Bedeutung oder: Zur Etikettierungsperspektive und deren Relevanz für die vorliegende Arbeit
1.1 Voraussetzung: Erfahrung Angenommen, ein Mensch, von einer Angst gestört, überlegt: Was ist zu tun? Vielleicht macht er sich eigene Gedanken über sich und seine Situation. Oder er wird sich – wenn ihn eine Angst eines anderen stört, weil er sich für diesen verantwortlich weiß – Gedanken über diesen und dessen Situation machen. Vielleicht kommt er für sich und/oder für diese anderen zu einem (für alle Beteiligten) befriedigenden Schluss. Vielleicht aber sucht er stattdessen Rat bei einem Experten. Welchen könnte er finden? Würde ihm dann beschieden, die vorliegende Angst sei „begründet und normal“ oder „nicht begründet und abweichend“ – oder erhielte er eine noch ganz andere Antwort? Welcher exakte Name für seine Angst und welche Lösung zur Überwindung seines Problems würden ihm, zusammen mit diesem Namen, des Weiteren womöglich vorgeschlagen? Auf welchen Begriff genau würde seine Angst gebracht werden? Welche Bedeutung würde er seiner Angst und der Situation, in der sie entstand, dann zumessen? Und würde er womöglich anderswo eine anderslautende Antwort gefunden haben – mit eventuell ganz anderen Folgen für ihn bzw. für die ihm anvertrauten Menschen und sein bzw. deren Handeln?
1.2 Folge I: Erste Fragen Am Anfang dieses Kapitels stehen zwei Fragen. Zum einen: Welche Bedeutungen wurden und werden „der Angst“ in der wissenschaftlichen und in der Ratgeberliteratur gegeben? Wie wird „die Angst“ jeweils verstanden bzw. definiert? Und zum zweiten: Wie lassen sich diese Versuche einer Deutung „der Angst“ selbst wiederum deuten und aufeinander beziehen? Das Ergebnis einer Bearbeitung nur der ersten Frage könnte eine vergleichende Darstellung der verschiedenen Ansätze zum Thema, mit einer Diskussion der jeweiligen Vor- und Nachteile für betroffene Personen sein. Ein solches Vorgehen allerdings würde implizieren, dass der Vorgang des Bedeutens verstanden würde als einer, bei dem die ratgebenden und Wissen produzierenden Personen und Autoren interesselos etwas
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Selbstverständliches zu erklären versuchen. Die Bedeutung des Phänomens Angst lässt sich, so verstanden, dem Phänomen Angst selbst entnehmen. Differenzen in den vorhandenen Bedeutungen können dann von Außenstehenden interpretiert werden als ein Ergebnis unterschiedlicher Methoden und Zugänge der verschiedenen Experten. Allein das Wort „bedeuten“ verweist jedoch bereits darauf, dass Bedeutung etwas ist, was nicht unabhängig von jenem geschieht, der die Bedeutung vornimmt. Ein Bild zu beschreiben kann als ein ebenso kreativer und einzigartiger Vorgang begriffen werden wie das Malen des Werkes selber. Die Annahme einer grundsätzlichen Nicht-Identität von Wissen und Gestalt (vgl. hierzu auch das dritte Kapitel) liegt dieser Studie daher zugrunde. Wenn eine Bedeutung aber auch als Ergebnis eines aktiven Handelns eines bestimmten „Bedeuters“ beschrieben werden kann, dann heißt das, dass – wenn Ergebnisse hinsichtlich der Frage nach der Bedeutung „der Angst“ differieren – angenommen werden kann, dass dies nicht einfach nur ein Resultat eines unterschiedlichen Zugangs oder einer anderen Methode ist. Zu explizieren sind dann, getrennt von der Frage nach der Angemessenheit der jeweiligen Bedeutung, auch interessenbezogene und normative Komponenten des jeweiligen immer schon zuvor und ohne Kenntnis der betroffenen Personen festgeschriebenen Wissens über „die Angst“. Das heißt: Es kann – basierend auf einer Analyse der jeweiligen sozialen Position, von der aus die entsprechende Bedeutung vorgenommen wird, und dem damit verbundenen Interesse, der dort eventuell gegebenen Definitionshoheit und den vorhandenen Machteffekten – auch die Möglichkeit einer je spezifischen Nützlichkeit eines jeweiligen Wissens für einen bestimmten Zweck, herausgearbeitet werden. Wissen über „die Angst“ enthält also immer auch Annahmen darüber, wovor wir eine Angst haben dürfen (und wie viel), und wovor wir keine Angst haben dürfen. Und was wir in der Folge unserer Angst zu tun und zu lassen haben. Für die weitere Ausführung dieser Behauptung wird eine Theorie als Grundlage der Analyse vonnöten, die sich sowohl auf die Kategorie der Definition als auch auf die der Macht und auf die der Situation kritisch und reflexiv zu beziehen weiß. Eine solche Auseinandersetzung schließt an Erkenntnisse einer verstehenden Sozialwissenschaft an, wendet sich gegen positivistische, an Naturwissenschaften orientierte Ausrichtungen, und macht sich die Lehre des Philosophen Diltheys zu eigen, wonach es in der geschichtlichen Welt keine naturwissenschaftliche Kausalität gibt: „[...] denn Ursache im Sinne dieser Kausalität schließt in sich, dass sie nach Gesetzen mit Notwendigkeit Wirkungen herbeiführt: die Geschichte weiß nur von den Verhältnissen des Wirkens und Leidens, der Aktion und der Reaktion. [...] Es wird ein Zusammenhang aufgesucht, der nicht in der bloßen Relation von Ursachen und Wirkungen besteht. Will man ihn
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aussprechen, so hat man nur Worte für ihn, wie Wert, Zweck, Sinn, Bedeutung“ (Dilthey 1970: 243 f.).
Menschlichem Handeln unterstellt Dilthey konsequent einen zielgerichteten und interessierten Willen zur Tat. Diesem Gedanken wird bei der Analyse des Materials gefolgt. Gerade und vor allem dann, wenn z.B. „Instinkte“ zur treibenden Kraft menschlichen Handelns erklärt werden, gilt es nach dem Zweck einer solchen Beschreibung für den Autor und die Position bzw. den sozialen Ort, den er repräsentiert, zu fragen. Einfacher wäre es sicherlich, schlicht von der naturgegebenen Notwendigkeit solchen Schreibens auszugehen. Die Vernunft der Individuen muss dagegen an zu verstehende Interaktionszusammenhänge bzw. Wechselwirkungen zwischen ihnen zurückgebunden werden. Ein Rekurrieren auf den Symbolischen Interaktionismus des Chicagoer Sozialpsychologen Mead (Mead 1968) und auf die darauf basierende Etikettierungsperspektive bzw. den labeling approach des US-amerikanischen Soziologen Becker (Becker 1973) wird nötig. Nötig ist auch, der zu analysierenden Machteffekte und der zu leistenden Ideologiekritik wegen, ein Bezug auf die Arbeiten Keckeisens (Keckeisen 1974) und Steinerts (Steinert 1985).
1.3 Folge II: Reflexion und Theorie - Erörterung der Etikettierungsperspektive 1.3.1
Ein kurzer Überblick
1985 überschrieb Steinert einen Beitrag für das Kriminologische Journal mit dem Titel „Zur Aktualität der Etikettierungsperspektive“ (Steinert 1985). Er stellte darin noch einmal den Kern dieser Perspektive auf „Abweichung“ dar und führte aus, dass „abweichend“, und, für diese Studie besonders wichtig, auch „normal“, aus dieser Sicht verstanden wird als ein jeweils interessiert durchgesetztes Etikett und nicht als eine wesensmäßige Eigenschaft einer Person. Die behauptete „Aktualität“ muss allerdings, zumal rückblickend, weniger als ein Hinweis auf die faktische Verbreitung dieses Ansatzes in den Sozialwissenschaften verstanden werden denn als eine Art „Beschwörung“, dass dieser Ansatz trotz allem noch immer aktuell sei, oder noch besser: sein müsse. Denn 1985 hatte dieser Ansatz seine „beste Zeit“, in der gar über die Etikettierungsperspektive als eines möglichen „neuen Paradigmas“ in der Devianzforschung nachgedacht wurde, das alte Ansätze ablösen könne (vgl. hierzu vor allem Keckeisen 1974, vgl. zur Paradigmenkontroverse in der Psychiatrie Keupp 1979), gerade hinter sich.
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Als eine solche „Hoch-Zeit“ kann, im Nachgang an den neuerlichen Boom des Interaktionismus in den sechziger Jahren, die Phase von Beginn der siebziger bis Anfang der achtziger Jahre beschrieben werden. Ein Bogen wichtiger Veröffentlichungen, zumindest für den bundesdeutschen Diskurs in der Sozialpädagogik/Sozialarbeit und ohne Anspruch auf Vollständigkeit, lässt sich dann folgendermaßen spannen. Zunächst muss die Studie „Außenseiter“ von Howard S. Becker erwähnt werden (Becker 1973, erstmals im Original 1963). Hierin werden die Grundlagen und Folgen einer Etikettierung von – für ihren Haschischkonsum gute Gründe kennenden – Jazzmusikern als „abweichende“ Personen beschrieben. Keckeisen stellte sodann in „Die gesellschaftliche Definition abweichenden Verhaltens. Perspektiven und Grenzen des labeling approach“ die Frage, ob diese Perspektive eine neue Theorie der Sozialpädagogik begründen könne (Keckeisen 1974). Peters/Cremer-Schäfer machten in „Die sanften Kontrolleure. Wie Sozialarbeiter mit Devianten umgehen“, deutlich, dass Jugendämter mit ihren stigmatisierenden Interventionen, im Gegensatz zum Selbstverständnis dieser Institutionen, weniger auf interessenorientierte Hilfe denn auf eine, die Handlungschancen der Betroffenen verringernden, soziale Kontrolle abzielen (Peters/Cremer-Schäfer 1975). Keupp schließlich ging es in „Abweichung und Alltagsroutine. Die labeling-Perspektive in Theorie und Praxis“ (1976) weniger um die radikale Ablösung des alten Paradigmas, denn vielmehr um eine notwendige Fragen aufwerfende und verstörende Übergangskonzeption hin zu einer auch ätiologische Vorstellungen integrierenden, aber sozialwissenschaftlich aufgeklärten Devianzforschung. Goffman ist es darüber hinaus wesentlich zu verdanken, dass der Begriff „Stigma“, also das Nachdenken über die Folgen von Etiketten für die Betroffenen, bereits seit 1967 Eingang gefunden hat in die sozialpädagogische Auseinandersetzung und Selbstreflexion (vgl. zur Rezeptionsgeschichte des Wissens über „Stigma“: Klingmüller 1990). Zuletzt sei der Bogen noch ergänzt durch den Titel: „Die Produktion abweichenden Verhaltens. Zur Rekonstruktion und Kritik des Labeling Approach“ von Ferchhoff und Peters. Hierin machten die beiden Autoren den Versuch, den Ansatz um den Begriff der Produktionsverhältnisse zu ergänzen, um die ihrer Ansicht nach sozialstrukturellen Defizite interaktionistischer Theoriebildung zu überwinden (Ferchhoff/Peters 1981). Bis heute wohlmeinend und kontinuierlich begleitet wird diese Perspektive auf Periodika-Seiten des vierteljährlich erscheinenden und bereits erwähnten „Kriminologischen Journals“. Wenn Helge Peters 1989 dann noch einmal in seinem Buch „Devianz und soziale Kontrolle. Eine Einführung in die Soziologie abweichenden Verhaltens“ versucht, den labeling approach als eine ernsthafte Alternative zu präsentieren, liegt man sicher nicht falsch, wenn man anmerkt, dass er sich damit, entgegen seines Interesses, eine „Revolution der Soziologie
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abweichenden Verhaltens“ zu präsentieren (Peters 1989: 101), faktisch bereits auf einer Art „Rückzugsgefecht“ befand. Denn betrachtet man bspw. andere Lehrbücher zu „abweichendem“ Verhalten, dann lässt sich feststellen, dass diese Perspektive entweder umstandslos in eine Darstellung der Anomietheorie integriert werden kann (vgl. Böhnisch 1999: 62-74) oder, dass sie als eine Position unter anderen innerhalb eines pluralistischen Überblicks über die verschiedenen soziologischen Erklärungsversuche „abweichenden Verhaltens“ darzustellen möglich ist (vgl. z.B. Lamnek 1979/1996). Der labeling approach bzw. die Etikettierungsperspektive und ihre bekanntesten Vertreter (vor allem Howard S. Becker) können, betrachtet man z.B. noch zusätzlich verschiedene Handbücher zur Sozialarbeit und dort die Stichworte „Abweichung/Normalität“ (Thiersch/Otto [Hg.] 2001: 1 ff.; Kreft/Mielenz 1996: 17 ff.; Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge 2002: 5 ff.), endlich als „als Klassiker neutralisiert“ beschrieben werden. Und nicht erst die massive Renaissance sozial-degradierender Etiketten wie z.B. „Dissozialität“ (vgl. Rauchfleisch 1981; Payk 1992; Brünger 1993; Petermann/Döpfner 2001; Stolle 2003), einschließlich der dazugehörigen Ursachenforschung, kann letztlich, ob der faktisch nicht gegebenen Nachhaltigkeit der Kritik am Abweichungsbegriff in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, nachdenklich stimmen. Denn was zunächst in Opposition zum ehedem und wieder vorherrschenden ätiologischen Paradigma konzipiert wurde, wird nun umstandslos in eine Reihe, und als eine mögliche Position unter anderen, mit den Positionen der Anomietheoretiker Merton und Cohen gleichgestellt. Wie es zu einer solchen „repressiv toleranten“ Integration einer ursprünglich kritischen Perspektive, die einmal mit dem Anspruch auftrat, die alte Position zu revidieren, kommen konnte und welchen Beitrag die Vertreter einer solchen Perspektive selbst dazu leisteten, wird im Folgenden, nach einer Darstellung der Grundlagen beider Positionen, noch deutlich zu machen sein. 1.3.2
Zu den Grundlagen der Etikettierungsperspektive und ihrer Relevanz für die Analyse des Wissens über Ängste
In Opposition befinden sich Vertreter der Etikettierungsperspektive zu solchen eines ätiologischen Ansatzes insofern, als sie dem als „abweichend“ beschriebenen Handeln – das gleiche gilt für so genanntes „normales“ Handeln – bezüglich der diesem Handeln „innewohnenden Eigenschaft“ als „abweichend“ bzw. als „normal“ jeden ontologischen – wesensmäßigen – Status absprechen. Eine Gemeinsamkeit zwischen beiden Ansätzen sieht Keckeisen zwar darin, dass das ätiologische und das Kontrollparadigma von der Prämisse ausgingen, dass es in
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allen Gesellschaften Verhaltensweisen gäbe, die als abweichend gelten würden. Ihre Differenz trete jedoch sofort zutage, wenn man Sätze über abweichendes Verhalten – z.B. „A. verhält sich delinquent“ – im Lichte der konkurrierenden Paradigmen betrachte. Vom Kontrollparadigma her, so Keckeisen: „[...] wird der Geltungsanspruch derartiger Sätze problematisiert; ihre Konstitution wird zum wissenschaftlichen Gegenstand, zum Grundproblem. Dagegen erkennt das ätiologische Paradigma die Geltung solcher Sätze an und macht die Entstehungsbedingungen des Sachverhalts zu seinem Grundproblem. Diese Differenz zeigt, wie zu zeigen sein wird, zwei unterschiedliche, nicht miteinander übereinkommende wissenschaftliche Bezugsrahmen für die Beschreibung und Erklärung von Devianz und sozialer Kontrolle“ (Keckeisen 1974: 24).
Bereits hier wird also deutlich, dass eine Einebnung der Unterschiede beider Ansätze in den Prämissen derselben selbst an sich ausgeschlossen ist. Denn Gegenstand der Etikettierungsperspektive ist, so betrachtet, vor allem das von der „Gegenseite“ produzierte Wissen selbst. Dies wiederum einschließlich seiner Prämissen und Folgen, insofern nämlich diesem Wissen selbst ein Anteil an der Normsetzung, wohl vor allem aber an der Normanwendung und der Definitionszuschreibung, nachzuweisen ist. Die von Keckeisen angeführte Behauptung – die beiden wissenschaftlichen Bezugsrahmen sind nicht miteinander übereinkommend – kann jedoch nicht so verstanden werden, als ob ein Sich-Beziehen auf Ergebnisse des jeweils anderen Paradigmas nicht möglich ist. Wenn Autoren, die sich der Etikettierungsperspektive verpflichtet wissen, wesentlich ihr Material für die eigene Analyse auch im anderen Ansatz finden können, so ist doch auch die umgekehrte Variante nicht gänzlich ausgeschlossen. Sollte das Nachdenken innerhalb dieser Untersuchung über „Abweichung“ und über das Wissen über „die Angst“ in den Augen ätiologisch orientierter Autoren selbst als „abweichend“ erscheinen, dann würde sich der Autor dieser Studie der Zusammenarbeit mit ihnen, auf der Suche nach den möglichen „Ursachen“ eines solchen Denkens in seiner Person oder seiner Sozialisation, nicht verweigern wollen. Aber mindestens bis zum Abschluss einer solchen Studie möchte er der Einfachheit halber doch zunächst davon ausgehen, dass das Sympathisieren mit dieser Perspektive weniger in einer z.B. in seiner Persönlichkeit angelegten „labeling-Affinität“ gründet denn in seiner Überzeugung, sie sei aus schlichten Vernunftgründen heraus zu bevorzugen. Um diese grundlegende Verschiedenheit der Etikettierungsperspektive von anderen Möglichkeiten der Definition von „Abweichung“ deutlich zu machen, stellt Becker seinerseits in „Außenseiter“ (1981) vier verschiedene und voneinander abweichende Definitionen diesbezüglich vor, die hier, angesichts ihrer fortwährenden Benutzung, ebenfalls referiert werden sollen. Neben einer offensichtlich ungenügenden statistischen Auffassung von „Abweichung“, wonach
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Linkshänder und Rothaarige als „abweichend“ beschrieben werden müssten, würde man sich diesbezüglich schlicht am gesellschaftlichen Durchschnitt orientieren, stellt Becker eine originär ätiologische Auffassung vor, wonach „abweichendes“ Verhalten, gemäß einer medizinischen Analogie, etwas seinem „Wesen“ nach „Pathologisches“, also „krankhaftes“ sei (vgl. zur Kontroverse um das medizinische Modell in der Psychiatrie auch Keupp 1972). Rauschgiftsucht oder Homosexualität können dann als das Ergebnis einer psychischen, wenn nicht gar physischen Krankheit gedeutet werden. Die medizinische Metapher, so Becker, beschränke den Blick kaum weniger als die statistische Auffassung. Sie mache sich die laienhafte Vorstellung von „abweichendem“ Verhalten zueigen, suche dessen Ursprung mit Hilfe eines Analogieschlusses im Individuum selbst und verstelle einem so die Möglichkeit, diese Vorstellung als entscheidenden Bestandteil des Phänomens zu erkennen (vgl. Becker 1981: 6; Keckeisen 1974: 24 ff.). Eine soziologische Variante des Pathologiekonzepts stellt Becker als eine weitere Möglichkeit vor, „Abweichung“ zu definieren. Demnach seien als „funktional“ für eine Gesellschaft nur jene Eigenschaften zu bezeichnen, die ihre Stabilität fördern. Sich störend auf Stabilität auswirkende Eigenschaften seien demnach „dysfunktional“. Dass es auch aktuell noch immer schwierig ist, letztgültig und allumfassend festzuhalten, welche Verhaltensweisen für eine Gesellschaft oder eine gesellschaftliche Gruppe „funktional“ oder „dysfunktional“ ist, und dass eine solche Betrachtungsweise ein Verständnis von „Abweichung“ begrenzt, weil sie den politischen Aspekt des Phänomens ignoriert, diese Erkenntnis erscheint noch immer richtig. Eine weitere soziologische Spielart identifiziert „abweichendes Verhalten“ als Ungehorsam gegenüber Gruppenregeln. Es bedarf hierzu der Kenntnis um die herrschenden Regeln, um in der Folge feststellen zu können, welche Handlung sich im Einvernehmen und welche sich nicht im Einvernehmen mit den herrschenden Regeln vollzieht. Becker lehnt auch diese Definition ab, da sie das Problem der Mehrdeutigkeit nicht berücksichtige; schließlich gebe es in jeder Gesellschaft verschiedene Gruppen mit verschiedenen, auch sich widersprechenden, Regeln. Im Gegensatz zu solchen Überlegungen kommt er schließlich zu einem ganz anderen, einem gleichsam radikalen wie einfachen Schluss, in dem ihm gefolgt werden soll, nämlich dass: „[...] gesellschaftliche Gruppen abweichendes Verhalten dadurch schaffen, daß sie Regeln aufstellen, deren Verletzung abweichendes Verhalten konstituiert, und daß sie diese Regeln auf bestimmte Menschen anwenden, die sie zu Außenseitern abstempeln. Von diesem Standpunkt aus ist abweichendes Verhalten keine Qualität der Handlung, die eine Person begeht, sondern vielmehr eine Konsequenz der Anwendung von Regeln durch andere und der Sanktion gegenüber einem ‚Missetäter’. Der Mensch mit abweichendem Verhalten ist ein Mensch, auf den diese Bezeichnung erfolgreich angewandt worden ist; abweichendes Verhalten ist Verhalten, das Menschen so bezeichnen“ (Becker 1981: 8).
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Kritik der Angst Zur Dimension der Definition und deren Inhalt
Eine solche „abweichende“ Sicht auf die Produktion von „Abweichung“ eröffnet in der Folge die Möglichkeit, über zwei Dimensionen des Vorgangs der Bezeichnung von Verhaltensweisen als „abweichend“ oder als „normal“ nachzudenken. „Abweichung“ als auch „Normalität“ werden so betrachtet zu Definitionen, die selbst der Dekonstruktion und Interpretation wieder zugeführt werden können. Diese Definitionen sind nicht der Natur selbst entnommen und könnten daher grundsätzlich auch anders ausfallen. „Die Angst“ muss demnach eben nicht notwendig und zuerst als eine Eigenschaft einer Person verstanden werden. Im Gegenteil, gerade mit der Vergabe eines Etiketts „die Angst“ können sich ganz bestimmte und sehr unterschiedliche Inhalte und Vorstellungen des über „die Angst“ Schreibenden darüber verbinden, was ein je Sich-Ängstigender in der Folge seiner ihm dergestalt zugeschriebenen Angst zu tun und zu lassen hat. Das bringt die Notwendigkeit einer genauen Prüfung der damit im Zusammenhang vorgebrachten Inhalte und Argumente mit sich. Und es bringt die Möglichkeit mit, sich eigene Gegendefinitionen zur Verfügung zu stellen, um so die Relativität einer jeweiligen Definition deutlich zu machen - eine Strategie, die in dieser Studie regelmäßig angewendet wird. Und es gelangt so die Frage nach den sehr verschieden verteilten Möglichkeiten, eine bestimmte Definition auch als eine „gültige“ durchzusetzen, in den Mittelpunkt der Betrachtung von „Abweichung“. Die Frage nach Macht also, die jemand besitzt, seine Definition durchzusetzen, ist in der Folge ein zweiter Gesichtspunkt in der Klärung der Behauptung von „Abweichung“ und „Normalität“. Zunächst kann die Relativität von „Abweichung“ am Beispiel von Kindern mit einer ihnen unterstellten „Verhaltensstörung“ deutlich gemacht werden. Ein Problem, das gegebenenfalls angemessener als eine „Störung“ der Interaktion zwischen zwei Personen zu bestimmen möglich wäre, kann stattdessen mittels der spezifischen Definition „Hyperaktivitätsstörung“ personalisiert („Diese Person ist schuld an diesem Problem“) und zum anderen psychologisiert werden („Diese Person weist eine ihr innewohnende vom Normalen abweichende Eigenschaft auf“). Auf der einen Seite dieses Problems stehen zumeist die Eltern und/oder Lehrer, die ein bestimmtes Verhalten („ruhig sitzen“, „konzentriert mitarbeiten“) erwarten, und auf der anderen Seite ein Schüler, der aus Gründen, die gegebenenfalls auch hätten verstanden werden können (statt erklärt zu werden), ein Verhalten („zappelig“, „nervös“) zeigt, das diesen Erwartungen nicht entspricht. Becker bringt den Aspekt der Relativität von Definitionen auf den Punkt, wenn er schreibt:
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„Das gleiche Verhalten kann zum einen Zeitpunkt ein Verstoß gegen die Regeln sein, zu einem anderen nicht. Kann ein Verstoß sein, wenn eine bestimmte Person dieses Verhalten zeigt und kein Verstoß, wenn eine andere es zeigt, einige Regeln werden straflos verletzt, andere nicht. Es kann, wenn es von einer Person gezeigt wird, ein Verstoß sein, jedoch nicht, wenn ein anderer es zeigt [...] Abweichendes Verhalten ist keine Qualität, die im Verhalten selbst liegt, sondern in der Interaktion, zwischen einem Menschen, der eine Handlung begeht, und Menschen, die darauf reagieren“ (Becker 1981: 12).
Des Weiteren können die möglichen Leistungen einer auf solchen Prämissen basierenden Analyse des Wissens über „abweichendes“ und „normales“ Verhalten – einschließlich einer Präzisierung der daraus erwachsenden Gefahren – dargestellt werden anhand des Wissens des von Keckeisen angeführten Psychiaters, Militärarztes und späteren Professors für forensische Medizin in Turin und für Psychiatrie in Siena, Cesare Lombroso (1835-1909). Er gilt als einer der ersten und wichtigsten Repräsentanten eines biologistischen Erklärungsansatzes für abweichendes Verhalten, insbesondere für Kriminalität. In seinem Hauptwerk „L’uomo delinquente“ von 1884 versucht der Autor anhand auch physiognomischer Merkmale den „geborenen Verbrecher“ zu beschreiben. Dieser weise, so Lombroso, „atavistische Anomalien“ auf und sei „moralisch immer irre“, genauso wie „wilde Menschen“ und Kinder, denen jegliches Moralgefühl fehle. Eine „Perversion der Gefühlsbeziehungen“ gegenüber Mitmenschen und Verwandten zeige sich beim „geborenen Verbrecher“ sowie die Unfähigkeit, seine Tat zu verstehen und zu bereuen (vgl. Lombroso 1884: VII; zitiert nach und in der Übersetzung von Gadebusch Bondio 1995: 39). Die Historikerin Gadebusch Bondio zeigt in ihrer Doktorarbeit über die Rezeptionsgeschichte Lombrosos in Deutschland unter anderem auf, dass dieser im Laufe der Zeit eine immer komplexere Ätiologie des Verbrechens konzipierte, die – auch entgegen der Auffassung Lombrosos, der „geborene Verbrecher“ würde nicht zwangsläufig zu einem solchen – sich später doch nahtlos in faschistische Konzepte von „Minderwertigkeit“ und „zwangsläufiger Gemeinschaftsschädlichkeit“, einschließlich der bekannten Folgen, fügte. Was hier deutlich werden kann, ist zweierlei: zum einen verweist dieses Beispiel auf den Kern rassistisch zu nennender Argumentationen. Die soziale Position der als „abweichend“ geltenden Person – hier also die des häufig schon vor seiner Etikettierung marginalisierten „Kriminellen“, im Nationalsozialismus die des „Gemeinschaftsschädlichen“ – gilt als Folge einer von Geburt an vorhandenen „abweichenden Eigenschaft“. Herrschende gesellschaftliche Verhältnisse werden so nicht, wie es nach Steinert zentrale Annahme einer reflexiven Sozialwissenschaft sein soll (vgl. Steinert 1973), als „gemacht“ und demnach auch als „veränderbar“, sondern als quasi „naturgegeben“ oder doch zumindest als in jedem Fall „normal“ und somit „erwünscht“ gedacht. Durch entsprechende Manipulation der dann als ätiologisch bedeutsam ermittelten Randbedingungen, oder radikaler: mittels
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sozialer Ausschließung der als „abweichend“ geltenden Personen, sollen „unerwünschte“ und „abweichende“ Effekte vermieden werden (vgl. Steinert 1973). Erst die alternative Annahme einer reflexiven Sozialwissenschaft legt den Blick frei auf dergleichen rassistisch zu nennende Argumentationsmuster. Der zweite wichtige Gesichtspunkt, der mit Hilfe der Etikettierungsperspektive freigelegt werden kann, zeichnet sich nun bereits ab: die spezifische Gefahr präventiven Denkens. Bezogen auf das angeführte Beispiel lässt sich zeigen, und darauf macht auch Bondio in ihrer Arbeit aufmerksam, dass die Psychiatrisierung des Delinquenten der erste Schritt war, um Personen, deren Verhalten von der Norm abwich, der umfassenderen Klasse der „Degenerierten“ zuzuordnen. Diese konnten von deutschen Psychiatern dann als „minderwertig“ und „antisozial“ etikettiert und dadurch zugleich deklassiert werden. Ein präventiver Zugriff des Staates – wohlgemerkt vor Vollzug einer als strafbar geltenden Handlung – auf diejenigen, die wegen ihres „immanenten Andersseins“ als eine „Bedrohung“ für die allgemeine Sicherheit dargestellt werden konnten, wurde nun gerechtfertigt durch eine Hierarchisierung der Personen nicht nur nach einer „Typologie der Verbrecher“, sondern auch durch eine nach ihrer „inneren Wertigkeit“ (vgl. Bondio 1995: 239). Die in der Weimarer Republik diskutierten Konzepte der Jugendfürsorge um „Verwahrlosung“ und „Asozialität“ stellten denn auch für den Zweck nationalsozialistischer Selektion und Vernichtung einen „glücklichen“ Fund dar (vgl. zur Kontinuität der Jugendfürsorge: Peukert 1982; 1986; 1990). Solche Beispiele veranschaulichen, wie sich das ätiologische Paradigma praktisch von einer Verwissenschaftlichung der sozialen Kontrolle her begründet. Für die Analyse von Literatur über „die Angst“ ist des Weiteren zu beachten, dass das Merkmal, das den erklärungsbedürftigen Sachverhalt bestimmt – die Normwidrigkeit des Verhaltens – als „Gegebenheit“ den theoretischen und empirischen Bemühungen im ätiologischen Ansatz immer schon logisch vorausgesetzt ist. Diese Prämisse besagt nicht, dass der gesellschaftliche Charakter von Normen in jedem Fall geleugnet wird, doch bringt sie implizit eine Vorstellung von der normativen Struktur der gesellschaftlichen Wirklichkeit zum Ausdruck, die auf einer „objektivistischen“ Grundannahme fußt. Denn wenn das Faktum der Normwidrigkeit der eigentlichen wissenschaftlichen (erklärenden) Anstrengung vorausgesetzt wird, muss davon ausgegangen werden können, dass die objektive Feststellbarkeit von Konformität und Devianz einer Handlung durch die prinzipiell vorgegebene Intersubjektivität von Normensystemen prinzipiell gesichert ist. Diese Annahme eines objektiv vorgegebenen Normsystems ergänzt Keckeisen noch durch eine weitere, die besagt, dass gemäß dieses Ansatzes normkonformes und normwidriges Verhalten distinkte Klassen von Verhalten (bzw. Akteuren) bilden würden, die gerade durch die ihnen eigentümliche Form
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der „Abweichung“ schlüssig voneinander unterschieden werden können. Devianztheorie, die diesem Paradigma folgt, intendiere also eine Theorie devianten Verhaltens (vgl. Keckeisen 1974: 25). Eine weitere Eigentümlichkeit von solchen – die Gültigkeit herrschender Normen immer schon voraussetzenden – ätiologischen Theorien von „Abweichung“ einschließlich der Annahme „distinkter Klassen“ von Akteuren, ist es in der Folge, dass von den individuellen Gründen, die eine Person für ihr „abweichendes“ Handeln kennt, regelmäßig abgesehen wird. Statt also zum Beispiel zunächst einmal schlicht danach zu fragen, aufgrund welcher Bedeutungsgebungen und welcher Urteile über sich und die Welt und in was für einer Situation ein Mensch, der als „abweichend“ definiert wird, gehandelt hat, wird nach „multifaktoriellen Ansätzen“ (vgl. Rauchfleisch 1981) gefahndet, oder wird die „Anlage-Umwelt“ Frage gestellt (vgl. z.B. Dietrich 1988: 133; Mühle 1971: 79; Giesecke 1973: 24). So werden denn auch bspw. Ereignisse wie Amokläufe in Schulen auf der Suche nach den „wahren“ Ursachen häufig bis zum letzten verrätselt. Vertretern einer solchen Perspektive, die von der grundsätzlichen „Andersartigkeit“ solcher „abnormer“ bzw. „böser“ Personen ausgehen, kann es nicht in den Sinn kommen, dass auch „Massenmörder“ mitunter Gründe für ihr Handeln kennen und handeln wollen. Diese Gründe zu verstehen, ohne dass man Verständnis für sie aufbringen muss, ist somit grundsätzlich möglich. Urteile „abweichender“ Personen über die Welt nachzuvollziehen und gegebenenfalls zu kritisieren, als auch die hieraus sich ergebenden Gründe für ihr Handeln zu verstehen, dies alles kann ein Vertreter einer solchen Perspektive nicht leisten. Denn ein solcher beharrt zumeist darauf, dass diese Taten und die sie ausführende Person „nicht normal“ seien, und dass diese Taten als „abweichende“ denn auch eine ganz eigene Qualität besäßen. Mit Mitteln der Ursachenforschung, die er für seine eigenen Handlungen akzeptieren und einfordern würde, eine Reflexion und Auseinandersetzung über diese Situation, in der er aufgrund dieses Interesses handelte, mit diesem Willen und mit diesen Folgen, kann und will er „abweichenden“ Personen daher nicht beikommen. Stattdessen wird eine das Individuum verdinglichende Deutung vorgenommen, insofern nämlich, als zur Klärung der Ursache seiner Taten eine abstrakte Kategorie wie z.B. „Gewaltbereitschaft“ oder „Dissozialität“ herangezogen wird, unter der die Handlung dieser Person dann als ein spezieller Fall einer allgemeinen Kategorie subsumiert und somit „erklärt“ werden kann. Ein das Individuum nicht verdinglichendes „Verstehen“ der Tat, insofern auf die – bereits unter Bezugnahme auf Dilthey angeführten – Kategorien von Wert, Zweck, Sinn und Bedeutung rekurriert würde, kann dergestalt nicht erfolgen. Eine solche rigide Vorstellung wird in dieser Arbeit aufgebrochen und zu Gunsten des Nachdenkens über Prämissen, Funktionen und Folgen von Katego-
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rien „der Angst“ wieder „verflüssigt“. Dies geschieht, um in der Folge diese Kategorien und das darauf basierende Wissen wieder einer erweiterten Diskussion zuführen zu können. Verbunden ist damit auch die Annahme, dass damit ein Wissen zur Verfügung gestellt wird, in dessen Folge es vielleicht möglich sein kann, einen (neuen) Aushandlungsprozess über je verschiedene Möglichkeiten der Bestimmung „der Angst“ zu beginnen; dass also unter Betroffenen und Angehörigen sich gemeinsam (wieder) darüber auseinandergesetzt werden könnte, wer, wann, warum und mit welchem Nutzen für wen „die Angst“ zu bestimmen sucht. 1.3.4 Zur Dimension der Macht Aus Gründen der übersichtlicheren Darstellung bislang vernachlässigt wurde die zweite Dimension, die bei der Untersuchung von Etikettierungsprozessen zu beachten ist und mit der ersten eng verknüpft ist, die Dimension der Macht. Wenn bislang deutlich werden sollte, dass Definitionen von „Abweichung“ immer nur mögliche, aber nicht objektiv notwendige Definitionen darstellen, so soll nun danach gefragt werden, wer und warum welche Möglichkeiten besitzt, seine Definitionen als Gültige durchzusetzen und welche Folgen dies jeweils für die Betroffenen nach sich ziehen. So ist denn auch nach Steinert das zentrale Thema der Etikettierungsperspektive nicht die Frage nach den innerpsychischen Folgen von Etiketten, auch nicht die nach den möglichen Folgen bspw. einer „kriminellen Karriere“. Er nennt dagegen als Thema dieses Ansatzes „Verdinglichung als Herrschaftsform“. Danach seien Merkmale und Eigenschaften, die an Menschen und ihren Handlungen festgestellt würden, Abstraktionen zu einem bestimmten Zweck und daher auch Zuschreibungen. Dieses Vokabular werde von gesellschaftlichen Einrichtungen, also auch von Fürsorge und helfenden Institutionen, von Erziehungsanstalten und Schulen verwaltet, durchgesetzt und legitimiert. Mit der Vergabe von Etiketten seien zumeist weitreichende Sanktionen verbunden. Dieser „Effekt“ ist es, der ihn interessiert (vgl. Steinert 1985). Denn mittels der Sanktionen werden, unabhängig davon, wie sich der so Etikettierte in der Folge fühlt, die Lebens- und Handlungschancen desselben verschlechtert. Das hinter der Etikettierung stehende Interesse sieht Steinert in der Erhaltung der Arbeitskraft, in der Wahrung der Nützlichkeit des Individuums. Daher gilt, so Steinert, dass bereits die Durchsetzung von Kategorisierungen und Definitionen von Menschen und Dingen Herrschaft sei und dass dies erst die Institutionalisierung weiterer Herrschaftsmanöver ermöglicht. Keckeisen führt diesen Gedanken speziell für die Sozialpädagogik weiter aus, wenn er schreibt, dass das empirische Objekt sozialpädagogischer Praxis
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durch diese Praxis, die zugleich als Herrschaft erscheint, selbst (mit) konstituiert wird. Dies ist ihm das zentrale Schlüsselproblem sozialpädagogischer Theorie. Er begründet dies plausibel damit, dass die „Abweichungen“ selbst die pädagogische, therapeutische und resozialisierende, also in der Person korrigierende Reaktion nicht hervorrufen. Die Sozialpädagogik als Komplex gesellschaftlicher Institutionen ist es – heute wie damals –, die den Gegenstand ihrer Praxis sich, in einem doppelten Sinn, allererst selbst erzeugt. Zum einen schafft sie sich durch die geschichtliche Form ihrer institutionellen und materiellen Voraussetzungen erst die Kategorien und Maßnahmen, die das Objekt möglicher Interventionen definieren. „Ohne Strafrecht und Gericht gäbe es keine Kriminellen und ohne Jugendrecht und Erziehungsheime keine Fürsorgezöglinge“ (Keckeisen 1974: 10). Zum anderen führt er aus, dass die Institutionen den Gegenstand ihrer praktischen Maßnahmen in dem Sinn „erzeugen“, dass sie, auch unabhängig vom und auch gegen den Willen und die Bedürfnisse der Betroffenen, diejenigen „auslesen, unter die Lupe nehmen, klassifizieren und gegebenenfalls Maßnahmen unterwerfen“ (Keckeisen 1974: 10), die ihnen verdächtig und auffällig geworden sind. Letzteres macht deutlich, dass diese Interventionen, die das sozialpädagogische Objekt erzeugen, auf Macht beruhen. Unabhängig von den Absichten der Praktiker üben diese Interventionen Herrschaft über die Betroffenen aus. Und Keckeisen insistiert daher darauf: „Sie sind eine Form sozialer Kontrolle“ (Keckeisen 1974: 10). Für Steinert folgt hieraus eine Notwendigkeit der Klärung des gesellschaftlichen Vokabulars. Er plädiert des Weiteren für eine Untersuchung aller auch „nicht- abweichenden“ Formen von sozialen Arrangements im interessierenden Bereich und in der Folge für die Analyse der Grundlagen des gesamten vorfindbaren Arrangements im Vergleich zu anderen möglichen. In Kenntnis dieses Feldes lasse sich dann, so Steinert, bestimmen, unter welchen Bedingungen sich Akteure darin wie bewegen werden. Wobei unter diesen Bedingungen vor allem die Ressourcen interessant seien, die man brauche, um verschiedene Strategien einschlagen zu können (vgl. Steinert 1985: 37). Für die vorliegende Studie bedeutete dies eine Analyse der Begründungen dessen, was jeweils als eine „abweichende“ und was als eine „nicht-abweichende“ Angst beschrieben wird, was „Angst“ von der begrifflich benachbarten „Furcht“ unterscheidet, sowie die Untersuchung der sich aus solchen Unterscheidungen ergebenden Möglichkeiten und/oder Zwänge für die betreffenden Personen. Keckeisen differenziert die Frage nach Ausübung von Macht folgendermaßen aus (vgl. Keckeisen 1974: 93 ff). Er thematisiert die Rolle der Macht auf drei (interdependenten) Ebenen der Gegenstandsanalyse, wobei für vorliegende Untersuchung im Wesentlichen die dritte Ebene von Bedeutung ist:
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Kritik der Angst 1. Macht in der direkten, dyadischen Interaktion zwischen Kontrollagenten und Kontrollierten, 2. Macht hinsichtlich des Einflusses von Individuen und Gruppen auf die Definitionsakte von Kontrollinstanzen, 3. Macht auf der Ebene der Formulierung und Durchsetzung von allgemeinen Normen, besonders von Rechtsnormen.
Im Versuch einer, für die Analyse von Etikettierungsvorgängen auf allen diesen drei Ebenen geeigneten allgemeinen, Begriffsbestimmung greift Keckeisen zunächst auf die Bestimmung der Macht bei Max Weber (1922) zurück. Demzufolge ist Macht (Weber 1922: 28) die „Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht“. Als mögliche Machtmittel, die einem solchen Zweck dienlich sein können, nennt Keckeisen: Verfügung über materielle Güter, über Mittel der Befriedigung affektiver Bedürfnisse, Prestige, Expertenschaft und Verfügung über Zwangsmittel. Diese Untersuchung stellt im Kern eine Analyse von Wissen über „die Angst“ dar, und hier wiederum sowohl über jenes aus Ratgebern als auch über das klinische und institutionalisierte Wissen. Interaktionssituationen und -prozesse zwischen Definierenden und Definitionsadressaten als jeweilige (Versuche) der Zuschreibung eines „devianten“ Status, bzw. eine Annahme oder Abwehr dessen kann nur „indirekt“ und über den Umweg von Interviews oder Gruppendiskussionen untersucht werden. Diskutiert werden in dieser Arbeit daher im wesentlichen devianzbezogene Regeln, Bedeutungen, Normen, die die Interaktionen bestimmen, besser: bestimmen sollen; also die Interpretationsregeln, Typisierungs- und Interpretationsschemata als auch – soweit diese der Literatur entnommen werden können – Alltagstheorien über Ängste. Wie weiter oben bereits unter Verweis auf Keckeisen deutlich gemacht wurde, können Struktur der Theorie, ihre Definitionsdimensionen, Inhalte und Argumente sowie mögliche wie auch explizit intendierte Folgen zwar an ihr selbst ausgeführt und diskutiert werden, der faktische Einfluss dieses Wissens auf die Praxis sozialer Kontrolle hingegen ist an ihr selbst nicht zu explizieren. Eine Analyse der Dimension der Macht kann auf Grundlage einer Literaturbetrachtung also nur dort erfolgen, wo Macht als explizit intendiert formuliert wird oder dort, wo sie als implizit mögliche erscheint, und zwar in Hinblick auf die folgenden vier Gesichtspunkte: Zum einen kann geprüft werden, inwiefern der Literatur explizit intendierte Machteffekte auf die Klienten entnommen werden können, insofern es sich um handlungsanleitendes Wissen für Eltern, Therapeuten, Berater oder in der Erziehungs- oder Schulpraxis stehende Pädagogen handelt. Es steht hier auch die
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Frage nach der Behauptung von Freiwilligkeit im Vordergrund. Implizite Machteffekte können – entsprechend der Weberschen Bestimmung, bezogen auf das Wissen über „die Angst“ – überall dort angenommen werden, wo die Interventionen gleichermaßen gegen „die Angst“ als auch gegen das „Widerstreben“ von Personen abzielt, aufgrund ihrer Angst etwas bestimmtes nicht zu machen bzw. nicht machen zu sollen. Zum zweiten kann die Frage nach der eventuellen Nützlichkeit des jeweiligen Wissens über „die Angst“ für die Reproduktion herrschender Verhältnisse und das ihr explizit oder implizit zu entnehmende Verhältnis zur bestehenden Ordnung diskutiert werden. Das ist eine Frage, die unmittelbar eine eigene Erörterung zumindest Teile eben dieser herrschenden Verhältnisse erfordert (siehe hierzu das dritte Kapitel dieser Arbeit). Zum dritten, wieder insoweit es der zugrunde liegenden Literatur selbst entnommen werden kann, wird der Einfluss des von Wissenschaftsseite produzierten Wissens auf das Wissen der Autoren von Ratgebern reflektiert. Welche Definitionen, Konzepte und/oder Begrifflichkeiten werden z.B. von letzteren kritisch oder auch affirmativ übernommen oder finden keine Beachtung?
1.4 Ein erster Schluss Eine so angelegte Untersuchung ist im Ergebnis in höchstem Maße unpraktisch. Denn, so Keckeisen, im Rahmen des Kontrollparadigmas wird die soziale Kontrolle zum Gegenstand der Wissenschaft. Wissenschaft intendiert hier Reflexion und Aufklärung über stattfindende Kontrollprozesse und lässt daher, was ihre Struktur betrifft, notwendig direkte Verwertbarkeit in Zweck-Mittel-Relationen vermissen (vgl. Keckeisen 1974: 32). Was es für eine Sozialisationsforschung bedeutet (und Forschung über „die Angst“ kann als ein Teil dieser betrachtet werden), auf die Betrachtung der aktiven Auseinandersetzung des Einzelnen mit sich, anderen und der ihn umgebenden Ordnung zu verzichten, oder doch zumindest dies nicht in den Mittelpunkt der Forschung zu rücken und stattdessen ausschließlich auf Nützlichkeit bedachtes Wissen zu produzieren, macht CremerSchäfer deutlich, wenn sie schreibt: „Je mehr von gesellschaftlichen Werten und Normen als sozialen Entitäten ausgegangen wird und nicht von Regeln, die interpretationsbedürftig sind und deren gültiger Sinn sich erst aus der Reaktion von anderen erschließen lässt, und je mehr Sozialisation als Internalisierung herrschender Normen definiert wird und nicht als ein Erlernen von Verhaltensstrategien, und je stärker ein Konzept von einem Persönlichkeitsmodell ausgeht, das Prozesse und Folgen von Interaktionen zu intrapsychischen Vorgängen macht und zu individuellen Fähigkeiten oder Leistungen objektiviert, und je mehr gesellschaftliche Ordnung als eine Ordnung von Werten, Normen und verbreiteten Handlungsmustern gesehen wird und nicht in die theoretische Refle-
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Kritik der Angst xion eingeht, daß von Anfang an ungleiche Chancen der Selbstbestimmung und Möglichkeiten der Fremdbestimmung gegeben sind, um so eher wird bei der Akzeptierung vorgegebener Ziele der Sozialisation nur geprüft, unter welchen Bedingungen beobachtbare (auffällige) Sozialisationsergebnisse produziert werden. Daraus lässt sich Wissen ableiten, unter welchen Bedingungen erwünschte Sozialisationsergebnisse herbeigeführt werden können. Je mehr sich dieser Aspekt durchsetzt, desto eher wird Sozialisationsforschung zu dem Versuch einer Rekonstruktion der Interaktions- und Lernbedingungen unter dem Gesichtspunkt wünschbarer Erziehungsergebnisse“ (Cremer-Schäfer 1985: 33).
Aufgezeigt wird in diesem Sinn, dass gerade auch dem Wissen über „die Angst“ wesentliche Beiträge zur Internalisierung herrschender Normen entnommen werden können. Gesellschaftlich zu verstehende Prozesse werden hierin regelmäßig als Ausdruck vor allem intrapsychischer Vorgänge und Konflikte begriffen. Wissen über „die Angst“ vermittelt, indem es über „die Angst“ aufklärt, dem Sich-Ängstigenden, quasi nebenbei, auch einiges darüber, was seine Stellung in der Welt als auch die Welt selbst sei.
2 Von der Schwierigkeit professioneller Standards in der Sozialen Arbeit Der Erziehungswissenschaftler Michael Wimmer formuliert in der Aufsatzsammlung von Combe und Helsper zur Pädagogischen Professionalität einen Ansatz zum Verständnis des pädagogischen Verhältnisses, welches sich in seiner radikalen Positionierung zur Frage nach dem Stellenwert von Wissen in der Pädagogin-Klientin-Beziehung4 deutlich von den anderen dort versammelten Aufsätzen unterscheidet (vgl. Wimmer 1996: 404 ff.). Er versteht seinen Artikel als einen Beitrag zu Professionalität als Gegenstand allgemeiner Pädagogik, daher kann ihm auch in dieser Untersuchung gefolgt werden. Zumal eine Zuspitzung seiner Annahmen auf sozial-pädagogische Berufsfelder zuallererst auch aus inhaltlichen Gründen möglich und nötig erscheint. Er legt dar, dass von einer einheitlichen Idee des Pädagogischen nicht mehr ausgegangen werden könne, noch nie ausgegangen werden konnte. So kritisiert er z.B. Forderungen wie die von Nohl, dass der wahre Ausgangspunkt einer allgemeinen Theorie der Bildung die Tatsache der Erziehungswirklichkeit als die eines sinnvollen Ganzen sei. Wimmer argumentiert dagegen, dass die Einheit schon deshalb eine Illusion sei, da das Pädagogische keine ontische oder ontologische Weisheit sei, sondern als Diskurs begriffen werden müsse, der sich immer schon zwischen die (praktischen wie auch theoretischen) Vorstellungen und die Kette der realen Ereignisse geschoben habe und so den „Erziehung“ genannten Sinn der von ihm strukturierten Realität erst konstituiere. Und er folgert: „Die in sich heterogene Komplexität der pädagogischen und erziehungswissenschaftlichen Bereiche durch eine Idee zu totalisieren, muss zwangsläufig scheitern oder in Zwang münden“ (Wimmer 1996: 413).
Dagegen setzt Wimmer ein Verständnis, das vor allem die Unmöglichkeit zu wissen, wer die andere und was die andere ist, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt. Denn die Frage, wie aus pädagogischem und erziehungswissenschaftlichem Wissen erzieherische Tätigkeit wird, müsse unbeantwortet bleiben und damit auch die Frage nach dem spezifisch pädagogischen und professionellpädagogischen Handeln. Das eigentliche Pädagogische entziehe sich dem Wissen, da bei der Übersetzung abstrakten Wissens auf konkrete lebensweltliche Situationen immer ein Rest bleibe, der nicht Wissen sei und werden könne und dessen Verhältnis zum Wissen unklar bliebe. Im Gegensatz zu anderen Professi4
Bezüglich des Versuchs einer angewandten geschlechtergerechten Sprache siehe die zweite Fußnote.
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onstheoretikern wie z.B. Koring plädiert Wimmer nicht für die Möglichkeit, dass diese Lücke durch Handeln letztlich doch geschlossen werden könne. Er besteht darauf, dass dieser Rest, dieses Nicht-Wissen und Nicht-Wissen-Können, den Kern pädagogischen Handelns und Professionalität ausmache. Unabhängig davon, dass er im Gegensatz zu seiner ursprünglichen Absage an das Allgemeine damit doch eine Formel gefunden hat, ein Allgemeines des Pädagogischen zu benennen, soll in dieser Untersuchung an diese Position des Nicht-WissenKönnens, wer die andere ist, angeschlossen werden. Daraus leitet sich eine für sozial-pädagogische Beziehungen eigentümliche Grundstruktur ab, die Wimmer als den Versuch beschreibt, durch Erziehung eine Intention verfolgen zu wollen, es aber eigentlich nicht zu können, weil das, was gewollt wird, nur von der Anderen hervorgebracht werden kann. Und Wimmer bemerkt: „Die schon von Kant formulierte Frage, wie denn Freiheit bei dem Zwang kultiviert werden könne, artikuliert die für pädagogisches Denken und Handeln bis heute konstitutive paradoxale Grundstruktur“ (Wimmer 1996: 426).
Obwohl sich die Einsicht durchgesetzt habe, so Wimmer, dass es keine Methode oder Technik zur Beherrschung aller Konflikte, Probleme, Widersprüche und Ambivalenzen in der pädagogischen Situation gäbe, überdauere ein Verhältnis zum Wissen, das in ihm selbst etwas Technisches sähe, ein Instrument, das man anwenden könne. Wenn dieses Wissen dennoch interessiert, dann deshalb, weil die Folgen, die dieses Wissen zeitigen kann, real sind. Wimmer schreibt hierzu: „Wenn die Gestalten des anderen [...] die anders als Wissen sind und deshalb im Wissen nur als Nicht Wissen lokalisiert werden können – was [...] nicht damit identisch ist, nichts zu wissen, oder um das Nichts zu wissen, oder etwas noch nicht zu wissen, oder zu wissen, daß das Wissen nichtig ist etc. – vom Wissen ausgegrenzt oder annulliert werden, mag diese Ausgrenzung vereinnahmend (Wissen), identifizierend (Begriff) oder assimilierend (Verstehen) vor sich gehen, dann wird das Wissen gewaltförmig, was nicht heißt, daß es dann keinen ‚Erfolg’ hätte“ (Wimmer 1996: 430).
Daraus folgt für Wimmer gerade nicht eine Geringschätzung von Wissen. Im Gegenteil: Gerade um das Wissen als Wissen zu wissen und damit dessen Grenze wissen zu können, müsse man, so Wimmer, nicht etwa nichts, sondern, im Gegenteil, sehr viel wissen. Man müsse durch das Wissen mit seinen Illusionen und durch das Verstehen mit seinem subtilen Imperialismus hindurchgegangen sein, um die andere in ihrer Singularität und absoluten Andersheit entdecken zu können. Das Wissen als Wissen zu wissen bedeute, dass der transzendentale Schein zu durchschauen wäre, was nicht nur eine kritische, sondern eine skeptische, dekompositorische und dekonstruktive Haltung zur vorgeblichen Sicherheit des Wissens impliziere. An das Wissen zu glauben hieße hingegen, eben nicht darüber zu reflektieren, dass dieses Wissen in seiner eigenen Mächtigkeit – näm-
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lich zu definieren, was Wirklichkeit sei – selbst eine bestimmte Handlungsweise sei, ohne sich als solche noch wissen zu können. Schließlich fordert Wimmer, dass sich Pädagoginnen von Laien und Nicht-Pädagoginnen gerade dadurch zu unterscheiden haben, dass sie nicht an das Wissen über Erziehung, Unterricht, Lernen etc. glauben sollen, weil nur durch das Nicht-Wissen oder das wissende Nichtwissen die Andere allererst einen Ort fände, der nicht immer schon im voraus vom Wissen besetzt, für offene Lern- und Bildungsprozesse aber die erste Voraussetzung sei. Wimmer formuliert somit eine Theorie, die sowohl für den sozialpädagogischen Bezug in der Praxis als auch für die Beschäftigung mit sozialwissenschaftlichem Wissen von Bedeutung ist. Er beschreibt ein Verhältnis zum pädagogischen Wissen, das sich in erster Linie dadurch auszeichnet, dass es, zugunsten der Offenheit der Situation und des Eigensinns der Klientin, einer kritischen Analyse unterzogen wird; dass es zunächst „verflüssigt“ statt direkt angewendet wird; dass es auf seinen „subtilen Imperialismus“ hin geprüft wird. Im Sinne Wimmers müsste die erste Frage vor Anwendung von Wissen daher immer lauten: Inwiefern laufe ich Gefahr, das Gegenüber, ihr Handeln, ihre (unterstellten oder abgefragten?) Bedürfnisse mittels meiner mir auch aufgrund wissenschaftlichen Wissens gegebenen Definitionshoheit in einem bestimmten Sinne und einer entsprechend sehr spezifischen Nützlichkeit „festzuschreiben“ und ihr dadurch Chancen des „Anderssein“ und auch Chancen anderer Formen der Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu nehmen? Das nämlich wäre Voraussetzung für eine Beziehung zur Klientin, die die andere in dem, was sie ist und sein will, ernst nimmt und sie zunächst einmal tatsächlich fördern möchte. Dieser Anspruch erscheint gleichsam anspruchsvoll wie auch utopisch, zumindest was die Arbeit der Pädagogin in institutionellen Arbeitsfeldern betrifft. Die von Wimmer geforderte Offenheit der pädagogischen Situation ist hier schließlich allemal schon durch die Regeln und Normen der Institution und der Gesellschaftsordnung, in die sie eingebettet ist, eingeschränkt und daher nicht zu verwirklichen. Aber diese äußeren Regeln sind nicht sein Thema. Er macht den Versuch, ein sinnvolles Verständnis einer notwendigerweise sinnlosen pädagogischen Beziehung unter Berücksichtigung und Kenntnis gegebener erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung zu formulieren. Allemal Privatgelehrte oder über dieses Verhältnis reflektierende Wissenschaftlerinnen können sich den „Luxus“ eines solch konsequent eingehaltenen Anspruchs, einer solch radikal reflexiven nicht-nützlichen Methode des Nachdenkens über Erziehung und über erziehungswissenschaftliches Wissen, „gönnen“. In diesem Sinne wird auch in der vorliegenden Arbeit, befreit von jedwedem praxisfeldbezogenen Handlungsdruck, darüber reflektiert, was die Anwendung oder eben Nichtanwendung bzw.
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das (Nicht-)Verflüssigen von Ordnungswissen im Sinne Wimmers für die Pädagogin-Klientin-Beziehung bedeuten könnte. Ein Verlangen nach instrumentellem Wissen wird in der Folge nicht befriedigt. Dagegen kann es vielleicht gelingen, über die Praxis einer dekompositorischen, skeptischen und dekonstruktiven Haltung zum Wissen zu einem zumindest ansatzweise auch reflexiv-sozialwissenschaftlich aufgeklärten Handeln zu gelangen. Eine ähnliche Forderung kennt auch der Frankfurter Erziehungswissenschaftler Gerold Scholz. Einerseits beharrt er gleichermaßen darauf, dass in der Pädagogischen Beziehung auf die Singularität des jeweiligen Kindes, also auch auf jene des jeweiligen Menschen, Klienten etc., Rücksicht genommen werden müsse; andererseits formuliert er, dass es gelte, zu einer pädagogischen Forschung und Theorie zu gelangen, deren Aufgabe, weil ein anderes als ein auch regelbezogenes praktisches Handeln gar nicht möglich sei, dann darin bestehen könnte, „von den Begegnungen zwischen Kind und Pädagogen in einer Weise zu erzählen, in der der normative Horizont des Erzählers Teil der Erzählung ist“ (Scholz 1994: 172). Mit den Vorschlägen zu einem Umgang mit „der Angst“ und mit konkreten Ängsten des jeweils eben immer nur singulär existenten Kindes im Resümee im Kapitel 7.1 wird darauf zurückgekommen. Im Plädoyer Wimmers, dass man nicht nichts, sondern im Gegensatz sehr viel wissen müsse, um das Wissen als Wissen zu wissen, fand sich eine wichtige Begründung für die dieser Untersuchung zugrunde liegenden Literaturauswahl. Es reichte in diesem Sinne nicht aus, bloß psychologisches Wissen über „die Angst“ zu studieren; zusätzlich bedurfte es auch eines genaueren Blicks in maßgebliche Angebote von Seiten der Philosophie. Es bedurfte einer Untersuchung vor allem jener Angebote, von denen ein bestimmtes Wissen über „die Angst“ jeweils ihren „konstrukteursbezogenen“ Anfang nahm. Der Erkenntnis, dass ein jeweiliges bestimmtes Wissen nicht naturgegeben ist, also nicht „vom Himmel fällt“ bzw. gefallen ist, sondern stets bestimmten Autorinnen und ihren sozialen Positionen und Interessen zuzurechnen möglich ist, kann so in besonderer Weise Rechnung getragen werden. Deshalb also beginnt die Arbeit mit Kierkegaard und setzt sich mit anderen Begründerinnen maßgeblicher Theorien über „die Angst“ fort. Auf der anderen Seite wurde aber auch so genanntes populärwissenschaftliches, also Ratgeberwissen, zum Thema untersucht. Erst in der Kontrastierung dieser drei verschiedenen Abteilungen einer jeweiligen Wissensproduktion über „die Angst“ – Philosophie, Psychologie, Ratgeberwissen – wird die große Bandbreite von Möglichkeiten offenbar, wie auch mittels eines jeweiligen Wissens über „die Angst“ Wirklichkeit jeweils definiert wurde und noch wird. Die Gewaltförmigkeit einiger dieser Angebote wird in Relation zu im Widerspruch hierzu stehenden Offerten deutlich und später noch weiter ausgeführt.
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Im Sinne Wimmers und im Sinne der Etikettierungsperspektive das Wissen zu analysieren hieß auch, zunächst einmal die exakte Bestimmung und Konzeptualisierung jenes Zustands zu explizieren, den zuallererst Kierkegaard mit dem Etikett „die Angst“ belegte. Welche Merkmale genau weist diese erste Konzeption „der Angst“ auf; können sie verallgemeinert werden und wie lassen sich diese allgemeinen Merkmale in nachfolgenden Konzepten wiederfinden? Das Wissen als Wissen zu wissen eröffnete in der Folge noch zwei weitere Strategien. Zum einen konnten, wie bereits erwähnt, eigene Gegendefinitionen und Gegenfragen formuliert werden, um die Relativität, aber auch den Nutzen einer jeweiligen Definition deutlich zu machen. Und zum anderen konnten gemäß der Regeln der formalen Logik Einwände auf dieses Wissen als Wissen hin erhoben werden. Diesbezüglich zeigt sich vor allem, dass sich in fast noch jedem Wissen über „die Angst“, bestimmte, für einen bestimmten Zweck nützliche, Tautologien identifizieren lassen. Eine in der Person angenommene Kraft namens „Ängstlichkeit“ bspw. verweist dann nämlich zumeist, weil stattdessen kein Wille zur Tat mehr angenommen wird, in ihrer Erscheinungsform bloß noch auf sich selbst und auch andersherum. Sind damit jene beiden Perspektiven des Zugangs geklärt, die eine kritische Diskussion von Konzepten „der Angst“ als jeweils bestimmte und zu bestimmende Wissensangebote ermöglichten, folgt nun noch die Darstellung jenes Zugangs, mittels dessen eine Einordnung dieses jeweiligen Wissens, auch hinsichtlich seiner jeweiligen gesellschaftlichen Nützlichkeit und Funktion, vorgenommen werden konnte.
3 Von der Schwierigkeit eines angemessenen Begriffs der Gesellschaft oder: Zum Konzept der sozialen Ausschließung 3.1 Einleitung Inwiefern und in welchem Maße die konkreten Ängste einzelner betroffener Menschen aus je individuellen persönlichen Erfahrungen mit bestimmten Situationen herrühren, oder ob sie herrühren aus der individuellen Vorstellung der Möglichkeit einer solchen Situation, sind Fragen, die sich auf das jeweilige Phänomen und den Sich-Ängstigenden selbst beziehen – es sind also keine der vorliegenden Arbeit. Einmal mehr wurden keine „ängstlichen Menschen“ untersucht. Aussagen über das Wissen über „die Angst“ als ein Wissen, das auch Antworten zu geben versucht über Ängste in Situationen sozialer Ausschließung, sind hingegen durchaus Teil dieser Arbeit. Den Beweis der Notwendigkeit oder der Nicht-Notwendigkeit, der Angemessenheit oder der Nicht-Angemessenheit einer Angst in einer bestimmten Situation wird in dieser Arbeit nicht geleistet. Ob ein Mensch in einer bestimmten Situation sich als ein „Hasenfuß“, als ein „tapferer Krieger“ oder als etwas ganz anderes präsentiert und was die Folge dessen ist – ob er durch sein daraus folgendes Handeln, gemessen an seinem Interesse, scheitert oder erfolgreich ist – entscheidet sich ausschließlich am jeweiligen Menschen und der jeweiligen Situation. Angemessene Aussagen über diesbezügliche kausale Zusammenhänge lassen sich nicht treffen. Denn, wie es der Soziologe und Philosoph Zygmunt Bauman treffend formuliert: „Die Menschen neigen dazu, unterschiedlich, unberechenbar und unvorhersehbar zu sein“ (Bauman 1997: 115). Hingegen werden über bestimmte Aspekte gesellschaftlicher Verhältnisse Aussagen gemacht, die diese – gut begründet – als notwendige erscheinen lassen. Um somit letztendlich, wenn auch nicht über die Notwendigkeit einer konkreten Angst einer konkreten Person, so doch über die Notwendigkeit und/oder Möglichkeit einer systematisch und strukturell gegebenen Bedrohung bestimmter Personen in bestimmten Situationen sachgerecht und sozialwissenschaftlich aufgeklärt, eine Auskunft geben zu können. In Hinblick auf das zugrunde liegende Wissen über „die Angst“, in dem immer auch ein bestimmtes Verhältnis von einem Einzelnem zu der ihn umgebenden „(un-)gefährlichen“ Situation/Gesellschaft thematisiert wird, rückt so die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung über „soziale Ausschließung“ in den Mittelpunkt des Interesses.
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Das zugrunde liegende sozial- und geisteswissenschaftliche Wissen über „die Angst“ wird also, vor dem Hintergrund zweier grundsätzlich verschiedener Perspektiven auf „soziale Ausschließung“, auch dahingehend untersucht, inwiefern sich ihm Aussagen über das Verhältnis „ängstlicher“ Personen zu den sie umgebenden gesellschaftlichen Verhältnissen entnehmen lassen. Sodann wird geprüft, inwiefern diese als angemessene Beschreibungen der jeweiligen Situationen gelten können, oder ob sich diesem Wissen vielmehr zweckdienliche Antworten, in Bezug auf die Reproduktion herrschender Verhältnisse, entnehmen lassen. Doch vor einer solchen Prüfung steht eine Klärung gesellschaftlicher Verhältnisse, soweit sie für die vorliegende Analyse vonnöten ist.
3.2 Zur Auseinandersetzung um „soziale Ausschließung“ Im Folgenden sollen unter Zugrundelegung einiger wichtiger Texte (vgl. Anhorn/Bettinger/Stehr 2008; Bauman 1997; Cremer-Schäfer/ Steinert 2000; Cremer-Schäfer 1997; Steinert 2000, 1995) zum einen kurz die Geschichte des Begriffs, zum anderen zwei unterschiedliche, den jeweiligen Diskussionen über soziale Ausschließung zugrunde liegende, Modelle von Gesellschaft dargestellt werden. Im Anschluss werden zwei bestimmte Formen sozialer Ausschließung vor dem Hintergrund eines dieser beiden Modelle näher ausgeführt. Zunächst wird das Verhältnis von Erwerbsarbeit und sozialem Ausschluss und danach die Selektionsfunktion von Schule dargestellt. Ein spezieller Bezug der (Sozial-) Arbeit zu diesen Formen sozialer Ausschließung wird dann im Anschluss mit Hilfe des Begriffs der „professionellen Ideologie sozialer Arbeit“ von Cremer-Schäfer geleistet, bevor in einem Resümee die zentralen Einsichten dieses Kapitels in Bezug auf den weiteren Fortgang dieser Arbeit noch einmal zusammengefasst werden. 3.2.1
Zur Entdeckung des Begriffs der „sozialen Ausschließung“
Entdeckt wurde der Begriff der „sozialen Ausschließung“ 1964 auf einer Konferenz über Armut, die von der Unesco in Paris veranstaltet wurde (vgl. Klanfer 1969). Bemerkenswert angesichts der massiven Unruhen im Jahr 20055 von Seiten sozial ausgeschlossener Jugendlicher in Frankreich ist die damalige Begründung für dieses Thema. Die Armen in den Banlieus, den Pariser Stadtrand5
Vgl. www.tagesschau.de: „Schwerste Ausschreitungen in Frankreich. Polizei meldet ersten Toten bei Unruhen“ http://www.tagesschau.de/aktuell/meldungen/0,1185,OID4932044_NAV_ REF,00.html
Zum Konzept der sozialen Ausschließung
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siedlungen, wurden als ein „ausgeschlossenes“ Segment der Gesellschaft diskutiert, über das man viel zu wenig wisse. Daher, so Steinert, habe damals das intellektuelle Problem darin bestanden, wie es in einer „Gesellschaft des Überflusses“ anhaltende Armut geben und wie sich Armut in einer „Kultur der Armut“ kristallisieren könne (vgl. Steinert 2000: 7). Zu neuerlicher intellektueller Anstrengung könnte daher, 40 Jahre nach der Konferenz der Unesco, die folgende Frage anregen: Wieso war ein nun schon so lange währender Prozess wissenschaftlichen Nachdenkens über soziale Ausschließung offensichtlich keine real werdenden Lösungen zu entwickeln imstande, die die missliche Lage der Betroffenen (aktuell eben noch immer auch in Paris als auch anderswo) wesentlich hätten verbessern können? Ein erster Grund dafür könnte zunächst an der spezifischen Art liegen, wie „soziale Ausschließung“ unter Sozialwissenschaftler/innen zumeist diskutiert wurde und noch immer wird: nämlich als ein Problem für die herrschende Ordnung, statt eines Problems der herrschenden Ordnung; als ein sozialstaatlich zu lösendes, statt eines sozialstaatlich mitproduzierten; als ein durch persönliche Anstrengungen zu überwindendes, statt eines strukturell notwendigen Problems. Hinter diesen beiden Varianten stehen jeweils sehr unterschiedliche gesellschaftliche Interessen mit sehr unterschiedlichen Möglichkeiten der Durchsetzung ihrer jeweiligen Ziele. Diese disparaten Interessen und Ziele gilt es als die eigentlichen Gründe zu reflektieren, weswegen sich eine Veränderung der beschriebenen misslichen Lage so schwer gestaltet. 3.2.2 Zu den (mindestens) zwei Varianten, „soziale Ausschließung“ zu denken Auf die Unterschiede in den Konzepten zur „sozialen Ausschließung“ machen auch Steinert und Anhorn aufmerksam. Denn, so Steinert, jede Form der Integration beinhalte zunächst den notwendigen Widerspruch einer Grenzziehung und zöge dadurch Ausschließung nach sich. Diese Verbindung von Integration und Ausschließung werde politisch hergestellt, festgehalten und unterschiedlich benutzt (vgl. Steinert 2000: 14). Ähnlich grundsätzlich betrachtet Bauman die Frage von Ausschließung und Integration, wenn er schreibt: „Jede Gesellschaft trifft ihre eigene Entscheidung darüber, was sie bevorzugt oder toleriert“ (Bauman 1997: 115). Diese Entscheidung laufe auf eine zweifache Zumutung hinaus: eine Ordnung und eine Norm. In Folge dessen komme es zur Bildung von sozialen Kategorien und dadurch notwendig zu sozialer Degradierung. Menschliches Tun werde dann nicht mehr in seiner zwangsläufigen Differenz betrachtet, sondern stets in Relation zur herrschenden Norm gestellt. Degradierende und entmenschlichende Etiketten blieben demnach solange erhalten, wie Menschen als Ele-
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mente in ihrem Verhältnis zur Ordnung klassifiziert würden. Soziale Degradierung, die in der Folge eine bestimmte Behandlung nach sich ziehe, aber sei bereits soziale Ausschließung, deren Konsequenzen Bauman wie folgt beschreibt: „Abnormal bedeutet das Verlassen der bevorzugten Muster, daraus wird Abweichung, eine extreme Form der Abnormalität, ein Benehmen, das therapeutische oder strafrechtliche Interventionen nach sich zieht, wenn das in Frage stehende Verhalten nicht nur im Widerspruch zu den bevorzugten Mustern steht, sondern die Grenzen der tolerierbaren Wahlmöglichkeiten überschreitet“ (Bauman 1997: 116).
Welche pädagogischen Interventionen ein erfolgreich zugeschriebener und „abweichender“ Zustand namens „die Angst“ in der Folge nach sich ziehen kann, wird noch aufgezeigt werden. Auf den Punkt in allgemeiner Hinsicht jedenfalls bringt es diesbezüglich wiederum Bauman, wenn er schreibt: „Die Konzepte von Ordnung und Norm sind scharfe Messer, die sich gegen die Gesellschaft, so wie sie ist, richten; ihnen geht es in erster Linie um Trennung, Amputation, Beschneidung, Bereinigung und Ausschluss“ (Baumann 1997: 116).
Solche grundsätzlichen Überlegungen über die notwendigen Konsequenzen einer durchgesetzten gesellschaftlichen Ordnung führen zu der Frage: Was ist der Begriff der aktuell herrschenden Ordnung, welche Normen, welche Prinzipien und ihre jeweiligen Folgen lassen sich in dieser identifizieren? Soziale Ausschließung, so Steinert, sei ein „notwendiger Bestandteil auch der bürgerlichen und kapitalistischen Vergesellschaftung mit ihrem universalistischen Anspruch – die seinerseits diese Tatsache erst auffällig macht“ (Steinert 2000: 10). Er bestimmt, dass die Form der Vergesellschaftung, in der wir leben, aus dem 19. Jahrhundert stammt und auf Warenförmigkeit beruht, insbesondere auf Lohnarbeit, Privateigentum und dem privaten Haushalt. In der Folge müsse die Theorie des sozialen Ausschlusses, die er mit Überleben und Untergang in der Konkurrenz übersetzt, der dritte elementare zu kritisierende Bestandteil bürgerlicher Ideologie neben der politischen Ökonomie und der Gesellschafts- und Staatstheorie sein (vgl. Steinert 1995: 83). Statt sich aber nun um eine Bestimmung und einer Kritik dieses elementaren, zu sozialer Ausschließung führenden Bestandteils im Kapitalismus zu bemühen und sich in der Folge um die Frage nach der Mächtigkeit des sich fortlaufend durchsetzenden Interesses für die Erhaltung dieses Bestandteils zu kümmern, stellen sowohl der neoliberale Underclass-Diskurs in den USA als auch der europäische Exklusions-Diskurs keine Diskussionen über strukturell notwendige Formen sozialer Ausschließung dar, sondern im Wesentlichen Diskurse über ausgeschlossene Gruppen und über verschiedene vorgestellte Möglichkeiten ihrer Integration (typisch hierfür z.B. Kronauer 1993; 2002). Dies ist für die
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vorliegende Arbeit insofern von erheblicher Bedeutung, als bei der Analyse des Wissens über „die Angst“ jeweils geprüft wurde, welcher dieser Diskurse dem jeweiligen Wissen über „die Angst“ zugrunde liegt. Einen praktischen Vorteil personalisiert geführter Debatten unter dem Label „soziale Ausschließung“ fasst Anhorn (2005) wie folgt zusammen: „Mit der vorherrschenden diffusen Verwendung des Begriffs ‚Exklusion/Ausgrenzung’ und der daraus abgeleiteten Zielvorstellung einer integrierten (und das heißt nicht unbedingt auf die Minimierung sozialer Ungleichheiten ausgerichteten) Gesellschaft wird ein Terrain für Forschungsaktivitäten und politische Interventionsstrategien abgesteckt, das sehr viel unverfänglicher und unstrittiger zu sein scheint als z.B. der traditionelle, mit einer ungleichen Verteilung des gesellschaftlichen erzeugten Reichtums assoziierte Armutsbegriff, dem zunehmend mit ideologischen Vorbehalten begegnet wird (und der folgerichtig auch weitgehend durch den Exklusionsbegriff ersetzt worden ist)“ (Anhorn 2005: 23).
Dazu ähnlich auch Steinert: „Soziale Ausschließung war eine weniger anstößige Bezeichnung. Sie eignete sich außerdem dafür, auf besondere ‚Problemgruppen’ hinzuweisen (Alleinerziehende, Alte, Immigranten) und so Fragen der gemeinen wirtschaftlichen Not zu umgehen“ (Steinert 2000: 9).
Solchen Diskussionen liegt offensichtlich ein ganz anderes Gesellschaftsmodell, als das eben unter Bezugnahme auf Steinert als „kapitalistisch“ bestimmte, zugrunde. Das zentrale Strukturmerkmal besteht hier nicht im Widerspruch von Kapital und Arbeit, sondern stattdessen in der Annahme einer horizontalen Spaltung zwischen einer integrierten Mehrheit (gesellschaftliches Zentrum) und einer ausgeschlossenen Minderheit (gesellschaftliche Randzone, Peripherie). Das „Innen“ der Gesellschaft wird dabei weitgehend als geordnet, homogen und auf Konsens basierend, eben als „integriert“ konzipiert, während die im „Außen“ angesiedelten Individuen und Gruppen nicht nur außerhalb der Gesellschaft verortet werden, sondern darüber hinaus als Ort und Quelle der Unordnung, Desintegration, Pathologie und letztlich als Bedrohung des geordneten „Innen“ wahrgenommen werden. Anhorn führt diese Gedanken bezogen auf die beiden Ausschließungsdiskurse in den USA (Underclass-Diskurs) und den europäischen ExklusionsDiskurs folgendermaßen weiter aus. Diese Vorstellung einer primär horizontal dichotomisierten Gesellschaft habe eine Reihe von theoretisch wie praktisch folgenreichen Implikationen. Fragen der sozialen Ungleichheit in den vertikalen Dimensionen der Ausbeutung und Unterdrückung, der Unterschiede an Machtund Herrschaftsressourcen, der ungleichen Verteilung als Ganzes rückten tendenziell aus dem Fokus der wissenschaftlichen Analyse und politischen Aufmerksamkeit, so dass Ausschließung als Problem buchstäblich an peripheren Phänomenen und nicht an Strukturmerkmalen im Zentrum der Gesellschaft fest-
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gemacht werde (vgl. Anhorn 2005: 23). Die Lösung sozialer Ausschließung reduziere sich so auf die Frage eines individuell zu bewerkstelligen „Grenzübertritts“ vom Draußen ins Drinnen, während im Kernbereich der Gesellschaft die Strukturen und Prozesse, die kontinuierlich soziale Ausschließung generieren, unangetastet blieben. Ein Gesellschaftsmodell, das soziale Ungleichheiten nur mehr in der horizontalen Dimension einer Innen-/Außenspaltung thematisiere, ließe sich aber problemlos mit der Vorstellung einer klassenlosen Gesellschaft und der Begründung einer selektiven Sozialpolitik verbinden (vgl. Anhorn 2005: 24). Der neo-liberale Underclass-Diskurs stelle ein „sinnhaftes“ Angebot zur Erklärung unterschiedlichster sozialer Phänomene (Armut, Kriminalität, Wohnungslosigkeit, veränderte Familienstrukturen, Schulversagen, Drogen etc.) dar, das angesichts zunehmender ökonomischer Turbulenzen und sozialer Unsicherheiten, die bis weit in die Mittelschichten hineinwirken, auf fruchtbaren Boden falle und das mit der Diskreditierung traditioneller sozialstaatlicher Interventionen den „Krieg gegen Armut“ in einen „Krieg gegen die Armen“ verkehre. Unter Bezug auf Wacquant und Gans macht Anhorn deutlich, wie mit kulturalistisch, teilweise auch biologistisch (vgl. Wacquant 2006: 14; Gans 1995: 37) begründeten Differenzen zwischen unterprivilegierten Minderheiten und der Mehrheitsgesellschaft nicht nur eine systematische Moralisierung und Pathologisierung von Armut und Abweichung betrieben werde; Armut und Abweichung selbst würden so zu legitimen Anlässen weiterer Prozesse repressiver sozialer Ausschließung. Mit Ausnahme der als überholt, weil kontraproduktiv erachteten Institutionen des Sozialstaats rücke, so Anhorn weiter, nicht mehr die Gesellschaft in ihren soziale Ungleichheiten systematisch erzeugenden Strukturen, sondern eben das Verhalten „armer“, „störender“ Individuen in den Fokus sozialwissenschaftlicher Analyse und politischer Programmatik (vgl. Anhorn 2005: 27 f.). Dem europäischen Exklusions-Diskurs liege, ähnlich wie dem US-amerikanischen Underclass-Diskurs, ein Bild von Gesellschaft als eines homogenen, von einem normativen Konsens zusammengehaltenen Ganzen zugrunde. Soziale Konflikte, Ungleichheiten und Ausschließungen werden nicht als Ausdruck der in der Grundstruktur einer kapitalistisch verfassten Gesellschaft begründeten und in ihrem Rahmen unaufhebbaren Widersprüche und Konflikte begriffen. Stattdessen fasse man diese Vorgänge als Ergebnisse von prinzipiell „heilbaren“ Pathologien oder von sozialen Problemen klassifizierbarer Gruppen und Individuen auf. Gruppen und Individuen also die in erster Linie aufgrund fehlgeschlagener Sozialisations- und Erziehungsprozesse aus dem Kanon gesellschaftlich allgemein akzeptierter Werte und Normen herausgefallen und infolgedessen in der Wahrnehmung ihrer sozialen und ökonomischen Aufgaben und Pflichten beeinträchtigt seien (vgl. Anhorn 2005: 30).
