HISTORISCHE ZEITSCHRIFT
Johannes Burkhardt, Christine Werkstetter (Hrsg.)
Beihefte (Neue Folge) Herausgegeben von Loth...
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HISTORISCHE ZEITSCHRIFT
Johannes Burkhardt, Christine Werkstetter (Hrsg.)
Beihefte (Neue Folge) Herausgegeben von Lothar Gall Band 41
R. Oldenbourg Verlag München 2005
Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit
R. Oldenbourg Verlag München 2005
Inhalt Die Frühe Neuzeit als Medienzeitalter und ihr kommunikatives Spektrum. Einleitung. Von Johannes Burkhardt und Christine Werkstetter ..
Zur Einführung: Podiumsdiskussion und Gegenrede
Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar.
Begann die Neuzeit mit dem Buchdruck? Ist die Ära der Typographie im Zeitalter der digitalen Medien endgültig vorbei? Podiumsdiskussion unter der Leitung von Winfried Schulze. Diskutanten: Werner Faulstich und Michael Giesecke (Medienhistoriker), Johannes Burkhardt und Gudrun Gersmann (Historiker/in) ..................................... 11 "Von der Gutenberg-Galaxis zur Taxis-Galaxis". Die Kommunikationsrevolution - ein Konzept zum besseren Verständnis der Frühen Neuzeit. Von Wolfgang Behringer ........................... " ......... 39
Teil 1: Klassische Druckmedien der Frühen Neuzeit Klassische Druckmedien der Frühen Neuzeit. Einleitung. Von Stephan Füssel ............... , . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . .. 57 Das Buch als Wissensvermittler in der Frühen Neuzeit. Von Ute Schneider . ...................................................... 63 Rhetorik des Bildes. Die kommunikative Funktion sprachlicher und graphischer Visualisierung in der Publizistik zur Zerstörung Magdeburgs im Jahre 1631. Von Silvia Serena Tschopp .......................... 79 Weltaneignung durch ein neues Publikum. Zeitungen und Zeitschriften als Medientypen der Moderne. Von Holger Böning ................. 105 © 2005 Oldenbourg Wissenschafts verlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: http://www.oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und die Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Gesamtherstellung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe Druckerei GmbH, München ISBN 3-486-64441-6
Teil 2: Kommunikationsraum Dorf und Stadt
Kommunikationsraum Dorf und Stadt. Einleitung. Von Gerd Schwerhoff137 Die Kirche im Dorf. Von Werner Freitag . ........................ 147 Das städtische Rathaus als kommunikativer Raum in europäischer Perspektive. Von Christopher R. Friedrichs ......................... 159 Soziale Kommunikationsräume im Spiegel dörflicher Gerichtsquellen Tirols. Überlegungen in geschlechtergeschichtlicher Perspektive. Von Maria Heidegger ................... "......................... 175
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Inhalt
Wirtshäuser als Zentren frühneuzeitlicher Öffentlichkeit. London im 17 . Jahrhundert. Von Dagmar Freist ............................ 201
Teil 3: Kommunikationsraum Region und Reich
Inhalt
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Teil 6: Der Körper als Medium Der Körper als Medium. Einleitung. Von Rudolf Schlögl ............. 429 Kommunikation und Inszenierung. Vom Nutzen der Ethnomethodologie für die historische Forschung. Von lörn Sieglerschmidt ............. 433
Kommunikationsraum Region und Reich. Einleitung. Von Maximilian Lanzinner .................................................. 227
Gesten, Kleidung und die Etablierung von Diskursräumen im städtischen Gerichtswesen (1350-1650). Von Franz-losej Arlinghaus ........... 461
Das Reich als kommunikative Einheit. Von Michael North ........... 237
Der Körper als Medium symbolischer und performativer Praktiken. Eheschließungen als Übergangsrituale im 16. und 17. Jahrhundert. Von Stejan Haas ................................................ 499
Der Reichstag des 16. Jahrhunderts als politisches Kommunikationszentrum. Von Dietmar Heil ...................................... 249 Die Pest in der Stadt des Reichstags. Die Regensburger "Contagion" von 1713/14 in kommunikations geschichtlicher Perspektive. Von Christine Werkstetter ................................................. 267
Teil 4: Kommunikationsraum Europa und Welt
Zur Konstellation: der Körper höfischer Kommunikation. Von Mark Hengerer .................................................. 519 Resümee: Typen und Grenzen der Körperkommunikation in der Frühen Neuzeit. Von Rudolf Schlögl ................................... 547 Abkürzungsverzeichnis ....................................... 561
Kommunikationsraum Europa und Welt. Einleitung. Von Mark Häberlein . ...................................................... 295
Abbildungsverzeichnis ....................................... 563
Das Korrespondenznetz Hans Fuggers (1531-1598). Von ChristI Karnehm ..................................................... 301
Autorenverzeichnis ., ........................................ 565
Brief und Mobilität bei Albrecht von Haller. Zur Geographie einer europäischen Gelehrtenkorrespondenz. Von Martin Stuber .............. 313 Kulturelle Vermittler und interkulturelle Kommunikation im kolonialen Nordamerika. Von Mark Häberlein ............................. 335
Teil 5: Informationsstrategien: Propaganda, Geheimhaltung, Nachrichtennetze Informations strategien: Propaganda, Geheimhaltung, Nachrichtennetze. Einleitung. Von Sabine Doering-ManteuJfel ....................... 359 Jesuiten-Fabeln des 16. und 17. Jahrhunderts. Leistungen und Grenzen von Propaganda in der Frühen Neuzeit. Von Sabine Doering-ManteuJfel 367 Die Kunst des Lügens. Ketzerverfolgung und geheimprotestantische Überlebensstrategien im theresianischen Österreich. Von Regina Pörtner ....................................................... 385 Netzwerke des Nachrichtenaustauschs. Für einen Paradigmenwechsel in der Erforschung der ,neuen Zeitungen'. Von Franz Mauelshagen ...... 409
Die Frühe Neuzeit als Medienzeitalter und ihr kommunikatives Spektrum Einleitung Von
Johannes Burkhardt und Christine Werkstetter Die von neuen Medien bestimmte Kommunikationsgesellschaft stellt die Geschichte heute vor neue Herausforderungen. Den Verheißungen und Leistungen der High-Tech-Offensive und ihrer kommunikationswissenschaftlichen Auslegung fehlt der Rückhalt eines historischen Gedächtnisses. Die Informationsgesellschaft kennt ihre eigene Geschichte noch nicht. Die Kulturwissenschaften sind nicht nur Nutzer der elektronischen Systeme, sondern zu ihren Aufgaben gehört auch ihre kulturelle Deutung. Um die sich hier anbahnenden Veränderungen abzuschätzen, bedarf es einer weiten historischen Vergleichsperspektive. Die moderne Medienrevolution ist kein einmaliges Ereignis, sie muß sich an ihren Vorläufern messen lassen. Wer in das ,global village' einzieht, sollte das alteuropäische Dorfgeschwätz kennen. Informierte Informatiker wissen das. "Medientheorie muß sich hier nur stärker als Mediengeschichte begreifen" (Werner Faulstich), lautet somit das Forschungsprogramm. Der Frühneuzeitforschung wächst damit eine besondere Aufgabe zu. Denn die Druckmedien, die seit Beginn der Neuzeit zum Einsatz kamen, bedeuteten eine gewaltige Erweiterung der Verbreitungsmöglichkeiten und Speicherleistung von Information und Wissen. Die typographische Verarbeitung hat die Weichen der europäischen Kultur für Jahrhunderte auf die Vorrangstellung des Schrifttextes gestellt. Was nach akustischen und bildlichen Formen der Fernkommunikation in den Netzen der Gegenwart geschieht, wird so auch als eine triumphale Rückkehr des Schrifttextes auf anderer Ebene erkennbar. Auch der Verschriftlichungsschub im Dienste der Administrationen gründet in Politik und Kultur der Frühen Neuzeit; Kaufmannskorrespondenzen, Gesandtschaftsberichte und Visitationsprotokolle sind Verständigungsmittel ihrer aufsteigenden Institutionen. Die methodische Ablage und Aufbereitung des Wissens in Archiven, Bibliotheken und Enzyklopädien fundierten die frühneuzeitliche europäische Wissensgesellschaft. Ebenso zu bedenken aber ist die materielle Infrastruktur der Kommunikationswege, die etwa in der neuen durchregulierten Nachrichtenpost geradezu spektakuläre Ausmaße annahm. Zwischen Reformation und Aufklärung entfalteten sich frühmoderne
Öffentlichkeiten, in denen sich Informationsaustausch, Meinungspflege, Propaganda und Kommunikationspolitik multimedial entwickelten. Aber Kommunikation in der Frühen Neuzeit folgte auch eigenen Wegen. In den dörflichen wie den städtischen Kommunikationsräumen kam den unterschiedlichen sozialen Netzwerken große Bedeutung zu. Im mikrohistorischen Zugriff gewährt der Kommunikationsaspekt Einblick in die Zusammenhänge von obrigkeitlichen Regulierungsmaßnahmen und Partizipation der Untertanen. Die kulturelle Inszenierung und das politische Zeremoniell bestimmten das frühneuzeitliche Inventar ordnungspolitischer Kommunikation. Körperliche, zeichenhafte und insbesondere mündliche Formen der Kommunikation bedürfen eigenwertiger Beachtung. Denn die schriftliche Überlieferung verzerrt auch unsere Wahrnehmung: Kommunikation fand noch weitgehend mündlich statt; in einer ubiquitären nonverbalen Sprache, deren historische Erforschung gerade erst beginnt. Die mit zunehmender Lese- und Schreibfähigkeit durchgesetzte Schriftkultur aber modifizierte auch diese Strukturen. Der Entwicklungspfad verläuft nicht immer linear und hält zwischen Mündlichkeit, Bildlichkeit und Schriftlichkeit viele Überraschungen bereit.
* Dies waren die Vorgaben, unter denen die Frühneuzeitler aufgerufen waren, die medien- und kommunikationsgeschichtliche Bedeutung ihrer Fachepoche zu erkunden. Vom 13. bis 15. September 2001 fand in Augsburg die 4. Tagung der "Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit" im Deutschen Historikerverband statt. Gewidmet war sie dem Thema "Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit" - ein Forschungsfeld, das nicht nur eine große Zahl von Historikerinnen und Historikern aus Deutschland, sondern auch aus dem übrigen Europa und den USA anzog. Es war ein offener Kommunikationsbegriff, mit dem hier gearbeitet wurde, und es blieb auch offen, ob so eine Vorgeschichte oder eine Gegenwelt der heutigen Medienwelt freigelegt werden würde. Sowohl als auch und im einzelnen verschieden, lautet der in der Geschichte kaum anders zu erwartende Befund, aber es kann nach all den theoretischen Reflexionen und Fallstudien auch keinen Zweifel geben, daß sich diese Epoche auf Fragen, die unleugbar einem gegenwärtigen Erkenntnisinteresse geschuldet sind, so oder so außerordentlich auskunftsfreudig verhält. Gegen diese Fragestellung legen die frühneuzeitlichen Quellen kein Veto ein, sondern warten vielmehr darauf, auch medial gelesen, kommunikationsgeschichtlich eingeordnet und auf ihre Informationsleistungen hin untersucht zu werden. Die Frühe Neuzeit wird als ein auf ihre Weise bereits außerordentlich dichtes und hochkomplexes Medienzeitalter erkennbar. In Anlehnung an den Tagungsverlauf haben Autoren, Sektionsleiter und Herausgeber diesen Themenband erstellt, der dies dokumentiert und in ver-
schiedenen Punkten noch etwas weiterführt. Die von den Sektionsverantwortlichen eingeleiteten Teile sind so zugeschnitten, daß sie weit auseinanderliegende Forschungsinteressen zu integrieren vermögen. Ihre Abfolge schreitet den Kreis des Möglichen ab, von den klassischen Druck- und Schriftmedien über die multimedialen Kommunikationsräume in aufsteigender Größenordnung zu besonderen Intentionen und Formen der Kommunikation, die mit Propaganda, Netzwerken und Körpermedialität den Blick auf neuerschlossene Forschungsfelder freigeben. Die besondere Stellung, die dem Buchdruck als dem neuzeitlichen Medium schlechthin gern zugesprochen wird, läßt es geraten erscheinen, mit diesem Thema zu beginnen. Vorangestellt ist eine Podiumsdiskussion, die - fast selbst schon ein Medienexperiment - vom oft sehr spontanen Wortlaut ins Schriftmedium übertragen wurde, um eine Begegnung zwischen den bei den bekanntesten historisch ausgewiesenen Medienwissenschaftlern mit medienbewußt arbeitenden Historikern in ihren fachsprachlichen Besonderheiten und Klärungsprozessen authentisch zu dokumentieren. Winfried Schulze führte in die Doppelfrage nach Anfang und Ende eines Zeitalters des Buchdruckes ein und leitete die Diskussion. Die Epochenfrage, ob die Neuzeit mit dem Buchdruck begonnen habe, wird ausgehend von dem in diesem Fall schon zeitgenössischen Innovationsbewußtsein von Michael Giesecke wie J 0hannes BUrkhardt entschieden bejaht. Der Kommunikationswissenschaftier sieht die innovative Modernität in der Technisierung der Informationsverarbeitung, der Vernetzung durch den Markt und vor allem in der die modeme Wissenschaft begründenden neuartigen Spiegelungsform der Welt, betont aber in seiner Stellungnahme die kulturellen Kosten der weiteren Entwick1ung. Der Historiker verweist auf die Nutzung der leistungsfähigeren Druckmedien für die Verbreitung gleichlautender aktueller Information, den Zugriff auf den normsetzenden religiösen Schlüsseltext und die Herstellung von Öffentlichkeit, die mit Reformation und Bauemkrieg unmittelbar die erste modeme Massenbewegung auslösten und fortwährend weitere Wirkungen zeitigten. Die Gegenposition vertritt der Medienhistoriker Werner Faulstich, der die Frage, ob die Neuzeit mit dem Buchdruck beginne, eindeutig verneint. Faulstich ebnet die Zäsurbedeutung des "Buchdruckes" ein, und zwar sowohl des Buches als des Druckes, und sieht in der Ablösung von Oralität und "Menschmedien" durch eine breit ausdifferenzierte Medienkultur der Schriftlichkeit um 1400 mit weiteren Zäsuren um 1700 und um 1830 das Neue. Die Skepsis gegenüber dem Buchkult teilt Gudrun Gersmann und argumentiert von seinem Ende her, dem Abbau durch die Digitalisierung selbst der Bibliotheken. Aus dieser Relativierung der Buchkultur in der Gegenwart entwickelt Gersmann die Frage, ob nicht auch eine Entmystifizierung der Buchkultur in der Geschichte angesagt sei und die heutige digitale Perspektive auch eine andere mediale Vorgeschichte brauche.
Danach suchte der Kongreß, und dieser Band läßt der um die Druckmedien kreisenden Einführungsdiskussion die explizite Gegenthese von Wo(fgang Behringer folgen: "Von der Gutenberg-Galaxis zur Taxis-Galaxis". Wie in seiner großen Untersuchung "Im Zeichen des Merkur" stellt Behringer als die wahre Kommunikationsrevolution der Frühen Neuzeit dem Buch die Post gegenüber. In der Tat validiert die Gründungszeit der Taxis-Post die Epochenzäsur um 1500, und das einzigartige lineare Wachstum des Postwesens während der gesamten Frühen Neuzeit zeigt seine epochenspezifische Bedeutung. Behringer erkennt in der Portionierung des schrumpfenden Raumes durch die Posten der Stafetten, in der Normierung der verkürzten Zeiten und in der Einführung der Beförderungsperiodizität die neue Wahrnehmung einer modernen Welt und betont die Rückwirkung dieses Leitmediums auf andere, zum Beispiel die sich an die Postkurse haltenden Korrespondenzen und die periodische Presse. Das kann die Druckmedien, wie schon das Pressebeispiel zeigt, nicht wirklich zur Seite schieben, aber es werden künftig zwei Galaxien in der Frühen Neuzeit zu beachten sein und vielleicht auch noch mehr. Die eigentliche Präsentation der klassischen Medien im ersten Teil hat der Direktor des Instituts für Buchwissenschaft der Gutenberg-Universität Mainz Stefan Füssel übernommen. Ein erheiternd paradoxes Eingangszitat, das dem lieben "Leser" schriftlich (!) den Rat gibt, wenn er denn "nit lesen" könne, sich einen Vorleser zu suchen, erinnert an die Startschwierigkeiten des Druckmediums. Der Buchwissenschaftier zeichnet selbst die Ausgangsbestimmungen einer "neuen Kommunikationsgesellschaft" und betont im Blick auf die Handschriftenkultur die fließenden Übergänge und die Bedeutung der humanistischen Textorientierung für die Durchsetzung des Druckmediums. Die weitere Entwicklung entfaltet sich in drei Beiträgen, in denen mit Buch und Buchhandel, Flugblättern und Flugschriften sowie Zeitungen und Zeitschriften von Experten präsentierte typographische Kernmedien an Beispielen und im Überblick zur Sprache kommen. Die frühe Bindung der Wissensverbreitung an das Buch, die ein Weltbild umkreisende charakteristische Bild-TextRhetorik des 17. Jahrhunderts und die sich fast zu einer zweiten Medienrevolution steigernde Regelmäßigkeit und Dichte der Kommunikation durch die Periodika des 18. Jahrhunderts und ihre politische Wirkung verweisen auf ganz entscheidende Leistungen dieser klassischen Druckmedien der Frühen Neuzeit. In den nächsten drei großen Teilen bilden den Ausgangspunkt nun nicht mehr bestimmte Medien, sondern unterschiedliche Kommunikationsräume. Dabei interessiert aber natürlich nicht zuletzt, welche Medien darin wirksam waren. Dorf und Stadt bildeten die kleinsten ausgeschilderten Kommunikationsräume, und der Moderator dieses Teils, Gerd Schwerhoff, hat am Beispiel Kölns selbst schon gezeigt, daß der kommunale Raum eine kommunikationsanalytisch ergiebige Einheit ist. Hier aber setzen die Beiträge bei noch kleine"'"
ren städtischen und dörflichen Lokalen an, Kirche und Rathaus, Dorfgericht und Wirtshaus. Und selbst diese Lokalitäten, so zeigt sich, dienten oft nicht nur einem kommunikativen Zweck, sondern wurden zumeist multifunktional genutzt. Die Erwartungen, hier nun der Kommunikation von Angesicht zu Angesicht zu begegnen, erfüllen sich durchaus, aber als das Überraschende hält Schwerhoff aufgrund der Befunde fest, daß die moderneren Verschriftlichungsmedien wie Gerichtsbücher und Nachrichtenblätter auch in diese kleinen sozialen Einheiten einziehen. Dieser "Medien-Mix" (Schwerhoff) entspricht der Entwicklungstheorie, daß neue Medien alte Medien ergänzen, aber nicht verdrängen - wie auch des Moderators lebenspraktischer Wink daran erinnert, daß es das "frühneuzeitliche Dorfgeschwätz" schließlich auch heute noch gebe, wie übrigens auch das Stadtgespräch. In der Erschließung weiterer Kommunikationsräume in aufsteigender Größenordnung über die Region zum Reich kommt ein frühneuzeitlicher Fachschwerpunkt zur Sprache, der aufgrund seines weiten Forschungsspektrums hier nur ansatzweise erfaßt werden kann. Maximilian Lanzinner rückt den Reichstag ins Zentrum der kommunikationsgeschichtlichen Überlegungen dieses Teils und geht dabei von den noch nicht verstetigten "periodischen" Reichstagen aus, hier im allgemeinen Sinne eines Zeitabschnitts verstanden, nicht einer regelmäßigen "Periodizität". Der Herausgeber der Reichstagsakten des 16. Jahrhunderts erkundet die dabei zu beachtenden kommunikativen Beziehungen und Wertungen und schlägt über die Außenrelationen auch eine Brücke zu den Regionen. Auch die einzelnen Beiträge beziehen diese Perspektive des Reichstags ein, entweder in seiner expliziten Thematisierung als politisches Kommunikationszentrum oder eingeordnet in den Rahmen der weiteren Kommunikationsprozesse im Reich. Die kommunikative Bedeutung entfaltet sich von der Gesamtwahrnehmung des Reiches als Kommunikationszusammenhang bis zum am Krisenfall der Seuchengefahr erschlossenen Zusammenspiel von Reich und Region. Wie aber hielt es nun die Frühe Neuzeit mit der Globalisierung? In dem Europa und der Welt gewidmeten Teil ist immerhin ein so reiselustiger wie korrespondenzfreudiger Prinz abgebildet, der in vereinnahmender Pose seine Hand auf den Globus legt. In der Regel konzentrieren sich jedoch die Korrespondenznetze, hier an den frühneuzeitspezifischen charakteristischen BeIspielen eines kaufmännischen und eines gelehrten Netzes, erst einmal auf Europa. Diese und weitere kommunikative Beziehungen aber waren es, wie Mark Häberlein in seiner Einführung herausstellt, die das hohe und in mancher Hinsicht sogar noch höher als heute anzusetzende Maß der Einheit europäischer Kultur konstituierten. Für den Zugriff auf die ganze Welt bedurfte es hingegen der interkulturellen Kommunikation. Häberlein analysiert in einem eigenen Beitrag selbst diese kulturelle Vermittlung im kolonialen Nordamerika, die auch die ins Zentrum kommunikationswissenschaftlicher Diskurse
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rückende Vermittlerfigur signifikant hervortreten läßt. Aber nicht nur Interaktionen' so ein vom Moderator im einzelnen konkretisiertes Forschungsdesiderat, sondern die zu kontextualisierenden Institutionen und die Medien selbst bedürfen einer Europäisierung und Globalisierung. Dem Durchgang durch die Räume der Kom'hlUnikation folgt ein eigener Blick auf besonders auffällige Informationsstrategien. "Propaganda und ihr Gegenteil", könnte dieser Teil heißen, aber die Geheimhaltung ist dann auch wieder ein ähnlich manipulativer Umgang mit Kommunikation wie die Verbreitung von Information oder Desinformation mit propagandistischen Wirkungsabsichten. Sabine Doering-Manteuffel stellt für diesen Teil von einigen neueren Fällen her die Glaubwürdigkeitsfrage und sensibilisiert für Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen damals und heute. Fallstudien zu den Iesuitenfabeln, deren propagandistisches Wirkungs spektrum in einem eigenen Beitrag von Doering-Manteuffel erkundet wird, und zum Geheimprotestantismus entwickeln am zentralen Frühneuzeitthema der Konfessionalisierung die der religiösen Intoleranz und ihren Kämpfen geschuldeten Kommunikationsextreme. Druckmedien erweisen sich dabei nicht nur für die Propaganda, sondern auch für die Geheimlektüre der Unterprivilegierten als Grundlage. Gegenübergestellt ist ein Beitrag, der vielmehr in der handschriftlichen Korrespondenz, ja in den Netzwerken selbst eine Schlüsselkategorie der Kommunikationsgeschichte sieht, Information generell an Austausch binden und in entmaterialisiertes Handeln auflösen will. Die umgekehrte Strategie sehen manche Beobachter in dem neuen Interesse am Körper und seiner Sprache, dem der abschließende Teil gewidmet ist. Denn der Körper scheint in den postmodernen Verwicklungen einen relativ festen Halt und neue Objektivierungsmöglichkeiten zu bieten, ist aber, wie Rudolf Schlögl klarstellt, natürlich ebenfalls ein Diskursprodukt und ein historisch variabler Kommunikator. Ein enzyklopädischer Beitrag, der alles reflektiert' was die Geschichtswissenschaft seit dem linguistic turn teils zu neuen Ufern, teils aber auch nur ins Schwimmen brachte, formuliert über das Forschungsfeld kommunikativer Körperlichkeit sein methodologisches Konzept. Drei Teilstudien zeigen das Medium Körper sowohl in seinen zeichenhaften als auch in seinen performativen Kommunikationsleistungen in den anschaulichen Kontexten des Gerichtswesens, der Eherituale und des höfischen Zeremoniells. Das die Ergebnisse der Beiträge bündelnde Fazit des Moderators setzt für diesen Teil wie auch für die insgesamt erkundete Abfolge der kommunikationsgeschichtlichen Untersuchungs felder einen sinnfälligen Schlußpunkt. In diesem darum an das Ende des Bandes gerückten Resümee hebt Schlägl auf typologische Varianten der Körperkommunikation ab und bestimmt ihre entwicklungsgeschichtliche Stellung. Dabei wird sehr deutlich, daß diese Kommunikationsform in einigen sozialen Bereichen der Frühen Neuzeit initiie-
rende, zeitweise dominierende und manchmal unverzichtbar bleibende Leistungen erbrachte, dann aber auch von anderen Medien und insbesondere von politisch-institutionell organisierten Formen der Kommunikation überholt und abgelöst wurden. Aus diesem perspektivischen Befund Schlögls lassen sich zwei verschieden gewichtende Strategien für die weitere Erforschung von Kommunikation und Medien in dieser Epoche ableiten: Entweder konzentriert man sich direkt auf die unmittelbar in die moderne Medienwelt führenden frühneuzeitlichen Präfigurationen, oder aber man nimmt die gerade für das epochenspezifische Kommunikationssystem insgesamt unverzichtbaren andersartigen Erscheinungen in den Blick. Das Fach braucht beides, und erst beides zusammen erschließt die kommunikative Leistung der Frühen Neuzeit.
* Der Kongreß hätte ohne die Unterstützung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, das Bayerische Staatsministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst, die Universität Augsburg, die Gesellschaft der Freunde der Universität sowie die Stadt Augsburg nicht stattfinden können. All diesen Institutionen danken die Herausgeber sehr herzlich. Ein ebenso herzlicher Dank gebührt auch all denen, die im Organisationsteam mitwirkten und nicht nur einen reibungslosen Ablauf der Tagung sicherstellten, sondern auch zum, atmosphärischen' Gelingen beitrugen. Die Herausgeber danken allen Referenten und Referentinnen, die ihre Beiträge ausformuliert und nach den Bedürfnissen dieses Themenbandes eingerichtet haben. Ein besonderer Dank gebührt den Sektionsleitern, die für den von ihnen verantworteten Teil eine das Themenfeld und die Beiträge vorstellende Einleitung erarbeitet haben. Lothar Gall gilt der Dank der Herausgeber für die Aufnahme des Tagungsbandes in die "Beihefte" der Historischen Zeitschrift.