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Schließlich signalisiere ein Blick auf die vielfältigen europäischen Forschungsund Aktionsprogramme zur „Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung“ auch eine Engführung des Integrationsbegriffs auf Integration in den Arbeitsmarkt. Die Tendenz zur Reduktion des Sozialen auf das Ökonomische und hier wiederum des Ökonomischen auf Arbeitsmarkt und Lohnarbeit impliziere ein Verständnis, das erstens Integration in eine kapitalistisch verfasste Ökonomie, die nach den Prinzipien der Ausbeutung und Profitmaximierung funktioniere, fraglos voraussetze. In der Folge dessen werde die Frage nach den Klassenverhältnissen, d.h. den eklatanten Ungleichheiten innerhalb der Lohnabhängigen einerseits und zwischen Lohnabhängigen und Eigentümern an Produktionsmitteln andererseits, systematisch ausgeblendet. Zweitens würden mit der Lohnarbeitszentrierung implizit unbezahlte Formen der (Haus-, Familien- und Erziehungs-) Arbeit abgewertet und auch dadurch die herrschenden Geschlechterverhältnisse weiter fortgeschrieben. Drittens würden diejenigen Gruppen, für die die Integration in den Arbeitsmarkt keine Option (mehr) darstelle (alte Menschen, chronisch Kranke, „Behinderte“), aus dem Blick verloren und damit Ausschließungsverhältnisse aufgrund von Merkmalszuschreibungen wie Alter und Krankheit noch weiter verfestigt (vgl. Anhorn 2005: 31). Auf der Grundlage dieser Ausführungen werden im Folgenden die eben genannten herrschenden Prinzipien, wie Ausbeutung und Profitmaximierung, einmal nicht vorausgesetzt, sondern selbst zum Gegenstand der Betrachtung. Ausschluss erweist sich dann als die eigentliche Voraussetzung für Lohnarbeit. Die Analyse ist der Notwendigkeit der Produktion von Hauptschülern und Gymnasiasten im staatlichen Schulwesen gewidmet; also der Selektionsfunktion von Schule. Der Grund für die Auswahl dieser beiden Formen sozialer Ausschließung liegt in der Relevanz dieser für die vorliegende Analyse über „die Angst“. Es kann angenommen werden, dass das diesbezügliche Wissen teilweise auch als eine spezifisch nützliche Antwort auf solche Situationen sozialer Ausschließung (in Ausbildung und Beruf) verstanden werden kann. Zum anderen spricht allein schon die Menge der Literatur zu Ängsten von Kindern und Jugendlichen in der Schule dafür, sich die strukturellen Bedingungen des Lernens in dieser Institution genau anzuschauen. 3.2.3 Sozialer Ausschluss – zur Bedingung von Erwerbsarbeit Die Tatsache von fünf Millionen (oder mehr) Arbeitslosen wird im Folgenden an keiner Stelle als ein „wichtiges soziales Problem“ definiert. Stattdessen sollen, die von Steinert und Anhorn angeführte Tatsache vorangestellt, dass die Form der Vergesellschaftung in der wir leben, auf Warenförmigkeit beruht, also Kapi-
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talismus ist, Fragen zum Themenkomplex „soziale Ausschließung“ erörtert werden, die andernfalls zumeist eher unreflektiert bleiben. Es stehen nun solche Fragen im Mittelpunkt, die sich aus den in der bestehenden Ordnung existierenden grundsätzlichen Regeln und Prinzipien selbst ergeben. In den weiteren Ausführungen wird auch auf eine mögliche Unterscheidung der verschiedenen Phasen des Kapitalismus kein Bezug mehr genommen. Mit einer Einteilung in z.B. (Manchester-)Kapitalismus (ab Mitte des 19. Jahrhundert), Fordismus (ab Beginn des 20. Jahrhunderts) bis hin zum Neoliberalismus (ab den 1980er Jahren) kann darauf aufmerksam gemacht werden, dass hinsichtlich dieser unterschiedlichen historischen Phasen, bezogen auch auf die Ent- und Abwicklung des Sozialstaats, in unterschiedlicher Weise Möglichkeiten der Partizipation am gesellschaftlich produzierten Reichtum als auch umgekehrt verschiedene, je spezifische Formen sozialer Ausschließung, beschrieben werden können (vgl. hierzu Hirsch/Roth 1986; Hirsch 1995, 2002). Andererseits kann festgehalten werden, dass es ein regelmäßiges Charakteristikum eines nicht analytischen und nicht kritisch-reflexiven Nachdenkens über den Kapitalismus als Neo-Liberalismus darstellt, dass grundlegende kapitalistische Prinzipien, die auch bereits zuvor schon wirksam waren, erst in dieser dergestalt beschriebenen Form entdeckt und somit auch erst dann und dort kritisiert werden. In der Folge eines solchen Nachdenkens über Phasen des Kapitalismus wird dann häufig eine Unterscheidung vorgenommen, die sich beschreiben lässt als eine Unterscheidung in einen „guten“ und einen „bösen“ Kapitalismus. Im „bösen“ Kapitalismus bzw. eben im Neoliberalismus gehe es dann „bloß“ noch um den Profit, um den sich aber zentral doch auch zuvor schon alles drehte. Helmut Schmidt bspw. schreibt hierzu in „Der Zeit“ vom 04.12.2003 unter der Überschrift „Das Gesetz des Dschungels“, dass manche Manager nun allen Anstand vergessen würden und sich ein „Raubtierkapitalismus“ durchzusetzen drohe (vgl. Schmidt 2003). Und der ehemalige SPD-Vorsitzende Müntefering sprach in ähnlicher Weise 2005 von Investoren als „Heuschreckenschwärme“ (vgl. Leicht 2005). Von wissenschaftlicher Seite erfährt eine solche Unterscheidung Unterstützung bspw. von Seiten des Attac-Mitglieds und deutschen Wirtschaftswissenschaftlers Huffschmid (vgl. Huffschmid 2002). Bezogen auf das Thema „die Angst“ aber, als ein als „unbestimmt“ bestimmter Zustand, ist es hilfreich über die eben sehr grundsätzlichen und seltener ausgeführten Prinzipien dieser Verhältnisse eine Auskunft zu geben. Im Ergebnis kann dann das Verhältnis dieser so beschriebenen Prinzipien zum Wissen über „die Angst“ bestimmt werden. Zum Verständnis dieser Prinzipien ist die Darstellung der Entwicklung von der Waren- zur Geldform, wie sie bei Marx im Kapital (Marx 1989: 62-85) zu finden ist, hilfreich. Warenförmigkeit bedeutet zunächst, und diese Aussage
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kommt zumeist als Lob der Marktwirtschaft daher, dass alles nunmehr (im entwickelten Kapitalismus) gegen Geld zu haben ist. Die Härte des hierzu logisch spiegelbildlichen Schlusses, dass dann aber eben auch alles nur gegen Geld zu haben ist, soll nun ausgeführt werden. Denn daraus folgt, dass in einer klassenmäßig sortierten Gesellschaft sich alle, unter den jeweils verschiedenen gesellschaftlichen Voraussetzungen, Geld besorgen müssen. Jede Person ist gezwungen, bestimmte Mengen des allgemeinen Äquivalents ihr Eigentum zu nennen, so sie sich bspw. etwas kaufen will. Will sie also die eine Ware „Geld“ gegen eine andere Ware, z.B. das vorliegende Buch, tauschen, dann geht das nur, wenn sie sich zuvor in den Besitz dieses allgemeinen Äquivalents hat bringen können. Daher entscheidet sich in einer auf Warenförmigkeit beruhenden Welt fast alles daran, ob jemand schon über Geld verfügt oder ob er sich erst welches besorgen muss. Denn: „Zur Verwandlung von Geld in Kapital muß der Geldbesitzer also den freien Arbeiter auf dem Warenmarkt vorfinden, frei in dem Doppelsinn, daß er als freie Person über seine Arbeitskraft als seine Ware verfügt, daß er andererseits andre Waren nicht zu verkaufen hat, los und ledig, frei ist von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen“ (Marx 1989: 183).
Hat er kein Geld, dann muss er jemanden finden, der welches hat und der bereit ist, ihn an seinem Eigentum arbeiten zu lassen, also seine Arbeitskraft zu kaufen. Denn wer dort, wo bereits alle Gebrauchsgüter schon jemandes Eigentum sind, kein eigenes Eigentum hat, der kann sich von sich aus auch keines verschaffen; denn auch dazu fehlen ihm – sie sind ja ebenfalls Eigentum – die nötigen Mittel. Diese Mittel aber würde er brauchen, um ein eigenes Produkt herstellen zu können, dessen Tauschwert sich am Markt realisieren ließe. Der, der ihn bezahlt, weil er über solches Eigentum verfügt, macht dies nur unter der Bedingung, dass die Arbeit, die er bezahlt, auch einen Nutzen für ihn hat. Dieser Nutzen sieht unter dieser Voraussetzung so aus, dass die angewendete Arbeit ihm Geld bringt. Denn will er kein Geld verschenken, dann wird er dafür Sorge tragen, dass die von ihm bezahlte Arbeit auch rentabel ist, also ihm einen Gewinn verschafft. Jeder, der für sein eigenes Bedürfnis Sorge tragen möchte, und dies mangels eigenen Kapitals nicht alleine kann, ist also in der Welt der Marktwirtschaft darauf verpflichtet, zunächst für ein fremdes Interesse zu sorgen – sprich: für es zu arbeiten. Und auf der anderen Seite unterbleibt solche Arbeit eben auch, wenn sie nicht rentabel ist, d.h., wenn sie dem Unternehmen, in dem und für das sie stattfindet, nicht genügend einbringt, um in der Konkurrenz, der „Globalen“, zu bestehen. Und da sie deswegen stattfindet, weil sie einem Unternehmen einen Gewinn verschafft, ist Rentabilität das eigentliche Ziel, für das sie stattfindet. Zu sagen, das Ziel des Marktes läge in der Versorgung der Menschen mit Ge-
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brauchsgütern, ist daher unangemessen. Der Erwerb dieser Gebrauchsgüter, also die Befriedigung der eigenen materiellen Bedürfnisse, findet wiederum immer schon ihre absolute Schranke in der Summe des jeweilig verfügbaren Geldes. Hinzu kommt noch dazu, dass der gezahlte Lohn (von dem die eine Seite lebt) einen wesentlichen Kostenfaktor für die andere Seite darstellt und daher dort möglichst gering ausfallen muss. Und das unabhängig davon, ob in der jeweiligen Geschäftsleitung „gute“ oder „schlechte“ Menschen sitzen. Wer Eigentum besitzt und es darauf anlegt, es zu vermehren – was für ein Unternehmen stets das erste Ziel ist, schließlich sei „Wachstum notwendig“ – wird also versuchen aus der Arbeit seiner Angestellten immer mehr Leistung bei immer geringerer Bezahlung herauszuholen. Dass weniger Arbeit in Anbetracht weitreichender Rationalisierungsmaßnahmen auch einmal weniger Mühe für alle bedeuten könnte, ist unter diesen Voraussetzungen ausgeschlossen. Es ist so betrachtet also der grundsätzliche Ausschluss aller vom Eigentum anderer, der dazu führt, dass eine „Integration“ unter den angeführten „ungemütlichen“ Bedingungen in den Arbeitsmarkt für eben die, die nicht über genügend Eigentum verfügen, zwingend vonnöten wird. Unter diesen marktwirtschaftlichen Bedingungen ist Integration somit nur unter jenen Prinzipien zu haben, die den Ausschluss in Form von Arbeitslosigkeit immer wieder hervorbringt. Integration ist demnach also die Kehrseite und Bedingung einer zuvor stattgefundenen Ausschließung. Und dieser gegenseitige Ausschluss ist es auch, den zu bewahren eine Aufgabe des staatlichen Gewaltmonopols darstellt. Ausbeutung kann dann verstanden werden als das vorherrschende Prinzip ganz normaler Erwerbsarbeit. Denn wo der Arbeitnehmer eben nur seines Nutzens für die Rentabilität des Unternehmensgewinns wegen eingestellt ist, und bei erwiesener Unnützlichkeit seiner Tätigkeit einem Großteil der Möglichkeiten der Befriedigung eigener Bedürfnisse beraubt – also entlassen – wird, da müssen seine persönlichen Bedürfnisse sich hinten „anstellen“. In jedem Fall hinter das fremde Interesse nach seiner Nützlichkeit. So betrachtet kann dann aber auch eine Diskussion, die die Frage nach der Höhe des Einkommens oder den konkreten, vielleicht auch „arbeitsschutzrechtlichen“ Bedingungen des Arbeitsplatzes in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung über Kriterien für Ausbeutung stellen will, als der Sache nach unangemessen beschrieben werden. Wenn so gesehen deutlich wird, dass eine besondere Härte dieser Verhältnisse, jedenfalls der Mehrheit der Bevölkerung gegenüber, nicht darin liegt, dass Arbeit nicht stattfindet, wenn sie unrentabel ist, sondern vielmehr darin, dass sie hier in erster Linie stattfindet, weil es um Rentabilität geht, und dass ein soziales Problem nicht erst dann vorliegen kann, wenn Menschen, die Arbeit brauchen, oft keine finden, sondern schon darin, dass sie Arbeit brauchen und dann sich
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nicht sicher sein können, ob sie überhaupt welche finden – dann spricht tatsächlich wenig dafür, erst dann von „sozialer Ausschließung“ zu sprechen, wenn Menschen arbeitslos wurden. Es spricht dann auch wenig dafür, erst diesen Vorgang, den Eintritt in die Erwerbslosigkeit, zu einem „sozialen Problem“ zu machen. Denn das eigentliche gesellschaftliche „soziale Problem“ ist so betrachtet etwas ganz anderes, es liegt in einem sehr grundsätzlichen, in einem gesellschaftlichen Widerspruch – eben in jenem bereits erwähnten von Kapital und Arbeit. Und das ist ein Widerspruch, auf den hin eine unbestimmte bzw. diffuse Angst, zumindest ein Unbehagen in der Gesellschaft – bleibt dieser Widerspruch von Seiten der betroffenen Personen dergestalt ausgeführt unbegriffen – als eine mögliche Reaktion angenommen werden kann. Dann kann das Wissen über „soziale Ängste“ auch als eine Antwort auf solche Situationen sozialer Ausschließung, besser: sozialen Ausschlusses, verstanden werden. Die Frage, inwiefern sich dieses Wissen in Bezug auf die Situation der jeweiligen Personen als unangemessen, aber in Hinblick auf die Reproduktion herrschender Verhältnisse hingegen als überaus nützlich erweist, steht im Zentrum der vorliegenden Untersuchung. Cremer-Schäfer/Steinert weisen auf Fehler und Folgen hin, die mit der Nichtbetrachtung gesellschaftlicher Widersprüche einhergehen können, wenn sie in diesem Zusammenhang die von ihnen so genannten „KontrollWissenschaften“ kritisieren, zu denen sie die „Soziale-Probleme-Soziologie“, von der weiter oben schon mehrfach die Rede war, die Sozialpädagogik, von der noch die Rede sein wird, und die reformierte Kriminologie zählen und bemerken: „Sie produzieren falsches Bewusstsein, indem sie Vorgänge der sozialen Ausschließung als solche leugnen und sie in bewältigbare sozialtechnokratische ‚Probleme’ umdefinieren“ (CremerSchäfer/Steinert 2000: 47).
3.2.4 Selektion - zur Funktion von Schule Das Ziel der nachfolgenden Ausführungen ist der Nachweis der Existenz struktureller Mechanismen in der Institution Schule, die notwendig zum sozialen Ausschluss eines großen Teils der sie besuchenden Schüler führen muss. Diese Zusammenhänge verdienen umso mehr Aufmerksamkeit, wie sie in erziehungswissenschaftlichen Diskursen üblicherweise vernachlässigt werden. Die von Anhorn beschriebene Verlagerung der Diskussion über soziale Ausschließung von Fragen der vertikalen hin zu horizontalen Dimensionen der Ungleichheit fand in Bezug auf die Institution Schule ihre sinngemäße Entsprechung. Diese vollzog sich 1970 durch eine Umbenennung ihrer Glieder von
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Seiten des Deutschen Bildungsrates. Hauptschule, Realschule und Gymnasium waren von da an nicht mehr getrennte Schultypen, denen die gesellschaftliche Sortierung von oben nach unten leicht entnommen werden konnte. Diese Bezeichnungen sollten von nun an für die Ausdifferenzierung eines einheitlich horizontal gegliederten Schulwesens stehen, das sich zusätzlich bloß noch nach Elementar-, Primar-, Sekundarstufe I, Sekundarstufe II und dem Tertiären Bereich unterscheidet (vgl. Deutscher Bildungsrat 1970: 70 ff.). Aber sowohl die einfache Frage, wo denn eigentlich die Sekundarstufe II der Haupt- und Realschulen zu finden sei, als auch die Frage nach dem Grund für das besondere Interesse so vieler Schüler nach den gymnasialen Abteilungen der beiden Sekundarstufen, verweisen darauf, dass die Umbenennung ein „Etikettenschwindel“ war, der die (auch sozialen) Unterschiede zwischen den Schüler/innen, die die Schule fortwährend mitproduziert, zu verschleiern nicht imstande ist. Was ist damit gemeint? Zunächst: Als ein neu in die bundesrepublikanisch deutsche Gesellschaft hinzu stoßender Mensch ist man per Gesetz ab dem Alter von sechs Jahren zu einem mindestens zehn Jahre währenden Aufenthalt in einer Einrichtung namens Schule verpflichtet. Schon diese Tatsache wirft die nahe liegende Frage auf, wie unangenehm für die betreffenden Personen eigentlich diese Veranstaltung sein muss, dass ein solch gesetzlicher Zwang vonnöten wird. Der Soziologe Ulrich Oevermann fordert nicht zuletzt auch deshalb die Abschaffung der staatlichen Schulpflicht, weil damit die Unterstellung von Faulheit und Desinteresse einhergehe, was für die Motivation der Schüler nicht eben von Vorteil sein könne. Stattdessen solle man die Interessen der Schüler aktiv einbinden und die von ihnen mitgebrachte Neugierde zum Dreh- und Angelpunkt des schulischen Unterrichts machen (vgl. Oevermann 1996: 70 ff.). Doch vor einer Verwirklichung eines solchen Konzepts steht das staatliche Interesse an einer „Siebung“ des nationalen Nachwuchses zur Verteilung desselben auf die Hierarchie der Berufe. Bildung ist nicht zuletzt deshalb als eine Pflicht organisiert, weil sich alle Einwohner dieses Landes im schulischen Leistungsvergleich zu bewähren haben. Um Unterschiede zwischen den Schülern zu ermitteln, stellt die Schule sie durch die eigene schulische Tat selber her. So kommt denn auch der Erziehungswissenschaftler Freerk Huisken zu dem Schluss: „So wird der Nachwuchs durchgängig mit Leistungsanforderungen konfrontiert, an denen Schüler scheitern können müssen, wenn das staatliche Programm gelingen soll“ (Huisken 1998: 234).
Die Produktion von Verlierern wird unumgänglich, wo Sieger hervorgebracht werden sollen. Das Eine ist die logische Kehrseite des Anderen. Und es steht somit schon fest, noch bevor eine Anzahl von Kindern in eine Grundschule
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kommen, dass ein guter Teil von ihnen, unabhängig davon, wie sie sich demnächst anstrengen werden, vom Zugang zu höherer Bildung und damit von besseren Möglichkeiten zur Ergreifung besser bezahlter Arbeiten ausgeschlossen sein wird. Dementsprechend wird auch, solange an den Strukturen selbst nichts geändert wird, der folgende Satz nicht ausgesprochen werden können: „Dieses Jahr haben sich aber wirklich fast alle Schüler besonders gut angestrengt, wir entscheiden daher, einen Hauptschuljahrgang ausfallen zu lassen, er wird nicht benötigt.“ Ein solcher Vorgang wird solange ausgeschlossen sein, wie es Hauptschulen geben muss, die dann auch ein Interesse an Schülern haben.6 Der Druck, der in jeder der Schulformen erzeugt wird, resultiert zunächst aus dem für die Selektion notwendigen Lernen von Stoff in vorgegebener Zeit. Testarbeiten am Ende eines Themas können des Zeitpunkts wegen nicht zum Inhalt haben, zu prüfen, welcher Schüler noch welche Unterstützung benötigt, um den Stoff vielleicht doch noch verstehen zu können. Es sollen damit keine Mängel des bisherigen Lernvorgangs ermittelt und behoben werden. Der Test findet statt, weil den Stoff einige noch nicht, viele ein bisschen, und nur wenige ihn ganz verstanden haben. Dieses Vorgehen stellt die Bedingung dafür dar, dass im Ergebnis eine Rangskala ermittelt werden kann, bei der die Schüler von sehr gut bis ungenügend einsortiert werden können. Mit dieser Vorgehensweise ist aber noch eine andere, für die Schüler unangenehme Folge verbunden. Denn es wird ihnen damit zwar eine individuelle Anstrengung abverlangt, und diese fließt auch in die Leistungsbewertung mit ein, macht sie aber alleine nicht aus. Unabhängig nämlich, wie sich jemand einmal angestrengt hat, ob er endlich den Pythagoras verstanden hat oder ein Gedicht hat auswendig aufsagen können – er kann sich nicht sicher sein, dass diese seine Anstrengung auch seine schulische Leistung verbessert. Denn diese Anstrengung zählt immer nur im Vergleich zur Leistung seiner Mitschüler in seiner Klasse oder seines Jahrgangs, oder im Vergleich zu den als Norm festgeschriebenen Leistungen irgendeiner noch größeren Schülerzahl. Die Resultate seiner individuellen Anstrengung zählen also als Leistungen nur relativ zu der aller anderen Mitschüler. Leistungsmessung in der 6
Dagegen ist es auch kein vernünftiger Einwand, darauf hinzuweisen, dass doch der schulische Erfolg nicht in der Art und Weise ausschließend sei, dass es auf einen singulären Sieger hinausliefe. Das Feld derer, die auf die verschiedenen Schulgattungen verteilt würden, die im Leistungsvergleich sich in der Notenhierarchie nach wie vor auf die hinteren Ränge sortieren lassen müssten, wäre dennoch nach wie vor unverändert, so dass sich all jene, die „es schaffen“, zwar wie die Sieger vorkommen dürfen – anders als beim sportlichen Wettkampf aber werden damit für die Verlierer Entscheidungen über ihren künftigen Lebensweg gefällt, und das schon nach der Grundschule: „Der Übergang der Schüler/-innen in die verschiedenen Schularten des Sekundarbereichs stellt eine zentrale Vorentscheidung hinsichtlich der späteren Möglichkeiten zur beruflichen Ausbildung dar, die ihrerseits wiederum mit der späteren beruflichen Zukunft in Zusammenhang steht“ (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2001: 88).
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Schule ist daher immer auch vergleichende Leistungsmessung. Daher notiert Huisken in Bezug auf die Anstrengungen der Schüler: „Das einzige Mittel, auf das sie verwiesen sind, wenn sie in der Schule auf einen grünen Zweig kommen wollen, ist demnach gar nicht ihr Mittel, sondern das Instrument der Schule zur Herstellung und Festschreibung von Leistungsunterschieden zwischen ihnen“ (Huisken 1998: 243).
Die so ermittelten und mittels der Notengebung in eine Hierarchie gebrachten unterschiedlichen Leistungen dienen zunächst der Entscheidung, in welche Schulform mit entsprechend unterschiedlichen Chancen ein Schüler kommen soll. Allerdings ist es auch hier wieder nicht so, dass sich aus einer bestimmten Notenverteilung die Übergangsquote ergeben würde; umgekehrt ergibt sich aus der bildungspolitisch begründeten Festlegung einer Übergangsquote, ab welcher Durchschnittsnote sich die Wege der Schüler endgültig trennen. Es wird also immer gesondert darüber befunden, was denn nun die Gesamtnote für die weitere Schulkarriere wert ist – und zwar von Seiten der Kultusbehörde, die, mitunter sehr präzise, entscheidet, wie viele Schüler zum Gymnasium zugelassen werden sollen. Für den Übergang von der Oberstufe in die Studienfächer mit einem NC gilt das ähnlich, denn wieder hat es der Schüler auch hier nicht selbst in der Hand, mittels der ihm durch den Vergleich sich ergebenden attestierten Leistung seinen Erfolg zu suchen und zu finden. Zunächst gilt es eben auch hier die bildungspolitische Frage zu klären: Wie viele Studierende des Studienfaches X braucht denn das Land? Dazu Huisken: „Die doppelte Bewertung – die Bewertung der schulischen Anstrengung als Note und die anschließende Bewertung der Zeugnisnote als Zertifikat, das den Besuch der höheren Schule erlaubt oder untersagt – begründet sich nämlich nicht aus seiner Leistung, sondern bedient sich ihrer“ (Huisken 1998: 257).
Wenn nun deutlich geworden ist, dass Chancengleichheit eine Bedingung für das schulische Sieben darstellt, dann wird diese in der Folge nicht mehr zu einer Sache, die es einzufordern gilt. Richtig ist, dass nicht mehr Herkunft, „Rasse“ oder Stand darüber entscheiden, welcher Bildungsweg dem Einzelnen einzuschlagen möglich ist. Aber Chancengleichheit ist, so betrachtet, selbst eine Form des Ausschlusses von weiterführender Bildung für einen Teil des Nachwuchses. Dieser erfolgt nun nicht mehr vor Bildungsbeginn, sondern, wie eben gezeigt, durch den dergestalt organisierten Prozess der Bildung selbst. Ähnlich wie im Falle der Diskussion über „soziale Ausschließung“ 1964 auf der oben angeführten Pariser Konferenz kann denen, die „Chancengleichheit“ einforderten und nach wie vor sehr dafür sind – nicht zuletzt auch einer Verbesserung der ökonomischen Lage der Arbeiterklasse wegen – nach mehr als 40 Jahren Diskussion
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darüber nicht entgangen sein, dass es nun noch immer beides gibt: Chancengleichheit und eine Arbeiterklasse. Ähnliches gilt für andere Diskussionen über Chancengleichheit: sei es, dass diese für Frauen, für Migranten, für Menschen mit Sprach- oder mit Sehproblemen oder sonst einer „Problemgruppe“ eingefordert wird. Daran, dass Schule Selektion betreibt, und somit verantwortlich zeichnet für die Verteilung der Schüler auf die Hierarchie der Berufe, ändert sich dadurch nichts. Solche Diskussionen entsprechen denn auch einmal mehr der von Anhorn also auch von Steinert kritisierten Verlagerung der Diskussion um soziale Ausschließung von vertikalen und strukturellen Fragen auf solchen nach „exkludierten Problemgruppen“, die „endlich integriert“ werden müssen. Es ist dies der immer wieder neu variierte Ruf nach einer gerechten statt nach keiner Auslese. Und an der Arbeitsteilung selbst kann die Notwendigkeit einer solchen Auslese übrigens auch nicht liegen. Denn dass mit der Teilung von Arbeit und ihrer Aufteilung auf entsprechend qualifizierte Menschen zugleich die Teilnahme am und über den Ausschluss vom geistigen und materiellen Reichtum entschieden sein soll, das lässt sich der Arbeitsteilung selbst nicht anlasten. Es erscheint aufgrund der vorangegangenen Ausführungen daher auch paradox, wenn Bildung in den einschlägigen Untersuchungen zu Armut und sozialer Ausschließung (vgl. dazu den 1. und 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung; Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2001, 2005) als der wesentliche Schlüssel zu gesellschaftlicher Teilhabe besprochen wird. Bildung stelle demnach so etwas wie eine Risikovorsorge gegen Erwerbslosigkeit dar – dies aber bei gleichzeitiger Existenz eines Bildungssystems, dass gerade die Auslese seiner Schulpflichtigen nicht als ein unerwünschtes Nebenprodukt, sondern als eine Leistung eigener Art, die von der Wissensvermittlung nicht zu trennen ist, institutionalisiert hat. Das Bildungssystem trennt dementsprechend systemgemäß das Gros der Bürger von einem Zugang zu den Bildungskarrieren der höheren Art - der Bildungspolitiker und seine ihn beratenden Sozialwissenschaftler empfehlen zur Vermeidung der damit drohenden sozialen Ausschließung aber zugleich ein Mehr an Bildung. 3.2.5 Zur professionellen Ideologie der Sozialarbeit und einem kritischen Konzept von sozialer Ausschließung Ein Verständnis von sozialer Ausschließung wird vonnöten, das verschiedene, sehr grundsätzliche, wie die eben ausgeführten, aber auch graduell abgestufte und/oder prozessartig verlaufende Phänomene, zusammenzufassen und gleichzeitig als solche der „sozialen Ausschließung“ zu benennen möglich macht. Es braucht ein Konzept von sozialer Ausschließung, das auch strukturelle Bedin-
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gungen in den Blick nimmt und das keinen weiteren, die Verhältnisse nicht aufhellenden, Beitrag zu einer Soziale-Probleme-Soziologie darstellt. Das folgende Verständnis von Cremer-Schäfer entspricht diesen Anforderungen. „Soziale Ausschließung“ ist demnach: „[...] das Vorenthalten an gesellschaftlich produzierten Ressourcen. Die individuelle und kollektive Reproduktion in der herrschenden Lebens- und Arbeitsweise wird dadurch be-, oder auch für einen Teil der Bevölkerung verhindert. Soziale Ausschließung kann als Benachteiligung und Diskriminierung beginnen und im Extrem mit der Vernichtung von Personen oder sozialen Kategorien enden“ (Cremer-Schäfer 1997: 153).
Die besondere Leistung eines solchen konsequent nicht personalisierenden Konzepts liegt darin, dass mit dessen Hilfe zum einen reale Vorgänge der Ausschließung sowie auch das ideologische Wissen, das zur Legitimation hierfür notwendig ist, in den analysierenden Blick gelangen können. Oder, um eine weitere, bereits bemühte Unterscheidung von Cremer-Schäfer/Steinert aufzugreifen: in der Folge kann sowohl ein Wissen über als auch ein Wissen für soziale Ausschließung spezifiziert werden (vgl. Cremer-Schäfer/Steinert 2000: 43). Einem Wissen über soziale Ausschließung entsprechen die beiden vorangegangenen Abschnitte. Die Analyse eines Wissens für soziale Ausschließung steht im Zentrum dieser Arbeit. Bürgerliche Gesellschaft zieht, so Cremer-Schäfer/Steinert, ihre Grenzen auf den Feldern der Vernunft und der Disziplin; beides wird, entsprechend normativ gefüllt, für eine Teilnahme vorausgesetzt. In der Folge mussten und müssen der „Wahnsinn“ und die „Liederlichkeit“ geduldig umgelenkt und, wenn das nicht ging bzw. geht, eliminiert werden. „Die Wissensbestände, die unmittelbar auf die Notwendigkeit von Abgrenzung und Ausschließung zielten, entstanden in den Rasse-Lehren, in der Psychiatrie und in der Kriminologie, säkularisiert und emanzipiert von ihren religiösen Vorläufern im Wissen über Hexen, Teufelspakte, Dämonen und Besessenheiten. Die Idee von ‚Rasse’ und ‚Selektion’ ist die sehr offensichtliche Umsetzung der Erfahrung, von bürgerlichen Vererbungsgemeinschaften (also Familien und Betriebe, in denen es ein ‚Vermögen’ weiterzugeben gilt) und Ausschluss-Konkurrenz zwischen ihnen zunächst in der Biologie. Von dort kam das Denkmodell zu ‚Naturwissenschaft’ und ‚Materialismus’ geadelt als Sozialdarwinismus wieder zurück in die Gesellschaft“ (Cremer-Schäfer/Steinert 2000, 43 f.).
In der bürgerlichen Gesellschaft müssen als „abweichend“ geltende Personen also beides – diszipliniert und kontrolliert – werden. Das Kontinuum zwischen diesen beiden Formen besteht laut Cremer-Schäfer darin, dass bei misslingender Disziplinierung die demgemäß „unbrauchbare“ Person ausgeschlossen werden könne, um dann in der Separation umso erfolgreicher kontrolliert zu werden. Das Kontinuum von Maßnahmen der Sozialpolitik als Politik der Reproduktion von Arbeitskraft beginne bei Schutz-Maßnahmen gegen den Verschleiß der Arbeits-
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kraft und setze sich fort zu Maßnahmen der (Um-)Qualifikation und Rehabilitation, um schließlich bei der Verwendung ausgeschlossener Personen als abschreckende Beispiele für Nutzlosigkeit und Unbrauchbarkeit zu enden. Insofern, so die Autorin weiter, erzeugen die sozialstaatlichen Disziplin-Anforderungen zugleich Ausschluss-Kategorien und zwar indem sie Kriterien für Versagen und damit Unbrauchbarkeit bestimmen. Und um diese Vorgänge zu organisieren, bedarf es – und hier schließt sich der Kreis mit dem Kapitel über Etikettierung – bestimmter, mittels durchgesetzter Kategorien vergebener Etiketten, die eben auch nicht zuletzt von Sozialarbeitern und Sozialpädagogen mitverwaltet und mitproduziert werden. Denn nur so kann das, was Cremer-Schäfer als Ergebnis einer „professionellen Ideologie sozialer Arbeit“ bezeichnet, bewerkstelligt werden. Marginalisierte Gruppen werden hiernach als „defizitäre“ Personen definiert, um ihnen gegenüber Normalitätsansprüche durchzusetzen. Und (eben nicht nur) in Bezug auf das Wissen über „die Angst“ gilt: „Nicht die Situationen, in welchen verschiedene Leute leben, werden normalisiert. ‚Schwäche’ und Defizite zuzuschreiben macht nur Sinn, wenn eine Person normalisiert werden soll. Wenn manche trotz und wegen aller Hilfen und Verbesserungen ihrer Lebenssituationen ‚versagen’, wird das in der Regel zum verstärkten ‚Defekt’ uminterpretiert, und das kann bis zum Verlust von Gesellschaftsfähigkeit gehen. Die Adressaten werden zu ‚Mehrfachversagern’, zur ‚immer schwieriger werdenden Klientel’, zu ‚pädagogisch nicht Erreichbaren’, die schuld an dem sind, was sie tun – sie haben es zu verantworten...“ (Cremer-Schäfer 1997: 158).
3.2.6 Schluss Die sich aus diesem Kapitel ergebenden zentralen Fragen lauten also: Inwiefern stellt das Wissen von „der Angst“ ein personen- und/oder defizitorientiertes Wissen dar, dessen Antworten auf „persönliche Probleme“ in gesellschaftlicher Hinsicht als nützlich beschrieben werden können? Oder anders: Unterliegt einem Wissen von „der Angst“ ein Wissen von sozialer Ausschließung, das seiner Unangemessenheit wegen als ein Wissen für soziale Ausschließung verstanden werden kann? Oder unterliegt im Gegenteil einem Wissen von „der Angst“ ein ähnliches Verständnis von Gesellschaft, wie hier erörtert, in der Folge dann Angebote unterbreitet werden, die als ein Wissen gegen soziale Ausschließung beschrieben werden können? Welche Aussagen darüber lassen sich also treffen, inwiefern der über seine Angst aufzuklärende Mensch, quasi „nebenbei“, mit einem für die Reproduktion der bestehenden Verhältnisse nützlichen und (gemessen an ihnen) unangemessenem Wissen konfrontiert wird, in Bezug auf Urteile über die Welt und in Bezug auf Urteile über sein eigenes „Fortkommen“ und seine eigene Stellung in der Welt?
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Gezeigt wird im Folgenden tatsächlich, dass mittels spezifischer Wissensangebote über „die Angst“ gesellschaftlich notwendiger Ausschluss legitimiert und organisiert wird – bei gleichzeitigem „Auf-den-Kopf-Stellen“ einer möglichen Logik „sozialer Ängste“. Statt Situationen der Konkurrenz, sei es in Schule oder im Betrieb, als solche mitsamt ihren Implikationen zu analysieren und darauf basierend ein Wissen über mögliche „soziale Ängste“ anzubieten, geschieht die Umdefinition solcher Situationen zumeist in personalisierender und defizitorientierter Form. Damit aber wird bei einem fortdauerndem „Scheitern“ der Person wiederum eine Möglichkeit der Legitimation von sozialem Ausschluss, mittels der Produktion von Etiketten „der Angst“ selbst, zur Verfügung gestellt. Gegenteilige Auffassungen mit entsprechenden Folgen werden ebenso dargestellt. Unter Bezug auf das Wissen über „die Angst“, vor allem bei Bloch, aber auch bei Duhm, werden die erwähnten Unterschiede deutlich.
4 Zur Bedeutung der Unterscheidung von Angst und Furcht im Alltagswissen und in Angeboten der Philosophie 4.1 Einleitung Eine Arbeit über das Wissen über „die Angst“ und über die im jeweiligen Wissen gesetzten Grenzen zwischen „angemessenen“ und „unangemessenen“, „begründeten“ und „unbegründeten“ Ängsten wäre unvollständig ohne eine Erörterung des Verhältnisses des Begriffs „der Angst“ zu jenem „der Furcht“. Als wesentlichster Begründer einer Unterscheidung dieser beiden Begriffe kann der dänische Philosoph Sören Kierkegaard gelten. „Die Angst“ gilt seitdem als ein Zustand, als eine Reaktion auf eine unbestimmte Gefahr, während „die Furcht“ auf ein bestimmtes, den sich Fürchtenden gefährdendes konkretes Objekt verweise und von kürzerer Dauer sei. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird gezeigt, dass diese besondere Bestimmung „der Furcht“ nach Kierkegaard, wesentlich durch Freud initiiert, zunächst durch den Begriff der „Realangst“ bzw. den der „Signalangst“ ersetzt wird, um schließlich bloß noch als eine berechtigte Sonderform „der Angst“ zu gelten. „Die Angst“ wird zwar aktuell noch immer als unbestimmt bestimmt, sie gilt aber nun als eine, zumindest potentielle und präventiv zu bearbeitende, „Störung“ des Sich-Ängstigenden und nicht mehr, wie bei Kierkegaard zunächst noch, als eine notwendige Grunderfahrung des Menschen. Dieser Vorgang kann letztlich als eine von psychologischer Seite interessiert vorgenommene Enteignung eines ehedem gehaltvollen philosophischen Konzepts interpretiert werden. Doch vor der Erörterung dieser von existenzphilosophischer Seite angebotenen Unterscheidung von Angst und Furcht wird zunächst dargelegt, wie die Wörter „Angst“ und „Furcht“ verwendet wurden, bevor sich die Existenzphilosophie ihrer annahm. Zu diesem Zweck erfolgt eine Darstellung wesentlicher Ergebnisse einer philologischen Studie des österreichischen Sprachwissenschaftlers Mario Wandruszka (Wandruszka 1950; 1981).
4.2 Angst und Furcht im Alltagsverständnis Seine Studie zur Benutzung und Bedeutung der Worte „Angst“ und „Furcht“ in den europäischen Sprachen veröffentlichte Wandruszka bereits 1950. Diese Arbeit kann somit als eine direkte, von romanistischer Seite getätigte Antwort
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verstanden werden, auf die von Heidegger und Sartre, unter Bezug auf Kierkegaard, zuvor vorgenommene philosophische Setzung „der Angst“ als der „Grunderfahrung“ und des „zentralen Erlebnisses des modernen Menschen“ (vgl. Heidegger 1927/1993; Sartre 1943/2000). Diese Studie macht deutlich, in was für einem Kontrast und auch in welchem Widerspruch dieses philosophisch abstrakte Wissen über „die Angst“ zu jenen immer schon vorhandenen konkreten, aber einheitlich als „Angst“ beschriebenen und doch immer nur singulär vorhandenen Gefühlen je konkreter Personen steht. 30 Jahre später erklärt sich Wandruszka zu einer unveränderten Neuveröffentlichung bereit, da gewisse, von ihm gezogene Schlüsse eben auch in den 1980er Jahren – und auch nun, fast weitere 30 Jahre später – noch immer nichts an Aktualität verloren haben. Wandruszka kann die strikte Trennung von „der Angst“ einerseits und „der Furcht“ andererseits von sprachwissenschaftlicher Seite aus für den europäischen Sprachraum nicht bestätigen. Im Gegenteil: Mittels zahlreicher Quellen aus Literatur und aus der Umgangssprache zeigt er auf, dass in der deutschen Sprache zunächst das Wort „Furcht“ als ein Oberbegriff und das Wort „Angst“ für einen Teilaspekt von Furcht (unter anderen Teilaspekten) benutzt wurde. Ein solches Ergebnis kann vor dem Hintergrund einer maßgeblich etikettierungstheoretisch fundierten Arbeit noch sensibler machen für die Frage nach den Interessen, Gründen und Folgen einer solchen im Sprachgebrauch nicht angelegten Unterscheidung. Das Wort Angst, so Wandruszka, geht auf das lateinische angustia(e) zurück. Dies bedeutet: Enge, Beengung, Bedrängnis. Und angustia(e) geht wiederum auf ango, anxi zurück, also: (die Kehle) zuschnüren, (das Herz) beklemmen. Im Lateinischen findet sich wiederum noch die Unterscheidung von angor (Angst, drückender Kummer) als einmalige Gemütsbewegung und anxietas (Ängstlichkeit als andauernde Verfassung). Bei Augustinus heißt es hierzu: „Wird jemand durch einen seelischen Schmerz bedrückt, so wird er mit Notwendigkeit auch von Furcht bewegt, denn wer durch gegenwärtige Übel Bedrückung empfindet, hat auch Furcht vor drohenden Übeln. Wer aber frei von Furcht ist, der ist auch frei von Beklemmung“ (Augustinus, nach Wandruszka 1981: 17).
Ohne dass Augustinus hier das Wort Angst selbst benutzte, wird doch deutlich, dass genau das aber mit „Bedrückung“ und „Beklemmung“ in Folge einer „Furcht vor“ etwas gemeint sein könnte. Augustinus betont also, dass es eines äußeren Übels bedarf, um Furcht vor diesem auszulösen. Als Christ, so kann vermutet werden, galt ihm das weltliche Leid wenig, der Glauben an einen Gott aber alles. Angesichts des real existierenden Übels gläubig keine Furcht zu zeigen, das kann demnach als das von ihm verfolgte Ziel angenommen werden. Die Ehrlichkeit, mit der hier anerkannt wird, dass es tatsächlich ein äußeres Übel ist, auf das die Furcht verweist, ist in aktuellem Wissen über „die Angst“, wie noch
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aufgezeigt werden wird, zumeist nicht mehr auffindbar. Hingegen kann die bereits bei Augustinus angelegte normative Aufforderung an den SichÄngstigenden, nicht zu verzagen, umso deutlicher auch in aktuellem Wissen identifiziert werden. Mit einem Zitat von Mauriac bringt Wandruszka das hier angedeutete Verhältnis von „gefühlter Angst“ und „gedachter Furcht“ ebenso zum Ausdruck: „'Nein!’, stöhnte Therese, ,Nein! nein!’ Sie sagte nein zu dem Gedanken, der sie ankam, den sie verjagen wollte, zu dieser unsinnigen Furcht, die doch in ihrem Innern aufstieg, zu dieser noch dumpfen Angst, die doch wachsen würde, das wußte sie genau, die sich ihrer bemächtigen und sie ganz in Besitz nehmen würde“ (Mauriac, La fin de la nuit, 164, zitiert nach Wandruszka 1981: 18 f.).
Es ist der Gedanke, der in diesem Zitat mit der Furcht assoziiert ist, während daraus folgend eine Angst entsteht, die ganz körperlich ist – die eben den Körper in „Besitz zu nehmen“ imstande ist. Wandruszka gelingt es so, und auch mittels zahlreicher weiterer Quellen, deutlich zu machen, dass sowohl in der Literatur – beginnend mit Cicero über Augustinus bis hin zu Rilke, Mauriac, Hesse, Jünger und vielen anderen – als auch in der Umgangssprache – Angst dort, seinem Wortursprung („enge“) entsprechend, als ein durch eine „Furcht vor etwas“ hervorgerufenes Beklemmungsgefühl in der Person verstanden wird. Wenn Hesse bspw. schreibt: „die Angst aller Ängste: die Todesfurcht“ (Hesse 1983: 73), dann steht Angst hier eben wieder zunächst für ein Gefühl der Beengung im Menschen angesichts einer aber objektiv gegebenen und unausweichlich eintretenden Gefährdung jedes Menschen: der Vergänglichkeit und Endlichkeit alles Lebendigen. Andererseits muss Furcht aber wiederum den Aspekt der Angst, also den der Enge, zumindest den der als erdrückend erlebten Enge, gar nicht zwingend enthalten. So würden „Ehrfurcht“ und „Gottesfurcht“, so Wandruszka, zumeist verstanden als Zustände, die zwar Achtung, Respekt, ja Ehrerbietung zum Ausdruck bringen sollen, die aber gerade keine Enge, sondern, in Anbetracht einer als hilfreich verstandenen Autorität, ein Gefühl von Weite und Geborgenheit beim sich so Fürchtenden nach sich ziehen könnten. Beide Begriffe bezeichnen, derart differenziert verstanden, somit keine zwei voneinander streng zu unterscheidenden Zustände, sondern das Eine („die Angst“) bezeichnet unter Umständen ein Teil des Anderen. Angst bedeutet demnach eine Enge nach innen, zum Subjekt hin. Furcht verweist zusätzlich auf einen (mehr oder weniger tatsächlich vorhandenen) äußeren Grund dieser Angst; vom Sich-Ängstigenden weg hin auf die ihn umgebenden Realitäten. Das eine meint demnach eine „innere Beklemmung“, das andere überdies auch eine äußere, möglicherweise objektiv gegebene, „Bedrängnis“ oder „Übermacht“. Wäh-
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rend mit Angst so betrachtet eben nur das gemeint ist, was in der Person ist, kann mittels des Wortes „Furcht“ auch auf eine möglicherweise damit zusammenhängende reale Gefahr für den Sich-Ängstigenden verwiesen werden. Wem so von Angst zu sprechen möglich ist, weiß mit Hilfe des Wortes Furcht möglicherweise auch einen von ihm unabhängigen und nachvollziehbaren Grund seiner Angst zu benennen. Wem hingegen das Wort Furcht, so bedeutet, nicht zur Verfügung steht, der kann wohl zunächst nur über sich selbst nachdenken und nur noch sehr erschwert über das, was nicht er selbst ist, was also die von ihm getrennt existierende Gefahr ist oder sein kann. Auf diesen Gedanken wird noch zurückzukommen sein. Parallel zu dieser weit verbreiteten Unterscheidung existiert spätestens seit Luther allerdings auch eine andere, eine weniger differenzierte Benutzung der Worte Angst und Furcht. Wandruszka macht auch hierauf aufmerksam. Ein Blick in Luthers Bibelübersetzung macht dies deutlich. Es sind sehr verschiedenartige äußere Bedrängnisse und innere Beklemmungen, die dieser mit „Angst“ wiedergibt. Dies geschieht im Unterschied zu anderen, deutschen und fremdsprachigen, Bibelübersetzern. So kam es, so Wandruszka, nämlich mit Luther beginnend, dass im Deutschen das Wort „Angst“, als sprachliches Symbol für die durch Furcht hervorgerufene und ihrerseits Furcht hervorrufende Beklemmungsempfindung, immer allgemeiner das Wort „Furcht“ ersetzte. Einerseits heißt es bei Luther zum Beispiel: „Denn ich will dich belagern ringsumher und will dich ängsten mit Bollwerk und will Wälle um dich aufführen lassen“ (Bibel, Jesaja 29, 3); andererseits heißt es aber auch: „Denn ich bin der Reden so voll, daß mich der Odem in meinem Bauch ängstet“ (Bibel, Hiob 32, 18). Und schließlich wird bei ihm auch noch „expectatio“, also „Erwartung“ – in Bibel, Römer 8,19 – zum „ängstlichen Harren“. Immer aber deutet Angst hier noch auf eine gefühlte oder verursachte „Enge“ hin, wenn auch einmal von außen und einmal von innen. Daher sei auch erst mit Kierkegaards „Begriff der Angst“, so Wandruszka, letztgültig eine Entwicklung eingetreten, innerhalb derer die „Angst sich vollsog mit psychoanalytischer und existenzialistischer Bedeutungsschwere, [während] die Furcht immer mehr zu vertrocknen [schien]“ (Wandruszka 1981: 27). Zur gleichen Zeit als Kierkegaard 1844 seinen „Begriff Angst“ ausformulierte und damit auch auf eine nach späteren, insbesondere nach Freudschen Maßstäben, Gewissensangst abzielt, lässt Adalbert Stifter seine Clarissa z.B. noch sagen: „Jene Furcht, jenes Schaudern ist ja eben der Abgrund unseres Gewissens“ (Stifter 1844/1982: 55). Die spekulative Ausdeutung der Angst im Unterschied zur Furcht durchziehe, so Wandruszka, die dialektische Theologie und die Existenzphilosophie bis in die heutige Zeit hinein. Furcht, so Wandruszka im Ergebnis seiner Untersuchung jedenfalls, sei im Deutschen lange Zeit
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allgemeinster Ausdruck für alle Angst gewesen, auch für ein (zunächst) grundloses Angstgefühl. Darauf würden zwei alte deutsche Sprichworte verweisen: „Es kommt mehr Furcht von innen heraus, denn von außen hinein“ oder „Wer die Furcht mitnimmt, hat die Gefahr zur Begleiterin“. Der Versuch, unter Berufung auf die Sprache „Furcht“ und „Angst“ als zwei wesensverschiedene Sachverhalte begrifflich zu trennen, gleiche daher auch, so der Autor, einem „durch bewegtes Wasser gezogenen Federstrich“ (Wandruszka 1981: 62). Und so kommt er schließlich zu dem Schluss, dass trotz dessen, dass weder aus der Prosa noch aus dem Alltagsgebrauch sich ein solcher Unterschied von Angst und Furcht ableiten lasse, sich dennoch „ganze Metaphysiken darauf aufbauen ließen“ (Wandruszka). Und daher folgert er schließlich: „Die Angst ist nicht die Grundbefindlichkeit des Daseins. Sie hat ihren Platz im Gefüge der menschlichen Seelenkräfte“ (Wandruszka 1981: 193). Neben Kierkegaard werden noch zwei weitere Autoren behandelt, die ihrerseits, wenn auch von einem anderen Standpunkt aus, eine grundsätzliche bzw. eine kategoriale Verschiedenheit dieser beiden Zustände ebenfalls betonen. Sören Kierkegaard erörtert diese beiden Begriffe von einem explizit christlichen Standpunkt aus, Martin Heidegger aus einer existenzialontologischen Position und Ernst Bloch schließlich vor dem Hintergrund einer marxistischen Gesellschaftstheorie. Die Zusammenschau dieser drei unterschiedlichen Denker eröffnet die Möglichkeit, im Anschluss eine für diese Arbeit relevante Frage zu diskutieren. Inwiefern nämlich kann die Unterscheidung und die Setzung von „unbestimmter Angst“ einerseits und „bestimmter Furcht“ andererseits als Beginn eines folgenreichen Nachdenkens über Angst betrachtet werden? Folgenreich insofern, als zu diskutieren ist, inwiefern mit dieser Unterscheidung die Möglichkeit eröffnet wurde, die so bestimmte „Unbestimmtheit“ „der Angst“ mit einer der jeweiligen sozialen und theoretischen Position und den jeweiligen Absichten der jeweiligen Autoren zuträglichen Bedeutung wieder neu zu versehen. Welches aber ist nun der exakte Begriff auf den, zunächst mit Kierkegaard, die „unbestimmte“ Angst in „Der Begriff Angst“ gebracht wird? Welche Bedeutung also wird den beiden Worten Angst und Furcht jeweils gegeben, und welche Bedeutungen, welche Interessen, können diesen Vorgängen selbst wiederum entnommen werden?
4.3 „Die Angst“ bei Sören Kierkegaard Der dänische Autor Sören Kierkegaard (1813-1855) gilt als ein Wegbereiter des Existenzialismus der dreißiger und vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts (vgl. z.B. Hirschberger 1980: 492 ff., Sartre 1964: 11f.). In dieser Zeit erst, also lange nach
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seinem Tod, erlangte sein Werk internationale Bedeutung (vgl. Gardiner 2001). Sowohl Vertreter der deutschen Existenzphilosophie (wie Heidegger und Jaspers) als auch Vertreter des französischen Existenzialismus (wie eben Sartre) schlossen mit ihrem Denken an ihn und gegen ihn an. Hier wie dort stehen Begriffe und Wendungen wie „Wagnis“, „Verzweiflung“, „Scheitern an der Grenze“, „der Einzelne und seine Innerlichkeit“, „Freiheit auf dem Grunde des Nichts“, aber vor allem auch der Begriff „Angst“ im Mittelpunkt der jeweiligen Auseinandersetzungen. Kierkegaard – als ein Zeitgenosse von Marx – knüpfte seinerseits wie dieser auch, an Hegel an. In ihrer Unzufriedenheit über Hegels Vermittlung von Staat und Kirche, von Bürgerlichem und Menschlichem waren sie sich einig. Anders als bei Marx aber kann den Texten Kierkegaards eine Analyse herrschender gesellschaftlicher Verhältnisse nicht entnommen werden. Im Widerspruch aber zur damaligen Amtskirche stehend, trachtet er in seinen Texten danach, „jenen Einzelnen“, ohne ihn indoktrinieren zu wollen, mittels seiner Schriften stets indirekt zu erreichen, um dessen Heil in Gottes Namen willen. Er suchte nicht einen kommunistischen, sondern einen christlichen Umsturz. Sein Denken handelt nicht von Kollektiven und klassenlosen Gesellschaften, sondern von der „Innerlichkeit“ des Einzelnen, der sich dem „Ganz-Anderen“, also Gott, zu unterwerfen habe und von da aus auf die Rettung der Menschheit warten solle. Die Intention aller seiner Werke beschrieb Kierkegaard mit der Aufgabe, es gelte herauszufinden, was wahres Christsein bedeute. Konsequent nehmen zahlreiche seiner Schriften denn auch ihren Ausgangspunkt bei biblischen Geschichten und theologischen Begriffen. Kierkegaard war überzeugt davon, dass er diesen Einzelnen nur erreichen kann, wenn er die Menschen über den Umweg der Täuschung führt: „Man kann einen Menschen täuschen über das Wahre, und man kann, um an den alten Sokrates zu erinnern, einen Menschen hineintäuschen in das Wahre“ (Kierkegaard 1955: 104). Zu diesem Zwecke bediente er sich der sokratischen Methode, der Mäeutik, der „Hebammenkunst“. Dies bedeutet, dass das Wissen, von dem bei ihm die Rede ist (Wissen über den wahren Glauben), weil schon im Lesenden durch Gott angelegt, dort lediglich gehoben und auf die „Welt gebracht“ werden muss. Dies versuchte Kierkegaard unter anderem dadurch zu erreichen, in dem er nicht als der zu erscheinen versuchte, der er zu sein glaubte. Selten habe ein Schriftsteller soviel „List, Intrige, Schlauheit“ gebraucht, um „Ehre und Ansehen“ in der Welt zu gewinnen, wie er – um die Welt im Sinne der Wahrheit zu täuschen (vgl. Kierkegaard 1951: 55). In diesem Zusammenhang kann auch verstanden werden, warum Kierkegaard seine wichtigsten Schriften stets unter einem Pseudonym veröffentlichte, sich selbst jedoch zumeist als Herausgeber betitelte. In Hinblick auf das Mitteilen des christlichen Glaubens galten für Kierkegaard also konkret folgende Anforderungen:
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„Der Mitteiler darf stets nur indirekt wirken; 1. weil er ja ausdrücken soll, daß er selbst kein Meister ist, sondern ein Lehrling, Gott hingegen sein und jedes Menschen Lehrmeister; 2. weil er ausdrücken soll, daß der Empfänger es ja selbst weiß; 3. weil die Aufgabe ethisch just die ist, daß ein Mensch dahin kommt, im Verhältnis zu Gott allein zu stehen. Der Empfänger kann also niemals ein Lehrling werden, denn er weiß es ja; auch kein Anhänger, denn das ist ja ethisch eine Abscheulichkeit“ (Kierkegaard 1980: 144).
Die folgende systematische Darstellung seines Begriffs „der Angst“ geschieht auf der Grundlage zweier Schriften. Die eine: „Furcht und Zittern“ von 1843 (Kierkegaard 1992), veröffentlichte Kierkegaard unter dem Pseudonym Johannes de Silentio und behandelt in einer lyrischen Form die Geschichte von Abraham und seinem Sohn Isaak. Die andere: „Der Begriff Angst. Eine simple psychologisch-hinweisende Erörterung in Richtung des dogmatischen Problems der Erbsünde“ von 1844 (Kierkegaard 2002), veröffentlicht unter dem Pseudonym Vigilius Haufniensis, behandelt in einer hierzu gänzlich verschiedenen Form, nämlich streng gegliedert und nach Paragraphen unterteilt, eben den im Untertitel anklingenden Zusammenhang von Angst und (Erb-)Sünde und nimmt ihren Ausgangspunkt daher bei der biblischen Geschichte von Adam. Der Frage nach dem Zusammenhang von Angst und Sünde widmet sich hierin bereits das erste Kapitel: „Angst als Voraussetzung der Erbsünde und als rückwärts gewandte Erklärung der Erbsünde in Richtung auf deren Ursprung“. Kierkegaard benötigt vier Paragraphen, in denen er sich über den Begriff der Erbsünde, der Schuldigkeit und des Sündenfalls auslässt, bevor er im fünften Paragraphen unter der Überschrift „Der Begriff Angst“ zu jenem Thema anhebt, das im Titel bereits versprochen ist. Diesem Paragraphen widmet Kierkegaard vier Seiten. Und vor allem diesen vier Seiten entnehmen seitdem zahlreiche Autoren, die über „die Angst“ schreiben, ein einzelnes Zitat hinsichtlich der Unterscheidung von Angst und Furcht. Im zweiten Kapitel beschäftigt sich Kierkegaard mit „der Angst“ als Erbsünde. Das dritte Kapitel „Angst als Folge derjenigen Sünde, welche das Ausbleiben des Sündenbewußtseins ist“, beschäftigt sich mit der „Angst der Geistlosigkeit“, mit „Schicksal“ und „Schuld“. Das vierte Kapitel, „die Angst der Sünde oder Angst als Folge der Sünde im Einzelmenschen“, behandelt die Frage nach „der Angst“ vor dem Bösen. Das letzte Kapitel schließlich bestätigt auch ein letztes Mal Kierkegaard als christlichen Philosophen, wenn er über „die Angst, die durch den Glauben erlöst“, reflektiert. Doch zurück zum fünften Paragraphen: „Der Begriff Angst“. Der Leser wird hier direkt zum biblischen Adam geführt. Dieser, so Kierkegaard, lebte zunächst in der „Unschuld“ und dies sei „Unwissenheit“. Ein Zustand, der von Friede und Ruhe geprägt sei, und in dem doch etwas sei, was nicht Unfriede und Streit sei, das gerade existiere ja nun nicht, sondern etwas anderes. Und Kierkegaard klärt den Leser auf:
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Das „Nichts“, auf das „die Angst“ nun also seit Kierkegaard verweisen soll, zeigt sich hier zunächst als das „Nichts“ des in „Unschuld“ und in „Unwissenheit“ lebenden Adam. Dieses „Nichts“ aber, das ist sogleich einsichtig, meint etwas völlig anderes als die spätere Auffassung, dass „die Angst“, im Gegensatz zu „der Furcht“, auf gar nichts verweise, also eigentlich „unbegründet“ sei und daher „weg und überwunden gehöre“. Hier gibt es einen Grund für diese Angst, nur: Adam kann, der Logik der biblischen Geschichte nach, diesen Grund noch nicht nennen, der dafür spricht, Angst zu haben. Denn nur für Kierkegaard (und alle an diese Geschichte und an den christlichen Gott glaubenden Leser seiner Ausführungen) ist völlig einsichtig, dass Adam Angst haben muss – als ein „Unwissender“ vor dem „Nichts“. Denn er, Kierkegaard, weiß ja, wenn er den Anfang der Geschichte von Adam las, bereits mehr als dieser. Er wusste als gläubiger Christ um die Gefahr der Sünde, der falschen Handlung, der Strafe Gottes – all dies bedroht Adam, und das genau fühlt dieser, ohne es jedoch auf diesen Begriff bringen zu können. Ohne dass er es also weiß, deshalb hat er „die Angst“ vor „Nichts“, und Kierkegaard wusste auch warum. Anders ausgedrückt: Diese Angst vor diesem „Nichts“ existiert nur, wenn das Vorhandensein eines Gottes und dessen Wollen als Voraussetzung dieser so verstandenen Angst gesetzt ist, dieser Gott also nicht Nichts ist. Und so kommt denn auch die folgenschwere Unterscheidung von Angst und Furcht bei Kierkegaard zunächst einmal zustande. Denn, so der Autor: „Den Begriff Angst sieht man fast niemals in der Psychologie behandelt, ich muß deshalb darauf aufmerksam machen, daß er gänzlich verschieden ist von der Furcht und ähnlichen Begriffen, die sich auf etwas bestimmtes beziehen, während die Angst die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit ist. Man wird deshalb beim Tier keine Angst finden, gerade weil dies in seiner Natürlichkeit nicht bestimmt ist als Geist“ (Kierkegaard 2002: 40).
In diesem Zitat klingen nun zwei weitere zentrale Themen an, die Kierkegaard im Zusammenhang mit seinen Auseinandersetzungen über „die Angst“ immer wieder aufgreift: Geist und Freiheit. Angst ist zwar, gemäß der Geschichte von Adam, zunächst einmal das Gefühl des Unwissenden, also bspw. von Adam, in Anbetracht des von ihm wahrgenommenen „Nichts“. Aber gleichzeitig bedeutet das, dass dieser sich dergestalt Ängstigende der Möglichkeit gewahr wird, frei handeln zu können. Er wird sich also in der Angst sowohl seines Geistes als auch seiner Freiheit bewusst; in Bezug auf dieses „Nichts“. Denn dieses „Nichts“ vermittelt ja, gerade seiner Leere wegen, Adam das Bewusstsein, es selbst aus-
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füllen zu müssen und zu können. Und dieses „können können“ – also die „Möglichkeit der Möglichkeit“ – ängstigt ihn bereits, denn er stellt sich zugleich die quälende Frage: Wie soll ich handeln? Und dieses Problem stellt sich für „Unwissende“ und „Unschuldige“, nicht bloß für Adam, sondern auch für Kinder. Und der letzteren wegen, so der Autor, haben seine Ausführungen Relevanz für alle Zeit, da sich in jedem Menschenleben dieses Schicksal Adams, „die Angst“ als Unschuldiger zu spüren, ohne von dem Inhalt des „Nichts“, vor dem es sich ängstigt zu wissen, sich wiederhole. Und so provoziert denn bspw. auch nicht ein Verbot selbst, dieses zu übertreten, sondern die im Augenblick des Hörens des Verbots deutlich werdende Möglichkeit, es übertreten zu können, die sei es, die die Übertretung provoziere. Und gleichzeitig aber mache auch dieser Vorgang Angst. Denn: „Was an der Unschuld vorbeiging als Nichts der Angst, das ist nunmehr in ihn selbst hineingekommen und ist hier wieder ein Nichts: die ängstigende Möglichkeit zu können [...] Nur die Möglichkeit, zu können, ist vorhanden wie eine höhere Form von Unwissenheit, als ein höherer Ausdruck der Angst, weil es in einem höheren Sinne ist und nichts ist, weil er es in einem höheren Sinne liebt und flieht“ (Kierkegaard 2002: 43 f.).
Auch das zweite „Nichts“, das sei an dieser Stelle noch einmal festgehalten, auf das „die Angst“ nun verweist, ist also nicht ein gar nichts, sondern vielmehr etwas. Es ist die Einsicht Adams, angesichts des ihm erteilten Verbots in die hieraus folgende Möglichkeit zu können. Von allen möglichen weiteren Einsichten, für die ein Mensch, der von (fast) nichts weiß, sich entscheiden könnte angesichts dessen, dass eine offensichtlich mächtigere Macht als er ihm Anweisungen erteilt hinsichtlich dessen, was er zu tun und was er zu lassen hat, entscheidet sich Adam bei Kierkegaard allerdings lediglich dafür, seine Angst zu verstehen, als „die Angst“ vor den möglichen, noch unbegriffenen Folgen, die ein falsches Handeln seinerseits haben könne. Ohne jedoch wiederum eine Ahnung davon zu haben, was das für eine Folge sei „gewisslich zu sterben“ (Bibel, 1. Mose; 2, 17). Der sich seines „Handelns können“ bewusste Mensch, Adam, fühlt immer schon, bevor er handelt, auch die Möglichkeit, „falsch“ handeln, also „sündigen“ zu können. Doch wann kann ein Mensch „sündigen“? Wann kann ein Mensch „falsch“ handeln? Und wann kann er sich ob dieser möglicherweise eintretenden Bewertungen seines Handelns ängstigen? Dies ist nur dann möglich, wenn die Zuordnung bestimmter Handlungen zu einer Kategorie „Sünde“ als Voraussetzung unabhängig von ihm bereits existiert, bevor der so Handelnde seine Handlung vollzieht. Und wenn er darüber hinaus auch damit rechnen muss, von einer von ihm unabhängigen Instanz ob dieser „falschen“, „sündigen“ Tat bestraft zu werden. Statt sich also bspw. zu fragen, ob es denn damit seine Richtigkeit habe, dass da jemand ihm Vorschriften macht, oder statt sich einfach mal zu erkundi-
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gen, was denn der Sinn und Zweck der Vorschrift und was genau die Folgen einer falschen Handlung seien, hat Kierkegaard nichts daran auszusetzen, dass Adam sich in der Folge vor dem „Nichts“, was da auf ihn zukommen könne, bloß ängstigt. Und zwar spricht Kierkegaard davon, dass „die Angst“ eine „fremde Macht“ gewesen sei, die Adam ergriff, eine die er nicht liebte, sondern eine, vor der er sich ängstigte – und dennoch ist „die Angst“ alleine nicht der Grund für das „falsche“ Handeln Adams. Denn für den eigentlichen Grund, aus dem Adam nun sündigte, kennt Kierkegaard nur den Begriff des „Sprungs“: „Nun folgt der Sündenfall. Diesen kann die Psychologie nicht erklären; denn er ist der qualitative Sprung“ (Kierkegaard 2002: 46). Oder noch einmal anders formuliert: „Durch die erste Sünde kam die Sünde in die Welt hinein“ (Kierkegaard 2002: 31). Dieser etwas seltsame Gedanke, dass kein Grund anzugeben möglich ist, wird verständlich, verdeutlicht man sich noch einmal die Beharrlichkeit Kierkegaards, die Freiheit jedes einzelnen Christenmenschen, die Freiheit vor Gott, als das entscheidende Moment dieses Glaubens darzustellen. Daraus folgt auch, dass eine Entscheidung eines „Einzelnen“ nicht nur verallgemeinerten Regeln nicht folgen müsse, sondern dass diese Entscheidung sich möglicherweise jedem Verstehensversuch, jedem vernünftigen Nachdenken, gänzlich entziehen könne. Zur Klärung dieses Problems trägt die Schrift „Furcht und Zittern“ bei. In dieser Schrift geht Kierkegaard auf die Geschichte des biblischen Abraham ein. Dieser, so wird es in der Bibel erzählt (vgl. Bibel 1.Mose: 17,15 ff.), musste 100 Jahre alt werden, bevor ihm seine Frau Sara ein Kind gebar. Zuvor hatte sie, die mit 90 Jahren auch schon nicht mehr zu den Jüngsten rechnete, ihm schon erfolgreich geraten, es auch einmal mit ihrer Magd Hagar zu probieren. Und tatsächlich gebar Hagar ihm Ismael, den späteren Vater aller Araber. Aber da das noch kein Sohn aus erster Ehe war, probierten sie es erneut – und hatten Erfolg. Isaak wurde geboren. Als dieser verständig genug war, sich danach zu erkundigen, wohin denn die gemeinsame Reise mit dem Vater gehe, befahl ein Gott Abraham, ihm diesen Sohn zum Opfer zu bringen. Er solle ihn auf einem Berg zu seinen Ehren umbringen. Dazu Kierkegaard: „Der ethische Ausdruck für das, was Abraham getan hat, ist, daß er Isaak morden wollte, der religiöse ist, daß er Isaak opfern wollte; aber in diesem Widerspruch liegt eben die Angst, die sehr wohl imstande ist, einem Menschen den Schlaf zu rauben, und doch ohne diese Angst ist Abraham nicht der, der er ist“ (Kierkegaard 1992: 11).
„Die Angst“ Abrahams, so Kierkegaard, sei auch „die Angst“ desjenigen, der sich in ihn einfühlen wolle: „Nimmt man nämlich den Glauben fort, in dem man ihn zu Null und Nichts werden läßt, so bleibt nur die rohe Tatsache übrig, daß Abraham Isaak morden wollte“ (Kierkegaard 1992: 11).
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„Die Angst“ des sich in ihn bloß Einfühlenden und nicht seinen Glauben nachvollziehen Könnenden, ist jene vor dem möglichen Fehler, die dieser Tat innewohnen könnte, gemessen an dem, was dem Recht nach – Kierkegaard würde sagen: „ethisch“ – Geltung hat: nämlich, dass man seinen Sohn nicht vorsätzlich tötet. Für Abraham selbst aber gelte dagegen: „Während dieser ganzen Zeit glaubte [Abraham]; er glaubte, Gott würde Isaak nicht von ihm heischen, derweil er doch willig war, ihn zu opfern, wo es verlangt würde. Er glaubte in kraft des Absurden“ (Kierkegaard 1992: 27).
„Die Angst“, die Abraham erfasste in der Nacht, in der er seinen „Schlaf geraubt“ fand, rührt also nicht wesentlich daher, dass er sich davor ängstigte, seinen Sohn umzubringen. Nein, „die Angst“ Abrahams bestand vor allem darin, dass er sich ängstigte, weil er nicht wusste, ob er Gottes Gebot umzusetzen imstande sein würde, trotz des geltenden Rechts. Dass dieses oberste Priorität hatte für Abraham, dass er sich von Beginn an sicher war, dass dies, weil von seinem Gott, an den er glaubte, ihm befohlen, das ist gesetzt –für Abraham wie für Kierkegaard. Seine Sünde hätte also bloß darin liegen können, seinen Sohn nicht umbringen, respektive ihn nicht „opfern“ zu können. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass Abraham seinen Sohn nicht umbrachte. Denn kurz vor der Tat – der Vater hatte das Messer schon in der Hand und den Sohn auf dem Feuerholz – sprach ein Gott: „Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts; denn nun weiß ich, daß du Gott fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen“ (Bibel, 1.Moses: 2; 11-12). Abrahams Glauben an und seine Furcht vor Gott erhob ihn demnach über alle existierenden Gesetze, Übereinkünfte, Ethiken, Normen – und auch über jede vernünftige Einsicht. Denn, so Kierkegaard: „der Glaube ist eben dies Paradox, daß der Einzelne als Einzelner höher ist denn das Allgemeine, ihm gegenüber im Rechte ist, ihm nicht unter-, sondern übergeordnet ist, doch wohl zu merken dergestalt, daß eben der Einzelne, der als Einzelner dem Allgemeinen untergeordnet gewesen ist, nun durch das Allgemeine hindurch ein Einzelner wird, der als Einzelner ihm übergeordnet ist; daß der Einzelne als Einzelner in einem absoluten Verhältnis zum Absoluten steht. Dieser Standpunkt läßt sich nicht vermitteln; denn alle Vermittlung geschieht gerade in kraft des Allgemeinen; er ist und bleibt in alle Ewigkeit ein Paradox, unzugänglich dem Denken“ (Kierkegaard 1992: 59).
Der Einzelne, so Kierkegaard, ist dem Allgemeinen durch sein Verhältnis zum Absoluten also übergeordnet. Deshalb kann die Tat, die Abraham sich vorgenommen hatte, eine der ethischen und gesetzlichen Bewertung übergeordnete Bedeutung als „gottgefällig“, also „richtig“, erhalten. Dass von einem nichtchristlichen Standpunkt aus dessen Vorhaben eben andersherum zu bewerten wäre, das weiß auch Kierkegaard, wenn er schreibt: „Entweder denn es gibt so
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ein Paradox, daß der Einzelne als Einzelner in einem absoluten Verhältnis zu dem Absoluten steht, oder Abraham ist verloren“ (Kierkegaard 1992: 138). Eine wohlwollende Interpretation des Vorhabens Abrahams ist der zu geben imstande, der selbst an den christlichen Gott glaubt. Aber diese Tat als von einem „Gott befohlen“, also dem Glauben anheimgegeben und somit als nicht kommunizierbar zu deuten, heißt, eine solche Tat zu vergeheimnissen und sie vorsätzlich einer rationalen Untersuchung zu entziehen. Es wäre dabei einfach, den Menschen Abraham danach zu fragen, was er denn da getan habe. Seine Antwort „Gott hat es mir befohlen“ müsste ganz einfach dahingehend verstanden werden, dass es für ihn einen guten Grund gab. Für diesen muss man kein Verständnis haben, aber verstehen, dass dies der Grund war, der ihm genügte; das reicht für eine rationale Aufbereitung des Falles aus. Ein (also wohlmeinendes, die Tat akzeptierendes) Verständnis für etwas ist eben etwas anderes als der Versuch, etwas der Sache nach verstehen zu wollen. Kierkegaards Glaube daran, dass nichts so wichtig sei wie der Glaube des „Einzelnen“ an einen Gott, impliziert die Möglichkeit, dass dieser „Einzelne“ 1. das was er macht nicht und niemandem gegenüber weder zu begründen braucht, noch in der Lage ist, es zu können. Es reicht ihm aus, gegebenenfalls darauf hinzuweisen, dass ein Gott sein Handeln befohlen habe. Und dass 2. aus diesem Glauben „jenes Einzelnen“ an einen Gott noch die (für andere) unvernünftigsten, erschreckendsten und grausamsten Taten folgen können, weil sie im Namen eines Gottes geschehen. Der Gedanke, dass Menschen auf einer solchen Grundlage miteinander leben können und leben sollen, ist wohl allein Glaubenden vorbehalten. Und darin genau liegt der Kern des Kierkegaardschen Angstverständnisses. Er bringt den Lesern seiner Schriften seinen Begriff „existenzielle Angst“, den es zuvor so explizit gerade im Alltagswissen noch nicht gab, aus ganz bestimmten Gründen bei. Diese „existenzielle Angst“ sei also, noch einmal, eine ständige Angst aller Leser, die aber diese jeweils nur konkret befalle, angesichts des jeweiligen individuellen Unwissens, angesichts der jeweils individuellen Möglichkeiten, so oder anders handeln zu können. Eine Angst vor der Möglichkeit also, die je eigene Freiheit handeln zu können, „falsch“ zu benutzen, vor Gott falsch zu benutzen. Eingezwängt zwischen der Furcht vor weltlicher Macht und jener vor der Strafe eines Gottes (dessen Wille zunächst noch deutlich verstanden werden will), kündet die so im Menschen entstehende Angst von der Notwendigkeit und der Möglichkeit, selbst entscheiden zu müssen. Hier will also der Autor dem Leser dessen eigene, vielleicht ja lediglich noch-nicht-bestimmte oder auch dessen eigene, tatsächlich unbestimmte Angst dergestalt zu bestimmen suchen: als eine allgemeine Angst vor dem „nichts“ und als eine allgemeine Angst des Gläubigen davor, das „Böse“ tun zu können. Indem er seinem Leser
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also eine allen Menschen gemeinsame Einsamkeit und eine allen Menschen gemeinsame Verzweiflung vor Augen zu führen sucht, will er ihn, didaktisch und mäeutisch geschickt, interessiert zu dem führen, was für ihn selbst das Bedeutsamste ist: zum christlichen Glauben. Die Leistung Kierkegaards ist es somit, zum ersten Mal in dieser Ausführlichkeit, mit dieser Bestimmtheit und einer solchen Zweckmäßigkeit einen Begriff eines Zustands (er nennt diesen „die Angst“) entwickelt zu haben, der zunächst einmal drei Merkmale auf sich vereint. Diese werden von nun an von allen ihm nachfolgenden Autoren, wenn auch mit divergierenden Inhalten, wieder aufgegriffen. Dieser Zustand wird demnach nun immer wieder bestimmt werden erstens als ein allgemeiner Zustand. Jeder kennt „die Angst“ zweitens als ein selbstischer Zustand. „Die Angst“ ist „die Angst“ nur des Einzelnen und es liegt daher auch allein an diesem, angemessen mit dieser seiner Angst umzugehen. Und drittens wird dieser Zustand fortan bestimmt als unbestimmt. Den Einzelnen bedroht in seiner Angst demnach kein konkretes Objekt. Auf Kierkegaard selbst bezogen bedeutet dies noch einmal, dass er diesen Zustand, den er „die Angst“ nennt, bestimmt als erstens völlig allgemein – jeder Mensch steht vor einem Gott; zweitens als radikal selbstisch. Die Beziehung nur des „Einzelnen“ zu einem Gott ist demnach das alles Entscheidende, und dieses Verhältnis ist anderen gegenüber nicht kommunizierbar. Und hieraus – und nur hieraus – erwächst für jeden „Einzelnen“ die Entscheidung, was er zu tun und was er zu lassen hat. Drittens wird dieser Zustand von ihm als unbestimmt bestimmt. „Die Angst“ verweist bei ihm nicht auf ein konkretes Objekt. Sie verweist in dieser ersten Phase des Wissens über „die Angst“ auf GewissensProbleme, die entstünden angesichts der Frage, wie der „Einzelne“ mit der ihm gegebenen Freiheit, handeln zu können, umgehen solle, ohne dabei zu sündigen. Im gleichen Maße aber, wie dieser Begriff dergestalt bestimmt wird als einer, der auf nicht-objektive Gefahren verweist, wird „die Angst“ selbst zu einem scheinbar eigenständig agierenden Objekt, zu einer „fremden Macht“. Ein vom konkreten Menschen einerseits getrenntes Wesen (denn „die Angst“ sei ja auch allgemein) kommt so in die Welt, das aber zugleich die Beziehung, die der einzelne Mensch hiernach zu einem Gott einnimmt und einnehmen soll, bestimmen kann. Deswegen soll dieses Wesen, diese Macht vom „Einzelnen“ in ihm selbst von nun an aktiv bearbeitet werden. Bei Kierkegaard geschieht dies zum Zwecke eines „nicht sündigen“ und „gottgefälligen“ Lebens. In späteren säkularisierten Varianten eines Wissens über „die Angst“ ist stattdessen von einer „richtigen“, einer nicht „gestörten“, einer „funktionsfähigen“ Existenz die Rede. Aus dem nur jeweilig individuell verstehbaren und individuell erlittenen „Sich-Ängstigen“ aufgrund einer „Furcht vor etwas“, entsprechend des allgemeinen Sprachgebrauchs und des Alltagsverständnisses, wird so ganz allgemein „die Angst“.
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Diese betrifft nun jederzeit alle und sie gilt fortan für Experten auch weiterhin als zumeist nicht ausreichend kommunizierbar, jedenfalls nicht für betroffene Laien. „Die Angst“ ist seit Kierkegaard ein vor allem expertokratisch-normativ diskutiertes Problem. Die mögliche Frage nach einem gegebenenfalls doch existierenden, gemeinsamen äußeren Grund für eine Angst rückt in den Hintergrund, bei, wie noch gezeigt wird, gleichzeitigem Anstieg der Veröffentlichungszahlen auf Ratgeberseite. In Hinblick auf alle drei Eigenschaften kann nun zuletzt noch deutlich werden, warum Kierkegaard für seinen Begriff „die Angst“ der Furcht vorzieht. Kierkegaard will von dem reden, was über und im Menschen ist; vom Absoluten, von einem Gott. Es geht ihm tatsächlich nicht um eine objektive, also um eine für alle sichtbare und verständliche Gefahr. Es geht ihm um die Enge im „Einzelnen“. Um die Begegnung des „Einzelnen“ mit einem, nach objektiven Maßstäben, nicht beobachtbaren Gott. Es ist so betrachtet nur konsequent, wenn er von der zunächst umfassenderen Furcht, „die Angst“, also die „Enge“, abtrennt. Und es spielt in allen diesen drei Eigenschaften eines von Kierkegaard neu bestimmten Zustands, genannt „die Angst“ oder eben „existenzielle Angst“, ein Gott die entscheidende Rolle derjenigen Instanz, von der her der Grund dieser Angst kommt („Gott bestraft Adam“) und von der her die Frage beantwortet werden muss, wie soll ich handeln? („Iss nicht vom Baum der Erkenntnis!“, „Opfere mir deinen Sohn!“). Ein Gott setzt hier die Norm, was ein richtiges Handeln ist. Dieser überbringt dem „Einzelnen“ Erwartungen seines zukünftigen Handelns betreffend. Und diesem ist es gegeben, bei Nichteinhaltung der von ihm in die Welt gesetzten Normen und Erwartungen Sanktionen auszuüben. Der Begriff „der Angst“ bei Kierkegaard verweist, so betrachtet, auf einen noch nicht allzu alten Vergesellschaftungsmodus. Er verweist darauf, dass Anpassung an gesellschaftlich herrschende Zwecke nicht mehr nur durch äußere Gewalteinwirkung vonstatten geht, sondern dass, um mit dem französischen Philosophen Michel Foucault zu sprechen, an die Stelle der äußeren Macht, und damit auch an ein den Körper betreffendes Strafen, eine „neue Ökonomie der Macht“ trat (vgl. Foucault 1995; Treiber/Steinert 2005): die Macht der Disziplin. Und deren wesentliches Kennzeichen ist es, diszipliniertes – also an äußere Zwecke angepasstes und nützlich gemachtes – Verhalten herzustellen, auch und gerade durch eine gesteigerte Individualisierung der Insassen einer Gesellschaft. Kierkegaards „Begriff der Angst“ ist diesbezüglich vielleicht das radikalst mögliche Konzept. Die verhaltensprägende Kraft, die die kirchlichen Instanzen verloren hatten bzw. die sie für (im Kierkegaardschen Sinne) falsche Zwecke missbrauchten, soll durch die Betonung der Innerlichkeit, der Individualität, der Beziehung des „Einzelnen“ zu einem Gott aufgewogen werden. Einzig dieser Einzelne soll sich als Einzelner angesprochen fühlen und gleichzeitig soll er gewahr
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werden, dass er einer Macht, die außerhalb seiner Person liegt – also einer Macht, die nicht mit ihm identisch ist – unbedingte Folge zu leisten hat. Und die von dieser Macht empfangene Wahrheit wird von Kierkegaard zudem derart radikal als einzigartig verstanden, dass eine Kommunikation hierüber unmöglich ist. Denn die Wahrheit „[...] kann weder mitgeteilt noch empfangen werden außer gleichsam vor Gottes Augen, und das bedeutet, sie kann weder mitgeteilt noch empfangen werden – außer eben vom Einzelnen“ (Kierkegaard 1951: 104).
Dieser „Einzelne“ ganz allein soll und muss sein Handeln im Glauben von einer dritten Instanz her reflektieren. Kierkegaard vereinzelt also einerseits radikal seine Leserschaft, unterwirft sie aber andererseits gleichsam radikal einer ihnen allen gemeinsamen Herrschaft. Nun endlich kann also ein viertes Merkmal benannt werden, das im Folgenden immer dann, wenn von „der Angst“ die Rede ist, expliziert werden kann. Dieses liegt quer zu den drei bereits beschriebenen, da es einen wesentlichen Bestandteil jedes dieser Merkmale darstellt. Im Falle des Erfinders dieser dergestalt beschriebenen „Grundbefindlichkeit“ ist das ein Leichtes. Kierkegaard spricht als Christ unumwunden und unablässig von Christus. Letzterer ist jene normative, jene herrschende Instanz, von der aus „die Angst“ gedeutet und von der aus ein richtiges Handeln gefunden werden kann. Doch wie lässt sich diese Lücke füllen, wenn eine solche Sicherheit in Bezug auf die Existenz eines Gottes nicht mehr den Ausführungen unterliegt? Was nimmt dessen Platz dann ein? Von wo her soll „die Angst“ stattdessen reflektiert werden? Eine erste Klärung dieser Frage geschieht nun vor dem Hintergrund des Wissens über „die Angst“ bei Heidegger, der tatsächlich eine erste ganz andere Antwort auf diese Frage kennt.
4.4 „Die Angst“ bei Martin Heidegger Martin Heidegger (1889-1976) gilt neben Jaspers als der zweite Schöpfer der deutschen Existenzphilosophie (vgl. z.B. Hirschberger 1980: 640 ff.). Er trat in Freiburg die Nachfolge seines Lehrers und des Begründers der Phänomenologie, Edmund Husserl, an. Er sprach aber in Hinblick auf seine Philosophie nicht von einer Phänomenologie, sondern vielmehr von einer Existenzial-Ontologie – also von einem Nachdenken über den letztgültigen Begriff des Wesens des Existierenden, also über das, was ist. Hinsichtlich seines Begriffs „der Angst“ wird ein genauer Blick in sein Hauptwerk „Sein und Zeit“ vonnöten (Heidegger 1927/1981). Die beiden zentra-
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len Themen dieses Werks lassen sich dem Titel bereits entnehmen. Das „Sein“ selbst, als das Letzte, das Höchste, als der ontologische Grund schlechthin, aus dem alles hervorgehe, diesen gelte es zu erleuchten im Unterschied zum nur „Seienden“, z.B. dem Menschen. Statt beim Ontischen eines jeweils bestimmten „Seienden“ stehen zu bleiben, gelte es nun, endlich wirklich ins Ontologische vorzustoßen und eben bis zum höchsten, bis zum „Sein“ selbst vorzudringen. „Sein“ selbst ist bei Heidegger also etwas anderes als das von diesem ermöglichte, seien es eben Wesenheiten oder seiende Dinge. „Sein“ nicht in dieser ontologischen Differenz zu sehen, sondern von dem nur Seienden her zu denken, bezeichnet Heidegger denn auch mit „Seinsvergessenheit“, „Verfallensein“ an Welt oder auch als subjektive Vernunft. Gemäß Hirschberger geschah die hierzu nötige Destruktion aller bisherigen Metaphysik nicht aus Gegnerschaft gegen diese, sondern im Gegenteil, Heidegger sei es daran gelegen gewesen, diese in einer „echten Fundamentalontologie“ zu sich selbst zu bringen (Hirschberger 1980: 640 ff.). Doch statt einer weiterreichenden Erörterung der existenzial-ontologischen Philosophie Heideggers gilt es für die vorliegende Arbeit zu klären, welchen Begriff von Angst Heidegger auf diesem Hintergrund entwickelte, und inwiefern und mit welchen Inhalten gefüllt sich die bei Kierkegaard gefundenen Eigenschaften „der Angst“ auch hier wieder finden lassen. Folgende Textstellen in „Sein und Zeit“ müssen hierfür zugrunde gelegt werden: nämlich § 30 „Die Furcht als ein Modus der Befindlichkeit“ und im sechsten Kapitel „Die Sorge als Sein des Daseins“, § 39 „Die Frage nach der ursprünglichen Ganzheit des Strukturganzen des Daseins“, § 40 „Die Grundbefindlichkeit der Angst als eine ausgezeichnete Erschlossenheit des Daseins“ und schließlich § 41 „Das Sein des Daseins als Sorge“. Für Heidegger besteht zwischen „der Furcht“ und „der Angst“ eine phänomenale Verwandtschaft, und dieser Tatsache wegen würden beide Begriffe oft durcheinander gebracht. Tatsächlich seien sie, so der Autor, streng voneinander zu trennen. Im § 30 bestimmt er „die Furcht“ zunächst mittels einer Unterteilung in drei Aspekte dieses Phänomens: 1. in das Wovor „der Furcht“, 2. in das Fürchten selbst und 3. in das Worum „der Furcht“. Das Wovor „der Furcht“, so Heidegger, das „Furchtbare“ sei immer ein innerweltliches, aus bestimmter Gegend, in der Nähe sich näherndes, abträgliches Seiendes, das ausbleiben könne. Denn: „Als Herannahendes in der Nähe aber ist das Abträgliche drohend, es kann treffen und doch nicht. Im Herannahen steigert sich dieses‚ es kann und am Ende doch nicht. ‚Es ist furchtbar’, sagen wir“(Heidegger 1927/1981: 140 f.).
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„Das Fürchten“ selbst konstatiere nicht erst das Herannahende, sondern entdecke es zuvor in seiner Furchtbarkeit. Im Fürchten selbst also werde sich der Mensch, „das Dasein“, des Grundes seiner Furcht bewusst. Das Fürchten folge also nicht erst auf die Feststellung des Grundes. Das Worum „der Furcht“ schließlich sei das Dasein selbst. Der Mensch fürchte sich um sich. „Nur Seiendes, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht, kann sich fürchten. Das Fürchten erschließt dieses Seiende in seiner Gefährdung, in der Überlassenheit an es selbst“ (Heidegger 1927/1981: 141).
Weil der Mensch um die Möglichkeit der Bedrohung seines Selbst wisse, könne er sich fürchten. Zusammengefasst ist „die Furcht“ bei Heidegger also ein Modus der Befindlichkeit, der in dem Moment zum Zuge komme, wenn dem Menschen, „dem Dasein“, das um seiner selbst und seine Gefährdung wisse: 1. konkret, 2. aus der Nähe und 3. als Möglichkeit eine Gefahr drohe. Ein Verständnis, das, wie sich später noch zeigen wird, dem heutigen Begriff von einer Angst als einer lebenswichtigen Signal-Angst angesichts einer konkreten Gefahr für den Sich-Ängstigenden sehr nahe kommt. Im Gegensatz zu dieser Befindlichkeit aber, die auf konkrete Gefahren verweist, bestimmt Heidegger das Wovor „der Angst“ als das In-der-Welt-Sein als solches (vgl. Heidegger 1927/1981: 186). Für „die Angst“ gebe es somit also keinen Grund in der Welt wie für „die Furcht“. Vielmehr sei die Welt und das In-der-Welt-Sein selbst der Grund für „die Angst“. „Nichts von dem, was innerhalb der Welt zuhanden und vorhanden ist, fungiert als das, wovor die Angst sich ängstet. Die innerweltlich entdeckte Bewandtnisganzheit des Zuhandenen und Vorhandenen ist als solche überhaupt ohne Belang. Sie sinkt in sich zusammen. Die Welt hat den Charakter völliger Unbedeutsamkeit. In der Angst begegnet nicht dieses oder jenes, mit dem es als Bedrohlichem eine Bewandtnis haben könnte. Daher sieht die Angst auch nicht ein bestimmtes `Hier´ und `Dort´, aus dem her sich das Bedrohliche nähert. Daß das Bedrohliche nirgends ist, charakterisiert das Wovor der Angst“ (Heidegger 1927/1981: 186).
An dieser Stelle, ohne eine Kenntnis des nun folgenden und ohne eine Kenntnis des Grundes, weswegen Heidegger hier überhaupt über „die Angst“ zu sprechen beginnt, ließe sich leicht einwenden, dass es sich bei dieser Angst, so wie Heidegger sie beschreibt, um eine ganz und gar ungemütliche Sache handele, die eben deshalb überwunden und weggehöre. Eine Angst, die auf „nichts“ verweist und die einhergeht mit der Bewertung alles Existierenden als „Unbedeutsam“, könne zu nichts wirklich gut sein. „Zuversicht“, „Tatendrang“, vielleicht auch „Glaube“ oder, alternativ, auch eine Therapie, würden vielleicht als Gegenmittel für den sich so Ängstigenden benannt werden können. Das alles aber entspräche nicht der Heideggerschen Intention. Ganz im Gegenteil beschreibt er „die Angst“
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als eine seinen methodischen Erfordernissen genügende Befindlichkeit deshalb, weil sie, so verstanden, zu dem hinführt, was ihm das zentrale Anliegen seiner ganzen Arbeit ist. „Die Angst“, so wie Heidegger sie versteht, führt direkt zum Ontologischen, direkt zum „Sein“. Wie macht sie das? Zur ontologischen Struktur des Daseins gehöre, so der Autor, Seinsverständnis. Seiend sei es ihm selbst in seinem Sein erschlossen. Befindlichkeit und Verstehen konstituieren die Seinsart dieser Erschlossenheit (vgl. Heidegger 1927/1981: 182). Und so fragt sich Heidegger, ob es denn nun eine verstehende Befindlichkeit im Dasein gäbe, in der das Sein dem Menschen selbst in ausgezeichneter, also in besonderer, in hervorragender Weise erschlossen sei. Anders gefragt: Heidegger sucht nach einem menschlichen Zustand, der direkt auf das ihm zentrale „Sein“ verweist. Er sucht nach einem Zustand, der den darin befindlichen Menschen direkt mit dem „Sein“ in einen Kontakt bringt. Und von dieser Frage also gelangt Heidegger zu seiner Analyse des Phänomens „der Angst“, wie er sie versteht. Denn weil ja das Wovor „der Angst“ das In-derWelt-Sein selbst sei, erschließe das Sich-Ängstigen ursprünglich und direkt die Welt als Welt. Der Sich-Ängstigende bekomme einen Begriff von der Welt und von der Unbedeutsamkeit all dessen, was in ihr ist. In diesem Moment geschehe das für Heidegger Wesentliche. Denn: „Die Welt vermag nichts mehr zu bieten, ebenso wenig das Mitdasein anderer. Die Angst benimmt so dem Dasein die Möglichkeit, verfallend sich aus der ‚Welt’ und der öffentlichen Ausgelegtheit zu verstehen. Sie wirft das Dasein auf das zurück, worum es sich ängstet, sein eigentliches In-der-Welt-sein-Können. Die Angst vereinzelt das Dasein auf sein eigenstes Inder-Welt-Sein, das als Verstehendes wesenhaft auf Möglichkeiten sich entwirft. Mit dem Worum des Sich-Ängstens erschließt daher die Angst das Dasein als Möglichsein und zwar als das, das es einzig von ihm selbst her als vereinzeltes in der Vereinzelung sein kann. Die Angst offenbart im Dasein das Sein zum eigensten Seinkönnen, das heißt, das Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-Wählens und -ergreifens. Die Angst bringt das Dasein vor sein Freisein für...(propensio in...) die Eigentlichkeit seines Seins als Möglichkeit, die es immer schon ist. Dieses Sein aber ist es zugleich, dem das Dasein als In-der-Welt-Sein überantwortet ist“ (Heidegger 1927/1981: 188).
Und schließlich: „zur wesenhaften Daseinsverfassung des In-der-Welt-Seins, [...] gehört die Angst als Grundbefindlichkeit“ (Heidegger 1927/1981: 189) „Die Furcht“ schließlich ist dann, wenn „die Angst“ so begriffen wird, nur noch eine „der Angst“ nachgeordnete Befindlichkeit – eine „uneigentliche“, von der Welt abhängige, ihr „verfallene“ und „der Furcht“ selbst verborgene Angst. „Die Angst“ bei Kierkegaard war „die Angst jenes Einzelnen“, der als Einzelner vor Gott steht und aus dieser Beziehung heraus richtig zu handeln versucht. In dem Maße aber, wie er zu „jenem Einzelnen“ wird, steht dieser über „der Masse“. Denn er strebt nach einer höheren Wahrheit, als ihm gesellschaftliche Konventionen und Gesetze zu geben imstande sind. Diese starke Betonung
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auf „den Einzelnen“ und seine Beziehung zu etwas „Höherem“ im Zusammenhang mit „der Angst“ findet sich ähnlich auch bei Heidegger wieder. Denn: „Allein in der Angst liegt die Möglichkeit eines ausgezeichneten Erschließens, weil sie vereinzelt. Diese Vereinzelung holt das Dasein aus seinem Verfallen zurück und macht ihm Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit als Möglichkeiten seines Seins offenbar. Diese Grundmöglichkeiten des Daseins, das je meines ist, zeigen sich in der Angst wie an ihnen selbst, unverstellt durch innerweltliches Seiendes, daran sich das Dasein zunächst und zumeist klammert“ (Heidegger 1927/1981: 190 f.).
Aber auch wieder ähnlich wie bei Kierkegaard wird hier die Explikation eines bestimmten Begriffs, eines bestimmten Zustands – Heidegger nennt ihn ebenfalls „die Angst“ – benutzt, um den entscheidenden Hinweis auf das zentrale Thema des Textes, besser: des Autors, vornehmen zu können. Wie „die Angst“ bei Kierkegaard direkt den Einzelnen zu einem Verhältnis zu Gott führt bzw. führen soll und ihn dadurch über „die Masse“ erhebt, führt „die Angst“ bei Heidegger den Leser direkt zu dessen Begriff des „Seins“, und verhilft ihm, „richtig“ verstanden, zu einem „eigentlichen“ statt zu einem „uneigentlichen“ Leben. Theologie und Existenzial-Ontologie scheinen so betrachtet keine Gegensätze. „Die Angst“ bei Heidegger ist also demnach ebenfalls 1. allgemein. Sie beschreibt eine Grundbefindlichkeit jedes Menschen. Sie ist 2. selbstisch. Sie vereinzelt den Einzelnen und führt ihn dadurch zu sich selbst, zu seinem eigenen Seinsverständnis. Sie ist 3. unbestimmt. Sie verweist auf keine „innerweltliche“ konkrete Gefahr. Und sie verweist 4. auf eine höhere Instanz. Sie setzt den „Einzelnen“, den Menschen, „das Dasein“ direkt mit dem allgemeinen, höchsten und letzten „Sein“ in ein Verhältnis, von wo aus der Einzelne sein Handeln reflektieren soll.
4.5 „Die Angst“ bei Ernst Bloch Ernst Bloch (1885-1977) formulierte eine Philosophie der konkreten Utopien, der Tagträume und des „Prinzips der Hoffnung“ (Bloch 1974) vor dem Hintergrund einer marxistisch aufgeklärten Gesellschaftstheorie. Der Marxismus selbst galt ihm dabei als die „Wissenschaft von der fundierten Hoffnung“ (Bloch 1965: 81). Daraus folgt, dass er, im Gegensatz zu den beiden bislang besprochenen Autoren, seine Ausführungen über „die Angst“ und „die Hoffnung“ in Bezug setzte zu den herrschenden kapitalistischen als auch real-sozialistischen Verhältnissen seiner Zeit. In seinem Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung“ stellte er den „über sich hinausdenkenden Menschen“ in den Mittelpunkt seiner Auseinandersetzungen. Dessen Bewusstsein, so Bloch, sei ausgestattet mit „Überschuss“, der seinen Ausdruck in den sozialen, ökonomischen und religiösen Utopien, in der
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bildenden Kunst und in der Musik fände. Die Aufgabe, die er sich stellte, beschrieb Bloch damit, das „Träumen nach vorwärts“ zu reflektieren, und einen ihm angemessenen Begriff zu finden. Es gelte, das ungeheure utopische Wissen in der Welt endlich explizit zu machen (vgl. Bloch 1974: 4). Von der Antike bis in die Neuzeit, in Medizin, Technik, Architektur, Geographie, Oper, Dichtung, Malerei, Literatur und Religion. In all diesen Bereichen fand Bloch dann auch Aspekte des Utopischen, Aspekte der Hoffnung als einer „tätigen Erwartung“. Als kategorialen Ort „der Angst“ und „der Hoffnung“ führt Bloch die Kategorie, aber auch eine Ontologie des „Noch-nicht-Seins“ als die Kategorie der „objektiv-realen Möglichkeiten“ ein. Damit wendet er sich nicht zuletzt auch gegen Heidegger. Denn mit dieser Kategorie nennt er nicht das bisherige und feststehende Sein, sondern vielmehr etwas „schwebendes, ein im Schwange Befindliches“ ontologisch (vgl. Bloch 1965: 84). Die Welt selbst sei demnach nicht fertig und noch nicht gegeben. Die Wirklichkeit sei vielmehr von einem bedeutenden Mehr an objektiv-realen Möglichkeiten umgeben. Damit wendet sich Bloch, explizit in einer Rede, die er 1965 im Rahmen einer Tagung zum Thema „Angst und Hoffnung in unserer Zeit“ hält, ganz konkret auch gegen die damalige Politik Adenauers, die auf „Keine Experimente“ setzte, und damit Möglichkeiten grundlegender gesellschaftlicher Veränderungen auszuschließen beabsichtigte. Hoffnung aber, im Gegensatz zur Angst, so Bloch, sei dann gegeben, wenn das Noch-Nicht-Sein, die konkrete Utopie, aktiv zum Thema gemacht werden könne und auch gemacht werde. Gesellschaftliche Veränderung aber, so Bloch 1965, sei nötig und im Osten bereits im faktischen Werden begriffen. Im Sozialismus vermeint er Anfänge einer „Bewegung des aufrechten Ganges“ auszumachen, die – gemäß der Forderung von Marx – dazu führen könnten, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen sei. Eine Beschreibung, wie sie auf kapitalistische Verhältnisse zuträfe, der „schäbigen Sorgen des Erwerbs“ und der in ihnen gegebenen Entfremdung wegen (vgl. Bloch 1965: 83). Vor diesem Hintergrund nun wird die von Bloch vorgenommene Trennung in „die Angst“ einerseits und in „die Furcht“ andererseits verständlich. Auch Bloch übernimmt zunächst die von Kierkegaard vorgenommene Setzung, wonach „die Angst“ der Zustand sei, der einen Menschen angesichts einer diffusen und unbestimmten Bedrohung befalle, während „die Furcht“ die bestimmte Angst vor etwas sei (vgl. Bloch 1965: 78). Doch anders als Kierkegaard und Heidegger kennt Bloch eine Art Kontinuum, eine mögliche Bewegung von dem einen zu dem anderen Zustand; eine Bestimmung, wie sie seiner Kategorie der objektiv-realen Möglichkeiten selbst entspricht. Präzise drückt Bloch sein diesbezügliches Verständnis im letzten Satz dieses Zitats aus: „Viele fühlen sich nur als verwirrt. Der Boden wankt, sie wissen
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nicht warum und von was. Dieser ihr Zustand ist Angst, wird er bestimmter, so ist er Furcht“ (Bloch 1974: 1). Eine gewisse Allgemeinheit („sie“) wird demnach konstruiert, denen alle gleichermaßen ein Zustand („die Angst“) zukomme, dieser Zustand aber lasse sich, so sich um eine „Logisierung“ bemüht werde, aufklären und auf einen angemessenen Begriff bringen um dann eben als eine bestimmte Furcht „vor“ etwas bestimmt werden zu können. Wogegen sich diese Furcht richte und was zu tun sei, lässt sich dem Vorwort zu „Das Prinzip Hoffnung“ gemäß der zugrunde gelegten marxschen Gesellschaftstheorie als auch der Kategorie des Noch-Nicht-Seins, bereits einige Zeilen weiter entnehmen: „Die Arbeit gegen die Lebensangst und die Umtriebe der Furcht ist die gegen ihre Urheber, ihre großenteils sehr aufzeigbaren, und sie sucht in der Welt selber, was der Welt hilft; es ist findbar. Wie reich wurde allzeit davon geträumt, vom besseren Leben geträumt, das möglich wäre“ (Bloch 1974: 1).
„Die Angst“ bei Bloch verweist somit, wenn auch zunächst nur diffus, sowohl auf die herrschenden kapitalistischen Verhältnisse als auch auf die in ihnen Herrschenden. Nicht Revolution, sondern vielmehr Hoffnung als tätiges Erwarten versucht Bloch dem entgegenzusetzen. Um dies verstehen zu können, sei es nötig, „die Angst“ in die eigene Regie zu nehmen und sie sich nicht einreden zu lassen. Durch „die Angst“ könne dann gefördert werden, was Wissenschaftlichkeit besäße, nämlich Vorsicht in einem doppelten Sinne: Vorsicht und auch Vorsicht, Achtsamkeit und Antizipation. Gefördert also „[...] durch Angst als Zustand, der außerdem vollkommen nützlich, ehrlich und sittlich ist, nämlich als angemessene Reaktion auf eine sehr prekäre Welt, die nicht in Ordnung ist und nicht so bleiben sollte - die Unheil ist“ (Bloch 1965: 78).
Bloch behauptet demnach – auf der Grundlage des Werkes von Marx – ähnlich wie Kierkegaard und Heidegger auch die Spezifität jedes einzelnen Menschen; aber im Gegensatz zu ihnen behauptet er auch die Existenz eines jeweiligen konkreten Menschen in seiner jeweiligen „objektiven Realität“. Diese Realität wiederum, die er als Kapitalismus bestimmt, sei eine, in der man sich notwendig ängstigen könne. „Notwendig könne“: der Widerspruch, der hier anklingt, klärt sich auf, bedenkt man seine Aussage, dass Angst und Hoffnung Zustände seien, die man eben habe oder nicht habe. „Die Angst“ ist bei ihm keine Grundbefindlichkeit, auch keine im Kapitalismus. Ob man nun Angst habe oder nicht, sei eine Frage des „verschiedenen Geschmacks“ in der Haltung zu Ereignissen und Verhältnissen (vgl. Bloch 1965: 76). Dass er andererseits aber „die Angst“ als einen „richtigen“ Zustand in Anbetracht erklärbarer – und, seiner Position nach, auch kritik- und veränderungswürdiger – Verhältnisse empfiehlt, lässt sich dem letzten Zitat entnehmen.
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Mit dieser Empfehlung, die gleichzeitig keine positive Bezugnahme auf „die Angst“ als eine wichtige Grundbefindlichkeit enthält, steht Bloch in Hinblick auf andere Autoren, die über „die Angst“ schreiben, einigermaßen allein. Und doch scheint sein gesellschaftstheoretisch aufgeklärtes Konzept „der Angst“, den zu Beginn erörterten Grundlagen zufolge, am ehesten geeignet zu sein, um in der Folge eines Nachdenkens über „die Angst“ einerseits nicht Gefahr zu laufen, Prozesse der sozialen Ausschließung zu dethematisieren und andererseits die Singularität jedes einzelnen Sich-Ängstigenden nicht aus dem Blick zu verlieren; zumal seine Forderung nach „logisierung“ „der Angst“ – wie auch sein diesbezügliches auf zukünftige Veränderungen hin gerichtetes prozessorientiertes Verständnis – eine autonome Auseinandersetzung des SichÄngstigenden mit seiner Angst zu ermöglichen scheint. Doch trotz all dieser feststellbaren radikalen Gegensätze finden sich auch bei Bloch die bei Kierkegaard festgestellten allgemeinen Merkmale bezüglich der Konzeption eines Zustands, der das Etikett „die Angst“ trägt, wieder. Denn „die Angst“ bei Bloch ist demnach ebenso 1. allgemein. Dies insofern die konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse, die „die Angst“ verursachen, allgemein sind und demnach alle Insassen dieser Verhältnisse gleichermaßen betreffen. 2. Sie ist selbstisch. Je nach Gemüt ist sie unterschiedlich ausgeprägt und muss individuell „logisiert“ werden. Sie ist 3. unbestimmt. Denn sie ist noch nicht bestimmt, also noch nicht Furcht. Und sie verweist 4. auf die herrschenden Verhältnisse, auf die hin „die Angst“ als deren Folge reflektiert werden soll.
4.6 Fazit Wenn zwischen „der Angst“ und „der Furcht“ zunächst Kierkegaard einen Unterschied setzt, und in der Folge auch Heidegger und Bloch; wenn sie also deutlich zu machen versuchen, dass „die Furcht“ sich auf ein Objekt bezieht, während „die Angst“ unbestimmt sei, dann bleiben alle drei bei dieser Bestimmung von „der Angst“ als eines Zustands, der sich auf etwas „unbestimmtes“, gar auf „nichts“ bezieht, nicht stehen. Diese Unbestimmtheit selbst – bei Kierkegaard und Heidegger auch das „Nichts“ selbst – wird von ihnen wiederum auf einen Begriff gebracht. Das „Unbestimmte“ an der Angst ist bei allen drei also nicht identisch mit „nicht-zu-bestimmen“ und auch nicht mit „noch-nichtbestimmtem“. Dem „Unbestimmten“ selbst kann vielmehr eine allgemeine Bestimmung gegeben werden. Es kann auf einen Begriff gebracht werden: auf „den Begriff Angst“. Erst scheiden sie also eine objektbezogene Furcht von einer nicht-objektbezogenen Angst, um dann im zweiten Schritt diese als zunächst „unbestimmte“ Angst wieder neu bestimmen zu können.
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Das, was bei allen drei Autoren zunächst wie das Setzen einer Leerstelle ausschaut, deren Interpretation, vielleicht ja auch mit dem Betroffenen gemeinsam, noch zu leisten ist, ist tatsächlich jeweils immer ein Auftakt für ein (wenn auch divergierendes) Verständnis von „der Angst“, bei dem letztlich der Zustand der Sich-Ängstigenden doch wieder von außen dechiffrierbar gemacht wird. Sei es auf mäeutische Weise bei Kierkegaard, sei es, dass Heidegger ihn systematisch existenzial-ontologisch begrifflich fassbar zu machen versucht, oder dass Bloch sein Verständnis von „der Angst“ von seinem Wissen um die Kritik herrschender kapitalistischer Verhältnisse ableitet. In dem Maße, wie sie das von ihnen selbst gesetzte „Unbestimmte“ wieder begrifflich zu füllen versuchen, beweisen zumindest Kierkegaard und Heidegger ein sie verbindendes Interesse an einer allgemeinen Anthropologie. Es liegt in ihrem Interesse, ein Wissen in die Welt zu setzen darüber, „wie der Mensch ist“, was „seine (existenzielle) Angst“ ist. Damit geben sie jenem, nicht nur von Kierkegaard vielfach gerühmten „Einzelnen“ doch wieder keine Möglichkeit, sein eigenes Sich-Ängstigen tatsächlich als sein eigenes zu deuten und zu verstehen: sei es als ein sinnvoller, als ein notwendiger, als ein angemessener, als ein unnötiger Zustand – oder sei es als etwas ganz anderes. Was sie allerdings dadurch, dass sie die Unbestimmtheit „der Angst“ zu bestimmen wissen, gewinnen, ist der daraus resultieren könnende Verweis auf die – dann ebenfalls zu bestimmen mögliche – Bedrohung für den Sich-Ängstigenden. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird sich zeigen, dass aktuell zunehmend mit der Bestimmung von vielleicht noch-nicht-bestimmter Angst als ausschließlich „unbestimmt“ – also ohne jede weitere Präzisierung dessen, was diese „Unbestimmtheit“ bestimmt – sich auch die Frage nach dem Inhalt der Bedrohung dieser als „unbestimmt“ bestimmten Angst (zunächst) nicht mehr stellt. Die jeweils den Sich-Ängstigenden bedrohende Gefahr und die darum nötige Abwehr sind bei Kierkegaard, Heidegger und Bloch leicht zu identifizieren; sie schweigen sich darüber nicht aus. Sünde, Uneigentlichkeit und Knechtschaft lassen sich überwinden mittels Glaube, Seinsverständnis und Aufhebung der Verhältnisse. Diese Problemstellungen und Lösungen entsprechen ihren jeweiligen anzunehmenden Interessen als Christ, Existenzial-Ontologe und marxistischer Utopist. Ein wesentlicher Unterschied freilich besteht in den weiteren Auffassungen der drei angeführten Autoren. Bei Kierkegaard und bei Heidegger bedarf „die Angst“ – also die ehedem, gemäß des erörterten Sprachgebrauchs, durch Furcht hervorgerufene und ihrerseits Furcht hervorrufende Beklemmung – keines äußeren Anstoßes durch eine bestimmte Bedrohung mehr. Hier ist sie das vor jeder erfahrenen Gefahr vorhandene Gefühl der unsäglichen Bedrohtheit des Daseins überhaupt. Als „ursprüngliche Angst“, als „wesenhafte Angst“ wird sie bei ihnen zur Grundstimmung des Daseins selbst. Eine solche Grundbefindlichkeit Angst
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gibt es bei Bloch dagegen nicht. Seine Position ist diesbezüglich deutlich optimistischer. Daher kann er auch schreiben: „Das Zukünftige enthält das Gefürchtete oder das Erhoffte; der menschlichen Intention nach, also ohne Vereitelung, enthält es nur das Erhoffte“ (Bloch 1974: 2). Während bei Bloch also ein kollektiver Austausch über Gründe „der Angst“ möglich erscheint und das Abstellen dieser Gründe daraus folgend zu einem allgemeinen Programm werden kann, ist eine solche Möglichkeit im Wissen über „die Angst“ bei Kierkegaard und Heidegger nicht angelegt. Deren Wissen über „die Angst“ zielt im Gegensatz dazu auf eine radikalst mögliche Vereinzelung der Sich-Ängstigenden ab. Solidarisierung und dialogische Kommunikation über verschiedene Möglichkeiten der Bestimmung vielleicht noch-nicht-bestimmter Ängste folgen daraus nicht. Was geschieht nun, wenn sich Psychologie „der Angst“ annimmt, wenn sie, ganz auf „innere“ Vorgänge fokussiert, diesen Zustand ihrerseits zu erklären sucht? Welches ist dann ihr Bezug auf herrschende Verhältnisse und welche Folgen diesbezüglich lassen sich dort nun explizieren?
5 Zur Enteignung philosophischer Konzepte „der Angst“ durch psychologische Theoriebildung Für eine erziehungswissenschaftliche Untersuchung von einigem Interesse stehen mit „Hans“ und „Albert“ ab dem Ende des 19. Jahrhunderts zunächst zwei Menschen – die keine Erwachsenen sind – im Mittelpunkt und am Beginn eines neuartigen Nachdenkens über „die Angst“. Auf diese beiden Kinder und auf die Gründe ihres Auftretens in der Geschichte der Wissensproduktion über „die Angst“ wird zurückzukommen sein. Fortan jedenfalls wird den Diskurs über „die Angst“ ein Nachdenken bestimmen, das mit dem Anspruch auftritt, ein nichtphilosophisches, ein vor allem nicht-ontologisches und ein nicht-theologisches7 zu sein. Es soll stattdessen ein wissenschaftlichen Ansprüchen verpflichtetes, also systematisches Nachdenken sein. Dieses Nachdenken kann allgemein charakterisiert werden dadurch, dass es auf „innere Vorgänge“ fokussiert, und dass es ein mehrheitlich personen- und defizitorientiertes Nachdenken darstellt. Zudem zeichnet es sich dadurch aus, dass regelmäßig unabhängig und vor der Befassung mit konkreten Sich-Ängstigenden deren Ängste und Betätigungsweisen bereits als Resultate eines bestimmten vor ab bekannten Wirkungsverhältnisses, welches je nach Autor durchaus unterschiedlich ausfällt, definiert und erklärt werden können. Schließlich wird „die Angst“ fortan mittels immer ausgefeilterer Klassifikationssysteme in immer mehr Unterformen unterteilt. Die vier zuallererst den Überlegungen Kierkegaards zu entnehmen möglichen Merkmale jenes als „die Angst“ etikettierten Zustands – allgemein, selbstisch, unbestimmt und auf eine dritte Instanz verweisend – lassen sich auch in diesen Wissensangeboten identifizieren. 7
Diese Differenzierung geschieht im Bewusstsein dessen, dass in der Folge die Ergebnisse einer spezifischen Wissensproduktion einer größeren Fraktion christlicher Autoren vernachlässigt werden, die in ihren Interpretationen „der Angst“, sowohl psychoanalytische als auch theologische Aspekte miteinander zu verbinden versuchen. Vgl. als ein frühes Grundlagenwerk diesbezüglich: Oskar Pfister 1944/1985: „Das Christentum und die Angst. Eine religionspsychologische, historische und religionshygienische Untersuchung“, oder aktueller: Eugen Drewermann, „Gespräche über die Angst“ (1993), „Die Spirale der Angst“ (1991), „Heilende Religion: Überwindung der Angst“ (2006). Es kann in Anbetracht des Hintergrunds des Theologen Drewermann dabei übrigens nicht verwundern, dass er hierin als Gegenbegriff „der Angst“, wie er sie versteht, den Glauben sieht. Die psychoanalytische Krankheitslehre, so der Autor, bedürfe einer theologischen Vertiefung, um Formen „der Angst“ und der neurotischen Angstvermeidung als wesentliche, zum menschlichen Dasein unabtrennbar gehörende Konflikte zu verstehen, die erst durch einen Glauben an eine „vorgängige Bejahung in Gott“ gelöst werden könne (vgl. Drewermann 2006: 17).
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Folgende zwei Protagonisten der zwei wichtigsten Schulen stehen am Beginn dieser Ausdifferenzierung psychologischer Theoriebildung über „die Angst“: der Begründer der Psychoanalyse – Sigmund Freud (1856-1939) – in Wien/Österreich und der Begründer des Behaviorismus – John Broadus Watson (1878-1958) – in Baltimore/USA. Es wird nun gezeigt, wie Konzepte „der Angst“, die von Seiten der bislang angeführten, philosophisch argumentierenden Autoren als solche und zum Verständnis derselben, einen zu Urteil und Einsicht fähigen (also wohl eher „erwachsenen“) Menschen voraussetzten, nun eine radikal neue Fokussierung, zunächst auf innere psychische, zum Teil demnach auch „unbewusst“ ablaufen sollende Prozesse, im jeweils einzelnen Menschen erfahren.8 Die Deutung eines von geistigen Urteilen nicht gestörten psychischen als auch äußeren sozialen Geschehens, kann, um wieder auf die zwei Jungen Hans und Albert zu sprechen zu kommen, sowohl Freud als auch Watson dabei um so leichter gelingen, desto jünger die zur Verdeutlichung ihrer jeweiligen Theorien angeführten und von ihnen exemplarisch ausgesuchten Patienten bzw. Probanden sind. Desto weniger diesen beiden klein-kindlichen Menschenexemplaren eine Urteilskraft unterstellt werden braucht, desto mehr muss deutlich werden – das jedenfalls ist die Absicht der Autoren –, wie sehr „der Mensch“, und nun wieder ganz allgemein und nicht mehr bloß auf kleine Kinder beschränkt, ein „Abhängiger“ seiner inneren psychischen Vorgänge ist, bzw. alternativ: wie sehr er ein „Abhängiger“ der ihm angetanen „Konditionierung“ und seiner „inneren Verarbeitung“ dieser äußeren Vorgänge ist. Diese beiden Sichtweisen gilt es im Folgenden darzulegen, zu differenzieren und auf Prämissen und Folgen für den Sich-Ängstigenden in seiner jeweiligen Situation hin zu prüfen.
5.1 Sigmund Freud, die Psychoanalyse und „die Angst“ Sigmund Freud studierte zunächst an der Wiener Medizinischen Fakultät und wendete sich, eines Studienaufenthalts in Paris wegen, 1885/86 unter dem Einfluss des französischen Professors für Neurologie, Jean-Martin Charcot, zur Psychopathologie hin. Da er im Anschluss an sein Studium keine Möglichkeit weiterer wissenschaftlicher Betätigung fand, beschäftigte er sich zunächst in einer Privatpraxis mit Hysterie und anderen Neurosenformen. Bis zu seinem Tode war er tätig in der Begründung und Fortentwicklung der Psychoanalyse als 8
So ist z.B. in einem Lehrbuch zu: „Angst- und Panikerkrankungen“ zu lesen: „Die psychologische Angstforschung beginnt mit S. Freud, dem Begründer der Psychoanalyse. Aber nicht nur historisch kommt ihm die Priorität zu, sondern die von Freud gelegten methodischen und theoretischen Fundamente erweisen sich bis heute als fruchtbar“ (Kasper 1995: 366).
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einer eigenen Behandlungs- und Forschungsmethode sowie in der Entwicklung einer allgemeinen Psychologie. Freud emigrierte 1938 nach London und verstarb dort 1939. Entsprechend seiner Biographie und seinen Veröffentlichungen kann von der Psychoanalyse zunächst nur als einer Behandlungsmethode für psychisch Kranke, ab 1900 (mit dem Erscheinen der „Traumdeutung“) aber auch als einer eigenständigen Psychologie die Rede sein. Freud legte im Laufe seines Lebens hinsichtlich der Einschätzung dessen, was die Ursache und was die Wirkung „der Angst“ sei, zwei sich inhaltlich widersprechende Versuche einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit diesem Phänomen vor, siehe Kapitel 5.1.1 und 5.1.2. In Kapitel 5.1.5 wird zudem deutlich, dass Freud letztlich auch darauf insistierte, dass psychische Realität auch als eine gesellschaftliche verstanden werden müsse. Die diesen verschiedenen Arbeiten zu entnehmen mögliche Uneindeutigkeit hinsichtlich der Frage nach der Ursache und der Wirkung im Verhältnis von „der Angst“ und „der Gefahr“, wird in der Folge dieser Arbeit als ein Grund dafür interpretiert, warum es im Anschluss an und unter Berufung auf Freud möglich ist, weiterhin sehr unterschiedliche Konzeptionen hinsichtlich „der Angst“ zu verfassen. Als Beleg für diese Behauptung wird im Kapitel 5.2 das Wissen über „die Angst“ bei Duhm, im Kapitel 5.3 das Wissen über „die Angst“ bei Flöttmann dargestellt. Da in dieser Arbeit lediglich ausgewählte unterschiedliche Konzepte „der Angst“ und ihre jeweiligen Folgen – und nicht die Darstellung verschiedener Entwicklungen dieser Problematik innerhalb tiefenpsychologischer Schulen – im Mittelpunkt stehen, geschieht die weitere Auseinandersetzung in bewusster Vernachlässigung folgender wichtiger Autoren und ihrer Beiträge. Es kann daher nur kurz verwiesen werden auf die einschlägigen Schriften Wilhelm Stekels (1868/1940) hierzu, besonders auf jene fünf Vorträge über „Nervöse Angstzustände und ihre Behandlung“ (Stekel, 1921), aber auch auf die Autoren Alfred Adler (1870-1937) und auf Carl Gustav Jung (1875-1961), die beide zum Thema veröffentlichten.9 Eine ausführliche vergleichende Würdigung ihrer jeweiligen Angsttheorien, einschließlich der Weiterentwicklungen bei Anna Freud und Rene Spitz, findet sich z.B. in der Arbeit „Angst als psychische und soziale Reaktion“ von Thomas Geyer (1998) und, unter Bezugnahme auch auf die Beiträge von Karl Abraham, Sandor Rerenczi, Otto Rank, Ernest Jones, Paul Federn, Wilhelm Reich, Melanie Klein, bei Meyer (2005), in seinem Buch über „Konzepte der Angst in der Psychoanalyse“. 9
Zu den Hauptströmungen tiefenpsychologischer Schule vgl. Pongratz 1984; Rattner 1990.
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5.1.1 „Die Angst“, die eine „Neurose“ sei, in Freuds früher Angsttheorie Den Ausführungen über Freuds frühe Angsttheorie liegen in diesem Kapitel zwei Texte zugrunde. Erste theoretische Überlegungen zur Entstehung „der Angst“ als einer „Störung“ legt Freud bereits in seinem Aufsatz: „Über die Berechtigung, von der Neurasthenie einen bestimmten Symptomkomplex als ‚Angstneurose’ abzutrennen“ (Freud 1895) vor. In der 24. Vorlesung seiner „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ mit dem Titel „Die Angst“ (Freud 1916-17) kommt Freud auf Ursachen „der Angst“ als „Störung“ zu sprechen und führt hierin ein Verhältnis von Libido, Verdrängung und Angst aus. Zusammengefasst bezieht Freud hiernach zunächst die Position, wonach „die Angst“ als „Störung“ ein Produkt – also eine Folge – „libidinöser Triebregungen“ sei, deren Bestreben nach Befriedigung verwehrt werde. Seine frühe Angsttheorie beschreibt Freud selbst als eine Art „Vergiftungstheorie“, wenn er wie folgt, unter Bezugnahme auf die Geburtserfahrung „des Menschen“, ausführt: „Die enorme Reizsteigerung durch die Unterbrechung der Bluterneuerung (der inneren Atmung) war damals die Ursache des Angsterlebnisses, die erste Angst also, eine toxische. Der Name Angst – angustiae, Enge – betont den Charakter der Beengung im Atmen, die damals als Folge der realen Situation vorhanden war und heute im Affekt fast regelmäßig wiederhergestellt wird“ (Freud 1916-1917: 411).
Die Annahme, es handele sich bei Angst ursprünglich um eine Art Vergiftung im Körper der Person, muss vor dem Hintergrund seiner Ausbildung als Mediziner und seinem Interesse an Neuropathologie und Neurologie verstanden werden. Auf der anderen Seite gelangt Freud in der gleichen Vorlesung aber auch zu einer Einschätzung, wonach das Nachdenken über die je eigene Angst das Entscheidende sei. „Die Angst“, so Freud nämlich, sei selbst niemals das Zweckmäßige. Es könnten ihr keine Antworten auf die Frage nach einem zweckmäßigen Handeln in Angesicht einer Gefahr entnommen werden. Das einzig zweckmäßige Verhalten bei drohender Gefahr sei die Abschätzung der eigenen Kräfte im Vergleich zur Größe der Drohung, und darauf die Entscheidung, ob die Flucht oder die Verteidigung, möglicherweise sogar der Angriff, größere Aussicht auf einen guten Ausgang verspräche. In diesem Zusammenhang aber sei für „die Angst“ überhaupt keine Stelle (vgl. Freud 1916-1917: 408 f.). Vielleicht gerade weil er „die Angst“ an dieser Stelle gänzlich vor einem medizinischen Hintergrund diskutiert, ist ihm dieser Gedanke, eigene Gedanken über „die Angst“ betreffend, so wichtig. „Die Angst“ selbst, und diese Annahme ist für den weiteren Verlauf dieser Untersuchung von einiger Bedeutung, besäße weder rationale noch irrationale Eigenschaften. Insofern anerkennt Freud, dass es zum Verständnis konkreter „Ängste“ und über in der Folge dann entschiedene Handlungen
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Sich-Ängstigender es immer bloß ein Nach-denken und kein erklärendes Vordenken geben könne. An diese Einsicht wird noch öfters zu erinnern sein: gerade dann nämlich, wenn z.B. behauptet wird, dass „die Angst“ selbst dem Sich-Ängstigenden helfen würde, das „Richtige“ zu tun, gilt es nach dem Zweck einer solchen unangemessenen Zuschreibung zu fragen. In dem eben erwähnten Aufsatz entwirft Freud aber zunächst auf der Grundlage eines bestimmten beobachtbaren „Störungsbilds“ eine neue Diagnosekategorie einer psychischen „Störung“, eben „die Angstneurose“. Die „Neurasthenie“, von der er seine neue Kategorie abtrennt, ist unter anderem gekennzeichnet durch „Kopfschmerzen“, „Appetitlosigkeit“, einer „erhöhten Reizbarkeit“, einer „herabgesetzten Frustrationstoleranz“ und einer „chronischen Ermüdung“. Als mögliche Gründe nicht-sexueller Art für diese „Störung“ führt Freud an: „das Moment der Überarbeitung, erschöpfende Anstrengung, z.B. nach Nachtwachen, Krankenpflegen und selbst nach schweren Krankheiten“ (Freud 1895: 328). Doch wirklich entscheidend sei das aktuelle Sexualverhalten des Patienten. Dieses zeichne sich durch „das Moment der Zurückhaltung oder der unvollkommenen Befriedigung“ aus. Hierzu zählt Freud „Coitus Interruptus, Abstinenz bei lebhafter Libido, so genannte frustrane Erregung u. dgl.“ (Freud 1895.: 497 f.). Eine Beeinträchtigung des sexuellen Verkehrs mit dem Ergebnis von Angst als „Störung“ findet Freud als Bedingung derselben bei beiden Geschlechtern. „Warum gerät das Nervensystem unter solchen Umständen, bei psychischer Unzulänglichkeit zur Bewältigung der Sexualerregung, in den eigentümlichen Affektzustand der Angst?“ (Freud 1895: 338) fragt Freud und nimmt in der Folge eine Differenzierung vor, insofern er einerseits von einer Angst spricht, die durch eine von außen drohende Gefahr entstehe, weil sie den Organismus bedrohe und derselbe sich unfähig fühle, eine bestimmte Reaktion zu entwickeln (Flucht, Abwehr). Andererseits spricht er von einer Angst, die einsetze, wenn der Organismus sich unfähig fühle, eine „endogen entstandene (Sexual-)Erregung auszugleichen“ (Freud 1895: 338). Die letztere Angst sei dann die „neurotische“, mit einer Neigung zur Chronifizierung, während die erstere einen Affektzustand darstelle, der in der Regel rasch vorübergehe. In seiner „XV. Vorlesung zur Psychoanalyse“ über „Die Angst“ (Freud 1916-1917: 407 f.) nimmt er diese Unterscheidung einer Angst, die sich auf eine äußere Gefahr bezöge und einer solchen, die auf innere psychische „Störungen“ verweise, also eine „neurotische Angst“ sei, wieder auf. Freud benutzt in dieser Vorlesung bereits den Begriff „Realangst“ als „einer Angst vor einer äußeren Gefahr, die für das Subjekt eine reale Bedrohung darstellt und nicht adjektivisch die Angst selbst bezeichne“ (Laplanche/Pontalis 1977: 425). Dies steht im Gegensatz zum Eintrag der Verfasser des „Vokabulars der Psychoanalyse“, die die
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Position vertreten, Freud habe diesen Begriff erst in seiner späten Angsttheorie verwandt (vgl. ebd.). Drei weitere, in der aktuellen Debatte um „die Angst“ als „Störung“ noch immer häufig benutzte Begriffe finden sich in dieser Vorlesung bereits ebenfalls: „Erwartungsangst“, „frei flottierende Angst“ und „Phobie“. „Wir finden erstens eine allgemeine Ängstlichkeit, eine sozusagen frei flottierende Angst, die bereit ist, sich an jeden irgendwie passenden Vorstellungsinhalt anzuhängen, die das Urteil beeinflusst, die Erwartungen auswählt, auf jede Gelegenheit lauert, um sich rechtfertigen zu lassen. Wir heißen diesen Zustand ‚Erwartungsangst’ oder ‚ängstliche Erwartung’. Personen, die von dieser Art Angst geplagt werden, sehen von allen Möglichkeiten immer die schrecklichste voraus, deuten jeden Zufall als Anzeige eines Unheils, nützen jede Unsicherheit im schlimmen Sinne aus. Die Neigung zu solcher Unheilserwartung findet sich als Charakterzug bei vielen Menschen, die man sonst nicht als krank bezeichnen kann, man schilt sie überängstlich oder pessimistisch; ein auffälliges Maß von Erwartungsangst gehört aber regelmäßig einer nervösen Affektion an, die ich als ‚Angstneurose’ benannt habe und zu den Aktualneurosen rechne. [...] Eine zweite Form der Angst ist im Gegensatze zu der eben beschriebenen vielmehr psychisch gebunden und an gewisse Objekte oder Situationen geknüpft. Es ist die Angst der überaus mannigfaltigen und oft sehr sonderbaren ‚Phobien’. Stanley Hall, der angesehene amerikanische Psychiater hat sich erst kürzlich die Mühe genommen, uns die ganze Reihe der Phobien in prunkende griechischer Namengebung vorzuführen“ (Freud 1916-1917: 412 f.).
Freud führt nun eine ganze Bandbreite möglicher Phobien aus: von einer Angst vor Mäusen bis hin zu einer Angst vor Menschen und großen Plätzen. Und schließlich schließt er mit dem für die vorliegende Untersuchung interessanten Satz: „Was uns an diesen Phobien der Neurotiker befremdet, ist überhaupt nicht so sehr der Inhalt als die Intensität derselben“ (Freud 1916-1917: 414).
Die Einsicht darin nämlich, dass der Inhalt mancher Phobien einer sei, der nachvollziehbar ein Verhältnis zur Gefahr habe, zumindest haben könne, wird in späterer Literatur in dieser Deutlichkeit so nicht mehr geteilt. Grundlegend für die Anerkennung einer Angst als einer „Störung“ ist aktuell unter anderem, dass sie für den Patienten offensichtlich „grundlos“ ist. Eine angemessenere Formulierung im Sinne Freuds aber wäre, dass der Patient anerkennt, dass seine Angstintensität dem von ihm angestrebten Ziel: trotz dieser Situation angenehmer leben zu können, entgegenstehe. Neben einer „Erwartungsangst“ und einer „Phobie“ kennt Freud noch eine dritte Form einer „neurotischen Angst“: nämlich jene, die mit „Hysterie“ einhergehe und die, völlig losgelöst von allen Bedingungen, sowohl für den Kranken als auch für den Beobachtenden völlig unverständlich sei (vgl. Freud 1916-1917: 415). Und dennoch – und das ist wichtig für den weiteren Verlauf der Ausführungen – beharrt Freud zunächst darauf, dass auch eine „neurotische Angst“, gleich in welcher Form, immer auch einen Bezug zu einer Ge-
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fahr haben müsse. Denn: „wo Angst ist, muß auch etwas vorhanden sein, vor dem man sich ängstigt“ (Freud 1916-1917: 416). Freud differenziert also bis hierher „die Angst“ dahingehend aus, dass er einerseits eine „angemessene Angst“ annimmt, die er, zumindest in dieser frühen Angsttheorie, gleichermaßen als „Furcht“, „Realangst“ und „Signalangst“ bezeichnet. Andererseits kennt Freud eine Angst, die eine „Störung“ sei. Diese nennt er eine „neurotische Angst“. Ersteres sei also ein Affektzustand der durch eine „exogene Erregung wie ein einmaliger Stoß“ entstehen könne. Letzteres sei ein Zustand, der durch eine „endogene“ Erregung, die „wie eine konstante Kraft“ wirke, entstehe (vgl. Freud 1895). Festzuhalten ist, dass Freud sich an dieser Stelle auf eine Angstdichotomie festlegt, die auch in seiner späteren Angsttheorie nicht revidiert werden wird und die, logisch betrachtet, eine bestimmte Folge nach sich ziehen muss. Denn wenn eine Angst entweder verweist auf ein reales, den Sich-Ängstigenden äußeres Objekt, also dann als „angemessen“ beschrieben werden kann, oder aber wenn eine Angst nicht verweist auf ein äußeres Objekt und dann als „neurotisch“, weil von „inneren Triebkonflikten“ herrührend beschrieben werden kann, dann schließt ein solches Konzept die Möglichkeit einer andauernden äußeren, zunächst nicht bestimmten, realen Gefahr aus. Eine Gefahr also, auf die der Sich-Ängstigende dauerhaft mit einer angemessenen Angst reagieren könnte. Andererseits wirft eine solche Zweiteilung „der Angst“ ganz neu die Frage nach jenen den Sich-Ängstigenden bedrohenden inneren Gefahren auf. Was genau ist nun das Wovor „der Angst“, die eine „Störung“ ist, in Freuds früher Angsttheorie? Die Antwort fällt überraschend aus: denn das „Wovor“ der „neurotischen Angst“ soll das sein, was verdrängt, also bloß noch „unbewusst“ vorhanden sei. Denn: „Erwartungsangst“ oder „allgemeine Ängstlichkeit“ stehe in enger Abhängigkeit von bestimmten Vorgängen im Sexualleben (Freud 1916-1917: 416). Wenn heftige sexuelle Erregungen nicht zum Abschluss kämen, also bspw. bei Männern während des Brautstandes oder bei Frauen ohne potente Männer, dann komme es zu frustranen Erregungen. Unter diesen Umständen schwinde die „libidinöse Erregung“ und an ihrer Stelle trete Angst auf, sowohl in der besprochenen Form der „Erwartungsangst“ als auch in Anfällen. Die vorsichtige Unterbrechung des Geschlechtsaktes (Coitus interruptus) würde, wenn sie als ein „sexuelles Regime“ geübt werde, so regelmäßig Ursache der „Angstneurose“ bei Männern. Besonders sei dies aber bei Frauen der Fall, so dass es sich in der ärztlichen Praxis empfehle, bei derartigen Fällen in erster Linie nach dieser Ätiologie zu forschen. Nicht zulassen will Freud die Möglichkeit, dass die Personen mit solchen Problemen schon zuvor ängstlich gewesen seien, und dass sie deshalb Schwierigkeiten bei der Ausübung ihrer Sexualität hätten. Dagegen spräche
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das Verhalten der Frauen, deren Sexualbetätigung ja wesentlich passiver Natur sei, d.h., durch die Behandlung von Seiten des Mannes bestimmt werde. „Je temperamentvoller, also je geneigter zum Sexualverkehr und befähigter zur Befriedigung eine Frau ist, desto sicherer wird sie auf die Impotenz des Mannes oder auf den Coitus interruptus mit Angsterscheinungen reagieren, während solche Mißhandlungen bei anästhetischen oder wenig libidinösen Frauen eine weit geringere Rolle spielt“ (Freud 1916-1917: 417).
Die Kranken, so Freud, wüssten nicht zu sagen, wovor sie sich ängstigen, und verknüpften so ihre Angst durch eine unverkennbare sekundäre Bearbeitung mit den nächstliegenden Phobien, wie Sterben, Verrücktwerden, Schlaganfall. Diese Argumentationslogik, die hier in Bezug auf „die Angst“, die eine „Störung“ sei, zum ersten Mal auftaucht, ist bedeutsam und wird im Folgenden noch öfters thematisiert werden. Ist nämlich erst einmal die Diagnose „krank“ erfolgreich zugeschrieben, dann kann der so Etikettierte seine Angst begründen wie er will: alles was er sagt, kann von nun an gegen ihn verwendet werden. Denn schließlich soll als Erklärung für „die Angst“, die eine „Neurotische Störung“ sei, gelten, dass sie die „allgemein gangbare Münze“ sei, gegen welche alle Affektregungen eingetauscht werden oder werden können, wenn der dazugehörige Vorstellungsinhalt der Verdrängung unterlegen ist (vgl. Freud 1916-1917: 419). „Neurotische Angst“ sei dennoch zunächst einmal immer das Ergebnis einer abnorm verwendeten und verdrängten Libido. Angst, die eine „Störung“ sei, ersetze die verdrängte Libido, daher gibt es auch weniger ein „Wovor“ als vielmehr ein „Darum“ „der Angst“. Dass das verwirrend ist, das sieht auch Freud ein: „Die Angst, welche eine Flucht des Ichs vor seiner Libido bedeutet, soll doch aus dieser Libido selbst hervorgegangen sein. Das ist undurchsichtig und enthält die Mahnung, nicht zu vergessen, daß die Libido einer Person doch im Grunde zu ihr gehört und sich ihr nie wie etwas Äußerliches entgegenstellen kann. Es ist die topische Dynamik der Angstentwicklung, die uns noch dunkel ist, was für seelische Energien dabei ausgegeben werden und von welchen psychischen Systemen her“ (Freud 1916-1917: 420).
Zurück zum „kleinen Hans“: 1909 veröffentlicht Freud unter dem Titel „Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben“ die Beschreibung des Falls eines Jungen mit einer „Angstsymptomatik“, die entsprechend der soeben dargestellten frühen analytischen Auffassung als „typisch“ für die Entstehung einer „Angstneurose“ galt. Die Eltern des Kindes, mit denen Freud befreundet waren, erstatteten dem Arzt regelmäßig Bericht über ihren Sohn. Dieser, so wird berichtet, habe nach der Geburt eines Schwesterchens vermehrt Interesse – bis hin zur kindlichen Masturbation – an seinem Geschlechtsteil gezeigt. Darauf wurde ihm deutlich gemacht, dass, wenn dies weiter geschehe, der Doktor kommen würde, um ihm seinen „Wiwimacher“ abzuschneiden (Freud 1909: 245). Und obwohl diese
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Drohung überliefert ist, und von Freud selbst beschrieben wird, verfiel dieser nicht darauf, anzunehmen, dass ein fünfjähriges Kind in der Folge einer solchen Drohung vielleicht eine Real-Angst vor den Folgen einer solchen angedrohten Handlung ausbilden könnte. Stattdessen weiß Freud, dass „die Angst“, die Hans daraufhin zeigte, und zwar bezogen auf Pferde, vor denen er fürchtete, in den Finger gebissen zu bekommen, tatsächlich „die Angst“ vor dem Verlassenwerden durch die Mutter sei, gepaart mit dem Wunsch nach dem Fortsein des Vaters. Gleichgeschlechtliche Elternteile würden, so Freud, in der ödipalen Phase als störend empfunden. Es sei demnach nicht die Kastrationsdrohung der Eltern, die ihn fürchten ließ, sondern als Grund seiner Angst gelten Freud dessen übermäßig stark ausgebildeten ödipalen Verstrickungen. Der Hass auf den Vater sei auf ein anderes Objekt – auf Pferde – verschoben worden. Diesen habe Hans ausweichen können, indem er sich weigerte auf die Straße zu gehen. Die Angst davor, vom Vater – und das ist das Entscheidende – wegen seiner Todeswünsche kastriert zu werden, habe sich in eine neurotische Symptombildung umgewandelt: in eine Angst, vom Pferd gebissen zu werden. „Die Angst“ des kleinen Hans sei demnach also keine Realangst gewesen – etwa auch davor, tatsächlich vom Vater Leid zugefügt zu bekommen –, sondern dem Kind wird hier unterstellt, es habe bloß deshalb eine Angst, weil er fürchtete, der Vater wüsste um seinen Todeswunsch. Die Totalität Freuds, mit der er eine neurotische „Innenangst“ von einer äußeren Realangst schied, als auch die Folgen dessen, werden an diesem Beispiel deutlich. Dass Hans sich nämlich vielleicht tatsächlich vor den konkreten angedrohten Konsequenzen fürchtete, dass er vielleicht tatsächlich nicht einschätzen konnte, wie ernst es seinem Vater mit seiner Drohung ist, das kann nicht angenommen werden, wenn als Grund „der Angst“ bereits vor der Befassung mit dem Sich-Ängstigenden ein allgemeiner innerer Konflikt behauptet wird, der am beschriebenen Fall bloß noch in seiner konkreten Ausgestaltung interessiert. 5.1.2 „Die Angst“, die eine „Neurose“ sei, in Freuds später Angsttheorie 31 Jahre nach seinem Aufsatz „Über die Berechtigung, von der Neurasthenie einen bestimmten Symptomkomplex als ‚Angstneurose’ abzutrennen“ veröffentlicht Freud die Arbeit „Hemmung, Symptom und Angst“ (Freud 1926) und revidiert hierin grundlegend seine frühe Angsttheorie. Diese Neufassung seines Verständnisses geschieht auf der Grundlage seiner zwei Jahre zuvor begründeten Strukturtheorie in „Das Ich und das Es“ (Freud 1923). Diese soll, da sie zumeist in ihren wesentlichen Eigenschaften bekannt ist und soweit für die weiteren
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Ausführungen über „die Angst“ vonnöten, hier nur entsprechend kurz ausgeführt werden. Er nimmt hierin also an, metapsychologisch, einen „psychischen Apparat“, der sich in drei hypothetische „Instanzen“ unterteile: in ein „Es“, ein „Ich“ und ein „Über-Ich“. Ein „Es“ sei die ursprünglichste Instanz, es stelle einen Kern eines „Unbewussten“ in jedem Menschen dar. Dieses „Es“ bestehe aus „Trieben“, die ausschließlich nach dem „Lustprinzip“ gesteuert seien, also stets auf „Unlustvermeidung“ abzielten und denen Moral und die Unterscheidung von „Gut“ und „Böse“ fremd seien. Freud benutzt zur Beschreibung dieser Instanz Bilder wie „Chaos“ oder auch „Kessel voll brodelnder Energien“ (Freud 1933: 80). Ein „Ich“ sei eine zweite Instanz des „psychischen Apparates“, dieses entwickle sich mit der fortdauernden Entwicklung aus dem „Es“ heraus, von dem es Zeit eines Menschenlebens auch nicht scharf getrennt werden könne. Ein solches „Ich“ repräsentiere statt der Leidenschaften des „Es“ die Vernunft und die Besonnenheit. Ein „Über-Ich“, als eine dritte Instanz, entwickle sich als letztes. Diese werde im Laufe der Zeit mehr und mehr erworben über die Identifikation mit den für das Kind wichtigen Personen. Ein Kind löse sich irgendwann ab von jenen Bezugspersonen, habe dann aber im „Über-Ich“ deren Werte, Normen und Gebote internalisiert. Ein solches „Über-Ich“ sei also die „Gewissensinstanz“ der Person und als solche zum überwiegenden Teil der Person selbst gar nicht bewusst. Diese Eigenschaft gilt ihm denn auch im Weiteren als eine quasi „natürliche“ Interventionslegitimation für psychoanalytische Praxen der Aufklärung psychischer, weil gegebenenfalls „unbewusster Störungen“ von Patienten- wie zum Beispiel der Aufklärung von „Angststörungen“. Doch vor einer Aufklärung von Ängsten, die „neurotisch“ seien, galt es zunächst einige Probleme, die sich in Bezug auf seine alte Auffassung über „die Angst“ aufgetan hatten, vor dem Hintergrund dieser neuen Strukturtheorie neu zu formulieren (vgl. Geyer 1998, Meyer 2005). Das erste Problem, das sich ihm hierin stellte und das zugleich den Ausgangspunkt für seine neue Theorie darstellte, war, wie es möglich sei, dass sich verdrängte libidinöse Triebregungen in den Affektzustand der Angst verwandeln können. In seiner Vorlesung hält er dazu lediglich die vage Aussage bereit: „Wie aus der Libido die Angst entsteht, ist zunächst nicht ersichtlich; man stellt nur fest, daß Libido vermißt und an ihrer Statt Angst beobachtet wird“ (Freud 1916-1917: 418). Das Problem war für ihn also zunächst die Frage nach dem genauen Vorgang der Transformation der verdrängten Libido in Angst. Das zweite Problem war die Frage nach der Ursache „der Angst“. Wenn der Angstentstehung, gemäß der bisher erörterten frühen Auffassung, regelmäßig die Verdrängung vorausgehe, dann stellt sich die Frage nach der Verursachung der Verdrängung. Ein drittes Problem ergab sich für Freud im Zusammenhang mit der Annahme einer „unbewußten Angst“ (vgl. Freud 1915: 276). Dass zahlreiche seiner Patienten und
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Patientinnen unter einer ihnen „nicht bewußten Angst litten“, die aber zum Teil schon seit deren Kindheit bestand, das meinte er feststellen zu können. Wenn aber eine Angst auch eine „unbewusste“ sein kann, weil sie der Verdrängung unterzogen werde, wie kann sie dann erst die Folge einer Verdrängung der Libido sein? Sein Schüler Otto Rank verschaffte ihm noch ein viertes Problem (vgl. Rank 1924). Dieser schrieb eine umfassende Theorie über „Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die Psychoanalyse“, in der er versuchte, jeden Angstaffekt letztlich auf das traumatische Ereignis der Geburt zurückzuführen. Angst, so Rank, sei ausschließlich die Reproduktion der Unlustqualitäten, die der Mensch zum ersten Mal durch die Geburt erlebte, und diene dazu, dieses Urtrauma schrittweise „abzureagieren“. Alle Angst, so Rank, sei demnach Geburtsangst. Diese vier Problemstellungen veranlassten Freud, seine früheren Auffassungen zur Angst zu überdenken und diese schließlich grundlegend neu zu formulieren. So widerruft er denn auch in seiner Arbeit „Hemmung, Symptom und Angst“ (Freud 1926) seine erste Angsttheorie und ersetzt sie durch eine neue, eine anspruchsvollere Theorie, die er dann bis zu seinem Lebensende vertrat. Seine eigenen Arbeiten, unter anderem zum „kleinen Hans“, macht er zur Grundlage einer kritischen Rückbetrachtung, um schließlich zu dem Ergebnis zu gelangen: „Es ist nicht angenehm, daran zu denken, aber es hilft nichts, es zu verleugnen, ich habe oftmals den Satz vertreten, durch die Verdrängung werde die Triebrepräsentanz entstellt, verschoben u. dgl., die Libido der Triebregung aber in Angst verwandelt. Die Untersuchung der Phobien, die vor allem berufen sein sollte, diesen Satz zu erweisen, bestätigt ihn also nicht, sie scheint ihm vielmehr direkt zu widersprechen. [...] Die meisten Phobien gehen, so weit wir es heute übersehen, auf eine solche Angst des Ichs vor den Ansprüchen der Libido zurück. Immer ist dabei die Angsteinstellung des Ichs das Primäre und der Antrieb zur Verdrängung. Niemals geht die Angst aus der verdrängten Libido hervor. [...] Ich konnte auch früher nicht angeben, wie sich eine solche Umwandlung vollzieht“ (Freud 1926: 137 f.).
Im Gegensatz zu seiner ersten Annahme stellt Freud also nunmehr fest, dass die Einstellung der betroffenen Person zur Angst als das Primäre bezeichnet werden müsse, diese erst erzeuge sodann eine „Verdrängung“. Das eben erwähnte „Ich“ gilt ihm von nun an als „die eigentliche Angststätte“ (Freud 1926: 171). Denn dieses sei nun die einzige Instanz des psychischen Apparates, die Angst entwickeln und empfinden könne. Nachdem dieses „Ich“ Affekte „der Angst“ ausgebildet habe, könne dieses nun mittels des Vorgangs der Verdrängung versuchen, die Angstentbindung unter Kontrolle zu halten und sie dem Bewusstsein gegebenenfalls zu entziehen. Was aber ist nun, nach Freud, „die Angst“? „Die Angst ist die Reaktion auf die Gefahr“ (Freud 1926, 181). Sie sei ein Affektzustand, welcher genau dann produziert würde, wenn ein „Ich“ eine Gefahr verspüre, die es als bedrohlich erlebe. Dieser Affektzustand werde „nach einem vorhandenen
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Erinnerungsbild reproduziert“ (Freud 1926: 120). Die auch in aktueller Literatur häufig zu findende Annahme, es gebe so etwas wie eine phylogenetische Programmierung von Menschen nimmt an dieser Stelle einen Ausgang. Denn Freud schließt seinerseits nicht aus, dass ein Zweck weit verbreiteter Ängste, wie Angst vor Schlangen, Höhen, Unwettern, einst bei den Vorfahren des modernen Menschen vorhanden gewesen seien (vgl. Freud 1926: 187). In der Annahme solcher Ursachen „der Angst“ aber liegt auch die Möglichkeit einer völligen Enteignung und Verdinglichung des sich selbst und seine soziale Situation zu verstehen suchenden Sich-Ängstigenden. Mit dem Verweis darauf, dass seine Angst nämlich bloß oder zumindest maßgeblich eine „stammesgeschichtlich“ erklärbare sei, muss in der Folge ein Verstehen einer konkreten Situation, eines konkreten singulären Menschen und seiner konkreten Ziele, Interessen, Wünsche und Bedürfnisse nicht mehr geleistet werden. Welches sind nun weitere Ängste, die Freud vor dem Hintergrund seiner Strukturtheorie ausdifferenziert? Da ein „Ich“ nun die einzige Instanz sei, die Angst entwickeln und wahrnehmen könne, ergeben sich für Freud drei verschiedene Arten von Gefahrenquellen, auf die das „Ich“ mit Angstbildung reagieren könne. Die erste Gefahrenart und die darauf folgende Angst ist bereits behandelt worden. Und Freud verändert diesbezüglich auch nichts. Es ist eben die „Realangst“ als einer Angst vor als real einzuschätzenden möglichen äußeren Gefahren. Des Weiteren soll dieses „Ich“ Angst entwickeln können vor dem „Es“. Freud spricht in der Folge von einer „Es-Trieb-Angst“. Und es soll Angst entwickeln können vor dem „Über-Ich“, also eine „Über-Ich-Angst“ ausbilden können. Die eigentliche Revidierung seines frühen Angstkonzeptes besteht somit wesentlich in zwei Punkten. Erstens dreht Freud die Ursache und die Wirkung, bezogen auf die Ausbildung von Angst und die „Verdrängung“ von „Triebregungen“ um. Und zweitens macht es ihm seine Strukturtheorie nun möglich, eine „Es-Trieb“- und eine „Über-Ich-Angst“ zu unterscheiden. Allein was dieses „Ich“ denn nun tatsächlich fürchtet im „Es“, blieb noch immer unbestimmt: „Was das Ich [...] von der Libidogefahr im Es befürchtet, läßt sich nicht angeben; wir wissen, es ist Überwältigung oder Vernichtung, aber es ist analytisch nicht zu fassen“ (Freud 1923: 287). Ungeachtet der Schwierigkeit, diese Gefahr näher zu bestimmen, bleibt festzuhalten, dass Freud dieses „Es“ als rücksichtslos, egoistisch und auf Lustbefriedigung abzielend charakterisiert. Gleichzeitig aber wacht ein „Über-Ich“ darüber, ob die internalisierten Normen und Gebote von Seiten eines „Ichs“ auch eingehalten werden. Kurz: Freud beschreibt hier einen annähernd undurchschaubaren, immerwährenden „mehrfronten Kampf“ innerhalb eines „psychischen Apparates“, bei dessen Gewahrwerdung – dieses Sprachspiel sei erlaubt – einem Angst und Bange werden kann. Denn ständig ist ein „Ich“ damit beschäftigt zu vermitteln, und seine Angst vor dem, was die
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beiden anderen Instanzen mit ihm und mit sich gegenseitig anstellen, in sich selbst zu bearbeiten, ohne dabei aber genau zu wissen, was eigentlich mit ihm geschieht. Eine solche undurchschaubare „Schlacht“ mehrerer Seiten verlangt nach Moderation und Vermittlung. Hierfür bedarf es des Psychoanalytikers, der die Beschreibung dessen in die Welt gesetzt hat. Die Aufgabe eines solchen Experten muss es sein, dem Sich-Ängstigenden ein Interpretationsangebot zu unterbreiten, unter welcher Angstform genau er leidet. „Realangst“ kann, wie bereits ausgeführt, schnell ausgeschlossen werden, wenn der Zustand über einen längeren Zeitraum anhält und wenn der sich so dauerhaft Ängstigende kein Objekt seiner Angst kennt. Dann aber muss – das liegt in der Logik dieses Konzepts – die Antwort auf die Frage nach der Ursache dieser dauerhaften, objektlosen Angst zuallererst im Sich-Ängstigenden selbst liegen. Vor allem ihn und seine Psyche gilt es daher zu analysieren. Festzuhalten bleibt an dieser Stelle allerdings, dass sich Freud mit der Annahme, dass „die Angst“ immer auch auf eine Gefahr verweise, dass es also immer ein Verhältnis sei, das zu analysieren möglich ist, in der Folge ein relationales Verständnis von Angst vs. Gefahr erhalten hat. Dieses bewahrte ihn davor, „blind“ zu werden für die Bedeutung auch gesellschaftlicher Verhältnisse in Hinblick auf die Ausbildung „psychischer Störungen“. Hätte Freud sein Nachdenken über eine „menschliche Psyche“ an einem solchen Punkt beendet, an dem deutlich gemacht geworden wäre, wie absolut „die Angst“, die eine „Störung“ sei, nicht als eine „Realangst“ beschrieben werden könne, ein ausschließliches Problem der inneren Kämpfe des Sich-Ängstigenden sei, dann wäre es angemessen, von diesem Wissen als einem ausschließlich personen- und defizitorientierten und von einem in der Folge den gesellschaftlichen Verhältnissen gegenüber „blindem“, unkritischem Wissen zu sprechen. Doch sein Nachdenken über Formen der „Über-Ich-Angst“ und vor allem auch sein Nachdenken über die jeweils konkreten im „Über-Ich“ internalisierten Normen und Regeln führte letztlich auch dazu, dass Freud annehmen konnte, dass eine „menschliche Psyche“ immer auch eine gesellschaftliche sei und von ihr getrennt nicht gedacht werden könne. Diesem Nachdenken über ein Verhältnis von Individuum und einer ihn umgebenden Kultur, das auch ein Nachdenken über herrschende gesellschaftliche Normen beinhalten kann und das Freud schließlich auch noch zu einer Andeutung eines Begriff einer „sozialen Angst“ führte, ist Gegenstand des Kapitels 5.1.5.