Zur Einführung: Podiumsdiskussion und Gegenrede
Begann die Neuzeit mit dem Buchdruck? Ist die Ära der Typographie im Zeitalter der digitalen Medien endgültig vorbei? Podiumsdiskussion unter der Leitung von Winlried Schulze. Diskutanten: Werner Faulstich und Michael Giesecke (Medienhistoriker), Johannes Burkhardt und Gudrun Gersmann (Historiker/in)
I. Einführung von Winfried Schulze Ich begrüße Sie sehr herzlich zu unserer Podiumsdiskussion zu dem aufsehenerregenden Thema über den Beginn der Neuzeit, über den Buchdruck und die damit verbundene Frage, ob die Ära der Typographie im Zeitalter der digitalen Medien endgültig vorbei ist. Diese Fragen sollen in Kooperation zwischen Medienwissenschaft und Geschichtswissenschaft diskutiert werden. Es geht ganz bewußt um eine doppelte Frage: zum einen nach der Rolle des Buchdrucks zu Beginn der Neuzeit und zum anderen nach der Zukunft der Medien. An dieser Stelle möchte ich die Gelegenheit nutzen, dem Vorstand unserer Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit für seine Weitsicht zu danken, diese bei den Fragen miteinander zu koppeln. Im Grunde folgen wir damit auch einer Anregung von Michael Giesecke, der nämlich geschrieben hat: "Gerne mächte man wissen, auf was der unübersehbare kulturelle Wandel im Gefolge der Installierung der neuen Medien zusteuert. Bislang verfügen wir jedoch nur über eine ganz geringe Erfahrung in der Abschätzung der Folgen der Implementierung von Informations- und Kommunikationstechnik. [... ] In dieser Lage bietet es sich an, Erfahrungen über den Zusammenhang von Kultur- und Medienwandel und über die zu seiner Erforschung notwendigen Methoden und Modellvorstellungen erst einmal an historischen Gegenständen zu sammeln."! Das ist der Grund für die Verbindung dieser bei den Fragen, die wir uns im Rahmen unserer Podiumsdiskussion heute vorgenommen haben. Starten wIr also zunächst mit der Frage: "Beginnt die Neuzeit mit dem Buchdruck?" Wir alle haben genug Texte und TextsteIlen im Kopf, die mit mehr oder weniger starken Worten solche Weliungen befürworten. Ich erinnere an Autoren
1 Michael Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt am Main 1991,2.
von Franz SchnabeP bis etwa Elizabeth L. Eisenstein und ihre Studie "The Printing Press as an Agent of Change"3, und es gibt noch viele, viele andere, die genannt werden können. Wie Sie sicherlich wissen, kann dies auch in Verbindung mit anderen historischen Faktoren geschehen, ohne daß ich jetzt hiermit eine Debatte über die Periodisierung, den Be'ginn der Frühen Neuzeit, vorwegnehmen will. Relativierungen hat diese These erfahren zum einen durch den Kollegen Werner Faulstich. Seine Anschauungen im Hinblick auf die Einordnung des Buchdrucks in die Gesamtgeschichte der Medien der Frühen Neuzeit werde ich etwas genauer vorstellen. Es handelt sich hierbei um eine Diskussion, die auch schon - jedenfalls ansatzweise - in unserer ersten Sektion "Klassische Druckrnedien der Frühen Neuzeit" repräsentiert ist. Relativierung aber auch durch die Analysen von Uwe Neddermeyer, der mit seiner neuen Arbeit "Von der Handschrift zum gedruckten Buch" von 1996 eine sehr viel kontinuitätsorientiertere Darstellung der medialen Veränderungen im späten 15. und auch frühen 16. Jahrhundert geliefert hat. 4 Wie wir wissen, hat er auch schon früher darauf hingewiesen, daß in der Parallelität von Handschrift und Buch ein stärkeres Kontinuitätsargument gesehen werden kann. N eddermeyer setzt den Beginn des Buchzeitalters um 1370 in das Manuskriptenzeitalter, wie er es nennt. Denn bereits ab der Mitte des 14. Jahrhunderts steigen die Produktionszahlen nicht zuletzt als Auswirkungen des ,billigeren Pergaments', des preiswerteren Papiers, sprunghaft an. Werke werden in großem Maße auch in pragmatisch-literarischen Textsorten verschriftlicht, so daß ein durch steigende Alphabetisierungsraten gewachsenes Lesepublikum über ein entsprechendes Angebot verfügen kann. Der Buchdruck beschleunigte dann diesen Prozeß weiter - da erkennt man die Relativierung. Die technologische Umstellung nach 1470 bedeutet keinen Bruch, so lautet die Grundthese zum Handschriftenzeitalter. Die Leistungsexplosion ist aufgrund des aufgestauten Altbedarfs überhaupt erst möglich geworden. Hier wird es also um eine genuin historische Fragestellung gehen, die freilich mit relativ komplexen Ansätzen zu beantworten versucht werden soll. Derartige Ansätze sind in den letzten Jahren vor allen Dingen von den Medienwissenschaftlern vorgelegt worden. Das ist auch der definitive Grund dafür, daß wir in dieser Sektion für die Podiumsdiskussion Medienwissenschaftler eingeladen haben, um mit ihnen das Gespräch zu suchen. 2 Franz Schnabel, Der Buchhandel und der geistige Aufstieg der abendländischen Völker. Freiburg 1951. 3 Elizabeth L. Eisenstein, The Printing Press as an Agent of Change. Communications and Cultural Transformation in Early-Modern Europe. 2 Vols. London/New York/Melbourne 1979. 4 Uwe Neddermeyer, Von der Handschrift zum gedruckten Buch. Schriftlichkeit und Leseinteresse im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Quantitative und qualitative Aspekte. Wiesbaden 1996.
Hinzuweisen ist schließlich darauf, daß die Frühneuzeitforschung selbst durch die intensivere Erforschung der Reformation als kommunikativer Prozeß seit den späten sechziger Jahren diese neue Betonung der Mediengeschichte eingeleitet und empirisch vorbereitet hat. Dies alles ist zu sehen vor dem interessanten Paradigma, das von Jürgen Habermas zu Beginn der sechziger Jahre im Hinblick auf die Öffentlichkeit entwickelt worden ist. 5 Hierbei handelte es sich um eine Arbeit, die bekanntlich ebensosehr zum Widerspruch angeregt hat, wie sie sich für die Forschung als befruchtend erwiesen hat. Soweit meine einleitenden Worte zur ersten Frage. Die zweite Frage: "Ist die Ära der Typographie im Zeitalter der digitalen Medien endgültig vorbei?", greift nun Diskussionen auf, die seit der Mitte der sechziger Jahre die atlantisch-europäische Welt erfüllten und immer stärker erfüllen. Auslöser hierfür war der amerikanische Literaturwissenschaftler Marshall MacLuhan mit seiner "Gutenberg Galaxis" von 1962, die erst etliche Jahre später ins Deutsche übersetzt wurde. 6 Meines Erachtens stellt dies ein wichtiges Thema dar, nicht nur aus dem Grund, weil es unsere alltägliche Arbeit in erheblichem Maße betrifft, sondern auch den gesamten kulturellen Prozeß, in dem wir uns befinden. Vilem Flusser hat einmal geschrieben, wir seien "Bücherwürmer, und wir fressen, wovon wir aufgefressen werden. Wir leben von Büchern für Bücher".7 Man kann natürlich daraus folgern, was passiert, wenn wir die Bücher nicht mehr hätten. Das wäre wirklich ganz furchtbar, weil in einer solchen Situation dem Wurm gewissermaßen die Nahrung fehlte. Das wäre die tragische Konsequenz. Wenn eine solche Vorstellung auch nur annähernd stimmt, dann ist dieses Thema für uns von entscheidender Bedeutung. Wir brauchen nicht darauf hinzuweisen, daß sich die Rahmenbedingungen für diese Diskussion seit MacLuhans Buch dramatisch verändert haben. Der Sieges zug des PC und vor allem des Internet mit seinen ganz neuen Publikationsmöglichkeiten haben das interaktionsarme Medium Buch durch neue, interaktive Medien ersetzt. Wir alle haben dies in den letzten Jahren am eigenen Leibe erfahren - im wahrsten Sinne des Wortes. Unser Informationsverhalten hat sich - da bin ich mir ganz sicher - bereits grundlegend verändert, während sich unser Publikationsverhalten noch nicht im gleichen Ausmaß verändert hat. Die Reputation des gedruckten Textes, ob in Buchform oder Zeitschriftenform, scheint noch deutlich·höher zu liegen als die der elektronischen PubliJiirgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied 1962. 6 Marshall MacLuhan, The Gutenberg Galaxy: The Making of Typographie Man. Toronto 1962. In deutscher Übersetzung zuerst 1968: Die Gutenberg-Galaxis: das Ende des Buchzeitalters. Düsseldorf 1968. 7 Vilem Flusser, Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft? Göttingen 1987,94.
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kationsformen. Nicht zuletzt die Tatsache, daß ,online' kein Geld oder vermutlich nur wenig Geld zu verdienen ist, sichert den traditionellen Publikationsformen einen beachtlichen Vorsprung. Aber auch hier zeichnen sich neue Entwicklungen ab, gerade im Bereich der Naturwissenschaften, in denen die Online-Publikationen einen ganz anderen Stellenwert besitzen und zunehmend die gedruckten Publikations formen verdrängen. Man darf vermuten, daß dieser Trend sich mit Verzögerungen auch in den Geisteswissenschaften durchsetzen oder diese zumindest stark beeinflussen wird. In gleichem Maße beginnen unsere liebsten Partner, die Bibliotheken und Bibliothekare, umzudenken. Retrospektive Digitalisierung greift um sich und digitale Quellensammlungen entstehen. Bibliotheken verstehen sich zunehmend als Informationsbroker. Vor diesem Hintergrund scheint mir eine Diskussion über die Zukunft des typographischen Systems ebenso sinnvoll wie notwendig zu sein. Gerade solche Überlegungen bilden letztlich auch den Grund dafür, daß wir auf diesem Podium Kollegen versammelt haben, die ne:" ben ihren buch- und mediengeschichtlichen Forschungen eigene Positionen zu den oben angeschnittenen Fragen entwickelt haben, so daß wir davon ausgehen können, in diesem Zusammenhang interessante Anregungen zu erhalten. Damit bin ich beim Verlauf unserer Diskussionsveranstaltung angelangt. Wir wollen beginnen mit den Statements der eingeladenen Fachkollegen aus den Medienwissenschaften, von Michael Giesecke und von Werner Faulstich. Im Anschluß daran werden Johannes Burkhardt und Gudrun Gersmann sprechen. Ich hoffe auf eine interessante und spannende Veranstaltung! Lassen Sie mich Ihnen kurz die Teilnehmer vorstellen, zuerst natürlich die eingeladenen Medienwissenschaftler. Ich fange bei Michael Giesecke an, der seit 1999 Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft mit den Schwere: punkten Kultur- und Medientheorie, Mediengeschichte in Erfurt ist. Wir kennen ihn alle von seinem großen Buch "Der Buchdruck in der frühen Neuzeit", das jetzt in der 3. Auflage mit einem umfangreichen Nachwort vorliegt.8 Das ist aber nur das bekannteste Werk in einer ganzen Reihe von Arbeiten zur Medien wissenschaft. Sodann begrüßen wir Werner Faulstich, Medienwissenschaftler an der Universität Lüneburg und Direktor des dortigen Instituts für angewandte Medienforschung. Neben Arbeiten zu Programmanalysen und Imageforschung sind seine mediengeschichtlichen Arbeiten für uns von besonderem Interesse. Von diesen liegen bereits drei Bände vor. Ein vierter Band, der den Zeitraum bis 1830 umfaßt, ist gerade erschienen. 9 Giesecke, Der Buchdruck (wie Anm. 1),3. Aufl. Frankfurt am Main 1998. Wemer Faulstich, Das Medium als Kult: von den Anfängen bis zur Spätantike (8. Jahrhundert). (Die Geschichte der Medien, Bd. 1.) Göttingen 1997; ders., Medien und Öffentlichkeiten im Mittelalter: 800-1400. (Die Geschichte der Medien, Bd. 2.) Göttingen 1996; 8
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Dann darf ich begrüßen Gudrun Gersmann, Historikerin in München lO , die mit einer auch medien- und buchgeschichtlichen Dissertation "Im Schatten der Bastille", also über die ,ecrivains obscures' im späten 18. Jahrhundert in Frankreich, hervorgetreten ist ll und zudem die Erfinderin und Macherin des Servers Frühe Neuzeit ist, dessen segensreiches Wirken Sie hoffentlich bei Ihrer täglichen Arbeit, spätestens hier aber in der Augsburger Präsentation bereits wahrgenommen haben. 12 Zu guter Letzt heißen wir Johannes Burkhardt willkommen, den ich an dieser Stelle nicht extra vorzustellen brauche. Er hat sich als Macher der Tagung hier in Augsburg verdient gemacht. Seine Arbeiten brauche ich hier en detail nicht vorzustellen. Soviel zu den Mitstreitern, die sich hier freundlicherweise auf dem Podium versammelt haben. Ich darf nun Michael Giesecke das Wort erteilen.
11. Diskussionsbeitrag von Michael Giesecke Meine Damen und Herren, Sie werden nicht erwarten, daß ich eine Zusammenfassung meines Buches zum Buchdruck in der Frühen Neuzeit hier in wenigen Minuten vortrage. 13 Aber ich habe mir gedacht, daß es vielleicht sinnvoll ist, einige Visionen, die ich aus der Arbeit an diesem Thema gewonnen habe, Ihnen in Kurzform vorzustellen. Es geht ja hier um die Kulturgeschichte, und ich bin eingeladen, aus kommunikations- und medientheoretischer Sicht hierzu etwas zu sagen. 1. Dazu wäre zunächst etwas zur Kultur zu sagen, zum Kulturbegriff und zum Kulturkonzept. Ich bemühe mich jetzt ganz besonders deshalb darum, weil es sowohl in der Buchwissenschaft als auch bei vielen Historikern üblich ist, den Kulturbegriff sehr eng mit dem Gesellschaftsbegriff zu identifizieren. Natürlich können wir Epochengeschichte, wie zum Beispiel die Neuzeit, als eine Gesellschaftsgeschichte begreifen und uns dann fragen, wie sich gesellders., Medien zwischen Herrschaft und Revolte: die Medienkultur der Frühen Neuzeit (1400-1700). (Die Geschichte der Medien, Bd. 3.) Göttingen 1998; ders., Die bürgerliche Mediengesellschaft: 1700-1830. (Die Geschichte der Medien, Bd. 4.) Göuingen 2002:.~ Bd.5 erschien im Sommer 2004: ders., Medienwandel im Industrie- und MassenzeitaHer (1830-1900). (Die Geschichte der Medien, Bd. 5.) Göttingen 2004. 10 Inzwischen Professorin für die Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität zu Köln. 11 Gudrun Gersmann, Im Schatten der Bastille. Die Welt der Schriftsteller, Kolporteure und Buchhändler am Vorabend der Französischen Revolution. Stuttgart 1993. 12 Gudrun Gersmann, Der Server Frühe Neuzeit. Ein Internetprojekt für Historiker, in: Bibliotheksforum Bayern 28, 2000, 2, 178-186. Internetadresse: http://www.sfn.unimuenchen.de. Dem sfn hat sich inzwischen das historische Fachportal historicum.net (www.historicum.net) zugesellt. 13 Giesecke, Buchdruck (wie Anm. 1).
schaftliche Epochen voneinander abgrenzen. Das wäre aber eine Perspektive, die sich sehr stark anlehnt an eine kulturelle Epoche, nämlich an unsere europäische Neuzeit. Diese hat es in der Tat verstanden, sich selbst als Gesellschaft zu beschreiben: als aufgeklärte Gesellschaft, als Industriegesellschaft oder als Sozialstaat. Ich würde, wenn ich so vorgehe, im Grunde genommen die Selbstsimplifizierung dieser Kultur auf die soziale Dimension mit übernehmen. Davor scheue ich aber zurück. Und ich scheue mich ebenso, wie ich dann im folgenden noch weiter ausführen werde, insbesondere als Medienwissenschaftler, dies zu tun. Ich denke auch, daß sich alle grundlegenden Fragen unserer Gegenwart und insbesondere die medienpolitischen Fragen unserer Gegenwart nicht beantworten lassen vor dem Hintergrund einer Gesellschaftstheorie oder auch vor dem Hintergrund einer Theorie sozialer Kommunikationssysteme. Das ist übrigens auch die Tragik von Niklas Luhmanns Sozialtheorie. Vielmehr geht es, glaube ich, gegenwärtig um die Gestaltung des Zusammenwirkens einerseits von Gesellschaft, also menschlicher Sozialordnung, andererseits der belebten Natur und dritterseits der unbelebten Natur einschließlich der Technik und der Bodenschätze. Kulturen sind vor diesem Hintergrund zu verstehen als ein ökologisches Netzwerk, das sich zusammensetzt aus ganz verschiedenen - jetzt würde ich als Medientheoretiker sagen - Medien. Wir können es erst noch einmal im allgemeinen so stehen lassen: als ein ökologisches Netzwerk aus ganz unterschiedlichen, artverschiedenen Faktoren, die miteinander in Kontakt gebracht werden müssen. Die Ökologie als Lehre von den Beziehungen zwischen artverschiedenen Lebewesen und zwischen diesen Lebewesen und der unbelebten Natur gibt uns einige Hinweise darauf, wie eine solche Beziehungslehre aussehen kann. Kulturen sind - ganz im Einklang mit der Biosystemtheorie - selbstbeschreibende Systeme. Sie kommen nicht umhin, Identitätskonzepte über sich zu entwickeln. Sie kommen auch nicht umhin, Programme über ihr eigenes Handeln zu entwickeln. Diese Programme sind immer, da die Wirklichkeit komplexer ist, Simplifikationen, Mythen oder eigentlich - je nachdem, was man für einen Begriff davon hat - Ideologie. Eine solche Ideologie ist auch die neuzeitliche Reduktion von Kultur auf Gesellschaft und die Prämierung von Technik und sozialen Informationsformen. 2. Diese Abkehr von Soziologie und Sozialgeschichte und auch von Bewußtseinspsychologie hat natürlich Konsequenzen für die Kommunikationsund Medientheorie. Sie darf, wenn man diese Wende ernst nimmt, nicht als Lehre von der Verständigung zwischen Menschen, und diese womöglich noch reduziert auf die höheren Bewußtseinsschichten, verengt werden. Als Medien kommen vielmehr Pflanzen und Tiere, Steine und Technik ebenso in Betracht, und als Kommunikatoren kommen eben auch sehr viel mehr Faktoren in Betracht als nur die Menschen. Aus ökologischer, mediengeschichtlicher Sicht
lassen sich Kulturen gerade dadurch unterscheiden, welche Medien sie bevorzugen und was sie als Kommunikatoren akzeptieren. Die Aranda, ein Aborigines-Stamm in Australien, nutzen natürliche Felsformationen, Steine und viele andere natürliche Formationen als Kommunikationsmedien. Die Ägypter kommunizierten mit ihren Toten und nutzten übrigens den überwiegenden Teil ihres Mehrprodukts für die Technisierung dieser Kommunikation, also der Kommunikation mit den Toten. Leib und körperliche Bewegung im Tanz hielten die indischen Hochkulturen stärker zusammen als Schrift und Rede. Für nicht-soziale Kommunikationsformen lassen sich, wenn man kulturübergreifend forscht, viele Beispiele finden. Die Frage, die ich mir hier und heute stelle, ist, was die paradigmatischen Medien und Kommunikationsformen in älterer und neuerer Zeit sind. Die These, die im Raum steht, ist folgende: Die komplexe Drucktechnik und die Technik überhaupt hat in der Frühen Neuzeit die Rolle leiblicher und anderer Medien übernommen, und die sozialen Kommunikationsformen und damit zusammenhängend die sprachliche, logische Informationsverarbeitung wurden prämiert. Mancher ahnt schon, daß die Frage, ob die Neuzeit mit dem Buchdruck zusammenhängt oder davon katalysiert ist, davon .abhängt, welche Form der Selbstsimplifikation, welche Ideologie und welche Selbstbeschreibung wir haben wollen. Wenn wir davon ausgehen, daß die Technik tatsächlich das Totem der Neuzeit ist, dann werden wir in der Tat auf den Buchdruck als dasjenige identitätsstiftende Symbol dieser Zeit kommen. Aber wir sind natürlich frei zu entscheiden, welche Form der Selbstbeschreibung wir wollen. Und wir stehen vielleicht im Augenblick vor der Aufgabe, neu zu überlegen, welche Selbstbeschreibung - nicht für die Vergangenheit, wohl aber für die Zukunft angemessen ist, um aktuelle Fragen besser beantworten zu können, als wir das bislang konnten. Bevor ich jetzt auf diesen Punkt noch etwas genauer eingehe, lassen Sie mich noch etwas zum Kommunikationsbegriff sagen. Der ist zwar in meinem Buchdruck-Buch enthalten, entwickelt, aber leider noch sehr implizit. Ich kann ihn mittlerweile etwas genauer formulieren. Es sind drei Dimensionen, die ich in dem Buchdruck-Buch behandle. Zum einen verstehe ich unter Kommunikation soziale Informationsverarbeitung. Es ist heute ziemlich un:. strittig, daß wir, wenn wir miteinander kommunizieren, wahrnehmen und stets Informationen verarbeiten. Der zweite wichtige Punkt jeglicher Kommunikationstheorie ist die Vernetzung. Wir kommen nicht umhin, Kommunikatoren zu vernetzen. Also haben wir zu fragen, welche Vernetzungswege es gibt. Welche Formen von Vernetzung kennen die verschiedenen Kulturen? Und da kennen sie sehr viele. Der dritte Aspekt ist wesentlich komplizierter. Da geht es darum, daß durch Kommunikation immer Gemeinsamkeiten zwischen Medien und zwischen Kommunikatoren geschaffen werden. Ich nenne
dieses Konzept Spiegelungskonzept. Hier geht es zum Beispiel darum, wie sich die psychischen Strukturen von A in den psychischen Strukturen von B wiederfinden. Man wird Gemeinsamkeiten und Unterschiede feststellen und je nachdem sagen: die Kommunikation hat zum Erfolg geführt oder nicht. Unter diesen drei Dimensionen kann man nun als Kommunikations- und Medientheoretiker die Kulturgeschichte betrachten. Intuitiv, denke ich, passiert so etwas immer. Man muß versuchen, in einem Zeitraum systematisch in diesen Dimensionen zu arbeiten und dann die Ergebnisse miteinander in Beziehung zu setzen, so daß man eine Möglichkeit hat zu korrigieren und zu falsifizieren. Vor diesem dreifachen Hintergrund die Frage: Was sind die Leistungen des Buchdrucks? Aus der ersten, der informationstheoretischen Sicht, wenn wir also soziale Informationsverarbeitungen in den Vordergrund stellen, können wir sagen: Der Buchdruck ermöglicht reversible, interaktionsfreie und damit technisierte Parallel verarbeitung, nicht von allen Informationen, wohl aber von sprachlichen und bildhaften Informationen zwischen Menschen. Wie schafft er das? Durch eine radikale Normierung und Sozialisierung der Wahrnehmung des Denkens und der Darstellung. Die Leistungen des Buchdrucks, der interaktionsfreien, intersubjektiven Verständigung, sind ja nur denkbar, wenn wir uns auf soziale Idealtypen reduzieren, wenn wir uns auf den Standpunkt eines generalisierten Anderen stellen. Diese Standpunkte haben wir alle in unserer schulischen Ausbildung und in der Familie gelernt. Die große Leistung der Neuzeit, der Frühen Neuzeit, ist es, innerhalb relativ kurzer Zeit Programme ausgearbeitet und sie in der Gesellschaft verankert zu haben, die eine solche Standardisierung der Wahrnehmung ermöglichen. Natürlich funktioniert die Verständigung über den Buchdruck nur dann, wenn Autoren und Leser diese Programme kennen und annehmen. Wenn sie andere annähmen, würde die Verständigung nicht klappen. Insofern ist der Buchdruck ein enormes Instrument der Normierung psychischer Informationsverarbeitung und natürlich auch der Darstellung von Informationen. Damit hängt übrigens das Problem der Objektivität, der Absehung von Subjektivität, das Problem der Wahrheit und vieler anderer Gruppen, vieler anderer Dinge zusammen. Diese Prinzipien einer Normierung und Standardisierung sind für viele, für die meisten, für die wesentlichen, für die vorwärtstreibenden Bereiche der neuzeitlichen Gesellschaft verbindlich geworden. Insofern kann man einfach sagen, daß der Buchdruck die neuzeitliche Kultur mitschafft und die neuzeitliche Kultur diese Form der typographischen Informationsverarbeitung stützt. Der zweite Punkt ist die Vernetzung. Da benutzt der Buchdruck ein völlig neues Vernetzungsmedium mit ganz anderen Prinzipien als die Kulturen zuvor, nämlich den freien Markt. Es ist eine marktwirtschaftliehe, mono mediale Form der Vernetzung, die von der Selbstauswahl der Konsumenten oder der
Leser lebt. Eine Steuerungsform, die im Augenblick wieder zur Disposition steht. Es ist die Frage: Soll das Internet nach den gleichen Prinzipien reguliert werden wie die Buchkultur der Frühen Neuzeit sich reguliert hat? Wir wissen, daß Bill Gates die Antwort gibt: Ja, sie soll es. Aber die Frage ist: Kann unter diesen Bedingungen wirklich ein neues Medium entstehen? Ich habe eher den Eindruck, es wäre so, als wenn der Buchdruck in Spanien unter den Bedingungen unangefochtener feudaler Herrschaft erfunden worden wäre und man versucht hätte, das neue Medium in diese Strukturen einzubauen. Der Buchdruck hätte dann seine enorm befreiende Potenz nicht entwickeln können. Aus ontologisch-spiegelungstheoretischer Sicht - das ist die dritte kommunikative Dimension - geht es um die Frage nach den prämierten Medienarten und nach den prämierten Spiegelungsformen. Prämiert werden Sprache und Technik, die übrige Natur wird zum Rohstoff. Während die vormodernen Gesellschaften eher holistisch dachten, Mikro- und Makrokosmos miteinander in Beziehung setzten, "alles in einem und das eine in allen Teilen", wie Leonardo formulierte, also komplexe Spiegelungen und Rückkoppelung oder das, was man heute Interaktivität nennt, in den Vordergrund gestellt haben, findet in der Frühen Neuzeit eine Umorientierung statt. Diese findet insbesondere auch in der Technologie statt, die für den Buchdruck konstitutiv ist, nämlich durch das Prinzip der linearen, monokausalen, rückkoppelungs armen Spiegelung zwischen den Medien und den Menschen. Das ganze führt zu dem bekannten mechanistischen Weltbild der neuzeitlichen Wissenschaft, aber es ist eben auch die Voraussetzung aller industriellen Technik. Ich habe dieses Prinzip der Verminderung der Rückkoppelungsmöglichkeiten zwischen den einzelnen Medien am Beispiel der Drucktechnologie gezeigt: Zum einen, wie die Patrize möglichst nur die Matrize beeinflußt und man nicht möchte, daß sie sich verändert durch diesen Einschlag. Zum anderen, wie die Letter durch die Matrize geformt wird und man nicht möchte, daß die Matrize sich bei jedem Guß verändert. Letztendlich, wie der Ausdruck bestimmt wird durch die Letter und man nicht möchte, daß die Letter sich durch die verschiedenen Druckvorgänge verändert. Diese Form des Denkens ist typisch für die Neuzeit, sie ist typisch für die typographische Technik, sie ist typisch für das Denken von Gutenberg, und insofern beginnt die Neuzeit auch mit dieser Form des Denkens, mit dem Buchdruck. Insbesondere wird sie dadurch bestärkt. Ich spare mir an dieser Stelle meinen Schlußteil. Ich kündige nur an, daß es natürlich Folgelasten dieser Entwicklung gibt. Mit diesen Folgelasten der Entwicklung habe ich mich in dem Buchdruck-Buch nicht auseinandergesetzt. Darin habe ich eher die Lobeshymne auf den Buchdruck gesungen. Aber es gibt natürlich die Schwächen und die Mystifizierungen. Mit diesen Themen habe ich mich in den vergangenen fünf bis zehn Jahren befaßt. Selbstverständlich hoffe ich auch, daß dieses Werk auf Dauer fertig wird. Es wird nicht mehr in der klassischen Form als gedrucktes Buch erscheinen, son-
dem in multimedialer Form mit CD-ROM und mit Website. 14 Ich denke, daß wir in der Diskussion vielleicht zurückkommen sollten auf einige der Leistungen der Buchkultur, die zu Stolpersteinen für die Nutzung der neuen Medien zu werden drohen.
111. Diskussionsbeitrag von Wemer Faulstich Ich bedanke mich bei den dafür verantwortlichen Frühneuzeithistorikern, daß sie die Begegnung zwischen den Historikern und den Medienwissenschaftlern befördert haben und befördern. Das ist eine Seltenheit. Als ich vor sieben, acht Jahren begonnen habe, mich der Aufgabe einer Mediengeschichtsschreibung zu stellen, habe ich keinerlei Hilfen und auch nur sehr, sehr wenige Vorarbeiten bei den Historikern gefunden. Ich freue mich sehr, daß das jetzt anders ist. Die zentrale Frage lautet: "Begann die Neuzeit mit dem Buchdruck?" Und im Gegensatz zu Herrn Giesecke würde ich sagen: Nein. Für mich ist das eine Frage der Zäsur im historischen Wandel, folglich eine Frage der Periodisierung. Für die Medienwissenschaft gilt, daß Medien für Gesellschaft zentrale Funktionen haben und schon immer hatten: Orientierungsfunktionen, Steuerungsfunktionen, Integrationsfunktionen. Gesellschaft ist und war auch schon immer Mediengesellschaft. Das heißt: Medien sind teils Ursachen, teils Folgen, jedenfalls konstituierende Bestandteile gesellschaftlicher Umwälzungen. Gesellschaftlicher Wandel ist immer, zumindest auch - wenn nicht primär - Medienwandel. Ich weiß, daß es provokativ für die Historiker klingt, wenn ich sage, jede Zäsur ist Folge einer Medienrevolution. Oder abgeschwächt: jede Zäsur ist zumindest mit einer Medienrevolution verbunden. Das Problem der Mediengeschichtsschreibung besteht darin, daß sie sich nicht nur einem einzelnen Medium widmet, wie die Buchwissenschaft dem Medium Buch, die Filmwissenschaft dem Medium Film, die Fernsehwissenschaft dem Fernsehen usw., sondern daß sie versuchen muß, alle Medien in einer Zeit in ihrer Verknüpfung miteinander, in ihren politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Funktionen zu fassen. Das war die Frage, die im Kontext der Beiträge zu den klassischen Druckmedien angesprochen ist. Das heißt, es geht darum, Medien als ein System, als Medienkultur zu begreifen. Wenn man das versucht, muß man eine Zäsur der gesellschaftlichen Entwicklung ebenso wie der Medienentwicklung etwa um 1400 setzen, als der 14 Das Werk ist inzwischen erschienen: Michael Giesecke, Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft - Trendforschungen zur kulturellen Medienökologie. Frankfurt am Main 2002. Mit CD-ROM und website (www.mythen-derbuchkultur.de).
Wandel von der Oralität zur Literalität begonnen hat - Wandel dann verstanden als ein Prozeß des Umschwungs, der sich über dreihundert Jahre erstrekken sollte. Natürlich ist dabei der Kontrast wichtig zum Mittelalter. Mein Beitrag in dieser mehrbändigen Geschichte war ein Beitrag über die Medienkul.:. tur des Mittelalters, der mir unglaubliche Kritiken von Historikern, speziell von Mediävistenkollegen, eingetragen hat. 15 Das ist vielleicht bekannt. Vor 1400 gab es selbstverständlich auch Medien, die entsprechende Funktionen des Speicherns, der Informationsvermittlung, der Kommunikation, der Unterhaltung usw. wahrgenommen haben. Die Publizistikwissenschaft nennt sie Primällnedien, aber das ist eher verschleiernd. Ich nenne sie Menschmedien - ein schlechter Begriff; wenn jemand von Ihnen einen besseren weiß, bin ich dafür durchaus offen. Menschmedien heißt - zum Medienbegriff kann ich später genaueres sagen -, daß ganz bestimmte Systeme oder Instanzen ich nenne die wichtigsten: der Hofnarr, der Minnesänger, der Prediger, der Magister, der Erzähler, die Erzählerin und ähnliche - Medienfunktionen übernommen haben. Diese Menschmedien wurden im Mittelalter verstärkt durch sogenannte Schreibmedien, also den Brief, das Blatt, die Wand, das Buch das Buch existierte natürlich im Mittelalter auch schon -, mit sozialpublizistischen Funktionen. Das Ende des Mittelalters war dadurch gekennzeichnet, daß die verschiedenen Teilöffentlichkeiten, konstituiert durch je spezifische Medien und Mediengruppen, durch sogenannte intersystemische Medien, zerfielen. Bestimmte Kommunikations- und Infonnationsprozesse haben sich nicht mehr an die etablierten, festgelegten Grenzen gehalten. Grenzen wurden aufgebrochen - eine Tatsache, die aus medienhistorischer Sicht das Ende des Mittelalters mit herbeigeführt hat. Die Zäsur war etwa um 1400. Die Ausführungen von Stephan Füssel in der ersten Sektion vermögen wichtige Eckdaten in Erinnerung zu rufen: 14. JahrhundertlEnde des 14. Jahrhunderts: Papier kam in Italien auf, ab 1390 Papiermühlen in Nürnberg und anderswo, ab 1398 Holzschnitt, Blockdruck usw. in Europa, frühe Buchbindereien, Schreibstuben, 1450 dann Gutenberg, 1490für das Medium Brief enorm wichtig - die Etablierung der Post als System. Solche Daten gibt es genügend, aber wichtiger für die Zäsur ist, daß die traditionellen Medien des Mittelalters in ihrer gesellschaftlichen Prägung verschwanden bzw. irrelevant wurden oder auch schlicht einen Funktionswandel' erlebten. Die zweite Zäsur lag etwa um 1700. Hier war die Trennung der Druckmedien von den Menschmedien im wesentlichen abgeschlossen. Ab der Zeit um 1700 war eine Dominanz der Druckmedienkultur in der europäischen Gesellschaft gegeben und damit die Entstehung der bürgerlichen Mediengesellschaft ins Leben gerufen. Ich erwähne zwei, drei Punkte zur Verdeutlichung: 15
Faulstich, Medien und Öffentlichkeiten im Mittelalter: 800-1400 (wie Anm. 9).
Die Menschmedien wurden nach 1700 endgültig von Druckmedien abgelöstzum Beispiel wird der Erzähler/die Erzählerin abgelöst von der Buchvorleserin oder der Märchenvorleserin. Oder der Ausrufer, der die Informationen der Herrschaftsschicht an das Volk vermittelt hat, durch das Intelligenzblatt beispielsweise. Der Prediger zum Teil durch die Zeitschrift. Der Lehrer durch das Lehrbuch. Sogar das Theater - ein Menschmedium par excellence - wurde verstärkt durch das Lesedrama abgelöst. Ein anderer Gesichtspunkt: Die neuen Druckmedien, vor allem Zeitung, Brief, Buch, Zeitschrift, waren integrativ miteinander verflochten. Medienverbund war relevant. Ein Markt entwickelte sich. Und diese neu entstehende Printmedienkultur produzierte eine neue Art von Öffentlichkeit: die sogenannte bürgerliche Öffentlichkeit - eben insofern diese Art von Medienproduktion und -rezeption das Bürgertum als Schicht, als Klasse identifizierte abgrenzend nach oben zu den feudalen Repräsentationsmedien, etwa dem Herold oder auch einem Gestaltungsmedium wie dem Schloß, und nach unten auch die Medien des Volkes zurückdrängend: das Fest, das Volkstheater, den Tanz u. ä. Der Preis dieser Identifikationsstiftung des Bürgertums durch die Printmedien war Abstraktifikation, war - wenn Sie wollen - Entsinnlichung. Das heißt, die bürgerliche Medienkultur ist zentral vom Lesen geprägt - eine ganz abstrakte Geschichte! Eine dritte Zäsur lag um 1830. Danach sollte das Zeitalter der Massen beginnen, das Zeitalter der Massenmedien, das Zeitalter von Dampfpresse, Papiermaschine, Heftmaschine, das Zeitalter von Fotografie, Illustrierter, Plakat, Litfaßsäule. Das heißt, die neuen elektronischen Medien angefangen von der Fotografie über die Schallplatte, Film bis Computer und Fernsehen in Frühform haben sich danach entwickelt. Ich komme zum Ausgangspunkt zurück und schließe mein einleitendes Statement. Die Neuzeit begann nicht mit dem Buchdruck. Auch nicht mit dem Buch. Auch nicht mit dem Druck. Die Neuzeit begann mit dem Wandel der Medienkultur. Die nächste Medienrevolution nach einer Übergangsphase setzte dann um 1900 ein. Und im beginnenden Zeitalter der digitalen Medien heute, um die zweite Frage dieser Podiumsdiskussion aufzugreifen und überzuleiten, ist nicht die Typographie obsolet oder überholt, wohl aber die Dominanz der alten Druckmedienkultur. Die gibt es nicht mehr. Und auch die Dominanz der alten elektronischen Medienkultur wird in absehbarer Zeit von den digitalen Medien abgelöst sein. Noch ist das nicht der Fall. Vor zwei Tagen, am 11. September, haben wir alle gesehen, wie bei einem weltrelevanten Ereignis die Medien Information transportieren. Das World Wide Web ist zusammengebrochen, das Internet hat versagt. Das Fernsehen und die Presse, vor allem das Fernsehen, haben die Massen überall in den westlichen Kulturen angezogen und alle haben diese Medien benutzt. Noch ist die Vorherrschaft der elektronischen Medien nicht gebrochen.
IV. Diskussionsbeitrag von Johannes Burkhardt Ja, ich freue mich zunächst einmal, daß wir Historiker mit den beiden Kommunikationswissenschaftlern, die meine Lieblingsbücher in diesem Bereich geschrieben haben, sprechen können. Ich meine, daß beide uns sehr viel zu sagen haben, aber daß das, was sie sagen, nicht immer das ist, was auch wir meinen müssen. Zunächst zu Michael Giesecke und seinem großen Werk. Ich habe mit Interesse gehört, wie das weitere Denken des Autors verlaufen ist. Wenn ich das pointiert zusammenfasse: Michael Giesecke ist weiter wie auch ich der Meinung, mit den Druckmedien habe die Neuzeit begonnen, aber er findet es heute nicht mehr so gut, was da geschehen ist. Während Werner Faulstich sozusagen den Stand seines Buches aufrechthält und zur Frage, ob die Neuzeit mit dem Buchdruck begonnen habe, klar nein sagt. Aber so etwas ähnliches wie eine Medienrevolution ist in seiner Perspektive dann um 1400 doch der Fall, und über 100 Jahre hin oder her kann man natürlich immer leicht streiten, so daß wir so weit gar nicht auseinander liegen. Aber ich will auch ganz klipp und klar sagen, damit die Positionen klar sind: Ja, die Neuzeit hat mit dem Buchdruck begonnen. Meine Überlegung ist folgende bei dieser vereinbarten Ausgangsfrage: Wir haben als Frühneuzeitier ja eine Epochendiskussion geführt, auf die hier noch einmal Bezug genommen wurde. Wir Historiker führen keine Epochendiskussion darüber, welches die wichtigste Zäsur der Mediengeschichte ist, sondern ob eine mediengeschichtliche Zäsur für uns so wichtig ist, daß wir sie auch zur Zäsur für alles andere erheben. Und da nehmen wir einfach mal die prominenteste. Das heißt, wir haben vorher eine geschichtswissenschaftliche Debatte darüber geführt, ob zum Beispiel die Reformation vielleicht die entscheidende Zäsur ist, aber inhaltlich ist sie uns nicht mehr so wichtig heute ob allein durch den Glauben, "mit, in und unter ... ", das ist doch kein Neuzeitkriterium, da kommen wir nicht weiter. Bei anderen Dingen, die uns wichtig sind, wie das Thema Amerika, merken wir, das hat um 1500 noch gar nicht gegriffen. Der Schnitt liegt gerade auf dem Felde der europäischen Expansion eigentlich erst im 17./18. Jahrhundert, wenn nicht noch später. Das ist auch keine geeignete, fachbegründende Zäsur für die Frühe Neuzeit. Und hier meine ich nun, ist Buchdruck, Typographie, Textreproduktion alSo) Kriterium einfach wichtig. Und wenn wir uns jetzt erst einmal an das zeitgenössische Bewußtsein halten, und das habe ich aus dem Werk von Giesecke gelernt, ist das einer der ganz wenigen Punkte, über den bereits zeitgenössisch ein Innovationsbewußtsein ganz deutlich zu greifen ist. Die "ars nova scribendi" wird gepriesen, eine erfindungsreiche Kunst. Erst geht es - in den Worten von Giesecke - um eine "Schönschreibmaschine", dann merkt man: Die kann ja viel mehr, wir können ja viel mehr und viel schneller drucken als schreiben. Das ist derartig singulär um 1500 und noch im ganzen 16. Jahrhun-
dert, daß man eine Neuerung als positiv bewertet, daß allein schon das ein Kriterium ist. Man nimmt etwas Neues wahr und bewertet es positiv! Die Reformation, die Renaissance hingegen, alle dachten im Grunde in umgekehrter Zeitrichtung und wollten zu alten Zuständen zurück. Daß die Alten schon gedruckt hätten, konnte man jedoch beim besten Willen nicht behaupten. Hier also ist wirklich ein Neuerungsbewußtsein, ein positives Innovationsbewußtsein zum ersten Mal zu fassen, und das ist schon ein erstes Kriterium, meine ich, für eine historische Zäsur. Wir müssen aber weiter fragen: Hat das, was da durch den Druck passiert ist, tatsächlich Relevanz für die allgemeine Geschichte? Und auch da würde ich sagen: auf jeden Fall. Welche Relevanz hat das neue Medium für die Epoche? Nun, zuerst einmal nach der Erfindung von Gutenberg im 15. Jahrhundert - geben wir es ruhig zu - überhaupt keine. Das war eine ziemlich aufwendige, extreme Spitzentechnologie - erst die Patrize, dann die Matrize, schließlich die Letter und so weiter, wunderschön nachzulesen wie es funktioniert bei Herrn Giesecke - und der ganze Aufwand für einen doch noch beschränkten Bedarf. Wenn man nämlich Hans-Jörg Künasts einschlägiges Buch liest, stellt man fest, daß um 1500 der in seinen Produktions zahlen schon sehr hoch entwickelte Buchdruck gegen Null heruntergeht und dann dort herumpendelt. 16 Und wann steigt er wieder auf? Exakt im Jahre 1517 gab es einen steilen Aufstieg, und das galt - Hans-Joachim Köhler ist auch da und kann das als Experte bestätigen 17 - für alle deutschen Flugschriften. Die Konjunktur begleitete praktisch die Reformationsgeschichte von 1517 bis 1525 mit exponentialern Wachstum und stabilisierte sich dann auf einer mittleren Linie. Woran könnte dieser plötzliche Aufschwung - jedenfalls wenn man das eigentlich progressive Genre, die Flugschriften, nimmt - denn liegen? Das liegt daran, daß man vorher nichts anderes gemacht hatte als bei den Handschriften. Was man vorher abgeschrieben hat - Aristoteles oder die lateinischen Klassiker, die lateinische Bibel, auch einmal eine schlechte deutsche, die aber niemand interessiert hat -, wurde nun gedruckt, aber dieser Markt des Nachdruckens von vorhandenen Handschriften hatte seine Grenzen. Jetzt aber, 1517, kommt Luther, und er ist der erste - so ähnlich steht es bei einem der bei den Medienhistoriker auf dem Podium -, der sozusagen in die Druckpresse hineindiktiert. Der also etwas schreibt, damit es gedruckt wird, das aktuell ist und Meinung trägt. Seither wird für die Druckpresse, für die Verbreitung, für die neue Verbreitungsmöglichkeit überhaupt geschrieben. Das ist der ganz entscheidende Punkt, und wenn Sie die Reformationsgeschichte mit diesem Starautor durchgehen, da knistert es ja förmlich von Papier, ja, Luther und seine Mitstreiter
sind von Station zu Station ihre eigenen Berichterstatter. Luther wird verhört von Cajetan, und als nächstes publiziert er das. Luther verbrennt des Papstes Bücher, und als nächstes erscheint die Schrift, warum Martin Luther des Papstes Bücher verbrannt hat. Das heißt, Luther und die Reformation - das ist der erste historische Vorgang, der gleich als gedruckte Reportage verbreitet wurde, kein Wunder, daß dies das historische Bewußtsein bis heute prägt. Es ist ein völlig neuer Stil des Umgangs mit diesem Medium. Insofern könnte man tatsächlich sagen, das Neuzeitliche ist nicht nur die Technologie, sondern die Art, wie man damit umgeht. Daß man erst einmal entdeckt, was man damit machen kann. Und das ist sicher in der Reformationszeit passiert. Und dazu kommt nun auch noch die passende "Medientheologie". Dazu haben beide anwesenden Medienexperten geschrieben, und das hat mir sehr eingeleuchtet. Einmal die Ablösung des "Menschmediums" Priester (Faulstich), den man nicht mehr braucht, wenn man den Text derartig erhöht, daß er eigentlich die göttliche Botschaft trägt und jeder die Möglichkeit hat, sie abzurufen, indem man sie publiziert und allen zugänglich macht. Die Bibel, der "zentrale Informationsspeicher des Glaubens" (Giesecke), Gott erscheint sozusagen auf dem Heimcomputer, wunderbar! Nun versteht man auch, warum das einen derartigen Eindruck gemacht hat, denn das war eine ganz neue Nutzanwendung dieses Mediums und begründete die Auszeichnung des Textes vor allem anderen. Diese besondere Dignität des Textes, vor allem aber des gedruckten Textes - Herr Giesecke verwendet hier gern das schöne Wort ,prämiert' - wurde auch verallgemeinert. Das trifft sich dann auch mit älteren Beobachtungen zur protestantischen Textorientierung, und wir wissen jetzt auch, weshalb: da steckt ein bleibender Wahrnehmungswandel dahinter. Denn uns erscheint vielleicht nicht mehr Gott auf dem Bildschirmtext, aber vielleicht die Wissenschaft. Das ist ein bleibender historischer Wandel zum Text hin, der hier zuerst zu greifen ist. Und dann - ganz wichtig in dieser Zeit für die Geschichte: es ist die erste Herstellung der Öffentlichkeit. Wirklich die erste Herstellung der Öffentlichkeit in dem Sinne, in dem Jürgen Habermas den Begriff eingeführt hat. lS Erinnern wir uns, er hat über das 18. Jahrhundert geschrieben, und erst dort gibt es für ihn ordentliche Öffentlichkeit, die höfische vorher war ihm nichts Gescheites. Da haben wir Historiker uns verblüfft gefragt: Ja, was er da für das18. Jahrhundert beschreibt, gab es das denn nicht auch schon in der Reformationszeit? Und Rainer Wohlfeil hat die richtige Konsequenz gezogen. Das war damals vielleicht ein bißchen anders, "reformatorische Öffentlichkeit" eben, aber Öffentlichkeit durch diese Verbreitungsmöglichkeit identischer Texte. 19
16 Hans-Jörg Künast, ,Getruckt zu Augspurg'. Buchdruck und Buchhandel in Augsburg zwischen 1468 und 1555. (Studia Augustana, Bd. 8.) Tübingen 1997. 17 Vgl. dazu Hans-Joachim Köhler (Hrsg.), Flugschriften des frühen 16. Jahrhunderts. Mikrofiche-Edition in 33 Teilen. Zug 1978-1987.
Vgl. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit (wie Anm. 5). Rainer Wohlfeil, ,Reformatorische Öffentlichkeit', in: Ludger GrenzmanniKarl Stackmann (Hrsg.), Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. 18
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Das hat die Agenda schon derartig festgeklopft, daß alle und jedermann über nichts anderes schrieben als über das Evangelium. Also eigentlich wieder über den Text selbst. Der kommt sozusagen zweimal vor. Das ist ganz ungeheuerlich. Und was kam dabei heraus? Die erste mediengestützte Massenbewegung der Geschichte, nämlich der sogenannte Bauernkrieg! Der hat auch soziale Gründe, auch politische, aber es gelingt ja nicht zu erklären, warum er ausgerechnet 1525 ausbrechen mußte, weil es die politischen und sozialen Gründe auch vorher gegeben hat. Was hat dann eigentlich dem Bauernkrieg seine Einheit gegeben? Ich sage es Ihnen: Luther hat 1522/23 das Neue Testament herausgebracht und in der ersten Lieferung den Anfang des Alten Testaments, auf den es ankam für biblische Einsichten wie: "Als Adam grub und Eva spann - wo war denn da der Edelmann?" Und 1524 haben alle darin gelesen. Das läßt sich nachweisen, daß die Lutherübersetzung gelesen wurde. Das war das Lektürejahr der deutschen Geschichte. 1525 ging es los. Man zog die Konsequenzen. Das war, wie Peter Blickle sehr schön sagt, eine "Verträglichkeitsprüfung" der tatsächlichen Verhältnisse mit dem Evangelium. 20 Und was nicht paßte, wurde abgestrichen und geändert, erst von Luther im religiösen Kult, dann in den gesellschaftlichen Verhältnissen. Hier hat wirklich ein Medium eine Massenbewegung initiiert. Und außerdem natürlich auch auf dem normalen Weg über die Flugschriften und durch den Druck der Zwölf Artikel mit den Bibelstellen am Rande in großer Verbreitung. Thomas Müntzer hat am Ende niemand mehr gedruckt, sondern erst nachträglich, da mußte er natürlich verlieren. An diesem Beispiel des Bauernkrieges sieht man den Anfang der Wirkung des Mediums, das sofort in die Gesamtgesellschaft hineingreift, und jetzt hat hier einer nach dem anderen praktisch den Stab in die Hand genommen. In der politischen Geschichte Karl V. mit seinen berühmten Propagandaschriften da sitzt Heinz Duchhardt, der darüber geschrieben hat21 - oder man denke hier sitzt Herr Schulze - an die Türkenkriegsflugblätter und -flugschriften22 , so daß die ganze Politik praktisch durch diese persuasive Kommunikation umgeformt wurde. So war dann der Dreißigjährige Krieg, der mit seinen vielen Flugblättern der Flugblattkrieg schlechthin geworden ist, ein Medien-
Symposion Wolfenbüttel 1981. (Germanistische Symposien-Berichtbände, Bd. 5.) Stuttgart 1984,41-52. 20 Peter Blickte, Reformation und kommunaler Geist. Die Antwort der Theologen auf den Verfassungswandel im Spätmittelalter, in: HZ 261, 1995,365-402, hier 392. 21 Heinz Duchhardt, Das Tunisunternehmen Karls V. 1535, in: Mitteilungen des ästerreichischen Staatsarchivs 37, 1985, 35-72. 22 Winfried Schulze, Reich und Türkengefahr im späten 16. Jahrhundert. Studien zu den politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen einer äußeren Bedrohung. München 1978.
krieg. Vielleicht auch die Französische Revolution. Aber da würde ich dann vielleicht Frau Gersmann fragen. Ich fasse zusammen: Fortan ist nichts Relevantes passiert, was auch ohne die Druckmedien denkbar gewesen wäre. Natürlich gibt es noch andere Dinge, aber sie sind ein Leitmedium darin, sie initiieren, vereinheitlichen, legitimieren, stabilisieren auch bei der Institutionenbildung, Konfessionsbildung und so weiter. Die Neuzeit ist ein typographiegestütztes Zeitalter, lautet das Fazit. 23 Das alles galt der synchronen Kommunikation in dieser Epoche. Ich hätte gerne noch etwas zur diachronen Kommunikation gesagt, denn da hätten wir auch die neuzeitliche Wissenschafts geschichte stärker hereinbekommen. Aber meine Zeit ist abgelaufen.
v. Diskussionsbeitrag von Gudrun Gersmann Im Unterschied zu meinen Vorrednern möchte ich vom 21. Jahrhundert ausgehen und den Weg zurücklenken. Als geeigneter Einstieg in diese Diskussion erschien mir eine Debatte interessant, die in diesem Jahr 2001 in renommierten amerikanischen Presseorganen geführt wird und die ich außerordent1ich faszinierend finde. Es geht um die Thesen des Schriftstellers und Bibliophilen Nicholson Baker, der im Frühjahr 2001 - soeben hat die Frankfurter Allgemeine Zeitung darüber kurz berichtet - ein Buch unter dem Titel "Double Fold" veröffentlicht hat, in dem er die schonungslose Härte - den bibliothekarischen Vandalismus, wie er es nennt - an den Pranger stellt. 24 Anlaß dafür ist die gängige Praxis großer amerikanischer Bibliotheken, einen Teil ihrer historischen Buch- und Zeitschriftensammlungen nach der Durchführung von Sicherungsmaßnahmen, das heißt nach der Digitalisierung und nach der Mikroverfilmung, zu zerstören oder zu verkaufen. Baker nennt diese Praxis eine "Guillotinierung von Büchern" und wirft im Tone eines überzeugten ,J'accuse' den Bibliothekaren vor, sie täten nichts anderes, als systematisch die Geschichte aus dem kollektiven Gedächtnis zu verdrängen. Die Bibliotheken selbst sehen nun diese Handlungen sehr pragmatisch und begründen ihr Vorgehen einer: seits mit gravierenden Raumproblemen. Sie würden von Buchrnassen erschlagen und bräuchten die platzsparenden digitalen Speichermedien und sähen darin die einzige Zukunftslösung. Zum anderen argumentieren sie mit den
23 V gl. insgesamt Johannes Burkhardt, Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung 1517-1617. Stuttgart 2002. 24 Nicholson Baker, Double Fold. Libraries and the Assault on Paper. New York 2001.
Notwendigkeiten der Bestandserhaltung gegenüber der Problematik des stark säurehaltigen, sich selbst auflösenden Papiers. Man kann natürlich unterschiedliche Positionen zu dieser Debatte einnehmen, die in den amerikanischen Bibliothekarskreisen hohe Wellen geschlagen hat. Einer der großen, führenden Bibliothekare in den USA hat dies mit zwei Kommentaren begleitet. Zum einen mit dem Kommentar, daß er es für ausgeschlossen halte, daß Nicholson Baker je an das Festpult der jährlichen Jahreshauptversammlung der amerikanischen Bibliothekare eingeladen werde. Zum anderen aber mit der weit signifikanteren Bemerkung, daß er sich niemals habe vorstellen können, daß bibliothekarische Angelegenheiten es einmal auf die erste Seite in die Schlagzeilen der New York Times schaffen würden. Sicher ist diese Debatte in vielerlei Hinsicht von Polemiken geprägt, aber sie rührt dennoch an etwas, was über einen esoterischen Gelehrtenstreit hinausgeht. Sie rührt nämlich mit dem apokalyptischen Szenario, das man dahinter sieht, durchaus an das Mark einer der Kultur verpflichteten Gesellschaft, und vor allen Dingen zeigt sie, daß die Objekte unserer Forschung als Buchhistoriker vielleicht in ihrem physischen Sinne so lange gar nicht mehr existieren werden. Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an die Digitalisierungsprogramme großer europäischer Bibliotheken, wie der Bibliotheque de France, die einen beträchtlichen Bestand ihrer Werke in der Gallica-Sammlung digitalisiert hat. Das alte Erlebnis des Paris-Forschers, der in der Bibliotheque Nationale in der Rue de Richelieu forschte, der sich also noch nicht in die megalomanischen Türme der Bibliotheque de France transferieren mußte, bleibt nicht länger haften, sondern der künftige Buchforscher wird vermutlich auf die Bestände von Gallica zurückgreifen - und die physische Präsenz des Buches nicht mehr haben. Man könnte es so formulieren, daß sich möglicherweise im Kontext dieser Digitalisierungsprogramme im Windschatten der Öffentlichkeit ganz allmählich, aber auch sehr deutlich ein Akt der physischen Vernichtung klassischer Buchtraditionen vollzieht. Dieses Beispiel, das ich "gar nicht weiter ausfalten will, zeigt für mich eines, nämlich daß eine Einbeziehung dieser Thematik der neuen Medien kein modisches Dekor darstellt, sondern im Grunde eine Notwendigkeit auch bei einer Tagung zur frühneuzeitlichen Medienkultur. Denn wenn auf der einen Seite - wie es in einer Presseerklärung der Augsburger Veranstalter heißt - die Informationsgesellschaft ihre historischen Wurzeln kennen muß, darf sich auf der anderen Seite natürlich die Auseinandersetzung mit der flühneuzeitlichen Mediengeschichte nicht auf den Zeitraum zwischen 1500 und 1800 beschränken, sondern muß sich auch öffnen für die Frage der Einbeziehung der neuen Medien. Michael Giesecke, von dem ich ganz unterschiedliche Publikationen kenne - vom Buchdruck in der Frühen Neuzeit bis zum elektronischen Museum -, hat diesen Brückenschlag zwischen alten und
neuen Medien in einer Vielzahl von Werken auch schon vollzogen. Zum anderen scheint mir, daß das, was in der Auseinandersetzung um die Thesen Bakers immer wieder formuliert wurde - die Auseinandersetzung nämlich über den Stellenwert des Wissens über Bücher, die man beseitigen kann, und Bücher, die man erhalten muß -, daß diese Auseinandersetzungen im Grunde auch erst in einem epochenübergreifenden Vergleich angegangen werden können. Erst in der Zusammenschau der Medienrevolution des 16. bis 18. und auch der des 20. Jahrhunderts wird man säkulare Veränderungsprozesse von Gesellschaft, wird man Prozesse der Etablierung fester Speichermedien mit Wahrheitsanspruch, und wird man schließlich auch den Prozeß einer medialen Überwindung von Zeit und Raum - angefangen beim frühneuzeitlichen Postreiter bis hin zur E-Mail-Benutzung - rekonstruieren können. Dies alles muß gekoppelt sein mit einer Fülle unterschiedlicher Herangehensweisen, die einerseits den neurophysiologischen Prozessen, auf der anderen Seite aber auch den kognitiven, intellektuellen Prozessen der Informationsverarbeitung Rechnung trägt. Bei diesem epochenübergreifenden Vergleich kann man auf der einen Seite sehr deutlich die Parallelen der Medienrevolutionen sehen. Viele Diskussionen - es wurde gerade schon angesprochen -, die im Moment über die Zensur im Internet oder über Autorenrechte im elektronischen Zeitalter geführt werden, finden sich mit ihren Argumenten durchaus so im 18. Jahrhundert wieder. Aber ich greife auch das Beispiel von Werner Faulstich noch einmal auf. Wir haben vor zwei Tagen, am 11. September, gesehen, wo tatsächlich die Unterschiede zum 21. Jahrhundert existieren. Natürlich ist das Internet zusammengebrochen, was auf die Fragilität dieses Mediums deutet. Auf der anderen Seite war eine Stunde nach dem Anschlag in New York das Wissen darüber weltweit verbreitet. Zwei Stunden später gab es die ersten Zusammenfassungen, Tageszusammenfassungen: der Terroranschlag im Rückblick. Dies ist eine Akzelerierung eines Mediums in einer Massenhaftigkeit, wie sie in dieser Form nicht existiert hat und wie sie auch dazu zwingt, sich in der einen oder anderen Form damit auseinanderzusetzen. Welche Schlußfolgerung kann man aus der Baker-Debatte ziehen? Audf hier möchte ich mich noch einmal auf Giesecke und Faulstich beziehen, die das Thema angedeutet haben. Man kann daraus natürlich zum einen die Konsequenz ziehen, die ganze Sache zu betrachten, wie Robert Darnton sie betrachtet, als "great book massacre", aus dem nichts anderes hervorgehen wird als die Vernichtung kultureller Traditionen. 25 Auf der anderen Seite kann ge25 Robert Damton, The Great Book Massacre. Rezension von N. Baker, in: The New York Review ofBooks, Vol. 48, Nr. 7, 26. 4. 2001.