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5.1.3 Zur Bestimmung des Unbestimmten „der Angst“ bei Freud Die Totalität, mit der der Psychoanalytiker Freud die Leerstelle der auch von ihm behaupteten Unbestimmtheit „der Angst“ zunächst ausschließlich mit den von ihm maßgeblich eingeführten Begriffen „Verdrängung“, „Libido“ und „Unbewusstes“ zu füllen versuchte, ist beachtlich. Einen anderen Grund als „verdrängte Libido“ für eine Angst, die eine „Störung“ sei, kannte er in seiner frühen Angsttheorie zunächst nicht. Dass diese Verdrängung immer eine ist, die nur im Einzelnen (sei es „bewusst“ oder „unbewusst“) stattfindet oder vermieden werden kann, verweist hierbei auf die Radikalität des Aspekts des „Selbstischen“. Auch in seiner späten Angsttheorie bleibt „die Angst“, so sie keine nur kurz andauernde Realangst ist, vor allem „die Angst“ bloß des Sich-Ängstigenden und ein Produkt des Verhältnisses seiner inneren psychischen „Instanzen“ zueinander. Allgemein ist „die Angst“ bei Freud nicht in einem ontologischen Sinne. Angst ist bei ihm keine „Grundbefindlichkeit“ „des Menschen“. Im Gegensatz zu „Libido“ und „Aggressionstrieb“, die er unabhängig von jeweils konkreten Situationen und Personen konzipiert, ist „die Angst“ bei ihm immer ein Produkt einer konkreten und zu benennend möglichen Gefahr im oder am Sich-Ängstigenden. Sie ist also immer nur zu verstehen in Relation zu einer konkreten Gefahr. Sein Interesse galt den jeweiligen konkreten Bedingungen einer Angst eines SichÄngstigenden. Allgemein ist sie aber insofern, indem sowohl sein erstes wie auch sein zweites theoretisches Modell zur Erklärung von Ängsten, die eine „Störung“ seien, allgemeine Geltung beanspruchten. Worauf aber verweist nun „die Angst“, die „neurotisch“ sei, soweit bei Freud? Zunächst einmal – und das unterstreicht den Aspekt des „Selbstischen“ noch einmal, denn es fällt mit ihm zusammen – verweist sie auf den Sich-Ängstigenden selbst und auf dessen innere psychische Konflikte. Dies geschieht sowohl in der ersten als auch in der zweiten Theorie zur Angst. Und sie verweist zweitens zunächst dadurch, dass ihr, ihrer eigenen Logik nach, keine Möglichkeit zu entnehmen ist, als eine dauerhafte „Realangst“ auch auf eine dauerhafte reale Gefahr zu verweisen, implizit und affirmativ auf die herrschenden Verhältnisse. Und drittens ist es aber ebenso möglich, mittels seines Begriffs der „Gewissensangst“ durchaus auch einen Verweis dieser Angst auf herrschende Normen, Gebote und Verbote zu diskutieren. Dadurch wird es in der Folge möglich, diese selbst zum Gegenstand einer Auseinandersetzung zu machen. Dies ist das Thema des Kapitels 5.1.5.
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5.1.4 Zur Unterscheidung von Angst und Furcht bei Freud im Vergleich zu Kierkegaard, Heidegger und Bloch Es kann zunächst den Anschein haben, als ob Freud die Unterscheidung von Angst und Furcht, wie sie Kierkegaard vorgenommen hatte, teilte, indem er „die Angst“ als ebenso unbestimmt bzw. objektlos bestimmte, während Furcht ihr Objekt gefunden habe. „Die Angst“, so Freud noch einmal, bezöge sich ja auf den Zustand, während „Furcht die Aufmerksamkeit gerade auf das Objekt richtet“ (Freud 1916-1917: 410). Erst wenn eine konkrete Angst vor einem äußeren Objekt bestehe und ausschließlich vom Vorhandensein des gefürchteten Objekts „die Angst“ abhänge, dann sprach Freud von Furcht bzw. von „Realangst“. Unterschiede zu den bisherigen Autoren werden demnach deutlich: Statt des kategorialen Unterschieds dieser beiden Phänomene, wie Kierkegaard und Heidegger ihn jeweils behaupteten, kannte Freud die Möglichkeit einer auf das Außen des Sich-Ängstigenden gerichteten Realangst, ähnlich „der Furcht“, und einer aus seinem inneren stammenden „neurotischen Angst“. Er übernahm zwar hierfür das Definitionsmerkmal „unbestimmt“, die Wieder-Bestimmung dieser Unbestimmtheit allerdings erfolgt bei ihm dann nicht über eine nähere Erörterung des Verhältnisses des Sich-Ängstigenden zu der ihn umgebenden Welt, sondern, im Gegenteil, über eine Erörterung eines jeweils bestimmten und zu bestimmend möglichen Verhältnisses psychischer Instanzen im jeweiligen Sich-Ängstigenden selbst. Von Bloch unterscheidet sich seine Theorie über „die Angst“ vor allem dadurch, dass er ein Kontinuum von einer (noch) „unbestimmten“ Angst hin zu einer „bestimmten“ Furcht nicht kennt. Das, was Freud das Unbestimmte der „neurotischen Angst“ nannte, wurde zuallererst zum Dreh- und Angelpunkt seiner Theoriebildung einer tiefenpsychologischen Auseinandersetzung mit ihr. „Die Angst“, die keine Realangst ist, verweist bei ihm also weder auf ein Nichts noch auf ein letztes Sein, auch nicht auf die herrschenden Verhältnisse, sondern zuallererst auf, durch den Psychoanalytiker aufzuklärende, Vorgänge im SichÄngstigenden selbst, und, und auch das ist neu, auf einen „neurotischen Charakter“ des Sich-Ängstigenden. Die Scheidelinie zwischen „angemessener Furcht“ und „neurotischer Angst“ ist, an dieser Stelle, eine zwischen Außen und Innen. Der SichÄngstigende, der ein Objekt, auf das sich seine Angst bezieht, nicht zu bestimmen weiß, verrät dadurch seinen neurotischen Charakter. Ob der SichÄngstigende vielleicht das Objekt seiner Angst bloß noch nicht zu bestimmen weiß, oder ob er es vielleicht falsch bestimmt als unbestimmt – sind keine Fragen Freudscher Theoriebildung. Eine Gelegenheit für einen Prozess der Erkenntnis, wie ihn bspw. Bloch forderte – von einer noch nicht bestimmten Angst hin
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zu einer bestimmten Furcht –, wird dergestalt systematisch ausgeschlossen. Denn entweder ist es eben eine neurotische, nicht bestimmte Angst, oder aber eine sich auf ein konkretes Objekt beziehende, „gesunde“ Furcht. Die Annahme, dass diesem Zustand namens „die Angst“ etwas Pathologisches oder zumindest „Abweichendes“ beiwohne, ist eine, die sich in der Folge vor allem auch der erörterten Theoriebildung des Mediziners und Psychologen Freuds hierzu eröffnete. Denn seine Charakterisierung „der Angst“ als unbestimmt, als objektlos, ist von nun an geeignet, von psychologischer Seite aus, eine entsprechende „psychische Störung“ im Sich-Ängstigenden zu diagnostizieren. Das Unbestimmte an „der Angst“ bei Kierkegaard, Heidegger und Bloch war kein Merkmal einer „Störung“ des Sich-Ängstigenden. Diese Unbestimmtheit galt stattdessen als eine Eigenschaft „der Angst“, der sich der Sich-Ängstigende immer wieder neu zu stellen hatte. Diese Unbestimmtheit galt es zwar auch bei ihnen zum Gegenstand einer je eigenen reflexiven Bearbeitung zu machen, aber dies nicht zwecks Aufklärung einer innen liegenden neurotischen „Störung“. Diese sollte stattdessen geschehen zum Zwecke der Einsicht in die eigene Bestimmung „als Mensch“ bzw., bei Bloch, zum Zwecke der Einsicht in die herrschenden Verhältnisse. „Die Angst“ bei Kierkegaard, Heidegger und Bloch verweist auf das Wesentliche ihrer jeweiligen Philosophien. Dass der SichÄngstigende „der Angst“ wegen zu leiden habe, vielleicht auch dass diese ihm Krankheiten verursachen könne, dass „die Angst“ in jedem Fall keinen angenehmen Zustand für den Betroffenen darstellt, das wussten auch sie. Dass aber der Sich-Ängstigende „bloß“ seiner Angst wegen bereits „krank“ sein könne, dass „die Angst“ auch nur von innen kommen könne, das wussten sie nicht. 5.1.5 Zur Bestimmung „der Angst“ in „Das Unbehagen in der Kultur“ Freud unternimmt in „Das Unbehagen in der Kultur“ (Freud 1930: 421 ff.) den Versuch, das Verhältnis von individueller Lustbefriedigung und kultureller Entwicklung näher zu bestimmen. Er nennt seinen Aufsatz auch eine „Untersuchung über das Glück“ (Freud 1930: 445). Nach einer erneuten Absage an die Religionen, von denen Freud eine hilfreiche Antwort auf diese Frage nicht erwartet, kommt er im dritten Teil zusammenfassend noch einmal auf die drei Quellen von Leid zu sprechen, die er bis hierher behandelt. Er führt diesbezüglich an: eine Übermacht der Natur, eine Hinfälligkeit des eigenen Körpers und eine Unzulänglichkeit der Einrichtungen, welche die Beziehungen der Menschen zueinander in Familie, Staat und Gesellschaft regeln. Da, nach Ansicht des Verfassers, über die erste und die zweite Unglücksquelle nicht zu verhandeln sei, müsse man sich der dritten Quelle zuwenden und die Frage stellen, warum die von Menschen selbst
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geschaffenen Einrichtungen nicht vielmehr Schutz und Wohltat für alle sein können. An dieser Stelle äußert er die Annahme, dass ein „Stück der unbesiegbaren Natur dahinterstecke“, ein Stück „unserer eigenen psychischen Beschaffenheit“ (vgl. Freud 1930: 445). Das ist interessant und verweist auf die eigentümliche „doppelte“ Argumentation Freuds: denn die Unzulänglichkeit der sozialen Verhältnisse in Bezug auf die in ihnen gegebenen (Un)Möglichkeiten der Befriedigung der Bedürfnisse der in ihnen lebenden Menschen erkennt Freud einerseits an. Jedoch sei diese, den gesellschaftlichen Verhältnissen zu entnehmende, Unzulänglichkeit nicht bestimmten, interessiert durchgesetzten Zielen bestimmter gesellschaftlicher Fraktionen geschuldet; vielmehr seien diese gesellschaftlichen Verhältnisse selbst wiederum ein Ergebnis zum einen der psychischen Beschaffenheit „des Menschen“. Zum anderen trage eben die so genannte „Kultur“ eine Schuld daran. Und Freud gelangt zu einer von ihm als erstaunlich charakterisierten Einsicht: „Wir wären viel glücklicher, wenn wir sie aufgeben und in primitive Verhältnisse zurückfinden würden. Ich heiße sie erstaunlich, weil wie immer man den Begriff Kultur zu bestimmen mag – es doch feststeht, daß alles, womit wir uns gegen die Bedrohung aus den Quellen des Leidens zu schützen versuchen, eben der nämlichen Kultur zugehört“ (Freud 1930: 445).
Unter Kultur versteht Freud die Bezeichnung der ganzen Summe der Leistungen und Einrichtungen, in denen sich das menschliche Leben von dem der tierischen Ahnen entferne und die zwei Zwecken diene: dem Schutz des Menschen gegen die Natur und der Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander (vgl. Freud 1930: 448 f.). Und, so Freud: „Das menschliche Zusammenleben wird erst ermöglicht, wenn sich eine Mehrheit zusammenfindet, die stärker ist als jeder Einzelne und gegen jeden Einzelnen zusammenhält. Die Macht dieser Gemeinschaft stellt nun das ‚Recht’ der Macht des Einzelnen, die als ‚rohe Gewalt’ verurteilt wird, entgegen. Diese Ersetzung der Macht des Einzelnen durch die der Gemeinschaft, ist der entscheidende kulturelle Schritt. Ihr Wesen besteht darin, daß sich die Mitglieder der Gemeinschaft in ihren Befriedigungsmöglichkeiten beschränken, während der Einzelne keine solche Schranke kannte“ (Freud 1930, 455).
Während also Kierkegaard – der folgende Vergleich sei an dieser Stelle des ähnlichen Insistierens Freuds auf „den Einzelnen“ wegen einmal vorgenommen – eine Wahrheit eines „Einzelnen“, weil ihm von einem Gott gegeben, über die „der Menge“ stellt, so ist es bei Freud gerade umgekehrt. Er stellt eine Wahrheit der Menge, genannt „Recht“, über die Triebwünsche „des Einzelnen“, und diese wird ihnen von einer Art Macht, Freud nennt diese „Kultur“, gegeben. Zum Verständnis gesellschaftlicher Entwicklung, Verhältnisse und Konflikte reicht es also beiden nicht aus, auf die jeweiligen Ziele und Interessen bestimmter gesell-
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schaftlicher Fraktionen zu rekurrieren, und die daraus entstehenden Widersprüche zu analysieren; beide benötigten vielmehr eine dritte Instanz, von der aus das Handeln und das Wollen der Personen reflektiert werden kann und auch soll. Kierkegaard fordert „den Einzelnen“ auf, sich in seiner Angst von einem Gott leiten zu lassen, und bestimmt diese Angst als Folge dessen, dass dieser um das „Nichts“ wisse, hinsichtlich dessen, was zu tun möglich sei. Freud dagegen fordert, zumindest implizit, „den Einzelnen“ auf, sich unter ein Recht „der Kultur“ zu stellen. Anders aber als Kierkegaard weiß Freud, dass diese Anpassungsleistung „des Einzelnen“ selbst, an „die Kultur“, nicht ohne bedeutsame Verluste und Probleme in der Psyche „der Einzelnen“ einhergehe und in der Folge selbst eine Ursache „sozialer Angst“ sei. Denn die Kultur, so Freud, verlange zum Zweck ihres Erhalts und Ausbaus bestimmte „Triebopfer“ von ihren Angehörigen, damit keiner zum Opfer roher Gewalt und sexueller Triebe werde. Durch diese Kulturentwicklung erfahren die „Libido“ und auch ein „Aggressionstrieb“ Einschränkungen. Und die Gerechtigkeit fordere, dass keinem diese Einschränkungen erspart blieben. Freud kennt zwar auch die Möglichkeit einer aggressiven Betätigung zugunsten von „Freiheit“ und „Gerechtigkeit“ mit dem Ziel einer weiteren Entwicklung von Kultur. Doch woran genau sich diese „richtige“ Entwicklung hin zu mehr „Kultur“ und woran sich eine „falsche“ Entwicklung hin zu „Kulturfeindlichkeit“ bemessen lässt, lässt sich diesem Text nicht entnehmen (vgl. Freud 1930: 455). In der Folge muss es dem Leser überlassen bleiben, der bloßen Bezugnahme auf allgemein geltende Werte wie eben „Freiheit“ und „Kultur“ wegen, sich die konkreten Inhalte einer solchen geforderten „richtigen“ Entwicklung selbst vorzustellen. Als Ursache gesellschaftlicher Konflikte jedenfalls kennt Freud andersherum eine ungenügende Nichtbeherrschung „mächtiger Triebe“. Denn: „Diese ‚Kulturversagung’ beherrscht das große Gebiet der sozialen Beziehungen der Menschen; wir wissen bereits, sie ist die Ursache der Feindseligkeit, gegen die alle Kulturen zu kämpfen haben“ (Freud 1930: 457).
„Kultur“, „Aggressionstrieb“ und „Sexualität“ werden zu von konkreten menschlichen Interessen unabhängigen Mächten, die für gesellschaftliche Brüche verantwortlich seien. Die Eigenmächtigkeit dieser drei Instanzen wird noch einmal besonders gut in folgendem Zitat deutlich: „Wir wissen schon, daß die Kultur dabei dem Zwang der ökonomischen Notwendigkeit folgt, da sie der Sexualität einen großen Betrag der psychischen Energie entziehen muß, die sie selbst verbraucht. Dabei benimmt sich die Kultur gegen die Sexualität wie ein Volksstamm der eine Schicht der Bevölkerung, die eine andere psychologischer Theoriebildung ihrer Ausbeutung unterworfen haben. Die Angst vor dem Aufstand der Unterdrückten treibt zu strengen Vorsichtsmaßregeln“ (Freud 1930: 467).
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Und bezogen auf die dritte „Macht“, den von Freud so genannten „Aggressionstrieb“, ist zu lesen: „Das gerne verleugnete Stück Wirklichkeit hinter alledem ist, daß der Mensch nicht ein sanftes, liebesbedürftige Wesen ist, das sich höchstens, wenn angegriffen, auch zu verteidigen vermag, sondern daß er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigung rechnen darf. Infolgedessen ist ihm der Nächste nicht nur möglicher Helfer und Sexualobjekt, sondern auch eine Versuchung, seine Aggression an ihm zu befriedigen, seine Arbeitskraft ohne Entschädigung auszunützen, ihn ohne seine Einwilligung sexuell zu gebrauchen, sich in den Besitz seiner Habe zu setzen, ihn zu demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, zu martern und zu töten. Homo homini lupus; wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten?“ (vgl. Freud 1930: 471).
Die Existenz dieser „Aggressionsneigung“, die wir bei uns selbst verspüren können sollen und entsprechend beim anderen auch voraussetzen mögen, sei das Moment, das unser Verhältnis zum Nächsten störe und „die Kultur“ zu ihrem Aufwand nötige. Infolge dieser primären Feindseligkeit der Menschen gegeneinander sei die „Kulturgesellschaft“ beständig vom „Zerfall“ bedroht. Das Interesse der Arbeitsgemeinschaft würde sie nicht zusammenhalten, triebhafte Leidenschaften seien stärker als vernünftige Interessen. Die Kultur müsse daher alles aufbieten, um den Aggressionstrieben der Menschen Schranken zu setzen, ihre Äußerungen durch psychische Reaktionsbildungen niederzuhalten. Das schließlich, so Freud, sei der Grund von Methoden, die die Menschen zu Identifizierungen und zielgehemmten Liebesbeziehungen antreiben sollen. Dies sei weiter der Grund für die Einschränkung des Sexuallebens und zudem für das Gebot, den Nächsten so zu lieben wie sich selbst. Denn die „vorsichtigeren und feineren Äußerungen der menschlichen Aggression vermag das Gesetz nicht zu erfassen“ (Freud 1930: 471 f.). Daher funktioniere auch die kommunistische Idee nicht. Diese ginge davon aus, dass der Mensch von Natur aus gut sei und seinem Nächsten wohlgesonnen, dass aber die Einrichtung des Privateigentums seine Natur verdorben habe. Freud erkennt damit an, dass eine Abschaffung von Privateigentum eine wesentliche Ursache gesellschaftlicher Missstände beseitigen würde, macht aber geltend, dass dadurch den Betätigungen des „Aggressionstriebs“ noch immer nicht ausreichend Schranken gesetzt wären, weswegen es auch in einer kommunistischen Gesellschaft zu zwischenmenschlichen Aggressionen kommen müsse. Freud zieht letztlich das Fazit, dass eine „Aggressionsneigung“ eine ursprüngliche, selbstständige Triebanlage des Menschen sei, und dass „die Kultur“ ihr stärkstes Hindernis in ihr finde. Und er fügt hinzu: „[...] sie sei ein Prozeß im Dienste des Eros, der vereinzelte menschliche Individuen, später Familien, dann Stämme, Völker, Nationen, zu einer großen Einheit der Menschheit zusammen-
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Kritik der Angst fassen wolle. Warum das geschehen müsse, wissen wir nicht; das sei eben das Werk des Eros“ (Freud 1930: 481).
Auf dieses Unwissen – also auf die Frage, was nun eigentlich wiederum „die Kultur“ treibe und woher der „Aggressionstrieb“ selbst seine Ziele hernimmt – wird zurückzukommen sein. Zuvor muss geklärt werden, in welchem Zusammenhang diese „Mächte“ eigentlich zu dem stehen, was Freud im siebten und vorletzten Teil dieser Arbeit „soziale Angst“ nennt. Zunächst stellt er die Frage danach, was mit der Aggression eigentlich geschehe, nachdem sie für die Kulturentwicklung unschädlich gemacht worden sei. Und er führt aus, dass die Aggression verinnerlicht würde und dorthin geschickt werde, woher sie gekommen sei, sie dann also gegen das eigene „Ich“ verwendet werde. Dort werde sie von einem Anteil des „Ichs“ übernommen, das sich als „Über-Ich“ dem übrigen entgegenstelle, und das nun als „Gewissen“ gegen das „Ich“ dieselbe strenge Aggressionsbereitschaft ausübe, die das „Ich“ eigentlich an anderen fremden Personen befriedigt hätte. „Die Spannung zwischen dem gestrengen Über-Ich und dem ihm unterworfenen Ich heißen wir Schuldbewußtsein; sie äußert sich als Strafbedürfnis. Die Kultur bewältigt also die gefährliche Aggressionslust des Individuums, indem sie es schwächt, entwaffnet, und durch eine Instanz in seinem Inneren, wie durch eine Besatzung in der eroberten Stadt, überwachen lässt“ (Freud 1930: 483).
Dem Schuldbewusstsein vorausgesetzt sei eine Vorstellung von „Gut“ und „Böse“, die nicht naturgegeben sei, sondern von außen als ein fremder Einfluss in den „Einzelnen“ hineingekommen sei. Für diese Übernahme äußerer geltender Normen und Regeln aber, so nimmt Freud an, bedarf es eines Motivs der jeweiligen Person. Dieses, und das ist wichtig für die vorliegende Untersuchung, sieht er in einer Angst vor einem Liebesverlust. Denn verlöre er eine Liebe eines anderen, von dem er abhängig sei, so büße er auch den Schutz vor mancherlei Gefahren ein und setze sich vor allem auch der Gefahr aus, dass dieser andere, der mächtiger sei als er, ihm in der Form der Bestrafung seine Überlegenheit erweise. Das Böse sei also anfänglich dasjenige, wofür man mit Liebesverlust bedroht werde; aus Angst vor diesem Verlust müsse man es vermeiden. Darum sei es auch nicht wichtig, ob man das Böse bereits getan habe oder es erst tun wolle. In beiden Fällen trete die Gefahr erst ein, wenn die Autorität es entdecke. Dieses Schuldbewusstsein, als eine Angst vor dem Liebesverlust, heißt Freud eine „soziale Angst“, wenngleich auch er sie in Anführungszeichen setzt, denn um einen systematisch von ihm verwendeten Begriff handelt es sich hierbei nicht. Auf dem Hintergrund seiner Strukturtheorie kann Freud des Weiteren ausführen, dass es in der Folge – wenn die äußere Autorität erst einmal durch die Aufrichtung eines „Über-Ichs“ verinnerlicht sei – keiner Angst vor dem Liebes-
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verlust von außen mehr bedarf. Denn nun könne sich vor dem eigenen „ÜberIch“ nichts mehr verbergen. Das „Über-Ich“ peinige das „sündige Ich“ mit entsprechenden Angstempfindungen und lauere auf Gelegenheiten, es von der Außenwelt bestrafen zu lassen. Es gebe also, so Freud, zwei Ursprünge eines Schuldgefühls: jenes aus einer Angst vor einer Autorität und jenes aus einer Angst vor dem eigenen „Über-Ich“. In beiden Fällen komme es zu einem „Triebverzicht“. Doch während der Verzicht alleine im ersten Fall reiche, um die Situation zu klären und um ohne Angst zurückzubleiben, so sei es im Fall der Angst vor dem „Über-Ich“ schwieriger, da hier der Wunsch, den unerlaubten Trieb zu befriedigen, weiter fortbestehe und sich vor dem „Über-Ich“ nicht verheimlichen lasse. Die Folge sei ein andauerndes inneres Unglück, ein andauerndes Schuldbewusstsein, eine fortwährende Gewissensangst. Und Freud kehrt nun die Dynamik dessen noch um, wenn er weiterhin ausführt, dass von nun an jeder Triebverzicht selbst eine dynamische Quelle des Gewissens werde, weil es eben immer wieder und mit jedem erneuten Verzicht auch die Bestätigung der Notwendigkeit ihrer selbst fände. Dieses sich selbst erhaltende System sei auch nicht aufhebbar, so Freud. Denn: „das Schuldgefühl ist der Ausdruck des Ambivalenzkonflikts, des ewigen Kampfes zwischen dem Eros und dem Destruktions- oder Todestrieb“ (Freud 1930: 492). Im Gegenteil: da „die Kultur“, so Freud: „[...] einem inneren erotischen Antrieb gehorcht, der sie die Menschen zu einer innig verbundenen Masse vereinigen heißt, kann sie dies Ziel nur auf dem Wege einer immer wachsenden Verstärkung des Schuldgefühls erreichen. Was am Vater begonnen wurde, vollendet sich an der Masse. Ist die Kultur der notwendige Entwicklungsgang von der Familie zur Menschheit, so ist unablösbar mit ihr verbunden, als Folge des mitgeborenen Ambivalenzkonflikts, als Folge des ewigen Haders zwischen Liebe und Todesstreben, die Steigerung des Schuldgefühls vielleicht bis zu Höhen, die der Einzelne schwer erträglich findet“ (Freud 1930: 492 f.).
Das Schuldgefühl selbst jedenfalls, so viel bleibt festzuhalten, ist bei Freud bereits eine bestimmte Art „der Angst“, die später mit einer Angst vor einem „Über-Ich“ zusammenfällt. Als Ausweg sieht Freud eine Behandlung neurotischer Personen dahingehend, dass ihnen geholfen werden könne, sich mehr um das Glück ihres „Ichs“ und weniger um die Strenge der Gebote und Verbote ihres „Über-Ichs“ zu kümmern. Das „Ich“ müsse die Widerstände gegen die Befolgung, also die „Triebstärke“ des eigenen „Es“ und die Schwierigkeiten der realen Umwelt stärker in Rechnung stellen. Das „Über-Ich“, so Freud, müsse daher in „therapeutischer Absicht“ bekämpft werden und seine Ansprüche müssten heruntergefahren werden. Schließlich müsse klar gemacht werden, dass das Gebot „Liebe deinen Nächsten“ allein der Abwehr der menschlichen Aggression geschuldet und letztlich undurchführbar sei. Und bezogen auf die Frage nach einer wirklichen Auflösung des Problems, schließt Freud schließlich damit, dass
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er sich vor dem Vorwurf beuge, dass er keinen Trost zu bringen imstande sei. Das aber würden sie alle verlangen, die „wildesten Revolutionäre nicht weniger leidenschaftlich als die bravsten Frommgläubigen“ (Freud 1930: 506). Freud formuliert somit also eine Art prozessorientiertes Verständnis einer Angst, die er auch als „soziale Angst“ (wenn auch von ihm in Anführungszeichen gesetzt) bezeichnet, das sich auch dadurch auszeichnet, dass hiermit weniger eine Eigenschaft einer Person, denn vielmehr ein Verhältnis herrschender Normen einerseits und individueller psychischer Vorgänge andererseits, beschrieben wird. Ein zweiter wichtiger Aspekt ist, dass Freud sich in dieser Arbeit nicht als ein Therapeut, sondern vielmehr als ein wissenschaftlich-unparteiischer Beobachter versteht, der die Frage nach einem möglichen Trost hinsichtlich des hier beschriebenen „Unbehagens“ explizit offen lässt. Einen funktionalen Nutzen, bezogen auf herrschende Verhältnisse, kann einem solchen Verständnis von „sozialer Angst“ in der Folge nicht entnommen werden. Freud vertritt des Weiteren hierin, bezogen auf Zumutungen und Folgen, die „die Kultur“ für ihre Insassen bereit halte, einen Pessimismus, der in einem deutlichen Gegensatz zu den deutlich optimistischeren Haltungen steht, der aktueller Literatur zum Thema entnommen werden kann. Wird nämlich hierin regelmäßig von der Möglichkeit einer „Überwindung“ oder doch zumindest von der Möglichkeit des „Produktivmachens“ von Ängsten ausgegangen, so sieht Freud eine solche Möglichkeit für das, was er als „Unbehagen in der Kultur“ bezeichnet, eben nicht. Kritisch muss allerdings angemerkt werden, dass Freud Gefahr läuft, seinen eigenen Anspruch einer Deontologisierung „der Angst“ dadurch zu konterkarieren, dass er stattdessen „Kultur“, „Eros“ und „Aggressionstrieb“ gleichsam als jeweils wirkmächtige Subjekte einer gesellschaftlichen Entwicklung konzipiert, die, ungeachtet realer gesellschaftlicher Interessenkonflikte, ihre eigenen Ziele zu verfolgen imstande sein sollen. Denn, wie Freud diesen Zusammenhang prägnant zusammenfassend wiedergibt: „Eros und Ananke sind auch die Eltern der menschlichen Kultur geworden“ (Freud 1930: 460). 5.1.6 Zur Bestimmung der vier Merkmale „der Angst“ bei Freud Bezogen auf die vier jeweils zu identifizieren möglichen Merkmale innerhalb einer jeden Angstkonzeption seit Kierkegaard ist für Freud folgendes festzuhalten: „Die Angst“ ist in seinen beiden Konzepten bestimmt als 1. allgemein. Sie gilt bei ihm zwar nicht als eine Grundbefindlichkeit des Menschen, aber dennoch ist „die Angst“ auch bei ihm allgemein, insofern nämlich als das Modell, vor dem „die Angst“ verstanden werden kann, eine allgemeine Geltung beansprucht. Sie ist 2. selbstisch. Die Gründe für „die Angst“ sind zunächst ganz in der Person
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selbst zu suchen. Das Verhältnis des Sich-Ängstigenden zu sich selbst bzw. das Verhältnis der einzelnen Instanzen des psychischen Apparats untereinander gilt es zu reflektieren und zu bearbeiten. Während in seiner ersten Angsttheorie dieser zweite Aspekt noch besonders betont wird – schließlich gilt „die Angst“ dort immer als Folge einer Verdrängung –, gelangt Freud mittels seiner zweiten Angsttheorie zu einer Erweiterung dieses Aspekts hin auch zu Fragen des Verhältnisses des Sich-Ängstigenden zu der ihn umgebenden Situation. „Die Angst“ bei Freud ist 3. unbestimmt. „Der Angst“ kann, im Gegensatz zur „Realangst“, zunächst kein Grund für ihr Vorhandensein entnommen werden. Zu der auch hier dennoch möglichen näheren Bestimmung ihrer Unbestimmtheit bedarf es nun, und das ist im Vergleich zu den bisherigen philosophischen Konzeptionen ein wesentlicher Unterschied, eines speziell hierfür ausgebildeten Experten, eines Psychoanalytikers. Während die nähere Bestimmung der Unbestimmtheit bei Kierkegaard, Heidegger und Bloch dem SichÄngstigenden selbst überlassen ist und bloß das jeweilige Ziel, nicht aber der konkrete Inhalt dieser Bestimmung und des daraus folgenden Handelns feststehen (Gottgefälligkeit, Eigentlichkeit, Einsicht in gesellschaftliche Verhältnisse), gelangt diese Aufgabe nun in fremde Hände, denen sich der Sich-Ängstigende vertrauensvoll zu überantworten hat. Und „die Angst“ bei Freud verweist 4. zuallererst auf ein Verhältnis des Sich-Ängstigenden zu sich selbst bzw. auf die aufzuklärenden Verhältnisse der Instanzen untereinander; sie verweist aber auch als Gewissensangst und als „Unbehagen in der Kultur“ reflexiv auf eben diese den Sich-Ängstigenden umgebende und seine Angst bedingende Kultur. Diese beiden letzten unterschiedlichen Bestimmungen dessen, worauf „die Angst“ bei Freud eigentlich verweist, als auch die Festlegung auf den Psychoanalytiker als Experten für die Aufklärung „der Angst“, eröffnen in der Folge verschiedene Möglichkeiten einer Fortführung dieser Freudschen Konzeption. Es werden daher nun drei solcher Weiterentwicklungen, die sich auch entsprechend deutlich voneinander unterscheiden, dargestellt.
5.2 „Die Angst“ bei Dieter Duhm 1972 veröffentlicht Dieter Duhm eine Dissertation mit dem Titel „Angst im Kapitalismus“. Adressiert ist diese Arbeit, wie er in der Einleitung selbst schreibt, vor allem an junge Arbeiter, Angestellte, Schüler und Studenten. Er versteht seine Arbeit als eine Anregung an den Leser, damit dieser seine Probleme in Betrieb, Büro, Schule und Universität durchdenken könne, zum Zwecke einer „engagierten und politischen Antwort“ auf eben diese Probleme (vgl. Duhm 1972: 10). Auf der Grundlage psychoanalytischer und marxistischer
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Theoriebildung vertritt er in seiner Arbeit die These, dass „die Angst beseitigen [...] also den Kapitalismus beseitigen“ heißt (Duhm 1972: 133). „Die Angst“, die keine „Realangst“ sei, wird von Duhm demnach, ähnlich total wie bei den anderen bislang behandelten Autoren auch, ebenfalls mit nur einer Bedeutung versehen. „Die Angst“ ist nun bloß noch eine spezifische Erscheinungsform des Kapitalismus. Sein Fokus liegt in der Folge auf einem Zusammenhang von kapitalistischer Herrschaft einerseits und der Unterdrückung des Einzelnen in diesen kapitalistischen Verhältnissen andererseits. Zum einen knüpft er zwar mit den von ihm verwendeten Begriffen unter anderem an die „Gewissensangst“ bei Freud an, zum anderen aber findet bei ihm dessen Versuch einer Bestimmung des Verhältnisses von Kulturentwicklung und Triebunterdrückung, das bei Freud notwendig auch zu Schuldgefühlen führen müsse, keine Würdigung. Bereits in einem ersten Kapitel zu den „Psychologischen Theorien der Angst“ stellt er stattdessen die Annahme auf, dass es lediglich einer Gesellschaft bedürfe, die die Übereinstimmung individueller und sozialer Bedürfnisse zur Grundlage habe. In der Folge wäre ein Bedürfnisverzicht von Seiten der SichÄngstigenden nicht mehr nötig und eine Überwindung „der Angst“, die keine Realangst sei, möglich. Der Zusammenhang sei hierbei folgender: Angst entstehe zunächst beim Kind immer dann, wenn es von strafenden Autoritätspersonen gezwungen werde, sich den gesellschaftlichen Anforderungen zu unterwerfen; dies führe zu einer starken Beschränkung seiner Bedürfnisbefriedigung. Die Eltern würden so zuallererst zu „Richtern“ über das „liebe“ oder „böse“ Verhalten des Kindes. Um von ihnen Liebe zu erhalten und einer Strafe zu entgehen, würde das Kind sich anpassen, aus Angst vor Liebesentzug und Strafe. Es sei dies daher eine Angst vor einer realen äußeren Gefahr und diese nennt Duhm „Realangst“. Dies aber steht im Widerspruch zu den Ausführungen über das Schuldbewusstsein bei Freud. Freud reserviert den Begriff der „Realangst“ ausschließlich für eine bloß punktuelle Angst, in deren Folge ganz konkret das äußere Objekt, von dem die Gefahr drohe, zu benennen möglich sei. Statt „Realangst“ verwendet er daher an dieser Stelle den Begriff der „sozialen Angst“ bzw. den der „Gewissensangst“. Ein Grund dafür, dass Freud nicht ebenfalls diese Angst unter seinen Begriff der „Realangst“ subsumierte, könnte darin liegen, dass die Möglichkeit eines solchen Liebesentzugs, im Gegensatz zu anderen realen Gefahren, die Freud kannte, für den Sich-Ängstigenden – zumal wenn es sich um ein Kind handelt – sehr weit weniger fassbar und vor allem permanent gegeben ist. Duhm aber benötigt bereits hier den Begriff der „Realangst“, um in der Folge seiner Argumentation umso deutlicher aufzeigen zu können, dass die Gewissensangst, die in der Folge entstehe, im Gegensatz hierzu eben nicht etwa eine der kulturellen Entwicklung geschuldete Angst, sondern dass diese eine „irratio-
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nale“ Angst sei: also eine Angst, die überwunden und „weg“ gehöre. Wichtig ist an dieser Stelle noch einmal anzumerken, dass Freud den Begriff der „irrationalen Angst“ nicht benutzt. Freud stellt an keiner Stelle fest, dass die Überwindung von „Gewissensangst“ ein gesellschaftlich begrüßenswertes Ziel sein könne. Für Ängste aufgrund innerer psychischer Konflikte nutzt er zumeist den Überbegriff der „neurotischen Angst“. „Die Angst“ selbst habe ja weder rationale noch irrationale Eigenschaften. Einer Adjektivierung von Ängsten, wie Duhm sie vornimmt, als „irrationale“ Ängste gehen immer implizite oder explizite normative Annahmen des über (ir-)rationale Ängste Sprechenden voraus. Dieser setzt zuallererst fest, welche Aufteilung in „rationale“/„richtige“ und „irrationale“/„falsche“ Ängste gelten soll. Noch einmal: Freuds Aufteilung war eine von innen und außen, eine Aufteilung in „Realangst“ vs. „neurotische Angst“. Duhm dagegen behauptet die Existenz „rationaler“ und „irrationaler“ Ängste. Die „Gewissensangst“ bei Duhm entwickelt sich zunächst ähnlich wie bei Freud. Das Kind, das zunächst von außen „gut“ und „böse“ voneinander zu scheiden gelernt hat, begänne mit der Zeit die elterlichen Normen, Gebote und Verbote zu internalisieren und in der Folge eine eigene Richterinstanz auszubilden: sein Gewissen. Dieses bezeichnet Duhm, auch hier im Widerspruch zu Freud, als einen „Fremdkörper“ im Individuum, und nicht als einen von drei existenten Instanzen eines „psychischen Apparates“. Der Mensch, der ein Gewissen ausgebildet habe, habe von nun an – hier stimmen seine Ausführungen mit denen Freuds überein – die Angst vor der äußeren Autorität eingetauscht gegen „die Angst“ vor der inneren Strafmacht. Diesen Vorgang beschreibt Duhm drastisch als den Verzicht auf ein eigenes, in freier Entscheidung gewähltes Leben. Das Kind habe von nun an „die Angst“ vor äußeren Autoritäten „gegen Knechtschaft eingetauscht“. Ein innerer Widerspruch wird hier deutlich: entweder dieser Vorgang der Gewissensausbildung determiniert in gewisser Hinsicht die weitere Entwicklung des Menschen oder aber er ist fähig, frei zu entscheiden. Dann jedoch muss dieser von Duhm als praktisch automatisch ablaufend konzipierte Prozess stattdessen auch vom Individuum selbst jederzeit reflektiert und gestoppt werden können. Unter Bezugnahme auf den Psychoanalytiker Erich Fromm führt Duhm eine weitere Leistung dieses „Über-Ichs“ aus: dieses würde auch jederzeit seine eigene „Über-Ich“-Qualität als strafende Instanz auf äußere Autoritäten wieder übertragen, und das sei dann der Grund schließlich wieder für die Angst vor diesen Autoritäten. „Wann immer das Individuum vor einer äußeren Autorität Angst hat, liegt eine derartige Überich-Projektion vor. Die einstige Angst vor den Eltern wird nun – über den Umweg des Überichs – neu erlebt, auch wenn keine reale Gefahr vorliegt. Die Angst ist irrational und neurotisch geworden. Es ist gleichsam konservierte Realangst des Kindes, die nun in ihrer infantilen Form
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Kritik der Angst wieder ausbricht, jetzt aber ohne angemessenen Bezug zu einer realen Gefahrensituation. Wann immer sich der Einzelne in einem offenen oder latenten Konflikt befindet mit den Normen seiner Umwelt, reagiert er mit dieser neurotischen Autoritätsangst“ (Duhm 1972: 18).
Was Duhm mit dieser Argumentation gewinnt (jede äußere „Herrscherperson“ wird unbewusst als Gefahrenquelle empfunden), ist, dass er in der Folge davon absehen kann, dass „die Angst“ selbst, so wie Freud es beschreibt, kein Ziel kennt. Das Zweckmäßige am Handeln des Sich-Ängstigenden ist demnach ja eben nicht seine Angst, sondern kann nur ein Ergebnis seiner Überlegungen sein, wie die Situation zu deuten und was angesichts dessen zu tun sei. Duhm hingegen weiß nichts dagegen einzuwenden, dass aus Angst allein: vor Hunger, Qual und Tod sich Arbeiter in die kapitalistischen Arbeitsverhältnisse einfügen. „Ihre Realangst war also der Motor, der sie zur Anpassung trieb. Die Bestrafung mußte hart sein, damit ihre Angst stark genutzt war“ (Duhm 1972: 33). Der Zusammenhang, der sich für ihn daraus ergibt, drückt sich in der Formel aus: Gewalt führt zu Realangst, führt zu Verdrängung, führt zu neurotischer Angst, führt zu Anpassung. Der Sich-Ängstigende soll demnach nicht in der Lage sein, die Situation, die ihn ängstigt, der angedrohten Strafe wegen, als eine zu verstehen, in der statt Anpassung auch Widerstand möglich und nötig sein könnte. Eine hierzu gegenteilige apodiktische Setzung ist nicht einzusehen. Der Sich-Ängstigende bei Duhm ist immer schon angepasst, es sei denn, so ist zu vermuten, er hat sich durch die Lektüre seines, Duhms, Buchs über seine „wahren“ inneren psychischen Zusammenhänge aufklären lassen und beherzigt in der Folge dessen Forderung danach, mit der Überwindung der eigenen Angst zum Zwecke der zu leistenden gesellschaftlichen Revolution anzufangen. Zum anderen braucht Duhm in der Folge auch nicht über Prozesse der sozialen Ausschließung als eine mögliche Quelle von Ängsten nachzudenken. Denn jede neu erfahrene Angst vor Autoritäten aktualisiert ja lediglich die alte Realangst des Kindes und verweist in der Folge eben nicht auf eine mögliche tatsächliche Gefahr im Hier und Jetzt des Sich-Ängstigenden. Ein Beispiel für eine so entstehende „Blindstelle“, die aufgrund eines so dargestellten Zusammenhangs entsteht, findet sich in folgendem Zitat: „Daß sich im Unbewußten tatsächlich derartige Dinge abspielen, sehen wir daran, wie das Individuum reagiert, wenn es doch einmal in einen realen Konflikt gerät mit seinen Unterdrückern: in den meisten Fällen Schweißausbruch, starkes Herzklopfen. Hier zeigt sich eine Angst, die aus der tatsächlichen realen Gefahr alleine meistens nicht erklärt werden kann, wenn z.B. ein Angestellter das Zimmer seines Chefs betritt, ein Student das Sprechzimmer seines Professors oder ein Lehrling zum Ausbilder gerufen wird. Diese Angst ist irrational und neurotisch. Sie stammt nicht mehr wie die Realangst aus einer äußeren Gefahr, sondern aus der inneren Angstquelle: aus den verdrängten Bedürfnissen und der verinnerlichten Gewalt“ (Duhm 1972: 34).
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Einerseits scheut Duhm nicht davor zurück, das harte Wort vom „Unterdrücker“ im Mund bzw. auf das Papier zu führen, andererseits soll von diesem „Unterdrücker“ aber keine reale Gefahr ausgehen, weswegen eine Angst in einer solchen Situation bloß als „irrational“ bestimmt werden könne. Eine anderes Urteil diese Angst betreffend aber ergebe sich, würden diese drei Situationen bestimmt als solche, in denen eine Entscheidung über eine mögliche soziale Ausschließung des Sich-Ängstigenden vonstatten gehen könnte. Der Chef entlässt vielleicht seinen Angestellten, der Professor erklärt seinem Studenten, warum dieser durchgefallen sei, und der Ausbilder schließlich verkündet, dass der Lehrling „leider“ nicht übernommen werden könne. In allen drei Fällen verweist die Angst so betrachtet nun sehr wohl auf eine Gefahr für den Sich-Ängstigenden. Und auch die Frage nach der Zweckmäßigkeit seiner Angst ergebe sich erst, worauf Freud wie erwähnt hingewiesen hatte, aus den Folgen seiner darauf beschlossenen Handlungen. Vielleicht gelänge es ja dem Angestellten seinen Vorgesetzten doch noch von seinen Qualitäten zu überzeugen. Hätte er dann vielleicht einen „Angriffsimpuls“ seiner Angst in ein gelungenes Plädoyer verwandelt? Oder aber: der ebenfalls „angriffslustige“ Student ließe sich in seiner Angst dazu hinreißen, seinen Professor zu beleidigen, worauf einem finalen sozialen Ausschluss, also einer Exmatrikulation, vielleicht nichts mehr im Wege stünde. Oder aber: der Lehrling würde in seiner Angst zu weinen beginnen und aus dem Zimmer rennen, wäre er bloß einem „Fluchtimpuls“ gefolgt? Dass „Flucht“ oder „Angriff“ die zwei ersten Impulse seien, welche eine Angst verursache, ist eine Analogie zu im Tierreich beobachtbaren Verhalten und kann nicht auf Sich-Ängstigende übertragen werden. „Flucht“ oder „Angriff“ können nicht als festgelegte genetische, menschliches Handeln determinierende, Programmierungen angenommen werden. Dies ist nur möglich, wenn auf die Annahme verzichtet wird, dass Handelnde selbst in erster Linie in der Lage sind, über die Motive für ihr Handeln (Plädoyer, Beleidigung, Traurigkeit/Scham) eine Auskunft zu geben. Und es sei an dieser Stelle auch an die Annahme Blochs erinnert, dass der Eine ein „Sunnyboy“, und der Andere ein „Angsthase“ sei, dass Menschen also, wie es Zygmunt Bauman ausdrückt, dazu neigen verschieden zu sein. Annahmen darüber was eine „irrationale“ und was eine „rationale“ Angst sei, lassen sich vor diesem Hintergrund nicht allgemein tätigen. Es sei denn, nicht der Versuch einer angemessenen Beschreibung einer konkreten Angst stünde im Mittelpunkt der Auseinandersetzung, sondern ein bestimmtes Interesse eines jeweiligen Autors. Welches findet sich bei Dieter Duhm? Er will aufmerksam machen auf angsterzeugende Verhältnisse. Zuallererst erörtert er daher einen Herrschaftsaspekt von „Angst im Kapitalismus“. Des Weiteren führt er einen in diesen Verhältnissen vorherrschenden Warencharakter
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menschlicher Beziehungen aus. Partnerschaften würden zu Wertanlagen, die ihren versprochenen Ertrag nicht einlösen können. Die Entfremdung der Menschen, die nicht mehr Herr seien über die gesellschaftlichen Verhältnisse, die sie selbst geschaffen haben, sei ebenfalls eine Quelle von Angst. Ein Leistungsaspekt wird diskutiert, wonach auch die Erfüllung des Gebots nach mehr Leistung für jede Arbeit zu einer Existenz – und damit auch zu einer Angstfrage würde. Und schließlich ortet er Quellen von Angst auch im Konkurrenzprinzip, wonach die Leistung des einzelnen eben immer nur im Verhältnis zum anderen zähle und er sich demnach seiner eigenen Leistung und der Bewertung derselben nie sicher sein könne. All dies führe letztlich dazu, dass die äußere gesellschaftliche Struktur der zwischenmenschlichen Beziehungen sich verbände mit einer inneren Struktur der individuellen Psyche zu einer immerwährenden Quelle neurotischer Angst. „Mag diese Angst sich tarnen wie sie will, als Existenzangst, als ‚Gottesfurcht’, als Angst vor Krieg, Krankheit oder Zukunft, in Wirklichkeit ist sie die Angst der Menschen voreinander; nicht der Menschen schlechthin, sondern der Menschen in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung“ (Duhm 1972: 55).
Diese letzte Aussage verdeutlicht noch einmal die Totalität, mit der Duhm „die Angst“, die keine Realangst sei, bedeutet. Selbst Ängste vor Krankheit und vor Kriegen, die zunächst auf ihren realen Gehalt hin zu prüfen wären, verwirft er als „getarnte“ Ängste. Und diese seien einzig und allein allesamt Ausdruck jener spezifischen Angst im Kapitalismus. Die Aufgabe, die sich aus einer solchen Analyse stellt, beschreibt Duhm selbst wie folgt: „Weil die Subjektwerdung nur möglich ist in der politischen Praxis, wäre es Aufgabe der marxistischen Psychoanalyse, den Patienten zur politischen Praxis zu befähigen. [...] Die im Leiden verborgene Rebellion müßte entfaltet werden zum politischen Kampf, mit dem allein wir die Befreiung des Menschen erreichen können“ (Duhm 1972: 154).
Dass der Sich-Ängstigende am Kapitalismus leidet, das steht für Duhm demnach schon vor einer Beschäftigung mit seinen jeweiligen Interessen, seinen jeweiligen Urteilen über die Welt fest. Ebenso steht für ihn zuvor fest, dass dieser einen politischen Kampf, eine Rebellion eigentlich will, um seine eigene Befreiung, von deren Möglichkeit und Notwendigkeit er bisher vielleicht noch nichts wusste, zu erreichen. Allein: Es bedarf noch einer „marxistisch psychoanalytischen“ Aufklärung des Sich-Ängstigenden über die „Wahrheit“ seiner Ängste. Auch bei Duhm ist es die Figur des „Einzelnen“, die in letzter Konsequenz zu einer entscheidenden Größe wird. Wo andere Autoren aber, das ist Gegenstand der nächsten Kapitel, auf die Überwindung der Angst im „Einzelnen“ setzen, zum Zwecke der Minimierung persönlicher Problemlagen im Kapitalismus, da will Duhm
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zur endgültigen Überwindung „der Angst“ den Kapitalismus überwinden. Und auch umgekehrt: angstfreie Menschen seien demnach die ersten Repräsentanten einer „neuen freien Welt“. Die Verlängerung eines solchen marxistischpsychoanalytisch verdinglichenden Denkens in Richtung auf esoterische Heilslehren liegt auf der Hand und wurde denn auch konsequent von Duhm in die Tat umgesetzt. So ist er inzwischen Leiter eines „Heilungsbiotops Tamera“ in Portugal. Dort verfolgt er das Ziel eines „konkreten Aufbaus eines funktionierenden Modells für menschliche Gemeinschaft und für eine gewaltfreie Kooperation des Menschen mit Natur und Schöpfung“ 10. Duhms Konzeption „der Angst“, die keine Realangst sei, ist also: 1. allgemein. Sie betrifft alle Personen im Kapitalismus. Sie ist 2. selbstisch als Produkt der jeweils eigenen Erfahrungen mit Autoritäten. Sie ist 3. unbestimmt als ein Produkt individueller Verdrängungsprozesse. Den Sich-Ängstigenden ist eine Bestimmung ihrer Angst als „die Angst im Kapitalismus“ mit seiner Hilfe allerdings möglich. Und 4. verweist diese Angst auf die als kapitalistisch bestimmten Verhältnisse. Hier insbesondere auf das Vorhandensein von Herrschaft und Unterdrückung. Von hier aus soll diese Angst reflektiert werden und auf die Veränderung dieser Verhältnisse soll das Handeln Sich-Ängstigender in der Folge abzielen.
5.3 „Die Angst“ bei Holger Bertrand Flöttmann In einem deutlichen Gegensatz zu Duhm bezüglich der Gründe unbestimmter Ängste steht der Arzt Holger Bertrand Flöttmann. Auch er argumentiert vor dem Hintergrund psychoanalytischer Theoriebildung bei Freud. Eine aus „der Angst“ abzuleitende Grundsatzkritik an kapitalistischen Verhältnissen nimmt er jedoch nicht vor. Sein erstmalig 1989 erschienenes Buch „Angst. Ursprung und Überwindung“ (Flöttmann 2005) zeichnet sich vielmehr durch eine Fokussierung auf die Themen: „Bindung“ und „Symbiotisches Verhalten“ aus. Einen kleineren, aber zum Verständnis des Interesses Flöttmanns wesentlichen Teil, nimmt hierin die Auseinandersetzung mit Traumanalysen ein. Gemessen an den Auflagen ist dieses Buch eines der erfolgreicheren Bücher zum Thema. Seit der Erstauflage sind bereits vier Neuauflagen erschienen. Flöttmann wendet sich mit seinem Buch an Patienten, Ärzte und Psychotherapeuten. Unter der Überschrift „Was ist Angst?“ schreibt er zunächst:
10 Vgl. http://www.dieter-duhm.de/html/0212.html
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Kritik der Angst „Angst ist ein Gefahrensignal. Sie zeigt an, daß eine Gefahr droht. Die Gefahr kann real sein oder sich lediglich in unserer Phantasiewelt befinden. Bei fast allen Menschen, die sich in ärztliche Behandlung wegen Angst oder wegen ihrer Angstsymptome begeben, handelt es sich um eine nicht-reale Angst. Die Angst, die sie haben, entspringt bewußt oder unbewußt einer Vorstellung, die angsterzeugend ist“ (Flöttmann 2005: 17).
Reale Angst dagegen trete in lebensgefährlichen Situationen auf. Wenn ein Mensch etwa in ein Kaufhaus gehe, in dem ein Feuer ausgebrochen sei, so werde er Angst um sein Leben haben. Und diese Angst, so Flöttmann, sei „lebenswichtig“ und „normal“. Anders verhalte es sich mit der Angst in seinem Buch. Sie mache krank, weil sie ein Produkt der Innenwelt, der Phantasie sei. Einerseits übernimmt Flöttmann also hier das Verständnis von Freud hinsichtlich dessen, was eine „Realangst“ sei: eine Angst, die konkret und punktuell auf eine reale äußere Gefahr verweist und nicht von Dauer ist. Bemerkenswert aber ist, dass Flöttmann statt „Realangst“ nun von einer „realen Angst“ schreibt. Und statt „neurotischer“, „Über-Ich-“, „Gewissens-“, „Es-“ oder „sozialer Angst“ nun auch eine „nicht-reale Angst“ kennt. Freud wollte das „real“ vor Angst nicht als ein Adjektiv dieser Angst verstanden wissen, sondern als einen Verweis auf eine reale Gefahr. Obwohl zwar auch Flöttmann einem Sich-Ängstigenden das tatsächliche Vorhandensein dieser seiner Angst sicher nicht bestreiten würde – schließlich liegt in einer solchen „nicht-realen Angst“ der konkrete Grund für die Aufnahme einer sehr realen Therapie bei ihm – bedeutet dieser kleine Unterschied dennoch eine Veränderung, die mehr als bloß eine semantische ist. Die Gefahr der Verdinglichung individueller Verstehensprozesse wächst nämlich in dem Maße, indem schon allein mittels der verwandten Begrifflichkeiten Möglichkeiten eröffnet werden, dem Sich-Ängstigenden die Zubilligung einer eigenen Fähigkeit zu einer realistischen Einschätzung der Situation, in der er sich aufhält, zu verweigern. Die Zuschreibung einer „nicht-realen“ Angst, statt der Zuschreibung etwa einer „Gewissens-Angst“, führt zudem zunächst auch keinen Versuch einer Erklärung dieser so beschrieben Angst mehr mit sich. In dieser Beschreibung liegt zunächst bloß noch der Hinweis darauf, dass diese Angst, die ein Produkt der Innenwelt sei, eigentlich unnötig und krankmachend sei. Bereits hier fällt auf, dass auch Flöttmann an einer Wiederaufnahme der Freudschen Erörterungen hinsichtlich des Verhältnisses von „Gewissens-Angst“ und „Kultur“ nicht interessiert ist. Denn „Innenwelt-Angst“ ist „krankmachende Angst“, sie ist eine zu therapierende und – der Titel verrät es bereits – sie ist eine zu „überwindende“ Angst. Diese Unterscheidung in „krankmachende“ und „normale“ Angst verrät etwas über das Interesse des Autors Flöttmann. Weder eine Erörterung kulturell bedingter und notwendiger „Gewissensängste“ noch das Angebot einer gesellschaftlichen Revolution zum Zwecke der endgültigen Angstüberwindung können
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ihm ein geeignetes Mittel der Legitimierung und Begründung therapeutischer Verfahren sein. Genau damit aber beschäftigt sich Flöttmann in einem Großteil seines Buches. Dabei rekurriert er sowohl auf Formen der Gesprächstherapie, der Verhaltenstherapie wie auch der medikamentösen Behandlung von Angstzuständen. Das Maß, in dem Flöttmann an einem therapeutischen Zugriff auf ein von ihm zu analysierendes „Innerstes“ seiner Patienten interessiert ist, statt beispielsweise der Prüfung konkreter Urteile über tatsächliche Gefahren einen weiteren Platz einzuräumen, wird deutlich an seiner Deutung der Atomangst (vgl. Flöttmann 2005: 162 ff.). „Die Angst“ in Folge der Explosion des Atomkraftwerks in Tschernobyl 1986 könne seines Erachtens nicht alleine auf die Erfahrung der Vernichtungsgewalt zurückgeführt werden. Bei der Atomangst würden, so Flöttmann, außer realen Ängsten unbewusste, tiefer liegende Ängste eine Rolle spielen. Um herauszufinden, um was genau es sich dabei handeln könne, analysiert Flöttmann 40 Träume, die die Atombombe, die Atomkraftwerke oder die Radioaktivität zum Inhalt hatten. Aus den unterschiedlichen Aspekten der Atomkraft gestalte, so der Autor, das „Unbewusste“ das vielschichtige Atomkraftsymbol. Es berge typische Konfliktsituationen eines jeden Menschen in sich. Dazu gehöre die Loslösung vom Elternhaus, die Trennung von Vater und Mutter und das Finden des eigenen Selbst. Bindungen an das Elternhaus werden gelöst, die Einheit der Familie werde zerstört, wodurch Energie und Aktivität frei werden. Bisher gebundene Energien werden bei der Auflösung der Symbiose freigesetzt, die nun zum Aufbau eines selbstbestimmten Lebens in Beruf und Familie zur Verfügung stehen. Die Energien, die sich auf Sexualität, Aggressivität und Lebensenergie bezögen, würden das Unbewusste den Kräften gleichsetzen, die bei der Atomspaltung entstünden (vgl. Flöttmann 2005: 164). Und schließlich weiß der Autor auch von der „Atomkraft als Symbol der Wandlung“ folgendes zu schreiben: „Das Atomkraftwerk und die Atombombe sind ein Symbol des Furchtbar-Weiblichen, mit dem sich das Unbewusste im Ablösungs- und Reifungsprozeß angstvoll auseinandersetzt. Die in der Atomkraft enthaltende Energie beinhaltet jedoch nicht nur das Verschlingend-Weibliche, Libido, Sexualität und Aggressivität, sondern sie ist zugleich auch ein Symbol der Wandlung“ (Flöttmann 2005: 167).
Eine solche anspruchsvolle Analyse von Ängsten verlangt, das ist nun nachvollziehbar geworden, auch hierfür kompetente Therapeuten. Deren Aufgabe muss es in der Folge sein, sowohl den Gegnern als auch den Befürwortern von Atomkraft eine Aufklärung an die Hand zu geben, die ihnen hilft, mit ihren „unbearbeiteten Ängsten“ umzugehen. Die Gegner nämlich verschöben ihre „unbewältigten Ängste“ auf die Atomkraft, während die Befürworter – indem sie meinen, eine unbeherrschbare Technik zähmen und besiegen zu können – versuchen,
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ihrer Ohnmacht vor dem „negativen Aspekt des Weiblichen Herr zu werden“ (Flöttmann 2005: 171). Es bedürfe nun endlich einer intrapsychischen Auseinandersetzung mit diesen Ängsten statt einer Verlagerung dieser Probleme auf eine „gigantische Ebene der Technik“ (Flöttmann 2005: 171). Politiker, Wissenschaftler und Techniker sollen sich mit ihrer verdrängten destruktiven Seite der „Großen Mutter“ auseinandersetzen, als auch jene, die sie zu sehr ablehnen. Beide Seiten, so Flöttmann, sollten die unbewussten Anteile ihrer Angst und ihres Hasses kennen lernen und überwinden. Und Flöttmann schließt: „Über die Zukunft der Menschheit werden von Wissen getragene Sorge und Liebe und vor allem Bewußtheit entscheiden“ (Flöttmann 2005: 172). Dem Vermehren eines Verständnisses für ein solches „Bewusstsein“, wie soeben ausgeführt, gilt das entschiedene Interesse Flöttmanns in Bezug auf seine Veröffentlichung. „Die Angst“ bei Flöttmann ist demnach also 1. allgemein. Sie stellt zwar kein Grundgefühl des Menschen dar, weder in einem ontologischen Sinne noch in einem kapitalismuskritischen; aber doch insofern als die Methode zur Erlangung der wahren Gründe „der Angst“ (Psychotherapie) eine allgemeine Geltung verlangt. Sie ist 2. selbstisch. Die Gründe für „die nicht-reale Angst“ liegen einzig in der Person. Sie ist 3. unbestimmt. Der Sich-Ängstigende hat entweder keine genaue Vorstellung von seiner Angst; oder aber er kennt zwar mutmaßliche Gefahren – wie Angst vor dem Sterben oder Angst vor der Atomkraft – diese Gründe sind aber tatsächlich nicht die Wirklichen. Eine andere, eine angemessene und anspruchsvolle Bestimmung wird vonnöten. Und sie verweist 4. auf ein Verhältnis des Sich-Ängstigenden zu sich selbst. Dies insofern nämlich als der Bearbeitung oder der Nicht-Bearbeitung oder einer falschen Bearbeitung dieses Verhältnisses selbst die Gründe dieser Ängste zu entnehmen sind.
5.4 „Die Angst“ bei Fritz Riemann 1961 verfasst der Psychoanalytiker und Dozent am Münchner Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie, Fritz Riemann, ein Buch mit dem Titel: „Grundformen der Angst“. Dabei handelt es sich, gemessen an der Auflage, um das erfolgreichste Buch zum Thema in deutscher Sprache. Seitdem sind weitere 35 Auflagen erschienen. Dieses Erfolgs wegen soll ihm eine besondere Würdigung in der vorliegenden Studie zukommen – zumal mit Riemann noch eine dritte Variante tiefenpsychologisch geschulter Aufklärung über „die Angst“ dargestellt werden kann. Dabei gelangt er mit seinem Wissen über „die Angst“ noch einmal zu ganz anderen Ergebnissen als Duhm und Flöttmann, die sich ja ebenfalls auf Freud berufen.
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Kennzeichnend für seine Ausführungen über „die Angst“ ist die jeweilige Koppelung vier verschiedener Angstformen mit je einem bestimmten Persönlichkeitstyp sowie ein durchgängig immer wieder erfolgender Rekurs auf ein von ihm bereits in seiner Einleitung dargebrachtes Gleichnis von einer lebendigen und gesetzmäßigen Ordnung des Kosmos. Demnach sei es sehr nahe liegend, menschliches Handeln und Fühlen vor dem Hintergrund der physikalischen Gesetze, nach denen die Planeten ihre Bahnen zögen, zu verstehen. Wie sich die Planeten um sich selbst drehen und um die Sonne drehen und sowohl einer Fliehkraft als auch einer Schwerkraft ausgesetzt seien, so würde auch „der Mensch“ seine Angst letztlich nur überwinden können, wenn er dieser kosmischen Ordnung gleichsam nacheifere und die verschiedenen, in ihm waltenden kosmischen Grundimpulse richtig zu deuten und nach ihnen zu handeln wüsste. Das Ziel hat Riemann dabei klar vor Augen, wenn er zum Ende seiner Ausführungen notiert: „Aber wenn wir uns dem auch nur eingeschränkt nähern können, erscheint es doch als wesentlich, überhaupt ein Bild einer vollen Menschlichkeit und Reife als Zielvorstellung zu haben; sie ist keine von Menschen erdachte Ideologie, sondern eine Entsprechung der großen Ordnung des Weltsystems auf unserer menschlichen Ebene“ (Riemann 2003: 213).
Vor diesem Hintergrund kann Riemann eine Theorie über „die Angst“ entfalten, mit einer ganz eigentümlichen, damit einhergehenden reduktionistischen Normativität hinsichtlich dessen, was „der Mensch“ sei und was er solle. Riemann weiß nämlich, dass es bloß vier Grundformen „der Angst“ und mit ihnen jeweils einen assoziierten Persönlichkeitstyp gebe. Aus denen heraus ließen sich alle möglichen konkreten Ängste und Persönlichkeiten ableiten. In der Realität fänden sich dann aber diese Grundformen auch „nicht rein“, wohl also als gemischte Persönlichkeiten und auch gemischte Ängste, wieder (vgl. Riemann 2003: 209). Jedem dieser Angst-Formen und Persönlichkeitstypen widmet er zunächst ein Kapitel, in denen diese streng getrennt voneinander dargestellt werden. Es sei dies also 1. eine Angst vor „der Selbsthingabe“. Diese Angst würde erlebt als „Ich-Verlust“ und „Abhängigkeit“. Es sei „die Angst“ der „schizoiden Persönlichkeiten“ 2. eine Angst vor „der Selbstwerdung“. Diese würde erlebt als „Ungeborgenheit“ und „Isolatierung“. Es sei „die Angst“ der „depressiven Persönlichkeiten“ 3. eine Angst vor der „Wandlung“. Diese würde erlebt als Vergänglichkeit und Unsicherheit. Es sei „die Angst“ der „zwanghaften Persönlichkeiten“. Und schließlich 4. eine Angst vor der „Notwendigkeit“. Diese würde erlebt als Endgültigkeit und Unfreiheit, und sei die „die Angst“ „hysterischer Persönlichkeiten“. In diesen vier Kapiteln versucht Riemann jeweils sehr konkrete Handlungs- und Denkweisen als Merkmale sehr allgemeiner Persönlichkeitstypen darzustellen. „Der Mensch“ – so ließe sich in der Folge annehmen – ist in seinem Handeln und
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Fühlen aufgrund seiner jeweiligen „kosmisch gegebenen“ Persönlichkeit beinahe vollständig determiniert. Und andersherum ist es mittels dieser Charaktertypologie eben auch möglich, aufgrund von Beobachtungen eine Einordnung konkreter Menschen vorzunehmen: eben als „schizoid“, „depressiv“, „zwanghaft“ bzw. als „hysterisch“. Zwar versucht Riemann an verschiedenen Stellen seines Buches deutlich zu machen, dass diese Typen nicht „rein“ vorkommen müssen, und dass es im Gegenteil darum gehen müsse, „ganzheitlich“ alle diese Grundimpulse miteinander in Einklang zu bringen; allein das schiere Übergewicht an Seiten, die der Trennung und der konkretistischen Auspinselung dieser allgemeinen vier Typen gewidmet sind, als auch die radikale Vereigenschaftung jeder dieser Typen, spricht gegen diese von Riemann selbst vorgenommene Deutung seiner eigenen Theorie und muss im Ergebnis zu einem anderen Urteil führen. Als ein Beispiel für den eigentümlichen Charakter dieses Wissens sollen die folgenden zwei Zitate dienen. Von dem „Schizoiden“ und seiner Angst vor der Hingabe weiß Riemann zu berichten: „Seine mitmenschliche Ungeborgenheit und Bindungslosigkeit, sowie das aus ihnen resultierende Mißtrauen, lassen den schizoiden Menschen die Annäherung eines anderen als Bedrohung erleben, die er zuerst mit Angst, der sofort die Aggression folgt, beantwortet. Dieses Lebensgrundgefühl Schizoider macht manche oft unverständliche Reaktion verstehbar. Eine archaische, nicht integrierte abgespaltene Aggression kann bis zur Gewalttätigkeit gehen, die einen anderen wie ein lästiges Insekt beseitigt, wenn man sich durch ihn bedrängt fühlt. Wie alle ungebundenen, von Gesamterleben abgespaltenen Triebe kann sich auch die Aggression gefährlich verselbständigen und dann ins Asoziale oder Kriminelle führen“ (Riemann 2003: 33).
Im Gegensatz dazu weiß Riemann über den „hysterischen“ Menschen und seine „Angst vor der Notwendigkeit“ zu sagen: „Der hysterische Mensch liebt die Liebe. Er liebt sie wie alles, was ihn in seinem Selbstwertgefühl zu steigern vermag: den Rausch, die Extase, die Leidenschaft; er steigert sich gern in Höhepunkte des Erlebens. Könnte man das Appolinische als eine Sehnsucht des mehr auf der zwanghaften Linie liegenden Menschen sehen, so ist die Sehnsucht dieser Menschen das Dionysische. Grenzüberschreitendes Erleben zieht ihn an; aber nicht wie beim Depressiven als IchAufgabe, sondern bei ihm in der Ich-Weitung, gleichsam in der Apotheose des Ichs“ (Riemann 2003: 163).
Riemann gelingt es dergestalt also argumentativ und konzeptuell, von jedem konkreten Sinn und Zweck, den ein konkreter Mensch seinen jeweiligen Handlungen und seinen jeweiligen Situationen zuschreibt, zu abstrahieren. Statt eine Klärung sozialer Zusammenhänge schlicht von einer Antwort auf die Frage danach, wer, was, warum und mit welchen Folgen für wen macht, abhängig zu machen, sieht Riemann die Lösung dieser Aufgabe in einer Darstellung und Grundlegung der Zusammenhänge kosmischer Impulse. Dass er zu guter Letzt wieder notiert, dass eine eindeutige Zuordnung zu einem dieser vier Typen dem
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Leser nicht gelingen braucht, da jeder von jedem etwas in sich entdecken könne, führt offensichtlich nicht dazu, dass er selbst die Angemessenheit seines Konzepts hinterfragt, sondern spricht für ihn im Gegenteil für die Realitätsnähe desselben. „Denn solche Eindeutigkeit entspräche viel mehr unserem rationalen Bedürfnis nach klaren Festlegungen und abgrenzenden Systemen als der Wirklichkeit des Lebens, der es immer Gewalt antut“ (Riemann 2003: 209 f).
Das ist bemerkenswert. Es ist doch schließlich Riemann, der zuallererst diese Eindeutigkeit hinsichtlich dessen, was z.B. „der Schizoide“ und was „der Hysterische“ ist, vornimmt. Am Ende soll sich jeder Leser aber wieder heraussuchen dürfen, was ihm gefällt und was er für sich als eine angemessene Beschreibung betrachtet. Dieser Aspekt erinnert an eine Qualität von Horoskopen und gibt vielleicht einen Hinweis auf den Grund des Erfolgs dieses Buchs. Horoskope nämlich können ja auch, im besten Fall, eine Grundlage für die je eigene Selbstreflexion sein. Der Leser eines Horoskops, der dieses zumeist für „seines“ nimmt, hat ja tatsächlich die Möglichkeit nach jedem gelesenen Satz innezuhalten und sich selbst die Frage zu stellen: „Bin ich das oder bin ich das nicht?“, „Will ich so sein oder will ich so nicht sein?“. Hat er jeweils eine für sich befriedigende Antwort gefunden, dann steht im Ergebnis vielleicht tatsächlich ein Leser, der nun mehr über sich weiß und mehr darüber, was er will und was nicht. Eine solche Behauptung von Parallelität hinsichtlich der Ausführungen Riemanns über „die Grundformen“ „der Angst“ und jener in Horoskopen würde den Autor selbst übrigens nicht kränken. Im Gegenteil: es ist Riemann, der darauf hinweist, dass das jeweilige Schicksal der von ihm eingeführten vier Grundimpulse in der Entwicklung eines Menschen von den folgenden Faktoren abhängt: „[...] wir bringen eine ‚erste Natur’ mit, über die am ehesten die Astrologie über unser Horoskop etwas auszusagen weiß; dazu kommt unsere Erbanlage, die wir aber erst im Laufe unserer Entwicklung kennen lernen; und wir erwerben in der Begegnung und Auseinandersetzung mit unserer frühen und späteren Umwelt unsere ‚zweite Natur’, die durch die Umwelteinwirkungen immer schon gleichsam eine Trübung bzw. Überfremdung unserer ersten Natur ist“ (Riemann 2003: 210).
Die Ernsthaftigkeit Riemanns bezüglich des von ihm behaupteten Stellenwerts von Horoskopen wird noch einmal deutlich, wenn man einen Blick in seine weiteren Veröffentlichungen – „Lebenshilfe Astrologie“ (Riemann 2005), „Das fröhliche Horoskop“ (Riemann 1993) – wirft. Astrologie ist für ihn demnach allemal eine ernstzunehmende Wissenschaft, auch und gerade als Grundlage des Verständnisses menschlicher Handlungen.
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Letztlich bleibt die Einsicht, dass dieses kommerziell erfolgreiche Buch zum Thema „die Angst“ konzeptualisiert: 1. als allgemein. Sie ist ein Produkt der „Störungen“ allgemeiner kosmischer Grundimpulse und Gesetzmäßigkeiten. Sie ist 2. selbstisch. Sie verweist den einzelnen radikal auf die in ihm wirkenden Triebkräfte. Sie ist 3. unbestimmt. Diese Angst verweist nicht auf ein konkretes Objekt, sondern auf kosmische Zusammenhänge. Und diese müssen im Einzelnen erst noch bestimmt werden. Und schließlich verweist „die Angst“ 4. bei Riemann auf den Menschen in seiner Abhängigkeit zu diesen „kosmischen Gesetzen“. Von diesen Gesetzen aus soll sich der Einzelne reflektieren und seine „volle Menschlichkeit“ zu gewinnen suchen. Dass ein Wissen über „die Angst“ aber auch ganz ohne einen Bezug sowohl zum innersten Kern des Menschen als auch zu den äußersten Grenzen des Kosmos zu entwickeln möglich ist – das ist Gegenstand des nun folgenden Kapitels.
5.5 John Broadus Watson, der Behaviorismus und „die Angst“ John Broadus Watson (1878-1958) veröffentlichte 1913 sein behavioristisches Manifest mit dem Titel „Psychology as the Behaviorist views it“ (Watson 1930/1997) und stellte sich damit vehement gegen alle bisher als gültig erachteten Annahmen einer „introspektiven“ Psychologie. Sein Ziel lag in der Kontrolle und Vorhersage menschlichen Verhaltens. Damit stand er – sowohl hinsichtlich seines Ziels als auch seiner Prämissen – in nachdrücklichem Widerspruch auch und vor allem gegen die Psychologie Sigmund Freuds und gegen diejenigen, die sich auf diesen beriefen. Der gesellschaftliche Hintergrund, vor dem dies geschah, war unter anderem gekennzeichnet von erheblichen naturwissenschaftlichen Erfolgen in der Technik und – Peter Schink verweist hierauf in seiner Kritik des Behaviorismus – von einer in den USA seiner Zeit vorherrschenden, calvinistischen Ethik, die dem pragmatischen Tun vor der beschaulichen Betrachtung den höheren Rang einräumte (vgl. Schink 1993: 35 ff. und 51 ff.). Watson studierte zunächst experimentelle Psychologie, Neurologie und vergleichende Tierpsychologie. Er promovierte 1902/03 bei dem USamerikanischen Philosophen Dewey über das Thema „Animal Education“. Danach leitete er einige Jahre das Tierlaboratorium für experimentelle Psychologie an der Universität in Chicago. Auch nach seiner Berufung auf die John Hopkins University in Baltimore beschäftigte sich Watson ausschließlich mit dem Feld der Tierpsychologie. 1913 schließlich entschied er sich für einen neuen Gegenstand seiner wissenschaftlichen Betrachtung und begründete mit dem eben genannten Aufsatz den Behaviorismus. Er wandte sich dem Menschen – oder besser gesagt: dessen Verhalten – zu. Watsons Überlegungen basierten dabei vor
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allem auf den Untersuchungen zur „klassischen Konditionierung“ des russischen Physiologen Pawlow. Als wichtiger direkter Nachfolger Watsons wiederum gilt Skinner, der seinerseits den Begriff des „operanten Konditionierens“ prägte (vgl. Skinner 1978). Watson wurde 1920 im Zusammenhang mit seiner Scheidung von der Universität Baltimore ausgeschlossen und begann danach eine zweite Karriere, bis hin zum Vizepräsidenten bei einer Werbeagentur. Es gelang ihm also bereits in seiner Person selbst, seine neue psychologische Theorie der „Manipulation“ von Verhalten mit einer einträglichen und massenwirksamen Vermarktung sowohl der Theorie als auch der aus ihr gewonnenen Einsichten hinsichtlich des erfolgreicheren Verkaufs von Produkten zu verknüpfen. 5.5.1 „Die Angst“, die eine „Störung“ sei, im Behaviorismus Im Folgenden wird auch deshalb im Wesentlichen auf Watson und dessen Wissensproduktion rekurriert, weil seine Theorie der klassischen Konditionierung, aus den Anfängen des Behaviorismus, gerade in Hinblick auf „die Angst“, die eine „Störung“ sei, auch in aktuellem verhaltenstherapeutischen Wissen eine zentrale Rolle spielt. Der dabei wirksam werdende verhaltensorientierte Humantechnizismus beinhaltet theoretisch und praktisch die radikalstmögliche Abwendung von damals üblichen Methoden der Bewusstseinspsychologie einschließlich jenen der Selbstbeobachtung. Watson wollte Psychologie mit Mitteln der Naturwissenschaft betreiben und verlagerte daher in der Folge seine Forschungsaufmerksamkeit ganz auf eine Analyse beobachtbaren Verhaltens. Die Begriffe „Reiz“ und „Reaktion“ standen jetzt im Mittelpunkt seiner Ausführungen, denn er sah nun „[d]ie Zeit [...] gekommen, da die Psychologie jeden Bezug auf das Bewußtsein aufgeben muß und sich nicht mehr der Illusion hingeben darf, daß sie Bewußtseinszustände zum Gegenstand ihrer Beobachtung macht“ (Watson 1930/1997: 17).