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rade diese Auseinandersetzung um die Digitalisierung, um das Schicksal der Bücher im elektronischen Zeitalter, vielleicht auch dazu führen, was Herr Giesecke gerade mit einer Diskussion über die Entmystifizierung der Buchkultur angesprochen hat. Hat die jahrhundertelange Apotheose des Buches nicht vielleicht doch einen gewissen Tunnelblick herbeigeführt? Einen Tunnelblick, der das Buch zum Herz aller Dinge erklärt? Muß man dies nicht - und das ist eigentlich eine rhetorische Frage - gerade im jetzigen Zeitalter, im digitalen Zeitalter, relativieren? Inwieweit stehen das Buch oder die Typographie generell nicht auch für kulturelle Verlusterfahrung, die man in der einen oder anderen Weise definieren könnte? Zum einen im Hinblick auf orale Kommunikation, zum anderen aber auch im Hinblick auf den Verlust von kollektiven Kommunikations-, Rezeptions- und Wahrnehmungs weisen, wie sie in Gieseckes Mediengeschichten auch angesprochen worden sind. Im übrigen sind Klagen und skeptische Formulierungen gegenüber der Wirkmächtigkeit des Buches nicht neu. Die Entmystifizierung des Buches wurde im französischen 18. Jahrhundert in einer geradezu topischen Literatur immer wieder betont mit Formulierungen, die über das Siede des lumieres nur so überschwappten. Welche Konsequenzen kann man daraus ganz forschungspragmatisch ziehen? Ich möchte am Ende meines kurzen Statements nur auf ein Beispiel verweisen, auf einen Paradigmenwechsel der französischen Forschung, die mir ein bißchen vertraut ist, den ich sehr signifikant finde. Vielleicht könnte man daraus den einen oder anderen Diskussionspunkt auch noch mit entwickeln. Die französische Buchgeschichte des 18. Jahrhunderts war lange Zeit von einem ungebrochenen Glauben an die Macht des gedruckten Werkes geprägt. Nach Daniel Mornet im frühen 20. Jahrhundert waren es vor allem Roger Chartier und Robert Darnton, die immer wieder etwa im Frankreich der prerevolution einen kausalen Zusammenhang zwischen der Verbreitung von Schmähschriften und Broschüren und dem Anwachsen einer politischen Sensibilisierung und Radikalisierung im Umfeld der Revolutionen hergestellt haben. "Riot books caused a revolution. A reading of Robert Darnton" hat David Bell noch vor wenigen Jahren seine Hommage an Robert Damton überschrieben, in der noch einmal der kausale Zusammenhang in Darntons Arbeiten von Buchkultur, Revolution und Radikalisierung betont wurde. Interessanterweise hat Darnton, der Altmeister der französischen Revolutions- und Buchforschung des 18. Jahrhunderts, selbst eine erstaunliche Kehrtwendung vollzogen, indem er das alte Kausalmodell von Buchlektüre und dadurch bedingter Politisierung durch das explizite Postulat einer Archäologie der mündlichen Kommunikation nun durchbricht. Der gleiche Robert Darnton, der jahre- und jahrzehntelang über das Lesen und Schreiben im revolutionären Frankreich geschrieben hat, fordert nun eine Untersuchung der schwer faßbaren Gerüchte, eine Untersuchung der subver-
siven Kommunikationen im Palais Royal und vor allem eine Untersuchung der handgeschriebenen kleinen Nachrichtenblättchen, die im 18. Jahrhundert en masse als Medium der Informationsgesellschaft der Pariser Kultur zirkulierten. "How did you find out wh at the news was in Paris not by reading in newspaper" ist das Fazit, das er aus seinen neuesten Forschungen gezogen hat26 , die im übrigen durch eine ganze Reihe von Studien aus anderen Kontexten - wie etwa in einer breiten Spanne von Arbeiten von den Kaffeehäusern im Stuart-England über Teehäuser in China bis hin zur marokkanischen Marktplatzkultur der Gegenwart - unterstützt werden. Wenn man damit zum Ende kommt, könnte man als Fazit formulieren: Dieser Prozeß einer Entmystifizierung des Buches, der in ganz unterschiedlichen Kontexten gespiegelt werden kann, könnte kulturpessimistisch begriffen werden in gewisser Weise als das Ende einer Kultur, die in der Frühen Neuzeit und in der Reformation ihren Aufschwung mit der Typographie genommen hat. Wenn auf der anderen Seite der Buchdruck immer nur ein Medium neben anderen gewesen ist und vielleicht sogar die Existenz anderer Kommunikationsformen aus dem Denken der Zeitgenossen und der Nachwelt verdrängt hat, dann wird das Ende der europäischen Buchtradition - sollte es sich tatsächlich im Rahmen solcher Massendigitalisierung abzeichnen - auch nicht das Ende aller Kulturen bedeuten.
VI. Podiumsdiskussion Schulze: Vielen Dank. Ich bedanke mich zunächst einmal bei den Diskutanten für ihre sehr klaren Statements. Herr Burkhardt hat nun den Versuch gemacht, die Differenzen mit Herrn Faulstich zur Datierung der neuzeitlichen Medienzäsur ein bißchen wegzuwischen, und hat etwas locker gesagt: Über 100 Jahre kann man reden. Da hat man aber doch den Eindruck, daß diese lockere Aussage nicht so ganz auf allgemeines Einverständnis trifft. Ich möchte nun bei Herrn Faulstich nachfragen, ob er das noch einmal kommentieren möchte. Und dann möchte ich dazu eine spezielle Nachfrage an Herrn Burkhardt richten. Zuerst bitte Herr Faulstich. Faulstich: Also, ich glaube, wir sind näher zusammen als uns guttut. Aber die 100 Jahre, das ist mir schon wichtig, beziehungsweise das, was dahinter steht. Buchdruck ist kein Medium. Buchdruck als Druck ist eine Tätigkeit, die hat es vorher gegeben, die hat es nachher gegeben. Die an sich kann nicht epochenbegründend oder zäsurbegründend sein. Ich denke, man muß unterscheiden zwischen verschiedenen Druckmedien. Ich gebe zu, daß die Buchgeschichte, Rohert Darnton, An Early Infonnation Society, in: http://www.indiana.edu/~ahr/darn ton/texts/p02.html. 26
speziell die Buchwissenschaftsgeschichte, munter verschiedene Medien ineinanderwirft. Da spielt es keine Rolle, ob es um das Medium Blatt geht - das Blatt oder Flugblatt ist ein ganz eigenständiges Medium - oder um das Medium Flugschrift oder Heft - das ist wieder ein ganz anderes Medium - oder um das Medium Ablaßbrief oder was immer. 'Es sind alles Medien, die nichts mit dem Buch zu tun haben, aber in der Forschung, auch in der Fachliteratur, finden Sie alles in eins gemengt. Das wird sozusagen von der Buchkultur vereinnahmt. Das ist ein gewisser Imperialismus, der natürlich in einer Buchgesellschaft legitim ist, aber wir sind ja eigentlich nicht mehr in der Buchgesellschaft heute. Das heißt, man müßte jetzt allmählich dazu kommen zu differenzieren, und wenn man differenziert zwischen verschiedenen Druckmedien, dann bedeutet das, daß es nicht mehr um das Medium ,Buch' geht, das im 15. Jahrhundert eigentlich überhaupt keine Rolle oder keine herausragende Rolle gespielt hat, sondern daß es um die Entstehung verschiedener Ausdifferenzierungen von einzelnen Druckmedien geht. Und dann sind wir bei der Printmedienkultur. Und dann sind wir auf einer Linie. Aber der Begriff ,Druck' erklärt überhaupt nichts. Das ist der eine Punkt. Darf ich noch einen zweiten anfügen? Schulze: Bitte. Burkhardt: Darf ich vorher noch einmal rückfragen: Sind Ihre, sind diese Medien, die sie genannt haben, nicht gedruckt? Faulstich: Es sind keine Bücher. Burkhardt: Also ich meine schon Typographie, ich meine nicht das Kulturgut Buch. Faulstich: Also wenn Sie von Buchdruck reden, meinen Sie dann nicht den Druck von Büchern? Burkhardt: Ich verwende Buchdruck in dem Sinne wie es auch Herr Giesecke in seinem Titel "Der Buchdruck in der frühen Neuzeit" tut, damit sozusagen die Öffentlichkeit weiß, wovon man spricht. Faulstich: Und genau das würde ich als falsch kritisieren. Schulze: Vielleicht ,typographisches System'? Burkhardt: Also ,typographisches Textverarbeitungssystem " damit bin ich vollkommen einverstanden. Wir müssen uns dann streiten, ob das immer Reproduktion mit beweglichen Lettern sein muß oder nicht; Sie, Herr Faulstich, nehmen ja auch die Blockbücher mit dazu. Aber egal wie, auf jeden Fall ein typographisches System. Faulstich: Wenn das Wort ,Kultur' mit reinkommt: ja! Der zweite Punkt: Man muß - denke ich - das Ganze in den Blick nehmen. Das ist notwendig, aber auch außerordentlich problematisch. Vorhin hat jemand darauf abgehoben, daß das Medium Buch natürlich nur einen minimalen, kleinen Bruchteil der Gesellschaft erreicht hat. Daß es eigentlich gesellschaftlich insgesamt völlig irrelevant war. Da waren auch in der Frühen Neuzeit, noch im 17. Jahrhun-
dert, ganz andere Medien relevant. Ich nenne zum Beispiel das Medium Kalender, das von den Buchwissenschaftlern noch nie explizit als eigenständiges Medium betrachtet oder erfaßt worden ist. Oder verschiedene weitere Medien, die eben neunzig Prozent der Landbevölkenmg geprägt haben und nicht nur diese drei oder vier Prozent, die überhaupt imstande waren, sich Bücher finanziell leisten und sie auch lesen zu können. Schulze: Vielen Dank. Burkhardt: Darf ich noch einmal etwas zur Klärung sagen? Schulze: Bitte, Herr Burkhardt. Burkhardt: Das wollte ich noch ausdrücklich sagen: Ich meine nicht Bücher, die man nachher auch gebunden hat, was man sich so unter einem Buch vorstellt. Ich hatte ausdrücklich schon selbst klargemacht, daß mir mit den Flugschriften sogar die eigentliche Spitze der Innovationen zum Vorschein gekommen zu sein scheint. Und das ist dann natürlich auch etwas, was sofort gesellschaftlich relevant ist. Das kann man ja nun 1517 bis 1525 gar nicht bestreiten. Und zumindest das eine klassische Buch, das auch Bibel heißt, hat natürlich durchaus eine große Rolle gespielt im 16. Jahrhundert, eine ganz und gar zentrale. Im 16. Jahrhundert ist das also anders, im 15. Jahrhundert gibt es hingegen ... - ja, dann sind wir vielleicht doch bei der Zäsur um 1500! Schulze: Ich würde gern einmal bei Herrn Burkhardt nachfragen. Sie haben ja sehr stark auf den Buchdruck als epochendefinierendes Element abgehoben und haben damit die Reformation so ein bißchen zurückgeschoben. Sie haben gesagt, das ist heute kein Thema mehr für uns. Aber ist denn nicht auch in Ihren späteren Ausführungen deutlich geworden, daß im Grunde das Faszinierende dieser Zeitenwende, von der wir als Frühneuzeitler ja immer ausgehen, in der interessanten Überlagerung von mehreren Prozessen liegt und daß dies der Grund ist, daß wir von einer eigenen Epoche sprechen können? Ist dies im Grunde jetzt eine nachträgliche - ich sage mal- medienzeitalterbedingte Verkürzung, die wieder nur ein einziges Kriterium herausdefiniert, anstatt davon auszugehen, daß wir ja in einem erstaunlich kurzen Zeitraum eine Fülle von gesellschaftlich tiefgreifenden Veränderungen sich vollziehen sehen, die eben von der Entdeckung der neuen Welt über den Frühkapitalismus, den Buchdruck oder das typographische Zeitalter bis hin zu den Umbrüchen in den Reformationen reicht? Es zählt sozusagen der Zusammenhang der Dinge. Das ist, was uns interessiert, das macht diese Epoche so interessant. Jedenfalls so interessant, daß wir sie als eigene Epoche behandeln können. Ist das nicht ein möglicher Verlust, der bei Ihrer Betrachtung eintreten würde, Herr Burkhardt? Burkhardt: Nein, ich liebe die Reformation. Ich versuche sie zu lehren und versuche sie natürlich auch von einer Seite zu erwischen, von der sie für mich und meine Studenten interessant ist. Das wäre vorauszuschicken. Aber ich meine auch, daß man tatsächlich in einer Art dialektischer Denkbewegung da
dann wieder herankommen kann, Herr Schulze. Die habe ich im Grunde ja vollzogen: Wenn man überlegt, wo die entscheidenden Zäsuren der Mediengeschichte sind, kommt man plötzlich wieder auf die Reformation und kann die Reformation fast als inhaltliche Auslegung dessen, was mediengeschichtlich passiert ist, interpretieren. Zum BeispieHn der Medientheologie, die eigentlich schon eine Medientheorie enthält, zu der Herr Giesecke und Herr Faulstich unter sehr verschiedenen Konzepten ganz entscheidende Punkte gebracht haben, die aber auch inhaltlich im Sinne der Historiker die reformatorische Lehre ist. Also, ich meine, da wir nun mal einen leichteren Zugang haben zu etwas, mit dem wir heute umgehen, kann man von dieser Seite her erst einmal wunderschön beschreiben, was an der Reformation für uns interessant ist. Ich meine, man kann wie bisher sagen, das war die Offenbarung, die Luther wiederentdeckt zu haben glaubte, und dann die Reformationsgeschichte mit allen Problemen erzählen. Man kann aber auch sagen, das Evangelium war das Modebuch der Zeit, das alle gelesen haben, weil sie geglaubt haben, Gott spricht hier direkt zu ihnen. Da versteht man dann besser, was da passiert, und eben dann wird es eine faszinierende Geschichte. Schulze: Aber dazu Herr Faulstich, bitte. Faulstich: Man kann natürlich auch sagen, die Reformation hat sich durchgesetzt, weil sie die modemen Druckmedien benutzt hat. Während die katholische Kirche, doch immerhin die etablierte Kirche, die falschen, die veralteten, nämlich die Menschmedien eingesetzt hat, vor allem Prediger und Priester, die eben in der Reformation keine Rolle mehr gespielt haben. Das heißt, daß eigentlich - ich versuche, etwas provokativ zu sein - das Phänomen der Reformation nichts anderes zeigt als einen Medienkampf, als einen Kampf zweier Mediengruppen. Und auch so erklärt werden kann. Burkhardt: Nur ein Wort noch direkt dazu. Schulze: Bitte, Herr Burkhardt. Burkhardt: Ich möchte nur als Konfessionshistoriker etwas zur Klärung sagen. Die katholische Konfessionalisierung hat natürlich von der protestantischen Textkultur auch etwas angenommen und natürlich diese alten Punkte des spätmittelalterlichen Priestertums aufgenommen. Aber die eigentliche Zentralkategorie ist die Institution. Hier sehe ich einen Dissens Ihnen gegenüber, Herr Faulstich, weil Sie in Ihrem Buch für die katholische Seite bei dem alten Menschmedium bleiben. Aber übergeordnet und das, was neu ist, auch in der katholischen Konfessionsbildung, ist, daß die Organisation, also die kirchliche Organisation, doch das letzte Wort bekommt. Die Institution steht voran und entscheidet, was mit dem Text ist. Im anderen, evangelischen Fall steht der Text voran, und die Institution wird danach beurteilt und ausgerichtet. Das sind die verschiedenen Standbeine. Schulze: Danke. Ich will zunächst nur, bevor wir einen größeren Zuhörerkreis mit hineinnehmen, doch einfach mal fragen, ob hier auf dem Podium unter-
einander noch weitere Fehden auszutragen sind. Bitte, Herr Giesecke,Sie haben sich dazu gemeldet. Giesecke: Also Fehde wäre zu viel, nach den vielen wohlwollenden Rückgriffen auf meine Arbeit. Aber ich denke, zu Luther und der Medientheorie sollten doch noch ein oder zwei Sätze gesagt werden. Also die Bedeutung von Luther liegt für den KommunikationswissenschaftIer tatsächlich darin, daß er der geniale Theoretiker monomedialer, interaktionsfreier Kommunikation ist. Und zwar, und darin liegt natürlich auch seine Tragik, ist das, was ihm gelungen ist - ich meine, das ist das Wesen seiner Gnadenlehre -, die Menschen darauf einzustimmen, daß sie etwas hinausschreien und nicht sicher sein können, ob jemand zuhört, und daß auf jeden Fall klar ist, daß es völlig frei ist, wie der Zuhörer, in diesem Fall Gott, reagiert. Also das ist der absolute Bruch mit der rhetorischen Kommunikationsauffassung, die bis dahin gegolten hat. Man war immer der Meinung, man könnte den anderen beeinflussen. Luther sagt, das ist Unfug, hört auf damit. Und diese Haltung ist notwendig gewesen, damit sich Autoren gefunden haben und sich ja irgendwann hingesetzt und Bücher geschrieben haben. Und sie konnten sich nie sicher sein, daß das, was sie schreiben, überhaupt von jemandem gelesen wird. Und sie konnten nie sicher sein, daß es so verstanden wird, wie sie es wollten, und sie haben trotzdem weitergeschrieben und konnten sich damit auf die Gnadenlehre mindestens in der Formulierung von Luther berufen. Es ist nun nicht so, daß diese monomediale und interaktionsfreie Ausrichtung ohne Konsequenzen ist. Sie führt natürlich dazu, daß damit der Dialog und die anderen Medien unterdrückt werden. Und deswegen mußten ja auch die Sakramente unterdrückt werden. Und ein Grund, warum der Protestantismus Schwierigkeiten hat, immer gehabt hat und jetzt besonders, und die katholische Kirche mehr Glück hatte in ihrer Missionierungsarbeit, ist, daß die katholische Kirche immer multimedial geblieben ist. Sie hat ja den Buchdruck nicht abgelehnt, sie hat ihn sehr frühzeitig aufgenommen. Aber sie hat daneben auch noch die Engel, die inneren Stimmen und natürlich auch das Gespräch zwischen Gott und den Menschen, vermittelt durch die Priester, akzeptiert. Das ist eine reichere Lehre unter kommunikationstheoretischen Gesichtspunkten. Und deswegen geht es ihr im Augenblick besser. Ich meine, das habe ich jetzt als Parabel ausgeführt, weil es uns einen Hinweis darauJ gibt - und das wäre also, wenn man so will, der leichte Dissens -, daß das, was um 1500 richtig, notwendig und gut, eine zivilisatorische Errungenschaft, war, daß das natürlich im Jahr 2000 nicht unbedingt die gleiche positive Wirkung haben muß. Wir haben das jetzt 500 Jahre gemacht. Diese Form der Kommunikation hat sich durchgesetzt, und sie wird auch nie wieder verloren gehen. Aber es kommt jetzt darauf an, eine ökologische Kommunikation zu gestalten und sich der Multimedialität unserer Kommunikationsformen bewußt zu werden. Jeder weiß - und das brauche ich hier nicht zu erwähnen-,
daß sie das immer gewesen ist. Aber es ist natürlich nicht gleichgültig, ob man ein Medium prämiert, finanziert, ideologisch unterstützt, in den Schulen unterstützt und die anderen Medien herunterstuft oder ob man sie gleichgewichtig oder relativ gleichgewichtig entwickelt. Das ist die Frage, in der uns Luther, so leid es mir als Protestant und Lutheraner tut, heute nicht weiterhilft, aber das ist genau die Frage, um die es geht. Gersmann: Ich wollte einmal den Punkt medialer Gebrauchsweisen und Mischformen ansprechen, der mir vor diesem Hintergrund sehr wichtig er"'" scheint. Auch in der Geschichte haben wir ja multimediale Kommunikation, zum Beispiel Mündlichkeit, Schriftlichkeit und Bildlichkeit, und ich glaube, vor diesem Hintergrund muß man zum Beispiel auch solche programmatischen Kehrtwendungen wie die von Robert Darnton relativieren, denn es ist im Grunde keine Kehrtwendung insofern, als wahrscheinlich die Gerüchtestreuer im Palais Royal die intensivsten Rezipienten der Druckschriften im Vorfeld der Französischen Revolution gewesen sind. Ich glaube, daß darin eines der spannendsten Forschungsfelder überhaupt besteht und daß man dann aber auch verstärkt auf Themen eingehen muß, wie zum Beispiel auf das Zusammenwirken von Bild und Schrift. Also, es tut mir leid, ich bleibe noch einmal bei der Französischen Revolution. Zum Beispiel: Druckgraphik der Französischen Revolution. Inwieweit beeinflussen die Bilder Leser? Inwieweit sind Bild und Schrift überhaupt kongruent? Inwieweit muß man unterschiedliche Rezeptionsweisen unterscheiden? Diese Mischformen gelten im übrigen aber genauso auch für die digitalen Medien. Es ist ja inzwischen common sense, daß das Internet zum Beispiel, wie MacLuhan es auch formuliert hat, zu einer Re-Oralisierung des global village geführt hat, denn im Netz schreibt man anders als in sonstigen gedruckten Texten: man schreibt, wie man spricht. Auf der anderen Seite sieht man selbst bei einem per se so flüchtigen Medium wie den digitalen Medien auch einen Versuch, die typographische Dignität, von der Herr Burkhardt gesprochen hat, wieder einzuführen, zum Beispiel durch das PDF-Format, das nämlich das Aussehen klassischer Buchseiten suggeriert, und zum Beispiel auch durch die diffizile Klärung von Zitierweisen, die immer noch dem Vorbild des gedruckten Buchs angelehnt sind. Insofern scheint mir die Auseinandersetzung mit diesen Mischformen und Gebrauchsweisen auch noch einmal eine Klammer zu sein, die die unterschiedlichen Bereiche von der Reformation bis zum Internet zusammenbindet und die auch Wert ist, analysiert zu werden. Schulze: Vielen Dank, Frau Gersmann und dem ganzen Podium.
VII. Bericht über die Diskussion im Plenum Bei allen Unterschieden der Datierung, Deutung und Bewertung war das Podium doch von einerdruckgestützten Textorientierung als einer neuzeitlichen Grundgegebenheit ausgegangen. Die Diskussion im Plenum meldete vor allem daran Zweifel an, wandte sich gegen Überpointierungen und Verkürzungen und regte ergänzende Perspektiven an, wie sie zum Teil auch in der weiteren Tagung zum Tragen kamen. Franz Mauelshagen betonte, daß in der Reformation natürlich gerade die in einer illiteraten Gesellschaft noch vermittelnden Prediger als Medium eine herausragende Rolle spielten, und verwies auf Untersuchungen zur Körperkommunikation im Mittelalter, die auch auf die reformatorische Bildpublizistik übertragen werden könnten. Stephan Füssel klagte eine stärkere Berücksichtigung des Humanismus und seiner neuen Inhalte, der von ihm initiierten Bildungsreform und des "Medienereignisses Erasmus" ein, die eine Voraussetzung auch der Reformation gewesen seien. Auch die früh verbreiteten Bibeldrucke sprächen für eine frühere und nicht zu punktuelle Zäsursetzung mit der Renaissance und dem Humanismus. Esther Beate Körber relativierte die exklusive Bedeutung der Typographie für die Frühe Neuzeit und verwies auf das komplexe Verhältnis von medialer Distanznahrne, positiver Aneignung und fortwirkender Bedeutung der Metaphorik sowie auf die heute unveränderte typographische Fixierung digitaler Medien, sozusagen vom Druck zum Drucker. Claudia Ulbrich forderte die Einbeziehung der Gebrauchsweisen von Büchern in die Debatte, die zu einseitig die Buchlektüre voraussetze, und wies auf das Sammeln, Schenken und Tauschen als Tätigkeiten hin, deren Berücksichtigung auch andere Periodisierungsmöglichkeiten eröffnen würde und zur Erklärung des Fortbestandes der Buchkultur bis heute etwas beitragen könnte. Das Podium nahm die Anregungen auf. Als überhaupt nur dem Podium geschuldete Verkürzungen bestätigte Burkhardt die nicht zur Sprache gekommenen Vermittlungsleistungen reformatorischer Predigt und der Oralität überhaupt, die in Rainer Wohlfeils Theorie der "reformatorischen Öffentlichkeit" bereits eingebaut worden sei, sowie des Humanismus, der aus der Druckgeschichte unter diachroner wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive gar nicht wegzudenken sei. Aber das wirkungsvollste Neue sei - so Burkhardt - ebGn doch die Verbreitung gleichlautender Texte zu aktuellen Fragen gewesen seit 1517. Demgegenüber sah sich Faulstich durch die humanistische Intervention Füssels in der Frühdatierung um 1400 bestätigt. Die Überlegungen zum Gebrauchswert schienen ihm auch deshalb besonders wichtig, weil nur die Mediennutzung in der Gesellschaft das Ansetzen allgemeingeschichtlicher Zäsuren rechtfertige. Gegenüber der Hochschätzung der Druckmedien durch Burkhardt verwies er auf die typographische Abstraktheit, Entsinnlichung und Verarmung, der dann im 18. Jahrhundert Sinnlichkeit und Liebe als
Interaktionsmedien entgegengestellt worden seien. Das sei gleichsam das "bürgerliche Triebschicksal".27 Karl Hahn problematisierte die Dominanz, die in den Mediensystemen das jeweils neue Medium gegenüber dem alten ausübe, so daß jede Medienrevolution auch zu Verlusten führe, und entwickelte daraus die Frage, ob uns wohl im 21. Jahrhundert einmal eine echte Multimedialität gelingen werde. Giesecke nahm die Frage auf und erklärte aus seinen Forschungen zur Einführung der Typographie die Ursache dieser Dominanz: Um neue mediale Formen gesellschaftlich durchzusetzen, müßten sie gegenüber den bereits eingeführten prämiert werden, bräuchten sie einen Schutzraum bis hin zur Mystifizierung des Denkstils, der heute nach gelungener Durchsetzung nicht mehr aufrechtzuerhalten sei. Zur Epochendiskussion der Historiker verwies Giesecke darauf, daß nicht jede Kultur und Gesellschaft von Kommunikation und Medienzäsur bestimmt sein müsse - einer Gesellschaft von Kriegern oder Rosenliebhabern sei es gleichgültig, welche Medien sie benutzten -, daß aber wir, die wir uns als Informationsgesellschaft verstünden, keine Wahl hätten und daher Programme und Visionen für den rechten Umgang mit ihnen entwickeln müßten. Daran sollten sich die Historiker, wie hier begonnen, weiter beteiligen. "Medien sind problemlösende Systeme", mit diesem Zitat des Züricher Publizistikwissenschaftlers Ulrich Saxer28 gab Faulstich am Ende der Debatte noch einen neuen Aspekt zu bedenken. Der Autor der ersten deutschen Mediengeschichte stellte abschließend die Forschungshypothese auf, daß es in der ganzen Geschichte eine Korrelation von Bevölkerungswachstum und innovativer Medienkultur gebe. Daraus erwachsende neue Probleme ließen sich oft mit den alten Medien nicht lösen und führten zu ihrer weiteren Ausdifferenzierung. Nach diesen Schlußkommentaren der bei den Medienhistoriker dankte Winfried Schulze allen Diskutanten und hielt als einen seiner Eindrücke fest, daß der Buchdruck doch ein recht interaktions armes Medium gewesen sei, daß aber auch das Internet die "face-to-face"-Kommunikation nicht ersetzen werde. Verschiedentlich hatten schon Esther Beate Körber und andere die laufende Veranstaltung als lebendigen Beweis dafür zitiert. Der Diskussionsleiter nahm das auf und verallgemeinerte es als hoffnungsvolles Zeichen für die ganze Hochschullandschaft.
*** Die Herausgeber danken Reinhard Plesch für die Verschriftlichung der Diskussionsbeiträge. Die Redaktion, in der die mündliche Form soweit wie möglich gewahrt wurde, besorgte Christine Werkstetter. 27
28
Faulstich, Die bürgerliche Mediengesellschaft (wie Anm. 9). Ulrich Saxer, Medien als problemlösende Systeme, in: Spiel 10, 1991, H. 1,45-79.
"Von der Gutenberg-Galaxis zur Taxis-Galaxis" Die Kommunikationsrevolution - ein Konzept zum besseren Verständnis der Frühen Neuzeit Von
Wolfgang Behringer Die Geschichte der Frühen Neuzeit hat einen erfreulichen Aufstieg erlebt, abgetrennt als eigenes Segment vom Rest der Moderne. Zu Rankes Zeiten noch lebendig, rückt sie immer weiter in die Ferne und bleibt doch nahe. Wenn man die Erzählungen von den großen Umwälzungen, auf denen die Gegenwartskulturfußt, Revue passieren läßt, so wird man häufig auf die Frühe Neuzeit zurückverwiesen, bei großen Themen wie Reformation, Wissenschafts- und Industrieller Revolution sowie den politischen Revolutionen in England, Amerika und Frankreich. Ich möchte mich einer anderen grundlegenden Umwälzung zuwenden, die von der Historiographie etwas stiefmütterlich behandelt worden ist, der Kommunikationsrevolution. Wie ergiebig das Thema Kommunikation für die Frühe Neuzeit sein kann, mag die verkehrsweglose Europa-Karte des Ulmer Ptolemäus-Drucks von 1482 andeuteni, die wir als Ausgangspunkt zu Vergleichen im Kopf behalten können. Kommunikation ist bei den Klassikern der Sozialwissenschaften, von denen sich Historiker inspirieren lassen, kein Thema. Erst in jüngster Zeit wird ihr - etwa bei Giddens - systematische Bedeutung eingeräumt. 2 Seit etwa zehn Jahren werden die Konsequenzen der gegenwärtigen ,communications revolution' für die Neuorganisation des Raumes und die Neuverteilung der ökonomischen Möglichkeiten diskutiert3 , wobei dem Netzwerk der Kommunikation und seinen Funktionären besondere Beachtung geschenkt wird4 . Im folgenden möchte ich die These begründen, daß es sich bei der Kommuni1 Karl-Heinz Meine, Die DImer Geographie des Ptolemäus von 1482. Zur 500. Wiederkehr der ersten Atlasdrucklegung nördlich der Alpen. Weißenhorn 1982. 2 Anthony Giddens, The Constitution of Society. Outline of the Theory of Structuratioh. Cambridge 1984, 29, 123, 143 und 262. Zur Ausnahmestellung Giddens' in der Gesellschaftstheorie in dieser Frage: lohn Urry, Sociology ofTime and Space, in: Brian S. Turner (Ed.), The Blackwell Companion to Social Theory. Oxford 1996,369-395. 3 Stanley D. Brunn/Thomas R. Leinbach (Eds.), Collapsing Space and Time. Geographie Aspects of Communications and Information. London 1991; lames O. WheelerIYuko Aoyama/Barney Waif, City Space, Industrial Space, and Cyberspace, in: James O. Wheeler/Yuko Aoyama/Barney Warf (Eds.), Cities in the Telecommunications Age. The Fracturing of Geography. New York 2000,3-17. 4 Manuel Castells, The Information Age: Economy, Society and Culture. Vol. 1: The Rise ofthe Network Society. Oxford 1996.
kationsrevolution um einen Fundamentalvorgang der Modeme handelt, der in prototypischer Form in der Frühen Neuzeit stattgefunden hat. Die Revolution des Kommunikationswesens wird dabei als übergreifender Prozeß begriffen, der eine Serie von Medienrevolutionen umfaßte oder hervorbrachte, von denen jede einzelne tiefgreifende Veränderungen bewirkte. Wie vergleichbare Begriffe (, Wissenschaftsrevolution " ,Industrielle Revolution ') soll auch der Begriff ,Kommunikationsrevolution ' im Singular verwendet werden, weil die erste Kommunikationsrevolution als Matrix späterer Revolutionen gesehen werden kann, bzw. als Auslöser eines Prozesses fortwährender Veränderung bis heute. Der Begriff ,Communication Revolution' ist in den 1930er Jahren von amerikanischen Wirtschaftshistorikern kreiert worden5, zunächst mit Blick auf das 19., dann jedoch das 18. Jahrhundert, in dem sich die Kolonien vernetzten und zu jener politischen Willensbildung fanden, die zur Amerikanischen Revolution führte 6. Im Hintergrund dieses demokratischen Urknalls standen Kommunikationsspezialisten wie Benjamin Franklin, der auf einem Delegiertenkongreß in Philadelphia zum ersten "Postmaster General" der United States of America (USA) ernannt wurde.7 Dieser wassertrinkende Vegetarier, der sich in seiner Autobiographie zum prototypischen Amerikaner stilisiert, kann als Exempel für Max Webers "Protestantische Ethik" dienen, aber auch als idealtypische Verkörperung des flühneuzeitlichen Kommunikationsgenies - hatte er doch bereits im kolonialen Pennsylvania das Postwesen geleitet und als Druckereibesitzer periodische Zeitungen herausgegeben,s Tatsächlich waren die meisten frühen Zeitungs verleger entweder Buchdrukker, wie der Erfinder der periodischen Presse Johann Carolus 9, oder Postmeister, wie einige seiner frühen Konkurrenten, etwa Johann von den Birghden in Frankfurt, der als erster - wie später Franklin - Zeitungen auf der Basis seines Postunternehmens drucken ließ 10. Löst man das Konzept der Kommunikationsrevolution aus seinem kolonialen Kontext, so stellt man rasch fest, daß in Europa eine andere Chronologie gilt.
Robert G. Albion, The Communication Revolution, in: AHR 37, 1932, 718-720. Richard R. lohn, American Historians and the Concept of the Communications Revolution, in: Lisa Bud-Frierman (Ed.), Information Acumen. The Understanding and Use of Knowledge in Modern Business. LondoniNew York 1994, 98-110. 7 Richard R. lohn, Spreading the News. The American Postal System from Franklin to Morse. Cambridge, Mass. 1975. 8 William Smith, The Colonial Post-Office, in: AHR 21, 1916,258-275, hier 270-274. 9 lohannes Weber, ,Unterthenige Supplication Johann Caroli/Buchtruckers'. Der Beginn gedruckter politischer Wochenzeitungen im Jahre 1605, in: Archiv für die Geschichte des Buchwesens 38, 1992,257-265. 10 Karl Heinz Kremer, Johann von den Birghden (1582-1645), in: Archiv für deutsche Postgeschichte 1984, H. 1, 7-43. 5
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In der Geschichtsschreibung ist bisher das Informations-Speicher-Medium Buch - etwa bei McLuhan, Eisenstein oder Giesecke - überbetont worden)1 Das Schlagwort von der , Gutenberg-Galaxis' 12 hat sich im Bewußtsein so sehr festgehakt, daß amerikanische Wissenschaftler Gutenberg gar zum "Man of the Millennium" wählten, noch vor Galilei und Luther. Doch wenn die "Printing Revolution" so prägend gewesen ist, warum wurde nicht im 15. Jahrhundert mit dem Druck aktueller Nachrichten begonnen?13 Gab es keine interessanten Neuigkeiten im Zeitalter der Reconquista, der Türkenkriege, der Entdeckungen oder der Reformation? Der Buchdruck erklärt auch nicht das Entstehen der "reformatorischen Öffentlichkeit"14, Verändenmgen im Mobilitätsverhalten und der Kartographie. Wie schon im Fall der amerikanischen Kommunikationsrevolution spielten Kanäle der Kommunikation eine entscheidende Rolle bei der veränderten Wahrnehmung von Raum und Zeit. Zu der Zeit, als die Zentralperspektive in die Kunst Einzug hielt, wurde viel experimentiert mit Botensystemen, vor allem in Italien. Dort ergänzte man zuerst die segmentären Kommunikationssysteme der Fürsten-, Städte-, Klosterund Universitätsboten durch ein effektives System von Kaufmannsboten, das auf Gasthäusern basierende Scarsella-System. 15 Zwischen Mailand und Rom wurde bereits mit Reiterstafetten experimentiert, einern System der Raumportionierung durch regelmäßige Pferdewechselstationen, das aus der antiken Literatur und von Marco Polo bekannt war. Die Pluralität dieser Einrichtungen zeigt eine ungewöhnliche Verdichtung der Kommunikation an. 16 Jacob Fugger der Reiche, der durch seine Finanzkraft die Kaiserwahl von 1519 zugunsten Karls 1. von Spanien entschieden hat, wußte durch seine Agenten in ganz Europa schneller als alle Konkurrenten über neue Entwicklungen Bescheid. Aber wie konnte selbst der reichste Mann Europas ein Nachrichtensystem finanzieren, welches das mancher Fürsten übertraf? Die Antwort auf diese Frage ist sehr einfach: Jacob Fugger war einer der ersten 11 Elizabeth L. Eisenstein, The Printing Press as an Agent of Change. Communications and Cultural Transformations in Early Modern Europe. 2 Vols. Cambridge 1979; dies., The Printing Revolution in Early Modern Europe. Cambridge/London 1983; Michael Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt am Main 1991. 12 Herbert Marshall McLuhan, The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographie Man. Toronto 1962; ders., Die Gutenberg Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters. Düsseldorf/ Wien 1968, Neuaufi. BonnIParis1995. 13 Vgl. lohannes Burkhardt, Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung 1517-1617. Stuttgart 2002. 14 Heike Talkenberger, Kommunikation und Öffentlichkeit in der Reformationszeit. Ein Forschungsreferat 1980-1991, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur, 6. Sonderh., Forschungsreferate 3. Folge, 1994, 1-26. 15 Thomas Szabo, Art. "Botenwesen", in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 1. Stuttgart 1981, 484-487. 16 Vito SaUerno, Le Poste a Milano nei secoli XV, XVI e XVII. Mailand 1972.
privaten Nutzer der habsburgischen Reiterstafetten, die 1490 zwischen Tirol und den Niederlanden eingerichtet und bald nach Ungarn, Italien, Spanien und Böhmen ausgedehnt wurden. Dieses System war allerdings so kostspielig, daß es immer wieder zusammenbrach. Anders als in den antiken Großreichen oder in China war keine europäische Dynastie um 1500 in der Lage, dauerhaft ein solches System zu finanzieren. Die italienischen Unternehmer, die König Maximilian I. nach Brüssel vermittelte und die ihr Handwerk in Mailand, Venedig und Rom gelernt hatten, fanden eine Lösung des Finanzierungsproblems. In einem frühen Akt der Privatisierung übernahmen sie statt der fürstlichen Hofkammern selbst die Regie. Sie öffneten die Kommunikationskanäle für die Allgemeinheit und verlagerten das finanzielle Risiko auf Gastwirte als Franchise-Nehmer. Aus einer segmentären wurde eine öffentliche Serviceeinrichtung, die gegen Bezahlung jedem Kunden offenstand. Eine Konsequenz davon war die Fixierung der Kommunikationskanäle und die Einrichtung ständiger ,Offices'. Dies war der Ursprung der Postämter. Der Grund, warum alle Nachrichten der Fugger von denselben Orten kamen, lag nicht im fuggerischen Faktoreisystem. Die Briefschubladen im Kostümbuch des Hauptbuchhalters Matthäus Schwarz, das ihn mit seinem Herrn im Hauptbüro der Fugger zeigt, spiegeln die Struktur des ersten öffentlichen Kommunikationssystems wider: sie tragen die Namen der großen Postämter. 17 Und analysiert man die Nachrichtenorte der Fuggerzeitungen, die von 1564 bis 1605 gesammelte Nachrichten aus aller Welt enthalten, von Persien bis Peru, immer von denselben Orten und an denselben Wochentagen, dann kommt man zu exakt demselben Ergebnis. 18 Wenn die avanciertesten Nachrichtensammlungen auf dem Postsystem beruhten, wodurch zeichnete sich dieses aus? Die Antwort hätte Emile Durkheim begeistert, denn sie lautet: Arbeitsteilung. 19 Geschwindigkeit war unter vorindustriellen Bedingungen nur optimierbar, indem man den Raum portionierte und Stationen einrichtete, an denen Pferd und Reiter gewechselt wurden. Dies und nichts anderes waren die Posten, die dem System seinen Namen verliehen. Anders als die Wolffsche "Glückseeligkeit" war die von den Kameralisten und Policeywissenschaftlern2o zum obersten Ziel der Kommunikation 17 Wolfgang Behringer, Fugger und Taxis. Der Anteil Augsburger Kaufleute an der Entstehung des europäischen Kommunikationssystems, in: Johannes Burkhardt (Hrsg.), Augsburger Handelshäuser im Wandel des historischen Urteils. (Colloquia Augustana, Bd. 3.) Berlin 1996,241-248. 18 Wolfgang Behringer, Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 189.) Göttingen 2003. 19 Emite Durkheim, De la division du travail social. Etude sur l'organisation des societes superieures. Paris 1893. 20 Zum Zusammenhang der ökonomischen Theorien mit der Philosophie Christian Wolffs: lutta Brückner, Staatswissenschaften, Kameralismus und Naturrecht. Ein Beitrag zur Ge-
erhobene Geschwindigkeit eine meßbare Variable. Der erste Postvertrag zwischen Francesco de Tassis, dem Hauptunternehmer der Habsburger, und Philipp von Burgund, dem König von Spanien, legte im Jahre 1505 erstmals Mindestgeschwindigkeiten fest und normierte das Verhältnis von Raum und Zeit. 21 Die zur Messung der Geschwindigkeit benötigten Daten wurden bereits seit den 1490er Jahren protokolliert, und noch auf den Stundenzetteln wurde den Postreitern mit dem Cito-Vermerk der Zweck ihrer Mission eingeschärft und ihre Wichtigkeit mit einem Galgensymbol unterstrichen. 22 Mit solchen Laufzetteln war kontrollierbar, ob die vereinbarte Beförderungsdauer eingehalten wurde oder ob die Geschwindigkeit gefallen oder gestiegen war. Die Berechnung erfolgte nicht anhand der physikalischen Formel (v= sft), doch ging man im 18. Jahrhundert so weit, auf Vordrucken Soll- und Istzeiten auf allen Postkursen von Station zu Station routinemäßig zu vergleichen und Verspätungen in eigenen Rubriken auszuweisen. Zeit war ein kostbares Gut geworden, das nicht vergeudet werden durfte. Und dies war nicht die "Zeit der Händler", wie Jacques Le Goff meinte23 , sondern die Zeit des Postwesens, dessen Geschwindigkeit nicht nur für Kaufleute von höchstem Interesse war, sondern auch für die Diplomatie der Regierungen, wie der Mailänder Postverwalter Codogno betont hat24 , oder für Wissenschaftler und Liebende, wie man Briefwechseln entnehmen kann. Dieses ganze frühneuzeitliche Universum der Kommunikation hat nichts mit dem Buchdruck zu tun. Sollte man es mit einem McLuhanesken Schlagwort bezeichnen, so müßte es nach seinem Erfinder Taxis-Galaxis heißen. 25 Nach Ansicht Reinhart Kosellecks wurde der Begriff ,Fortschritt' Ende des 18. Jahrhunderts geprägt. 26 Doch der meßbare Fortschritt setzte im Kommuschichte der politischen Wissenschaft im Deutschland des späten 17. und 18. Jahrhunderts. München 1977,211-256, bes. 222f., 229-233. 21 Fürstliches Zentralarchiv Thurn und Taxis, Regensburg [im folgenden: FZATTR], Posturkunden, Nr. 1; Martin Dallmeier, Quellen zur Geschichte des europäischen Postwesens 1501-1806. Bd. 1: Quellen - Literatur - Einleitung. Bd. 2: Urkunden - Regesten. Bd. 3: Register. Kallmünz 1977-1987, hier Bd. 2, 3 f. 22 Oswald Redlich, Vier Post-Stundenpässe aus den Jahren 1496-1500, in: MIÖG 12, 1891,494-504; Aloys Schulte, Zu dem Stundenpaß von 1500, in: MIÖG 20, 1899,284287; Gerhard Dohrn-van Rossum, Die Geschichte der Stunde. Uhren und modeme Zeit:: ordnungen. München 1992,303-308. 23 lacques Le Goff, Au moyen äge: Temps de l'Eglise et temps du marchand, in: Anna1es 15, 1960,898-914. 24 Ottavio Codogno, Nuovo Itinerario delle Poste per tutto il Mondo. Mailand [Girolamo Bordoni] 1608, Escusazione (Vorwort). 2S Wolfgang Behringer, Thurn und Taxis. Die Geschichte ihrer Post und ihrer Unternehmen. München 1990. 26 Reinhart Koselleck, "Erfahrungsraum" und "Erwartungshorizont" - zwei historische Kategorien, in: Ulrich Engelhardt/Volker SelliniHorst Stuke (Hrsg.), Soziale Bewegung und politische Verfassung. Beiträge zur Geschichte der modemen Welt. Werner Conze zum
nikationswesen schlanke 300 Jahre früher ein. Die Zahl der Poststationen, der Postämter, der Postkurse, der Pferde (und später der Kutschen) pro Posthalterei, die Zahl der Beamten pro Postamt, die Frequenz der Postreiter und Postkutschen, deren Geschwindigkeit, die Anzahl und Auflage der Zeitungen, der Postkurskarten und der Posttabellen, die Zahl der bilateralen Verträge mit Regierungen, die Kilometer der gebauten Wege und chaussierten Straßen, schließlich auch die Höhe der erzielten Einnahmen oder Pachtsummen, die in einem Zeitalter ausufernden Fiskalismus' akribisch notiert wurden, beweisen dies zur Genüge. Dabei kann man eine erstaunliche Beobachtung machen: Im Unterschied zu anderen c1iometrischen Variablen entwickelte sich die Zahl der Poststationen von ihrem Nullpunkt um 1500 bis zum Eisenbahnbau linear in immer nur eine Richtung. Selbst in Krisenzeiten wie dem Dreißigjährigen Krieg, der Pest der 1660er Jahre oder der Hungerkrise der 1690er Jahre, in denen das Handelsvolumen und die Bevölkenmgszahl zurückging, wurde das Kommunikationssystem kontinuierlich ausgebaut. Die Statistik der Poststationen kennt - wie die der anderen genannten Variablen - keine Rückschläge, ja nicht einmal erkennbare Konjunkturen, sondern läßt zumindest bei der Reichspost mit ihrer gewachsenen Struktur, aber genauso bei der französischen Post eine stetige Aufwärtsentwicklung erkennen. 27 Eine qualitative Veränderung erfuhr das Kommunikationssystem mit der Einführung der Ordinari-Post in den 1530er Jahren. Diese organisatorische Veränderung war von enormer Wirkung. Der wöchentliche Rhythmus der Ordinari-Reiter prägte seither den Zeittakt der Korrespondenz von Regierungen, Banken, Handelsfirmen und Privatpersonen. 28 Das Postwesen drückte als Leitmedium seinen Stempel - die Periodizität - anderen Medien auf, etwa dem segmentären Botenwesen und darüber hinaus der Ordinari-Zeitung, die im ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts auf der Grundlage der transkontinentalen Postlinie zwischen Rom und Antwerpen entstand. Dieses neue Medium baute auf den Charakteristika des Postwesens auf: Periodizität, Aktualität, Universalität und Publizität. 29
31. Dezember 1975. (Industrielle Welt, Sonderbd.) Stuttgart 1976, 13-33; Wiederabdruck in: Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main 1979,3. Aufl. 1984,349-375, hier 383. 27 Belege bei Behringer, Im Zeichen des Merkur (wie Anm. 18). 28 Für das 18. Jahrhundert vgl. zum Beispiel den Briefwechsel der Meta Klopstock: Franziska Tiemann/Hermann Tiemann (Hrsg.), Es sind wunderliche Dinger, meine Briefe. Meta Klopstocks Briefwechsel mit Friedrich Gottlieb Klopstock und mit ihren Freunden 17511758. München 1980. Generell: Alexandru Dutu/Edgar HäschiNorbert Oellers (Hrsg.), Brief und Briefwechsel in Mittel- und Osteuropa im 18. und 19. Jahrhundert. Essen 1989, sowie das originelle Buch von Siegert, der gar die Literatur dieser Zeit als "Epoche der Post" interpretiert: Bemhard Siegert, Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post 1751-1913. Berlin 1993. 29 Otto Groth, Geschichte der deutschen Zeitungswissenschaft. Probleme und Methoden.
Auf die Zeitungs entwicklung soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden, aber wir alle wissen, wie sehr der Habitus der periodischen Informationsaufnahme unsere Alltagsroutine und unsere Bewertung politischer Vorgänge bestimmt. Hier soll vielmehr der räumliche Aspekt hervorgehoben werden: Alle gedruckten Zeitungen bezogen sich wie ihre Vorläufer, die geschriebenen Zeitungen, im Prinzip auf die gesamte Welt, in der Praxis jedoch damals vor allem auf Europa. Überspitzt könnte man formulieren: In den Jahrzehnten nach der Entdeckung Amerikas wurde zunächst einmal Europa erschlossen. In den zehn Generationen der Frühen Neuzeit ist dieser Kontinent überschaubarer geworden als jeder andere geographische Raum zuvor. Diese Entwicklung kann ebenso mit Hilfe der Kartographie gezeigt werden. Bereits die erste europäische Verkehrskarte, 1501 durch den Nürnberger Kartographen Erhard Etzlaub entworfen3o , hatte sich von der "Inselraumstruktur" des Mittelalters verabschiedet und stellte den Kontinent als euklidischen Raum dar, frei von Drachen und Monstern und im Prinzip berechenbar31 . Die Punkte, mit denen Etzlaub die Strecken zwischen den Städten markiert hat, stellen kein Medium dar, weder Weg noch Verkehrsmittel, sondern symbolisieren Distanzen vonje 1 Meile (7,5 km).32 Dennoch wirkt die gesüdete Karte auf den heutigen Betrachter befremdlich und unpraktisch. 80 Jahre später veröffentlichte Michael Aitzinger, ein anderer genialer Kommunikator, der auf der Basis seiner Kontakte zum Kölner Postamt die ersten Meßrelationen herausgab 33 , einen europäischen Verkehrsatlas. Dieser wirkt sehr viel moderner, krankt aber an der Tatsache, daß es die eingezeichneten Straßen - vor dem Beginn des Straßenbaus - eigentlich gar nicht gab.3 4 Doch noch einmal 50 Jahre später wurde in Paris von Melchior Tavernier eine Karte gedruckt, die tatsächlich eine revolutionäre Neuerung darstellte. Diese Karte verzeichnete nicht Straßen, sondern Postlinien und beruhte nicht auf einem virtuellen, sondern München 1948, 339f.; C. lohn Sommerville, The News Revolution in England. Cultural Dynamics ofDaily Information. Oxford 1996, 1-16. 30 Pritz Schnelbägl, Leben und Werk des Nürnberger Kartographen Erhard Etzlaub, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte der Stadt Nürnberg 57, 1970,216-231. 31 Bemhard lahn, Raumkonzepte der Frühen Neuzeit. Zur Konstruktion von Wirklichkeit in Pilgerberichten, Amerikareisebeschreibungen und Prosaerzählungen. Frankfurt am Main 1993. 32 [Erhard Etzlaub], Das sein di lantstrassen durch das Römisch reych [... ] von meilen zu meilen mit puncten verzaichnet. Nürnberg 1501. Faksimile in: lohannes Cochläus, Brevis Germaniae Descriptio (1512), mit der Deutschlandkarte des Erhard Etzlaub von 1501. Hrsg., übers. u. komment. v. Kar! Langosch. Darmstadt 1960, 3. Aufl. Darmstadt 1976, Anhang. 33 Pelix Stieve, Über die ältesten halbjährigen Zeitungen oder Messrelationen und insbesondere über deren Begründer Freiherrn Michael von Aitzing, in: Abhandlungen der historischen Klasse der Königlich-Bayerischen Akademie der Wissenschaften 16, 1881, 177265. 34 lose! Egon Schuler (Hrsg.), Der älteste Reiseatlas der Welt [Das Itinerarium orbis christiani]. Vorw. v. Alois Fauser u. Traudl Seifert. Stuttgart 1965.