Watson setzt hier also einer introspektiven Psychologie eine objektive entgegen (vgl. Watson 1930/1997: 35 f.). Bewusstsein ist demnach weder ein erklärbarer noch ein nützlicher Begriff. Die Existenz eines Vorgangs, der sich als „Denken“ – Watson spricht hierbei auch von: „zu sich selbst sprechen“ – bezeichnen lasse, erkennt er jedoch an. Dieses „Denken“ sei aber ebenfalls ein objektiv beobachtbares Verhalten (vgl. Watson 1930/1997: 39). Dies nämlich insofern es vom Denkenden selbst beobachtet oder zumindest mitgeteilt werden könne. Es unterliege damit den gleichen Gesetzen wie jedes andere beobachtbare Verhalten. Somit ist bereits bei Watson angelegt, was spätestens in der aktuellen Verhaltenstherapie einen zentralen Gegenstand der Auseinandersetzung mit Sich-
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Ängstigenden darstellt.11 Watsons zentrale Frage lautet: Ist es möglich, den Verhaltensausschnitt, den der Beobachtende wahrnimmt, in den Begriffen „Reiz und Reaktion“ zu beschreiben? Unter „Reiz“ versteht er jedes Objekt der allgemeinen Umwelt selbst, aber auch jede mit ihnen einhergehende Veränderung. Unter einer „Reaktion“ wiederum wird gefasst, was das Lebewesen, der Beobachtung nach, macht. Im Ergebnis kann er dann fragen: Welcher Reiz veranlasst den Beobachtenden zu welcher Reaktion und führt zu welchem Lernergebnis? In Bezug auf „die Angst“ ist festzuhalten, dass Watson drei angeborene emotionale Reaktionsmuster annimmt, die ihrerseits nicht selbst gelernt seien – nämlich Furcht, Wut und Liebe. Hier könne lediglich eine Auslösung solcher emotionaler Reaktionen studiert werden. Diese würden durch die Darbietung verschiedener Reize erfolgen, die sich allerdings mit neutralen (d.h. nicht ursprünglich reaktionsauslösenden) Stimuli koppeln lasse, so dass nach einer hinreichenden Konditionierungsphase der ursprünglich neutrale Reiz alleine das angeborene Reaktionsmuster auslöse. So führe die Darbietung lauter Geräusche und von Halteverlust zu Furcht, eine Behinderung von Mobilität zu Wut und schließlich Streicheln bspw. zu einer Reaktion, die gemeinhin Liebe genannt würde (Watson 1930/1997: 154 ff.). Anzumerken ist hierbei, dass Watson zumeist nicht von „Angst“ (anxiety), sondern von „Furcht“ (fear) und „Furchtreaktion“ (fear response) schreibt. Er unterscheidet dabei in eine Furcht, die eine einsehbare Grundlage habe, und in eine Furcht, die eine „Störung“ sei (vgl. Watson 1930/1997: 164). Ein Versuch aber, diese beiden Dinge streng voneinander zu trennen, findet bei ihm nicht statt. Sich auf zu Beobachtendes zu beschränken, heißt auch, diese Unterscheidung betreffend, ausschließlich die Reaktionen des Sich-Fürchtenden auf bestimmte, den Sich-Fürchtenden tatsächlich oder nicht tatsächlich gefährdende Ereignisse hin, zu überprüfen und das äußerlich abzulesende Ergebnis an diesem zu beschreiben. Dieses Ergebnis aber, darin sind sich auch alle bislang vorgestellten Autoren einig, sei stets ein ähnliches: unabhängig davon, ob es nun (wie begründet auch immer) als eine Folge einer Furcht oder einer Angst galt. Doch wie wird aus dem einen (der einsehbaren Furchtreaktion) das andere (die nicht einsehbare Furchtreaktion)? Um dies herauszufinden, führt Watson zahlreiche Experimente mit Kindern durch, von denen jenes mit Albert bereits Erwähnung fand. Solche Versuche sind seines Erachtens notwendig, um von der noch schlichteren Strukturiertheit kindlicher Reaktionsweisen letztlich auf erwachsenes Verhalten schließen zu können. 11 Was nämlich ist das „kognitive“ an „kognitiv-verhaltenstherapeutischen“ Maßnahmen? Damit gemeint ist, zumindest in Hinblick auf Ängste, die eine „Störung“ seien, eine Kontrolle persönlicher Einstellungen und so genannter „negativer automatischer Gedanken“ von Seiten des Therapeuten und von Seiten des Sich-Ängstigenden selbst. Weiteres hierzu in Kapitel 5.7.
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Watson ist überzeugt davon, dass beides den gleichen Gesetzen folgt. Denn schließlich gelte, dass die meisten Menschen sich während der Säuglingszeit und ihrer frühen Kindheit in einem undifferenzierten ersten emotionalen Stadium befänden. Und: „Viele Erwachsene – besonders Frauen – bleiben immer darin, ebenso alle primitiven Menschen (Aberglauben). Aber gebildete Erwachsene erreichen durch das lange Training in der Manipulation von Objekten, im Umgang mit Tieren und mit der Elektrizität das zweite, differenzierte Stadium der konditionierten Gefühlsreaktionen“ (Watson 1930/1997: 174).
Dagegen könne der Behaviorist feststellen, dass die Welt der Objekte und Situationen, von denen Menschen umgeben seien, viel komplexere Reaktionen hervorrufe, als für eine wirksame Benutzung oder Manipulation des Objektes oder der Situation erforderlich wäre. Die meisten Menschen hätten die von ihm für möglich befundene „zweite Stufe“ der Emotionsentwicklung noch nicht erreicht (Watson 1930/1997: 157). Es sei die hierbei dennoch festzustellende komplizierte Beschaffenheit von Erwachsenenreaktionen, die es für den Behavioristen aussichtslos mache, mit der Untersuchung der Gefühle bei Erwachsenen zu beginnen. Er müsse daher beim Säugling anfangen. Hier seien die Probleme einfacher (Watson 1930/1997: 160). Das Ziel, das er konkret mit seinen Untersuchungen über „die Furcht“, die eine „Störung“ sei, bei Kindern verfolgt, ist, dass sie demnächst ihre Säuglingszeit und Kindheit verbringen können, ohne dass sie schreien oder Furchtreaktionen zeigen müssen. Es sei denn, ein Schmerz, ein schädlicher Reiz oder laute Geräusche, die allein diese Reaktionen angemessen auslösen könnten, wären gegeben. Doch: „Da diese unkonditionierten Reize selten vorhanden sind, brauchen Kinder praktisch nie zu schreien“ (Watson 1930/1997: 187). Das Thema Furcht ist für Watson auch deshalb von ganz besonderer Bedeutung, da er meint, gerade hieran deutlich zeigen zu können, wie zutreffend seine Annahmen seien. Es gebe nach Versuchen auch mit Schlangen, Fischen, brennendem Papier, Vögeln und Affen (vgl. Watson 1930/1997: 40) nur zwei Reize, die eine so genannte Furchtreaktion bei einem Kind auslösen würden: ein lautes Geräusch und Haltverlust. Erstaunlich sei aber für den Behavioristen, dass Kinder auch auf andere Dinge mit Furcht reagierten. „Wenn bei der Geburt nur zwei Dinge Furcht hervorrufen, wie werden dann schließlich all die anderen Dinge zu Furchtauslösern?“ (1930/1997: 40). Diese müssten daher in einem früheren Zusammenhang mit gemachten Erfahrungen stehen. Der Sich-Ängstigende habe dann „die Furcht“ gelernt und würde in ähnlichen Situationen aufgrund der gemachten Erfahrungen erneut diese Furchtreaktion, dann aber gänzlich grundlos, zeigen.
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Nachdem Watson sich lange Zeit mit experimentellen Untersuchungen, die an Tieren durchgeführt worden waren, beschäftigt hatte, veröffentlicht er zusammen mit der damaligen Psychologie-Studentin Rosalie Rayner 1920 eine Studie, in der er über konditionierte Auslöser von Furchtreaktionen berichtet, die an einem elf Monate alten Kind, dem „kleinen Albert“, experimentell hervorgerufen wurden. Die erlernten Furchtreaktionen des kleinen Albert sind seitdem für Watson und seine Anhänger ähnlich paradigmatisch für das Entstehen einer Phobie, wie für Freud dessen Studie über den „kleinen Hans“. Allein: (Nicht nur) hinsichtlich der jeweils beschriebenen Ätiologie, unterscheiden sie sich. Beide Autoren allerdings brauchen die Frage nach dem im Sich-Ängstigenden existierenden Urteil über die Situation, in der er sich ängstigt – schon des Alters der beiden kleinen Menschen-Exemplare wegen – nicht zu diskutieren. Zudem herrschte in Hans deshalb nicht sein Verstand, da seiner Angst eigentlich seine unbearbeiteten und ihm unbewussten „Triebkonflikte“ zugrunde liegen. Und für Watson ist die Frage nach einem das Verhalten regulierenden Bewusstsein, wie aufgezeigt, ohnehin fremd; es sei denn, es lasse sich selbst ebenfalls als ein beobachtbares und gesetzmäßiges Verhalten fassen. Watson benutzte also zum „Aufbau eines konditionierten Reflexes“ eine Eisenstange (bevorzugt eine Stange mit 2,5 cm Durchmesser und 90 cm in der Länge) auf die er laut mit einem Hammer hinter dem Kopf des elf Monate alten Albert einschlug. Die Furchtreaktion – und nicht vielleicht eine Furchtreaktion, nämlich jene des kleinen Albert – sei dann unmittelbar hervorgerufen worden. In dem Augenblick, da dem Kind wiederholt ein Kaninchen gezeigt wurde, mit dem es zuvor noch unbehelligt spielen durfte, und es wieder danach greifen wollte, schlug Watson hinter dessen Kopf erneut auf die Eisenstange. Nach einigen, auch variierten, Wiederholungen dieses Experiments zeigte sich eine neue bedeutende Veränderung. Das Tier alleine rief nämlich nun dieselbe Furchtreaktion hervor wie der Schlag auf die Eisenstange. Dies bezeichnet Watson als eine konditionierte emotionale Reaktion, als eine Form des konditionierten Reflexes. In der Folge könne auch „die Furcht“ eines Kindes vor einem Hund auf einer naturwissenschaftlichen Basis erklärt werden, ohne dafür auf bewusst verarbeitete Informationen und Kalkulationen im Sich-Fürchtenden oder auf eine Vererbungstheorie zurückgreifen zu müssen (vgl. Watson 1930/1997: 172). Eine andere Möglichkeit, dieses Experiment und seine Ergebnisse zu interpretieren, läge in der Annahme, dass der „kleine Albert“ vielleicht deshalb so reagierte, wie er es tat, weil er noch nicht über eine Einsicht verfügte, festzustellen, was genau um ihn herum geschah. Er gab keine Antwort auf die Frage: Wer macht wann, was und zu welchem Zweck mit mir? Zumindest ist von Seiten Watsons keine solche festgehalten. Und es spricht auch einiges für die Annahme, dass einem elf Monate alten Kleinkind dies auch nicht möglich ist. Genauso
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wenig war ihm eine Antwort auf die Frage möglich, ob ihn nicht vielleicht tatsächlich doch das Kaninchen selbst gefährde. Dazu kommt erschwerend, dass ihm die Möglichkeit, sich dieser Situation zu entziehen und das Experiment von sich aus abzubrechen, nicht zur Verfügung stand. Die Annahme aber, dass die Ergebnisse maßgeblich die Folge eines unangemessenen – oder wohl besser: eines nicht stattgefundenen – Nachdenkens über die Situation sein könnten, stand Watson nicht zur Verfügung. Sie hätte im Widerspruch gestanden zu seiner Behauptung, dass hiermit der Beweis erbracht worden sei, dass Furchtreaktionen, die eine „Störung“ seien, schlicht erlernt seien und dass diese Behauptung unabhängig vom Alter und unabhängig von den Einsichten und Urteilen der jeweils betroffenen Person über die soziale Situation, in der sie sich fürchtet, gelte. 5.5.2 Zum Begriff der „operanten Konditionierung“ bei Burrhus Frederic Skinner und dessen Nicht-Bezug zu einem Willen Der Behaviorismus kennt noch ein zweites Modell zur Erklärung spezifischer Verhaltensformung, die „operante Konditionierung“. Beide Modelle finden sich auch in aktueller, verhaltenstherapeutisch ausgerichteter, Literatur wieder. Hierin wird gerade in Bezug auf „Angststörungen“ – und dabei wiederum vor allem in Bezug auf „spezifische Phobien“ – das Modell der „klassischen Konditionierung“ zwecks Erklärung dieser „Störungen“ zugrunde gelegt. Ausführungen vor dem Hintergrund „operanter Konditionierung“ hingegen finden sich vor allem in den vorgeschlagenen Lösungen gegen solchermaßen als gelernt behauptete „Angststörungen“ wieder. Während mittels der klassischen Konditionierung weitestgehend auf ein vorhandenes, oder, wie eben gezeigt, auf ein als angeboren behauptetes Verhaltensrepertoire aufgebaut wird, soll mittels des Modells der „operanten Konditionierung“ erklärt werden können, wie es zur Ausbildung neuer Verhaltensmuster kommt. Burrhus Frederic Skinner, ein Nachfolger Watsons, führt diesen Betriff ein (vgl. Skinner 1978). Hiernach wird ein Zusammenhang hergestellt zwischen einer Handlung und einer darauf folgenden Konsequenz. Ausgehend von der Annahme, dass Belohnung gewünschtes Verhalten „positiv verstärke“ und Bestrafung unerwünschtes Verhalten abschwäche, soll dergestalt der angestrebte Lernerfolg erzielt werden. An diesem Modell kann auffallen, dass die eben noch behauptete zeitliche Abfolge von Ursache und Wirkung, die der klassischen Konditionierung unterliegt, umgedreht wird. Und das, ohne dass eine Begründung dafür vorläge, warum nun plötzlich beides möglich sein soll. Während nämlich bezogen auf die klassische Konditionierung angenommen wird, dass ein Reiz eine zukünftige Reaktion auszulösen imstande sei, ohne dass der Reiz selbst wiederum darge-
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reicht werden müsse, soll der Lernende im Sinne der „operanten Konditionierung“ plötzlich eines von ihm erst in der Zukunft zu erwartenden Reizes wegen sein Verhalten in der Gegenwart ändern. Es soll nun die angekündigte Belohnung sein, derentwegen der Lernende im Jetzt ein gewünschtes Verhalten hervorbringt. Gemeinsam ist beiden Modellen, dass von einem im Lernenden stattfindenden (antizipatorisch-)kalkulierenden Bezug auf das, was ihn erwartet (operante Konditionierung), bzw. auf das, was er erfuhr (klassische Konditionierung), nicht ausgegangen wird. Beide Male ist der Lernerfolg lediglich ein Ergebnis einer von außen zu kontrollierenden Zuführung bestimmter ursächlicher Reize (einmal in der Vergangenheit, einmal in der Zukunft), auf die hin eine Reaktion erfolgen soll. Die zentrale Annahme, sowohl von Skinner als auch von Watson, besteht also darin, dass „der Mensch“ gemäß eines Reiz-Reaktions-Modells funktioniert. Das heißt, sein Verhalten ist unabhängig von seinem Willen durch die Anordnung entsprechender Stimuli in die erwünschte Richtung zu steuern möglich. Die behavioristische Verhaltensforschung verwandelt den Mensch somit, theoretisch, in eine Art „Reiz-Reaktions-Bündel“, dem mittels entsprechender Konditionierung ein erwünschtes Verhalten zu entlocken sein soll. Der Wille gilt beiden als ein Störfaktor in der Verwirklichung ihres erkenntnisleitenden Interesses und wird daher wegdefiniert. So schreibt Skinner hierzu: „Der Einwand gegen innere Zustände besteht nicht darin, dass diese etwa nicht existieren, sondern darin, dass sie für eine funktionale Analyse nicht relevant sind“ (Skinner 1973: 41). Die Annahme eines freien Willens würde, wie am Beispiel des Albert-Experiments bereits gezeigt, die postulierte gesetzmäßige Determiniertheit des Handelns untergraben und die gewünschte Verhaltensprognose und -kontrolle unmöglich machen. Denn, so Skinner: „Wir können die Methoden der Wissenschaft nicht auf einen Gegenstand anwenden, von dem anzunehmen ist, dass er sich willkürlich verhält“ (Skinner 1973: 16). Diese eigentümliche Vorgehensweise kann verstanden werden vor allem vor dem Hintergrund des auf gesellschaftliche Verhältnisse bezogenen Ziels, das beide anstreben. Dieses liegt für Watson darin, dass der Behaviorist glaube, dass „seine Wissenschaft eine Grundlage für die Ordnung und Kontrolle der Gesellschaft ist, und darum hofft er, daß die Soziologie seine Prinzipien übernehmen und ihre Probleme konkreter als zuvor durchdenken wird“ (Watson 1997: 72).
Etwas Ähnliches drückt auch Skinner aus, wenn er feststellt, dass die Wissenschaft nicht nur beschreibe, sondern auch vorhersage, dass sie sich nicht bloß mit der Vergangenheit, sondern auch mit der Zukunft befasse. Und der Zusammenhang hierbei sei eben dieser: „In dem Maß, wie relevante Bedingungen geändert oder, anders ausgedrückt, kontrolliert werden können, kann auch die Zukunft
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kontrolliert und gesteuert werden“ (Skinner 1973: 16). Die Behauptung, dass menschliches Verhalten durch äußere Einflüsse gesteuert werden könne, findet also ihr passendes Gegenstück in ihrem gemeinsamen Interesse nach gesellschaftlicher Kontrolle. Für Watson und Skinner steht fest, dass Verhalten die abhängige Variable, also die Wirkung für eine zu bestimmende Ursache sei. Die unabhängigen Variablen seien die äußeren Bedingungen. Und Verhalten sei eine Funktion von diesen. Ein solcherart bestimmtes Ursache-Wirkungsverhältnis aber ist von einer ähnlich tautologischen Qualität wie die Annahme eines Aggressionstriebs bei Freud. Wenn dem so wäre, wie und nach welchen Maßstäben sollte die „Black Box“ entscheiden, wie sie auf welchen Reiz reagiert? Ein mögliches gewolltes und zu begründendes Interesse existiert, theoretisch, ja nicht – jedenfalls nicht von einem Standpunkt, der die Annahme einer Identität menschlichen und tierischen Verhaltens beinhaltet. 5.5.3 Zur Kritik am Behaviorismus Dass dies ungerechtfertigt ist, nämlich von einem Verhalten von Tieren auf ein Verhalten von Menschen zu schließen, war und ist kritischen Autoren regelmäßig ein zentraler Ausgangspunkt ihrer Auseinandersetzung mit dem Behaviorismus (vgl. z.B. auch Chomsky 1970). Klaus Jürgen Bruder, Professor für Psychoanalyse und Psychologie in Berlin, erörtert in seiner Arbeit über „Psychologie ohne Bewusstsein“, dass der Behaviorismus vom Begriff der Konditionierung her verstanden werden könne (vgl. Bruder 1982). An die Stelle einer Psychologie, die von einem Standpunkt eines sich reflektierenden Subjekts her gedacht worden sei, trete nun eine Technologie vom Standpunkt eines „behavior shapers“, eines „social engineers“. Dadurch, dass sich Watson nicht begnügt habe, diese konkrete Verhaltensänderung mit dieser konkreten Bedingung zu erklären, habe er generalisiert auf „Verhalten“ überhaupt, und meinte, in der Konditionierung ein „Prinzip des Lernens“ selbst gefunden zu haben. In der Ausdehnung dieses Geltungsanspruchs aber, so Bruder, läge der Fehler des Behaviorismus. Die Differenz zwischen dem konkreten Besonderen und dem Allgemeinen würde durch eine bestimmte Abstraktion übersprungen. Abstrahiert würde von den besonderen, durch den Experimentator hergestellten Bedingungen, auf die die Versuchsperson keinen Einfluss habe, als auch auf von den Besonderheiten der Versuchsperson und ihrer eigenen Lebensgeschichte. In dieser Abstraktion aber läge auch der praktische Nutzen, diese Theorie übergangslos auf gesellschaftliche Situationen (der hergestellten und durchgesetzten Ungleichheit) zu übertragen, ohne eben diese Verhältnisse von Unterordnung und Abhängigkeit selbst thematisieren zu müssen. Bruder interpretiert den „Sie-
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geszug“ des Behaviorismus als einen Ausdruck der politischen Resignation der späten 20er Jahre, des konservativen „backlashs“. In einer Zeit also, in der es auf der Grundlage der Trennung von Bewusstsein und Verhalten möglich geworden sei, ein Nachdenken über ein womöglich „falsches Bewusstsein“ durch eine bestimmte Sozial-Technologie zugunsten der Reproduktion herrschender Verhältnisse zu ersetzen (vgl. Bruder 1982: 144 ff.). Dieser Kern behavioristischen Denkens (Kontrolle von Verhalten) sei stets erhalten geblieben und tief ins Alltagsdenken eingedrungen. Das Kontrolldenken sei allgemein akzeptiert und auch noch persönliche Probleme würden in der Sprache von Kontroll-Technikern formuliert. Und so kommt er schließlich zu dem Schluss: „Bis in unseren Alltag hinein denken und handeln wir ‚behavioristisch’, von ‚oben’ herab und oberflächlich, von ‚außen’, distanziert, ohne Anteilnahme und Beteiligung, entfremdet, gewaltförmig“ (Bruder 1982: 10). Hierin läge die Wurzel der Faszination einer Theorie, die ein kollektives Selbstverständnis in Bezug auf Kontrolle und Disziplinierung nicht zum Ausdruck zu bringen imstande sei, sondern die die entsprechenden Techniken auch noch euphemistisch überhöhe in der Therapie als Hilfe. Der Behaviorismus sei dadurch über die Grenzen einer Fachwissenschaft hinaus – Bruder knüpft hierbei an eine Formulierung Marcuses an, der in dieser Arbeit gefolgt werden kann – das akademische Gegenstück zum gesellschaftlich geforderten Verhalten, die Ideologie der modernen Industriegesellschaft (vgl. Marcuse 1967: 33 f.). Es soll im Weiteren nicht um die Frage gehen, ob der Totalität der Behauptung Bruders von der allgemeinen Teilnahmslosigkeit der Menschen gefolgt werden kann und wie er sie eigentlich begründet. Vor dem Hintergrund der vorliegenden Ausführungen kann allerdings die Bezugnahme auf die Reflexivität und die Subjektorientierung der „alten“ Psychologie, im Dienste einer „wirklichen“ Autonomie der Betroffenen, wie er sie vornimmt, zumindest relativiert werden. Denn es konnte bereits aufgezeigt werden, dass es einen erheblichen Unterschied macht, auf was genau und innerhalb welches Interpretationsschemas genau sich denn das Subjekt in seinem Handeln und Wollen reflektieren soll. Und andererseits bedarf es noch einer zweiten Relativierung. Denn die Übernahme jener von behavioristischen Theorien ausgehenden Urteile über die Welt und über das eigene Fortkommen in dieser tragen selbst zu einer bestimmten, durchaus „selbstreflexiven“ Konstitution von „Subjektivität“ bei. Gerade wenn angenommen wird, dass handelnde Personen nicht als „Reaktionsdeppen“ konzipiert werden können, dann muss davon ausgegangen werden, dass ein strategischer und bewusster Umgang auch mit einem solchen, ein Bewusstsein leugnendes Wissen stattfindet oder zumindest stattfinden kann. Die Annahme Bruders, dass im Alltag „oberflächlich“ und „ohne Anteilnahme“ gehandelt werde, kann dann ebenso wie
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dieses Wissen selbst als jeweils unangemessene Beschreibungen sozialen Handelns zurückgewiesen werden. Watsons und später auch Skinners Kampf gegen Bewusstsein und Introspektion, gerade in Hinblick auf ihr Wissen über „die Furcht“, die eine „Störung“ sei, kann als eine konsequente Fortführung jener Aspekte bereits vorhandenen psychologischen Wissens verstanden werden, die ebenfalls auf ein NichtVerstehen je konkreter Interessen und Situationen abzielte. So betrachtet stellt der Behaviorismus keinen Bruch mit der alten Psychologie dar, sondern setzt vielmehr, in Hinblick auf einen besonderen Aspekt, einen eigenen Schlusspunkt. Mit Watson entsteht ein Wissen über „die Angst“, innerhalb dessen die Behauptung der Notwendigkeit eines Verstehens einzelner konkreter menschlicher Handlungen und eben auch je konkreter Zustände einzelner Menschen und ihrer jeweiligen Situationen verworfen wird. An die Stelle von Verstehen treten allgemeine, verdinglichende und auch ideologische Erklärungen „menschlichen Verhaltens“. Was eine solche Theorie für eine Reproduktion herrschender Verhältnisse bedeutet, das versucht Albert Krölls deutlich zu machen, wenn er in einer Kritik am Behaviorismus formuliert: „So gesehen ist die Unterwerfung unter die Imperative der Staatsgewalt letztlich das Ergebnis einer Verstärkerauswahl der Bürger. Die Staatsgewalt, das Erziehungswesen, die Berufswelt, Familie und Kultur etc., deren verhaltenssteuernde Leistungen Skinner einer kritischen Würdigung unterzieht, bilden im Prinzip überaus hilfreiche Umweltreize, die das ReizReaktionsbündel Mensch einfach benötigt, um adäquat sozialkonform reagieren zu können. Insgesamt ist dies eine genial-affirmative Weise, die herrschaftliche Existenz des Staates und der von ihm unterhaltenen Institutionen der Gesellschaft gedanklich um die Ecke zu bringen“ (Krölls 2006: 99).
Im Behaviorismus kann also, im Gegensatz zu Freud, auf die Prämisse eines inneren psychischen Apparates gänzlich verzichtet werden, ohne dass ihre praktische Nützlichkeit dabei verloren ginge. Im Gegenteil: Furchtreaktionen, die eine „Störung“ und „unbegründet“ seien, sind demnach Folgen früherer Lernprozesse, sind angelernte Zustände, die wieder – vor allem mittels therapeutischer Methoden wie Desensibilisierung oder Konfrontationstherapie – „verlernt“ werden können. Im Ergebnis aber bedeutet auch das, ähnlich wie bei Freud, dass der Sich-Ängstigende bzw. der Sich-Fürchtende zuallererst seine eigene Angst bzw. seine Furcht zu bearbeiten hat; dass er also wiederum ein Verhältnis zu sich selbst in einen den gegebenen Umständen entsprechenden angemessenen Zustand zu bringen hat. Ein „Vermeidungsverhalten“ einer betroffenen Person, bezogen auf eine bestimmte, eine Angst auslösende Situation, kann demnach nicht als Ausdruck eines begründeten Un-Willens interpretiert werden. Vielleicht will eine solche Person diese Situation einer „Furcht vor...“ wegen nicht erleben müssen. Son-
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dern ein solches Handeln kann dann, ist es erst einmal als ein „Vermeidungsverhalten“ klassifiziert, als eine „Störung“ verstanden werden. Und gegen eine in der Person liegende „Störung“ hilft, und das kann zunächst erstaunen, vor allem dann doch wieder der Wille dieser Person – zum Zwecke der Anpassung an das, was sie eben noch ängstigte. Dass der Mensch ein Wesen sei, das ein Verhältnis zu sich selbst einnimmt, das ist die regelmäßig wiederkehrende, gemeinsame Lehre psychologischen Nachdenkens, nicht nur in Bezug auf Angst. Aus der Bearbeitung, Nichtbearbeitung und/oder der falschen Bearbeitung dieses Verhältnisses sollen demnach zuallererst die Probleme, aber auch die Chancen, mit denen es ein Mensch im Laufe eines durchschnittlichen Lebens zu tun bekommt, entstehen. Ein impliziter Nutzen des Wissens des Behaviorismus bei Watson und Skinner ist nicht Aufklärung über innere psychische Prozesse, weniger noch Aufklärung über die den Menschen umgebenden sozialen Verhältnisse. Der Nutzen liegt stattdessen im dergestalt legitimierten Versuch der Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit einer Person in den und an die herrschenden Verhältnisse(n). Ein Wissen um Formen von Widerständigkeit gegen gesellschaftliche Zumutungen bleibt somit in diesem Konzept systematisch ausgeschlossen. Denn das, was der SichÄngstigende soll, das sei eigentlich das – diese Lehre lässt sich diesem Wissen entnehmen –, was seiner „Natur“, seinen „Anlagen“ am ehesten entspricht. „Die Furcht“, die eine „Störung“ sei, ist im Behaviorismus demnach 1. allgemein. Die Gesetze, nach denen sie entsteht, sind allgemein und objektiv gültig. „Die Furcht“ ist 2. selbstisch. „Die Furcht“, die eine „Störung“ sei, ist demnach ein ausschließliches Problem der Person in ihrem Verhältnis zu sich selbst. Sie ist 3. unbestimmt. Der Furchtreaktion selbst kommt keine reale Begründetheit mehr zu. Und „die Furcht“ verweist 4. auf die herrschenden Verhältnisse. Denn die Kontrolle gesellschaftlicher Verhältnisse ist der Grund, weswegen in dieser Weise über sie nachgedacht wird. Und zum anderen geht mit diesem Wissen die Annahme einher, dass in den herrschenden Verhältnissen selbst keine Quellen realer Gefahr für den Sich-Fürchtenden zu finden sind. Insofern verweist „die Furcht“ auch implizit affirmativ auf genau diese.
5.6 „Die Angst“, die eine „Störung“ sei, im DSM-IV Das DSM-IV von 1994 ist die vierte Ausgabe eines „Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen“ der American Psychiatric Association (APA 1996). Es stellt ein kategoriales Klassifikationssystem dar, das „psychische Störungen“ anhand von Kriterienlisten mit definierenden Merkmalen in Typen aufgliedert. Adressaten des von Saß, Wittchen und Zaudig in Deutschland
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herausgegebenen DSM-IV sind vor allem Beschäftigte in Kliniken, in der Forschung und in der Lehre. Angaben zu den US-amerikanischen Autoren dieses Manuals finden sich erst im zweiten Anhang (vgl. APA 1996: 933 ff.). Dort sind namentlich die Mitglieder einer „Task Force on DSM-IV“ aufgeführt. Diese Task Force setzte sich zusammen aus einer 37 Personen zählenden Gruppe von Medizinern, mit einer „Chairperson“ (Allen Frances), einer „Vice-Chairperson“ (Harold Alan Pincus) und einem für Redaktion und Kriterien Verantwortlichen (Michael B. First) an der Spitze. Die Mitglieder dieser Gruppe teilten sich 13 Arbeitsgruppen zu, in denen mit jeweils fünf bis sechzehn Personen (einschließlich weiterer namentlich genannter Co-Autoren) die einzelnen Kapitel erstellt wurden. Diese späte Benennung der Autoren kann einen sicher beabsichtigten Eindruck beim Leser erwecken, er hätte es hier mit einer allgemein gültigen Position und einem unabhängigen „wahren“ Inhalt zu tun. Er wird in der Folge möglicherweise annehmen, es handele sich bei den dargestellten Kategorien „psychischer Störungen“ um Beschreibungen von Eigenschaften betroffener Personen. Doch stattdessen ist auch eine andere Beurteilung möglich. Das DSMIV kann vor einem etikettierungstheoretischen Hintergrund als ein interessiert und machtvoll durchgesetzter Versuch einer weltweiten säkularen Normierung menschlicher Verhaltensweisen beschrieben werden. Und zwar in Bezug darauf, welche Verhaltensweisen als „gestört“, also als „richtig“, und welche Verhaltensweisen als „nicht gestört“, also als „falsch“ gelten sollen. Möglich wird dies mittels der Konstruktion von kriteriengestützten Etiketten für „abweichendes“ Verhalten und einer damit verbundenen Aufforderung an die im Gesundheitswesen Beschäftigten, sich hiernach zu richten und die dort enthaltenen Aufforderungen praktisch um- und durchzusetzen. Im Vergleich zu Vorgängerklassifikationen zeichnet sich das DSM-IV durch eine erhebliche Zunahme an Kategorien aus. So wurden beispielsweise bei einer Volkszählung in den USA von 1840 lediglich sieben Kategorien psychischer Erkrankung unterschieden. Im DSM-IV sind es bereits 395. Grundlage für die Erarbeitung dieser Kategorien waren 150 Literaturreviews, 40 Datenreanalysen und 12 Feldstudien mit insgesamt 6.000 Patienten. Im Ergebnis entstand eine Nomenklatur „psychischer Störungen“ mit dem Anspruch auf Gültigkeit zumindest in den USA. Allerdings stehen die Autoren des DSM-IV, trotz der weitgehenden Übereinstimmung hinsichtlich der jeweils aufgeführten Bezeichnungen „psychischer Störungen“, auch in Konkurrenz zu jenen Autoren des ICD-10: das zweite und weltweit Gültigkeit beanspruchende Klassifikationssystem, das von der Weltgesundheitsorganisation herausgegeben wird, und so ganz offiziell das offizielle System darstellt. Seit 1998 ist die ICD-10 für die Dokumentation „psychischer Störungen“ in Deutschland vorgeschrieben. Das Konkurrenzproblem wird unter anderem dadurch zu lösen versucht, dass den jeweiligen Kategorien
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im DSM-IV auch die Kennziffer aus der ICD-10 beigefügt ist. So kann der praktisch Tätige das eine System nutzen und das Andere als benutzt behaupten. Die Konkurrenz der beiden Systeme kann als eine um die Definitionshoheit in Sachen „psychischer Krankheit“ beschrieben werden, die sich vor allem in Formulierungen zeigt, die nur vordergründig von geringem Unterschied sind. Die Autoren der Einleitung zur deutschen Ausgabe, die von einer „engen Abstimmung“ von WHO und APA während des Entstehungsprozesses sprechen, können nicht erklären, warum eine solche enge Abstimmung nicht auch zu einem gemeinsamen Ergebnis führt (vgl. APA XI). Im DSM-IV wird der Geltungsanspruch in Bezug auf die angeführten Kriterien mittels der Begriffe „sind erforderlich“ und „müssen“ sehr deutlich gemacht. Es werden stets streng einzuhaltende Richtlinien postuliert. Im ICD-10 hingegen wurden vorsichtiger, mit Hilfe von „normalerweise“ oder „sollten vorhanden sein“, eher Leitlinien formuliert. Innerhalb derer soll sich ein Therapeut mit seinen Diagnosen bewegen können. Hierin liegt ein Grund, weswegen das DSM-IV als für die Forschung, die ICD-10 als für die Praxis relevanter gilt: so ermöglichen präzisere Vorgaben die bessere Vergleichbarkeit von Studien, während weniger präzisere Vorgaben dem Praktiker mehr Autonomie bei seiner Diagnosenerstellung gewähren. Ein zweiter wesentlicher Unterschied ist die im DSM-IV gegebene Koppelung der Vergabe des Etiketts „gestört“ bzw. – der dort anzufindenden Sprachregelung wegen angemessener – des Etiketts: „Mensch mit einer psychischen Störung“ an die Feststellung einer Nicht-Anpassung an herrschende Verhältnisse. Diese Koppelung findet sich in der nahezu jeder „Störung“ vorangestellten Formulierung als auch im Vorwort der US-amerikanischen Originalausgabe: „Das Störungsbild verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen“ (vgl. APA 1996). Und im Vorwort heißt es hierzu ergänzend: „In DSM-IV wird jede psychische Störung als ein klinisch bedeutsames Verhaltens- oder psychisches Syndrom oder Muster aufgefaßt, das bei einer Person auftritt und das mit momentanem Leiden (z.B. einem schmerzhaften Symptom), oder einer Beeinträchtigung (z.B. Einschränkung in einem oder in mehreren wichtigen Funktionsbereichen), oder mit einem stark erhöhten Risiko einhergeht, zu sterben, Schmerz, Beeinträchtigung, oder einen tiefgreifenden Verlust an Freiheit zu erleiden. Zusätzlich darf dieses Syndrom oder Muster nicht nur auf eine verständliche und kulturell sanktionierte Reaktion auf ein bestimmtes Ereignis sein, wie z.B. den Tod eines geliebten Menschen. Unabhängig von dem ursprünglichen Auslöser muß gegenwärtig eine verhaltensmäßige, psychische oder biologische Funktionsstörung bei der Person zu beobachten sein. Weder normalabweichendes Verhalten (z.B. politischer, religiöser oder sexueller Art) noch Konflikte des einzelnen mit der Gesellschaft sind psychische Störungen, solange die Abweichung oder der Konflikt kein Symptom einer oben beschriebenen Funktionsstörung bei der betroffenen Person darstellt“ (APA 1996: 944).
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Ohne eine „Funktionsstörung“ in Beruf oder Freizeit ist eine „Störung“ somit nur schwer zu haben, mit einer solchen hingegen sehr wohl. Denn „erhebliches Leid“ alleine gilt fast immer als ein nachgeordnetes, oft letztrangiges Kriterium einer psychischen „Störung“. Eine Person mit einer großen Angst vor Schlangen etwa bekäme erst dann das Etikett „Mensch mit einer psychischen Störung“, wenn Schlangen in seinem „normalen“ Umfeld häufig vorkämen und diese ihn dann in seiner „Funktionsfähigkeit“ dort stören würden. Allein: Dass er in einem Urlaub aus diesem Grund eine heftige Angstattacke bekommt, ist kein Anlass, diese „Störung“ zu diagnostizieren – selbst wenn gesichert wäre, dass dies in einem ähnlichen Urlaub immer wieder auftreten würde (vgl. APA 1996: 467). Das ist interessant und verweist zunächst scheinbar auf eine Einsicht, dass das Etikett „psychische Störung“ tatsächlich ein bestimmtes und zu rekonstruierendes mögliches Verhältnis zwischen Etikettiertem, Etikettierenden und der jeweiligen Situation beschreibt – also keine Eigenschaft eines Menschen. Andererseits aber muss es hiernach eben doch eine „Eigenschaft“ des Menschen sein, sich in seine jeweilig vorgefundene individuelle Welt passend hineinzufinden. Die Anforderung an den jeweils eigenen Willen, sich mit den Erfordernissen der Umwelt in Einklang zu bringen, scheint hier eine Art Naturgegebenheit; und ist doch normativ und bewusst gesetzt. Gelingt diese Anpassung nicht, so weist der Betreffende eben ein Defizit auf und kann dann auch erfolgreich eine „Störung“ zugeschrieben bekommen. Ebenso findet ein „Konflikt mit der Gesellschaft“ dort seine als „nicht gestört“ zu beschreibenden Grenzen, wo die betreffende Person sich in ihrem Konflikt nicht mehr „funktionsgemäß“ verhält. An den Inhalten einer Handlung entscheidet sich demnach die Frage, ob diese als „gestört“ oder als „nicht gestört“ zu klassifizieren sei nicht, an der Frage nach der Einordnung dieser Handlung vor dem Hintergrund als gültig erachteter gesellschaftlicher Normen und Regeln aber immer. Eine solche, allein auf die Symptome und die herrschenden Normen abzielende Definition einer „psychischen Störung“ verweist darüber hinaus noch auf einen weiteren interessanten Aspekt eines solchen Katalogs. Das DSM-IV soll schulenübergreifend verbindlich sein; es soll gleichermaßen für psychodynamisch wie für verhaltenstherapeutisch als auch für systemisch arbeitende Therapeuten, für Sozialarbeiter, Krankenschwestern, Berater und andere Beschäftigte im Gesundheitswesen einsetzbar sein. Entsprechend waren an der Erstellung interdisziplinär besetzte Fachgruppen beteiligt. Eine Orientierung an der Ursache oder der Therapie einer „psychischen Störung“ jedenfalls – als zwei weitere Merkmale, nach denen die Kategorien sortiert werden könnten – ist aus diesem Grund nicht möglich. Ein dergestalt organisiertes, allgemeines Kategoriensystem würde keine allgemeine Anerkennung finden können. Schließlich unterscheiden sich die verschiedenen Psychologieschulen genau darin: nämlich in einer jeweils unterschiedlichen Annahme
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dessen, was die exakte Ätiologie und was die angemessene Behandlung einer bestimmten „Störung“ ist. Und tatsächlich werden im DSM-IV zwar zahlreiche Symptome aufgelistet, die eine jeweilige „Störung“ charakterisieren sollen, aber Aussagen über Ursachen finden sich nur vereinzelt. Dort, wo zugehörige Laborbefunde oder Statistiken eindeutige und biologische bzw., der entsprechenden Korrelation nach, fundierte Rückschlüsse auf Ursachen oder „prädisponierende Faktoren“ zulassen, wird dies auch notiert. Auf ersteres bezogen ist solch ein Eintrag unmittelbar evident beispielsweise im Bereich der „Substanzindizierten Störungen“. Therapiemöglichkeiten werden hingegen an keiner Stelle erörtert. Auf die Unterschiede, vor denen sich ein solches Diagnosemanual bewähren muss, verweist auch, dass im DSM-I von 1952 bspw. noch regelmäßig der Begriff „Reaktion“ verwendet wurde. Das war ein Verweis auf eine dahinterliegende psychobiologische Annahme der Verfasser, dass „psychische Störungen“ stets die „Reaktion“ eines Individuums auf psychische, soziale und biologische Faktoren seien. Bereits im DSM-II setzten sich dann, so darf vermutet werden, wieder Vertreter nicht-biologisch orientierter Schulen zumindest soweit durch, dass der Begriff „Reaktion“ wieder entfernt wurde (vgl. hierzu APA 1996: 939). Entsprechend dieser allgemeinen Charakteristika des DSM-IV und vor diesem Hintergrund findet auch „die Angst“, die eine Störung sei, einen entsprechenden Platz (APA 1996: 454 ff.). Die mit einer solchen Standardisierung „der Angst“ einhergehende Bedeutung für einen Fortschritt der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Thema darf nicht unterschätzt werden. Essau bringt dies in ihrem Buch „Angst bei Kindern und Jugendlichen“ folgendermaßen auf den Punkt: „Diese Fortschritte wurden durch zwei Entwicklungen ermöglicht: die Einführung des DSM-III (APA 1980) und seiner nachfolgenden Fassungen, die den diagnostischen Rahmen für die Untersuchung von Angststörungen geschaffen haben; und die Entwicklung diagnostischer Interviewschemata, durch die es möglich wurde, Angst und andere Störungen [Hervorhebung M.B.] systematisch zu erfassen, wie auch Ergebnisse verschiedener Studien miteinander zu vergleichen. Seit der Einführung des DSM-III (APA 1980) liegt eine explizite und klare Beschreibung der diagnostischen Kriterien von Angststörungen in Hinblick auf ihre Symptome, Dauer und Begleitmerkmale vor“ (Essau 2003: 266).
Dass Essau hier „Angst“ und „Störung“ synonym verwendet, ist nicht Folge eines Korrekturfehlers. Diese Gleichsetzung verweist darauf, dass es einmal mehr auf die möglichen Inhalte einer Angst, wenn der Sich-Ängstigende im Moment des Auftretens nicht sofort und begründet auf eine äußere, als objektiv anerkannte Gefahr verweist, zur Klärung des Phänomens auch in diesem Wissen nicht mehr ankommt; und dass dann von „der Angst“ als eben einer „Störung“ gesprochen werden kann. Unter der Überschrift „Angststörungen“ wird im DSM-IV zunächst eine Differenzierung dessen vorgenommen, was alles eine
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„Angststörung“ sein soll (vgl. APA 1996: 454). Eine allgemeine Erörterung eines Unterschieds zwischen einer „normalen“ Angst, also etwa einer „Signalangst“, und einer „nicht normalen“, den Sich-Ängstigenden „funktionsunfähig“ machenden Angst, findet nicht statt. Das entspricht der Ausrichtung dieses Buches, ein Klassifikationssystem von „Störungen“ und nicht von „Normalitäten“ zu sein. Es gebe hiernach also: „Panikstörung ohne Agoraphobie“, „Panikstörung mit Agoraphobie“, „Agoraphobie ohne Panikstörung in der Vorgeschichte“, „Spezifische Phobie“, „Soziale Phobie“, „Zwangsstörung“, „Posttraumatische Belastungsstörung“, „Akute Belastungsstörung“, „Generalisierte Angststörung“, „Angststörung Aufgrund eines Medizinischen Krankheitsfaktors“, „Substanzindizierte Angststörung“ und die „Nicht Näher Bezeichnete Angststörung“. Diese einzelnen Ängste, die eine „Störung“ seien, werden im Folgenden, der Vollständigkeit halber und um einen Eindruck von der im DSM-IV vorgenommenen Ausdifferenzierung zu erhalten, kurz erläutert. 1. Eine „Panikattacke“ bezeichne einen abgrenzbaren Zeitraum, in dem starke Besorgnis, Angstgefühle oder Schrecken plötzlich einsetze und häufig mit dem Gefühl drohenden Unheils einhergehe. Während dieser Attacken treten demnach Symptome auf, wie Kurzatmigkeit, Palpitationen, Brustschmerzen oder körperliches Unbehagen, Erstickungsgefühle oder Atemnot und eine Angst, „verrückt zu werden“ oder die Kontrolle zu verlieren. 2. Eine „Agoraphobie“ bezeichne „die Angst“ vor oder das Vermeiden von Plätzen oder Situationen, in denen eine Flucht schwer möglich oder peinlich wäre, oder in denen im Falle einer Panikattacke oder panikartiger Symptome keine Hilfe zu erwarten wäre. 3. Eine „Spezifische Phobie“ beschreibe eine klinisch bedeutsame Angst, die durch die Konfrontation mit einem bestimmten gefürchteten Objekt oder einer bestimmten Situation ausgelöst werde, und häufig zu Vermeidungsverhalten führe. 4. Eine „Soziale Phobie“ bezeichne eine klinisch bedeutsame Angst, die durch die Konfrontation mit bestimmten Arten sozialer oder Leistungssituationen ausgelöst werde und oft zu Vermeidungsverhalten führe. 5. Eine „Zwangsstörung“ sei durch Zwangsgedanken gekennzeichnet (die zu deutlicher Angst oder Unbehagen führe) und/oder Zwangshandlungen (die dazu dienen, „die Angst“ zu neutralisieren). 6. Eine „Posttraumatische Belastungsstörung“ sei durch das Wiedererleben einer sehr traumatischen Erfahrung gekennzeichnet. Sie gehe einher mit Symptomen eines erhöhten Arousals und der Vermeidung von Reizen, die mit dem Trauma assoziiert seien.
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7. Eine „akute Belastungsstörung“ sei durch Symptome gekennzeichnet, die der „Posttraumatischen Belastungsstörung“ gleichen würden und die als eine direkte Folgewirkung einer extrem traumatischen Erfahrung auftrete. 8. Eine „generalisierte Angst“ sei durch eine mindestens sechs Monate anhaltende ausgeprägte Angst und Besorgnis charakterisiert. 9. Eine „Angststörung Aufgrund eines Medizinischen Krankheitsfaktors“ sei durch vorherrschende Angstsymptome gekennzeichnet, die als eine direkte körperliche Folge eines medizinischen Krankheitsfaktors angesehen werde. 10. Eine „Substanzinduzierte Angststörung“ sei durch ausgeprägte Angstsymptome gekennzeichnet, die als direkte körperliche Folgen einer Droge oder eines Medikaments angesehen werde. 11. Eine „Nicht Näher bezeichnete Störung“ erlaube die Codierung von „Störungen“, bei denen Angst oder phobisches Verhalten ausgeprägt sei, die jedoch die Kriterien für eine bestimmte „Angststörung“ nicht erfüllten. 12. Eine „Störung mit Trennungsangst“ sei gekennzeichnet durch Angst in Verbindung mit der Trennung von engen Bezugspersonen. Diese begänne normalerweise in der Kindheit. 13. Schließlich gäbe es noch „Phobische Vermeidung“, die auf genitale Sexualkontakte mit einem Sexualpartner beschränkt sei. Es fällt bei der Lektüre dieser Erklärungen auf, dass das, was erklärt werden soll, zumeist mit dem erklärt wird, was dem zu erklärenden Begriff selbst bereits entnommen werden kann. Man könnte daher Varianten von „Angststörungen“, ohne dabei wirklich wesentliche Charakteristiken zu unterschlagen, zum Beispiel folgendermaßen zusammenfassend referieren: Eine „Störung“ mit Trennungsangst ist eine Angst vor einer Trennung. Oder: Eine spezifische Phobie ist eine Phobie in Bezug auf Spezifisches. Oder: Eine soziale Phobie ist eine Angst in sozialen Situationen. Oder, besonders prägnant: Eine „Zwangsstörung“ geht mit Zwangsgedanken und/oder Zwangshandlungen einher. Die Kurzbeschreibungen enthalten also nicht wesentlich mehr und auch keine weitergehenden Informationen, als die zunächst aufgeführten Bezeichnungen der „Störungen“ selbst. Wenn ihnen hier dennoch breiter Raum eingeräumt wurde, geschah dies vor allem aus dem Grund, die oben behauptete „Substanzlosigkeit“ – die unter anderem auch mit dem Verzicht auf eine Darstellung von Ursachen und Therapieformen im DSM-IV einhergeht – zu unterstreichen. Der Zweck einer solchen Liste liegt demnach also vor allem in der Identifizierung und Wiedereinpassung des „Gestörten“, und nicht etwa im Verstehen unterschiedlicher singulärer Lebensgeschichten und -situationen.
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Diesen kurzen Darstellungen der jeweiligen „Angststörungen“ in der Einleitung des Kapitels folgen ausführlichere Beschreibungen. Diese unterscheiden sich in ihrer Beschränkung auf das, was beobachtet werden kann, bzw. werden soll, um eine entsprechende Diagnose stellen zu können, in ihrer jeweiligen Selbstbezüglichkeit von den eben dargestellten kurzen Beschreibungen allerdings nicht wesentlich. Die Darstellung dreier „Angststörungen“ wird im Folgenden exemplarisch für diese Form der Beschäftigung mit „der Angst“, die eine „Störung“ sei, vorgenommen. Dies sind: eine „spezifische Phobie“ und eine „soziale Phobie“ sowie – da für den weiteren Verlauf der Arbeit noch von besonderem Interesse – eine „Störung mit Trennungsangst“. Die Gliederung, innerhalb derer die Darstellung einer „Angststörung“ erfolgt, ist stets die gleiche: zunächst werden „Diagnostische Merkmale“ beschrieben, dann folgen „Subtypen“ und „Zugehörige Merkmale und Störungen“. Es folgen „Besondere kulturelle, Alters- und Geschlechtsmerkmale“, dann Darstellungen der jeweiligen „Prävalenz“, des „Verlaufs“ und Hinweise auf „Familiäre Verteilungsmuster“. Unter der Überschrift „Differentialdiagnose“ schließlich wird die „Störung“ gegenüber anderen möglichen „Störungen“ abzugrenzen versucht und es werden Überschneidungen diskutiert. Zu guter Letzt wird die Darstellung einer jeden Kategorie durch einen Informationskasten ergänzt, in dem zusammenfassend noch einmal alle für die Diagnose nötigen Kriterien aufgeführt werden. Im Folgenden werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede der drei genannten Ängste, die eine „Störung“ seien, dargestellt, und es wird auf Besonderheiten aufmerksam gemacht. Für eine Feststellung einer „spezifischen Phobie“ müssen fünf bis sieben Kriterien, für eine „soziale Phobie“ ebenfalls fünf bis sieben, und bei einer „Störung mit Trennungsangst“ zunächst drei von acht, und dann noch einmal vier Kriterien zutreffen. Das jeweils erste Kriterium beinhaltet noch einmal, vor was genau die betreffende Person eine Angst haben soll. Also entweder vor spezifischen Objekten oder vor sozialen- oder Leistungssituationen. Oder sie hat Angst in Anbetracht dessen, dass, entwicklungsgemäß unangemessen, eine Trennung von einer wichtigen Bezugsperson erfolgt oder, dass eine Angst besteht, diese zu verlieren bzw. selbst verloren zu gehen. Weitere Kriterien hierbei sind unter anderem: wiederholte Alpträume und körperliche Beschwerden oder das Unvermögen, alleine sein zu können. Allen drei „Störungen“ gemein ist, dass sie nur dann diagnostiziert werden können, wenn diese jeweiligen Ängste die „normale“ Lebensführung der Person, ihre berufliche (oder schulische) Leistung oder ihre sozialen Aktivitäten oder Beziehungen deutlich einschränken. Das Kriterium „Leiden“ wird bei der „Störung mit Trennungsangst“ zuerst, bei den anderen beiden Ängsten als jeweils letztes, aber immer bloß als ein „mögliches“ Kriterium aufgeführt. Des Weiteren
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ergibt sich der Wegfall von bis zu zwei Kriterien bei der „spezifischen Phobie“ und der „sozialen Phobie“ dadurch, dass in beiden Fällen das Merkmal, dass die Person erkenne, dass die Angst übertrieben oder unbegründet sei, bei Kindern nicht nötig ist. Das zweite optionale Kriterium besteht darin, dass in beiden Fällen die betreffende Person, so sie jünger als 18 Jahre ist, diese „Störung“ mindestens seit sechs Monaten aufweisen muss. Wenn die Person älter als 18 Jahre ist, dann ist die bisherige Dauer nicht von Bedeutung. Bei einer „Störung mit einer Trennungsangst“ kann einer über 18jährigen Person diese „Störung“ nicht mehr zugeschrieben werden; der Beginn muss davor gelegen haben. Aber auch Erwachsene können von dieser „Störung“ betroffen sein, wenn sie sich zum Beispiel nicht oder nur schwer von ihren Kindern oder ihren Ehegatten trennen können. Die Beurteilung der beiden ersten Ängste bei Kindern als „unbegründet“ oder „begründet“ erfolgt letztgültig durch den Diagnosesteller. Es kann das Kind noch so sehr auf einen Grund für die Existenz seiner Angst bestehen und es selbst braucht an dieser Angst auch nicht zu leiden – es muss mit seinen Argumenten nicht ernst genommen werden. Die Diagnose kann gestellt werden. Im Gegenteil: Dass sich das Kind im Falle der „Störung mit Trennungsangst“ vielleicht nicht von seinen Bezugspersonen trennen will, das wissen auch die Autoren dieses Abschnitts. Darauf verweisen Formulierungen wie: „Sind sie von ihren Bezugspersonen getrennt, wollen sie häufig deren Aufenthaltsorte wissen und mit ihnen in Kontakt bleiben (z.B. durch Telefonanrufe)“ (APA 1996: 150), oder auch: „Sie können unwillig sein, oder sich weigern, die Schule zu besuchen, oder ins Zeltlager zu fahren, Freunde zu besuchen und dort zu übernachten, oder Besorgungen zu machen“ (APA 1996: 150). Und für Jugendliche soll gelten: „Jugendliche mit dieser Störung, vor allem Jungen, können die Trennungsangst leugnen. Dies kann sich in einer eingeschränkten Unabhängigkeit der Jugendlichen ausdrücken und ihrem Widerwillen, aus dem Haus zu gehen“ (APA 1996: 151).
Allein: Dieser Wille ist ein „falscher“. Es kommt auf ihn nicht an. Im Gegenteil: Dieser „falsche“ Wille selbst wird zu einem Beleg für die „Gestörtheit“ der Person. Und schließlich sei ein Merkmal, das häufig mit „Sozialer Phobie“ einhergehe, auch eine „Überempfindlichkeit gegenüber Kritik“. Bei spezifischen Phobien könne man sich zudem nicht sicher sein, ob sich diese Angst nicht auf Gefahren bezöge, die Dinge umfassen, die „aktuell oder zu einem bestimmten Zeitpunkt im Verlauf der Evolutionsgeschichte eine Gefahr für den Menschen bedeuteten“ (APA 1996: 467). Auf eine Diskussion konkreter Inhalte, über Urteile über mögliche Gefahren und über die Einschätzung des von ihnen ausgehenden Risikos, aber auch über den Inhalt geübter Kritik, kann also unter Umständen auch deshalb verzichtet werden, weil auf Kritik per se nicht überempfindlich
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reagiert werden soll und weil die je eigene Angst vielleicht ja doch bloß ein Produkt menschlicher Evolution repräsentiert. Zuletzt schließlich soll noch erwähnt sein, dass bei allen drei Ängsten ausgeschlossen werden soll, dass sie nicht durch andere „psychische Störungen“ besser erklärt werden können. Wenngleich das Wort „erklärt“ hier vielleicht besser durch „beschrieben“ ersetzt werden könnte; denn im DSM-IV wird ja den Erklärungen von „psychischen Störungen“ nur wenig, den Beschreibungen von Symptomen hingegen sehr viel Platz eingeräumt. Andersherum betrachtet ist das aber auch konsequent, denn die Erklärung eines Phänomens im DSM-IV fällt eben immer schon in eins mit seiner Beschreibung. Die Radikalisierung, die hier die von Kierkegaard eingeführte „Unbestimmtheit“ „der Angst“ erfährt, ist beachtlich. „Die Angst“, die unbestimmt sei, definiert sich hiernach also nicht bloß darüber, dass sie auf kein Objekt verweist, sie definiert sich auch nicht darüber, dass sie eigentlich auf einen Gott (Kierkegaard), auf ein Nichts (Heidegger) oder auf innere psychische und aufzuklärende Zusammenhänge verweist (Freud) und darin jeweils einen Grund fände. Nein, „die Angst“ ist hier gänzlich ihrer Begründetheit und einer noch-zubestimmenden Unbestimmtheit entkleidet. Ängste, die eine „Störung“ seien, sind im DSM-IV bloß noch ihrer jeweiligen spezifischen Ausformung nach präsent. In dem „wovor“ und dem „worin“ sich der Sich-Ängstigende ängstigt, liegt selbst kein immer wieder neu zu überprüfender Grund dieser jeweiligen Ängste. Auch die Überzeugung, die Freud in seiner späten Angsttheorie vertrat, dass „die Angst“ immer die Reaktion auf eine Gefahr sei und bloß noch bestimmt werden müsse, um welche Gefahr und um welche Ich-Angst genau es sich nun handele, gilt demnach nicht mehr. „Die Angst“, die sich zunächst bei Kierkegaard von der Furcht in ihrer „Unbestimmtheit“ unterschied, darin aber auch ihre eigene Qualität besaß, gilt hier bloß noch als ein „Fehler“, als ein wegzumachendes, an sich inhaltsleeres Ärgernis für die betroffene Person. Dieser Vorgang kann als eine Form der Enteignung eines ehedem philosophischen Konzepts und einer gehaltvollen Unterscheidung zweier kategorial zu unterscheidender Begriffe von Seiten der Psychologie und der Psychiatrie beschrieben werden. „Die Angst“, die bei Kierkegaard ehedem auf einen „Geist“ und auf eine „Freiheit“ „des Menschen“ verwies, aber auch auf einen Gott, von dem aus die Frage nach dem „Was soll ich tun in der Welt?“ zu lösen sei, verweist nun – im exakten Gegenteil der ursprünglichen Bedeutungsgebung – auf eine „Unfreiheit“ des Menschen. „Die Angst“ gilt nun als Ursache für eine nicht erfolgen könnende Anpassung des Sich-Ängstigenden an seine Umwelt. Und in dieser Anpassung wiederum, in der Wiederherstellung seiner „Funktionsfähigkeit“, läge nun aber die Möglichkeit seiner individuellen Freiheit. Und diese Angst verweist statt auf „Geist“ nun auf eine Form der „Geistlosigkeit“ bei der
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betroffenen Person. Denn der Sich-Ängstigende verfügt ja nicht über eine gültige, eine rationale Begründung für seine Angst. In dem Maße wie seine Angst als eine „Störung“ identifiziert wird, kann ihm auch Geistlosigkeit und Unvernunft als sein persönliches Defizit erfolgreich zugeschrieben werden. Nicht nur kann hierbei von einem ideologischen und verdinglichenden Wissen gesprochen werden, auch ist eine Ähnlichkeit mit rassistischen Argumentationsfiguren gegeben. Es heißt im DSM-IV beispielsweise: „Personen mit Sozialer Angst schneiden in der Schule wegen der Prüfungsangst, oder Vermeidung der Teilnahme am Unterricht häufig schlechter ab. Sie erbringen möglicherweise schlechtere Leistungen in der Arbeit aufgrund der Angst vor oder der Vermeidung von Sprechen vor anderen oder der Öffentlichkeit, oder mit Autoritätspersonen und Kollegen. Das soziale Netz von Personen mit Sozialer Phobie ist häufig klein, und sie heiraten wahrscheinlich seltener. In besonders schweren Fällen verlassen die Betroffenen die Schule, sind arbeitslos, oder bekommen keine Arbeit, da sie nicht in der Lage sind, Bewerbungsgespräche zu führen, haben keine Beziehungen oder hängen an unbefriedigenden Beziehungen, verzichten vollständig auf Verabredungen, oder ziehen sich in ihre Herkunftsfamilie zurück“ (APA 1996: 475).
Es ist demnach eben die dem Menschen innewohnende Eigenschaft – hier eine „soziale Phobie“ –, die zuallererst seinen sozialen Status als sozial Ausgeschlossener bestimmen soll. Umgekehrt lässt sich hieraus die normative Forderung danach ableiten, dass man in den herrschenden Verhältnissen keine „soziale Phobie“ zu haben braucht. Eine begründete Angst in sozialen Situationen erkennen die Autoren bloß an bei zuvor nicht erfolgter eigener Anstrengung: „Darüber hinaus wird die Diagnose nicht gestellt, wenn die Angst begründet ist (z.B. die Angst, in der Klasse aufgerufen zu werden, wenn man nicht vorbereitet ist)“ (APA 1996: 474). Das Entscheidende hierbei verbirgt sich im zweiten Halbsatz. Diesem kann nämlich ein weiteres Mal die zugrundeliegende Annahme entnommen werden, dass in den Verhältnissen selbst keine Gefahr für die eigene Person liegt. Dem, der sich vorbereitet, so die Botschaft, kann nichts geschehen. Davon, dass die eigene Vorbereitung des Schülers immer bloß eine notwendige, aber eben keine hinreichende Bedingung für ein Ergebnis ist, das keine soziale Ausschließung unter Bedingungen der Konkurrenz nach sich zieht, davon wissen die Autoren nichts. Im Gegenteil ist ihr Wissen über „die Angst“ geeignet, diese Zusammenhänge zu dethematisieren und zu reproduzieren. Ein Urteil über die eigene Angst in Konkurrenzzusammenhängen als eine unnötige und das eigene Fortkommen verhindernde Angst kann die Folge sein. Statt also davon auszugehen, wie es die Autoren tun, dass „weit verbreitete Ängste“ wie „Prüfungsangst“, „Lampenfieber“ und „Schüchternheit in sozialen Situationen“ mit fremden Personen ihrer allgemeinen Verbreitung wegen nicht als eine „Störung“ diagnostiziert werden sollten – es sei denn, die Angst oder die Vermeidung führe zu einer klinisch bedeutsamen Beeinträchtigung (vgl. APA 1996: 479) – könnte ja auch
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einmal nach einem allgemeinen Grund dieser weit verbreiteten Angst gefragt werden. Allein: Einen Grund, einen gültigen, soll es ja nicht geben. Dergestalt schafft sich dieses Wissen systematisch seine eigenen Blindstellen gegenüber möglicherweise in gesellschaftlichen Verhältnissen selbst angelegten und permanent vorhanden seienden Gefahren. „Die Angst“ im DSM-IV ist demnach, noch einmal, bestimmt 1. als radikal allgemein. Mit der vorgenommenen Klassifikation geht die Annahme einher, „die Angst“, als „Störung“, zeige sich immer, weltweit, in einer der beschriebenen Formen. Sie ist 2. radikal selbstisch. „Die Angst“ kann in ihren Erscheinungsformen als „Störung“ beschrieben werden und dieser kommt der Status einer personalen und abweichenden Eigenschaft in der Person zu. „Die Angst“ ist demnach vornehmlich ein Produkt der eigenen Lebens- und/oder Familiengeschichte und/oder der menschlichen Evolutionsgeschichte. Sie ist 3. bestimmt als radikal unbestimmt. Es kommt ihr keine rationale Begründung zu. Eine weitere eigene Bestimmung des Unbestimmten entfällt in diesem Wissen über „die Angst“. Eine solche Nicht-Bestimmung des Unbestimmten aber bedeutet eine radikale Enteignung der ehedem von Kierkegaard gesetzten Unterscheidung in eine Furcht, die auf eine konkrete Gefahr verweist, und in eine Angst, die kein Objekt hat. Und sie verweist 4. auch auf die herrschenden Verhältnisse, in denen sich der Sich-Ängstigende bewegt. Diese gelten als die Normalvorlage, vor denen sich entscheidet, welches Verhalten den Rang einer „Störung“ und welches diesen nicht erhält. Von diesen Verhältnissen aus hat der Sich-Ängstigende seine funktionsgemäße „Nicht-Gestörtheit“ zu reflektieren, auf diese hin hat er sich zu bewähren, in ihnen hat er sich einzurichten.
5.7 „Die Angst“ in der Verhaltenstherapie am Beispiel der „Sozialen Phobie“ bei Stangier/Heidenreich/Peitz und der „sozialen Unsicherheit“ bei Petermann/Petermann Stangier, Heidenreich und Peitz veröffentlichen 2003 eine gemeinsame Arbeit mit dem Titel: „Soziale Phobien. Ein kognitiv-verhaltenstherapeutisches Behandlungsmanual“ (Stangier u.a. 2003). Eine Zielgruppe dieses Buches wird von Seiten der Autoren an keiner Stelle ausdrücklich erwähnt. Aufgrund des Untertitels kann angenommen werden, dass es vornehmlich an in der Psychiatrie und in psychologischer Praxis tätige Verhaltenstherapeuten gerichtet ist. Dort soll es ihnen als eine praxisorientierte Grundlage ihrer alltäglichen Arbeit mit Menschen mit einer „sozialen Phobie“ dienen. Ihre Arbeit gliedert sich in drei Teile und enthält ein Vorwort, aus dem bestimmte Abschnitte einer eigenen kritischen Würdigung unterzogen werden. Der erste Teil dient der Erörterung des „Stö-
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rungsbildes soziale Phobie“. Im zweiten Teil wird eine Übersicht über die Praxis gegeben und ein konkreter Therapieablauf vorgestellt. Der dritte Teil ist der Anhang des Buches, bestehend aus Arbeits- und Informationsblättern für die Praxis. Teile des Inhalte dieses Buches – speziell jene, die sich auf die hierin aufzufindende Bestimmung „der Angst“, die eine „Störung“ sei, beziehen – sollen erörtert werden im Zusammenhang mit Aussagen aus dem Buch „Training mit sozial unsicheren Kindern“ (Petermann/Petermann 2003) der beiden Autoren Franz Petermann und Ulrike Petermann. Mit ihrem Buch, in dem sie Ursachen und Therapieformen von und gegen „Angststörungen“ bei Kindern präsentieren, wenden sie sich an Therapeuten, aber auch an Lehrer und Erzieher. Um „Angststörungen“ im Erwachsenenalter vorzubeugen, solle bei Kindern spätestens in der Grundschule therapeutisch interveniert werden. Ähnlich wie Stangier u.a. stellen sie, in 10 Kapitel unterteilt, Beschreibungen und Diagnosemöglichkeiten von „Angststörungen“ dar, diskutieren Erklärungsansätze, Interventionsverfahren und verschiedene „Trainingsformen“. Mit jeweils einem Kapitel über Elternberatung und Verlaufskontrolle beschließen sie ihre Arbeit. Während aber Stangier u.a. ausschließlich auf eine Angst namens „soziale Phobie“ und auf einen angemessenen therapeutischen Umgang mit dieser fokussieren, richten Petermann/Petermann ihr Augenmerk auf verschiedene „Störungsbilder“ bei Kindern. Diese fassen sie unter „soziale Unsicherheit“ als eine „Sammelbezeichnung“ zusammen und bieten spezielle „Trainingsangebote“ hierzu an. Soziale Unsicherheit umfasse dabei Verhaltensweisen, die sich auf Aspekte von „Trennungsängsten“, „Kontaktängsten“ bzw. wiederum auch auf Aspekte von „sozialen Ängsten“ und „sozial Phobien“ bezögen (vgl. Petermann/Petermann 2003: 3). Dieser Übereinstimmung wegen werden die Bücher gemeinsam diskutiert Bereits eine Analyse der jeweils ersten Sätze der beiden Vorworte dieser zwei Bücher lässt eine erste nähere Charakterisierung jener speziellen Bestimmung zu, die „der Angst“, die eine „Störung“ sei, in beiden Büchern zukommt. Und es lassen sich erste Schlüsse ziehen, wie und warum die Autoren beabsichtigen, diesen Ängsten ganz praktisch zu begegnen. Stangier u.a. beginnen ihr Vorwort mit: „Angst in sozialen Situationen ist ein menschliches Phänomen, das wohl jeder von uns kennt“ (Stangier u.a. 2003: IX). Eine nähere Erörterung dessen, was die Autoren im Folgenden unter einer „Angst in sozialen Situationen“ verstehen wollen – über die später aufgeführten bloßen Merkmale einer „Angststörung: Soziale Phobie“ hinaus – wird nicht angeboten. Stattdessen werden die Leser an dieser Stelle bereits mit einer voraussetzungs- und folgenreichen Annahme ihres Wissens über eine „Angst“, die eine „Störung“ sei, bekannt gemacht. Alle ihre weiteren Ausführungen und Auslassungen zum Thema bauen
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konsequent hierauf auf. Denn: „Angst in sozialen Situationen“ wird im Vorwort von Seiten der Autoren noch vor einer Befassung mit dem Thema, sogleich als eine Art anthropologische Grundkonstante, vorausgesetzt. Das gleiche, was z.B. für den Stoffwechsel als eine allgemein menschliche Eigenschaft gilt, soll auch für das Spüren von „Angst in sozialen Situationen“ gelten. Beides, so die Logik der Autoren, kommt bei allen (lebenden) Menschen vor, ist also ganz normal und entspricht der Eigenart des Menschlichen. Ein Zitat aus einem anderen Buch von Stangier u.a. unterstreicht noch einmal, dass die hier diskutierten Autoren tatsächlich keine inhaltlichen Unterschiede zwischen einer „normalen sozialen Angst“ und einer „sozialen Angst“, die eine „Störung“ sei, kennen. Allein in der Intensität und in der damit einhergehenden „Funktionsgestörtheit“ des Sich-Ängstigenden liegt demnach der Unterschied. Denn: „Das eine Ende des Kontinuums wird dabei markiert durch völlige soziale Furchtlosigkeit (was per se nicht als nicht pathologisch betrachtet werden kann, vgl. etwa Untersuchungen zur Antisozialen Persönlichkeitsstörung) und reicht über moderate soziale Ängste bis zur Sozialen Phobie und weiter zur Selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung. Da gemäß dieser Kontinuitätsannahme zwischen sozialer Phobie und sozialen Ängsten lediglich quantitative und keine qualitativen Unterschiede bestehen, sind Instrumente, die zur Erfassung sozialer Ängste entwickelt wurden, prinzipiell auch für den Einsatz bei sozialer Phobie geeignet“ (Stangier u.a. 2002: 66 f.).
Stangier u.a. kennen also „moderate Ängste“ als eine durchaus angemessene Reaktion. Die Vorschläge in Bezug auf einen Umgang mit diesen Ängsten drehen sich in der Folge allerdings konsequent bloß um Fragen nach dem richtigen Umgang mit diesem „allgemein menschlichen Phänomen“ einerseits, und den bei falscher Handhabung möglichen, hieraus erwachsen könnenden „Störungen“ und ihrer professionellen Behandlung andererseits. Eine weitere Auskunft kann dem ersten Satz des Vorwortes ebenfalls entnommen werden: Die Annahme einer Welt, in der Menschen weitestgehend einmal keine Angst unter und vor anderen Menschen haben (müssen), ist den Autoren offensichtlich fremd. Und umgekehrt kann einer solchen Feststellung ein ganz bestimmtes Urteil über die herrschenden Verhältnisse entnommen werden. Denn wenn diese Annahme stimmt – eine Angst in sozialen Situationen ist ganz „normal“, also: „üblich“ – dann muss angenommen werden, dass das ganz normale Sich-Bewegen in den bestehenden Verhältnissen für die betreffenden Beteiligten vielleicht nur selten gänzlich gefahrlos vor sich geht; dies jedenfalls dann, wenn die biologistische Begründung dieser Angst nicht akzeptiert wird. Ein entsprechender Versuch, Möglichkeiten einer solchen allgemeinen Gefahr in den herrschenden Verhältnissen näher zu bestimmen, wurde im zweiten Kapitel unternommen. Solche Überlegungen aber sind das Thema dieser eben auch biologistisch argumentie-
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renden Autoren, aus Gründen, die bereits in Kapitel 5.5 dargestellt wurden, nicht. Mit uns meinen die Autoren auch sicher nicht bloß sich selbst. Vielmehr wird damit eine abstrakte Gemeinschaft von „Soziale-Angst-Spürenden“ beschworen, die sicher nicht weniger als die gesamte Menschheit umfassen soll. Eine, wenn auch nicht unbedingt beabsichtigte, Funktion einer solchen Formulierung für die Leser liegt vielleicht darin, dass sie sich angesichts der Formulierung uns – statt eben: „die gesamte Menschheit“ – zugleich ein wenig beruhigt fühlen können; wissen sie nun doch, dass sie ihre eigenen Ängste in sozialen Situationen teilen mit den über dieses Thema viel wissenden Autoren dieses Buches. Eine „soziale Phobie“ ist also bereits an dieser Stelle keine Frage mehr vielleicht nur des „Sozialen“, andererseits aber auch keine mehr des einzelnen Menschen und seiner je individuellen Deutungen. „Soziale Angst“ als ein „allgemeines menschliches Phänomen“ zu verstehen, abstrahiert in der Folge notwendig sowohl von den konkreten Bedeutungsgebungen Sich-Ängstigender als auch von allgemeinen Gefährdungen bestimmter gesellschaftlicher Insassen auf bestimmten gesellschaftlichen Positionen eines bestimmten Gesellschaftstypus.12 Im „Sozialen“ eine Ursache für eine „soziale Angst“ zu suchen, wird so erschwert. Bestenfalls können die individuellen Umstände, unter denen Personen leben, noch als „Faktoren“ gelten, die eine „soziale Angst“ begünstigen oder auslösen. Aber die „soziale Angst“ in sich tragen – nicht als eine zu verstehende Möglichkeit, sondern als Teil der „Bestimmung des Menschlichen“ schlechthin, das mache demnach jeder Mensch. Wie es den Autoren dabei gelingt, substanzielle Unterschiede konkreter sozialer Situationen hinsichtlich der Frage, in welchem Maße eigentlich der Sich-Ängstigende die Mittel für ein erfolgreiches Bestehen in dieser Situation selbst in der Hand hat, argumentativ „einzuebnen“, das macht
12 Ein konkretes Beispiel dafür, wie die Transformation eines allgemeinen Urteils eines konkreten Sich-Ängstigenden in eine Einsicht in die eigene „Gestörtheit“ vor sich gehen kann, findet sich bei den Autoren Becker und Margraf in ihrem Buch: „Generalisierte Angststörung: Ein Therapieprogramm“. Einem Patienten, der die Aussage macht: „Ich finde meine Angst berechtigt, der Zustand der Welt ist Besorgnis erregend!“ solle beigebracht werden, dass tatsächlich seine Sorgen selbst das eigentliche Problem seien. Er solle diese fortan nicht mehr als realistisch betrachten und nicht von wirklichen bedrohlichen Umständen ausgelöst. Er solle sein „Sorgenverhalten“ ändern und nicht auf größere familiäre oder gesellschaftliche Veränderungen hoffen. Es könne, so die Autoren, auch darauf hingewiesen werden, dass auch „andere Sichtweisen“ der momentanen Situation denkbar seien. Um eine Einsicht für solche anderen Sichtweisen beim SichÄngstigenden zu erreichen solle dieser bspw. gefragt werden: „Wie denken denn Ihre Frau/Ihre Freunde über diese Probleme?“, oder auch „Wie geht es Ihrer Frau/Ihren Freunden damit?“ (vgl. Becker/Margraf 2002: 70) .
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der weitere Verlauf des Vorwortes im Anschluss an den oben genannten ersten Satz deutlich: „[...] in beruflichen oder privaten Bewährungssituationen, bei Prüfungen, in Meetings oder wenn wir in der Öffentlichkeit eine Rede oder einen Vortrag halten Viele Menschen erleben soziale Ängste und Schamgefühle auch in größeren Gruppen, wenn sie unbekannten Menschen begegnen oder mit Autoritätspersonen sprechen, bei der Kontaktaufnahme mit Personen des anderen Geschlechts oder wenn sie Waren reklamieren. Nicht selten erleben Menschen auch bei Treffen mit Bekannten oder Kollegen, beim Besuch von Partys, Begegnungen mit Nachbarn oder in anderen Situationen, in denen sie bei bestimmten Tätigkeiten beobachtet werden, Ängste, von anderen negativ bewertet oder abgelehnt zu werden“ (Stangier u.a. 2003: IX).
Ob also jemand sich beispielsweise selbst das Ziel gesteckt hat, bei einer Theateraufführung mitzuspielen, ob er sich von der seit vielleicht schon Monaten umworbenen Person endlich eine positive Rückmeldung erhofft, oder ob er einfach nur einen netten Abend auf einer Party verbringen mag – das alles soll also ungefähr das Gleiche sein wie das „Sich-Bewähren“ in einem Vorstellungsgespräch für einen Arbeitsplatz oder bei einer Abiturprüfung. An einer Prüfung der jeweils konkreten Umstände und Bedingungen bestimmter durchaus verschiedener sozialer Situationen ist den Autoren nicht gelegen; an der Untermauerung ihrer Ausgangsbehauptung von der „sozialen Angst“ als eines allgemein menschlichen Phänomens dagegen sehr. Die Mittel für einen Erfolg beim Theaterspielen (einmal gesetzt, dass die Person es für sich als Erfolg verbuchen würde, überhaupt auf der Bühne zu stehen) oder bei der Werbung um einen Partner oder schlicht hinsichtlich der Frage: Mit wem gehe ich auf eine Party, bzw. zu welchem Zeitpunkt verlasse ich diese, sind aber doch anders verteilt als bei einem Vorstellungsgespräch, einer Klassenarbeit oder einer Abiturprüfung. Und nicht nur liegen die Mittel, die dem eigenen Erfolg dienlich sein könnten, in sehr verschiedenem Maße in den Händen der Person. Auch die Folgen negativer Bewertungen können, den verschiedenen angesprochenen Situationen entsprechend, doch sehr unterschiedlich ausfallen. Es macht einen Unterschied, ob ein Nachbar, ein Kollege oder ein Vorgesetzter den Sich-Ängstigenden ablehnt. In letzterem Fall ist er damit vielleicht jeden Tag neu konfrontiert und kann dem vermutlich – will er nicht seines Lebensmittels Lohn verlustig gehen – zunächst einmal nicht ausweichen. Eine „soziale Angst“ aber verweist erst in zweiter Linie auf das „Soziale“ an dieser Angst. Die Autoren verleihen ihrer „sozialen Angst“ das Adjektiv „sozial“ deshalb, so scheint es jedenfalls, weil diese Angst immer nur als die individuelle und gleichzeitig menschengemäße Angst von Personen verstanden werden soll, die im Moment ihres Sich-Ängstigen nicht mit sich alleine sind. In der Folge ist es eben immer die zu große soziale Angst der Person selbst, die ihr Leben beeinträchtigt. Der Umkehrschluss, dass nämlich auch einmal (ganz normale) Beeinträchtigungen eines durchschnittlichen bürgerlichen Lebens
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zumindest als ein Grund sozialer Ängste verstanden werden könnten, bleibt dieser Logik wegen wieder ausgeschlossen. Ein solcher, der Argumentation nach, logischer Ausschluss dieser Möglichkeit war, wie gezeigt, auch in der frühen Angsttheorie bei Freud angelegt. Denn, gemäß seiner Unterscheidung von einer Angst – als ein dauerhafter, auf innere Konflikte verweisender Zustand - und einer Furcht – als ein bloß punktuell auftretender Affekt, der auf eine äußere Gefahr verweise – konnte eine dauerhafte unbestimmte Angst, die äußeren Bedingungen wegen gegeben war, ebenfalls nicht angenommen werden. Seinen Ausführungen über ein „Unbehagen in der Kultur“ hingegen ist eine solche dauerhafte Angst bzw. zumindest ein „Unbehagen“, das einem äußeren Grund zuzuordnen möglich ist (Triebeinschränkungen aufgrund zivilisatorischer und kultureller Errungenschaften), durchaus zu entnehmen. Eine Notwendigkeit aber, über einen solchen möglichen Zusammenhang weiter nachzudenken, kann dem hier diskutierten Wissen über „soziale Phobien“ nicht mehr entnommen werden. Welches sind nun die ersten Annahmen der Autoren Petermann/Petermann und welche Folgen entstehen hieraus? Sie beginnen ihr Vorwort mit dem Satz: „Soziale Unsicherheiten bei Kindern umfasst eine Vielzahl von Verhaltensauffälligkeiten“ (Petermann/Petermann 2003: VIII). Petermann/Petermann schließen im ersten Satz ihres Vorwortes somit die Möglichkeit eines Unsicherseins in der sozialen Situation der Situation wegen ebenfalls aus. Im Gegensatz zu der diesbezüglich noch radikaleren ersten Aussage von Stangier u.a. in Hinblick auf die „Menschlichkeit“ dieses Phänomens kann angenommen werden, dass Petermann/Petermann dagegen durchaus auch die Möglichkeit einer zunächst bloß äußerlich begründeten und dort zu überwinden möglichen Unsicherheit kennen. Wenn ein Kind beispielsweise die Erfahrung hat machen müssen, dass auf die Verabredungen mit seinen Eltern wiederholt kein Verlass war, und Absprachen nicht eingehalten wurden, dann gilt seine Unsicherheit als begründet. Dennoch bleibt festzuhalten, dass sie mit diesem ersten Satz den Begriff „Soziale Unsicherheiten“ – als einer, der entsprechend umfassend benutzt werden könnte – von nun an ausschließlich als einen Begriff verstanden wissen wollen, der sich bloß noch auf abweichendes, auf „gestörtes“ Verhalten bezieht, das zuallererst durch Therapie in den Griff zu bekommen sei. „Soziale Unsicherheit“ ist das, was Kinder nicht zeigen sollen. Das Gegenteil hiervon, nämlich „soziale Sicherheit“, sich zuallererst sicher fühlen, ist demnach der implizite normative Anspruch, der mit dieser Setzung und mit diesem Wissen bereits im ersten Satz einhergeht. Der erste Absatz des Vorwortes der ersten Auflage ist diesbezüglich ebenfalls eindeutig: „Sozial unsicheres Verhalten bei Kindern – ein Verhaltensdefizit, eine Wohlstandsproblematik, eine emotionale Verarmung...? Das vorliegende Buch geht der Ursachenklärung des Phäno-
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mens nach und stellt Symptomkonstellationen im sozialen und familiären Bezugssystem dar. Die Grundannahmen des therapeutischen Vorgehens beruht auf der Überlegung, daß Sozialverhalten durch Interventionen auf verschiedenen Ebenen (beim Einzelkind, bei der Arbeit mit der Kindergruppe und mit den Eltern) beeinflusst werden kann“ (Petermann/Petermann 2003: X).