einem tatsächlichen Medium, das man buchen und mit dem man reisen konnte: den damals in Frankreich neu eingeführten Postkutschen. 35 Der Kartograph Nicolas Sanson hatte die Daten direkt vom Pariser Generalpostamt bekommen. Nicht Wegekarten, sondern Postkurskarten stellten die entscheidende Neuerung in der Verkehrskartographie dar. Sie visualisieren zuerst ein real existierendes Netzwerk der Kommunikation. 36 Die Einführung fahrplanmäßiger Kutschen für den Personentransport auf dem existierenden Postensystem zog freilich eine weitere Innovation nach sich, da Kutschen nicht wie Wanderer oder Pferde über Stock und Stein springen konnten 37 : den systematischen Straßenbau38 . Wo dieser rasch Fortschritte machte, wie in England, erschienen im späteren 17 . Jahrhundert auch brauchbare Straßenkarten, doch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Postroutenkarten von größerer Bedeutung. Bereits vor Beginn des Eisenbahnbaus zeigen sie eine erstaunliche Verdichtung des Verkehrs, wie ein Ausschnitt aus der Mitteleuropa-Karte Raffelsbergers von 1829 verdeutlicht. 39 Diese Infrastruktur spiegelt bis zu einem gewissen Grad sogar die Industriedichte wider. Nicht nur Wasserstraßen, sondern auch Postlinien bedeuteten Standortvorteile im Prozeß der Industrialisierung. Beide waren Kanäle der Kommunikation, die einen für den Waren-, die anderen für den Nachrichten-, Geld- und Personentransport. Regelmäßiges Reisen auf der Infrastruktur der Post, mit stationsweise gewechselten Pferden, gab es bereits seit dem ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts, dem symbolischen Beginn der Neuzeit. 4o Reisende nahmen große Kosten und weite Umwege in Kauf, um in diesen Kanälen der Kommunikation sicher und schnell reisen bzw. reiten zu können. Bei diesen ,postierenden' Reisenden finden wir eine überraschende Veränderung der Wahrnehmung: In ihren Aufzeichnungen scheint der Raum zu verschwinden, wahrgenommen werden nur noch die Etappenorte oder gar nur noch die Anzahl der Pferde35 [Nicolas Sanson/] Melchior Tavernier, Carte geographique des postes qui traversent la France. Paris 1632. 36 Guy ArbeIlot, Autour des routes de poste. Les premieres cartes routieres de la France. XVIIe-XIXe siecle. Paris 1992. 37 Wolfgang Behringer, Wege und Holzwege. Aspekte einer Geschichte der Kommunikation in der Frühen Neuzeit, in: Siedlungsforschung. Archäologie - Geschichte - Geographie 11, 1993,287-305. 38 Wolfgang Behringer, Kommunikation und Kooperation. Straßenbau und Postwesen in Vorderösterreich, in: Vorderösterreich - nur die Schwanzfeder des Kaiseradlers? Die Habsburger im deutschen Südwesten. Stuttgart 1999, 336-343. 39 Franz Raffelsberger, Der Reise-Secretär. Ein geographisches Posthandbuch für Reisende, Kaufleute, Geschäftsmänner und Postbeamte. Bd. 1 mit 2 in Kupfer gestochenen illuminierten Postkarten von Deutschland und Europa. Wien 1829/30. 40 Wolfgang Behringer, Automobility im Mittelalter? Infrastruktur als Voraussetzung für den Individualverkehr, in: Automobility - Was uns bewegt. (Ausstellungskatalog des Vitra Design Museums.) Weil am Rhein 1999, 156-171.
wechsel bis zur Nachtruhe. Bereits seit 1500 stoßen wir auf jenes ,shrinking of distance', das üblicherweise der Eisenbahn zugeschrieben wird. 41 Und mit der Einführung der Postkutschen, der großen Reisemaschinen, kommt seit dem 17. Jahrhundert auch das Gefühl einer Entfremdung von der Natur und die Angst vor zu hoher Geschwindigkeit hinzu. Der arme August von Goethe, ängstlicher Sohn eines wagemutigen Vaters, war derart von Geschwindigkeitsfurcht gepeinigt, daß er bei seiner Italienreise in den 1820er Jahren das postreisen aufgab und statt dessen ab Basel eine langsame Privatkutsche für seine empfindsame Reise benutzte, die "durch diese herrlichen Gegenden schnell, aber doch nicht zu überschnell postet".42 Dadurch vermied er auch das irritierende Zusammentreffen mit der Lokalbevölkerung. Denn wie wir von Reiseberichten und Protokollen von Postkutschen-Überfällen wissen, reisten zunehmend auch Frauen, Kinder, Alte und Kranke. Trotz prohibitiver Preise führte das Postreisen zu einer Demokratisierung des Reisens. 43 Wem die gravierenden Veränderungen im frühneuzeitlichen Reisewesen nicht geläufig sind, dem werden einige zeitgenössische Reflexionen darüber unverständlich bleiben. Im "Ophirischen Staat" eines unbekannten sächsischen Autors wachen reisende Policey-Räte über den Straßenzustand in den provinzen, ähnlich den Postkommissaren im zeitgenössischen Kurs achsen, und in Christian Gerbers "Unerkannten Wohltaten Gottes" wird der Umstand, "daß itzo der Geringe so wohl sich der geschwinden Posten bedienen kann", zum Ausweis der verwirklichten Utopie. 44 Die Euphorie über diesen Fortschritt wird deutlich aus dem Titelkupfer von Beusts "Erklärung des Postregals", der den triumphierenden Merkur als Herrn der Poststraßen, Wegweiser und Postmeilensäulen vorstellt. 45 Durch das öffentliche Kommunikationssystem wurde der Raum überschaubar. Er wurde vermessen und portioniert, in Zeit und Geld umrechenbar und tabellarisch kalkulierbar. Am verblüffendsten ist die Entdeckung, daß ,Post' aufgrund der optimalen Relationierung Bernhard Greif.{, Tagebuch des Lucas Rem aus den Jahren 1494-1541. Ein Beitrag zur Handelsgeschichte der Stadt Augsburg. Augsburg 1861. 42 Andreas Bayer/Gabriele Radecke (Hrsg.), August von Goethe: Auf einer Reise nach Süden. Tagebuch 1830. Erstdruck nach den Handschriften. MünchenlWien 1999,9-17, Zitat 17. .. 43 Wolfgang Behringer, Reisen als Aspekt einer Kommunikationsgeschichte der Frühen Neuzeit, in: Michael Maurer (Hrsg.), Neue Impulse der Reiseforschung. Berlin 1999,6595. 44 Ophirischer Staat, oder Curieuse Beschreibung des [... ] Kö~igreichs O~hir. Leipz~g 1699; Christian Gerber, Von dem wohleingerichteten Post-Wesen m Sachsen, m: ders., DIe unerkannten Wohlthaten Gottes in dem Chur-Fürstenthum Sachsen und desselben vornehmsten Städten. Dresden/Leipzig 1717,585-592. Aus dem sagenhaften Land Ophir importierte im Alten Testament Salomon Gold und Edelsteine. 45 Joachim Ernst von Beust, Versuch einer ausführlichen Erklärung des Post-Regals, und was deme anhängig, überhaupt und ins besondere in Ansehung des Heiligen Römischen Reichs Teutscher Nation [... ] verfasset. 3 Bde. Jena 1747/48.
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von Raum und Zeit eine universale Maßeinheit wurde, mit der man Raum sowohl als Zeit als auch als Geschwindigkeit und sogar als Kosten messen konnte. 46 Die Kommunikationsstrukturen der Frühen Neuzeit bewirkten die Verändenmg zweier Parameter, die jeder traditiortalen Gesellschaft als unveränderlich erscheinen: Raum und Zeit47 und die doch in hohem Maße durch gesellschaftliche Bedürfnisse und Strukturen determiniert werden. 48 Pioniere der "subjektiven Geographie" wie Donald G. Janelle haben die Beschleunigung des englischen Personentransports seit den Zeiten der Stage Coach am Beispiel der Strecke London-Edinburgh berechnet, um die These der, shrinking world' zu belegen. 49 Tatsächlich könnte man dies anhand jeder beliebigen Strecke tun. Ich habe Daten für die Strecke von Hamburg nach Augsburg herausgesucht, wo der Ausbau des Postwesens zu einer Verkürzung der Reisedauer von etwa 30 Tagen im Jahr 1500 auf elf Tage im Jahr 1615 50 und fünf Tage um 1800 für Postreiter5l , in den 1820er Jahren auch für Postkutschenreisende führte 52 . Rein rechnerisch war damit die Beschleunigung zwischen 1615 und 1820 größer als zwischen 1820 und heute. Belege bei Behringer, Im Zeichen des Merkur (wie Anm. 18). Zur Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa: Rudolj Wendorff, Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa. Opladen 1980; Wo?fgang Behringer, Veränderung der Raum-Zeit-Relation. Zur Bedeutung des Zeitungs- und Nachrichtenwesens während der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, in: Hans MedickJBenigna von Krusenstjern (Hrsg.), Zwischen Alltag und Katastrophe. Der Dreißigjährige Krieg aus der Nähe. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 148.) Göttingen 1999,39-82. 48 Pitirim A. Sorokin/Robert K. Merton, Social Time. A Methodological and Functional Analysis, in: American Journal of Sociology 42, 1937,615-629. 49 Nach der Formel (TTI - TT2 I Y2 - Yl): Donald G. Janelle, Central Place Development in a Time-Space-Framework, in: Professional Geographer 20, 1968, 5-10, hier 6, Fig. 1: TT = Travel Time/Reisedauer; Y = Year/Jahr bzw. Datum. Janelle kam rechnerisch auf eine Beschleunigung von 29,4 Minuten pro Jahr für den Zeitraum 1776-1966. Siehe auch Donald G. Janelle, Spatial Reorganization: A Model and Concept, in: Annals of the Association of American Geographers 59, 1969,348-364. 50 Stadtarchiv Köln, Bestand Handel, Nr. 571. 51 Geplanter Direktkurs 1615: FZATTR, PA 2521; 1616: FZATTR, PA 1233, fol. 10; 1642: FZATTR, PA 3365; 1653: Robert Stauden raus, Das Post- und Botenwesen in der ehemaligen Markgrafschaft Brandenburg-Ansbach, in: Archiv für Postgeschichte in Bayern 13, 1937,24-37,95-103; ebd. 14, 1938, 177-188,237-252; ebd. 15, 1939, 313-328, 373388, hier 385; 1695: Robert Staudenraus, Alte Posthaltereien des Postkurses NürnbergHamburg auf dem Weg durch Franken und Thüringen, in: ebd. 18, 1943,267-288, hier 281; Visitationsbericht 1715: Georg Renne rt, Die Poststation Duderstadt und Posten-Visitierung zwischen Hamburg und Kassel im April 1715, in: Deutsche Verkehrs-Zeitung 56, 1932, 631-632; Visitationsakten 1726: FZATTR, PA 1489; Poststundenzettel 1804: FZATTR, PA 1113. 52 Schnellpost in Preußen seit 1821, in Österreich 1823, in Sachsen 1824, in Bayern 1826: RudoljWagenbrenner, Die Einführung der Eilpostwagen in Bayern. Ein Beitrag zur Erforschung der Entwicklungsgesetze der Post, in: Archiv für Postgeschichte in Bayern 2, 1926, 4-20; Klaus Beyrer, Eilwagen und Schnellpost, in: ders. (Hrsg.), Zeit der Postkutschen. Drei Jahrhunderte Reisen 1600-1900. Karlsruhe 1992, 189-197; Friedrieh H. Hofmann, 46
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Diese Beschleunigung hatte praktische Konsequenzen: Der Zeitunterschied zwischen den geographischen Längengraden begann eine Rolle zu spielen. 53 Die Abstimmung der Fahrpläne erforderte die Einführung einer Normalzeit. Diese Standardisierung der Zeit gilt als Paradebeispiel für die Konsequenzen des Eisenbahnbaus. Doch bereits 1825 wurde eine Normaluhr am preußischen Hauptpostamt in Berlin eingerichtet, welche die Zeit zwischen Königsberg und Kleve standardisieren sollte. Transportable Kursuhren mußten jetzt von allen Postkutschen und -reitern mitgeführt werden und trugen die Normalzeit des Hauptpostamts in die letzten Winkel des Reiches. 54 Die Beschleunigung der Geschichte war früher angelegt als die Anhänger einer ,Sattelzeit' um 1800 wahrhaben möchten. Ihr Start erfolgte mit dem traditionellen Beginn der Neuzeit, der Etablierung eines Systems der Raumportionierung zur Rationalisierung der Kommunikation, nicht mit der Gutenberg-, sondern mit der ,Taxis-Galaxis' um 1500. Der ,Take-off' dieses Kommunikationswesens ereignete sich im 17. Jahrhundert - und vielleicht nicht zufällig - synchron mit einer anderen bekannten Umwälzung, der ,Scientific Revolution', deren Dynamik ganz wesentlich auf der raschen und systematischen Diskussion neuer Ideen beruhte55 , wie man am Briefwechsel des ersten Sekretärs der Royal Society, Henry Oldenburg (ca. 1617-1677), erkennen kann56 . Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, daß sich in diesen KOlTespondenzen und Korrespondenzkreisen über politische und konfessionelle Grenzen hinweg auch öffentliche Meinung konstituierte. 57
Das kursächsische Postwesen, in: Eberhard Stimmel (Hrsg.), Lexikon Kursächsische Postmeilensäulen. Berlin 1989,49-78, hier 77. 53 Eviatar Zerubavel, The Standardization of Time. A Sociohistorical Perspective, in: American Journal of Sociology 88, 1982, 1-23; Dohrn-van Rossum, Die Geschichte der Stunde (wie Anm. 22), 296-321; zur Normaluhr: ebd. 316f. 54 Walter Ehrenfried, Kursuhren, in: Beyrer (Hrsg.), Zeit der Postkutschen (wie Anm. 52), 200f. (mit Abbildungen). 55 Thomas S. Kuhn The Structure of Scientific Revolutions. Chicago 1962,2., erw. Auti. Chicago 1970; dt.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Übers. v. Hermann Vetter. Frankfurt am Main 1976; Bertita L. Compton, Scientific Communication, in: Ithiel de Sola PoollWilbur Schramm (Eds.), Handbook of Communication. Chicago 1973, 755778; Marie Boas Hall, Oldenburg and the Art of Scientific Communication, in: Britis)1 Journal for the History of Science 2, 1965,277-290; William Eamon, From the Secrets of Nature to Public Knowledge, in: David C. Lindberg/Robert S. Westman (Eds.), Reappraisals of the Scientific Revolution. Cambridge 1990, 333-366. 56 Rupert Hall/Marie Boas Hall (Eds.), The Correspondence of Henry Oldenburg. Vol. 1: 1641-1662. With the Collection of Eberhard Reichmann. MadisonlMilwaukee 1965,481. Zu den sozialen Aspekten des "networking": Iordan Avramov, An Apprenticeship in Scientific Communication: The Early Correspondence of Henry Oldenburg (1656-63), in: Notes. Rec. Royal Society London 53, 1999, 187-201. .. 57 Hans Erieh Bödeker, Lessings Briefwechsel, in: ders./Ulrich Herrmann (Hrsg.), Uber den Prozeß der Aufklärung in Deutschland im 18. Jahrhundert. Personen, Institutionen und Medien. Göttingen 1987, 113-138, hier 137f.
Zur Beantwortung der Frage, ob die Kommunikationsrevolution der Frühen Neuzeit die europäische Gesellschaft verändert hat, sei darauf hingewiesen, daß die großen politischen Revolutionen in England, in Nordamerika und Frankreich, die Wissenschaftsrevolution ul!d die Industrielle Revolution in der Ära des Postwesens gründeten. 58 Die krhische Öffentlichkeit konstituierte sich nicht in Habermasschen Kaffeehäusern, sondern in einem frei zugänglichen, öffentlichen "Space of Flows", wie Castells den physischen Raum der Kommunikation genannt hat59 , der eine permanente kritische Diskussion überhaupt erst ermöglichte. Mit der Kommunikationsrevolution entstand eine permanente Öffentlichkeit, gespeist durch regelmäßige aktuelle Nachrichten, die zudem durch Auswahl zugespitzt, im Druck vervielfältigt und rasch durch die Kanäle der Kommunikation verbreitet werden konnten. Der Zusammenbruch der Zensur im England des Jahres 1642 beleuchtet schlaglichtartig die Wirkung des neuen Medienverbunds, der binnen Wochen eine öffentliche Meinung von unbekannter Durchschlagskraft organisierte. 6o Der böhmische Kupferstecher Wenzel Hollar brachte bereits im Vorfeld den berühmten Druck "The World is Ruled and Governed by Opinion" heraus. 6! Das frühneuzeitliche Postwesen war das avancierteste Kommunikationssystem, welches bis dahin existiert hat. Wenige Jahre nach seiner Einführung begann es die Wahrnehmung von Raum und Zeit, von Religion und Politik zu beeinflussen. Auf seine Infrastruktur waren Nachrichtenfluß und Personenverkehr angewiesen. Eine ähnlich, universale' Struktur hatte es vor 1500 niemals und nach 1850 nicht wieder gegeben, denn seither spalteten sich die Funktionen der Kommunikation auf andere Medien auf. 62 Während der Frühen Neuzeit erwies sich das Netzwerk des Postwesens als generative Matrix, auf deren Grundlage andere ,neue Medien' entstehen konnten. Die ,Botschaft' des Mediums war, horribile dictu, Modernisierung. 63 Dies ist seit dem Scheitern der Modernisierungstheorie ein umstrittener Begriff, der von manchen einer vergangenen Epoche zugewiesen wird. Hier hat er aber seine BeBernard BailyniJohn B. Hendl (Eds.), The Press and the American Revolution. New York 1980. 59 Manuel Castells, Grassrooting the Space of Flows, in: Wheeler/Aoyama/Warf (Eds.), Cities (wie Anm. 3), 18-30. 60 Joad Raymonds, The Invention of the Newspaper. English Newsbooks, 1641 to 1649. Oxford 1996. 61 Henry Peachum, The World is Ru1ed and Governed by Opinion [with an engraving by Wenceslaus HollarJ. London 1641. 62 So wurde seit etwa 1800 die optische Telegraphie, seit 1844 die elektrische Telegraphie für die Nachrichtenübermittlung eingesetzt, seit den 1830er Jahren die Eisenbahn für den Personentransport: Klaus Beyrer (Hrsg.), So weit das Auge reicht. Die Geschichte der optischen Telegraphie. Eine Publikation des Museums für Post und Kommunikation Frankfurt am Main. Karlsruhe 1995. 63 David Harrison, The Sociology of Modernization and Development. London 1988, 4. Ndr. der 2. Aufl. LondonlNew York 1997. 58
rechtigung, denn die ,Post-Modeme' im Wortsinn, von der ich hier spreche, steht nicht am Ende oder in der Mitte, sondern am Beginn des Prozesses der Modernisierung. Das frühneuzeitliche Postwesen war die Matrix aller standardisierten Kommunikationsprozesse, insofern es viele jener Merkmale erstmals ausprägte, die alle späteren Kommunikationsnetze auszeichnen: Verläßlichkeit, Gleichmäßigkeit, Regelmäßigkeit, Berechenbarkeit der Zeit und Kalkulierbarkeit der Kosten der Kommunikation. 64 Dazu wurden Hilfsmittel erfunden, deren Existenz heute für selbstverständlich gehalten wird: Wegeverzeichnisse, Ortslexika65 , Verkehrskarten, Verkehrs atl anten , Kurskarten, Reiseführer, Streckenpläne66 , Zeitungen, Fahrpläne auf Plakaten, in Kalendern, Zeitungen und Büchern, Porto- und Fahrtkostenübersichten, Werbeplakate und -inserate sowie Fahrkarten bzw. Tikkets 67 . Hinzu kam der Straßenbau, die Errichtung von Meilensteinen, welche die künstliche Raumportionierung auch in der Natur visualisierten, Wegweiser und Ortstafeln. 68 Das wichtigste Reisebuch des Jahrhunderts der Aufklärung funktionierte nur im Zusammenhang mit den seit 1700 stets beigegebenen "Accuraten Post / und Boten-Charten der vornehmsten Städte Europae".69 Mit den Institutionen und Medien im Umkreis der Post konnte jeder Dies entspricht ziemlich genau den Merkmalen: "precise, punctual, calculable, standard, bureaucratic, rigid, invariant, finely coordinated, and routine", die Zerubavel als charakteristisch für den Rationalismus der westlichen Kultur benennt: Eviatar Zerubavel, Hidden Rhythms. Schedules and Calendars in Social Life. Chicago 1967, XVI. 65 Christian Friedrich Goldschadt, Sammlung nöthiger Nachrichten oder deutliche Beschreibung derer Marktflecken, Flecken, Stifter, Klöster, Schlösser, Ämter und dergleichen in Deutschland, mit einer Vorrede von Gottlieb Stolle. Jena 1735; Christoph Ludwig Eber, Geographisches Reise-, Post- und Zeitungs lexikon von Teutschland, oder gesammiete Nachrichten von denen in Teutschland liegenden Städten, Marktflecken, Flecken, Schlössern, Klöstern, Dörfern u.s.w. in alphabetischer Ordnung, samt deren Lage, Herrschaft, Gerichtsbarkeit, Merkwürdigkeiten, Distanzen, Poststraßen, Postberichten u.d.m., zum allgemeinen Nutzen derer Postämter, Reisenden, Kauf- und Handelsleute und überhaupt aller Correspondenten herausgegeben. Mit Röm. Kaiser!. und König!. Pohln. und Kurfürst!. Sächs. allerhöchsten Privilegiis. 2 Bde. Jena 1756. 66 Wolfgang Behringer, Südtirol a la Carte: Reisehilfsmittel für Reisende zwischen Deutschland und Italien, in: Der Weg in den Süden. Reisen durch Tirol von Dürer bis Heine. Eine Ausstellung des Landesmuseums Schloß Tiro!. Bozen 1998,27-45. 67 Wolfgang Behringer, Der Fahrplan der Welt. Anmerkungen zu den Anfängen der europäischen Verkehrsrevolution, in: Hellrnut TrischlerlHans-Liudger Dienel (Hrsg.), G€schichte der Zukunft des Verkehrs. Verkehrskonzepte von der Frühen Neuzeit bis zum 21. Jahrhundert. Frankfurt am Main/New York 1997,40-57. 68 Reisen ohne diese Ausschilderung barg drastische Risiken. Dem Benediktiner Plazidus Schar! (1731-1814) wurde 1757 auf einer Reise durch Mittelfranken von einem Bauern, der keine Mönche mochte, der falsche Weg gewiesen: "Lange irrten wir im Wald umher, verloren einen Holzweg nach dem anderen, kamen in Verhaue, gegen Zäune, in moosige Gründe, in Felsenmassen hinein, daß wir uns oft nur mit Mühe durchzuschlagen im Stande waren." Zitiert nach Hildebrand Dussler (Hrsg.), Reisen und Reisende in BayerischSchwaben. Bd. 1. Weißenhorn 1968,229. 69 Die Vornehmsten Europäischem Reisen I wie solche durch Teutschland I Franckreich I Italien I Dännemarck und Schweden I vermittelst der dazu verfertigten Reise-Carten nach
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einzelne Mensch mit jedem einzelnen Ort dieses Kontinents problemlos persönlich durch Reisen oder als Korrespondent in Kontakt treten. 70 Wie hat man ohne diese Hilfsmittel jemals reisen können? Auch, Postmodernisten ' werden darauf nicht verzichten wollen - und wenn OU Wtm ~e l!l'fUUbttt! 5.lU(~ wddin'i11il!Tmllt<jd&ige ~öl1 ~,1g61! Q:llg ~UjlCllollllllcn ;
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Abb. 1: Die Zeichnungen Rodolphe Toepffers (1799-1846) zeigen, wie wenig Mittel notwendig sind, um einen bestimmten physiognomischen Eindruck in unserer Wahrnehmung zu hinterlassen. 82 Für die Kommunikation bedeutet das zum einen, daß bereits wenige Infonnationen ausreichen, um den Beteiligten einen gegenseitigen Eindruck zu verschaffen, bevor ein Wort gewechselt worden ist, zum anderen, daß die kommunikationsbegleitenden Körpersignale laufend mitverarbeitet werden, das he(ßt einen weiteren, ständig mitinterpretierten Zeichenkontext liefern. Menschen erlernen diese Zeichen in gleicher Weise wie sprachliche Zeichen. Analog zur Sprache wäre davon auszugehen, daß es einen unterschiedlichen Umfang der Kompetenz bei der Erzeugung und Interpretation solcher Zeichen gibt. Interessant am Essay Rodolphe Toepffers sind seine weiteren physiognomischen Einsichten, die sich von denen Johann Caspar Lavaters darin unterscheiden, daß er die von diesem vertretene, exzessive Form eines normativen Realismus ablehnt. Des weiteren ist bemerkenswert, daß er bereits von physiognomischen Zeichen ausgeht, die er in beständige und wandelbare teilt: unter ersteren versteht er die körperlichen Formen, unter den zweiten die situationsbedingten Ausdrucksformen.
jeglicher Art. Hier bedarf es des Anschlusses an die von seiten der Kunstgeschichte im letzten Jahrzehnt verstärkt entwickelte Bildwissenschaft, die sich im Gegensatz zur herkömmlichen Kunstgeschichte auch den bisher weniger beachteten Bildgenres wie zum Beispiel der Karikatur oder dem Comic widmet. 83 Für heutige Zeiten erweitert sich der Quellenbestand um Photographie und Film (Stand- und Bewegtbild), Quellen, die von der Geschichtswissenschaft nur zögerlich erschlossen werden. 84 V gl. Ernst H. Gombrich, Maske und Gesicht. Die Wahrnehmung physiognomischer Ähnlichkeit im Leben und in der Kunst, in: ders./Julian HochberglMax Black (Hrsg.), Kunst, Wahrnehmung, Wirklichkeit. Frankfurt am Main 1977, 10-60, hier 34f. 83 Gombrich, The Uses ofImages (wie Anm. 17). 84 Verwiesen sei hier nur auf Knut Hickethier (Hrsg.), Der Film in der Geschichte. (SigmaMedienwissenschaft, Bd. 23; Schriften der Gesellschaft für Film- und Fernsehwissen-
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Sprachliche Darstellungen kommen ohne bildliche Abbreviaturen nicht aus. Solche Bilder können zum Signum eines bestimmten Stiles werden. Am Beispiel der Körpersprache kann gezeigt werden, wie die Darstellung solcher Details genutzt wird, um spezifische Realitätseffekte zu eneichen. 85 Doch geht eine solche Analyse bereits über in die Arten von Verkörperung, um die es an dieser Stelle nicht in erster Linie geht. Sprachliche Darstellung muß zugleich den gesamten Bereich der - auch philosophischen - Auseinandersetzung mit der Rhetorik umfassen: Tropen, zum Beispiel Metaphern, und Mythen als bildgebende Mittel. Dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit der Metaphorologie als erkenntniskritischem Potential. 86 Deutlich gemacht wird damit, daß in der Geschichtswissenschaft sämtliche verfügbaren Quellen zu analysieren sind in der Absicht, die vorhandenen Quellenarten zu einem Bild zusammenzufügen. Beispielhaft könnte der methodologische Zugang von Jonathan Crary sein, der die wechselseitigen Wirkungen veränderter Wahmehmungsweisen auf der einen und der Gesellschaft, Wissenschaft sowie Kunst auf der anderen Seite für das 19. Jahrhundert beschreibt. 87 Das, was bisher in unterschiedlichen Teilwissenschaften - Wissenschaftsgeschichte, Literatur-, Kunst-, Musikwissenschaftuntersucht worden ist, gehört in gleichzeitige wie räumlich zusammengehörige Kontexte, die nur so gegenseitig entschlüsselt werden können. Bisher gültige Fächergrenzen werden damit durchlässig, erscheinen als Behinderung neuer Erkenntnisse. schaft, Bd. 6.) Berlin 1997; ders., Film- und Fernsehanalyse. 2. Aufl. StuttgartlWeimar 1996; ders. (Hrsg.), Aspekte der Fernsehanalyse: Methoden und Modelle. (Beiträge zur Medienästhetik und Mediengeschichte, Bd. 1.) Münster 1994. 85 Barbara Korte, Körpersprache in der Literatur: Theorie und Geschichte am Beispiel englischer Erzählprosa. Tübingen 1993, mit umfangreichen Literaturverweisen sowohl zur älteren literaturwissenschaftlichen und philosophischen Diskussion der Thematik wie den neueren sozialwissenschaftlichen Untersuchungen zur nonverbalen Kommunikation. 86 Gert Ueding (Hrsg.), Rhetorik zwischen den Wissenschaften. Geschichte, System, Praxis als Probleme des ,Historischen Wörterbuchs der Rhetorik'. (RhetOlik-Forschungen, Bd. 1.) Tübingen 1991; Jürgen Kopperschmidt (Hrsg.), Rhetorik. Bd. 1: Rhetorik als Texttheorie. Bd. 2: Wirkungsgeschichte der Rhetorik. Darmstadt 1990/91; ders. (Hrsg.), Fest und Festrhetorik: Zu Theorie, Geschichte und Praxis der Epideiktik. München 1999; ders. (Hrsg.), Rhetorische Anthropologie: Studien zum Homo rhetoricus. München 2000; Mare Fumaroli (Ed.), Histoire de la rMtorique dans l'Europe moderne 1450-1950. Paris 1999; Aristoteles, Rhetorik. 2 Bde. (Aristoteles Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 4.) Darmstadt 2002, hier insbesondere die Einleitung des Herausgebers, Christof Rapp, zur Editions- und Rezeptionsgeschichte im ersten Band, 169-451; Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt am Main 1998; ders" Ästhetische und metaphorologisehe Schriften. Frankfurt am Main 2001; Anselm Haverkamp (Hrsg.), Die paradoxe Metapher. Frankfurt am Main 1998. 87 Jonathan Crary, Techniques of the Observer. Vision and Modernity in the Nineteenth Century. Cambridge 1990 [deutsche Übersetzung: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert. DresdenlBasel 1996]; ders., Suspensions of Perception. Attention, Spectac1e, and Modern Culture. Cambridge 1999.
IV. Schlußbemerkung Kommunikation wird dann zu einem wichtigen Begriff der historischen Forschung, wenn er Fragerichtung und Programme beeinflußt. Sich den Formen der Kommunikation zu öffnen, bedeutet, den inhaltlichen Aspekt unter ganz anderen Gesichtspunkten wahrzunehmen. Es geht zuvorderst nicht mehr um die Frage, was an Information ausgetauscht wurde und welche grundsätzliche Bedeutung wir dieser Information beimessen, sondern darum, wie diese Information ausgetauscht wurde, welche Kontexte die Nachricht selbst einrahmen. Die Betonung der Wie-Frage zielt zum anderen darauf ab, nicht nach Wesenserklärungen, die auch die Form funktioneller Betrachtung annehmen können, zu suchen, sondern Arten der Kommunikation zu beschreiben ohne vorrangige Rücksicht auf das Kommunizierte. Daß selbstverständlich auch der Inhalt, das Kommunizierte, wichtig und von eminenter Bedeutung ist, soll damit nicht in Abrede gestellt, sondern nur relativiert werden. Die Ethnomethodologie zeigt, daß die Geschichtswissenschaft Vergangenheit in der Form ihrer Erzählungen zu authentifizieren hat. Es ist die Frage, ob das Authentische in dem Sinne richtig aufgefaßt wird, daß nur die unmittelbar selbst erlebte, selbst gestaltete Aufführung authentisch sein kann. Erzählungen - wörtlich oder bildlich - könnten dann den Status des Authentischen nicht erreichen. Das Authentische wäre daher nur im kurzen Zeitfenster der Gegenwart möglich. Schon die Erinnerung vermag den Status des Authentischen nicht mehr zu erreichen, da sie sich aller Verfahren und Techniken bedient, die auch in einer Erzählung notwendig sind, um das Erlebte auf begrenztem Raum und in begrenzter Zeit darstellbar zu machen. Erörterungen zum Quellenbegriff der Geschichtswissenschaft sollten an dieser Stelle ansetzen. Für die Ethnomethodologie scheint klar: Die Wirklichkeit und die Wahrheit, die Echtheit und Authentizität werden nur im Moment des augenblicklichen Erlebens wahrgenommen. Vergangenheit und Zukunft können nur Ableitungen des Echten und Wahren sein, da sie erinnert oder vorentworfen, also memoriert und imaginiert werden müssen. Die Suche nach Echtheit und Wahrheit ist zugleich der Versuch, Indexikalität zu heilen. Authentizität stellt sich nur her in der zeitlichen (Simultaneität) und der räumlichen (Koexistenz) Präsenz von Körpern und ihren Entäußerungen, ihren Verkörperungen. Nur in solchen Augenblicken vermögen wir Wahrnehmungen zu speichern, die uns im Nachhinein als wahr, als authentisch erscheinen. Daher ist die öffentliche Aufführung von so entscheidender Bedeutung für die Authentifizierung sozialer Wirklichkeit.8 8 Daher ist die mediale VerVera Jung, Körperlust und Disziplin (wie Anm. 64), 340, hat auf die Bedeutung der Öffentlichkeit einer Aufführung für die Art der Darstellung hingewiesen und zugleich dar-
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mittlung von sozialer Wirklichkeit so problematisch für die Wahrnehmenden, da das Geschehen in den seltensten Fällen authentifiziert werden kann. Alles medial Vermittelte ist daher auf Akte des Glaubens angewiesen, auf Konstruktionen der Plausibilität einer Wahrnehmung, die so nicht und niemals verifizierbar sind. Authentische Erlebnisse sind nicht wiederholbar, sie sind unwiederbringlich vergangen, da die jeweilige Aufführung Unterschiede aufweisen muß. Für die Geschichtswissenschaft ergibt sich aus (de)konstruktivistischen Überlegungen eine gute und eine schlechte Nachricht. Die schlechte zuerst: Historiker/innen können nicht mehr daran glauben, historische Wirklichkeit zu erforschen und abzuschildern, wie es wirklich gewesen ist, zu komplex und schwierig sind die Vermittlungsprozesse - Iser spricht von einem asylum ignorantiae -, die vollzogene soziale Handlungen von ihrem Nachvollzug in der Gegenwart entfernen. Die gute Nachricht: Geschichtswissenschaft vergegenwärtigt durch quellengestützte memoria Traditionen, indem sie dem kurzen Gedächtnis der Gegenwart aufhilft und die in ihr nachweisbaren Spuren der Vergangenheit benennt, die zur Interpretation der Gegenwart wichtig sind. Zudem benötigt die Wurzellosigkeit des aktuellen Diskurses eben keinen Halt, der nicht argumentativ eingebracht werden müßte: Natur und Kultur sind dafür noch immer gute Strategien der Argumentation. Und zu beiden hat Geschichtswissenschaft viel beizutragen. Erfahrungen sind durch das Gedächtnis gegeben und wie dieses Änderungen unterworfen. J ack Goody hat von einer homöostatischen Organisation des Wissens in Gesellschaften mit ausschließlich oder vornehmlich mündlicher Überlieferung des Wissens gesprochen. Gedächtnisinhalte verändern sich dynamisch mit der Veränderung der sozialen Kontexte, ohne daß die Veränderung als solche wahrgenommen wird. Der Verlust an Schriftlichkeit durch die zunehmende Bedeutung der Bildmedien wird dann zu einer Veränderung des Wissens führen, w,enn solche Bilder - wie bisher - weitgehend flüchtig bleiben trotz der Möglichkeiten von Speichermedien, solche Bilder langfristig zu archivieren und damit abrufbar zu halten. Gerade angesichts einer solchen Situation wird deutlich, wie wichtig die Aufmerksamkeit für die Rhetorik, für die Semiotik von Bildern, Körpern, Objekten ist. Die oben nur sehr unvollständig ausgeführten, angedeuteten Beispiele möglicher Forschungsfelder haben eines gemeinsam: ihre Ausrichtung an Grundfragen der Semiotik. Es ist freilich festzustellen, daß Bemühungen, die Semiotik historisch zu fundieren, bisher eher selten sind. 89 Es ist außerdem auf aufmerksam gemacht, daß die Abnahme der Tanzaktivität als integraler Bestandteil vieler Bereiche des öffentlichen Lebens Folge einer Intimisierung gesellschaftlichen Lebens, eines Rückzugs aus öffentlichen Räumen ist; vgL dazu auch die Arbeit von Sennett, The Fall ofPublic Man (wie Anm. 53). 89 Winfried Nöth, Handbuch der Semiotik. 2. Aufl. Stuttgart/Weimar 2000.
offen, welcher Art von Theorie gefolgt werden soll. Die philosophische Begründung der Zeichenverwendung und ein sehr weitgehendes Konzept des Zeichens lassen die Vorschläge von Charles Sanders Peirce als besonders geeignet erscheinen, zumal sie über eine erkenntnistheoretische Fundierung verfügen und auf das anfänglich formurierte Problem Antwort geben: die Konstitution der sozialen Welt des Menschen sowie die Auswirkung solcherart festgestellter Konstitutionsbedingungen auf sein Handeln. Ob allerdings dem Programm eines sinnkritischen Realismus gefolgt wird, wie es Charles Sanders Peirce von Karl-Otto Apel zugeschrieben wird, muß offen bleiben. Die Unterscheidung von icon, index und symbol, die offensichtlich von Harold Garfinkel aufgegriffen worden ist, erscheint auch für historische Analysen außerordentlich brauchbar, da für Peirce der Zeichengebrauch einer Sprachgemeinschaft zu den notwendigen Voraussetzungen der Konstitution unseres Weltverständnisses gehört. 90 Das oben umrissene Forschungsprogramm hat daher ein Ziel: Neben die historische Semantik eine historische Semiotik zu stellen, die nicht nur die sprachlichen, sondern auch andere Bilder berücksichtigt. Eine solche historische Semiotik bedarf allerdings eines gründlichen theoretischen Fundamentes.
Apel, Einführung: Der philosophische Hintergrund (wie Anm. 27); ders., Einführung: Peirces Denkweg (wie Anm. 27).
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Gesten, Kleidung und die Etablierung von Diskursräumen im städtischen Gerichtswesen ( 1350-1650) Von
Franz-Josej Arlinghaus 1. Einleitung Der Aufsatz thematisiert verschiedene Kommunikationsmodi in den Stadtgesellschaften vom 14. bis zum frühen 17. Jahrhundert. In einem ersten Schritt wird aufgezeigt, daß den Personen im betrachteten Zeitraum, anders als in der Modeme, ein rasches Einfügen in verschiedene Kommunikationskontexte, ein Rollenwechsel, nicht ohne weiteres möglich war. Darauf aufbauend ist dann zweitens zu fragen, in welcher Form nötige Rollenwechsel zwischen Diskursräumen durchgeführt wurden. In den Blick zu nehmen ist zum einen die visuelle Erscheinung der Person: Kleidung, Gestik sowie weitere Attribute wie etwa Amtszeichen oder Schmuck. Zum anderen soll die Ausgestaltung der Plätze und Räume, auf und in denen kommuniziert wurde, thematisiert werden. Aus Platz gründen können die zunehmende Verschriftlichung im Verfahren und die Umformungen der Sprache selbst nur gestreift werden. Nicht ohne Grund stehen kommunale Amtsträger, insbesondere diejenigen des städtischen Gerichtswesens, im Zentrum des Beitrags. Denn den an Gerichtsverhandlungen beteiligten Amtsträgem wurde bei ihrer Tätigkeit in besonderem Maße ein Hineinschlüpfen in Rollen - etwa die des Richters - abverlangt, die sich stark von ihren im Alltag ausgeübten Rollen - etwa der des patrizischen Kaufmanns - unterschieden. Die Verhältnisse in den Städten Köln und Frankfurt bilden einen gewissen Schwerpunkt in der Untersuchung, jedoch wird immer wieder auch auf andere Städte einzugehen sein. Im Hinblick auf Kleidung, Amtszeichen, Gesten und Gestaltung des Gerichtsortes lassen sich innerhalb der betrachteten drei Jahrhunderte gravie~ rende Veränderungen feststellen. So verlagerte sich etwa - um vorzugreifen die Markierung der Richterrolle durch Gesten und ephemere, am Körper getragene Attribute hin zu einer durch architektonische Elemente und soziale Prädispositionen (Ausbildung) bestimmten Kennzeichnung. Die Änderungen im Gerichtswesen während des Spätmittelalters und vor allem in der Frühneuzeit werden in der historischen und rechtshistorischen Forschung zumeist unter den Gesichtspunkten ,Rationalisierung', ,Professionalisierung' und ,Sozialdisziplinierung' sowie ,Individualisierung' diskutielt, um nur einige
Stichworte zu nennen. Der hier gewählte kommunikationstheoretische Ansatz kann viele Stränge dieser Diskussion aufgreifen, stellt die dort angestellten Beobachtungen jedoch in einen anderen Zusammenhang. Der Beitrag fokussiert vornehmlich die verschiedenen Formen der Kommunikation vor Gericht in ihrem Verhältnis;ium kommunikativen Feld, Stadt' insgesamt. Damit ist implizit schon die These aufgestellt, daß die je spezifische Ausgestaltung dieses Verhältnisses für das Gericht von entscheidender Bedeutung war. Es wird deshalb zu fragen sein, ob nicht die Veränderung der Kommunikationsformen eine wichtige Voraussetzung dafür darstellte, daß das Gericht nun stärker sich selbst - und das heißt auch: die Art und Weise, wie in der Verhandlung Konflikte zu bearbeiten waren - zum Thema machen konnte. Denn die Hegungsfragen oder die Markierung der Richterrolle sind Themen, die ihren Bezugspunkt außerhalb des eigentlichen Gerichts finden. Im Verfahren des Spätmittelalters wurde ein Großteil der Aktivitäten darauf gerichtet, fortwährend die Kommunikation vor Gericht in ihrem Verhältnis zu anderen Formen der Kommunikation zu thematisieren. Dagegen ist um 1600 eine gewissermaßen ,eingerastete' Thematisierung des Verhältnisses dieser Diskursräume zueinander feststellbar. Aus der Binnenperspektive des Verfahrens scheint dies, so eine Vermutung, die Bedingung der Möglichkeit für eine stärker ausgeprägte Selbstreferentialität der Kommunikation vor Gericht dargestellt zu haben. In nur scheinbarem Widerspruch hierzu lautet die zentrale These, daß trotz aller beschreibbaren Änderungen die kommunikativen Grundmechanismen zur Kennzeichnung des Diskursraumes , Gericht' und der in ihm auftretenden Personen dieselben blieben. Es wird sich zeigen, daß sowohl um 1400 wie um 1600 zur Markierung der Richterrolle Rituale oder den Ritualen äquivalente Strategien implementiert wurden. Vor diesem Hintergrund ist dann abschließend zu fragen, ob und in welchem Maße sich allgemeine Einsichten in die Struktur der Kommunikation in der Vormoderne gewinnen lassen. Dabei wird es darauf ankommen, die von van Gennep entwickelten Ideen zu Übergangsriten in einfachen Stammesgesellschaften zu modifizieren, um sie für die Verhältnisse der europäischen Vormoderne nutzbar zu machen. Längst ist es zu einem Gemeinplatz geworden, daß Bilder nicht die Realität wiedergeben, und niemand würde behaupten wollen, das Mobiliar der Gerichtsräume habe genau so ausgesehen, wie auf den Holzschnitten gezeigt. Postuliert wird allerdings, daß die in den bildlichen Darstellungen zum Ausdruck gebrachten Raumkonzeptionen ihre Entsprechung in der konkreten Ausgestaltung der Lauben und Rathaussäle fanden. Die zum Teil noch erhaltenen Gebäude und Bestuhlungen, auf die an gegebener Stelle zu verweisen ist, stützen diese Annahme.
Ir. Städtische Amtsträger im Kontext eines integralen Personenverständnisses Um die Bedeutung des integralen Personenkonzepts in der Vormoderne für das hier behandelte Thema deutlich hervortreten zu lassen, ist zunächst der Begriff der ,Rolle' einzuführen. Die Diskussion um Kleider- und Aufwandsordnungen gruppiert sich, wie erwähnt, vornehmlich um den Begriff, Status' und das diesem zugrunde liegende Konzept einer hierarchisch gegliederten Gesellschaft, die sich selbst ihr zentrales Ordnungsmuster - eben auch durch Kleidung - immer wieder bestätigte und vor Augen führte. 1 Die Ergebnisse, die diese Forschung in den letzten Jahren erarbeitet hat, sollen hier nicht in Frage gestellt werden; auch dieser Beitrag greift an verschiedenen Stellen auf sie zurück. Die im Kern sozialgeschichtliche Kategorie, die mit dem StatusBegriff evoziert wird, erweist sich jedoch für die Verwendung unter kommunikationstheoretischer Perspektive als nur bedingt verwendbar. ,Status' thematisiert im Zusammenhang mit Kleidung die an der visuellen Erscheinung ablesbare Stellung einer Person innerhalb der Gesellschaft. Der Begriff der ,Rolle' rückt dagegen die Erwartungshaltung in das Zentrum der Betrachtung, die in einer bestimmten Kommunikationssituation an ein Gegenüber gerichtet ist. 2 Ein zentraler Aspekt des Aufsatzes wird sein, der Frage nachzugehen, wie diese Erwartungshaltungen in der Vormoderne generell strukturiert waren und wie sie sich für spezifische Situationen formatieren ließen. Die visuelle Erscheinung spielt hier eine wichtige Rolle. 1435 beschloß der Rat der Stadt Köln, daß das von der Kommune bezahlte und für die führenden Amtsträger - die beiden Rentmeister, die beiden Bürgermeister und den Stadtpfaffen - bereitgestellte Gewand von einheitlicher Farbe sein sollte. Die Farben, so der Beschluß weiter, waren von den bei den abgehenden Bürgermeistern und den Rentmeistern festzulegen. 3 Gut ein Jahrzehnt später wurde die Regelung wiederholt und präzisiert: Die amtierenden Bürgermeister und Rentmeister mit ihren Beisitzern hatten am Vorabend des Aschermittwoch zusammenzukommen und die ab dem Sankt Johannistag
Liselotte Constanze Eisenbart, Die Kleiderordnungen der deutschen Städte zwischen 1350 und 1700. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des deutschen Bürgertums. (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft, Bd. 32.) Göttingen 1962; grundlegend: Neithard BulstlRobert lütte (Hrsg.), Zwischen Schein und Sein. Kleidung und Identität in der ständischen Gesellschaft. (Saeculum, Bd. 44.) Freiburg/München 1993. 2 Vgl. unten bei Anm. 17 sowie die Literatur in Anm. 17-19. 3 Walther Stein, Akten zur Geschichte der Verfassung und Verwaltung der Stadt Köln im 14. und 15. Jahrhundert. 2 Bde. (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Bd. 10.) Bonn 1893/95, Ndr. Düsseldorf 1993, hier Bd. 2, Nr. 168, § 44, 278,22. 6. 1435; vgl. Robert Giel, Politische Öffentlichkeit im spätrnittelalterlich-frühneuzeitlichen Köln (1450-1550). (Berliner Historische Studien, Bd. 29.) Berlin 1998, 208ff. 1
für das kommende Jahr von den Amtspersonen zu tragenden Farben zu bestimmen. 4 Ähnlich wie die leitenden Amtsträger wurden auch die übligen kommunalen Bediensteten - die Boten Werkleute, Söldner sowie die in kommunalen Diensten stehenden Wundärz~e - von der Stadt mit Kleidung von bestimmter Farbe, Qualität und bestimmtem Schnitt versehen. Da Boten und Werkleute anders als Bürger- und Rentmeister - nicht jährlich aus dem Amt schieden und es ihnen nicht zustand, die Farben selbst zu wählen, existieren über die von diesen Gruppen zu tragende Kleidung detaillierte Vorschriften. So bekamen die Boten des Gewaltgerichts acht Ellen Tuch, dazu lammfarbenes Futter. Zudem sollte die Kleidung, wie auch die anderer städtischer Boten und Dienstleute, aus Tuch in zwei unterschiedlichen Farben geschneidert werden, wobei die bei den Stoffe je halb und halb in der Mi-Parti-Form zusammenzunähen waren. Etwas versetzt von der Mitte war ein Streifen anzubringen, der von oben nach unten zu laufen hatte und vorn und hinten von der jeweils anderen Farbe sein sollte. Die Ärmel waren geschlossen zu tragen. 5 Noch detaillierter fällt die Beschreibung für die städtischen Kannenträger aus. 6 Nicht selten hatten die Bediensteten der Stadt in ihrem Amtseid zu geloben, die Kleidung beständig zu tragen und an der Amtstracht keine Veränderungen vorzunehmen. Dies beschworen 1412 etwa die Boten des Gewaltgerichts.7 Die detaillierte Beschreibung von Farbe, Schnitt und Futterstoff macht deutlich, mit welch großer Sensibilität die Kleiderfrage auch bei vergleichsweise wenig repräsentativen Ämtern behandelt wurde. So waren nicht nur alle, vom Bürgermeister bis zum Boten, als in städtischen Diensten stehend erkennbar. Darüber hinaus konnte man jede Person an ihrer Kleidung einer bestimmten Gruppe innerhalb der Administration - etwa den Werkleuten, den Kannengießern oder den Boten des Gewaltgerichts - zuordnen. 8 Die Bedeutung der Kleidung in der Stadt, speziell für die Administration, läßt sich daran ablesen, daß man sie umgekehrt als Kriterium für eine Normbestimmung nutzte: 1403 wurde festgelegt, daß Kölner Bürger, die für die Stadt tätig waren und Kleidung von der Kommune erhielten, mit Ausnahme der Bürger- und Rentmeister nicht in den Rat gewählt werden konnten. 9 An-
Stein, Akten (wie Anm. 3), Bd. 2, Nr. 202, Art. 1, § 1,319,6.6.1446; dazu Giel, Öffentlichkeit (wie Anm. 3), 208ff. 5 Stein, Akten (wie Anm. 3), Bd. 2, Art. 1, § 8,322,6.6. 1446. 6 Diesen sollten "wellen" auf die Ärmel genäht werden; ebd. Bd. 2, § 9, 323. 7 Ebd. Bd. 1, Nr. 105, § 2, 266. 8 Dazu unten Anm. 22. .. 9 Stein, Akten (wie Anm. 3), Bd. 1, Nr. 75, 228f., 22. 12. 1403; vgl. dazu Giel, Offentlichkeit (wie Anm. 3), 209ff. Zur Nichtwählbarkeit von Bediensteten, die städtische Kleidung trugen, vgl. Knut Schulz, Die politische Zunft, in: Wilfried Ehbrecht (Hrsg.), Verwaltung und Politik in Städten Mitte1europas. Beiträge zu Verfassungsnormen und Verfassungs-
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gesichts der noch übersichtlichen Zahl städtischer Amtsträger ging es in diesem Kontext sicherlich nicht um die Möglichkeit der eindeutigen Identifikation einer für den Rat kandidierenden Person. Wer Schreiber oder Bote war, war dem Rat bekannt. Deutlich wird an diesem Statut allerdings, daß man ganz selbstverständlich die visuelle Erscheinung zu einem Kriterium für eine Rechtsregelung machte. Die Basis hierfür bildete letztlich das weitgehende In-eins-Setzen von Kleidung und gesellschaftlicher Rolle, "so daß ein jeder in seinem Stand unterschiedlich erkannt werden möge", wie es in einer späten Frankfurter Kleiderordnung heißt. lO Dies mag auch eine Erklärung für die oben erwähnte Sensibilität für Accessoires - etwa Futterstoffe oder Ärmelformen etc. - bieten. Amtsträger wurden aber nicht nur durch ihre Kleidung markiert. Nach dem Eidbuch von 1372 hatten die aus dem Amt geschiedenen Kölner Bürgermeister "golt ind bunt" zu tragen, also einen besonderen Schmuck anzulegen. II Die ehemaligen Amtsträger, alle aus den bedeutenden Familien der Stadt stammend, wurden dadurch dauerhaft, gerade auch nach ihrer Amtszeit, als Gruppe aus der Bürgerschaft herausgehoben. Um 1400 ist dagegen von einem besonderen Schmuck für die Bürgermeister nicht mehr die Rede. 12 Jetzt waren sie qua Eid dazu verpflichtet, während ihrer Amtszeit einen Amtsstab bei sich zu tragen. 13 Sicherlich diente der Wandel von der Schmuckbeigabe zum Stab dazu, die Bürgermeister, die ja nun die gleiche Kleidung wie die Rentenmeister und der Stadtpfaffe trugen, von diesen abzugrenzen, ohne sie durch wirklichkeit in altständischer Zeit. (Städteforschung, Rh. A, Bd. 34.) Köln/Weimar/Wien 1994, 1-20, hier 10f. 10 Corpus Legum Francofurtensium 1748. Bd. 1, 52, zitiert nach Maria R. Boes, Public Appearance and Criminal Judicial Practices in Early Modern Germany, in: Social Science History 20, 1996, 259-279, hier 266. Ähnlich die RPO von 1548: "damit in jeglichem Stand unterschiedliche ,Erkanntnuß seyn möge", zitiert nach Johanrl Jacob Schmauss/ Heinrich Christian von Senckenberg, Neue und vollständige Sammlung der Reichs-Abschiede: von Zeiten Kaiser Conrad des 11. bis ietzo; in 4 Theilen, nebst einer Zugabe zu dem 4. Theil der Reichsgesetze. Frankfurt am Main 1747, Ndr. Osnabrück 1967, Teilbd. 1,593. 11 Wer dies nicht tragen wollte, durfte auch "gein silver noch gemalieirt" tragen, also wohl auch anderen, den Patliziern vorbehaltenen Schmuck nicht anlegen; Stein, Akten (wie Anm. 3), Bd. 1, Nr. 28, Art. 2, § 2, 269; dazu Gerd Schwerhoff, "Die groisse oeverswenckliche costlicheyt zo messigen". Bürgerliche Einheit und ständische Differenzierung in Kölner Aufwandsordnungen (14.-17. Jahrhundert), in: RhVjb1l54, 1990,95-122, hier106. 12 Schwerhoff bemerkt, daß solche elitären Abgrenzungen nach dem Umsturz von 1396 nicht mehr in die ,politische Landschaft' paßten; Schwerhoff, Aufwandsordnungen (wie Anm. 11), 105 f. Vgl. Klaus Militzer, Ursachen und Folgen der innerstädtischen Auseinandersetzungen in Köln in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins, Bd. 36.) Köln 1980, 109ff.; Wolfgang Herbom, Die politische Fühnmgsschicht der Stadt Köln im Spätmittelalter. (Rheinisches Archiv, Bd. 100.) Bonn 1977, 124 ff. 13 Die Ende des 15.\Jahrhunderts einsetzenden Bürgermeisterporträts bilden den Amtsträger fast immer mit diesem Attribut ab; Peter Fuchs (Hrsg.), Chronik zur Geschichte der Stadt Köln. Bd. 2: Von 1400 bis zur Gegenwart. Köln 1991, 103 ff.