Von allen möglichen Gründen, die einem Verhalten, das man als „sozial unsicher“ beschreiben könnte, zugrunde liegen können, kennen Petermann/Petermann an dieser Stelle genau drei. Zwei Gründe verweisen auf ein auszugleichendes Defizit beim Kind (Verhaltensdefizit, emotionale Verarmung) und eines auf ein individuelles Defizit. Und dieses Defizit soll ausgerechnet ein Ergebnis dessen sein, dass es der Welt, in der sich der Betroffene bewegt, zu gut geht (Wohlstandsproblematik). Von einer „Armutsproblematik“ etwa ist nicht die Rede. Welche Gründe kennen nun aber die jeweiligen Autorenteams – sowohl Stangier u.a. als auch Petermann/Petermann – für eine „soziale Phobie“? Alle sind sich darin einig, dass es einen Grund nicht gäbe, sondern dass vielmehr vor dem Hintergrund zahlreicher Theorien davon ausgegangen werden müsse, dass im Einzelfall unterschiedliche Ursachen allesamt in komplexer und unterschiedlicher Weise zusammenwirken würden. Eine Erklärung kann daher, je nach Fall, verschieden ausfallen und wird regelmäßig multidimensional zu fassen sein. Petermann/Petermann benutzen dafür den etwas sperrigen Begriff der „biopsychosozialen Faktoren“. Die Bestimmung „der Angst“ als unter anderem „unbestimmt“ erfährt hier, gerade im Bemühen um eine ihr endlich wirklich angemessene präzise Bestimmung, eine doch eigentümliche Radikalisierung: „Die Wechselwirkung solcher biologischen, psychischen und sozialen Faktoren sind vielfältig und nur im Sinne eines multikausalen Entwicklungsmodells zu begreifen“ (Petermann/Petermann 2003: 53). Das Präziseste, was diese Wissenschaft also über die Entstehung von Ängsten, die eine „Störung“ seien, auszusagen imstande ist, ist, dass man dies nicht exakt fassen kann. Stangier u.a. führen daher neben „Lerntheorien“, „Bindungstheorien“, „Entwicklungspsychologischen Theorien“, „Neurobiologischen und evolutionären Theorien“ auch „Kognitive Theorien“ auf (vgl. Stangier u.a. 2003: 23 ff.). Besonders interessant für die vorliegende Untersuchung sind Letztere, denn einerseits räumen die Autoren ihnen den meisten Platz ein, andererseits handelt es sich hierbei um eine Diskussion bestimmter geistiger Urteile. Die Autoren sprechen von „Grundüberzeugungen“ des Sich-Ängstigenden über die Welt und über sich selbst, die zu einer solchen „Störung“ beitragen sollen. So führe etwa die Grundüberzeugung „Ich bin ein Versager“ in Folge vielleicht einer „ungünstigen Erfahrung“ zu einer konditionalen Annahme: „Wenn ich keine perfekte Präsentation zeige, wird dies als Schwäche gesehen“, worauf sich „negative
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Gedanken“ im Vorfeld konkreter Situationen ausbreiten würden, wie bspw. „Ich werde stammeln, andere werden mich für einen Trottel halten“, und das führe dann zu Angst, Angstsymptomen, Flucht oder zu Vermeidungstendenzen (vgl. Stangier u.a. 2003: 29). Die Ursache-Wirkungskette nimmt also ihren Anfang, auch und gerade in Hinblick auf so genannte „kognitive Faktoren“, immer wieder bei dem SichÄngstigenden selbst. Davon, dass „ungünstige Erfahrungen“ statt zu negativen Grundüberzeugungen auch einmal zu einer angemessenen Kritik dieser „ungünstigen Erfahrungen“ führen könnte, wissen die Autoren und Autorinnen nichts. Denn dass in der Tat eine Präsentation oder eine Rede im Rahmen der Ausübung eines Berufs oder einer Ausbildung immer auch Aspekte einer Prüfung in sich trägt – dies nämlich insofern, als die Leistung dieses Einzelnen, gegebenenfalls auch der Wert seiner Person, im Vergleich zu der Leistung anderer gemessen werden wird, dass also, so betrachtet, eine Angst in einer so genannten „Leistungssituation“ durchaus auf eine reale Gefahr des sozialen Ausschlusses in Folge eines nicht erfolgreich bestandenen Vergleichs verweisen könnte – daran verschwenden die Autoren keinen Gedanken. Es wäre ja auch ebenfalls möglich einmal anzunehmen, ob nicht der Sich-Ängstigende seine „Grundüberzeugungen“ – „Ich muss Sieger sein“ und „Ich darf nicht verlieren“ – vielleicht den bestehenden Verhältnissen selbst entnommen hat und er dann diese Grundüberzeugungen auch auf private Bereiche auszudehnen bereit ist. Kommen nun beispielsweise vermehrt Personen auf einer Party zusammen, die ihre Erfahrungen und Einsichten aus herrschaftlich organisierten Konkurrenzsituationen auch dorthin übertragen, dann heißt das, dass sie vermutlich alles daran setzen werden, auch dort nicht als „Unterlegene“ zu gelten. Wenn man als ein möglichst „guter Unterhalter“ oder als eine möglichst „vermögende Person“ oder als möglichst „intellektuell“ gelten will, dann muss man eben auch dafür Sorge tragen, dass die anderen Anwesenden, oder zumindest ein guter Teil von ihnen, bei diesem Vergleich schlechter als man selbst abschneiden. Oder man muss zumindest mit der Annahme aus der Situation herausgehen, man habe selbst keine inakzeptablen Verhaltensweisen gezeigt. Hinsichtlich der Frage jedenfalls, ob dergestalt Sich-Ängstigende therapiert werden müssen oder aber ob zum Zwecke von weniger Angstreduktion eine Diskussion über Sinn und Zweck solcher Einsichten benötigt wird, muss vor dem Hintergrund der hier zugrundeliegenden Ausführungen eindeutig zu letzterem tendiert werden. Solche Überlegungen aber stünden in einem fundamentalen Widerspruch zu der in Kapitel 5.5.3 erläuterten Funktion dieser Wissenschaft als akademisches Gegenstück zur durchgesetzten Forderung nach Anpassung an die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Petermann/Petermann sprechen in ganz ähnlicher Weise und mit ähnlichen Folgen von „biologischen“, „psychischen“ und „sozialen Faktoren“. Unter letzte-
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ren verstehen die Autoren allerdings fast ausschließlich (sie kennen zwei Ausnahmen) auf die Eltern bezogene Faktoren. Zum Beispiel sei es möglich, dass die Eltern in ihrem gleichsam „sozial unsicheren“ Verhalten eine Vorbildfunktion hätten, dass sie ansonsten keine psychische Gesundheit aufwiesen oder dass sie ihre Kinder überbehüten würden. Die Ausnahmen beziehen sich auf die Faktoren „Kritische Lebensereignisse“ und „Soziale Herkunft“. Doch zu beidem wissen die Autoren nur zu sagen, dass einheitliche Befunde diesbezüglich noch nicht vorlägen (vgl. Petermann/Petermann 2003: 53 ff). 5.7.1 Zu den Gegenmitteln gegen „die Angst“, die eine „Störung“ sei Gemäß dessen, dass es ein Merkmal der „Störung“ sei, dass die betroffenen Personen sich nicht „funktionsgemäß“ verhielten, indem sie die für sie bedrohlichen Situationen meiden, muss eine Therapie in aller erster Linie darin liegen, die Person wieder an diese Situationen zu gewöhnen. Dies geschieht zumeist mittels Varianten von „Konfrontations-“ oder „Desensibilisierungstrainings“, innerhalb dessen sie unter Unterstützung ihres Therapeuten an die entsprechenden Situationen mehr oder weniger langsam (wieder) herangeführt werden sollen, um zu einer neuen Einsicht zu gelangen: dass nämlich von diesen Situationen gar keine echte Gefahr ausgehe. Interessant ist hierbei, dass Stangier u.a. zwar annehmen, dass ein solches Verhalten auch aufgrund „genetisch festgelegter Verhaltensprogramme“ entstehen würde, dennoch beharren sie darauf, dass es zur Umprogrammierung dieser Programme doch wieder vornehmlich auf einen Willen und eine Einsicht der Person ankommt. Sie nehmen also nicht an, dass sich das Problem etwa, wie sich vielleicht denken ließe, mittels eines biochemischen Eingriffs in die Erbanlagen der Betroffenen lösen lasse. Dementsprechend bieten Stangier u.a. also ein 5-Phasen-Modell an, das nachdrücklich auf die Notwendigkeit der Mitarbeit des Patienten selbst Wert legt (vgl. Stangier u.a. 2003: 57 ff.). 1. Dem Patienten wird mitgeteilt, worin seine „Störung“ liegt. Ein besonderes Augenmerk ist hier auf die Explikation seiner „unrealistischen Annahmen“ gerichtet und darauf, ihm die Bedeutung dieser Annahmen für seine Ängste, die eine „Störung“ seien, zu erklären. 2. Problematisiert wird nun seine evtl. erhöhte Selbstaufmerksamkeit, seine bildhaften Vorstellungen, sein Sicherheitsverhalten, sein Vermeidungsverhalten. 3. Der Patient stellt sich, nach einer „Entzerrung“ seiner einseitigen Informationsverarbeitung, seiner bislang vermiedenen Situation. 4. Nach erfolgter Veränderung konkreter Kognitionen werden allgemeinere Schemata und Annahmen „verändert“. 5. Es wird der Versuch einer Konsolidierung seiner neu erworbenen Strategien unternommen, um künftigen Symptomen „sozialer Phobien“ entgegenzuwirken.
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Dieses Modell macht des Weiteren deutlich, dass für eine Erörterung des Verhältnisses von Angst und tatsächlicher oder auch vermeintlicher Gefahr für den Sich-Ängstigenden keine Zeit, keine Phase, eingeräumt ist. Dies entspricht der Annahme von Stangier u.a., dass zwischen geringeren und größeren Ängsten in sozialen Situationen keine qualitativen Unterschiede existieren. In der Folge muss die Qualität dieser Angst selbst nicht zum Gegenstand der Therapie werden. Es reicht dann aus, mit der Therapie direkt bei einer „Korrektur“ der „unrealistischen Annahmen“ zu beginnen, zum alleinigen Zwecke der Verringerung der Intensität dieser „sozialen Phobie“ hin zu Ängsten, die dann von Stangier u.a. wieder als „moderat“ bzw. als „angemessen“ begriffen werden können. Das Vorgehen von Petermann/Petermann ist ähnlich. Sie kennen für das von Stangier u.a. angestrebte angepasste, unauffällige (weil vorhersagbare), aber dennoch leistungsorientierte Verhalten, das sie sich auch für Kinder wünschen, noch einen anderen Namen: sie nennen es zusammenfassend „sozial kompetentes Verhalten“. Dieses umfasse das elementare Bedürfnis „und die Fähigkeit, Umweltkontingenzen zu kontrollieren und günstige Verstärkungsbedingungen für sich zu erhalten“ (Petermann/Petermann 2003: 61), und sei zudem der Oberbegriff für alle möglichen Therapieziele. Mehrere Dinge fallen an dieser Definition auf. Zum einen wird gleichsam anthropologisch (weil „elementar“) und apodiktisch, also ohne einen Widerspruch hierzu zuzulassen, behauptet, dass menschlichem Verhalten (und das wohl weltweit) eine gemeinsame Kompetenz (also doch wohl eine bestimmte „Fähigkeit“) und ein gemeinsames Bedürfnis zu entnehmen sei. Und zum anderen ist auch dieses Konstrukt eine Tautologie. Denn die „soziale Kompetenz“ lasse sich als ein bestimmtes Bedürfnis erkennen; nichts anderes aber als dieses Bedürfnis verweist auf das Vorhandensein dieser Kompetenz. Hinsichtlich der zweiten „Eigenschaft“ dieser „sozialen Kompetenz“ ist die Offensichtlichkeit der Tautologie nicht mehr zu überbieten. Eine „soziale Kompetenz“ ist demnach nämlich eine auf das Soziale bezogene Fähigkeit. Diese beiden Eigenschaften – das bestimmte Bedürfnis und die Fähigkeit – fallen, noch dazu bezogen auf das damit verbundene Ziel, am Ende wieder in eins zusammen. Denn alle Menschen, so sie sich auf ihre „soziale Kompetenz“ besinnen, oder gelernt hätten, sich darauf zu besinnen, würden dann gleichermaßen die Zufälligkeiten, mit denen sie in ihrer Umwelt konfrontiert sind, kontrollieren wollen und dies letztlich auch können. Das ist ebenfalls erstaunlich. Denn entweder begegnen doch dem Menschen zufällig bzw. nicht-notwendig gewisse Dinge, oder aber, so könnte angenommen werden, er kann sie kontrollieren. Dass aber bestimmte Dinge gleichzeitig zufällig und kontrollierbar sein können, das kann als ein besonderes Kunststück der Verhaltenspsychologie gelten. Für Petermann/Petermann steht jedenfalls fest, dass es gerade die Annahme von Unkon-
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trollierbarkeit und Unkalkulierbarkeit von Situationen sei, auf die sich die „soziale Angst“ bezieht. „Diese Erwartungen prägen das Selbstkonzept einer Person in negativer Weise: In der Erwartung, dass die Konsequenzen einer Handlung nicht mehr kalkulierbar und kontrollierbar sind, verringert sich die Handlungsbereitschaft und somit auch die Möglichkeit, Erfolge des eigenen Handelns zu erleben“ (Petermann/Petermann 2003: 61).
Der mit diesem Wissen theoretisch einhergehende Versuch einer endgültigen Vertreibung von Ungewissheit als unerwünschter Bewusstseinsmodus wird an diesem Beispiel deutlich. Eine ähnliche Annahme mit ähnlichen Folgen vertreten Petermann/Petermann in einem Vortrag, den sie 1986 auf dem Internationalen und Interdisziplinären Herbst-Seminar: „Praxis für Sozialpädiatrie Brixen“ halten (vgl. Petermann/Petermann 1986). Der Nährboden von Angst, so die beiden Vortragenden, sei Ungewissheit (und nicht vielleicht Gewissheit). Ängste seien erworben und könnten wieder verlernt werden. Je komplizierter das Leben sei, desto häufiger gebe es Situationen, die mehrdeutig seien und Ungewissheit und damit Angst verursachen (vgl. Petermann/Petermann 1986: 24. Min ff.). Und auch die vier Monate zurückliegende Erfahrung des Atomkraftwerkbrands von Tschernobyl, 1986, muss als Beispiel für die von ihnen behauptete Notwendigkeit der Verbannung von Ungewissheit dienen. Die Annahme, dass ein solches Ereignis gegebenenfalls nachvollziehbar Ängste vor einer Gefahr eines früheren als geplanten Todes nach ziehen könnte, teilen Petermann/Petermann nicht. Nach ihnen sind Gründe für die weit verbreiteten Ängste zuallererst in den widersprüchlichen Informationen hierüber sowie auch in der herrschenden Ungewissheit bezüglich dessen, was denn nun ein angemessenes Verhalten sein könnte, zu suchen. Einem möglichen Einwand, dass Ungewissheit hinsichtlich eines bestimmten Ereignisses eine reale Möglichkeit darstellt, die auch als eine solche reflektiert und bearbeitet werden könnte, würde der Verhaltenstherapeut Petermann vermutlich entgegnen, dass es lediglich eindeutigerer Informationen und klarerer Handlungsanweisungen gebraucht hätte, um auch die Ängste in der Folge von Tschernobyl, einer der zwei größten bis dahin stattgefundenen Atomkraftwerkshavarien, erfolgreich zu vermindern (vgl. Petermann/Petermann 1986: 26. Min. ff.). Stattdessen aber wären selbst Kollegen „aus Angst“ plötzlich nach Spanien gezogen und andere hätten Hamstereinkäufe getätigt. Es soll ein weiterer Widerspruch nicht unerwähnt bleiben: Franz Petermann behauptet direkt im Anschluss an seine Ausführungen zu den Gründen dieser Aktivitäten im Nachgang von Tschernobyl, dass Ungewissheit ein unangenehmes Gefühl sei, letztlich Angst erzeuge und dieses wiederum zu Starre und Reaktionsblockierung führe. Da nun aber weder ein Umzug nach Spanien noch ein Hamstereinkauf tatsächlich auf
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eine Starre oder eine Blockierung verweisen, kann an dieser Stelle noch einmal an die Einsicht von Freud erinnert werden, dass „die Angst“ selbst niemals das (Un)Zweckmäßige ist oder auslöst. Stattdessen muss der Sich-Ängstigende angesichts der konkreten Bedrohung über seine konkreten Möglichkeiten, sein Wissen und seine Erfahrungen nachdenken und dann entscheiden, was er, zweckmäßigerweise zu tun und zu lassen hat. Ein solches Denken jedoch würde Annahmen über das Vorhandensein eines begründeten Willens voraussetzen. Diese Annahmen aber sind bei Verhaltenstherapeuten, das wurde in Kapitel 5.5 ausgeführt, bekanntermaßen gefürchtet. Was aber gewinnen Petermann/Petermann dadurch, dass sie „dem Menschen“ ein Bedürfnis nach Kontrolle und Gewissheit unterstellen? Sie gewinnen die Begründung dafür, dieses Bedürfnis mittels einer Therapie, die genau das zu bewerkstelligen sucht, zu befriedigen. Denn schließlich gelte, so die Autoren: „Ein positives Selbstkonzept im Sinne von ‚selbst’-verursachten Verhaltenskonsequenzen kann folglich nur unter Vorhersagbarkeits- beziehungsweise Kontrollierbarkeitsbedingungen entwickelt werden“ (Petermann/Petermann 2003: 61). Dieses Zitat zeigt deutlich, in welchem Maße die beiden Verhaltenstherapeuten bestrebt sind, ihre eigenen Ansprüche an eine systematische und kontrollierbare experimentelle Wissenschaft, wie sie von ihnen selbst im Labor betrieben wird, auf das Verhalten und das Dasein wohl der gesamten Menschheit zu übertragen. Die Welt als Labor und Experiment, in der alle unkontrollierbaren Faktoren ausgeschaltet werden können, und alles Verhalten vorhersagbar wird – davon, so darf zumindest vermutet werden, träumte auch schon Watson. Andererseits darf auch angenommen werden, dass weder Watson noch Petermann/Petermann allen Weltenbewohnern eine solche Existenz als diktatorisch herrschende Experimentatoren empfehlen wollen würden. Schließlich kann angenommen werden, dass es – um der Kontrollierbarkeit der eigenen Lebensbedingungen willen – einiger, wenn nicht gar aller zur Verfügung stehenden Mittel bedarf. Diese Mittel können aber unmöglich auf alle Menschen zugleich verteilt sein. Und es ist auch nicht das Ziel von Petermann/Petermann, dass alle Erdenbewohner zu solchen diktatorischen Experimentatoren werden. Sie wollen, so muss angenommen werden, viel weniger. Jeder soll lediglich seinen ihm gemäßen Platz in der Welt finden, an dem ihm dann die größtmögliche Kontrolle über seine Umwelt gegeben ist. So soll dann schließlich auch der Hauptschüler froh sein können: wenn schon nicht über die Chance auf einen besser bezahlten Beruf, so doch über den schlichteren, aber eben ihm gemäßen, Arbeitsplatz. So wird er vielleicht an einem Fließband eine Situation vorfinden, die, da sie von ihm kontrolliert werden kann, bei ihm auch keine „soziale Angst“ auslöst. Ein solcher sozialer Ausschluss, als das Vorenthalten einer (erweiterten) Teilhabe am
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gesellschaftlich produzierten Reichtum, wird dergestalt argumentativ gewendet zu einer Wohltat für den und zu einem Dienst am Sich-Ängstigenden selbst. Die Bewerkstelligung des angesprochenen Machbarkeits-Ideals nimmt zumindest in den von Petermann/Petermann vorgeschlagenen Therapien bzw. in den Einzel- und Gruppentrainings seinen tatsächlichen und geordneten Gang. Betroffene Schulkinder, bei denen mittels eines klinischen Urteils, eines Tests, einer Verhaltensbeobachtung und einer Elternexploration die „Störung“ diagnostiziert werden konnte, kommen mindestens viermal – Vorschulkinder mindestens sechsmal – zunächst zu Einzeltrainings à 50 Minuten. Das Ziel hierbei ist sowohl eine Schulung der Selbst- und Fremdwahrnehmung als auch der Aufbau sogenannter „angemessener Selbstinstruktionen“. Darauf folgen zwei Sitzungen als Gruppentrainings à 50 Minuten zum Kennenlernen, und noch mal für beide Kindergruppen mindestens sechs Sitzungen à 90 Minuten. Das Ziel hierbei ist die Einübung „sozialer Fertigkeiten“. Parallel hierzu findet eine Elternberatung statt mit mindestens vier Sitzungen à 100 Minuten zur Vermittlung von Wissen über das „Störungsbild“, zur Schulung der „Selbstwahrnehmung“ im Umgang mit dem Kind und der Wahrnehmung des Kindes als auch zur Vermittlung neuer „Problemlösungsstrategien“. Acht Wochen nach Trainingsende kommt es noch einmal zu einem Nachgespräch. Die zentralen Grundelemente der Therapiesitzungen bestehen aus einem Detektivbogen, einem Ruhe- und Entspannungsritual sowie einem Tokenprogramm und Spielminuten. Begonnen wird immer mit dem Vorlesen einer kurzen Entspannungsgeschichte von Kapitän Nemo. Dies ist eine vermutlich häufig geeignete Maßnahme, um das Vertrauen der Kinder in das nun folgende Geschehen zu gewinnen. Darauf folgt eine Beschäftigung mit dem Detektivbogen. Dies ist eine Methode, die sicher regelmäßig sehr effizient dazu beiträgt, die eben auch mittels Selbstreflexivität zu leistende Überführung von Fremd- in Selbstdisziplinierung bei den sich-ängstigenden Kindern zu bewerkstelligen. Die Kinder werden hierbei angeleitet, „wie ein Detektiv“ das eigene Verhalten zu beobachten und zu protokollieren. „Sozial kompetente Verhaltensweisen“ werden als Regeln formuliert und in den Bogen eingetragen (z.B. „Wenn ich etwas sage, dann rede ich laut und deutlich!“, „Wenn ich mit jemandem spreche, dann schaue ich ihn an“, Wenn mir etwas an jemandem gut gefällt, dann sage ich ihm das“). Jeden Abend müssen die Kinder nun überlegen, ob ihnen die Einhaltung dieser Regeln gelungen ist. Der ausgefüllte Bogen wird dann wieder mitgebracht und ausgewertet. Das Tokenprogramm schließlich soll dazu dienen, auf der Grundlage des Verstärkungslernens gewünschtes Verhalten zu produzieren. Das Handeln des Kindes wird gemäß der zu Beginn der Sitzung abgesprochenen Regeln regelmäßig gemeinsam überprüft. Hat ein Kind die Regeln eingehalten, bekommt es so genannte „Tokens“, die es zum Ende der Sitzung wieder gegen eine „beliebte
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Spieltätigkeit“ eintauschen kann. Dadurch soll das „sozial unsichere“ Kind lernen, dass es sich lohnt, „sozial kompetentes“ Verhalten an den Tag zu legen und dieses in Zukunft wiederholt zu zeigen. Ängstliche Kinder gehören demnach also bestraft, wenn sie nicht bereit sind, ihre Ängstlichkeit abzulegen. Was das Kind des Weiteren lernen kann, ist ein strategischer Umgang mit Versprechungen von Bonifikationen von Seiten der Autoritäten. Die Regel, dass ein „gewünschtes Verhalten“, wie zum Beispiel das Loben eines Spielpartners, zu Tokens führt, kann in der Folge dazu führen, dass das betroffene Kind immer genau in dem Moment, in dem es sich von seinem Trainer beobachtet weiß, dieses Verhalten deshalb zeigen wird. Das „sozial kompetente“ an diesem Verhalten wäre demnach weniger das Verhalten selbst, sondern vielmehr der antizipatorisch-kalkulierende Bezug des Kindes in Hinblick auf die für ihn positiven Konsequenzen seines Tuns – gesetzt er wird dabei beobachtet. Diese Kalkulation könnte gegebenenfalls auch andersherum ausfallen. Dann nämlich, wenn das Kind den eigenen zu betreibenden Aufwand in keinem günstigen Verhältnis zu den versprochenen „Spieltätigkeiten“ sieht, wird es vermutlich das „gewünschte“ Verhalten nicht zeigen. Beide Male fände ein „sozial kompetenter“, antizipatorisch-kalkulierender Bezug des Kindes auf die Konsequenzen seines Handelns statt. Allein: Das Ergebnis fällt gegensätzlich aus – weswegen der Verhaltenstherapeut, dem die Annahme eines solchen Bezugs nicht zur Verfügung steht, sich Gedanken darüber machen wird, welcher Verstärker vielleicht besser geeignet ist, die Ursache-Wirkungs-Kette von Reaktion-Reiz-Reaktion wieder in Gang zu setzen. Dass aber, wie gezeigt, vielleicht ein (mitunter begründeter) Un-Wille beim Kind den Unterschied verursacht, davon weiß er nichts. Ein solcher Gedanke würde ihm vielleicht sogar eine unangenehme Ungewissheit bereiten können. Denn so wie er selbst ist schließlich auch dieses Kind ein MenschenExemplar, dem somit das Bedürfnis und die Fähigkeit nach „Sozialer Kompetenz“ gegeben ist. Und „Soziale Kompetenz“ besteht, seines Erachtens zumindest, im Mitmachen statt im Sich-Verweigern. Die Funktion der Verhaltenstherapie als ein auf herrschende gesellschaftliche Verhältnisse bezogener, affirmativer Humantechnizismus beweist sich an dieser Stelle eindrücklich ein weiteres Mal. Wenn somit erst einmal geklärt ist, dass es immer „die Angst“, die eine „Störung“ sei, in der Person selbst ist, die dieser ein Problem macht – an keiner Stelle dieses Wissens also über die Möglichkeit einer dauerhaften Quelle von Angst in den herrschenden Verhältnissen selbst diskutiert wird – dann ist eine ursächliche Verknüpfung von „Angststörung“ mit der gesellschaftlichen Position des Sich-Ängstigenden eine logische Konsequenz. Petermann/Petermann raten daher auch, so früh wie möglich präventiv einer demnächst vielleicht gegebenen „Angststörung“ zu begegnen.
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„Es zeigte sich, dass sich eine Angstentwicklung bereits früh im Entwicklungsverlauf durch eine Reihe von Merkmalen andeutet und bei sozial unsicheren Kindern auch ohne eine Diagnose der sozialen Phobie Beeinträchtigungen im subklinischen Bereich feststellbar sind“ (Petermann/Petermann 2003: 12).
Und über die möglichen Folgen solcher nicht erkannten frühen „Noch-NichtStörungen“ als „verpasste Chancen“ wissen Stangier u.a. schon zu Beginn ihres Buches zu berichten: „Soziale Phobien beeinträchtigen die Lebensqualität in weitaus stärkerem Maße, als bislang angenommen. Die Beeinträchtigungen betreffen vor allem die Bereiche Beruf bzw. Ausbildung sowie die Partnerbeziehung“ (Stangier u.a. 2003: 20)
In der Folge führen Stangier u.a. unter Verweis auf erfolgte Studien die Gefahren näher aus. „Soziale Phobien“ seien mit Beeinträchtigungen in allen psychosozialen Bereichen verbunden. In epidemiologischen Studien hätten Personen mit „Sozialen Phobien“ durchgängig einen geringeren sozioökonomischen Status, der sich in einem geringeren Bildungsstand, geringerem Einkommen, einer schlechteren finanziellen Situation und einer niedrigeren sozialen Schichtzugehörigkeit zeige. „Soziale Phobien“ würden zudem hohe ökonomische Kosten in Form von Arbeitsausfällen, niedriger Arbeitsproduktivität und Unterqualifizierung im Beruf verursachen. Darüber hinaus fände sich bei Menschen mit „Generalisierter Sozialer Phobie“ ein erhöhter Anteil an Arbeitslosen, und zwar sowohl bei Erwachsenen als auch bei Jugendlichen. Man müsse davon ausgehen, dass viele Personen mit „Sozialen Phobien“ (insbesondere im Zusammenhang mit „Selbstunsicherer Persönlichkeitsstörung“) berufliche Positionen vermeiden würden, die den Kontakt mit Kollegen, die Führung von anderen Menschen oder Präsentationen vor anderen Menschen beinhalten. Darüber hinaus würden sie aufgrund ihrer Vermeidung Probleme in ihrem Beruf bekommen, die nicht selten in Kündigungen münden. So würden sich Personen mit „Sozialen Phobien“ häufig unterqualifiziert in isolierten, schlecht bezahlten Beschäftigungen wiederfinden. Auch seien Personen mit „Sozialer Phobie“ seltener verheiratet und würden auch seltener mit einem Partner zusammen leben. Noch dazu hätten sie weniger freundschaftliche Beziehungen, eingeschränktere familiäre Beziehungen, ein schlechteres soziales Netzwerk und sie beteiligten sich weniger an Vereinen oder anderen sozialen Einrichtungen. Sie würden somit eine verstärkte soziale Isolation erleben. Personen mit „Sozialen Phobien“ hätten häufiger Suizidgedanken und litten darüber hinaus unter „Hoffnungslosigkeit“, „Sorgen“ und „Anhedonie“ (vgl. Stangier u.a. 2003: 20 ff.). Und damit auch der schnelle Leser erfährt, welche Gefahren drohen, wenn die „Angststörung“ nicht behandelt wird, fassen die Autoren diese Ergeb-
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nisse noch einmal schlicht und nachdrücklich in einem grau unterlegten Kasten folgendermaßen zusammen: „Soziale Phobien sind ein psychosoziales Handicap: 1. verringertes Bildungsniveau 2. unterqualifizierte Beschäftigungen 3. geringere Arbeitsproduktivität/geringeres Einkommen 4. weniger häufiger verheiratet, häufiger Trennungen 5. Beeinträchtigungen der familiären und sozialen Beziehungen 6. soziale Isolation 7. psychische Folgeprobleme (Depression, Sucht)“ (Stangier u.a. 2003: 22).
Die Radikalität, mit der hier eine „psychische Störung“ als die erste Ursache für verschiedenste persönliche und gesellschaftliche Konstellationen, die ein Leben zu bieten hat, angenommen wird, kann ein weiteres Mal erstaunen. Denn in diesem Wissen besteht an einem möglichen Urteil über eine Gefahr, auf die „die Angst“, die eine „Störung“ sei, verweisen könnte, wirklich kein Interesse. Egal was einem Menschen an Widrigkeiten im Leben widerfährt – sei es der Tod der Eltern, sei es Arbeitslosigkeit, sei es ein geringes Einkommen oder ein explodiertes Atomkraftwerk – nichts davon gilt dieser Wissenschaft als ein möglicher gültiger Grund einer dauerhafteren Angst. Auf der anderen Seite würde ein solches Nachdenken auch weder ihrer ideologischen Funktion noch ihrem Interesse nach Legitimation ihrer Beschäftigungsverhältnisse gerecht werden. „Die Angst“, die eine „Störung“ sei, und die sich auf soziale Situationen beziehen soll, also die „soziale Angststörung“ der Verhaltenstherapie, ist demnach 1. unbestimmt, denn sie ist „biopsychosozial“. Sie ist 2. selbstisch, also eine „Störung“ in der Person. Sie ist 3. allgemein, denn sie ist menschlich und also ganz natürlich. Sie verweist 4. auf die herrschenden Verhältnisse, vor denen sich die Normativität und Rigidität dieses Konzepts hinsichtlich dessen, was als „gestört“ und was als „nicht gestört“ gelten soll, radikal entfaltet.
6 „Die Angst“ in Ratgebern 6.1 Einleitung Vor dem Hintergrund der bisherigen Darstellung „der Angst“ als ein Thema philosophischer und psychologischer Betrachtung kann auf zwei immer wieder kehrende Aspekte zunächst noch einmal aufmerksam gemacht werden. Immer wird in diesen Wissensangeboten auch ein bestimmtes Verhältnis von einer einzelnen sich-ängstigenden Person zu der sie umgebenden gesellschaftlichen Ordnung thematisiert; sei es implizit oder explizit, sei es, dass dieses Wissen sich affirmativ, sei es, dass es sich kritisch auf die herrschenden Verhältnisse bezieht. Zum anderen weisen die Angebote eine größtmögliche Heterogenität in Bezug auf zwei Fragen auf: Was gilt als Ursache „der Angst“ und was gilt als eine angemessene Verhaltensweise in Folge „der Angst“? Beide Aspekte lassen sich bei einer näheren Betrachtung von Ratgeberliteratur, deren Autorinnen13 sich zumeist auf zumindest Teile des bisher schon diskutierten Wissens beziehen, wieder finden.
6.2 Welchen Rat man von einem Ratgeber (nicht) erwarten kann Ein kritischer Bezug auf die gegebene, also „normale“ Situation, in der sich die Sich-Ängstigende bewegt, oder auf ihre (endliche) Existenz als eine mögliche Ursache und/oder Quelle ihrer dauerhaften Angst, findet in diesen Büchern nicht statt. Die Regeln des Genres, in denen dieses Wissen veröffentlicht wird, stehen dagegen. Sortiert man Bücher gemäß den je eigenen Ansprüchen der Autorinnen den Kategorien „Fachbuch“, „Sachbuch“ und „Belletristik“ zu, dann können ihre Ratgeber als eine Unterform von Sachbuch verstanden werden. Hierin aber geht 13 An dieser Stelle noch einmal der Hinweis, dass aus Gründen der geschlechtergerechten Sprache – wie zu Beginn bereits erwähnt – in dieser Arbeit erst wieder im Resümee auf eine sprachliche Nennung beider Geschlechter – immer dann also, wenn sowohl Frauen als auch Männer gemeint sind – Rücksicht genommen wird. Für die übrigen Kapitel gilt, dass in den Kapiteln 1, 3, 4 und 5 immer die männliche Form benutzt wird und Frauen mitgemeint sind. In den Kapiteln 2 und 6 hingegen ist es umgekehrt, hier wird immer die weibliche Form bemüht und Männer sind mitgemeint. Eine solche Vorgehensweise dient dem besseren Lesefluss und kann, in dem Maße, wie sie irritiert, auch auf das zugrundeliegende Thema der Nichtidentität von Wissen und Gestalt selbst, siehe hierzu Kapitel 1 und 2, verweisen.
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es immer auch um ein in irgendeiner Form verwendbares Wissen. Im Ergebnis unterscheidet sich dieses Wissen diesbezüglich nicht von jenem, das insbesondere von verhaltenspsychologischer Seite bereitgestellt wird. Die jeweilige wissenschaftlichen Maßstäben genügende Genese dieses Wissens selbst wird darin aber nicht dargestellt. Das Ratgeberwissen soll in allgemein verständlicher Form geschrieben und möglichst übersichtlich und „geschickt“ aufgemacht sein. Und schließlich liegt es auch noch einmal mehr im Interesse der Autorin wie auch des herausgebenden Verlages, dass ein Sachbuch – anders als ein Fachbuch – auch kommerziell möglichst erfolgreich sein soll. In ihm können zwar auch ausgewählte Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung und/oder Ergebnisse eigener Überlegungen den Leserinnen dargeboten werden. Aber anders als in wissenschaftlichen Fachbüchern zum Thema wird hierin auch nahtlos an Bestände des Alltagswissens angeknüpft. Grundlegende Prinzipien wissenschaftlicher Arbeit, wie Plausibilität, Stringenz und die Angabe von Quellen, werden zugunsten der Lesbarkeit vernachlässigt. Diese gelten nicht als die ersten Anforderungen der potentiellen Leserinnen an das von ihnen zu erwerbende Produkt; sie sollen in erster Linie hilfreich beraten werden. Ein Interesse an den Produktionsbedingungen dessen, was gekauft wurde, wird nicht vorausgesetzt; darauf macht auch Höffer-Mehlmer in seiner Untersuchung über das Genre Elternratgeber aufmerksam (vgl. Höffer-Mehlmer 2003: 7 ff). Diesen besonderen Produktionsbedingungen aber und den damit verbundenen Folgen gilt die ganz besondere Aufmerksamkeit derer, die die diesbezüglichen Zusammenhänge unter „kulturindustrielle Wissensproduktion“ zusammenfassen (vgl. hierzu Horkheimer/Adorno 1997; Steinert 1998). Reflexive und kritische Ausführungen zu sozialwissenschaftlich relevanten Themen werden hiernach von Beginn maßgeblich ausgeschlossen oder zumindest erheblich eingeschränkt. Es gelten folglich gerade auch für Ratgeber über „die Angst“ folgende, von Steinert unter Bezug auf Adorno festgehaltene, allgemeinen Merkmale kulturindustriellen Wissens. Der Leserin wird – indem sie bereits mit dem Kauf eines solchen Buches anerkennt, dass sie sich nicht mehr zu helfen weiß und auf eine Autorität angewiesen ist, die ihr nun sagt, was richtig ist – Versagung zugefügt und demonstriert. Mittels eines Schreibstils, der sich häufig direkt an die Leserinnen wendet, werden diese des Weiteren zur Identifikation mit der Autorin eingeladen und dazu, deren Position und deren Annahmen von nun an zu teilen. Ratgeber über „die Angst“ setzen den Zustand der Gesellschaft – der von mächtigen Institutionen, von denen die Amerikanische Psychiatervereinigung ein Teil ist, zusammengehalten und organisiert wird – bereits voraus. Um Trost zu gewähren, werden Rezepte zur Vermeidung von Angst offeriert. Und schließlich wird der Leserin die eigene Durchschnittlichkeit oder vielmehr die mangelnde Lebensbewältigung als deren je eigener Verdienst eingeredet. Letztlich sollen
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aber auch die Rezipientinnen dieses kulturindustriellen Wissens nicht, gemäß der auch hier zugrunde liegenden Annahmen, als Reaktionsdeppen konstruiert werden, die in der Folge diesem Wissen über „die Angst“ passiv ausgeliefert seien. Denn: „Nicht die Kulturindustrie tut den Leuten an, was sie sich in der Folge selbst antun müssen. In ihren Produkten lernen wir die Fassade kennen, die wir alle hochhalten müssen, wenn wir nicht ausgeschlossen werden wollen“ (Steinert 1998: 154).
Es finden sich demnach auch in Ratgebern über „die Angst“ in erster Linie sehr explizite zum Teil aber auch implizit formulierte Forderungen hinsichtlich dessen, was eine Sich-Ängstigende in der Folge ihrer Angst zu tun und was sie zu lassen hat. Dies entspricht auch ganz der inhaltlichen Ausrichtung der anderen Bücher, neben denen ein Ratgeber über „die Angst“ im Buchhandelsregal zu finden ist. Auch in Büchern über Internet-Nutzung, Autoreparaturen und Beautyberatung geht es darum, jeweils in Richtung auf gesellschaftlich anerkannte Ziele („Wissensgesellschaft“, „Eigenständigkeit“, „Typentfaltung“) ein bestimmtes nützliches Wissen zu vermitteln. Ratgeber sind also immer auch technologische Sachbücher, da in ihnen der Autor nicht nur über bestimmte Sachverhalte informiert, sondern darüber hinaus immer auch Techniken, Methoden und Tipps anbietet, mit denen es möglich sein soll, diese Ziele zu erreichen. Eine solche Beratung geschieht vor dem Hintergrund der eigenen Ausbildung und auch mit dem Ziel der Weitergabe eigener Erfahrungen. Entsprechend bewegen sich die Ausführungen von Autorinnen von Ratgebern über „die Angst“ für Eltern häufig sehr eng innerhalb der ihnen von Seiten ihrer Ausbildung gegebenen theoretischen Grenzen; andererseits machen sie aber, über die Beschreibung ihrer Ausbildung oder ihres ausgeübten Berufs hinaus, regelmäßig darauf aufmerksam, dass sie auch erfolgreiche Mütter bzw. Väter seien. Beides – die Behauptung von Sachverstand und persönlicher Betroffenheit – findet sich in der Ratgeberlektüre regelmäßig – zumeist bereits auf dem Titelblatt oder dem Klappentext – wieder (vgl. Höffer-Mehlmer 2003: 272). Die Leserin, so darf über die Intention der Autorinnen gemutmaßt werden, soll dann den Eindruck haben, dass da nicht bloß jemand weiß, wovon sie schreibt, sondern, dass sie als Autorin auch eine ähnliche Situation mit ihr teilt. Da sie solche Situationen bereits erfolgreich bewältigt hat, kann auf ihr wertvolles Erfahrungswissen vertrauensvoll zurückgegriffen werden. Allein, und hier schließt sich wieder der Kreis: Diese Praxis will von Seiten der Autorinnen und der Leserinnen zuallererst „erfolgreich“ bewältigt (und nicht reflektiert und kritisiert) werden, zum Zwecke einer bestimmten, in jedem Fall aber „richtigen“ Lebensführung. Und gegen eine solche „richtige“ Lebensführung steht, folgt man den Ratgeberautorinnen, zuallererst „die Angst“ derer, die
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von ihr betroffen sind. Eine erfolgreich bewältigte Praxis setzt demnach zuerst einmal immer die Bewältigung „der Angst“ voraus. Dies ist ein Zusammenhang, der bereits bei einem Blick auf die Titel dieser Schriften deutlich wird.
6.3 „Die Angst“, die zu „überwinden“ sei Von einem der ersten Ratgeber der Nachkriegszeit, der allerdings in erster Auflage bereits 1935 (Oehler 1935/1955) erschien, bis hin zu Ratgebern jüngeren Datums zieht sich das Thema der „Befreiung“, der „Bewältigung“, der „Überwindung“ von „der Angst“. Einige wenige typische Titel aus den letzten 50 Jahren lauten zum Beispiel: „Angst? Der Weg zur Befreiung von einem der stärksten Quälgeister“ (Oehler 1935/1955) „Angst, unser Feind Nr. 1: Wie wir uns von ihr befreien“ (Asturel 1954) „Angst erkennen, Angst überwinden“ (Pössiger 1976) „Unsere sinnlosen Ängste: Wege zu ihrer Überwindung“ (Wolpe 1984) „Ängste verstehen und überwinden: gezielte Strategien für ein Leben ohne Angst“ (Wolf 1989) „Angst überwinden: Selbstbefreiung durch Verhaltenstraining“ (Hennenhofer/Heil 1990) „Angst erfolgreich überwinden: effektive Strategien der Angstbewältigung“ (Dombrowski 1998) „Endlich frei von Angst: Denkmuster erkennen, aktiv trainieren, Selbstvertrauen gewinnen“ (Von Witzleben/Schwarz 2004) Einerseits versprechen die Autorinnen also ihrer zahlungswilligen und beratungssuchenden Leserinnenschaft zwar bereits auf dem Titel die Möglichkeit, dass diese mit Hilfe dieses Buches „erlöst“ werden könnte von jenem Problem, dass sie eben zum Kauf desselben trieb; andererseits lässt fast keine dieser Autorinnen auf den ersten Seiten unerwähnt, dass eine völlige Angstfreiheit doch nicht wünschenswert und auch nicht möglich sei. Angst als ein Affekt, der sinnvoll auf ein die Sich-Ängstigende gefährdendes Objekt verweist, kennen sie alle. Allein: „Die Angst“ als ein dauerhafter und/oder zu intensiver Zustand will wieder einmal in einer je unterschiedlichen Art und Weise „bekämpft“ werden, damit sich die Sich-Ängstigende, je nach Ausrichtung der Autorin, funktionsund/oder persönlichkeitsgemäß den Aufgaben des Lebens wieder zu stellen vermag.
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6.4 „Die Angst“, „die Anpassung“ und „das Glück“ Die in diesem Zusammenhang strikte affirmative Normativität – einschließlich sich daraus ableitender präziser Verhaltensanforderungen, die mit einem Ratgeberwissen über „die Angst“ einhergehen – lassen sich sehr anschaulich und prägnant anhand von zwei diesbezüglich typischen Titeln der allgemeinen Ratgeberliteratur belegen. Die mit diesem Ratgeber-Wissen über „die Angst“ einhergehenden normativen Verhaltensanforderungen können als eine konsequente, radikalisierte Fortsetzung dessen, was im psychologischen Wissen über „die Angst“ – vor allem in jenem der Verhaltenspsychologie – bereits angelegt ist, beschrieben werden. Das frühe Buch von Oehler (1935/1955) ist geeignet, diesen Zusammenhang deutlich zu machen. Oehler argumentiert vor dem Hintergrund einer theologisch-christlichen Überzeugung dafür, sich einem Gott und dessen Wollen zu unterstellen, um so „der Angst“ in der Folge keinen Raum mehr zu geben. Er kommt im Ergebnis aber zu ganz ähnlichen Schlussfolgerungen wie aktuelle, psychologisch aufgeklärte Autorinnen. Hierfür stehen, als Produzenten eines Ratgeberwissens jüngeren Datums, die beiden Diplom-Kaufmänner Panse und Stegmann mit ihrem gleichnamigen Buch zum Zusammenhang von „MachtAngst-Erfolg“ (vgl. Panse/Stegmann 2004). Panse ist darüber hinaus Professor an der Fachhochschule Köln, Stegmann an gleicher Institution wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter für Präsentations-Management. Die beiden Wirtschaftswissenschaftler also wenden sich vorwiegend an Personen, die ihre Angst bzw. die Überwindung ihrer Angst für die eigene berufliche Karriere nutzen möchten. Des Weiteren wenden sie sich an leitende Angestellte und Managerinnen, die „die Angst“ der Belegschaft für ein profitables Fortkommen des Betriebs nutzen wollen. Demnach gibt es also konstruktive Ängste insofern als die Leistungsbereitschaft der Mitarbeiterinnen mittels „der Angst“ auf ein betriebswirtschaftlich relevantes optimales Niveau gebracht wird. Es gibt aber auch destruktive Ängste für den Fall, dass Ängste dem Betrieb mehr Schaden zufügen denn nutzen. Oehler wendet sich mit seinem Buch etwas allgemeiner an alle von Angst Betroffenen gleichermaßen. Die Folgen, die aus einem veränderten und zu verändernden Denken über die Wirklichkeit resultieren, beschreibt er folgendermaßen: „Es gibt Familien, die versagen sich die Butter aufs Brot, nur um ihrer Umgebung einen längst vergangenen Wohlstand noch vorzutäuschen. Kein Wunder, daß sie nicht aus der Spannung herauskommen. Aber in dem Augenblick, da sie sich zur Wirklichkeit bekennen, da sie zu den Gegebenheiten ja sagen, wird Kraft frei, diese vielleicht wirklich nicht sehr erfreuliche Lage zu ändern [...] Ich kann wirklich nicht in einer Gegenwart herzhaft leben, die ich innerlich ableh-
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Kritik der Angst ne. Angst und Bitterkeit lähmen entsetzlich. Und nun ist es kein Wunder, wenn ich wirklich im Zustand dieser Lähmung der Gegenwart nicht gewachsen bin“ (Oehler 1955: 9).
Eine ganz ähnliche, wenngleich säkularisierte Variante einer solch besinnungslos optimistischen Auseinandersetzung mit „der Angst“ und einer in der Folge affirmativen Positionierung gegenüber Prozessen der sozialen Ausschließung im Kapitalismus, findet sich fünfzig Jahre später bei Panse/Stegmann wieder. Dass hierin in einer Auseinandersetzung mit „der Angst“ der Begriff des „Einzelnen“ gewählt ist, macht einmal mehr darauf aufmerksam, dass ein Wissen über „die Angst“ regelmäßig ein Wissen über ein bestimmtes Verhältnis des zu disziplinierenden, weil abweichenden, „Einzelnen“ zu der ihn umgebenden „guten“ gesellschaftlichen Ordnung beinhaltet: „Der Einzelne, der befürchtet, seinen Arbeitsplatz in naher oder ferner Zukunft zu verlieren, sollte auf keinen Fall Verdrängungsmechanismen zur Angstreduktion einsetzen. Wir haben schon mehrfach beschrieben, dass Verdrängung kein probates Mittel für die Bekämpfung von Ängsten darstellt. [...] Natürlich ist im Konkurrenzkampf um freie Arbeitsplätze Eigeninitiative gefordert. Dazu gehört die Bereitschaft, sich den ständigen Wandlungsprozessen durch permanente Fort- und Weiterbildung, gegebenenfalls auch durch das Erlernen einer zusätzlichen Fremdsprache und/oder eines neuen Berufes anzupassen. Eine weitere Form der Eigeninitiative ist der angemessene persönliche Verzicht. Im Fort- und Weiterbildungsbereich ist eine Orientierung in Richtung Dienstleistungssektor mit all seinen Facetten besonders viel versprechend. Der Verzicht auf einen kurzen, bequemen Weg zum Arbeitsplatz, auf Lohn- oder Gehaltsbestandteile, auf eine bisher regelmäßig gezahlte Prämie oder auf unumstößlich feste Arbeitszeiten stellt zwar auf der einen Seite einen deutlichen Einschnitt in bisherige Arbeits- und Lebensqualität dar, erhöht aber auf der anderen Seite die persönliche Attraktivität für den Arbeitsmarkt“ (Panse/Stegmann 2004: 257 f.).
Eine „Natürlichkeit“ von Eigeninitiative in der Konkurrenz bzw. bei Oehler – etwas unbestimmter – eine „Wirklichkeit der Gegenwart“: das sind die von den Autoren jeweils behaupteten unumstößlichen ersten Bedingungen des Lebens. Weder sind Panse/Stegman und Oehler an einer Kritik herrschender Verhältnisse interessiert, noch zielen sie mit ihren Texten auf kollektive Einsichten und solidarische Handlungen Vereinzelter ab. Eine kritische Analyse der gesellschaftlichen Herstellung und Funktion von Konkurrenz bzw. eine kritische Analyse der Produktion von „Wirklichkeit“ steht nicht im Mittelpunkt ihrer Betrachtungen. Eine solche Kritik entspräche auch weder ihren theoretischen Positionen noch ihren gesellschaftspolitischen Absichten. Im Gegenteil: Gefallen finden alle drei Autoren an einer Forderung nach einer Anpassung der einzelnen SichÄngstigenden an die jeweiligen Verhältnisse. Die ihnen zu entnehmenden Anforderungen an die Einzelne sind es, von denen aus die Sich-Ängstigende ihr Verhalten reflektieren soll; ihnen hat sie sich zu stellen; ihnen muss sie den Sinn ihres Lebens entnehmen; ihnen gemäß hat sie sich zuzurichten. Dieser spezielle, so zustande gekommene „Lebens-Sinn“, der sich bei Panse/Stegmann als „per-
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sönliche Attraktivität für den Arbeitsmarkt“ übersetzt, findet sich bei Oehler noch, wie folgt, im „christlichen Original“: „So positiv müssen wir dem Leben gegenüberstehen, dann werden wir auch wenig Angst haben, eben weil wir wissen, daß wir an allem wachsen, und daß jeder scheinbare Unsinn des Lebens seinen letzten Sinn in sich trägt. Wir glauben an den Sinn des Lebens, des Lebens mit all seinen Unstimmigkeiten, Grausamkeiten, Schwierigkeiten, Ungelöstheiten“ (Oehler 1955: 18).
Deutlich lässt sich hier jeweils heraus ablesen, was die Einzelne ihrer Angst wegen machen soll: Ihre Angst sei das Ergebnis bloß ihrer Bitterkeit, ein Ergebnis ihres Pessimismus. Es gilt bei allen drei Autoren daher nun, die Welt anzunehmen, wie sie ist, und es gilt den eigenen Platz darin zu finden; dann sei man ihr gewachsen, dann müsse man keine Angst mehr haben. Von einem Willen nach Veränderung vorgefundener Situationen, nach Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse gar, empfehlen demnach alle drei Autoren, zumindest implizit, Abstand zu nehmen. Der eigene Wille sei, wie zu Beginn mit Wimmer gezeigt, einer alten pädagogischen Tradition folgend ein weiteres Mal in einer Anpassung an das Zu-wollen-Dürfende und an das Zu-Müssende am besten aufgehoben. Kommt es dabei dennoch zu Problemlagen für das eigene Leben, dann gilt dies noch einmal umso mehr. Gerade dann nämlich hat sich der Wille zur Anpassung und der Wille zum Optimismus zu bewähren, dann hat er zu zeigen, dass es ihm auch wirklich ernst damit war. Das Leiden bei Oehler bzw. die Verarmung bei Panse/Stegmann will durchgehalten sein. Das ideologische Moment hierbei – dass nämlich „die Angst“ am besten dadurch zu bekämpfen sei, dass man seinen „eigenen“ Platz in der Gesellschaft zu finden hat, der einem die bestmögliche Entfaltung der eigenen Fähigkeiten garantiere, und dies wohl bei gleichzeitig größter Kontrolle über die eine umgebende soziale Situation – das fand sich in den bisherigen Ausführungen ähnlich auch schon bei Petermann/Petermann. In einer konsequenten und radikalen Weiterführung findet sich diese Denkfigur nun auch in aktueller Ratgeberliteratur über „die Angst“ wieder. Und im Gegensatz zu Petermann/Petermann benötigt zumindest Oehler auch keine Lerntheorie und keine Verhaltenstherapie, um über diesen Zusammenhang Bescheid zu wissen. Der Grund „der Angst“, so Oehler, sei der: „Fast alle diese Angst hängt damit zusammen, daß wir nicht ganz ehrlich sind. Wir möchten nicht vor den andern genau das sein, was wir sind. Wir wollen alle lieber gebildeter, vornehmer, hübscher, liebenswürdiger, stärker, frömmer, weniger fromm, reicher, eben irgendwie vorteilhafter erscheinen. Wir maßen uns alle irgendeine Rolle an, die wir nun spielen müssen. Und nun haben wir Angst, wie ein Schauspieler Angst hat, aus der Rolle zu fallen. [...] Wer mehr sein will, als er ist, wird nie von der Angst loskommen. Und wenn einer sehr unter der Angst leidet, so muß man immer die Frage stellen: Steckt nicht die Ursache in einem falschen und übersteigerten Geltungsbedürfnis?“ (Oehler 1955: 10).
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Grenzen des Systems in individuelle Defizite der „Einzelnen“ zu verwandeln, das funktioniert somit auch vor dem Hintergrund eines christlich-normativen Anspruchs. Eine mögliche Reaktion (Angst) auf individuelle Problemlagen in gesellschaftlichen Verhältnissen gar zu einer Gefahr für eben diese Verhältnisse zu wenden, das ist ein aus solchen Angstinterpretationen erwachsender möglicher argumentativer Fortschritt, der sich fünfzig Jahre später folgendermaßen kurz und knapp zusammenfasst: „Verarmungsangst gefährdet unser Gesellschaftssystem“ (Panse/Stegmann 2004: 39).14 Panse/Stegmann und Oehler sind sich, ähnlich wieder wie Petermann/Petermann, einig, dass es als eine erste und wichtigste Maßnahme gegen „die Angst“ Gewissheit benötigt. Bezüglich der Frage, was die eigentliche Quelle dieser Gewissheit sei, gibt es verschiedene Annahmen. Während die SichÄngstigende bei Petermann/ Petermann aufgefordert ist, sich selbst – und gegebenenfalls auch mit einer trainerischen und/oder therapeutischen Hilfe – einen Platz in der Gesellschaft zu suchen, der ihr die größtmögliche Gewissheit zu geben möglich macht, weiß Oehler, dass es zusätzlich noch eines Glaubens an einen Gott bedarf, um zu Angstfreiheit zu gelangen. Panse/Stegman setzen ebenfalls auf diesen, „der Einzelnen“ gemäßen Platz, für den sie sich selbst anzustrengen hat. Und sie betonen zusätzlich noch die Wichtigkeit von Selbstsuggestion: „Optimismus gibt Sicherheit, Pessimismus macht Angst“ (Panse/Stegmann 2004: 262). Anders ausgedrückt: Die Hoffnung Oehlers darauf, dass mittels der Aufforderung an die Leserinnenschaft, sich einem Gott zu unterstellen, ein Mechanismus der Verhaltensänderung – also der Disziplinierung – wirksam werden 14 Einen Niederschlag finden solche Argumentationsmuster in journalistischen und politischen Diskursen über „die Abstiegsangst“. In einer Diskussionssendung des ZDF am 12.10.2006 zum Thema: „Und morgen bin ich auch unten? Die neue Angst vorm Abstieg“, geleitet von Maybrit Illner, kannte die Moderatorin fast keine anderen Fragen als solche, die auf die Gefährdung durch Sich-Ängstigende für „unser“ Gesellschaftssystem und auf deren angebliche Passivität abzielte. Auf ihre Eingangsfrage „Wächst die Zahl derer, die sich aufgeben?“ folgte bspw. auch die Frage: „Gibt es eine Unterschicht, die dadurch definiert ist, dass sie nicht tut, was von ihnen verlangt wird?“ und letztlich wusste sie sogar: „Arme sind körperlich und sprachlich degeneriert“. Der in solchen Runden als kritischer Publizist geltende Günther Wallraff wusste darauf nicht anders zu parieren, als dass die Demokratie doch in Gefahr sei, wenn zu viele zu arm würden. Eine kritische Einsicht läge aber gerade darin, zu erkennen, dass gerade mit solchen Argumenten, die seiner Ansicht nach wohl für Menschen in Armut sprechen sollen, auch ein Grund angeboten wird, präventiv gegen z.B. „gewaltbereite Ghettokids“ vorgehen zu können (Berlin Mitte 2006). Ähnliches lässt sich auch der Zeitschrift „Der Spiegel“ entnehmen. In der Ausgabe vom 16.08.2004 wird auf der ersten Seite getitelt mit „Angst vor der Armut“. Und bereits in der Unterüberschrift im Text ist zu lesen: „Die Angst vor dem Absturz treibt die Menschen auf die Straße – doch zu den Reformen gibt es trotz aller Fehler keine Alternative“ Allein noch die vielleicht nicht vorhandenen Arbeitsplätze, so die Argumentation weiter, seien berechtigter Anlass zur Sorge. Nicht aber die Bedingungen, unter denen sie angenommen werden müssen (vgl. Der Spiegel 2004).
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könnte, verlagert sich bei Petermann/Petermann dahin, auf die Eigenmächtigkeit anzutrainierender Selbstdisziplinierung zu vertrauen. Panse/Stegmann als NichtTherapeuten und Wirtschaftsexperten setzen den Schwerpunkt hingegen mehr auf die von den gesellschaftlichen Verhältnissen selbst ausgehenden verhaltensnormierenden Kräfte, denen sich die Sich-Ängstigende kompromiss- und widerstandslos auszuliefern hat. „Die Angst“ durch die individuell zu leistende Unterwerfung unter die allgemein herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse überwinden, das ist demnach, kurz gesagt, das von einem solchen Ratgeber-Wissen, wie schon von jenem (verhaltens)psychologischen Wissen zuvor, zumeist ausgehende Programm. Ein Einwand an dieser Stelle, dem eine Kenntnis des Kapitels über soziale Ausschließung nicht unterläge, könnte lauten, dass ein solches Programm zwar Ratgebern für Erwachsene entnommen werden kann; nicht aber Ratgebern für Menschen, denen „die Angst“ als ein „natürlicher“ Teil ihrer Entwicklung zuzugestehen ist. Da diese sich zumeist in „Schonräumen“ wie Kindergärten und Schulen aufhalten, seien demnach doch auch keine derartigen Anpassungsleistungen gefordert. In denen gehe es ja, im Gegenteil, um eine möglichst angstfreie Entfaltung des Kindes oder zumindest auch darum, naive Kinder-Ängste zunächst einmal zu tolerieren. Und tatsächlich wird in Elternratgebern über „die Angst“ immer auch noch eine dritte Angst besprochen. Diese tauchte so ähnlich schon bei Stangier auf und doch wird ihr in Erwachsenenratgebern, aus noch zu klärenden Gründen, zumeist kein größerer Platz eingeräumt. Zwischen „die Angst“, die „normal“ sei, weil sie auf ein tatsächliches, ein die Sich-Ängstigende gefährdendes Objekt verweise, und „die Angst“, die „unbegründet“ oder gar eine „Störung“ sei, schiebt sich nun nämlich wieder „die Angst“, die unbegründet und „normal“ sei.
6.5 Zur Diskussion der Elternratgeber über „die Angst“ Systematisch sollen im Folgenden Elternratgeber über „die Angst“ diskutiert werden. Einem Überblick über Titel der letzten 60 Jahre nach scheint es tatsächlich zunächst so, als ob im Gegensatz zu jenen Ratgebern für Erwachsene in den Elternratgebern keine Überwindung „der Angst“ versprochen werde. Stattdessen wird häufig zunächst eine differenzierte Beschreibung „der (Kinder-)Ängste“ (also „der Angst“ in der Mehrzahl) versprochen. Diesbezüglich typische Titel der letzten 61 Jahre: „Wie entsteht die Angst in meinem Kinde?“ (Goebel 1952)
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„Die Angst unserer Kinder“ (Zulliger 1966) „Ängste gesunder Kinder“ (Eberlein 1979) „Mein Kind hat Angst: Wie Eltern verstehen und helfen können“ (Stein 1996) „Spiele gegen Ängste“ (Rogge u.a. 2004) Als ein Grund dafür, dass „die Angst“ des Kindes nicht bereits auf dem Titel überwunden werden soll, obwohl vielfach die Ausführungen im Buch dann doch wieder eine diesbezüglich sehr eindeutige Sprache sprechen, mag vielleicht darin liegen, dass Adressatinnen dieser Bücher nicht die direkt Betroffenen sind. Angesprochen werden sollen ja zunächst Eltern und Betreuungspersonen, die sich die Frage stellen, inwiefern „die Angst“ bzw. „die Ängste“ des (eigenen) Kindes noch „normal“ ist/sind und wie sie zu verstehen sei/en. Das Angebot dieser Bücher ist es daher auch regelmäßig, zunächst einmal darüber aufzuklären, was eigentlich „die Angst“ des Kindes ist. Dann wird, wie schon erwähnt, zumeist geschieden in unbegründete Ängste, die für das Kind im jeweiligen Alter „normal“ und in solche, die dies nicht sind. Und es wird geschieden in Ängste, die „richtig“ sind, weil sie auf eine tatsächliche Gefahr verweisen. Kindern wird in diesen Büchern also regelmäßig zugesprochen, dass sie eine Angst – eine nicht rational begründbare, eigentlich also unnötige – bis zu einem bestimmten Grade dennoch haben dürfen. Und dieser Grad bestimmt sich zumeist gemäß der bereits im Kapitel 5.7 gemachten Ausführungen über „gesellschaftliche Funktionsfähigkeit“. Dieses Kriterium wird in den zugrunde liegenden Elternratgebern zumeist etwas schlichter mit der Frage ausgedrückt: Entstehen im Alltag der sichängstigenden Kinder Probleme – aufgrund ihrer Angst? Hingegen will die erwachsene Leserin eines Ratgebers über „ihre“ eigenen Ängste – so ist in Hinblick auf die dort zunächst etwas anders formulierten Titel zu vermuten – ganz darauf verzichten, dass sie grundlos ein bestimmter Zustand bedrückt; sie sinnt in der Folge sogleich auf Überwindung und Befreiung von solcherlei „unvernünftigen“, weil nicht kommunizierbaren Emotionen. Und lediglich dort, wo die Autorin eines Ratgebers von einer Übereinstimmung mit ihren potentiellen Leserinnen in der Sache ausgehen kann, dass sie nämlich nun wirklich eine Angst bespreche, die, weil völlig unbegründet und störend, auch beim Kind weg- oder zumindest produktiv gemacht gehöre, sollen auch bestimmte Kinder- und Jugendlichenängste sogleich und im Titel überwunden oder behandelt werden. Hierunter zählen alle Ängste, die um das Thema „Schule“ im Allgemeinen und „Prüfungen“ im Speziellen kreisen. Auch ist anzunehmen, dass der Adressatinnenkreis sich in diesen Fällen, zumindest teilweise, auch wieder um direkt Betroffene erweitert; dass also auch betroffene und auf Abhilfe sin-
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nende Schülerinnen als potentielle Käuferinnen angesprochen werden sollen. Diesbezüglich typische Titel: „Selbstsicher in die Prüfung: ein Kurs zur Überwindung von Prüfungsangst und zur effektiven Prüfungsvorbereitung“ (Eschenröder 1984) „Schulangst: Ursachen – Symptome – Behandlung“ (Leibold 1986) „Nie mehr Prüfungsangst“ (Ruddies 1990) „Klausuren und Prüfungen ohne Ängste schreiben: einfacher geht's nicht!“ (Schmidt 2000) Im Folgenden soll vor dem Hintergrund von 28 Elternratgebern der letzten 61 Jahre, einer Typisierung dieser Ratgeber und schließlich anhand einer erweiterten Diskussion von fünf typischen Exemplaren jeweils einer bestimmten Fraktion deutlich gemacht werden, dass sich die Eltern-Ratgeber in der Frage, was die Ursachen „der Angst“ und was die daraus resultierenden Lösungen seien, voneinander unterscheiden. Hierin folgen sie, in unterschiedlicher Art und Weise, den ebenfalls unterschiedlichen und dargestellten Angeboten psychologischen Wissens über „die Angst“. Andererseits kann gezeigt werden, dass hinsichtlich des jeweils ablesbaren Verhältnisses der „Einzelnen“ zu der sie umgebenden Ordnung keine wesentlichen Unterschiede feststellbar sind. 6.5.1
Zum Suchen und Finden der Untersuchungsgegenstände
Die Deutsche Nationalbibliothek Frankfurt am Main (DNB) hat als Nationalbibliothek den Auftrag, alle in Deutschland und in deutscher Sprache verlegten Bücher seit 1945 zu archivieren. Dieser Umstand bringt die optimale Voraussetzung mit sich, um anhand bestimmter Kriterien im Ergebnis eine möglichst vollständige Liste entsprechender Bücher zu erhalten. Die besprochenen und diskutierten Ratgeber wurden aus der Gesamtmenge der erzielten Treffer im Katalog der DNB zu den Stichwörtern „Kind?+Angst“ (505 Treffer) und den Stichwörtern „Kind?+Ängste“ (72 Treffer)15 ausgewählt. Das Stichwort „Kind?“ (mit Fragezeichen) wurde gewählt, um möglichst alle diesbezüglichen Varianten wie „Kinderängste“, „Angst des Kindes“ oder „Mein Kind hat Angst“ finden zu können. Diese Stichwörter erwiesen sich auch deshalb als am geeignetsten, Elternratgeber zu Kinderängste ausfindig zu machen, da ein Suchen nach „Angst+Kind+Ratgeber“ bspw. lediglich 37 Treffer zutage förderte und die hierbei erzielten Treffer lediglich bis in das Jahr 1991 reichten. Der Grund hierfür 15 Stand: 15.10.06.
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liegt darin, dass die DNB eingehende Bücher erst seit 1986 systematisch als „Ratgeber“ beschlagwortet. Dabei wird der positiv zu bescheidenden Frage gefolgt, ob es sich um eine „praxisbezogene und einführende Literatur für Laien“ handelt. Zwischen 1971 und 1985 geschah die diesbezügliche Beschlagwortung unregelmäßig. Für Bücher vor 1971 wurde anhand der Titel teilweise das Stichwort „Ratgeber“ nachträglich hinzu gefügt. Damit reagierte die DNB auch darauf, dass das Angebot an Ratgebern allgemein seit den 1980ern kontinuierlich an Umfang zunahm. Dieser Umstand wird auch an der Entwicklung der Veröffentlichungen von Elternratgebern zur Angst deutlich. Dass die Frage, was genau unter der Definition der DNB zu fassen ist, je nach Sachbearbeiterin unterschiedlich ausfallen kann, wird am Beispiel des Titels „Ängste im Kindergarten“ von Gertrud Ennulat deutlich (Ennulat 2001). Die Autorin führt zunächst in Theorien über „die Angst“ ein und zeigt dann praktische Methoden des Umgangs damit auf. Gerichtet ist das Buch sowohl an Eltern als auch an Erzieherinnen. Obwohl es demnach der Regel der DNB entspräche, da es ausdrücklich auch auf Laien abzielt, ist es dennoch nicht als Ratgeber beschlagwortet. Eine eigene Suche im Katalog wird so unumgänglich. Aus den dann wie erwähnt erzielten 577 Treffern wurden in einem zweiten Schritt ausschließlich solche ausgewählt, die als „Ratgeber“ entsprechend der bereits genannten Kriterien bezeichnet werden können, und hiervon in einem nächsten Schritt wiederum nur jene, die auch den nachfolgenden Kriterien noch entsprachen. Ausgeschlossen wurden: Bücher, deren Ausrichtung eher den Charakter eines Fachbuchs aufweisen. Z.B. „Angst bei Kindern und Jugendlichen“ (Essau 2003) Bücher, deren Gegenstand tatsächlich Eltern mit Angst sind. Z.B. „Warum Eltern ihren Kindern die Freiheit zurückgeben müssen“ (Pfersdorf 2006) Ratgeber, die eine ganz bestimmte „Spezialangst“ zum Hauptgegenstand der Erörterungen machen. Z.B. „Kinder vor Überforderung schützen: Versagensängste erkennen und abbauen“ (Nieuwenbroek 2004) Ratgeber, die eine Kombination von Angst und einem anderem Thema behandeln. Z.B. „Angst und Aggression bei Kindern, wie Eltern helfen können“ (Kosubek 2006) Bücher, die ihrem Inhalt nach statt des Themas selbst vor allem und zugleich Lösungen gegen „die Angst“ anbieten. Z.B. „Märchen gegen Kinderängste“ (Spangenberg 2001) Kinderbücher, oftmals Bilderbücher, zum Thema Angst, die sich in erster Linie direkt an das Kind wenden. Hierin werden oft Geschichten von Kindern erzählt, die abenteuerliche Dinge erleben und dabei mit ihrer
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Angst umzugehen lernen. Z.B. „Mächtig mutig! Das Angst-Weg-Buch“ (Hille u.a. 2005) Im Ergebnis kam es bei einer entsprechenden Selektion und bezogen auf die jeweiligen Erstausgaben zu folgendem Ergebnis in chronologischer Reihenfolge – im weiteren Verlauf entsprechen, der besseren Lesbarkeit wegen, die Belege für die Bücher den jeweils zugeordneten Ziffern in dieser Liste: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17.
„Angstentstehung und -bewältigung im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter: zum hilfreichen Umgang mit angemessenen Formen“ (Wildermuth 2006) „Brauchen Kinder Ängste? Wie Kinder an ihren Ängsten wachsen“ (Finger 2004) „Spielerisch mit Angst umgehen: Spiele und Übungen für den positiven Umgang mit Ängsten“ (Friedl 2003) „Keine Angst vor der Angst! Elternratgeber bei Ängsten im Grundschulalter“ (Maur-Lambert/Landgraf 2003) „Lässt du das Licht an? Vom Umgang mit Angst und Unsicherheit“ (Baum 2003) „Die Angst überwinden und stark sein“ (Bauer 2002) „Kinder stark machen gegen die Angst: Wie Eltern helfen können“ (Rabenschlag 2002) „Die verborgenen Ängste der Kinder“ (Crotti/Magni 2002) „Selbsthilfe bei Angst im Kindes- und Jugendalter: Ein Ratgeber für Kinder, Jugendliche, Eltern und Erzieher“ (Schmidt-Traub 2001) „Ängste im Kindergarten. Ein Praxisbuch für Erzieherinnen und Eltern“ (Ennulat 2001) „Kinderängste verstehen: Eltern geben Mut und Sicherheit“ (Niederle 2000) „55 Tipps wenn Ihr Kind Angst hat“ (Stiefenhofer 2000) „Ängste machen Kinder stark“ (Rogge 1999) „Kinderängste: Was Eltern wissen müssen. Ursachen erkennen, Auslöser beseitigen, Selbstvertrauen stärken“ (Schulte-Markwort/Schimmelmann 1999) „Kinderängste – Elternängste: Gemeinsame Sicherheit und Mut gewinnen“ (Adriaenssens 1999) „Keine Angst mehr: Wie Kinder kleine und große Ängste besiegen“ (Schmid/Kohlhepp 1999) „Keine Räuber unterm Bett: Wie man Kindern Ängste nimmt“ (Brown 1998)
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Kritik der Angst 18. „Wenn Kinder Angst haben: Wie Eltern Sicherheit und Vertrauen geben können. Wege und Methoden zu Angstbewältigung“ (Suer 1998) 19. „Manchmal habe ich solche Angst, Mama: Wie Eltern ihren Kindern helfen können“ (Friese/Friese 1997) 20. „Trau dich doch! Wie Kinder Schüchternheit und Angst überwinden“ (Friedrich/Friebel 1996) 21. „Kleine und große Ängste bei Kindern“ (Preuschoff 1995) 22. „Kinderängste erkennen – verstehen – helfen“ (Du Bois 1995) 23. „Mein Kind hat Angst“ (Stein 1982) 24. „Die Ängste des Kindes: Wie Sie ihrem Kind helfen können, die Tyrannei der Ängste und Phobien zu überwinden“ (Wolman 1980) 25. „Ängste gesunder Kinder. Praktische Hilfe bei Schulangst, Lernstörungen, Konzentrations- und Leistungsschwächen“ (Eberlein 1979) 26. „Müssen Kinder Angst haben? Eine Elternberatung mit vielen praktischen Beispielen“ (Hemsing 1975) 27. „Die Angst unserer Kinder. Angstformen und -wirkungen, Vermeidung und Bekämpfung der kindlichen Ängste“ (Zulliger 1966-1993) 28. „Wie entsteht die Angst in meinem Kinde?“ (Goebel 1952)
6.5.2 Zum Bild des sich-ängstigenden Kindes – oder: Zum Zusammenhang von Angst und blonden Haaren Der erste Eindruck eines jeweiligen solchen Ratgebers ergibt sich durch das, was auf seinem Deckblatt zu sehen ist. Es sind zumeist Fotos eher ängstlich dreinschauender Kinder. Zeichnungen finden sich in drei Ausnahmen hiervon. Der Gesichtsausdruck der Kinder changiert zwischen uneindeutig bei Crotti/Magni; ängstlich bei Zulliger auf der Ausgabe von 1993, bis hin zu resolut bei Finger. Zwei eindeutig lachende Kinder bilden die Ausnahme.16 Es lassen sich diesbezüglich einige weitere Besonderheiten und Gemeinsamkeiten, die eine gesonderte Betrachtung verdienen, ausmachen. Nimmt man nämlich einmal an, dass die Autorinnen die Auswahl des jeweiligen Bildes entschieden haben, und dies danach, wie ein „typisch ängstliches Kind“ ausschaut, so kann man bei einer Zusammenschau im Durchschnitt zu folgenden Ergebnissen gelangen: Ein typisch ängstliches Kind ist demnach zu allererst ein körperlich scheinbar gesundes Kind. Es ist zumeist mit sich allein und sucht erst nachrangig Schutz bei einer erwachsenen Person.17 16 17
Gemäß der oben aufgeführten Liste die Titel 13 und 15. Alleine: 1, 3, 4, 5, 7, 9, 10, 12, 13, 19, 21, 23, 24, 25, 26. Mit einem Erwachsenen zusammen: 8, 11, 14, 15, 16, 18, 20.
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Das das Kind Ängstigende ist nicht mit dem Objektiv der Kamera einzufangen. Es ist auf keinem dieser Bilder konkret zu sehen. Und obwohl zumeist von Kinder-Ängsten in der doppelten Mehrzahl die Rede ist, und nicht etwa von „Kindangst“, finden sich auf den Deckblättern zumeist keine Bilder mehrerer Kinder18, oder gar Bilder mehrerer Kinder in verschiedenen Situationen. Das „typisch“ ängstliche Kind ist demnach, rechnet man die dunkelhaarigen Kinder noch dazu, zuallererst weiblichen Geschlechts, ist sechs bis zehn Jahre alt und hat eher blonde, denn dunkle Haare.19 Ängstliche Kinder männlichen Geschlechts, im gleichen Alter und ebenfalls mit blonden Haaren, sind am zweithäufigsten anzutreffen.20 Kinder mit dunklen Haaren sind in jedem Falle erst nachrangig mit „der Angst“ beschäftigt.21 Eine Ausnahme bezüglich der Darstellung eines Kindes findet sich bei Crotti/Magni. Hier sind es ein Junge und ein Mädchen, beide aber wiederum blond. Die drei Fotos auf den Büchern von Johanna Friedl, Gertraud Finger und auf der ZulligerAusgabe von 1969 sind drei andere Ausnahmen. Hier sind nämlich jeweils Kinder dargestellt, die einem Stereotyp „deutsches Kind“ eindeutig nicht entsprechen. Interessant ist noch, dass es sich bei dem Autorinnenpaar Crotti/Magni um italienische Autorinnen handelt, die aber ebenfalls auf die Darstellung eines vielleicht „italienischeren“, dunkelhaarigen Kindes zugunsten zweier blonder Kinder verzichteten, bzw. es verzichtete ihr deutscher Verlag hierauf. Das Bild bei Finger zeigt noch eine weitere Besonderheit. Es stellt drei gezeichnete Figuren, aber bloß ein Kind dar. Ein dunkelhaariges Mädchen, die beiden Hände fest in ihre Taille gedrückt, blickt in Richtung eines dritten Wesens mit Hörnern, das selbst bloß durch einen Schatten, den es über die anderen zwei Figuren hinweg wirft, zu beschreiben ist. Die zweite Figur stellt das sichängstigende Alter Ego des Mädchens dar. Es handelt sich hierbei um einen Hasen, der, Rücken an Rücken mit dem Mädchen, auf zwei Pfoten steht. Mit der dritten Pfote hält er sich ein Auge zu, die vierte liegt auf seiner Schnauze. Ein ganz anderes Bild, und gleichzeitig die zweite Ausnahme in Hinblick auf zwei Figuren (ohne Erwachsene), findet sich bei Brown auf seinem Buch: „Keine Räuber unterm Bett“. Hier liegt ein Mädchen auf einem weißen unordentlichen Laken auf dem Rücken liegend, dem Leser, der Leserin das Gesicht zugewandt. Es ist maximal zehn Jahre alt und hat die Augen geschlossen. Es hat schwarze Haare, einen es erwachsener wirken lassenden Pagenschnitt und den Kopf leicht nach links geneigt. Der nackte Hals ist gut erkennbar. Sie ist bedeckt mit einem weißen Frotteehandtuch und im Arm und zwischen den Beinen lie18 19 20 21
Ausnahmen: 8 und 17. 4, 13, 14, 18, 19, 21, 26. 5, 7, 10, 11, 12, 16, 20, 23. Junge: 9; Mädchen: 2, 3, 15, 17, 24, 25, 27; Ausgabe von 1969.
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gend hält sie einen kleinen wachen Jungen, einen Säugling. Der Mund und die Wange des Mädchens sind offensichtlich geschminkt, mit Rouge und rotem Lippenstift. Der Junge, blond, trägt einen Schlafanzug, das Mädchen scheint nackt zu sein. Es ist offensichtlich, dass andere Kriterien die Auswahl der Bilder bestimmt haben müssen, denn die Frage danach, wie ein „typisch ängstliches“ Kind aussieht. Auf die Farbe der Haare oder auf die Nationalität z.B., als zwei demnach entscheidende Aspekte, kommt jedenfalls keine der Autorinnen im Laufe ihrer Ausführungen wieder zu sprechen. Den Entscheidungen für diese Bilder liegen tatsächlich, so kann begründet vermutet werden, implizit oder explizit, Antworten auf zwei ganz andere Fragen zugrunde. Die erste Frage wird vermutlich gelautet haben: Was ist „die Angst“, wie lässt sie sich bildlich darstellen? Und die zweite Frage: „Das Bild welches Kindes verkauft sich, gemessen auch an unserer anvisierten Zielgruppe, vermutlich am besten?“ Die Antwort auf die erste Frage fällt, entsprechend den bisherigen Ausführungen, nicht überraschend aus. „Die Angst“ ist demnach auch diesen Titelbildern nach und auch in allen diesen Ratgebern ähnlich bestimmt. Wieder ist sie 1. allgemein. Von Kinderängsten auf den Deckblättern ist zumeist in der doppelten Mehrzahl die Rede. Sie ist 2. bestimmt als selbstisch. Von zwei Ausnahmen abgesehen ist immer genau ein Kind dargestellt. Sie ist 3. bestimmt als unbestimmt. Ein Grund für „die Angst“ der dargestellten Kinder kann den Bildern nicht entnommen werden. Und „die Angst“ verweist 4. auf ein Verhältnis des Kindes zu sich selbst. Denn es ist ja immer bloß das einzelne Kind zu sehen, ohne dass gleichzeitig auch eine objektiv sichtbare Gefahr abgebildet ist. Von diesem Verhältnis des Kindes zu sich selbst soll „die Angst“ der Kinder verstanden und gelöst werden. Rückschlüsse auf mögliche Antworten die zweite Frage betreffend – Welches Bild verkauft sich vermutlich am besten? – fallen ebenfalls nicht schwer. Wenn angenommen wird, dass die Bilder die anvisierten Käuferinnen zur Identifikation einladen und an das eigene Kind erinnern sollen, dann lässt sich negativ gewendet aussagen, dass die Autorinnen und/oder die Verlage in erster Linie offensichtlich weder auf Angehörige außereuropäischer Migrantinnenfamilien noch auf Eltern stigmatisierter Kinder als potentielle Käuferinnen abzielen. Dass ein Ratgeber, der das ihren eigenen Aussagen nach „schwierige“ Thema Angst behandelt, versehen mit der Illustration eines blonden Kindes an „lichter Leichtigkeit“ und damit an Attraktivität gewinnen soll, kann als ein zweiter Grund für die Wahl dieser Bilder angenommen werden. Dieser Befund kann zunächst verwundern. Schließlich ist anzunehmen, dass sowohl bestimmte Migrantinnenfamilien als auch Eltern stigmatisierter Kinder von Prozessen sozialer Ausschließung und damit vielleicht auch von Angst in
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besonderem Maße betroffen sind. Seien es Familien und Kinder mit besonderen finanziellen Problemen oder sei es, dass sie in Folge von Sprachbarrieren oder in Folge von Barrieren aufgrund einer körperlichen und/oder geistigen Behinderung besonderen Schwierigkeiten auch und gerade in der Schule ausgesetzt sind. Andererseits ist es aber auch wieder konsequent, solche konkreten und für diese Familien schwierigen Situationen nicht zum Thema eines Titelbildes eines Ratgebers zu machen. Denn schließlich steht vor der Beschäftigung mit konkreten Sich-Ängstigenden bereits fest, dass „der Angst“ eben kein tatsächlicher und in den Verhältnissen zu suchender dauerhafter Grund zu entnehmen möglich ist. Dem Bild nach offensichtlich von der „Normalität“ abweichende Kinder kann also auf einem Deckblatt zum Thema schon deshalb kein Platz eingeräumt werden, da ja schließlich die Normalität „der Angst“ und ihre als „gestört“ bezeichneten Varianten ausgeführt werden sollen. Von der je eigenen (auch vielleicht problematischen) Besonderheit eines jeweils sich-ängstigenden Kindes muss abstrahiert werden. Gezeigt werden daher nur Kinder, denen – weil sie als „hübsch“, als „gesund“, als „deutsch“, eben als „normal“ gelten – die ihnen unterstellte Angst nur als Angst ein Problem macht. Das gezeichnete Bild bei Finger mit dem Mädchen und dem Hasen nimmt dagegen eine symbolische Vorwegnahme des Inhalts des Buches vor und sperrt sich gegen eine solche Interpretation hinsichtlich der Bildauswahl. Finger will bereits auf dem Deckblatt bildlich deutlich machen, dass „die Angst“ immer ambivalent sei, dass sie (auch parallel) sowohl zu Mut als auch zum Wegschauen führen könne. Und dass, symbolisiert durch den Hörner tragenden Schatten, „die Angst“ für das Kind selbst durchaus real sei und entsprechend auch ernst genommen werden müsse. Das Bild des Kindes – es trägt eine eigentümliche Nickelbrille, der Kopf ist im Verhältnis zum Körper überproportional groß – versperrt sich völlig den üblichen hier reproduzierten Weiblichkeitsidealen des langhaarigen, blonden und häufig auch noch blauäugigen Kindes. Anders als die anderen Bilder verweist dieses Bild – gerade dadurch, dass es gezeichnet ist und dass es durch den Hasen und den Hörner tragenden Schatten noch zusätzliche Verfremdungen erfährt, dass es also ein Symbol darstellt – weniger auf das Abstrakt-Allgemeine denn auf das Tatsächlich-Singuläre am je konkreten, sichängstigenden Kind. Das Bild des scheinbar schlafenden Mädchens bei Brown hingegen kann als Anbiederung an den (männlichen) Käufer verstanden werden. Rot gefärbte Lippen, ein erwachsen wirkender Haarschnitt, ein freigelegter Hals und ein weißes Laken: Dieses Mädchen soll begehrenswert wirken und beim Käufer den Wunsch, es zu beschützen, wecken. Er soll davon überzeugt werden, dass der im Titel „Keine Räuber unterm Bett“ angelegte Sachverhalt das ist, was er sich für dieses Mädchen und in der Folge auch für seine eigenen Kinder in deren Gedan-
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kenwelt und in Wirklichkeit wünscht. Dem Bild des im Arm des Mädchens liegenden wachen Jungen wiederum kann eine ähnliche Botschaft entnommen werden, allerdings wohl eher an die Adresse der potentiellen Käuferin. Die beiden Bilder bei Finger und Brown können demnach als die beiden Extreme verstanden werden, zwischen denen sich die Darstellungen auf den Deckblättern bewegen. Hier die Anbiederung an die Käuferin, dort der Versuch einer symbolhaften Vorwegnahme des die Leserin erwartenden Inhalts. 6.5.3 Eine Typisierung der Eltern-Ratgeber zu „der Angst“ Das Jahr 1993 markiert eine deutliche Zäsur in der Entwicklung der ElternAngst-Ratgeber-Literatur. Der Schweizer Lehrer und Kinderpsychotherapeut Hans Zulliger dominierte den Markt bis zu diesem Jahr mit dem Titel „Die Angst unserer Kinder“. Den Erfolg seines Buches bekam er allerdings nicht mehr mit. Er starb bereits 1965, kurz vor der Erstveröffentlichung. Dieser Ratgeber erschien bis einschließlich 1993 in mindestens 14 Auflagen. Keine andere Autorin vor oder nach ihm hat diesen Erfolg, gemessen an den Auflagen, bislang wiederholen können. Gemeinsam mit seinem Buch finden sich in der hier zugrunde gelegten Liste bis 1993 bloß noch sechs weitere Titel. Dagegen finden sich 24 Titel für die Zeit der elf Jahre von 1995 bis 2006. Ein Grund dafür, dass 1993 das Buch von Zulliger zum letzten Mal verlegt wurde, kann darin liegen, dass spätestens seit der Einführung des DSM-III im Jahre 1980 der Begriff der Angstneurose nicht mehr allgemein gültig war. Dazu passt auch, dass die Deutsche Nationalbibliothek seit Mitte der 1980er den Begriff der Angstneurose (als „veralteten“ Begriff) zugunsten von „Angststörung“ nicht mehr beschlagwortet; und dies, obwohl es als Suchwort auch für aktuellere Literatur noch Verwendung finden kann, da psychoanalytisch orientierte Autorinnen auf diesen Begriff auch aktuell nicht verzichten (vgl. Hoppe 2000; Mentzos 1995). 1993 wurde zudem auch das Klassifikationssystem der WHO, die ICD-10, eingeführt. Ein Jahr später wurde dieses zur verbindlichen Grundlage für die Diagnosestellung. Es brauchte dann allerdings sieben Jahre (bis 2001), bis zum ersten Mal komplette, wissenschaftlich generierte Symptomauflistungen, wie sie dem DSMIV zu entnehmen sind, auch in einen allgemeinen Eltern-Angst-Ratgeber kopiert wurden (vgl. Schmidt-Traub 2001). Es gibt Ratgeber, in deren Mittelpunkt (noch immer) eine psychologisch, zumeist eine auch psychoanalytisch orientierte Aufklärung über „die Angst“ steht. Daneben gibt es Ratgeber, in denen – nach einer zumeist eher kurz gehaltenen Aufklärung – in erster Linie Spiele und Methoden angeboten werden, die zur Vermeidung und/oder zur Verringerung „der Angst“ empfohlen werden.
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Zudem gibt es auch allgemeine Ratgeber über „die Angst“, die weniger über „normale“ Ängste denn von Beginn an über Ängste, die eine „Störung“ seien, Auskunft geben. In der Folge werden in diesen vor allem Techniken und Regeln vorgeschlagen, deren Umsetzung und Einhaltung zur Vermeidung von „Angststörungen“ beitragen sollen. In Hinblick auf die damit jeweils verbundenen Ziele lässt sich allen Ratgebern gleichermaßen entnehmen, dass es darum gehe, dass „die Angst“ bearbeitet und produktiv gemacht oder überwunden und weggemacht oder zumindest reflektiert werden solle. Dies immer – das lässt sich allen Eltern-Ratgebern zum Thema entnehmen – wiederum zum Zwecke der besseren Einpassung in gesellschaftliche Verhältnisse. Verhältnisse die – weil sie für die Sich-Ängstigende alle Möglichkeiten ihrer persönlichen Entfaltung bereithalten – selbst nicht in Frage stehen. In diesem entscheidenden Punkt gibt es demnach eine deutliche Übereinstimmung mit den diesbezüglich zu Beginn referierten Beispielen aus den Angst-Ratgebern für Erwachsene von Oehler und Panse/Stegmann. Allenfalls kommt es in älteren Ratgebern zu Kinderängsten zu einer Kritik von zu viel Leistungszwang und zu viel Leistungsdruck. Dies geschieht aber immer, ohne dass in diesem Zusammenhang auch einmal gründlich über eine gesellschaftliche Funktion von Schule nachgedacht würde (vgl. z.B. Eberlein 1979). In aktuelleren Ratgebern findet sich eine solche, wenn auch schwache, Kritik hingegen gar nicht mehr. Da unterschiedliche Ziele auf Seiten der Autorinnen nicht expliziert werden können, kommt eine Sortierung der Ratgeber nach diesem Gesichtspunkt auch nicht in Frage. Nimmt man daher den Aspekt der vorrangig im Mittelpunkt stehenden Lösungen des Angst-Problems zum Ausgangspunkt für eine Typisierung von Elternratgebern zu Ängsten von Kindern, gelangt man zu folgendem Ergebnis: 1. Typ: „psychologisch orientierte Aufklärung“ über „die Angst“ 2. Typ: „spielerisch/methodische Vorschläge“ für einen Umgang mit „der Angst“ 3. Typ: „regelgeleitete Techniken“ gegen „die Angst“. Es folgt nun zunächst eine nähere Darstellung jeder dieser drei Typen und danach die Vorstellung auch der jeweiligen, diesen Typ repräsentierenden Autorin und ihres Beitrags. Und schließlich kann dann, mit Hilfe von vier Fragen, eine direkte vergleichende Diskussion dieser Typen vorgenommen werden. Zum 1. Typ: „psychologisch orientierte Aufklärung“ über „die Angst“ Eine psychologisch orientierte Aufklärung über „die Angst“ war bis 1993 der vorherrschende Typus. Unter den Autorinnen finden sich diesbezüglich Psycho-
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loginnen, Psychiaterinnen, aber auch psychologisch geschulte Sozialpädagoginnen.22 Es stießen nach 1993 noch sechs Titel hinzu.23 Unter den Autorinnen finden sich sowohl vornehmlich psychoanalytisch argumentierende24 als auch solche, die sowohl vor psychoanalytischem, entwicklungspsychologischem und/oder verhaltenspsychologischem Hintergrund ihren Rat über „die Angst“ ausbreiten, die also keiner Schule im strengen Sinne zuzurechnen sind.25 Kennzeichnend für diesen ersten Typus ist neben einer entsprechenden Einführung in die jeweilige/n Theorie/n über „die Angst“ auch, dass Fallbeschreibungen regelmäßig verhältnismäßig viel Platz eingeräumt werden. Anhand von Geschichten über konkrete Kinder mit einer Angst soll, so ist zu vermuten, einerseits deutlich gemacht werden, was das Allgemeine an ihrer Angst ist, wie sie entstanden und wie sie zu beheben ist. Andererseits wird mittels dieser Fallbeschreibungen aber auch die Notwendigkeit einer je individuell und an der je konkreten Lebensgeschichte orientiert zu stellenden Diagnose betont. Die Leserin soll des Weiteren mittels dieses Wissens sensibel gemacht werden für die Möglichkeit unbewusster Vorgänge und damit auch für Deutungsvarianten von unbestimmten Ängsten in den von ihnen betreuten Kindern. Dadurch sollen die Leserinnen vermutlich in die Lage versetzt werden, auf der Grundlage ihrer durch die Lektüre des Ratgebers neu gewonnenen Aufmerksamkeit für diesen Zusammenhang, im Zweifelsfall eine hierfür kompetente Therapeutin aufzusuchen. Als zwei typische Repräsentanten dieser Fraktion werden im Folgenden Vergleich die zwei Bücher der Autoren Zulliger („Die Angst unserer Kinder“) und Rabenschlag („Kinder stark machen gegen die Angst“) vorgestellt. Zum 2. Typ: „spielerisch/methodische Vorschläge“ für einen Umgang mit „der Angst“ Vorwiegend spielerische und methodische Vorschläge für einen Umgang mit „der Angst“, die hierin zumeist vorwiegend als „normale Angst“ besprochen wird, tauchen zum ersten Mal in allgemeinen Elternratgebern zu „der Angst“ in den 90er Jahren auf. Unter den Autorinnen finden sich vorwiegend psychologisch geschulte Pädagoginnen, aber auch pädagogisch interessierte Psychologinnen und mit dem Thema befasste Laien. Einer Aufklärung über „die Angst“ wird hier zumeist ein Drittel bis zur Hälfte des Buches eingeräumt. Die übrigen Seiten sind gefüllt mit konkreten Geschichten, Spielen und/oder Methodenvorschlägen. Dieser Typus zielt aufgrund der Methodenvorschläge, auch für Gruppen, und wegen des zumeist stärkeren Augenmerks auf jüngere Kinder mehr als die Rat22 23 24 25
23, 24, 25, 26, 27, 28. 1,7, 11, 14, 15, 22. 1, 11, 14, 22, 24, 25, 26, 27, 28. 7, 15, 23.
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geber des ersten Typus auch auf Erzieherinnen als potentielle Leserinnen, die eingeladen sind, sich in ihrer Arbeit aus den Vorschlägen zu bedienen.26 Ein jeweils ganz besonderer Schwerpunkt hinsichtlich der vorgeschlagenen Methoden findet sich bei drei Autoren. Finger argumentiert vor dem Hintergrund eines breiten Wissens über Belletristik – sie verweist unter anderem auf Texte von Isabell Allende, Paulo Coelho, Michael Ende und Erich Kästner bis hin zu den Märchen der Brüder Grimm. Auf der Grundlage dessen gibt sie Hinweise für den Umgang mit (Kinder-)Büchern und Märchen sowie Hinweise auf den jeweiligen Bezug zum Thema. Crotti/Magni hingegen argumentieren vor dem Hintergrund ihres, laut Klappentext, größten europäischen Archivs von Kinderzeichnungen. In der Folge schlagen sie entsprechend vor, bei Kinder-Ängsten, die oft schwer zu kommunizieren seien, zuallererst auf Analysen von Kinderbildern zu vertrauen. Eine dritte Spezialität findet sich bei Bauer. Nach einer kurzen allgemeinen Einführung in das Thema stellt sie verschiedene Volltextfassungen von Märchen zum Thema vor. Daran schließen jeweils eine Diskussion des Inhalts und verschiedene Möglichkeiten, damit zu arbeiten, an. Als eine typische Repräsentantin dieser Fraktion wird im folgenden Vergleich der Ratgeber „Ängste im Kindergarten: Ein Praxisbuch für Erzieherinnen und Eltern“ von Gertrud Ennulat vorgestellt und diskutiert. Zum 3. Typ: „regelgeleitete Techniken“ gegen „die Angst“ Bücher, die diesem Typus zuzurechnen sind, finden sich unter den zugrundeliegenden Titeln bloß drei. Die im Vergleich zu den beiden anderen Typen außerordentliche Radikalität aber, mit der hier „der Angst“ zu Leibe gerückt wird bzw. mit der ihr von Seiten der Eltern begegnet werden soll, spricht für die Zuordnung zu einem eigenen Typus. Solche regelgeleitete Techniken gegen die Angst sind zudem die ausschließliche Domäne von verhaltenstherapeutisch argumentierenden Autorinnen. Während Brown darauf verzichtet, gehen die beiden anderen Autorinnen jeweils streng von den im DSM-IV und in der ICD-10 festgelegten Angst-Klassifikationen aus. Alle drei plädieren für Gewissheit schaffende klare Verhaltensanweisungen und für Verstärkerprogramme. An die Stelle eines ausführlich entfalteten Wissens über „die Angst“ bzw. an die Stelle von Spielen und Geschichten zur Angst finden sich hier vorwiegend konkrete Techniken gegen „die Angst“. Unterschiedliche Techniken sind das vorherrschende Thema bei MaurLambert/Landgraf und bei Schmidt-Traub. Brown hingegen stellt fast ausschließlich Varianten einer Technik gegen „die Angst“ vor (er nennt sie IT: „Imaginationstraining“), bei denen es sich um so genannte „Vorstellungsübungen“ 26
2, 3, 5, 6, 8, 10, 12, 13, 16, 18, 19.
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handelt. Die Sich-Ängstigende soll schlicht lernen, anzunehmen, dass das, was sie ängstigt, gar nicht gefährlich sei, oder dass ein bestimmter Talisman ihr gegen die von ihr angenommene Gefahr helfen könne. Dass diese Techniken umstandslos unter die gleichnamige Überschrift „Vorstellungsübungen“ im Buch von Maur-Lambert/Landgraf subsumiert werden können, begründet noch einmal die Einordnung auch dieses Titels zu diesem Typus. Zudem nehmen MaurLambert/Landgraf an geeigneter Stelle einen Verweis auf den Ratgeber von Brown vor (vgl. Maur-Lambert/Landgraf 2003: 80). Das Ziel der Zurichtung der Sich-Ängstigenden mittels der vorgestellten Techniken in Hinblick auf eine (wieder) funktionierende und angepasste Persönlichkeit lässt sich in diesen drei Ratgebern leicht identifizieren. Es sind dies also: Brown 1998; Schmidt-Traub 2001 und Maur-Lambert/Landgraf 2003. Als typische Repräsentantin dieser Fraktion soll im folgenden Vergleich der Ratgeber „Keine Angst vor der Angst. Elternratgeber bei Ängsten im Grundschulalter“ von Maur-Lambert/Landgraf vorgestellt und diskutiert werden. 6.5.4
Die Vertreterinnen dieser drei Typen im Vergleich
Zu den Vertretern des 1. Typs: „psychologisch orientierte Aufklärung“ über „die Angst“ Das Buch von Hans Zulliger („Die Angst unserer Kinder. Angstformen und wirkungen, Vermeidung und Bekämpfung der kindlichen Ängste“) soll vor allem seiner besonderen historischen Bedeutung wegen in diesem Vergleich gewürdigt werden. Hans Zulliger war, gemäß der Informationen auf dem Klappentext, Lehrer und Kinderpsychotherapeut und gehörte demnach mit Anna Freud, Melanie Klein, Margaret Mahler und D.W. Winnicott zu den Begründerinnen der modernen Kinderpsychotherapie. Auf der Ausgabe von 1966 wurde auf dem hinteren Klappentext mittels eines Rezeptionszitats der Frankfurter Allgemeinen Zeitung deutlich zu machen versucht, dass sich dieses Buch an „gebildete Eltern“ wendet. Denen wurde auf der ersten Innenseite ein entscheidendes und weit gefasstes Ursache-Wirkungsverhältnis vorgestellt, welches ihnen – so kann vermutet werden – als „gebildete“ Zielkäuferinnenschaft die Kauf-Entscheidung maßgeblich erleichterte. Dies jedenfalls, so sie der nachfolgenden Behauptung zu folgen bereit waren: „Die Angst bei Kindern hat einen entscheidenden Einfluß auf die individuelle und soziale Entwicklung der Persönlichkeit. Verhalten, Intelligenz, Gesundheit und Leistung hängen weitgehend von der Bewältigung realer und irrealer Ängste ab“ (Zulliger 1969: erste Innenseite).
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In der letzten Ausgabe wird auf der ersten Innenseite weit vorsichtiger formuliert. Dieser Zusammenhang, dass der gelungene oder nicht gelungene Umgang mit „der Angst“ quasi für alles verantwortlich zu machen sei, was das Kind später im Leben werde, was es mache und was es leiste, wird so nun nicht mehr wiederholt. Es sei dies nun ein Buch für Eltern und Fachleute wie für interessierte Laien. Das zugrunde liegende Thema werde nicht bloß abstrakt, sondern auch mittels praktischer Beispiele aus der Tätigkeit des Autors dargestellt. Über weitere zu erwartende Inhalte schweigt sich der Text auf der Innenseite nun aus. Ulrich Rabenschlag, der Autor des zweiten aus dieser Gruppe vorgestellten Ratgebers ist, gemäß des Klappentextes, Mediziner und Diplompsychologe. Er arbeitete an der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Freiburg und hat nun eine eigene Praxis. Er informiert die Leserinnen seines Buches auf dem Klappentext zunächst darüber, dass Ängste Chancen zum Wachstum seien. Das Kind könne im Angesicht neuer unvertrauter Situationen die eigenen Kräfte erleben. Manchmal aber könne es über die „normalen“ Ängste hinaus gehen; dann seien die Eltern, Erzieherinnen, Lehrerinnen und Fachfrauen gefragt, hier einen richtigen Umgang zu pflegen und dem Kind Schutz und Hilfe zu gewährleisten. Anders als Zulliger und Maur-Lambert/Landgraf verzichtet Rabenschlag auf eine eindeutige Zuordnung zu einer Schule. „Dieses Buch habe ich erst schreiben können, nachdem ich in den letzten zwei Jahrzehnten so manche Hochs und Tiefs in der Beschäftigung mit psychoanalytischen, verhaltenstherapeutischen, kognitionspsychologischen, familientherapeutischen und medikamentösen Lehrmeinungen mitgemacht habe. Gewichen ist die ängstliche Orientierung an den Ideologien, gewachsen ist die Faszination am Versuch, das Phänomen Angst zu begreifen“ (Rabenschlag 2002: 12).
In der Folge finden sich in seinem Ratgeber auch Wissensbestandteile aus allen diesen genannten Richtungen. In seiner Literaturliste finden sich dementsprechend auch so unterschiedliche Autoren wie Hurrelmann, Freud und Petermann/Petermann. Zur Vertreterin des 2. Typs: „spielerisch/methodische Vorschläge“ für einen Umgang mit „der Angst“ Gertrud Ennulat, die Autorin des Ratgebers „Ängste im Kindergarten: Ein Praxisbuch für Erzieherinnen und Eltern“ ist gemäß der Aussagen auf dem Klappentext Pädagogin mit einer Ausbildung in Erwachsenenpädagogik. Sie war später Lehrerin an einer Grund- und Hauptschule und arbeitet heute als Referentin für Erzieherinnenfortbildungen. Das Buch richtet sich gemäß der Titel-Unterschrift sowohl an Erzieherinnen als auch an Eltern. Der Autorin geht es aber – über den
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im Titel anklingenden Zusammenhang von Ängsten und Kindergärten hinaus – durchaus auch ganz allgemein um Ängste von Kindern im Alter von 3-7 Jahren. Das macht auch eine von ihr verfasste Besprechung ihres Buches in der Zeitschrift „Welt des Kindes“ unter der Überschrift „Wenn Kinder Angst haben“ deutlich (Ennulat 2002). Von ihrem eigentlichen Interesse, der Auseinandersetzung mit „der Angst“, erfährt man bereits auf der Rückseite. Sie beginnt den hinteren Klappentext ihres Buches mit dem Satz „Auseinandersetzung mit Angst macht Kinder stark“. Und schreibt dann weiter, ähnlich wie Rabenschlag: „Angst ist ein notwendiger Motor für Entwicklungsprozesse. Wir tun Kindern keinen Gefallen, wenn wir versuchen, sie vor angstbesetzten Situationen zu beschützen. Vielmehr sollten wir ihnen ermöglichen, sich mit der Angst auseinander zusetzen und sie zu überwinden. Denn nicht verarbeitete Ängste münden oft in stark aggressives oder aber depressives Verhalten“ (Ennulat 2001: Klappentext).
Bereits hier wird wieder der bereits angesprochene Unterschied zum nun folgenden dritten Typ deutlich: nicht Ängste, die eine „Störung“ seien und therapeutische Interventionen benötigen, sondern Ängste, die ein „Motor für Entwicklung“ seien und Möglichkeiten der Angstbewältigung, stehen hier, und daher auch innerhalb der Ratgeber dieses Typus generell, im Mittelpunkt der Erörterungen. Zu den Vertreterinnen des 3. Typs: „regelgeleitete Techniken“ gegen „die Angst“ Die Autorinnen des Ratgebers „Keine Angst vor der Angst. Elternratgeber bei Ängsten im Grundschulalter“, Sabine Maur-Lambert und Andrea Landgraf, sind beide, so lässt sich den Klappentexten ihres Buches entnehmen, in der Beratung und Behandlung von Kindern im Bereich der „Emotionalstörungen“ tätig. MaurLambert ist Diplompsychologin und psychologische Psychotherapeutin (Verhaltenstherapie). Andrea Landgraf arbeitet als Heilpädagogin. Gemäß der TitelUnterschrift wenden sich die beiden Autorinnen vornehmlich an Eltern sichängstigender Kinder. Aber im Gegensatz zum Titel, in dem zunächst ganz „neutral“ zweimal schlicht von „Angst“ und einmal von „Ängsten“ die Rede ist, wird bei ihnen bereits auf dem hinteren Klappentext deutlich, um was es den beiden Verfasserinnen in ihrem Buch vornehmlich tatsächlich geht. Von „der Angst“ im Allgemeinen ist nämlich im Folgenden weit weniger die Rede denn von Ängsten, die eine „Störung“ seien. So heißt es: „Über dieses Buch: Circa 10-15% der Grundschulkinder leiden heute unter behandlungsbedürftigen Ängsten (Phobien, Trennungsangst, generalisierte Angststörung, soziale Ängste und Un-
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sicherheiten, Schul- und Leistungsängste). Eltern sind mitbetroffen: sie leiden mit ihrem Kind und wollen ihm helfen“ (Maur-Lambert/Landgraf 2003: Klappentext).
6.5.5 Die Ratgeber im direkten Vergleich Die folgenden Fragen ermöglichen einen direkten Vergleich der Werke der Repräsentantinnen dieser drei Ratgebertypen für Eltern zu allgemeinen Kinderängsten: 1. 2. 3.
Was behaupten die Autorinnen als das zu beratschlagende Problem? Welche Lösungen bieten die Autorinnen für dieses Problem an? Welche Aussagen lassen sich explizieren, denen zu entnehmen möglich ist, wie sich die Autorinnen das Verhältnis der Einzelnen zur der sie umgebenden Ordnung vorstellen?
Das Problem Das Problem stellt sich bei Maur-Lambert/Landgraf folgendermaßen dar: „Angst ist eine Überlebenstechnik: sie warnt uns vor Gefahr und lässt uns die richtigen Maßnahmen ergreifen – z.B. Weglaufen. Nur wird leider aus so mancher harmloser Mücke ein gefährlicher Elefant – wir haben vor Dingen Angst, vor denen man ‚eigentlich’ keine Angst haben müsste, jedenfalls keine so starke. [...] Das schlimme an Angst ist der Verlust von Kontrolle und das Gefühl des Ausgeliefertseins: die Angst ‚lähmt’ einen, sie ‚nimmt einen gefangen’, man ist ‚ohnmächtig’ vor Angst, man kann nicht mehr denken. [...] Deshalb ist schon für Kinder wichtig, Techniken zu lernen, mit denen man die Kontrolle über Gefühle, Gedanken und Körper wiedererlangen kann. [...] In den letzten 15 Jahren sind die Ängste von Kindern zunehmend in den Blickpunkt von Wissenschaftlern in aller Welt gerückt. Im Laufe dieser Forschung wurden auch eine Reihe von guten Therapieprogrammen entwickelt, um solchen Kindern zu helfen“ (Maur-Lambert/Landgraf 2003: 7).
Maur-Lambert/Landgraf wissen also demnach, dass Angst eine Überlebenstechnik ist, die einen vor Gefahren warne; andererseits, so die Autorinnen, würde man manchmal Angst haben vor Dingen, vor denen man eigentlich keine Angst haben müsse, jedenfalls keine so starke. Und nun folgt etwas bedeutsames, etwas, was sich in dieser Form ähnlich durch alle Ratgeber hindurch zieht. Diese zu Beginn gemachte Unterscheidung, die ähnlich schon, je nach Autorin, als jene zwischen Furcht und Angst oder zwischen Signalangst und neurotischer Angst oder zwischen Angst und „Angststörung“ bekannt ist, findet im weiteren Verlauf dieser Bücher begrifflich keinen hieraus folgenden, konsequenten Niederschlag mehr. „Die Angst“ bleibt bei Maur-Lambert/Landgraf, und auch bei den anderen
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Autorinnen, dann doch wieder völlig undifferenziert auch weiterhin: „die Angst“. Zwar benutzen die beiden Autorinnen regelmäßig den Begriff der „Angststörung“, um damit, entsprechend den Klassifikationen im DSM-IV und in der ICD-10, auf eine ganz besondere Intensität mit entsprechenden Auswirkungen „der Angst“ hinzuweisen. Aber die dort festgelegte strikte Trennung zwischen einer Angst, die noch „normal“ und einer Angst, die eine „Störung“ sei, wird in diesen Ratgebern zugunsten eines Verständnisses, in dem „die Angst“ immer schon selbst ein Problem darstellt – oder zumindest demnächst, wenn sie vielleicht noch an Intensität zunimmt, darstellen kann – aufgehoben. Anders gesagt: Die beiden Autorinnen leisten sich den Luxus, den sich die Autorinnen eines Klassifikationssystems für „psychische Krankheiten“ vielleicht auch aufgrund mangelnder therapeutischer Kapazitäten nicht erlauben können. Sie erklären in ihrem Ratgeber kurzerhand „die Angst“, auch „die Angst“, die als noch „normal“ gilt, immer dann, wenn nicht eine wirklich anerkannt objektive Bedrohung von kurzer Dauer vorliegt, für ein zu bewältigendes Phänomen der Sich-Ängstigenden; und sei es als Teil einer „Entwicklungsaufgabe“ eines Kindes (vgl. MaurLambert/Landgraf 2003: 10). Maur-Lambert/Landgraf schreiben dementsprechend im weiteren Verlauf ihres Ratgebers dann eben nicht mehr gemäß ihrer zu Beginn gemachten Unterscheidung (richtige Signalangst – falsche Angststörung) von „der Angst, die eine Störung ist“ oder von „der Angst, die zuviel ist“ oder vielleicht auch von „der Angst, die man nicht haben muss“. Und die beiden Autorinnen schreiben auch nicht, gemäß der Logik ihrer eigenen Argumentation: „Das Schlimme an dieser Form von Angst ist...“ oder: „Das Schlimme an zu viel Angst“. Stattdessen schreiben sie lediglich: „Das Schlimme an Angst ist...“. Was eben noch auch als eine wichtige Überlebenstechnik beschrieben wird, die einem helfen könne, die „richtigen“ Maßnahmen zu treffen, wird bereits auf der ersten Seite ihres Buches beschränkt auf ein (potentiell) fulminantes Problem. Ganz im Gegensatz zu ihrer ersten Bestimmung „der Angst“ beschert „die Angst“ der Sich-Ängstigenden nun bloß noch Kontrollverlust und ein Gefühl des Ausgeliefertseins. Dem aber könne wiederum nur mit Techniken und Therapieprogrammen begegnet werden. Was Maur-Lampert/Landgraf mit einer solchen Nicht-Unterscheidung argumentativ gewinnen ist, dass sie sich in der Folge ganz auf „die Angst“ als ein generelles Problem Sich-Ängstigender konzentrieren können. Die Qualität der Gefahr, auf die „die Angst“ gemäß ihres ersten Satzes mitunter noch verweist, muss von den Autorinnen dann, wenn überhaupt, in der Folge nur noch ganz am Rande diskutiert werden. Techniken und Therapien also gegen eine Überlebenstechnik – und das eben auch nicht bloß für den Fall, dass die erste Technik „falsch“ liegt – das sei der Inhalt dieses Ratgebers.
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Und, das ist das Erstaunliche, diese Auskunft ist nicht vielleicht einer gewissen Schlampigkeit der Argumentationsführung auf der ersten Einleitungsseite geschuldet – nein, sie ist durchaus auch sachgerecht und enthält eine wichtige, angemessene Information. Schließlich geht es den beiden Autorinnen eben durchaus auch um Techniken gegen Ängste, die ihres Erachtens auf eine NichtGefahr verweisen – dies aber in Situationen, die vor dem Hintergrund der hier zugrunde liegenden Ausführungen zur sozialen Ausschließung durchaus als gefährdend für die sich so Ängstigenden verstanden werden könnten. Dies gilt zum Beispiel für ihr Wissen in Bezug auf „die Schulangst“ und „die Prüfungsangst“. Dass es den beiden Autorinnen mit ihrer Behauptung von „der Angst“ als eines generellen Problems jedenfalls sehr ernst ist, das wird spätestens im vierten Kapitel deutlich. Dieses ist überschrieben mit „Angst: anderes Denken, anderes Handeln, anderes Fühlen“ (Maur-Lampert/Landgraf 2003: 32). Nicht weniger als die Behauptung einer anderen Klasse von Mensch setzen sie zusammen mit ihrem Etikett „der Angst“ in die Welt. Es sei nämlich so, so die Autorinnen, dass sich die Menschen je nach Temperament darin unterscheiden würden, wie sie denken und wie sie handeln. Es erinnert an die astrologisch aufgeklärte und von konkreten Zwecken und konkreten Bedeutungsinhalten eines jeweiligen individuellen Handelns gänzlich entleerte Charakterkunde von Fritz Riemann, wenn auch die beiden Autorinnen an dieser Stelle eine ähnliche Ausdifferenzierung anbieten, wenngleich mit anderen Überschriften. Hiernach gäbe es nämlich „impulsive“, „unglückliche“ und „phlegmatische“ Menschen. Die einen würden wenig überlegen, die anderen seien pessimistisch und die dritten wiederum würden alles gründlich abwägen und entschlössen sich nur langsam und bedächtig (vgl. Maur-Lambert/Landgraf 2003: 32). Und nun gäbe es eben auch ängstliche Menschen, bei denen einiges „anders abläuft als es normalerweise der Fall ist“ (Maur-Lambert/Landgraf 2003: 32). „Ängstliche Kinder“ – und die Autorinnen wissen, dass es bei Erwachsenen ähnlich ist – würden nämlich immer Dinge als bedrohlich interpretieren, obwohl dies gar nicht der Fall sei. Sie beschäftigen sich zu viel mit ihren Bedenken und zu wenig mit positiven Gedanken. Ein „normaler“ Mensch würde demnach nämlich nicht mit Flucht und Vermeidung reagieren, wenn etwas sehr häufig vorkomme. Ein ängstlicher Mensch dagegen würde, immer bloß seiner Ängstlichkeit wegen und nicht eben vielleicht auch aufgrund eines guten Grundes, den als gefährlich empfundenen Situationen zu entweichen versuchen. Dann aber habe er bald ein Problem, weil er in seinem Leben zunehmend durch seine Ängstlichkeit eingeschränkt sei. Das Problem bei Maur-Lampert/Landgraf stellt sich so dar: „Die Angst“ – auch „die Angst“, die „normal“ sei, ist immer zu bearbeiten. Sonst könnte sie,
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wenn sie es auch zurzeit noch nicht ist, vielleicht doch später zu einem Problem für die Person werden. Wer häufig Angst habe, ohne dass ersichtlich sei, worauf sich diese Angst richte, gehört in der Folge zu einer bestimmten Gattung von Mensch, bei der nicht mehr alles „normal“ ist. Zum Beispiel sei „normal“, dass eben das, was häufig vorkomme, nicht als eine Gefahr verstanden werde, da man ja ansonsten sich selbst durch sein Vermeidungsverhalten einschränke. So könne ein Geschäftsmann keine Angst vor dem Fliegen haben und eine Hausfrau keine Angst vor Spinnen (vgl. Maur-Lambert/Landgraf 2003: 35). Die Autorinnen kennen also eigentlich drei verschiedene Ängste und entsprechende Grenzen und Übergänge. Es gibt einen Übergang zwischen „der Angst“, die einem „richtigerweise“ zu einer Flucht verhelfe zu jener Angst, die noch „normal“, aber schon unbegründet sei. Und es gibt einen weiteren Übergang hin zu der daraus erwachsen könnenden Angst, die eine „Störung“ sei, weil sie zu „falschem“, der betroffenen Person Probleme verursachendem Vermeidungsverhalten und Leid führe. Und dennoch, ihrer eigenen Unterscheidung zum Trotz, schreiben sie fast immer nur von „der Angst“. Zuletzt sei noch erwähnt, dass die beiden Autorinnen in Hinblick auf mögliche Ursachen „der Angst“ den schon erwähnten Theorieangeboten von Petermann/Petermann und Stangier folgen. Auch ihre Ursache heißt demnach, jedenfalls verkürzt: „biopsychosozial“ (vgl. Maur-Lambert/Landgraf 2003: 39 ff.). Dadurch können sie es sich ebenfalls erlauben, eine konkrete Prüfung der jeweiligen Situation der Sich-Ängstigenden nicht vornehmen zu müssen. In der Folge können sie darauf vertrauen, dass die Lösung des Problems ganz alleine in einer Behandlung der Sich-Ängstigenden liegt. Es ist sogar so, dass ihnen Situationen, in denen die Sich-Ängstigende ihre Angst spürt, bloß noch als ein „angstauslösendes Erlebnis“ gelten. Das Erlebnis löst „die Angst“ demnach nur aus, verursacht sie aber nicht (vgl. Maur-Lambert/Landgraf 2003: 52). Das einem allgemeinen Eltern-Ratgeber über Kinderängste zugrunde zulegende Problem stellt sich für die Pädagogin Gertrud Ennulat etwas anders dar. Sie stellt nicht Ängste, die eine „Störung“ seien, in den Mittelpunkt ihrer Auseinandersetzung, sondern Ängste, die „normal“ seien. Angst gehört für sie zu den „natürlichen Phänomenen, die menschliches Leben begleiten“ (Ennulat 2001: 9). Dieses Phänomen allerdings würde regelmäßig zugunsten angenehmerer Erfahrungen zu meiden versucht. Daher gelte es, Situationen zu schaffen, innerhalb derer „die Angst“ kommuniziert werden könne. Denn die mit „der Angst“ einhergehende Enge könne sich wandeln, wenn sie wahrgenommen und ausgedrückt würde. Dies gilt der Autorin als das wichtigste Ziel eines Umgangs mit „der Angst“. Ennulat will, dass dem sich-ängstigenden Kind deutlich gemacht wird, dass man es in seiner Angst ernst nimmt. Den Satz „Du brauchst keine Angst zu haben“ lehnt sie daher ab. Die Kinder hätten in der Folge weder die
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Chance, ihre Angst kennenzulernen, noch deren Überwindung zu lernen. Während es also zunächst so scheint, dass sie sich in einem Widerspruch zu MaurLambert/Landgraf befindet – schließlich will sie „die Angst“ , die „normal“ sei, in erster Linie ernst nehmen, sich mit ihr auseinandersetzen und sie nicht sogleich weg-therapieren –, so wird an dieser Stelle doch deutlich, dass auch sie, ähnlich wie die beiden verhaltenstherapeutisch argumentierenden Autorinnen, letztlich eben auch auf eine „Überwindung“ „der Angst“ abzielt. Anders als Maur-Lambert/Landgraf benötigt sie dafür aber keine Klassifikation von Ängsten, die eine „Störung“ seien. Sie verbleibt mit ihren Ausführungen, wie erwähnt, fast völlig im Bereich dessen, was für sie „normale“, aber eben nichtsdestoweniger zu „überwindende“ Ängste sind. Widersprüchlich in Hinblick darauf, was „die Angst“ könne bzw. was sie mache, sind auch ihre Ausführungen. Auf der einen Seite nämlich, so Ennulat, warne Angst vor Gefahr und bewirke den Drang davonzulaufen, zu fliehen, auf Distanz zu gehen. Auf der anderen Seite würden durch „die Angst“ aber auch Kräfte geweckt, um eine bedrohliche Situation durchzustehen oder durchkämpfen zu können. Ein konkretes Angebot an die Leserin, wann denn „die Angst“ das Eine („weglaufen“) und wann denn nun eher das Andere („kämpfen“) bewirke, macht sie allerdings nicht (Ennulat 2001: 16). Dafür notiert sie unter der Überschrift „Psychische Auswirkungen der Angst“ völlig im Widerspruch zu ihren Ausführungen von eben, dass Angst und Ohnmacht Hand in Hand gingen. Und: „Die Erfahrung, die Kontrolle über sich oder andere oder über eine Situation verloren zu haben, bewirkt ein Gefühl der Ausweglosigkeit, weil die eigenen Kräfte nicht ausreichen, um dem entgegenzuwirken“ (Ennulat 2001: 16). Auch sie benötigt demnach beide Annahmen – „die Angst“ kann Leben retten und „die Angst“ macht ohnmächtig. Und diese Annahmen tätigt sie ohne, und das ist das Entscheidende, in der Folge eine konkrete Prüfung der Bedingungen der jeweiligen Situation einer konkreten Sich-Ängstigenden vorzunehmen. Der Maßstab, an dem sich entscheidet, ob es sich um eine Angst, die „richtig“ oder um eine Angst, die „falsch“ ist, handelt, ist auch bei ihr in erster Linie ein quantitativer. Denn: „Wenn jedoch Angstsituationen ungelöst lange andauern, kann dies zu ernsthaften gesundheitlichen Störungen führen“ (Ennulat 2001: 16). An dieser Stelle sei noch einmal an die Einsicht von Freud erinnert, dass „die Angst“ selbst niemals das Zweckmäßige sei, sondern dass sich die Frage nach der Zweckmäßigkeit einer Handlung in Folge auch einer Angst erst beantworten lässt nach einer Abwägung der Gefährlichkeit der Bedrohung im Verhältnis zu den eigenen konkreten Kräften und Möglichkeiten wie auch im Verhältnis zu den eigenen Interessen. An einer solchen konkreten Prüfung der jeweiligen Situation der Sich-Ängstigenden, ihrer Handlungen, ihrer Möglichkeiten und ihrer Gefährdungen, die letztlich immer erst im Nachhinein vorgenommen werden
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kann, kann aber auch die Autorin eines Ratgebers, zumal eines Elternratgebers, nicht interessiert sein. Schließlich will sie ja bereits im Vorfeld konkreter Ängste und ohne Kenntnis der Sich-Ängstigenden (Kinder) und ohne Kenntnis der jeweiligen konkreten Situation den betroffenen Eltern hilfreiche Ratschläge für den Umgang und letztlich für die Überwindung „der Angst“ ihrer Kinder erteilen. Auch dem Mediziner und Diplompsychologen Ulrich Rabenschlag ist dieser – die Freudsche Einsicht nicht zur Kenntnis nehmende – Widerspruch geläufig, und auch ihm bereitet er offensichtlich kein Problem. Einerseits lässt sich nämlich der ersten Seite seines Buches entnehmen: „Angst bedroht, überwältigt und macht hilflos“ (Rabenschlag 2002: 7), andererseits steht bereits auf der zweiten Seite schon wieder geschrieben: „Angst ist ein zutiefst konservatives Gefühl: Es warnt vor Neuem und hilft uns damit, Gefahren zu erkennen, es hilft uns zu kämpfen und den Gegner zu überwältigen“ (Rabenschlag 2002: 8). Und ebenfalls in Übereinstimmung mit Ennulat behauptet auch Rabenschlag, dass alles Neue, alles Fremde, Unvertraute erst einmal Angst mache. Und da die Welt der Kinder jeden Tag voller neuer Dinge sei, hätten sie ständig auch Angst. Die meisten von ihnen würden ihre Angst aber auch wieder schnell loswerden und zum Glück vergessen. Diese apodiktische Setzung aber, wonach alles Neue und Fremde stets Angst mache, ist abzulehnen. Es gibt keinen Grund, zumindest die Möglichkeit auszuschließen, dass etwas Neues, etwas Fremdes auch eine hoffnungsfrohe Erwartung, gepaart vielleicht mit freudiger Neugierde, also wohl ein angenehmes Gefühl auslösen könne. Rabenschlag benötigt aber diese radikal einseitige Behauptung, um, ähnlich schon wie Stangier in seinen Ausführungen über die „soziale Phobie“, von der Grundlage der „Normalität“ „der Angst“ aus, zumal bei Kindern, weiter argumentieren zu können. Ist nämlich erst einmal geklärt, dass das ursprünglich zugrunde liegende Problem ein ganz „normales“ ist, dass also dem Kind jeden Tag Dinge begegnen, die es, schlicht weil sie „neu“ sind, als Gefahren einordnet und sich in der Folge ganz „normal“ auch deshalb ängstigt, dann muss über eine konkrete Prüfung der Situation, in der diese Angst gefühlt wurde, und über eine konkrete Prüfung der von dieser Situation ausgehenden Gefahr, wieder einmal nicht weiter nachgedacht werden. Die im Kapitel von Rabenschlag zur Angst nach einer von einer Normalität abweichenden Katastrophe vorgestellten Probleme seien an dieser Stelle einmal ausgenommen. Es reicht dann aus, als Gegenstand einer Ausführung über „die Angst“ der Kinder jene Kinder zu fassen, die ihre „normalen“ Ängste nicht mehr „loswerden“. „Ganz anders aber sieht es bei den Kindern aus, um die es in diesem Buch geht: Sie behalten ihre Ängste, auch wenn das Neue schon vertraut und die Gefahr längst vorüber ist. Mittlerweile gehört schon jedes zehnte Kind in unserem Land zur Gruppe dieser Angstkinder. Darunter sind
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viele, die nach außen hin überhaupt nicht den Eindruck machen, Angst zu haben: Kinder, die nicht mehr zur Ruhe kommen können, Kinder die ständig Kopfschmerzen oder Infekte haben, andere, die stundenlang an ihren Hausaufgaben sitzen, aber auch Kinder, die schnell gewalttätig werden. Aus Angstkindern werden Angst-Erwachsene, die sich mit ihrer Scheu und Schüchternheit, aber auch mit ihren quälenden Schamproblemen arrangiert haben“ (Rabenschlag 2002: 9).
Die vielen möglichen Folgen im Zuge „der Angst“, die an sich „normal“ sind, die man aber nicht wieder „loswird“: Unruhe-Krankheiten-Gewalttätigkeiten erinnern an einen ähnlich dargestellten totalen Zusammenhang im bereits erwähnten Text auf der ersten Buchinnenseite bei Zulliger in der Ausgabe von 1969. Sie erinnern aber auch an die von Stangier referierten Studien, wonach nicht bearbeitete Ängste schwerste Probleme in allen Bereichen des Lebens nach sich ziehen. Die Besprechung jeweils eines Teils dieses Ursachengefüges nimmt Zulliger in seinem zweiten Kapitel unter der Überschrift „Angst macht dumm“ und in seinem sechsten Kapitel „Angst kann krank machen“ vor. Doch vor einer Darstellung solcher problematischer Folgen „der Angst“ stellt sich für Zulliger das Problem, das seinem Ratgeber zugrunde liegt, zunächst einmal folgendermaßen dar: „Es gibt wohl kaum ein Kind, das nicht von gewissen Ängsten heimgesucht wird. Manche davon sind unbegründet und nicht zu verstehen [...] Das vorliegende Bändchen setzt sich zum Ziel, eine Anzahl Kinderängste aufzuhellen, ihre abgeblendeten Ursachen darzustellen und zu zeigen, wie man sie bekämpfen kann“ (Zulliger 1969: 7).
Wieder wird „die Angst“ also zunächst geschieden in eine Angst, die begründet ist, und in eine Angst, die nicht zu verstehen ist. Die „abgeblendeten“ Ursachen der Letztgenannten könne man aber zum Zwecke ihrer Bekämpfung darstellen. Dies offensichtlich auch dann, wenn man sie zuvor „unbegründet“ und „unverstanden“ vorfand. Das muss kein Widerspruch sein; schließlich sei es ja, ähnlich wie schon bei Freud, die Psychologin zuallererst, der dieser Zusammenhang dennoch aufzuhellen möglich ist. Und sich beziehend auf Freud mutet Zulliger im Vergleich zu allen anderen Ratgeber-Autorinnen in der Folge der Leserin auch am meisten zu. Er referiert zusammenfassend im ersten Kapitel sowohl dessen beide Angsttheorien wie auch Annahmen von C.G. Jung und Otto Rank und ethnologische Hinweise. Dadurch gelangt er, anders als seine RatgeberAutorinnen-Nachfolgerinnen, zumindest zunächst zu einer klaren begrifflichen Unterscheidung von „Real-Angst“ einerseits und „irrealen Ängsten“ andererseits, die aber in seinen nachfolgenden Ausführungen teilweise auch wieder keine Berücksichtigung mehr findet. Eine solche Nichtdifferenzierung wird z.B. vorgenommen, wenn er notiert:
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Kritik der Angst „Die Angst der Jugendlichen stammt teilweise aus somatischen Quellen. Die Geschlechtsdrüsen sind reif geworden und werfen ihre Sekrete in die Blutbahn – das Blut schwemmt sie ins Hirn und bewirkt bislang unbekannte Dränge und Impulse“ (Zulliger 1969: 98).
Die Leserin bleibt an dieser Stelle wieder im besten Fall ratlos und mit noch mehr Fragen zurück. Denn worauf bezieht sich denn nun z.B. „die Angst der Jugendlichen“? Handelt es sich hierbei um eine „irreale“ oder um eine „Realangst“? Und ängstigen sich tatsächlich alle Jugendlichen ihrer in die Blutbahn geworfenen Sekrete wegen gleichermaßen? Oder gibt es hierbei vielleicht doch auch Unterschiede? Und sind es tatsächlich diese Sekrete, die für ein konkretes Handeln in Folge der „Dränge“ und „Impulse“ von Jugendlichen verantwortlich zu machen sind? Sind hierfür nicht vielleicht doch eher die Ergebnisse einer nur bei der jugendlichen Handelnden selbst abzufragenden Abwägung von eigenen Interessen zu Möglichkeiten ihrer Verwirklichung entscheidend? Eine erste Antwort auf diese letzte Frage gibt Zulliger, wenn er notiert: „Der Knabe ist vor die Aufgabe gestellt, sich mit dem Vater zu identifizieren. Gelingt ihm dies, dann identifiziert er sich auch mit dessen moralischen Anforderungen – er ist ‚angepaßt’. Scheitert er aber, dann entwickeln sich bekanntlich Neurosen, Perversionen und Kriminalität, oder der Heranwachsende regrediert bis in die Psychose“ (Zulliger 1969: 99).
Der „Knabe“ bei Zulliger hat es demnach also nicht leicht in seinem Leben. Allzu schnell kann er scheitern und aus der gesellschaftlichen Ordnung herausfallen. Deutlich wird an dieser Stelle, dass bei Zulliger die Bedingung der Möglichkeit der an dieser Stelle vorgeschlagenen Fragen an sein Wissen überhaupt nicht vorhanden ist. Der sich-ängstigende Knabe handelt eben nicht einfach gemäß seiner Interessen, seiner Urteile über die Welt und seiner Möglichkeiten. Nein - er ist stets ein Abhängiger seiner Triebe und seiner ihm – von einer Macht, über die er nicht Bescheid weiß und die er zu beeinflussen nicht imstande ist – gegebenen Aufgaben. Fragen nach persönlichem Sinn und Zweck eines jeweiligen konkreten Handelns haben in solchen Angstinterpretationen demnach ein weiteres Mal keinen Platz. Der vielen Autorinnen und Theorieschulen wegen, auf die er sich noch beruft, kann Zulliger jedenfalls in der Folge auch mit einer entsprechend großen Auswahl an möglichen Ursachen für „irreale Ängste“ aufwarten. „Träume“, „kollektives Unbewußtes“, „Archaisches“, „Persönliches“, „Ur-Angst (Todesangst)“, „Vererbtes“ und „Anlagen“ werden als mögliche aufzuhellende Gründe angeführt (vgl. Zulliger 1969: 19). Die bei Freud vorgefundene klare Unterscheidung in eine Angst, die „irreal“ sei und in eine, die eine „Realangst“ sei, ermöglicht es auch Zulliger, in der Folge einerseits von „hintergründigen Motiven“ zu berichten, die der „irrealen“ Angst unterliegen würden; und andererseits ermöglicht sie ihm auch, in der Folge nicht mehr weiter über Anteile dieser
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Angst nachzudenken, die gegebenenfalls doch auf eine reale Gefahr verweisen könnten. So wird beispielsweise „die Angst“ eines Mädchens vor Insekten, die in es hineinklettern und es von innen aufessen könnten, für Zulliger zu einem Fall einer „irrealen Angst“ (vgl. Zulliger 1969: 27 f.) mit entsprechenden Folgen und dementsprechend auszuschließenden anderen denkbaren Reaktionen. Denn ein solcher Vorgang wird für den Autor zum Beispiel nicht zu einem Fall einer dann notwendigen Unterrichtung eines solchen Kindes über von in heimatlichen Gefilden ausgehenden Gefahren von kleinen Tieren – die es ja, etwa im Falle von Scabies (umgangssprachlich: „Krätze“) oder Bandwürmern, durchaus gibt. Eine solche Angst wird auch nicht zu einem Fall eines klärenden Gesprächs über die faktisch gegebene Endlichkeit des eigenen Lebens. Nein – eine solche Angst wird bei Zulliger, nachdem man dem Mädchen mit Argumenten ihre Angst stattdessen auszureden versuchte, zu einem Fall eines psychoanalytisch aufzuklärenden Phänomens: „Was Olga belästigt, ist irreale Angst. Das Mädchen ist einer Tier-Phobie erlegen. Und wiederum handelt es sich um angsthafte Befürchtungen, getötet zu werden. [...] Die irreale Angst stammt aus dem Es, und mit den landläufigen Erziehungsmitteln kommt man ihr nicht bei, weil sie im Unbewußten entsteht und begründet ist. Sie signalisiert eine vermeintliche Todesgefahr“ (Zulliger 1969: 28).
Und in Bezug auf eine andere Fallgeschichte, die eines Jungen mit einer Angst vor einem Wolf, weiß Zulliger in Hinblick auf „die Angst vor Tieren“ noch darüber hinaus zu berichten: „Bei Tierphobien wird ja überhaupt, wie die Erfahrung tausendfach gelehrt hat, meist Kastrationsangst verarbeitet. Das Phobietier ist ein auf der totemistischen Denkstufe aufgefaßter dämonischer Mensch, ein wegen ödipaler Schuld bestrafender Unhold, letztlich aber die kinderfressende Mutter, eine Ischtar-Figur, die das Kind vernichtet oder körperlich beschädigt oder ‚kastriert’“ (Zulliger 1969: 71).
In Anbetracht solcher anspruchsvollen psychoanalytischen Erklärungsversuche, die an die bereits referierte Interpretation Flöttmanns zur Atomangst erinnern, wird nun auch verständlich, wieso solche schlichten Vorschläge, wie sie eben in Bezug auf eine Angst vor der Gefährdung durch kleine Tiere gemacht wurden, in der Erziehungsberatung von Zulliger keine Verwendung finden können. Und obzwar Zulliger sein Wissen diesbezüglich mit seinen Leserinnen zu teilen bereit ist, so ist es ihm doch – ähnlich auch allen anderen Autorinnen außer Ennulat – sehr wichtig, darauf hinzuweisen, dass letztlich nur entsprechend ausgebildete Fachleute solche komplexen Sachverhalte aufklären und therapieren können. Denn er notiert, und listet die Fachkräfte wohl in einer nach zugeschriebener Kompetenz aufsteigenden Rangfolge:
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In aktueller Eltern-Ratgeberliteratur zum Thema sind solche weitreichenden Interpretationsangebote von Seiten etwa der genannten Fachautorinnen nicht mehr zu finden. Und von den hier verglichenen Autorinnen kennt auch nur noch Rabenschlag eine kindertypische „Kastrationsangst“. Diese stellt für ihn eine mögliche Ursache von mangelndem Selbstvertrauen dar, nicht aber mehr eine Ursache für Tierphobien (vgl. Rabenschlag 2002: 57). Diese Interpretationsangebote von Seiten von Zulliger, aber auch von Rabenschlag, berühren die Frage nach den von ihnen vorgeschlagenen Lösungen des Problems. Diese werden im Folgenden nach jenen von Maur-Lambert/Landgraf und Ennulat noch näher ausgeführt. Die Lösung Die beiden Autorinnen Maur-Lambert und Landgraf setzen, ähnlich wie schon Petermann/Petermann, ganz auf: Beobachten von Kindern, Erkennen „der Angst“ und Techniken gegen „die Angst“. Zu jeder der von ihnen beschriebenen „Angststörungen“ („Phobie“, „Trennungsangst“, „Schul- und Leistungsangst“, „soziale Angst und Unsicherheit“, „Überängstlichkeit“ stellen sie den interessierten Leserinnen zunächst eine Checkliste zur Verfügung. Das Verstehen einer je konkreten Angst wird dadurch unnötig; schließlich kann nun stattdessen, und das sehr einfach, eine Klärung herbeigeführt werden, ob diese Angst zu „der Angst“, die eine „Störung“ sei, oder eher zu „der Angst, die noch „normal“, aber unbegründet ist, zuzurechnen ist. Diese Checkliste besteht zum einen aus Fragen, die mit Ja oder Nein zu beantworten sind, zum anderen aus einer Tabelle, in der die Frage nach der Beeinträchtigung durch die jeweilige Angst beantwortet werden soll. Angeboten werden die Werte: 0 = gar nicht, 1 = ein wenig, 2 = mäßig, 3 = schwer und 4 = sehr schwer. An konkreten Fragen ist zum Beispiel bei der Trennungsangst zu lesen: „Hat Ihr Kind große Angst, sich von Ihnen zu trennen? ż Ja ż Nein“ (MaurLambert/Landgraf 2003: 16); oder in Bezug auf „Soziale Ängste“: „Macht sich Ihr Kind schon vor sozialen Situationen große Sorgen? ż Ja ż Nein“ (MaurLambert/Landgraf 2003: 22; kursiv im Original). Wenn die interessierte Leserin die meisten dieser Fragen mit Ja bzw. mit dreimal Ja beantwortet hat, bekommt sie beschieden, dass bei dem Kind eine entsprechende Angst, die eine „Störung“ sei, vorliegen könnte. In der Folge ist die Leserin aufgefordert, eine professionel-
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le Hilfe in Anspruch zu nehmen (vgl. Maur-Lambert/Landgraf 2003: 10). Weitere Hinweise auf professionelle Hilfen, also auf Therapieangebote gegen „die Angst“, finden sich verteilt im ganzen Buch; so z.B. auch im Kapitel 6 „Was tun Profis gegen Ängste?“; und auch noch einmal im letzten Kapitel 11 „Professionelle Hilfe – wer, wie, wo?“ Um späteren Gefahren vorzubeugen, werden für den Fall, dass die Eltern in Folge einer ausgefüllten und ausgewerteten Checkliste entscheiden, dass eine behandlungswürdige „Störung“ bei ihrem Kind doch nicht oder vielleicht noch nicht vorliegt, schon einmal ein paar Techniken gegen „die Angst“ für den Hausgebrauch vorgestellt. Wichtig bleibt an dieser Stelle, noch einmal, festzuhalten, dass die beiden Autorinnen zwar einerseits betonen, dass es Ängste, die noch „normal“ seien, und dass es Ängste, die eine „Störung“ seien, gäbe; andererseits macht sich bei ihnen der Unterschied zwischen diesen beiden Formen „der Angst“ bloß daran fest, wie groß die Probleme im Alltag und wie groß der Leidensdruck des Kindes wegen „der Angst“ ist. Der Vorgang der Verdinglichung und Enteignung, der mit diesem Wissen über „die Angst“ vonstatten geht, kann an dieser Stelle noch einmal beschrieben werden. Von den konkreten und jeweils vielleicht auch unterschiedlichen Inhalten wird dabei schließlich weitestgehend abstrahiert. Das heißt umgekehrt, dass eben auch jeder Zustand, der demnach als „eine Angst“ beschrieben werden kann, die nicht offensichtlich auf eine anerkannt-objektive Gefahr von kurzer Dauer verweist, als bearbeitungswürdig und zu überwinden gilt; und dies auch ganz unabhängig davon, wie groß die Probleme dieser Angst wegen sind. Da die hier vorgestellten Ängste mitunter auch auf eine konkrete, durchaus gefährliche Situation verweisen (Tiere, Trennung, Schule, soziale Situationen), kann in Anlehnung an Bloch auf dieses Wissen hin in Umkehrung seiner ursprünglichen Logik formuliert werden: „Dieser ihr Zustand ist eine konkrete Furcht, wird er bestimmt, so ist er eine allgemeine und zu überwindende Angst“. In dem Maße nämlich, wie konkrete Ängste immer unter eine bestimmte allgemeine Kategorie subsumiert werden, gelten diese je konkreten Zustände in der Folge nun umgekehrt bloß noch als spezielle Fälle einer allgemein bekannten und behandlungswürdigen „Störung“; mit entsprechend allgemein angenommenen Ursachen, allgemein bekannten Symptomen und als allgemein hilfreich angenommenen Lösungen. Oder dieser Zustand gilt – zumindest solange der Leidensdruck und die Alltagsprobleme des Kindes „der Angst“ wegen, die eben noch „seine Angst“ war, noch nicht so groß sind – als Fall einer dennoch bearbeitungswürdigen, weil in jedem Fall nicht angemessenen oder „falschen“ Angst. Der von den Autorinnen unter der gegen Ende ihres Ratgebers auftauchenden Unter-Überschrift „Miteinander sprechen“ bemühten Behauptung der „Einzigartigkeit“ jedes Menschen,
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muss ihre eigene Vorgehensweise als eine einzige Negierung dieser Behauptung entgegengehalten werden (vgl. Maur-Lambert/Landgraf 2003: 119); zumal unter dieser Überschrift nicht einfach auf den möglichen Wert eines „MiteinanderSprechens“ in Hinblick auf die Klärung von Ängsten verwiesen wird – nein, Maur-Lambert/Landgraf setzen auch das Miteinander-Sprechen zuallererst als eine normative Notwendigkeit in die Welt, die bestimmten Regeln zu folgen habe. So muss die Sprechende beispielsweise ihrer Gesprächspartnerin in die Augen schauen, laut und deutlich reden, in ganzen Sätzen; sie muss ihr gegenüber ihre Wünsche und Gefühle offen und höflich aussprechen, sie muss sie ausreden lassen (Maur-Lambert/Landgraf 2003: 119). Einem solchen Vorschlag, der die Möglichkeit des Nicht-SprechenWollens, aber dennoch Sprechen-Müssens nicht beinhaltet, entspricht auch das erste und allen weiteren vorgeschlagenen Techniken unterliegende „allgemeine Prinzip im Umgang mit der Angst“. Dieses laute sowohl bei erwachsenen als auch bei kindlichen Ängsten: „Weglaufen macht die Angst nur schlimmer – Angst wird nur kleiner, wenn man sie aktiv bekämpft“ (Maur-Lambert/Landgraf 2003: 74). Wieder ist es also auch an dieser Stelle einmal mehr „die Angst“ ganz allgemein, nicht bloß „die Angst“, die eine „Störung“ sei, die es zu bekämpfen gilt. Die Autorinnen stellen nun insgesamt 11 „Techniken zur Angstbewältigung“ vor. Von „Beobachten“ über „Entspannung“, „Gedanken verändern“ bis hin zu der Technik „Punkteplan“. Allen diesen Techniken ist gemein, dass es jeweils darum geht, bestimmte, als „wünschenswert“ deklarierte Verhaltensweisen beim Kind hervorzurufen, es also an die Situation anzupassen; und dass ein Gespräch über Möglichkeiten der Veränderung der angstauslösenden Situation jeweils nicht stattfindet. Die Radikalität, mit der die Einpassung in die angstauslösende Situation vor sich zu gehen hat, wird besonders gut an den vorgestellten „Gedankentechniken“ deutlich. So wissen Maur-Lambert/Landgraf, dass es „schlechte“ und „gute“ Gedanken gibt, die von den Autorinnen auch als „Wolken-“ und „Sonnengedanken“ bezeichnet werden (vgl. Maur-Lambert/Landgraf 2003: 83 f. und 98 f.). Ein Kind, dass sich um seinen Vater sorgt, der am Abend zu einer Versammlung gegangen sei, könne demnach etwa entweder den „schlechten Wolkengedanken“ haben („Ich habe Angst, dass mein Papa nicht zurückkommt“) oder den „guten Sonnengedanken“ („Papa hat gesagt, dass er um 23 Uhr zurückkommt und ich weiß, dass ich mich auf ihn verlassen kann“) (Maur-Lambert/Landgraf 2003: 84). Ein anderes Mal wissen die Autorinnen, dass bei „sozial ängstlichen“ Kindern „typische schlechte“ Gedanken folgendermaßen aussehen: „Ich will da gar nicht hin“, „Ich kenne doch gar keinen“, „Ich will lieber heim“, „Hoffentlich muss ich da nie mehr hin“, „Keiner mag mich“, „Ich werde es nicht schaffen“.
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„Gute Gedanken“ seien dagegen: „Ich denke, dass es ganz schön werden könnte“, „Ich merke, dass es mir doch ganz gut gefällt“, „Immerhin war ich mutig und bin hingegangen, obwohl ich erst gar nicht wollte“, „Peter mag mich vielleicht nicht, aber Rudi mag mich sehr wohl“, „Ich schaffe das schon!“ (vgl. Maur-Lambert/Landgraf 2003: 99 und 116). In Kombination mit der Technik „Punkteplan“, die geeignet sein soll, das anstrengende Bekämpfen von Ängsten ausdauernd durchzustehen, werden solche Gedankentechniken Teil eines umfassenderen Konzepts zur Zurichtung des sich-ängstigenden Kindes. Solche Kinder bekommen demnach Punkte, wenn sie es beispielsweise schaffen, Klassenkameradinnen anzurufen oder laut und deutlich zu sprechen. Am Ende der Woche können dann die erhaltenen Punkte gegen eine zuvor abgesprochene Belohnung eingetauscht werden, etwa gegen gemeinsames Radfahren oder gegen einen gemeinsamen Kinobesuch. Andernfalls gibt es die Belohnung nicht. Darüber, was nun aber die Familie stattdessen mit der Zeit am Samstag anfangen soll, an dem vielleicht einmal alle Familienmitglieder Zeit gehabt hätten, um gemeinsam in einen für alle interessanten Kinofilm hineinzugehen, darüber schweigen sich die Autorinnen leider aus. Die Technik an der Gedankentechnik jedenfalls liegt übrigens wirklich nur darin, dass man schlicht lernen soll, den einen Gedanken gegen einen anderen Gedanken auszutauschen. Nicht nur soll also ein, wie dargestellt, fühlendes, denkendes und wollendes Kind (und für Erwachsene gelte das ja gleichermaßen) seinen eigenen Gefühlen, seinen eigenen Gedanken und seinem eigenen Wollen nicht trauen und über den jeweiligen Gehalt nicht autonom nachdenken. Es bekommt darüber hinaus auch noch wertend beschieden, dass in ihm – als ein vielleicht auch noch zur Menschen-Klasse „ängstliche Kinder“ zuzuordnendes Kind – Kräfte walten, die „schlecht“ sind und „schlechte“ Folgen mit sich bringen. Noch einmal sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die Grenze zwischen Ängsten, die eine „Störung“, und Ängsten, die „normal“ seien, bei den beiden Autorinnen wesentlich quantitativ bestimmt ist. Das bedeutet aber auch hier, dass zum Beispiel diese Gedankentechniken, quasi präventiv, auch schon bei Kindern eingesetzt werden können, deren Ängste bei ihnen noch keine so großen Probleme oder kein so großes Leiden mit sich bringen, dass sie demnach schon als „gestörte“ Kinder zu klassifizieren seien. Ein Vergleich mit (christlichen) Vorstellungen von „unreinen“ und „sauberen“ Gedanken liegt hinsichtlich des von den Autorinnen gemachten Unterschieds nahe. Und in beiden Fällen ist nachvollziehbar, warum ein Kind, dass dergleichen Unterschiede erfolgreich beigebracht bekommen hat, auch aus diesem Grunde in der Folge möglicherweise eine Angst vor seiner dergestalt bestimmten Angst ausbildet. Ist nämlich erst einmal das Urteil, in mir gibt es „Gutes“ und „Schlechtes“, gelernt, hat also das Kind verstanden, dass es in ihm be-
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stimmte Anteile gibt, die nicht akzeptabel sind, die inhaltlich gänzlich unbegründet per se als „schlecht“ oder eben vormals als „unrein“ gelten bzw. galten, dann ist es auch konsequent, dass es sich möglicherweise in der Folge vor einem nochmaligem Auftauchen solcher an sich „schlechten“ Gedanken zu fürchten beginnt; dass es also diese Gedanken nicht denken will und von ihnen „verschont“ bleiben will. Es wird dann auch im Weiteren sein Wollen gegebenenfalls davon abhängig machen, was allgemein als „gut“ und was als „schlecht“ gilt. Und das ohne sich noch einen Gedanken darüber zu machen, wer eigentlich wann, warum und zu welchem Zweck diese Unterscheidung von „Gut“ und „Böse“ in die Welt gesetzt hat. Das von Freud erörterte „Unbehagen in der Kultur“, als das Gefühl, das entstehen könne infolge dessen, dass die einen umgebende Gesellschaft zum Zwecke ihres Fortbestandes bestimmte innere Regungen unterdrücke, um deren innere Existenz man aber wisse bzw. spätestens nach erfolgter Analyse wissen könne, wird so betrachtet um einen Aspekt bereichert. Dieser Aspekt wird demnach aktuell von Seiten der Verhaltenspsychologie in Bezug auf „die Angst“ und ihre „Überwindung“ selbst in die Welt gesetzt – „die Angst vor der Angst“ findet hier einen Anfang. Ennulat, deren Thema die Überwindung von „normalen“ Ängsten ist, weiß dagegen, dass es zuallererst gelte, Situationen zu organisieren, in und nach denen über Erlebtes und Gefühltes einander berichtet werden kann. Techniken gegen die Angst sind ihre Sache nicht. Der zweite Teil ihres Buches, der überschrieben ist mit „Praxisanregungen“, beginnt daher auch mit einem entsprechenden Kapitel über „Gesprächssituationen über die Angst“; es folgen „Angstverarbeitung durch Spiele, Lieder und Gedichte“, „Märchen helfen bei der Verarbeitung von Angst“, „Vorlesegeschichten“ und Anregungen für „Übergangszeiten“ der Kinder von ihrem Zuhause in den Kindergarten bzw. von dort in die Schule. Das Ziel, das sie mit ihren Methoden verbindet, ist, den Kindern die Erfahrung zu vermitteln, dass diese mit ihren Ängsten nicht allein seien. Das wiederum bewirke ein Gefühl der Solidarität (vgl. Ennulat 2001: 58). Spiele würden zudem dem Kind die Möglichkeit geben, sobald es sich überfordert fühle, auszusteigen, um dann, wenn es wieder Mut gefasst habe, wieder dazu stoßen zu können. Dadurch lerne es, wenn die Gruppe das zuließe, was wichtig sei, dass „zögerlich“ und „ängstlich-sein“ Möglichkeiten eigenen Handelns und Erleben seien, die es auch zulassen und mit denen es umgehen könne. Es folgen auch Spiele, in denen dieser Umstand regelmäßig selbst Teils des Spielkonzeptes ist. Hierin müssen nämlich von den Kindern abwechselnd Rollen eines sich-ängstigenden und/oder bösen Kindes, Tieres oder Wesens eingenommen werden. Dieses wird dann von den anderen, jenen die „mutigen“ Rollen übernehmenden Kindern, in der Folge spielerisch getröstet, bestraft oder ausgelacht (vgl. Ennulat 2001: 71 ff.). In Märchen wiederum würde menschliches Leben ungeschönt wiedergeben. Die ganze
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Bandbreite menschlicher Erfahrungen fände in ihnen ihren Niederschlag. Die Ungesichertheit menschlicher Existenz drücke sich hierin ebenso aus wie Bedrohung und Grausamkeit. Das Kind habe die Möglichkeit, darauf mit seinen eigenen kreativen Kräften zu reagieren. Gleichzeitig besäßen aber Märchen zum Ende hin immer auch die Botschaft, dass alles gut werde und dass das Kind sich auf das Leben einlassen könne. „Dieses Wissen um das gute Ende hilft den Kindern, die gefährlichen Märchenwege mitzugehen. Wer sich mutig in die Welt wagt, wird belohnt“ (Ennulat 2001: 100). Ennulat will also Ängste zulassen – also annehmen, statt sie abzuweisen. Sie bespricht die Möglichkeit des solidarischen Umgangs sich-ängstigender Kinder, statt von einer kategoriale Andersartigkeit des „ängstlichen Kindes“ auszugehen. Sie will über vorhandene Gedanken und Gefühle reden, statt bestimmte „schlechte Gedanken“ aus dem Kanon gewünschter Denkweisen auszuschließen. Und schließlich weiß sie auch darum – und das erinnert an „das Nichts“ bei Heidegger –, dass menschliche Existenz auch eine ungesicherte, bedrohliche und eine grausame ist; dass es also möglich ist, die Quelle der Angst dem Leben selbst zu entnehmen. Und sie weiß demnach, dass „die Angst“ – nicht „biopsychosozial“ verursacht – zuallererst eine Eigenschaft der Betroffenen sein muss. In all diesen Punkten unterscheiden sich ihre Lösungsvorschläge und ihre Wissensangebote von denen der beiden zuvor diskutierten Autorinnen. Die Möglichkeit eines nicht verdinglichenden Umgangs mit Kindern und dem, was als ihre Angst beschrieben wird, auch im Sinne Wimmers, scheint mittels ihrer Vorschläge demnach deutlich mehr gegeben als dies bei Maur-Lambert/Landgraf der Fall ist. Da die aufgeführten Methoden/Spiele zumeist auf mehrere Kinder abzielen, also Gruppenspiele/-methoden sind, gibt es in der Folge vielleicht auch die Chance, dass betroffene Kinder – etwa mit Hilfe der Eltern und/oder der Erzieherinnen – „ihre“ Angst bei anderen Kindern „wiederfinden“ können. Das kann dann dazu führen, dass sie in der Folge über eine gemeinsame und dann eben auch über eine vielleicht zuallererst äußere Ursache ins Nachdenken geraten, um dann, im Rahmen ihrer Möglichkeiten, über eine Veränderung der Angst machenden Situation beratschlagen zu können. Und tatsächlich kennt Ennulat auch solche Vorgänge. Sie berichtet von einem Kind, das aus Angst vor bösen Geistern in einer bestimmten Ecke auf dem Weg zur Toilette sich nicht mehr traute, dorthin zu gehen. Erst nach einem gemeinsamen Gespräch über seine Angst mit anderen Kindern wurde deutlich, dass es mit seiner Angst in dieser Situation nicht allein war. Mittels von den Kindern hergestellter „Gegen-Geister“ und mit mehr Licht in dieser Ecke konnte der Angst einiger Kinder erfolgreich situations-, und eben nicht personen- und defizitorientiert, entgegengewirkt werden.
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Es könnte an dieser Stelle eingewendet werden, dass die Unterschiede der beiden besprochenen Wissensangebote über „die Angst“ in erster Linie ein Ergebnis der verschiedenen besprochenen Kindergruppen der Autorinnen MaurLambert/Landgraf und Ennulat seien - hier Schulkinder, dort Kindergartenkinder. Und tatsächlich könnte einem solchen Einwand wenig entgegengehalten werden. Es ist sicher richtig, dass die Möglichkeiten in einem Kindergarten und die Möglichkeiten für Eltern von Kindern in diesem Alter generell, zunächst andere sind als jene Möglichkeiten, die Eltern von Schulkindern in Hinblick auf sich-ängstigende Kinder zur Verfügung stehen. Auf der einen Seite steht eine zu gestalten mögliche Situation – auf der anderen Seite steht zuallererst ein zuvor festgelegter Lehrplan und die Selektionsfunktion der Schule im Mittelpunkt des Geschehens. Die Möglichkeit des Aussteigens aus einer Angst machenden (Spiel-)Situation zum Beispiel, wie sie Ennulat vorschlägt, bei gleichzeitiger Möglichkeit, jederzeit auch wieder einsteigen zu können, ist im schulischen Ablauf nicht mehr vorgesehen. Die (relative) Freiheit des Kindes während des Kindergartenalltags ist dort ersetzt durch den Zwang der Schulpflicht und dem einzuhaltenden Stundenplan. Und auf dieses schulische Geschehen können Eltern zuallererst nur indirekt versuchen, unter anderem auch mittels der beschriebenen Techniken, einen Einfluss auszuüben. In Ermangelung weiterreichender Einflussmöglichkeiten und angesichts einer weitestgehend anzunehmenden Ohnmächtigkeit der Eltern gegenüber den Entscheidungen in der Institution Schule bleiben letztlich, in Anbetracht von dann so genannten „Schul-Angst-Störungen“ des Kindes, vor allem Techniken übrig, die gänzlich personen- und defizitorientiert bloß noch auf das Innerste des sich-ängstigenden und wieder anzupassenden Kindes abzielen. Die Notwendigkeit, Grenzen des Systems in individuelle Defizite zu verwandeln, besteht also um so mehr, desto strikter diese Grenzen von Seiten auch der jeweiligen Institution gezogen werden. Aus Unterschieden zwischen Kindergartenkindern und Schulkindern lassen sich keine Rückschlüsse auf entsprechend verschiedene Qualitäten „die Angst“ selbst betreffend ziehen. Die Unterschiede hinsichtlich dessen, wie „die Angst“ von Kindern bestimmt wird, als auch die hieraus erfolgenden unterschiedlichen Lösungen – hier Umgang mit „der Angst“, dort Techniken gegen „die Angst“ – entspringen – genau umgekehrt – zuallererst den existierenden unterschiedlichen institutionellen Logiken selbst. Die Lösungen von Ulrich Rabenschlag, aber auch die von Hans Zulliger, für die von ihnen vorgetragenen Probleme fallen zum Teil, wie bereits zu Beginn deutlich wurde, mit ihren Problembestimmungen in eins zusammen. Gegen „die Angst“ bei Kindern etwas zu tun, heißt für beide – für Zulliger als „rein“ psychoanalytisch orientierter Kinderpsychotherapeut noch einmal mehr – in erster Linie, ein Verständnis dafür zu entwickeln, was genau bei dem jeweiligen Kind das
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Problem ist und was dessen jeweilige Ursachen sind. Rabenschlag formuliert diesbezüglich, dass sich die Arbeit heutiger Kindertherapeutinnen schulenübergreifend darauf konzentriere, „[...] Kindern beim Umgang mit ihrer Angst so zu helfen, dass sie nicht mehr auf untaugliche Mechanismen zur Angstvermeidung zurückgreifen müssen. Dabei bedarf es der Mitarbeit des Kindes und der Eltern. Bewusstmachen, Korrektur kurzschlüssigen Denkens und Übens neuer Verhaltensweisen – all das sind Elemente und nicht länger alternative Zugangsweisen jeder modernen Kinderpsychotherapie“ (Rabenschlag 2002: 12).
In der Folge weiß Rabenschlag beispielsweise gegen „die Angst“ eines Mädchens vor Hunden, als Folge einer von ihm beschriebenen Kette von Lernprozessen, auf das lernpsychologische Modell zur Angstentstehung zurückzugreifen. Und im Sinne eines Ursache-Wirkungsmodells deutet er das Vermeidungsverhalten des Mädchens in Bezug auf Hunde als die „mächtigste“ Art eines Verstärkers (vgl. Rabenschlag 2002: 28). Gegen einen solchen, automatisch ablaufenden Lernprozess, helfe dann nur die gewollte und therapeutisch kontrollierte Konfrontation mit dem Angst auslösenden Objekt. Die Frage danach, warum dann nicht auch gleich umgekehrt das Vermeiden der Nähe eines Hundes interpretiert werden kann als etwas, was die Person nicht will – eben unter anderem aus dem Grund, weil sie vielleicht, und das ganz bewusst, fürchtet, wieder in eine ähnliche Situation zu kommen, wie sie sie schon einmal erlebt hat und wie sie sie auch damals schon nicht erleben wollte –bleibt in solchen Konzepten aber leider immer unbeantwortet. Rabenschlag ist aber auch, gemäß seiner breiten theoretischen Grundlegung, in der Lage, die auf die Schule bezogene „Leistungsangst“ als eine „unbewusste Angst vor Liebesverlust“ zu erklären. Das aber ist eine Erklärung, wie sie bei Maur-Lambert/Landgraf nicht, bei Zulliger hingegen sehr wohl zu lesen sein könnte. Auch „die Leistungsangst“ interpretieren MaurLambert/Landgraf nämlich als eine Folge von „Denkfehlern“, und zwar der Art: „Sich selbst unter Druck setzen mit Normen und Erwartungen“. Als Beispiel hierfür führen sie an: „Ich muss, ich muss, ich muss gut sein in der Schule!“ (Maur-Lambert/Landgraf 2003: 34). Für Rabenschlag hingegen steht in solchen Fällen fest, und er benutzt hier die Gelegenheit, seinem Berufsstand die unbedingte Daseinsberechtigung zuzusprechen: „Die unbewusste Angst vor Liebesverlust ist der Motor, der sie antreibt. Und ohne professionelle Hilfe werden sie niemals dahinter kommen, dass Leistungserfolge zwar Anerkennung, nicht aber die Überzeugung bringen können, liebenswert zu sein“ (Rabenschlag 2003: 72).
Beiden Ratgebern gemein ist aber, dass ihre jeweiligen Lösungen in Bezug auf „Leistungsangst“ darauf abzielen, der sich so Ängstigenden beizubringen, dass sie auch dann ein liebenswerter bzw. ein respektabler Teil der Gemeinschaft ist,
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wenn sie die an sie gestellten Erwartungen nach Leistung nicht soweit zu erfüllen imstande ist, dass sie immer die Beste ist. Und das gilt wohl auch dann noch, wenn sie der herrschenden Konkurrenz wegen jenen zuzurechnen ist, die von besseren Möglichkeiten zur Partizipation am gesellschaftlich produzierten Reichtum ausgeschlossen sind. Auch diesen beiden Wissensangeboten über „die Angst“ – und sie erinnern deutlich an jene zu Beginn referierten von Panse/Stegmann und Oehler – kann also einmal mehr die Lehre entnommen werden, dass die Einzelne den ihr gemäßen Platz in der Gesellschaft zum Zwecke der Minimierung ihrer Angst zu finden hat. Die Lösungen Zulligers bestehen zum einen neben der Erteilung eines allgemeinen Lebensratschlags: „Das Eingebettetsein in eine Gemeinschaft setzt das allgemeine Angstniveau herab“ (Zulliger 1966: 34), darin, die jeweiligen konkreten Ursachen eines jeweiligen Kindes vor dem Hintergrund psychoanalytischer Theoriebildung zu analysieren und ihm selbst und/oder seinen Eltern verständlich zu machen. Um die Notwendigkeit eines solchen Vorgehens deutlich zu machen, finden sich in seinen zehn Kapiteln insgesamt 18 erweiterte Fallbeispiele, anhand derer er die jeweils besprochene Angst und ihre jeweilige konkrete Entstehung exemplarisch beschreibt. Seine das jeweilige Problem lösen sollenden Interpretationen hinsichtlich der Tierphobie und der „Angst der Jugendlichen“ sind bereits dargestellt worden. An dieser Stelle sei nun noch ein drittes und letztes Beispiel genannt. Zulliger versucht hierin deutlich zu machen, was ein psychoanalytisch aufgeklärter Umgang der Pädagogin mit „Schundromanen“ sein muss: „Die pädagogische Konsequenz ist eine andere: der Erzieher muß dafür sorgen, daß der Jugendliche auf irgendeinem sozialen Gebiet – daß er in sozial einwandfreiem Sinne irgendwo seinen Mann und Helden stellen kann, real in der Arbeit; dies befriedigt ihn stärker als alle Phantasien - von denen er sich inne ist, daß sie irreal sind. Den Schundroman lehnen wir ab, weil er verlogen ist. Den männlichen Lesern schwindelt er – via Identifikation – ein angstfreies Leben vor, den weiblichen (z.B. die von Mädchen so beliebten Courths-Mahler-Romane) den Aufstieg aus einem Aschenbrödel-Dasein in eine höhere Gesellschaftsschicht – letztlich Überreste ehemaliger Mädchenwünsche, ein Knabe zu sein, die Kastrationsidee – also wieder Angst! – zu beseitigen, inexistent zu machen“ (Zulliger 1969: 105f).
Die Größe dessen, was alles an normativen Inhalten in Folge eines Redens über „die Angst“ transportiert werden kann, wird hier deutlich. Der Mann muss ein Held sein können, er muss eine Arbeit finden, die ihn befriedigt. Schundromane sind abzulehnen, sie sind verlogen. Die Frau soll nicht denken, sie könne mehr aus sich machen, als in ihr angelegt ist. Das alles aber sind Erwartungen an ein „richtiges“ Handeln, von denen die Leserin vor einer Lektüre des Buches im besten Falle gar nicht dachte, dass diese dermaßen eng mit „der Angst“ ihres Kindes zu verknüpfen möglich seien.
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Zum Verhältnis von Einzelner und der sie umgebenden Ordnung Die untersuchten Ratgeber-Autorinnen unterstellen – das ist bislang deutlich geworden und entspricht den Regeln des Genre, für das sie schreiben – eine im wesentlichen bestehende, gute Ordnung, die ihnen ihrerseits nicht als eine mögliche Quelle im Sinne einer allgemeinen Ursache für „die Angst“ gilt. Jede Ordnung, dies drängt sich beim Lesen ihrer Argumente auf, ist ihnen lieber als die einzige Gegenvorstellung, die sie hierzu vermutlich kennen, nämlich Chaos – und eine daraus folgende, „die Angst“ verursachende Ungewissheit. Diese Ordnung ermöglicht es der Einzelnen – vorausgesetzt, sie hat sich erfolgreich integriert, also ihre Angst besiegt und sich eingepasst –, sich individuell zu entfalten. Ob „die Angst“ eine „richtige“ oder eine noch „normale“, aber bereits unbegründete, oder aber ob „die Angst“ eine „Störung“ sei, das entscheidet sich bei ihnen, auch das wurde bereits erörtert, wesentlich vor dem Hintergrund dessen, was jeweils als eine gesellschaftlich anerkannte Gefahr und was als eine gesellschaftlich anerkannte erfolgreiche Anpassung gilt. In der Folge zielen ihre Ratschläge zumeist konsequent nicht auf eine Veränderung der jeweiligen Situation ab. Stattdessen zielen sie auf eine, ihrer Position und ihrem daher zu vermutenden Interesse nach, professionell zu bewerkstelligende Veränderung der Gedanken und Gefühle der Sich-Ängstigenden (Rabenschlag, Maur-Lambert/Landgraf) oder auf eine Aufklärung der in ihr herrschenden innersten psychischen Verhältnisse (Zulliger) ab. Die Pädagogin Ennulat hingegen – und das ist typisch für die RatgeberFraktion „Methoden für einen Umgang mit ‚der Angst’“, als deren Vertreterin sie hier gilt – behält gleichgewichtig drei Dinge im Blick. Ihr geht es zwar auch um die Überwindung „der Angst“ im einzelnen Kind, aber, mehr als den anderen Autorinnen, auch um die Frage nach der Möglichkeit einer Veränderung der es umgebenden Situation. Und es geht ihr darum, den sich-ängstigenden Kindern Möglichkeiten autonomer Handlungsweisen in Folge einer eigenen Angst an die Hand zu geben. Rabenschlag und noch mehr Maur-Lambert/Landgraf dagegen sind daran interessiert, gleichsam die „Seele“ des sich-ängstigenden Kindes selbst, mit neuen, mit „richtigen“ Annahmen über die Welt und über es selbst zu besetzen. „Wenn man ängstlichen Kindern helfen will, muss man sich etwas genauer anschauen, was in ihren Köpfen und Herzen vorgeht“ (Maur-Lambert/ Landgraf 2003: 32). Ähnlich bei Rabenschlag: „Auf jeden Fall ist es unendlich viel schwieriger, bei solchen Kindern bis auf ihren Kern zu blicken, wenn man als Mutter oder Vater aus einseitigem Blickwinkel oder als Erzieher(in) aus pädagogischer Distanz mit ihnen im Alltag zu tun hat“ (Rabenschlag 2002: 93).
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Dass bei dieser Gelegenheit auch die Eltern selbst sich ein bestimmtes, die Reproduktion der herrschenden Verhältnisse unterstützendes Wissen aneignen, kann als ein möglicher Nebeneffekt angenommen werden. Dass es allen vieren aber gleichermaßen sehr daran gelegen ist, das sich-ängstigende Kind in die Welt, wie sie ist bzw. wie sie von ihnen verstanden wird, einzupassen, und dass alle ihre Ratschläge letztlich genau darauf abzielen, das soll nun noch ein letztes Mal anhand jeweils besonders prägnanter Beispiele aus dem Bereich dessen, was die Autorinnen „Schul- und Leistungsängste“ nennen, deutlich werden. Unterschieden werden kann dabei in ein reflexiv-affirmatives Wissen einerseits (Zulliger, Rabenschlag, Ennulat) und in ein technokratisches Wissen (Maur-Lambert/ Landgraf) andererseits. Maur-Lambert/Landgraf wissen, dass Eltern oft vor einem Rätsel stehen, wenn ihre Kinder Angst davor haben, in die Schule zu gehen. Dieses Rätsel lösen sie folgendermaßen: Es gibt demnach Ängste, die auf eine Überforderung des Kindes zurückgehen, und es gibt Ängste, die sich auf Leistungssituationen beziehen, also Prüfungsängste sind (vgl. Maur-Lambert/Landgraf 2003: 18 ff.). Die Überforderung, die der Grund für „die Angst“ vor der Schule sein soll, verorten sie entweder in einer „intellektuellen Überforderung“, in einer „Überforderung wegen unentdeckter Defizite“, in „familiären Überforderungen“ oder in „sozialen Überforderungen“. Das bedeutet im Einzelnen: Eine mögliche „intellektuelle Überforderung“ sei gegebenenfalls die Folge dessen, dass das Kind nicht ausreichend begabt sei für die Schulform, die es besuche. „Seine Intelligenz ist zu niedrig, so dass es z.B. besser auf einer Förderschule aufgehoben wäre. Besteht der Verdacht auf eine solche Überforderung, sollte umgehend durch qualifizierte Personen (Schulpsychologen, Kinder- und Jugendpsychologe oder -psychiater) ein ausführlicher Intelligenztest durchgeführt werden“ (Maur-Lambert/Landgraf 2003: 18).
Im Verein mit den Überforderungen des zweiten Typus „unentdeckte Defizite“ (z.B. Teilleistungsschwächen, Rechenstörung, AD(H)S) ist zunächst einmal festzuhalten, dass die Autorinnen damit – ähnlich wie schon Rabenschlag, wenn auch radikaler – ein nicht unerhebliches Programm zur Arbeitsbeschaffung für die erwähnten psychologisch geschulten Professionellen in die Welt setzen. Radikal personen- und defizitorientiert ihre Ratschläge zu unterbreiten, heißt auch – unter der Überschrift „Schulangst durch Überforderung“ – an erster Stelle ein ebenfalls tautologisches Konzept einer möglicherweise „mangelnden Intelligenz“ der sich-ängstigenden Schülerin zu diskutieren. Diese gehöre getestet, und zwar „umgehend“. Die „Intelligenz“ zeige sich dann an den Ergebnissen – und an den Ergebnissen beweise sich nun mal die „Intelligenz“. Ein wiederum ganz schlichter Vorschlag, der das oben angesprochene Rätsel vielleicht auch zu lösen imstande wäre, wäre dieser: Es könnte darüber nachgedacht werden, ob dem über-
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forderten und dem sich-ängstigenden Kind von Seiten der Eltern oder vielleicht auch von Seiten von Nachhilfelehrerinnen mehr Unterstützung zu geben möglich wäre. Das aber ist ein Vorschlag, der, der anspruchsvoll begründeten „Störungsdiagnostik“ wegen, hier nun einigermaßen fehl am Platz ist. Es ist zwar unangemessen anzunehmen, dass Maur-Lambert/Landgraf einen solchen einfachen Vorschlag nicht ebenfalls kennen und gegebenenfalls nicht auch unterbreiten würden. Denn tatsächlich machen sie auch auf die Bedeutung von „sozialer Unterstützung“, „Zuneigung“ und „Ermutigung“ im Kampf gegen „die Angst“ aufmerksam (vgl. Maur-Lambert/Landgraf 2003: 47 f.). Nur – und das wird hier noch einmal besonders gut deutlich – ist eine Angst erst einmal als Fall einer Angst, die eine „Störung“ ist, klassifiziert, dann ist eben dieser Klassifikation wegen ein anderes als ein personen- und defizitorientiertes Denken innerhalb dieses Wissen nicht mehr möglich. Das, was die Autorinnen eben noch vorschlugen, nämlich ein Mehr an sozialer Unterstützung, ist an dieser Stelle dann keine Option mehr. Und auch unter „familiärer Überforderung“ werden „heimische förderliche“ Strukturen bloß defizitär als nicht vorhandene aufgeführt. Zuletzt noch einmal zur „sozialen Überforderung“. Die Autorinnen schreiben hierzu: „Das Kind hat Angst vor Mitschülern oder einer Lehrkraft, nicht aber vor den Leistungsanforderungen selbst. Möglicherweise wird es gehänselt, tätlich angegriffen bzw. bedroht [...] oder von einer Lehrkraft schlecht behandelt (angeschrien, eingeschüchtert, bloßgestellt, abgewertet o.ä.)“ (Maur-Lambert/Landgraf 2003: 19).
Obwohl es sich ja aus inhaltlichen Gründen durchaus anböte, kommen die Autorinnen auch an dieser Stelle nicht auf die im allerersten Satz ihrer Einleitung angesprochene Angst als einer „Überlebenstechnik“ zu sprechen. Als solche hätte „die Angst“ in diesen Fällen doch endlich einmal die ihr dort zugesprochenen Fähigkeiten zu entfalten. Nein, sie subsumieren defizit- und personenorientiert auch noch den „tätlichen Angriff“ durch die Mitschülerin und das „Angeschrien-Werden“ durch die Lehrerin unter die Kategorie „soziale Überforderung“. Und diese gilt ja wiederum bloß als eine Ursache für eine „Störung“: „Schul- und Leistungsangst“. Die zweite Art von Schulangst, die aus der Prüfungsängstlichkeit entstünde, ist bloß durch ihre beobachtbaren und abfragbaren Auswirkungen beschrieben: Versagensangst, Anspannung, Herzklopfen, Nervosität, Gedanken an einen Misserfolg. „Manche stellen zu hohe Ansprüche an sich selbst, indem sie immer die besten oder perfekt sein wollen“ (Maur-Lambert/Landgraf 2003: 19). Dass schulische Leistungsvergleiche ganz schlicht des Prinzips der Konkurrenz wegen neben den gewünschten Siegerinnen immer auch Verliererinnen her-
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vorbringen, gilt Autorinnen über „die Prüfungsangst“ nicht als ein möglicher Grund für eine solche Angst. Immer liegt es demnach bloß am Einzelnen, mit welchem Ergebnis er aus dem Leistungsvergleich wieder herauskommt. Es darf ein sich etwa vor einer Klassenarbeit ängstigendes Kind keine Angst davor haben, am Ende zu jenen zu gehören, die diese nicht oder vielleicht fast nicht geschafft haben werden – obwohl dies, wie in Kapitel 3.2.4 dargestellt, noch vor Beginn der Klassenarbeit, vielleicht also in etwa zeitgleich mit dem Aufkommen seiner „Prüfungs-Angst“, bereits feststand. Seine Leistung ist nun einmal bloß die notwendige und nicht hinreichende Bedingung für den eigenen Erfolg. Im Gegenteil, seine Angst vor der Prüfung wird argumentativ gewendet zu einem Grund, warum er danach zu jenen gehören musste, die im Ergebnis die Prüfung nicht erfolgreich bestanden. „Tatsächlich erbringen prüfungsängstliche Kinder auch häufiger schlechtere Leistungen“ (Maur-Lambert/Landgraf 2003: 19). Interessant ist auch, dass das Kind, das regelmäßig nicht zu den „Besseren“ gehört, als „leistungsängstliches“ Kind ebenfalls noch etwas beigebracht bekommt. Hat es eben noch gelernt, dass es in der Schule und im Leben darauf ankommt, besser zu sein als andere, bekommt es nämlich jetzt noch beschieden, dass es daraus erwachsender etwaiger Probleme wegen sich keinen Kopf zu machen hat. Es bekommt, im Zuge seiner „Leistungsangst“ nämlich beigebracht, dass der Rang, den es letztlich in der Schul- und Klassenhierarchie einnimmt, ganz seiner Natur, ganz seinen Begabungen, seinem Temperament, seiner Intelligenz entspricht. Die Schule selbst, und das was diese mit ihm anstellt, sei jedenfalls kein Grund zur Sorge. Das weiß auch Ulrich Rabenschlag: „Es hilft nichts, mit dem Kind darüber zu sprechen, wovor es denn in der Schule Angst hat. Die Schule selbst, die Klasse oder die Leistungsanforderungen, sind meist gar nicht an der Schulphobie beteiligt“ (Rabenschlag 2002: 126)
Der Unterschied seines Wissens aber im Gegensatz zu jenem der zwei eben besprochenen Autorinnen, das zu Beginn als „reflexiv-affirmativ“ klassifiziert wurde, liegt darin, dass Rabenschlag um die mit zuviel Leistung einhergehenden Zumutungen weiß. Bloße Techniken und Intelligenztests gegen die Überforderung, also gegen „die Angst“, sind seine Sache daher nicht. Er will auch politisch informieren und entsprechend reflektierte Forderungen stellen; an die Eltern, aber auch an den Staat. Diesbezüglich fordert er vor allem mehr Rechte des Kindes im Umgang mit seinen Eltern (vgl. Rabenschlag 2002: 133). Teile seines Ratgebers lesen sich zudem auch als eine Anklage gegen die, wie er sie nennt, „Konsum- und Leistungsgesellschaft“ (vgl. Rabenschlag 2002: 72, 129ff.). „Während es vor hundert Jahren sozial harte und autoritäre Strukturen waren, die für familiär unterhaltene Kinderängste verantwortlich waren, ist es heute die ungute Mischung aus Orien-
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tierung versagender Strukturlosigkeit und Anpassungsdruck an die Leistungsgesellschaft der Erwachsenen, die in Familien ihren Niederschlag findet“ (Rabenschlag 2002: 129).
Gesellschaftliche Verhältnisse also seien verantwortlich für Kinderängste. Das klingt, im Vergleich zu den bisherigen Ausführungen von psychologischer Seite, zunächst vielversprechend. Doch Rabenschlag bietet gegen diese von ihm derart attestierten Ursachen wiederum ein Wissen an, das auch wieder, neben seinen Forderungen nach mehr Rechten für die Eltern-Kind Beziehung, nur auf die Veränderung persönlicher Einstellungen und Erwartungen abzielt, nicht aber auf eine Veränderung der von ihm kritisierten Verhältnisse selbst. Die Eltern sollen einander lieben, Grenzen setzen, Harmonie anstreben, dem Kind beibringen, dass es auch einmal verzichten müsse (vgl. Rabenschlag 2002: 130). Die Zeit solle man sich nicht stehlen lassen von Fernsehen und Konsumgesellschaft, sondern stattdessen mehr Sport treiben und Abenteuer erleben (vgl. Rabenschlag 2002: 131). Und schließlich: „Wenn sie realistische Erwartungen an Ihr Kind stellen, die seiner Begabung und seinem Charakter angemessen sind, ersparen sie sich viele Enttäuschungen“ (Rabenschlag 2002: 131, 137). Denn, so der Autor: „Schließlich müssen Lehrer immer häufiger Schüler unterrichten, die einfach auf der für sie falschen Schule und ständig überfordert sind“ (Rabenschlag 2002: 140). Sich in Anbetracht der ständigen und zu vielen Anforderungen der „Konsum- und Leistungsgesellschaft“ einfach einmal selbst zurücknehmen, sich auf die Familie und das zu besinnen, was man wirklich erreichen und haben kann, das ist des Autoren Ratschlag in Anbetracht der von ihm kritisierten Verhältnisse. Das aber sind dann im Ergebnis auch Ratschläge, gegen die MaurLambert/Landgraf sicher ebenfalls nichts einzuwenden wüssten. Zulligers Vorstellungen über die gesellschaftliche Ordnung konnte bereits den angeführten Zitaten entnommen werden. Demnach müsse etwa der Knabe sich mit dem Vater zu identifizieren lernen, zwecks gesellschaftlicher Anpassung und der Vermeidung krimineller Handlungen (vgl. Zulliger 1969: 99). Und auch er kennt – unter der Überschrift „Angst macht dumm“ – ein Mädchen, das seine „natürliche diffuse Angst“ auf die Schule und das Lernen fixierte, statt beispielsweise auf Tiere oder Gewitter, wie dies andere Kinder machen (Zulliger 1969: 37). Fast nie ist „die Angst“ also das, was sie zunächst scheint; fast immer bedarf es einer erweiterten Aufklärung von psychologischer Seite. Eines ist aber auch bei Zulliger gewiss: Der Schule selbst ist kein Grund für eine Angst zu entnehmen. Und an die Ordnung, wie sie ist, gilt es den Knaben und sicher auch das Mädel anzupassen. Erwähnung finden soll noch, dass der psychoanalytisch orientierte Psychotherapeut Zulliger in seiner Arbeit nicht auf das „Unbehagen in der Kultur“ bei Freud zurückgreift; d.h. er referiert ebenfalls kein kritisches Verständnis des Verhältnisses von Angst und Kultur und kommt somit auch nicht zu
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einem Verständnis, wonach „die Angst“ auch in Hinblick auf in der Gesellschaft angelegte Gründe zu reflektieren sei. Das entspräche auch nicht seinem Interesse. Obzwar Zulliger sein Buch mit dem Titel „Die Angst unserer Kinder“ überschrieb und er damit eine Notwendigkeit der „Überwindung“ dieser Angst nicht sogleich im Titel suggerierte, so kommt er am Ende zu dem dann doch einigermaßen radikalen Schluss: „Wir haben sehen können, wie schädlich für ein Kind die Angst ist. Darum ist es selbstverständliche Eltern- und Erzieherpflicht, die Angst des Kindes zu bekämpfen, soweit als möglich auszuschalten“ (Zulliger 1969: 135). Und dass es tatsächlich sein Bestreben ist, jeglichen Pessimismus, egal wie reflektiert und begründet dieser sein mag, zu tilgen, zeigt sich noch einmal ganz am Ende: „Wir wollen eine möglichst angstfreie Generation heranbilden und dem Leben übergeben! Wir wollen alles tun, um glückliche, frohmütige, von Ängsten unbeschwerte Kinder zu haben, denn aus ihnen werden glückliche Erwachsene“ (Zulliger 1969: 137).
Ein solch überschwänglicher erzieherischer Optimismus ist dem Ratgeber von Ennulat zunächst nicht zu entnehmen. Teils aus schon referierten Gründen: Schließlich liegt ihr einerseits viel daran, mit Angst in erster Linie umzugehen, andererseits weiß sie, wie in Bezug auf die Bedeutung von Märchen bereits erwähnt, auch um die Ungesichertheit menschlicher Existenz und um die mit ihr einhergehende Bedrohung und Grausamkeit (Ennulat 2001: 98). Doch gerade in Hinblick auf den von ihr empfohlenen Umgang mit Märchen wird auch bei Ennulat deutlich, dass sie nicht bereit ist, die von ihr zunächst behauptete Ungesichertheit konsequent auszuhalten. Nicht nur in Bezug auf Kinder gelte nämlich, dass Märchen zum Ende hin immer die gleiche Botschaft auszusenden wüssten: „Du kannst dich auf das Leben einlassen! Es ist gut! [...] Wer sich mutig in die Welt wagt, wird belohnt“ (Ennulat 2001: 99 f.). Dass diese „Lehren“ tatsächlich auch für Erwachsene, und eben nicht bloß den Kindern gegenüber, Geltung beanspruchen, wird deutlich zu Beginn ihres Buches, wenn sie unter der Überschrift „Wie heißen die Forderungen des Lebens an uns?“ unter anderem notiert: „Wir sollen uns der Welt vertrauend öffnen, uns auf sie einlassen, neugierig und risikobereit auf das Außen zugehen. Damit verbunden ist die Angst, von Außen abhängig zu werden, sich nicht selbst verwirklichen zu können, ungeborgen in der Welt zu sein. [...] Wir sollen bereit sein, uns immer wieder zu wandeln. Damit einher geht die Angst vor der Erstarrung und vor der unausweichlichen Notwendigkeit des Weiterschreitens“ (Ennulat 2001: 19).
Das Leben selbst stellt also Forderungen an ein „uns“. Damit gemeint sind alle Menschen. Doch wann genau soll ich mich wem gegenüber und warum öffnen? Von wem genau kann ich wann und warum abhängig werden? Unter welchen Bedingungen kann ich mich selbst verwirklichen, und was bedeutet das genau?
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Was bedeutet es für mich? Was bedeutet es für sich-ängstigende Menschen in „Asylbewerberheimen“? Es wird deutlich, dass die von Ennulat vorgetragenen „Forderungen des Lebens“, in dem Maße, wie sie von allen konkret existierenden gesellschaftlichen Verhältnissen abstrahieren, einmal mehr einer Reproduktion dieser Verhältnisse selbst zuträglich sind. Es finden sich bei Ennulat noch in ihrem letzten Kapitel zu „Übergangszeiten“ vom Kindergarten zur Schule Annahmen, die auf ihr zugrunde gelegtes Verständnis von Einzelner und gesellschaftlicher Ordnung verweisen. Der Übergang zur Schule solle so gestaltet sein, dass dem Kind mittels unnötiger Schulmündigkeitstests kein Schaden zugefügt wird; andererseits solle dem Kind aber klar gemacht werden, dass der Lebensraum Schule eine Herausforderung sei, die auch schwierige Zeiten für das Kind mit sich bringen werden. „Wenn die ersten Monate in der Schule in einem gesunden Wechsel von Anspannung und Entspannung verlaufen, folgen Powertage auf müde, ist Schule super, darf aber auch doof sein“ (Ennulat 2001: 148)
Diese letzten Empfehlungen und ihre „Forderungen des Lebens an uns“ machen deutlich, dass die Autorin ihrem situationsorientierten Ansatz zum Trotz, doch nicht daran interessiert ist, vielleicht Forderungen für eine andere, eine „angstfreiere“ Schule zu entwickeln. Also etwa für eine Schule, in der es auch sichängstigenden Schul-Kindern möglich wäre, aus Situationen auszusteigen – und in der es ihnen möglich wäre autonom zu entscheiden, wann sie wieder dazu stoßen. Oder bspw. Forderungen nach einer Schule, in der Situationen, die zu Angst führen – beispielsweise Prüfungssituationen – selbst einmal darauf hin geprüft würden, welchen Prinzipien und welchen Regeln sie eigentlich folgen und was man an ihnen verändern müsste, so dass das, was die Kinder an ihnen ängstigt – nämlich unter anderem auch, in ihnen scheitern können zu müssen – vermieden würde. Für solche Forderungen, so kann angenommen werden, ist Ennulat zu realistisch. Sie weiß nämlich: „Der Übergang in die Schule bedeutet einen gravierenden Einschnitt für die meisten Familien. Die Freizügigkeit des Kindergartenalltags wird ersetzt durch festgelegte Stundenpläne, die eingehalten werden müssen“ (Ennulat 2001: 144).
Die von Ennulat in Bezug auf „die Angst“ vorgeschlagenen und von den anderen Autorinnen sich unterscheidenden, nicht defizitorientierten Lösungen werden somit am Ende zugunsten des Realitätsprinzips wieder einkassiert. Der Kindergarten und die Zeit vor der Einschulung bleiben somit jene die Regel bestätigende Ausnahme in Bezug auf einen dort möglichen anderen Umgang mit „der Angst“.
7 Resümee 7.1 Einleitung „Die Angst“ kennt fast jede und jeder anders. Dieser erste Schluss kann nun nach einem kritischen Durchgang durch verschiedene maßgebliche und unterschiedliche Wissensangebote über „die Angst“ in Anlehnung an den ersten Satz der Einleitung formuliert werden. „Die Angst“ wurde vormals und auch aktuell noch im Alltagsverständnis zumeist gedacht als ein je konkretes Gefühl der Enge in der Person der und des jeweils Sich-Ängstigenden. Ein Gefühl in Anbetracht einer zu benennen möglichen oder auch einer (noch) nicht konkret zu benennen möglichen und einer nicht gewollten konkreten oder auch allgemeineren Bedrohung für die oder den Sich-Ängstigende/n selbst; oder als ein Gefühl in Anbetracht einer solchen Bedrohung für eine der oder dem Sich-Ängstigenden bekannten Person oder für einen entsprechend bekannten Gegenstand. Dieses Verständnis im Alltagswissen über „die Angst“ einschließlich also zahlreicher nicht vorab bestimmbarer Möglichkeiten schließt die Existenz eines einzigen und angemessenen Konzepts „der Angst“ aus. Das Gefühl „der Angst“ in der jeweiligen Person konnte und kann demnach als ein Teilaspekt „der Furcht vor“ etwas, was jeweils mitunter auch gewusst werden kann, verstanden werden. Dies wurde in Anlehnung an die Arbeit von Wandruszka deutlich. Dass das Gefühl „der Angst“ auch gesucht werden kann, dass es also auch eine gewollte „Angst-Lust“ gibt, das wurde in dieser Arbeit nicht weitergehend erörtert. Gemeint sind damit Zustände der freudigen Erregung in Hinblick auf ein gewünschtes Ziel, oft im Zusammenhang mit bloßen Vorstellungen gefährlicher Situationen. Beispielsweise also bezogen auf die Lektüre von Kriminalromanen oder das Anschauen von bspw. Abenteuer-, Kriminal- oder Horrorfilmen. Eine solche Lust stand nicht im Mittelpunkt dieser Untersuchung. Eine Lust an „der Angst“ und die Möglichkeit mit ihr zu spielen taucht in dieser Arbeit dennoch auf. Im Zuge der Beschäftigung mit dem Ratgeberwissen der Fraktion „Methoden und Spiele im Umgang mit der Angst“ konnte diese Variante dann doch in dem Maße in den Blick gelangen, wie die diesbezüglichen Autorinnen und Autoren eben einmal nicht bloß auf „Defizite“ und „Störungen“ fokussierten.
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7.2 Rückblick Die entscheidende Zäsur für ein anderes Nachdenken über „die Angst“ und über „die Furcht“ nimmt Kierkegaard 1844 vor. Gemäß des Titels seiner diesbezüglichen Arbeit bringt er „die Angst“ auf einen Begriff. In „Der Begriff Angst“ unterscheidet er erstmalig in dieser Deutlichkeit und Ausführlichkeit das, was er „die Furcht“ und das, was er „die Angst“ nennt. „Die Furcht“ wird hierin nicht getrennt von dem, was diese Furcht konkret und real bei der und dem je SichFürchtenden auslöst. Furcht bezieht sich demgemäß auf etwas konkret zu Befürchtendes oder auf jemand konkret zu Befürchtenden. Hingegen wird „die Angst“ als kategorial hiervon zu unterscheiden behauptet und dann zunächst von jedem konkreten Bedeutungsinhalt geleert. In einem zweiten Schritt wird „die Angst“ dann beschrieben als ein allgemeiner Zustand, gleichsam als eine „ontologische Grundkonstante“ jedes einzelnen Menschen. Und als eine solche wird „die Angst“ wieder begrifflich-abstrakt „gefüllt“. Diesen je einzelnen, immer währenden, allgemein existierenden Zustand gelte es zu verstehen, von hier aus habe „der Mensch“ sein Handeln, sein Handeln können und sein Handeln müssen zu reflektieren. Und im Angesicht „der Angst“ habe er die jeweils richtige Begründung hierfür zu finden. In dem Maße, wie „die Angst“ dem Sich-Ängstigenden zunächst dessen Unwissen darüber, wie er richtig handeln soll, deutlich macht, verweist „die Angst“ bei Kierkegaard auch auf das, was den Menschen selbst ausmacht. Sie verweist auf seinen Geist und auf seine Freiheit. Die letzte Begründung für das jeweilige Handeln des SichÄngstigenden in Freiheit aber liefert sich bei Kierkegaard nicht der SichÄngstigende selbst. Er kann diese Begründungen auch nicht mittels gesellschaftlich anerkannter Regeln, Normen und Gesetze finden. Diese Begründungen erhält er von einem Gott. Von einem solchen alleine, das wusste Kierkegaard, naht den Sich-Ängstigenden und Glaubenden die Rettung, d.h. die Antwort auf ihre Frage, wie zu handeln wahrhaftig richtig sei. Das Wissen über „die Angst“ bei Kierkegaard kann somit verstanden werden als ein interessierter Versuch, den Leser, die Leserin zu einem Gott zu führen und ihm und ihr gleichzeitig die Freiheit für oder gegen eine solche Entscheidung deutlich zu machen. Dies geschieht unter anderem mittels dessen, dass an ein Gefühl angeknüpft wird, dass den Lesern und Leserinnen häufig bekannt und ihnen (noch) unbestimmt ist. „Die Angst“ bei Kierkegaard kann somit verstanden werden als das Etikett für eine von ihm angebotene Konzeption eines bestimmten und zu bestimmenden menschlichen Zustands. Dieser dergestalt konstruierte Zustand weist vier zu verallgemeinern mögliche Merkmale auf. Diese allgemeinen und in späteren Konzepten „der Angst“ jeweils wieder unterschiedlich ausgestalteten Merkmale eines Zustands, der stets das gleiche Etikett „die Angst“ trägt, sind:
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1. Konzepte „der Angst“ beinhalten die Behauptung eines allgemeinen, zumindest eines allgemein bekannten Zustands. 2. Konzepte „der Angst“ beinhalten die Behauptung, dass es sich bei diesem Zustand um einen „selbstischen“ Zustand handelt. Das gilt insofern „die Angst“ ein Zustand nur der oder des Einzelnen sei und es letztlich an ihr oder ihm läge, angemessen mit dieser, „seiner“ bzw. „ihrer“ Angst umzugehen. 3. „Die Angst“ wird bestimmt als (zumindest als zunächst oder auch als „eigentlich“) unbestimmt. Dies gilt, insofern die Einzelnen (eigentlich) kein konkretes Objekt gefährde, auf das „die Angst“ verweisen könne. 4. „Die Angst“ verweist von nun an immer auch auf eine dritte Instanz, gleichsam auf eine Macht, von der aus die Sich-Ängstigenden ihre Angst und in der Folge ihrer Angst auch ihr Handeln zu reflektieren, zu verstehen und zu begründen haben. Heidegger greift die von Kierkegaard angebotene Unterscheidung von „der Angst“ und „der Furcht“ wieder auf. „Die Angst“ bei Heidegger gilt als ein allgemeiner Zustand, der den Menschen auf sich selbst zurückwerfe und ihm die Möglichkeit einer eigentlichen Seinsweise eröffne, wenn es ihm gelänge, in der Folge seiner Angst mit dem Sein in Kontakt zu kommen und entsprechend zu handeln. Statt auf einen Gott verweist „die Angst“ des Existenzialontologen Heideggers auf ein höchstes Sein, von dem aus der und die Einzelne sein und ihr Handeln reflektieren solle. Und sie verweist demnach auch, weil ihm und ihr seine und ihre „Eigentlichkeit“ eröffnend, noch immer auch auf das, was „den Menschen“ selbst ausmache. Eine Verzweiflung und ein Pessimismus, nicht zu wissen, was denn richtig sei, die dem Werk Kierkegaards entnommen werden konnten, weichen hier zugunsten eines nüchternen Versprechens einer Begegnung mit eben dieser Eigentlichkeit. Auch „die Angst“ bei Ernst Bloch kann rekonstruiert werden als allgemein, selbstisch, unbestimmt und auf eine dritte Instanz verweisend. Und doch steht sein Wissen im Ergebnis im Widerspruch zu fast allen anderen Autorinnen und Autoren. „Die Angst“ verweist bei Bloch auf herrschende Verhältnisse, die er als kapitalistische bestimmt. In diesen Verhältnissen selbst läge der Grund „der Angst“. Ein solches Konzept schließt ein kritisches Wissen über Entfremdungsprozesse und Herrschaftsverhältnisse ein. In der Folge bedürfe es – zum Zwecke auch der Überwindung „der Angst“ – zuallererst „tätiger Erwartung“ auf andere Verhältnisse. Ein Gott oder ein höchstes Sein sind seine Themen nicht. Auch ist „die Angst“ beim ihm nicht das den Menschen Auszeichnende. Dafür kennt er im Gegensatz zu den anderen Autoren und Autorinnen einen Übergang: eine Art Kontinuum von „der Angst“, die unbestimmt sei, als ein allgemeines und ein
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richtiges Lebensgefühl im Kapitalismus, hin zu „der Furcht“ als ein bestimmtes, „logisiertes“ Gefühl vor und in den herrschenden Verhältnissen. Sigmund Freud kannte Zeit seines Lebens drei voneinander unterscheidbare Verständnisse dessen, was „die Angst“ sei. Deutlich unterscheidet sich sein Wissen über „die Angst“, als ein nicht ontologisches Wissen, von philosophischen Angeboten zuvor. „Die Angst“ ist bei ihm keine Grundbefindlichkeit des Menschen und demnach auch nicht mehr das „den Menschen“ Auszeichnende. Und dennoch weiß auch Freud, dass „die Angst“ jeder kenne. Allgemein ist „die Angst“ bei Freud aber auch insofern, als er mit seinem jeweiligen Modell zum Verständnis „der Angst“ eine allgemeine Geltung beansprucht. Zunächst – in seiner ersten Angsttheorie – verweist „die Angst“ auf nicht abgeführte Triebregungen sexueller Natur: diese gelten ihm als die Ursache „der Angst“. In seiner zweiten Theorie – vor dem Hintergrund seiner Annahmen über einen „psychischen Apparat“ – gilt ihm „die Angst“ nun immer als eine Folge einer zu bestimmenden möglichen Gefahr. Diese Gefahr sei entweder in der Person oder außerhalb der Person. „Die Angst“ sei dementsprechend entweder eine innere „neurotische“ oder eine äußere „Realangst“. Er fand für sich damit unter anderem auch eine Antwort auf die bislang ungelöste Frage, was denn die Triebkonflikte ihrerseits verursache. Diese Triebkonflikte und die aus ihnen resultierenden Gefahren aber können, im Gegensatz zur Gefahr, auf die die Realangst verweist, nur mit Hilfe psychoanalytisch geschulten Personals gedeutet, verstanden und behandelt werden. Ein drittes, um einen Kulturbegriff erweitertes Verständnis über „die Angst“ entwickelt Freud auf der Grundlage dieser zweiten Theorie und bezeichnet dieses als „Unbehagen in der Kultur“. Hierin fällt vor allem auf, dass „die Angst“ als „Unbehagen“ in einem relationalen Verhältnis zu der den Menschen umgebenden Kultur steht. Ein schlichtes Ursache-Wirkungsmodell liegt diesem Verständnis nicht zugrunde. Von dieser Kultur und ihren Ansprüchen aus kann „die Angst“ als Unbehagen verstanden werden. Und andersherum kennt Freud in Hinblick auf „die Angst“ als Unbehagen keine Hoffnung auf Überwindung, da eine Notwendigkeit zur Unterdrückung von Triebregungen weiterhin Bestand habe. Beides aber, sowohl die kulturellen Ansprüche als auch der „psychische Apparat“, der darauf in einer je bestimmten Weise reagiere, können demnach reflektiert und verstanden werden. An seinen beiden Konzeptionen „der Angst“ fällt besonders die Totalität auf, mit der der Psychoanalytiker Freud „die Angst“ fast ausschließlich vor dem Hintergrund sexueller Konflikte und mit Hilfe der von ihm maßgeblich eingebrachten Begriffe „Unbewusstes“ und „Verdrängtes“ zu verstehen versucht. Andererseits fällt aber auch auf, dass die zunächst strikte Trennung in eine innere „neurotische“ und in eine äußere „Realangst“ in seiner Ausführung über das „Unbehagen in der Kultur“ zum Teil wieder aufgehoben wird. In der Folge ist es
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ihm möglich, auch über äußere Ursachen „der Angst“, die keine „Realangst“ sei, nachzudenken und diese zunächst einmal ganz in den gesellschaftlichen Verhältnissen selbst zu suchen. Wichtig ist zudem, auch an dieser Stelle noch einmal festzuhalten, dass Freud sehr dezidiert darauf besteht, dass „die Angst“ selbst niemals das Zweckmäßige sei. Ob eine Handlung in Anbetracht „der Angst“ zweckmäßig sei oder nicht, das entscheide sich alleine in Folge einer jeweils vorzunehmenden Klärung des Verhältnisses von Gefahr einerseits und den Kräften und Interessen der und des Sich-Ängstigenden andererseits. Diese Feststellung findet sich in dieser Deutlichkeit bei keiner oder keinem anderen Autorin/ Autor mehr wieder. Diese verschiedenen Freudschen Konzeptionen „der Angst“ ließen und lassen in der Folge verschiedene Möglichkeiten zu, „die Angst“ auf der Basis oder zumindest vor dem Hintergrund psychoanalytischer Aufklärung weiterzudenken und konzeptuell fortzuführen. Ein weiterer Grund für diese Divergenzen kann auch angenommen werden: nämlich die mit diesen Konzeptionen einhergehende Notwendigkeit eines nur je individuell und eben nicht standardisierbaren möglichen Deutens und Verstehens innerer psychischer Prozesse. Eine einzige Antwort auf „die Angst“ kann es demnach nicht geben. „Die Angst“ bei Freud muss verstanden und nicht erklärt werden. Ein einziges Modell eines psychischen Apparats zum Verständnis von neurotischen Ängsten kennt er dagegen sehr wohl. Vier sehr verschiedene Angebote, nämliche jene von Duhm, Flöttmann, Riemann, aber auch von Zulliger, wurden dargestellt und erörtert. Dabei fällt auf, dass sich die Konzepte gerade in Hinblick auf das vierte immer wiederkehrende Merkmal je nach Autorin/Autor maßgeblich unterscheiden. Gerade in Hinblick auf die wichtige Frage: Von wo aus haben die Sich-Ängstigenden ihr Handeln in welcher Weise und zu welchem Zweck zu reflektieren, finden sich zentrale Unterschiede. Verweist „die Angst“ bei Duhm auf kapitalistische Verhältnisse und die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Revolution, so verweist „die Angst“ bei Flöttmann zuallererst auf einen Ausdruck des Unbewussten, den es seinem symbolischen Gehalt nach zu interpretieren gilt. Und dem Wissensangebot über „die Angst“ bei Riemann schließlich ist zu entnehmen, dass es gilt, „die Angst“ zuallererst vor dem Hintergrund kosmischer Gesetze – zum Zwecke eben kosmischer Harmonie und Ordnung – zu studieren. Harmonie und Freude, allerdings ohne einen Bezug auf den Kosmos, das sind auch wieder die Ziele Zulligers, die er wiederum mit seinem Wissen über „die Angst“ anstrengt. Von zumindest zwei Seiten, das wurde dargelegt, erfuhr das Konzept einer Angst, die es vor dem Hintergrund (auch) eines psychoanalytischen Wissens jeweils zu verstehen und zu interpretieren gilt, eine deutliche Zurückweisung. Mit der Begründung des Behaviorismus von Seiten Watsons beginnt ein radikales „störungs-“ und „abweichungsorientiertes“ Nachdenken über „die Angst“.
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„Die Angst“ wird von nun an, das ist ein wesentlicher Unterschied, allgemein zu erklären und nicht mehr individuell zu verstehen gesucht. Ausschließlich beobachtbare Symptome und zu explizierende „falsche“ Gedanken, die diesem Zustand zugeschrieben wurden, wurden und werden nun hiernach in den Blick genommen. Während der Zusatz „neurotisch“ bei Freud noch auf eine je besondere Qualität „der Angst“ verweist, die es selbst zu bestimmen gilt, kann dem Zusatz „Störung“ zunächst bloß noch ein damit einhergehender Befund einer Abweichung von dem, was als normal gilt, entnommen werden. Therapien gegen „die Angst“ als einer solchen „Abweichung“, die demnach als gelernt, als „konditioniert“ gilt, richten sich ganz darauf, den Sich-Ängstigenden beizubringen, ihre Angst wieder zu verlernen und ihre Gedanken entsprechend zu ordnen. Eine andere Zurückweisung fand mit der Herausgabe des DSM-III von 1980 seitens der amerikanischen Psychiatervereinigung statt. Erstmalig in dieser Deutlichkeit wurde festgelegt und klassifiziert, was „die Angst“, die eine „Störung“ sei, ausmacht, was ihre Formen und deren jeweilige exakte Symptome sind. „Die Angst“, die eine „Störung“ sei, wurde mit dieser Klassifikation, die mit einem Geltungsanspruch auftrat und noch immer auftritt, der auf nicht weniger als die gesamte Welt und deren Einwohnerinnen und Einwohner zielt, letztgültig standardisiert und dadurch, für quantitative Studien über „die Angst“ besonders vorteilhaft, vergleichbar gemacht. An diesem Wissen fällt auf, dass an einem „der Angst“ über tautologische Bestimmungen hinaus selbst zu entnehmenden Inhalt – bzw. an einem an ihr explizit zu reflektierenden und zu problematisierenden Verhältnis von Kultur/Gesellschaft und Einzelner bzw. Einzelnem – die Frage, was denn nun „die Angst“ jeweils tatsächlich sei, nun nicht mehr entschieden wird. Es zählt demnach alleine das Leid der Person und, noch wichtiger, die Frage nach der „Funktionsfähigkeit“ der und des Betroffenen. „Die Angst“ eines religiösen Menschen vor den Unbilden des auf ihn wartenden Fegefeuers zählt hier genauso wenig wie eine „Störung“, wie etwa „die Angst“ eines Philosophieprofessors davor, dass sich die Gegenstände hinter seinem Rücken in nichts auflösen könnten. Eine Ausnahme hiervon ist wiederum nur für den Fall vorgesehen, dass diese Ängste allzu viel Leid oder Probleme im privaten oder beruflichen Leben dieser beiden Personen entwickelten. Das, was Patientinnen und Patienten mit einer Angst, die eine „Störung“ sei, demnach fehle und was ihnen ein Problem mache, ist eine Fähigkeit, sich unauffällig, sich nicht-gestört, eben: sich „normal“ zu verhalten. Die herrschenden Verhältnisse selbst und die ihnen zu entnehmenden gültigen Normen sind es nun, von denen aus die Sich-Ängstigenden ihr Verhalten zu reflektieren und auf die hin sie „die Angst“ zu überwinden haben. Gelingt ihnen das, so gilt das als Voraussetzung für eine erfolgreiche Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Gelingt ihnen das nicht, dann wird an ihnen gegebenenfalls als eine
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Eigenschaft diagnostiziert, was zuvor als eine „Angststörung“ definiert wurde. Und diese „Angststörung“ kann dann als die Ursache all der Probleme gelten, die in ihrem Leben auftauchen. „Die Angst“, die eine „Störung“ sei, innerhalb des herrschenden psychiatrischen und verhaltenstherapeutischen Wissens, kann demnach verstanden werden als ein die Sich-Ängstigenden verdinglichendes Wissen und als ein interessierter Versuch einer Anpassung der SichÄngstigenden an die herrschenden Verhältnisse; mit dem Ergebnis auch der Reproduktion derselben. Darin also, wie in diesem Wissen über „die Angst“ das Verhältnis von Einzelner bzw. Einzelnem und Gesellschaft bestimmt wird, beweist sich dessen ideologischer Nutzen. Denn es können in der Folge, gemäß der zu Beginn erörterten professionellen Ideologie der Sozialarbeit, Grenzen des Systems in individuelle Defizite verwandelt werden. Dies geschieht z.B., wenn als Ursache für Arbeitslosigkeit oder für einen schlechten schulischen Abschluss „die Angst“, die eine „Störung“ sei und die nicht bearbeitet wurde, behauptet wird. Die Möglichkeit einer weiteren Radikalisierung eines solchen Wissens in Hinblick auf damit einhergehende Normativität und in Hinblick auf einen damit verbundenen Anspruch an präventiv nötige psychologische Intervention wurde zunächst ausführlich anhand des Wissens über „soziale Angst“ bei Stangier erörtert. „Die Angst“ ist hier wieder ein Etikett eines als dauerhaft konstruierten Zustands, der als „normal“ und „allgemein“ gilt. Deshalb „wieder“, weil somit „die Angst“ als eine Art „Grundbefindlichkeit“ des Menschen eine – jetzt psychologisch begründete – Renaissance erlebt. Nur – die oben beschriebene Inhaltslosigkeit „der Angst“, die eine „Störung“ sei, findet sich auch bezogen auf diese ständige Angst, die „normal“ sei, wieder. Das heißt, dass den Sich-Ängstigenden in dieser Angst z.B. weder ein Gott noch eine Kritik kapitalistischer Verhältnisse mehr begegnet. Weder von einer äußeren noch von einer inneren Gefahr, die als eine zu reflektierende und gegebenenfalls auch zu verändernde Ursache „der Angst“, die „unbestimmt“ sei, angenommen werden kann, ist in diesem Wissen mehr die Rede. „Die Angst“, die eine „soziale Angst“ sei, soll demnach zu nichts anderem mehr führen, als dass sie von den Sich-Ängstigenden regelmäßig selbst kontrolliert und möglichst immer wieder aufs Neue überwunden wird. Denn nur so – diese Lehre kann diesem Wissen entnommen werden – können sich die Sich-Ängstigenden wirklich entfalten, um in der Folge die Position in der Gesellschaft einnehmen zu können, die den in ihnen angelegten Talenten ganz entspräche. Das aber sind Denkfiguren, wie sie dem zu Beginn vorgestellten Prinzip rassistischen Nachdenkens sehr ähnlich sind. Die soziale Position einer Person wird demnach abhängig gemacht von inneren Potentialen und Defiziten, und also auch von Ängsten, die eine „Störung“ seien.
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Was somit bei Stangier, aber auch bei Petermann/Petermann angelegt ist – nämlich der konsequente Anspruch an eine psychologisch aufgeklärte Beschäftigung nicht nur mit Ängsten, die eine „Störung“ seien, sondern auch mit Ängsten, die „normal“ und unbegründet seien – findet im Ratgeberwissen der Fraktion „Techniken gegen die Angst“ seine entsprechende Fortführung. Sehr deutlich lässt sich diesem Wissen über „die Angst“ ein entschiedenes Interesse entnehmen hinsichtlich dessen, wie sich Kinder, aber auch Erwachsene in Folge „der Angst“, die eine „Störung“ sei, aber eben auch in der Folge „der Angst“, die „normal“ und unbegründet sei, verhalten sollen. Die Autorin und der Autor Ulrike und Franz Petermann lassen keinen Zweifel daran, dass sie wissen, was richtige und falsche Gedanken, was richtiges und falsches Verhalten und auch was richtiges und falsches Wollen ist. Ihre Vorschläge zur Überwindung „der Angst“ richten sich konsequent daran aus. Diese werden daher als Versuch einer Zurichtung der angesprochenen Zielgruppe, also letztlich aller Menschen, zum Zwecke der Wiedereinpassung in herrschende Verhältnisse gedeutet. Und umgekehrt, so wurde es auch am Wissen von Stangier deutlich, bietet ein solches Wissen die Gewissheit, dass demnach nun auch Ängste, die als „normal“ gelten und die nicht präventiv bearbeitet werden, als eine Ursache für die Probleme, die sich im Leben Sich-Ängstigender ergeben, angenommen werden können. Auch wer seine „normalen“ Ängste nicht rechtzeitig reflektiert und behandelt, hat es demnach selbst zu verantworten – das liegt in der Logik dieses Wissens – wenn sie oder er in der Folge von verschiedenen Arten sozialer Ausschließung bedroht und betroffen ist. Ein solch eindeutiges Zurichtungsinteresse kann dem Wissen der beiden anderen Fraktionen nicht entnommen werden. Eine Vorstellung von einer gesellschaftlichen Ordnung, die eigentlich gut sei und daher selbst nicht als eine Ursache „der Angst“ gelten kann, unterliegt auch diesen. Im Mittelpunkt des Wissens der Fraktion „psychologische Aufklärung über ‚die Angst’“ steht die schon erörterte Behauptung der Notwendigkeit eines je individuell und von professioneller Seite zu verstehenden Falles „der Angst“, dies vor dem Hintergrund bestimmter theoretischer Wissensangebote hierzu. Diese stecken den Rahmen ab, innerhalb dessen eine solche individuelle Aufklärung über „die Angst“ mitsamt entsprechenden Lösungsangeboten stattfinden kann. Der großzügigste Rahmen für sehr zahlreiche und sehr verschiedene situationsorientierte Lösungsangebote für einen Umgang mit „der Angst“ findet sich im Wissen der gleichnamigen Ratgeberfraktion. Diese lässt sich interessanterweise auch dadurch charakterisieren, dass sich die entsprechenden Autorinnen und Autoren nur noch wenig auf vorgegebene theoretische Angebote über „die Angst“ beziehen. Je weniger auf Fachwissen von Seiten der Ratgeberautorinnen und Autoren verwiesen wird, desto mehr scheint es ihnen möglich, auch nicht verdinglichende Angebote zu unterbreiten.
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In diesem Wissen, das nun nicht mehr auch die Eltern als Zielpersonen ihres Wissens über „die Angst“ einschließt, sondern das vor allem auf Kinder im Alter von bis zu sechs Jahren abzielt, finden sich Angebote für einen deutlich autonomeren Umgang der Sich-Ängstigenden mit „der Angst“. Als Gründe für diese sehr unterschiedlichen Lösungsangebote und auch unterschiedlichen Bestimmungen „der Angst“ wurde der jeweils unterschiedliche institutionelle Kontext diskutiert, innerhalb dessen sich die unterschiedlichen Zielgruppen der Autorinnen und Autoren der beiden Fraktionen „Techniken gegen die Angst“ und „Umgang mit der Angst“ jeweils bewegen. So konnte festgehalten werden, dass die jeweils behauptete unterschiedliche Qualität „der Angst“, mitsamt den daraus folgenden verschiedenen Lösungsvorschlägen, ihren jeweiligen Ausgangspunkt nicht in einem Unterschied der besprochenen Kinder selbst, sondern vielmehr in den verschiedenen Logiken und Anforderungen der beiden Institutionen Kindergarten und Schule nimmt. „Die Angst“, die nicht behandelt wird, einmal nicht vor allem als eine Ursache für (selbst verschuldete) soziale Ausschließung, (schlechtere Ausbildung, weniger Verdienst...) anzunehmen, sondern stattdessen eine offenere und libertärere Auseinandersetzung mit ihr zu fordern, das scheint demnach vor allem auf jene Menschen bezogen möglich, die sich ihrerseits nicht in Institutionen aufhalten, die solche Prozesse der sozialen Ausschließung auch mittels durchgesetzter Konkurrenz selbst organisieren – also z.B. Kindergärten. Ein technokratisches Ratgeberwissen über „die Angst“, die eine „Störung“ und zu überwinden sei, scheint dagegen ein Deutungsangebot für Betroffene zur Verfügung zu stellen, das bei diesen, so kann vermutet werden, in jenem Maße an Attraktivität gewinnt, wie sie mittels der verschiedenen angebotenen Techniken an einer Veränderung jener Instanz ansetzen können, über die sie noch frei verfügen können – also an sich selbst.
7.3 Schluss Die Konstruktion eines Zustands, der das Etikett „die Angst“ trägt, der seit Kierkegaard immer bestimmt wird als allgemein, unbestimmt, selbstisch und auf eine dritte Instanz verweisend, kann so zu guter Letzt verstanden werden als ein „Einfallstor“ für die Möglichkeit von jeweils sehr unterschiedlichen bis gegensätzlichen normativen Annahmen darüber was ein richtiges und was ein falsches Handeln, Denken und letztlich Leben in Anbetracht „der Angst“ sein soll – ohne dass diese Norm, und das ist das Interessante, selbst zum Gegenstand der Auseinandersetzung gemacht werden muss. Denn schließlich ist von Beginn an immer unterstellt, dass „die Angst“ jeder und jedem bekannt ist. Diese normativen Setzungen aber, so kann angenommen werden, entsprechen tatsächlich zuallererst
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den jeweiligen Interessen und theoretischen Positionen der jeweiligen über „die Angst“ schreibenden unterschiedlichen Autorinnen und Autoren. Gerade die Bestimmung „der Angst“ als eines auch unbestimmten Zustands eröffnete und eröffnet die Möglichkeit, in der Folge diese Unbestimmtheit – scheinbar für die Leserin und den Leser, aber tatsächlich zweckorientiert – selbst wieder neu zu bestimmen. So kann schließlich erklärt werden, warum „die Angst“ sowohl auf einen Gott, als auch auf ein Sein, als auch auf kapitalistische Verhältnisse, als auch auf einen psychischen Apparat, als auch auf eine – kultureller Entwicklung wegen notwendige – Unterdrückung von Triebregungen, als auch auf Folgen einer klassischen Konditionierung, als auch auf eine kosmische Ordnung und letztlich, in dem „die Angst“ bloß noch inhaltsleer auf sich selbst verweist, auch noch gänzlich affirmativ auf herrschende Verhältnisse verweisen kann. 7.3.1 „Die Angst“ als Aufgabe für Pädagogik und Soziale Arbeit Was also tun, angesichts eines solchen Wissens über das Wissen über „die Angst“? Was macht der Mensch aus der Einleitung des ersten Kapitels, der – von einer Angst gestört – sich aufmachte, etwas darüber zu erfahren, was es nun mit „der Angst“ auf sich hat? Welche Konsequenzen können aus diesem Wissen für einen professionellen Umgang gezogen werden? Drei kurze Vorschläge sollen, vor dem Hintergrund der zu Beginn erörterten Position von Wimmer zur Professionalität in der Pädagogik, an dieser Stelle unterbreitet werden. Welches wären Handlungsweisen, die seinem Anspruch nach Berücksichtigung des Wissens als Wissen und des Nicht-Wissens, wer die oder der Andere in seiner Singularität ist, genügen könnten? Welches wären aber auch Vorschläge, bei denen ein Bezug auf eine kritische Theorie von Gesellschaft, wie sie dieser Untersuchung ebenfalls zugrunde liegt, nicht verloren geht? 1. Das Wissen über „die Angst“ als Vorgedachtes nachdenken und selbst (nicht) wollen Das dieser Arbeit zu entnehmende Wissen über das Wissen über „die Angst“ zur Kenntnis zu nehmen, kann für in sozialer Arbeit tätige bedeuten, „die Angst“, wie sie jeweils behauptet wird, zunächst einmal für sich selbst nach zu denken. Gerade in Anbetracht der Einsicht, dass Unterschiede hinsichtlich dessen, was „die Angst“ jeweils ist und was man in ihrer Folge machen solle, maßgeblich den jeweiligen verschiedenen Interessen und theoretischen Standpunkten der Autorinnen und Autoren geschuldet ist, sind auch Sozialarbeiter und Pädagoginnen wieder auf sich selbst und auf ihr eigenes Interesse und ihr eigenes Wollen zurückgeworfen. Aus diesen Wissensangeboten können und müssen sie
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sich, zur Begründung und Legitimation ihres Handelns in Anbetracht eines Zustands ihrer Klientinnen bzw. Klienten, der als Angst beschrieben wird, bedienen. Die Entscheidung, für welches dieser Angebote sie sich entscheiden, treffen sie zunächst selbst. Denn nicht nur das je eigene Handeln, sondern eben auch das zu diesem Handeln führende Wissen, kann als jeweils zuvor gewollt angenommen werden. In Anbetracht der existierenden Heterogenität der verschiedenen Angebote wird deutlich, wie sehr eine Entscheidung für ein bestimmtes Verständnis „der Angst“ auch eine Entscheidung für einen bestimmten Umgang mit der konkreten sich-ängstigenden Person und auch eine Entscheidung für eine bestimmte Perspektive auf die herrschende gesellschaftliche Ordnung bedeutet. In Folge der weltweiten Standardisierungsversuche von Seiten der WHO und der amerikanischen Psychiatervereinigung werden ganz neue Angebote darüber, was „die Angst“ sei, demnächst, so ist zu vermuten, eher nicht mehr zu erwarten sein. Ein Verständnis „der Angst“ als einer bereits präventiv im Vorfeld zu behandelnden „Noch-nicht-Störung“ wird, auch das kann vermutet werden, in Zukunft an Bedeutung noch gewinnen. Der Sozialarbeiter respektive die Pädagogin, als Mensch, können in Anbetracht dessen entscheiden, ob sie oder er das mit diesem Konzept „der Angst“ einhergehende affirmative technokratische und anwendungsbezogene Wissen und seine Folgen selbst wollen. Als Sozialarbeiter und als Pädagogin, die in einer nach verhaltenstherapeutischen Vorgaben arbeitenden Einrichtung tätig sind, werden sie diese Entscheidung auch treffen, sie aber vermutlich, wenn sie gegen dieses Wissen ausfällt, nicht umsetzen können und doch anders handeln müssen. Der aus einem solchem Widerspruch möglicherweise entstehende Pessimismus verweist direkt auf Vorschlag drei. 2. Furcht und Angst wieder zusammen denken Einem wie hier bereitgestelltem Wissen über das Wissen über „die Angst“ kann leicht ein Plädoyer für eine (Wieder-) Benutzung des Wortes „Furcht“ entnommen werden. „Angst“ könnte dann reserviert bleiben als Bezeichnung der gespürten Enge in der Person, in Folge einer „Furcht vor“. Über eine so verstandene „Furcht vor“ und über die damit bezeichnete Gefahr, als jene andere Seite „der Angst“, könnte dann, situationsorientiert, und von der Person getrennt, gesprochen werden. Eine Angst könnte, wie Bloch es bezeichnete, mit Hilfe dessen dann „logisiert“ und das „wovor“ dieser Angst könnte expliziert werden. Mit einem Kind (das Gleiche gilt auch für ältere Menschen), dass so bezeichnet dann bspw. eine Furcht hätte vor Tieren, die in es hineinklettern und es von innen auffressen könnten, könnte dann, altersgemäß, z.B. auch über Bandwürmer gesprochen werden. Mit einem Kind, dass eine Furcht davor hätte, von einem Meteoriten erschlagen zu werden, könnte dann auch über Endlichkeit und/oder über das Nördlinger Ries gesprochen werden. Eine Furcht vor der Schule schließlich
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oder vor sogenannten Leistungssituationen generell, würde bspw. auch zu einem Gespräch darüber führen können – dies wieder dem Alter entsprechend – warum und wozu es nicht üblich ist, jemanden schlicht danach zu beurteilen, was sie bzw. er macht und was sie bzw. er sagt. Warum also die Beurteilung des Wertes einer Person stattdessen regelmäßig davon abhängig gemacht wird, wie sie im Vergleich zu anderen abschneidet und abgeschnitten hat. Und schließlich könnte dann jeweils auch, im Sinne der Einsicht Freuds, dass „die Angst“ selbst niemals das Zweckmäßige sei, über das jeweilige Verhältnis von Gefahr einerseits und den Möglichkeiten und Interessen der konkreten sich-ängstigenden Person(en) andererseits, aber auch über Möglichkeiten gemeinsamer Gefahrenbewältigung, nachgedacht werden. Eine solche Gefahrenbewältigung läge dann bspw. im Falle der Bandwürmer in einer entsprechenden Aufklärung über Vorkommen dieser Tiere und der Möglichkeiten, sich davor zu schützen, von ihnen als Wirtstier ausgewählt zu werden. Im Falle der Furcht vor einem Meteoriten kann auf die geringe Wahrscheinlichkeit eines solchen Falles verwiesen werden, aber auszuschließen ist er eben nicht. Und im Falle der Furcht vor der Schulsituation oder der Konkurrenzsituation auf dem Arbeitsmarkt ist der Hinweis auf die eigene Anstrengung als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für eine erfolgreiche Bewältigung dieser Situation zwar Teil einer möglichen Aufklärung, diese kann die Gefahr selbst aber nicht bannen. Somit gelangt auch dieser Vorschlag zu einem Widerspruch, der ebenfalls auf den nun folgenden dritten Vorschlag verweist. 3. Ängste zulassen Schließlich kann einem solchen Wissen über das Wissen über „die Angst“ auch der Vorschlag, „eine Angst zuzulassen“ entnommen werden. Und zwar in zweierlei Hinsicht: Ängste zulassen kann zum einen bedeuten, dass die mit einer konkreten Angst eines Kindes oder auch jene mit „der Angst“ eines älteren Menschen konfrontierten Sozialarbeiter und Pädagoginnen, weil sie sich damit selbst überfordert sehen, dieser Angst des Gegenübers nicht weiter nachspüren. Sondern, dass sie als Reaktion hierauf nach Möglichkeiten suchen, die oder den Betroffenen und sich selbst von dieser Angst wieder abzulenken. Die Sozialarbeiterinnen und Pädagogen, die dieses ihr Verhalten entsprechend reflektiert haben, können in der Folge darüber nachdenken, ob sie sich, sei es im eigenen Team oder mittels professioneller Hilfe, Unterstützung für und gegen diese Angst, für und gegen die möglicherweise damit verbundene Gefahr, wenn „die Angst“ zudem dauerhaft und wiederholt geäußert wird, holen wollen. Ein solcher Vorschlag des Zulassens im Sinne von „sich etwas zunächst nicht eröffnen“ gilt für Erzieherinnen und Sozialpädagogen und für pädagogisch
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aktive Menschen umso mehr, desto weniger Zeit ihnen mit der oder dem Betroffenen zu verbringen möglich ist. Ein prägnantes Beispiel hierfür wäre die Situation der ehrenamtlichen Ferienlagerbetreuerinnen und Betreuer, die sich auf einer einwöchigen Freizeit mit einer Angst eines Kindes konfrontiert sehen, von der sie sich nicht sicher sind, ob diese nicht vielleicht auf das Kind gefährdende Erfahrungen oder ähnliches im normalen Leben dieses Kindes schließen lassen. Schließlich gilt dieser Vorschlag aber auch für Pädagoginnen und Sozialarbeiter, die sich von dem Handlungsdruck, der von einem verhaltenstherapeutischen Wissen ausgeht – fast immer etwas gegen „die Angst“ tun zu müssen – in ihrem eigenen Umgang mit Betroffenen in negativer Weise genötigt sehen. Es ist und bleibt ihre Entscheidung, Ängste zu-zulassen und sich stattdessen in der Beziehung mit den Klientinnen und Klienten auf die Gestaltung der gemeinsamen Situation in einer Weise zu konzentrieren, wie sie sie selbst wollen und können. So sie nicht wieder, des Konzepts und der Funktion der Einrichtung wegen, zu einem anderen Verhalten explizit angehalten sind. Diese Einsicht wiederum führt nun direkt zur zweiten Variante dessen, was mit Ängste zulassen gemeint sein kann. Im Gegensatz zum Wille zum unbedingten Optimismus und dem Willen zur möglichst völligen Gewissheit, die in einem technokratischen Wissen über „die Angst“ als die wichtigsten Voraussetzungen gegen „die Angst“ gelten, kann darunter verstanden werden, ein Wille zur Annahme, ein Wille zum Zulassen einer Angst, so wie sie ist. Eine Angst dergestalt zulassen, kann umgekehrt heißen, sich ein reflexives Wissen über das, was man nicht will und dennoch muss, anzueignen. In der Folge wird es möglich und nötig sein, Gefühlen und Gedanken einen Raum zu geben, die mittels des Wissens über „die Angst“ als einer „Störung“ bislang ausgeschlossen wurden. Es wäre dies dann eben in erster Linie ein Wieder-Nachdenken und ein WiederZulassen-Können über und von z.B. Ungewissheit, Melancholie und Endlichkeit. Ungewissheit bezogen darauf, dass eine tatsächliche Kontrolle der den Menschen umgebenden Situation letztlich nicht möglich ist. Eine solche wäre, und auch nur in Ansätzen zu haben, zum Preis des Verlusts von noch ungedachten Möglichkeiten, also einer im Vergleich zur Gegenwart anderen, vielleicht einer als besser zu beurteilenden Zukunft. Auf einen solchen Zusammenhang machte Bloch unter Zuhilfenahme des Adenauer-Wortes „Keine Experimente!“ aufmerksam. Ungewissheit zulassen, würde aber auch ein Anlass sein können, über die den Sich-Ängstigenden nicht ausreichend gegebenen Mittel nachzudenken, über den sozialen Ort, an dem sie sich befinden, selbst zu entscheiden. Ein kritisches Wissen zu Prozessen der sozialen Ausschließung, das wurde gezeigt, kann für eine solche Ungewissheit der Sich-Ängstigenden die Gewissheit nach sich ziehen, dass sie mit dieser Ungewissheit nicht falsch liegen.
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Raum gelte es bereitzustellen auch für eine Ungewissheit, die sich auf die eigene Endlichkeit bezieht. Also auf die Gewissheit, nicht zu wissen, wann genau die eigene Existenz ein Ende nehmen wird. Eine Kontrolle über die eigene Endlichkeit selbst, ist – es sei denn um den Preis des vorzeitigen und selbstentschiedenen Ausstiegs aus dem Leben – nicht möglich. Das aus all diesen so beschriebenen Situationen entstehende Gefühl gelte es dann nicht als eine Angst, die es zu überwinden gelte, zu definieren, sondern vielmehr als eine Form zuzulassender Melancholie, die ihrerseits reflektiert und deren dann so verstandenen Ursachen, in vielleicht „tätiger Erwartung“, selbst bearbeitet werden könnten. Und schließlich hieße Ängste zulassen auch, in diesem Sinne, darum zu wissen, dass man letztlich über das Leiden der Anderen nichts weiß, nichts wissen kann. Denn Angst, als die je eigene Enge zu spüren, das kann demnach tatsächlich als das ganz und gar Selbstische gelten. Das kann niemand für die andere oder den anderen nachfühlen. Und schon gar nicht kann demnach ein Mensch wissen, also tatsächlich in Worte übersetzen, wie die oder der Sich-Ängstigende an ihrer oder seiner Angst, ihrer oder seiner Enge leidet. Die klassifizierte Angst der Psychiaterinnen/Psychiater und die vermessene Angst der Neurophysiologinnen/Neurophysiologen sind, so betrachtet, bloß besonders hilflose oberflächliche Versuche, diese Einsicht Lüge zu strafen. Wissenschaftlich abstrakt, gar objektiv und nachvollziehbar, ist über ein Allgemeines an der je konkreten Angst letztlich nichts aussagbar, es sei denn um den Preis der unter Bezug auf Wimmer beschriebenen Folge, der von einem solchen Wissen ausgehenden Gewaltförmigkeit. Diesem Zusammenhang und den daraus resultieren könnenden Einsichten dennoch Worte zu verleihen, ist vielleicht nur der Kunst vorbehalten. In einem Brief Franz Kafkas an seinen Freund Oskar Pollak schreibt der Dichter: „Verlassen sind wir doch wie verirrte Kinder im Walde. Wenn du vor mir stehst und mich ansiehst, was weißt du von den Schmerzen, die in mir sind und was weiß ich von deinen. Und wenn ich mich vor dir niederwerfen würde und weinen und erzählen, was wüsstest du von mir mehr als von der Hölle, wenn dir jemand erzählt, sie ist heiß und fürchterlich. Schon darum sollten wir Menschen voreinander so ehrfürchtig, so nachdenklich stehen, wie vor dem Eingang zur Hölle“ (Kafka 1994: 19).
Angst in dieser Weise zuzulassen, bedeutet demnach in erster Linie auch darum zu wissen, dass die eigene Angst, das eigene Leid, also die eigene Einsamkeit letztlich nicht kommunizierbar sind. Die Sozialarbeiterin, der Sozialarbeiter, die Pädagogin oder der Pädagoge aber muss dennoch kommunizieren und wissend und handelnd entscheiden. Das ist ihr und sein Auftrag. Sie und er muss, wie schon mit Wimmer aufgezeigt, diesem Nicht-Wissen-Können, wer die oder der andere ist, doch mit Handeln in der je konkreten Situation begegnen. Umso wichtiger wird es sein, dass sie oder er dann um die Grundlagen und Folgen ihres
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oder seines Handelns Bescheid weiß und darüber zu reflektieren imstande ist. Gerade und vor allem auch in Hinblick auf diesen Zustand namens Angst.
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