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noch aufwendigere Kleidung zu stark herauszuheben. Zudem wurde der Stab nach Beendigung der Amtszeit - und dies ist ein wesentlicher Unterschied zu 1372 - wieder abgelegt. Eine wahrnehmbare Kennzeichnung der ehemaligen Bürgermeister unterblieb jetzt. Man könnte versucht sein, an diesem Wandel in der Ausgestaltung des Bürgermeisteramtes die Tendenz zu einem ,moderneren' Amtsverständnis abzulesen. Gerade die Art und Weise aber, wie mit dem Stab umgegangen wurde, zeigt, daß auch beim nur befristeten Amt des Bürgermeisters keine Differenzierung zwischen Amt und Person erkennbar wurde. Deutlich wird dies daran, daß die Bürgermeister den Stab nicht nur während ihrer Amtsgeschäfte mitzuführen hatten. Ausdrücklich wurde bestimmt, daß sie ihn auch bei ihren Wegen durch die Stadt, "up der straissen", bei sich tragen mußten.1 4 Dabei ging es nicht allein um Wege, die diese Amtsträger im Rahmen ihrer Dienstgeschäfte zurücklegten. 1414 stellte man in einem Zusatz klar, daß es ihnen nur zu Ostern und am ,weißen Freitag' erlaubt sei, ohne Amtsstab zu gehen. Weiter räumte man ein, daß sich die Bürgermeister bei der Rückkehr von einer Amtsreise ohne Stab durch die Stadt zu ihrem Haus begeben konnten, um dort das Amtszeichen zu holen. IS Daß der Stab als Symbol für Macht und Amtsgewalt I6 nicht zufällig den Bürgermeistern zugeordnet wurde, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Deutlich wird an den Quellenbeispielen zweierlei: Erstens macht gerade das Beharren auf dem Mitführen dieses Zeichens außerhalb des Rathauses klar, daß die zum Bürgermeister ernannte Person während ihrer gesamten einjährigen Amtszeit auch außerhalb der ,Amtsstube ' als Bürgermeister - und nicht etwa als ,Kaufmann' oder ,Immobilienbesitzer' - aufzutreten hatte. Zweitens zeigt das letzte Beispiel die sehr enge Verknüpfung von den dem Körper eines Amtsträgers beigegebenen, visuell wahrnehmbaren Attributen und der Rolle, die dieser in der Gesellschaft zu spielen hatte. 17 Stein, Akten (wie Anm. 3), Bd. 1, Nr. 67, § 2, 220 (ca. 1400), Eid der Bürgermeister. Ebd. Bd. 1, Nr. 107, Art. 2, § 2, 269, Eidbuch 1413-1414. Zur juristischen Diskussion um den Richterstab siehe Hubert Drüppel, Iudex civitatis. Zur Stellung des Richters in der hoch- und spätmittelalterlichen Stadt deutschen Rechts. (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 12.) Wien 1981,201 f., 226f. 17 Für die in der Moderne alltäglichen Rollenwechsel, die es ermöglichen, selbst gegensätzliche Erwartungshaltungen an die von einer Person ausgeübten Rollen zuzulassen, bleibt hier kein Raum. "Rollen können [in der Moderne] von der individuel1en Person unterschieden, als eigene [... ] abstraktere Gesichtspunkte der Identifikation von Erwartungs zusammenhängen dienen. [... ] Es geht immer nur um einen Ausschnitt des Verhaltens eines Menschen, der als Rolle erwartet wird, andererseits um eine Einheit, die von vielen und auswechselbaren Menschen wahrgenommen werden kann: um die Rolle eines Patienten, eines Lehrers, eines Opernsängers [... ]"; Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. 7. Aufl. Frankfurt am Main 1999,430 [Hervorhebung im Orig.]; ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Bd. 3. 5. Aufl. Frankfurt am Main 1998, 149ff.; Andre Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden: Studien über Interaktionssysteme. Frankfurt am Main 1999, 246ff., 370. 14
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Die Basis einer solchen Konzeption von ,Amt' war das in der Vormoderne dominante integrale Personenkonzept 18 , welches eben keine scharfe Trennung zwischen den ausgeübten Rollen vorsah 19 . Der von der Forschung zu Trachtenbüchern und Kleiderordnungen herausgearbeitete Befund, daß diese Texte Person und Kleidung offenbar in eins setzen20 , erscheint so in einem neuen Licht: Ein solches In-eins-Setzen setzte nicht nur voraus, daß Personen sich ihrem Stand gemäß kleideten, sondern auch, daß die Person selbst als integrales Ganzes konzipiert wurde, sie also nicht situativ, vielleicht in derselben Kleidung, in unterschiedliche Rollen schlüpfen konnte. Erwartungen über ein bestimmtes kommunikatives Verhalten waren an die Person gebunden, deren Stellung wiederum an der Kleidung erkannt werden konnte. Die Wahrnehmung der Kleidung, die visuelle körperliche Erscheinung der Person insgesamt, bildete damit eine zentrale Orientierungshilfe für die Strukturierung von Erwartungen, wurde zu einem wichtigen Moment für die Formatierung der Kommunikation. Kleidung kann dann umgekehrt dazu benutzt werden, eine Rolle, die nicht von der Person abzuheben ist, in einem konkreten Kommunikationszusammenhang zu markieren und das heißt dann: eine bestimmte Erwartungshaltung herzustellen und zu spezifizieren. 2I 18 Der Wandel von der integralen Person zum ,Rollenbündel ' erfolgt erst um 1800; Rudolf Schlögl, Glaube und Religion in der Säkularisierung. Die katholische Stadt - Köln, Aachen, Münster - 1700-1840. (Ancien Regime, Aufklärung und Revolution, Bd. 24.) München 1995, 296ff., 303ff. 19 I?ies ist ?as eigentliche Problem vormoderner Prozessions- und Sitzordnungen: "Die s~zIale Log~k s~1cher Prozessions- und Sitzordnungen unterstellte jeder Person prinzipiell el~~n Platz m emer all:lfnfassenden lmd kontinuierlichen Hierarchie"; Barbara StollbergRllznger, Rang vor Gencht. Zur Verrechtlichung sozialer Rangkonflikte in der frühen Neuzeit, in: ZHF 28,2001,385-418, hier 417 [Hervorhebung im Orig.]. "Einfachere Gesellschaften sind nicht oder nur sehr unvollkommen in der Lage, Rollen zu trennen. Auch sie aktivieren natürlich situationsweise verschiedene Rollen - in der Familie tritt man nicht als Krieger auf -, aber die Beurteilung, Kritik und Kontrolle des Verhaltens in einer Rolle ist konkret an die Person gebunden und nicht unabhängig von dem Verhalten in anderen Rollen möglich"; Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren. Frankfurt am Main 1993 61. ' 20 Valentin Groebner, Die Kleider des Körpers des Kaufmanns. Zum "Trachtenbuch" eines Augsburger Bürgers im 16. Jahrhundert, in: ZHF 25, 1998,323-358, hier 348. Arbeiten zu Kleiderordnungen sind oft skeptisch, ob die einzelnen Statuten so durchgesetzt wurden. Das Prinzip, d~e Engführu?g von Kleidung und Pe~son, bleibt davon jedoch unberührt; vgl. zul.etzt (llllt LIteratur) AnJa lohann, Kontrolle llllt Konsens. Sozialdisziplinierung in der ReIchsstadt Frankfurt a. M. im 16. Jahrhundert. (Studien zur Frankfurter Geschichte Bd. 46.) Frankfurt am Main 2001, 189. ' 21. In ei~er Anek?o~e aus den Dunkelmännerbriefen übersieht ein Akademiker den gelben Rmg, mIt dem dIe Ihm entgegenkommenden Juden gekennzeichnet sind. Er hält sie aufgr~nd ihrer langen Mäntel für Standes genossen und grüßt freundlich, woraufhin er von sem~m Begleiter scharf zurechtgewiesen wird. Dies zeigt u. a., daß man generell davon ausgmg, Akademiker an ihrem Außeren erkennen zu können, und daß ein Nichterkennen al~ mangelnde soziale Kompetenz dem einzelnen angelastet wurde; vgl. Robert lütte, StIgma-Symbole. Kleidung als identitäts stiftendes Merkmal spätmittelalterlicher und früh-
Gesten, Kleidung und die Etablierung von Diskursräumen im Gerichtswesen
Die Bekleidung der Bürgermeister, Boten und Kranleute zeugt davon, daß sich die städtischen Amtsträger an diesem gesellschaftlichen Grundkonzept auszurichten hatten. 22 War dies bei den zumeist lebenslang Beschäftigten noch wenig problematisch, so verlangte m,an immerhin von dem nur ein oder zwei Jahre amtierenden Bürgermeister, daß er für diese kurze Zeit vollständig in der neuen Rolle ,aufging'. Letztendlich wechselte er von einer ,integralen Person' zur anderen, und nicht zuletzt deshalb waren Amtseinführungen mit dem entsprechenden rituellen Aufwand verbunden. 23 Auf diesen Überlegungen basiert die zentrale Problemstellung, der sich der Beitrag im folgenden zuwendet. Denn zu fragen ist nun, welche Folgen ein solches, aus heutiger Sicht vergleichsweise undifferenziertes und vor allem: unflexibles Konzept für die Kommunikation selbst hatte. Wie konnten unter diesen starren Vorgaben überhaupt ephemere Rollenwechsel vorgenommen werden, bei denen eine Person nur kurzzeitig in bestimmten kommunikativen Kontexten agierte? Die städtische Gesellschaft des Spätmittelalters und der Frühneuzeit bietet hier ein lohnendes Untersuchungsfeld, da sie zu immer größerer Komplexität tendierte. Man könnte daher zunächst erwarten, daß dies eine immer differenziertere Vorstellung von Amt, Person und körperlicher Erscheinung zur Folge haben müßte. Allerdings folgt aus einer allgemeinen Komplexitätssteigerung nicht notwendigerweise eine grundlegende Umstrukturierung der Formen der Ausdifferenzierung. 24 Gerade die Analyse der Rolle des Richters im städtischen Gerichtswesen wird zeigen, daß sich hier eben keine klassische Entwicklungs geschichte, von der starren Auffassung des Mittelalters zu differenzierten, rationalen Konzepten der Neuzeit' erzählen läßt.
III. Formen der Rollenübernahme 1. Markierung der Richterrolle durch ephemere Körperattribute
Herauszuheben gilt, daß in Köln zwar die verschiedenen Gruppen kommunaler Bediensteter - vom Bürgermeister bis zu den die städtischen Kräne betreineuzeitlicher Randgruppen (Juden, Dirnen, Aussätzige, Bettler), in: BulstlJütte (Hrsg.), Zwischen Schein und Sein (wie Anm. 1),65-89, hier 65. 22 In ihrer Festlegung berufs ständischer Kleidung gingen die Amtsträgereide der Gattung der Kleiderordnungen einige Jahrzehnte voraus. Letztere wandten sich erst ab ca. 1500 von den Luxus beschränkenden Regelungen ab und einer detaillierten Unterscheidung der Stände zu; Eisenbart, K1eiderordnungen (wie Anm. 1),51 f., 57f. 23 Zu dem Ritual Stein, Akten (wie Anm. 3), Bd. 1, NI. 237, 435f., 21. 8.1475. 24 Franz-Josej Arlinghaus, Mittelalterliche Rituale in systemtheoretischer Perspektive. Übergangsriten als basale Kommunikationsform in einer stratifikatorisch-segmentären Gesellschaft, in: Frank Becker (Hrsg.), Systemtheorie und Geschichtswissenschaft. Reflexionen und Fallstudien. Frankfurt am Main 2004, 108-156, hier 122ff.
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benden Werkleuten - eine ,Amtstracht' trugen, nicht jedoch die bei den zahlreichen Gerichten der Stadt tätigen Richter und Schöffen. So bekam zwar der Gewaltrichterbote sein oben beschriebenes zweifarbiges Gewand, für den Richter des Gewaltgerichts war Ähnliches jedoch nicht vorgesehen. 25 Auch für die Mitglieder des Amtleutegerichts, des Hohen Weltlichen Gerichts, für die Ratsrichter, die Richter des Pferdegerichts etc. liegen keine Angaben über Kleidung vor. Das Fehlen einer Richtertracht läßt sich auch für andere Städte dieser Zeit beobachten. 26 Bildliche Darstellungen von Gerichtsszenen weisen in die gleiche Richtung. 27 Die Gründe für das Fehlen einer Richtertracht sind vielfältig und hängen mit der Stadt als Rechtsgemeinschaft und der Selbstdarstellung des Patriziats in der Kommune zusammen. Das Garantieren von Recht, die Bearbeitung von Konflikten, wurde als originäre, zentrale Aufgabe der städtischen Elite betrachtet. Nach innen kommunizierten ihre Verordnungen gegen Messerzücken und Gotteslästerung, daß das Patriziat die Aufgabe wahrnahm, den Frieden zu sichern und das Heil der religiös fundierten Stadtgemeinschaft zu schützen. Die Stadtrichter selbst traten nicht nur bei der Aburteilung spektakulärer Kapitalverbrechen in Erscheinung. Wie in anderen Städten auch ging in Köln alle drei Monate ein Richter mit dem Schreiber und den Boten durch die Stadt um in einer Art abgekürztem Verfahren Pfändungen vorzunehmen, die ih~ Gläubiger auf dem Weg auftrugen. 28 Nach außen achtete das Patriziat eifersüchtig darauf, daß ihm auf dem Gebiet der Rechtsprechung durch andere Institutionen keine zu starke Konkurrenz erwuchs. Dies betraf nicht nur die Abgrenzung gegenüber der geistlichen Gerichtsbarkeit; auch gegen relativ neue Einrichtungen wie etwa die der westfälischen Femegerichte betonten die Städte ihre Gerichtshoheit. 29 Besonders 25 .In den S~chsenspiegel-Illustrationen ist der Bote eindeutig durch die Kleidung gekennzeIchnet, die Schöffen jedoch nicht. Der Richter trägt "Herrentracht"; eine Richtertracht gibt es nicht; Dagmar Hüpper, Kleidung, in: Ruth Schrnidt-Wiegand (Hrsg.), Eike von Roepgow: ~er Sachsenspiegel. Die Wolfenbütteler Bilderhandschrift Cod. Guelf. 3.1 Aug. 2 . FakSImIle. Text- und Kommentarband. Berlin 1993,163-183, hier 178f. 26 Drüppel, Iudex civitatis (wie Anm. 16), 231 f. Anders in Italien: Andrea von HülsenEsch:.Kleid~r machen Leute, in: Otto Gerhard Oexle/Andrea von Hülsen-Esch (Hrsg.), Die Reprasenta~IOn der Grup~en. Texte - Bilder - Objekte. (Veröffentlichungen des Max-. Planck-Instltuts für Geschichte, 141.) Göttingen 1998,225-257, hier 225ff. 27 Beate Binder, Illustriertes Recht. Die Miniaturen des Hamburger Stadtrechts von 1497. (Veröffent1i~hungen des Vereins für Hamburgische Geschichte, Bd. 22.) Hamburg 1988, 113 ff., SOWIe Wolfgang Schild, Alte Gerichtsbarkeit. Vom Gottesurteil bis zum Beginn der mod~rnen Rechtsprechung. 2., korr. Aufl. München 1985,26 Abb. 31,40 Abb. 63, und paSSIm. 28 ..Stein, Akten (wie Anm. 3), Bd. 1, Nr. 70,224,6.5. 1401; dazu UljHeppekausen, Die Koln.~r Statuten von 1437. Ursachen, Ausgestaltung, Wirkung. (Rechtsgeschichtliche Schnften, Bd. 12.) KölnlWeimar/Wien 1999, 161. Für Hamburg vgl. Binder, Illustriertes Recht (wie Anm. 27), 11. 29 Nach Groten definiert sich die Stadt "vorrangig als Pflegestätte der Gerechtigkeit";
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Franz-Josef Arlinghaus
empfindlich reagierte die Führungsgruppe der städtischen Bürgerschaft auf vom Stadtherrn vorgetragene Ansprüche hinsichtlich der Ausübung der Gerichtsbarkeit. Köln führte mit dem Erzbischof während des gesamten Spätmittelalters und der Frühneuzeit Auseinandersetzungen über Zuständigkeit und Besetzung des Hochgerichts, und auch die Abgrenzung zwischen weltlicher und geistlicher Gerichtsbarkeit war regelmäßig Gegenstand von Kontroversen. 3D Die Kommunikation über die Identität und Unabhängigkeit der Stadt wie über die Funktion der das Gemeinwesen beherrschenden Gruppe fand also wesentlich im Bereich des Justizwesens statt. Es versteht sich daher nahezu von selbst, daß die Richter fast immer der eingesessenen politischen Führungsgruppe in der Stadt angehörten. Im Verlauf des 14. und 15. Jahrhunderts gelang es den meisten Städten, den Stadtherrn aus dem Bereich der Rechtsprechung zu verdrängen und zumindest de facto in diesem Bereich selbstbestimmt zu handeln. 31 Abgesehen vom Hohen Weltlichen Gericht und den Gerichten, denen die Bürgermeister selbst vorsaßen, rekrutierten sich die Richter der zahlreichen städtischen Gerichte in Köln immer aus dem vor- und nachgesessenen Rat. 32 Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, daß eine Auslagerung der richterlichen Funktion an ,Spezialisten' weitgehend unterblieb. Namentlich die Juristen kamen für die Übernahme solcher Aufgaben nicht in Betracht. Wer eine Universitätsausbildung abgeschlossen hatte, wurde noch bis weit in das 16. Jahrhundert hinein einer Gruppe zugerechnet, der zum Teil sogar der Zugang zum Rat verboten war. 33 In Köln wurden gelehrte Juristen erst Manfred Groten, Im glückseligen Regiment. Beobachtungen zum Verhältni~ ObrigkeitBürger am Beispiel Kölns im 15. Jahrhund~rt, in: .~J~ 116, 1996, 303-320, hIer 318; vgl. Eberhard Isenmann, Die deutsche Stadt 1m Spatnnttelalter (1250-1500). Stadtgest~lt, Recht, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft. Stuttgart 1.~88,. 21Off. . 30 Maria Clementine Beemelmans, Die Stellung des Hohen Kurfursthchen Genchts zum Rat der Stadt Köln (1475-1794), in: Jb. des Kölnischen Geschichts~erei~s 17, 1935, 1-43, hier 5 ff.; Dieter Strauch, Das Hohe Weltliche Gericht zu Köln, m: Dleter Laum!Adolf KleinlDieter Strauch (Hrsg.), Rheinische Justiz, Geschichte und Gegenwart. 175 Jahre Oberlandesgericht Köln. Köln 1994, 743-831, hier 799 ff. . . 31 Vgl. Drüppel, Iudex civitatis (wie Anm. 16), 162ff., der Jedoch noch zu sehr dIe formalrechtliche Seite betont. . 32 Heinrich Heinen Die Gerichte des Kölner Rates im 14. und 15. Jahrhundert, m: Jb. des Kölnischen Geschi~htsvereins 16, 1934, 120-171, hier 134f. Das gilt natürlich nicht für die Gerichte der Sondergemeinden; vgl. Friedrich Lau, Entwicklung der kommunalen Verfassung und Verwaltung der Stadt Köln bis zum Jahre 1396. Bonn 1898, Ndr. Amsterdam 1969,30ff. . ..... . 33 V gl. Frank Rexroth, Städtisches Bürgertum und landesherrl:che ~~IVers.~tatsstIftung m Wien und Freiburg, in: Heinz Duchhardt (Hrsg.), Stadt und UmversItat. (S~adtefor~chu~g, Rh. A, Bd. 33.) KölnJWeimar/Wien 1993, 13-31, hier 13ff.; Klaus Wnedt, ymverslty Scholars in German Cities during the Late Middle Ages: Employment, Recrmtmen.t, a~d Support, in: William J. Courtenay/Jürgen Miethke (Eds.), Universities and Schoolmg m Medieval Society. Leiden 2000, 49-64, hier 49 ff.
seit den 1560er Jahren Ratsherrn. 34 Nürnberg hatte ähnlich lange Vorbehalte gegenüber dem Einzug von Universitäts absolventen in den Rat, selbst wenn diese aus einem Ratsherrengeschlecht stammten. 35 Dabei macht die Beschäftigung gelehrter Stadtschreiber und Syndici deutlich, daß es sich um keine generellen Vorbehalte handelte und die Fachkenntnis der Juristen durchaus geschätzt und in bestimmten Bereichen genutzt wurde. 36 Auch hatten die Stadträte keinerlei Bedenken, für den medizinischen Bereich promovierte Ärzte anzustellen. Es schien offenbar unbedenklich, Teile der Kommunikation über Gesundheitsfragen einem oft ortsfremden Experten zu überlassen. 37 Dagegen konnte eine weitgehende Auslagerung und Übertragung des Gerichtswesens an eine nicht dem Patriziat zugehörige Gruppe deshalb nicht in Betracht gezogen werden, weil damit die Möglichkeiten der Selbstdarstellung und Selbstvergewisserung der Stadt und ihrer Führungsschicht in einem zentralen Bereich eingeschränkt worden wäre. Das zentrale kommunikative Feld ,Rechtswesen ' mußte wahrnehmbar vom Patriziat besetzt werden. Anders als die Bürgermeister oder die Boten erhielten die Ratsmitglieder bis zum Ende des 16. Jahrhunderts keine einheitliche Amtstracht. Man kann aber davon ausgehen, daß die Angehörigen des Rates vielleicht nicht unbedingt als Mitglied dieses politischen Gremiums, wohl aber als Angehörige des Patriziats innerhalb der Stadt gerade auch durch ihre Kleidung kenntlich waren. Deutlich führen dies die sogenannten ,Augsburger Monatsbilder' aus dem frühen 16. Jahrhundert vor Augen. Im Dezemberbild treten die Ratsherren aus dem Rathaus kommend auf den großen belebten Platz. Ihre langen, schweren und zumeist pelzbesetzten Mäntel in den Farben schwarz, braun und grün heben sich deutlich von der Kleidung der übrigen Bevölkerung ab. 38 34
Dazu unten vor Anm. 73.
35 Hartmut Boockmann, Gelehrte Juristen ~udger Grenzmann/Bernd MoellerlMartin
im spätmittelalterlichen Nürnberg, in: ders.l Staehelin (Hrsg.), Recht und Verfassung im Ubergang vom Mittelalter zur Neuzeit. T. 1: Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters, 1994/95. Göttingen 1998, 199-214, hier 199ff.; Dietmar Willoweit, Juristen im mittelalterlichen Franken. Ausbreitung und Profil einer neuen Elite, in: Rainer Christoph Schwinges (Hrsg.), Gelehrte im Reich. Zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte akademischer Eliten des 14. bis 16. Jahrhunderts. (ZHF, Beih. 18.) Berlin 1996,225-267, hier 261. 36 Stein, Akten (wie Anm. 3), Bd. 1, CXVIIIff.; Manfred 1. Schmied, Die Ratsschreiber derReichsstadt Nürnberg. (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte, Bd. 28.) Nürnberg 1979, 63ff.; vgl. Eberhard Isenmann, Gesetzgebung und Gesetzgebungsrecht spätmittelalterlicher deutscher Städte, in: ZHF 28,2001, 1-94 (T. 1) und 161-261 (T.2), hier 178 ff. 37 V gl. Martin Kintzinger, Status Medicorum. Mediziner in der städtischen Gesellschaft des 14. bis 16. Jahrhunderts, in: Peter Johanek (Hrsg.), Städtisches Gesundheits- und Fürsorgewesen vor 1800. (Städtefarschung, Rh. A, Bd. 50.) Köln 2000,63-91, hier 90. 38 "Kurzweil viel ahn' Maß und Ziel". Alltag und Festtag auf den Augsburger Manatsbildern der Renaissance. Hrsg. v. Deutschen Historischen Museum Berlin. München 1994, Monat ,Dezember'. Dazu Hartmut Boockmann, Lebensgefühl und Repräsentationsstil der Oberschicht in den deutschen Städten um 1500, in: ebd. 33-47, hier 33 ff.
472 Die Miniaturen des Hamburgischen Stadtrechts von 1497 zeigen die Ratsherren ebenfalls nicht in einheitlicher Amtstracht, aber in distinguiert-vornehmer Bekleidung.39 Daß fast alle Kleider- und Aufwandsordnungen den Patriziern Sonderrechte hinsichtlich Qualität und Schnitt der zu tragenden Kleidung einräumen, stützt diesen Befund. 40 In der Kölner Morgensprache von 1476 wurde festgelegt, daß die Ratsmänner und Ratsrichter den "tabbertz" mindestens knielang tragen sollten, die "heucke" durfte eine Handbreit über dem Knie enden. 41 Damit kann man zwar von einer tendenziell vereinheitlichten, aber nicht von einer vollständig einheitlichen Kleidung für die Mitglieder des Rates ausgehen. Zudem wird explizit nicht zwischen Ratsmännern und Ratslichtern unterschieden. Der städtische Richter ohne Amtstracht, der wohl immer dem Patriziat zuzurechnen war, weist sich so durch seine Kleidung als Mitglied dieser politisch-sozialen Gruppe aus. Die Kommunikation über Frieden und Recht in der Kommune stellte, wie gesagt, ein zentrales Moment der Identitätsstiftung dieser Führungsgruppe dar. Die Übertragung der Richterfunktion an einen außenstehenden Spezialisten war damit nahezu unmöglich. Da aber kommunikative Prozesse dieser Zeit von einem weitgehend integralen Personenkonzept ausgingen und sich eng an der visuellen Erscheinung orientierten, hätte das Überstreifen einer Robe zur Markierung des Richters dessen Zugehörigkeit zur Führungsschicht relativiert. Die Verbindung von Patriziat und Rechtsprechung wäre damit zu stark ,verdeckt' worden. Dennoch, und hier liegt der Kern der Problematik, stellte auch in der Vormoderne das Verhandeln über Recht keinen flächig in den Alltag integrierbaren Austausch dar. Die Bearbeitung von Konflikten war brisant genug, um besondere Formen der Kommunikation, um die Errichtung eigener Diskurse zu erfordern. Eine Gerichtssitzung kann dann als ein eigener Diskursraum betrachtet werden, und die darin Kommunizierenden mußten zumindest für die Dauer der Verhandlung einen Rollenwechsel vornehmen. Dies gilt sicherlich in besonderer Weise für den Verhandlungsleiter, aber auch Urteiler und Parteien waren letztlich davon betroffen. Wie aber war ein temporärer Rollenwechsel unter den genannten Prämissen - integrales Personenkonzept, enge Verknüpfung von visueller Erscheinung und Rolle - durchzuführen? Da Richter und Urteil er sozusagen in ihrer Alltagskleidung agierten, waren, so kann vermutet werden, expressive, stark ritualisierte Kommunikationsformen erforderlich, um das Gericht als eigenständigen Diskursraum zu etablieren und den beteiligten Personen einen Rollenwechsel zu ermöglichen.
Vgl. Binder, Illustriertes Recht (wie Anm. 27), bes. 123. Neben vielen jüngst für Frankfurt Johann, Kontrolle (wie Anm. 20), 192ff. . 41 Stein, Akten (wie Anm. 3), Bd. 2, Nr. 392, § 2, 552, Morgensprache, 19.7. 1476. DI.e Heuke ist ein ärmelloser Umhang, der Tappert ein langes, geknöpftes Obergewand mIt Ärmeln; vgl. Eisenbart, Kleiderordnungen (wie Anm. 1), 135 bzw. 138 f.
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Sich mit dieser Perspektive den Vorgängen vor einem spätmittelalterlichen Gericht zu nähern, erlaubt eine Neuinterpretation bekannter, aber bisher zumeist auf einen postulierten Prozeß der Rationalisierung hin gedeuteter Phänomene. Gut einfügen in das gezeichnete Bild lassen sich die sogenannten Hegungsfragen, also bestimmte Sprachgesten, mit denen der Gerichtstag eröffnet wurde, genauer: sich das Gericht erst einmal selbst als solches ins Leben rief. Üblicherweise handelte es sich um einen Dialog feststehender Fragen und Antworten, der zu Beginn jedes Sitzungstages wiederholt wurde. Nahezu jede Hegung begann mit der Frage, ob dies der rechte Tag und die rechte Stunde sei, Gericht zu halten. Nach positiver Antwort schloß sich die Frage nach dem rechten Ort an. 42 Thematisiert wurde also, was kaum je zweifelhaft sein konnte. In zahlreichen ritualisierten Dialogen zu Beginn eines Gerichtstages thematisierten die Hegungsfragen das Richter-Sein des Verfahrensleiters. Inhaltlich hoben die Fragen dabei zumeist auf religiöse und juristisch-politische Aspekte ab, etwa indem man betonte, der Richter habe die Gnade von Gott und vom Landesfürsten. 43 In Magdeburg fragte der Richter zunächst nicht danach, ob er die Gerichtssitzung zu leiten berechtigt sei. Quasi auf einer Metaebene agierend, will er zuerst wissen, ob er denn überhaupt das Ding hegen dürfe. Der Schöffe antwortete, das dürfe er wohl, weil er ja der Richter sei, "noch dem mole das her richter sey".44 Auch nach dem Landrecht des Richtstegs fragt der Richter, ob er berechtigt sei, "ein dingh tho hegen".45 Aus juristischer Perspektive erwarb der Richter durch diesen Teil der Hegung "jeweils von neuem die öffentliche Anerkennung seiner judizialen Gewalt und der Legitimität der Amtshandlungen". 46 Aus kommunikationstheoretischer Sicht wurde im Zuge des performativen Aktes der Hegung ein eigener Diskursraum aufgespannt und innerhalb dieses Diskurses einer bestimmten Person ihre
42 Kurt Burchardt, Die Hegung der deutschen Gerichte im Mittelalter. Ein Beitrag zur deutschen Rechtsgeschichte. Leipzig 1893; Jakob Grimm, Deutsche Rechts altertümer. Hrsg. v. Andreas Heusler, Rudolf Hübner. Bd.2. 4. AufL Leipzig 1922, 851ff. (bzw. 4~3 ff.). Darauf, daß die spätmittelalterlichen Gerichte des Rates weitgehend formlos ihr~. SItzungen durchführten, weil ihre Richter als ,Deputierte des Rates' auftraten, kann hier nicht näher eingegangen werden; vgl. Wilhelm Ebel, Die Willkür. Eine Studie zu den Denkformen des älteren deutschen Rechts. (Göttinger rechtswissenschaftliche Studien, Bd. 6.) Göttingen 1953,57. 43 Burchardt, Hegung (wie Anm. 42), 71 f. und passim. 44 Zitiert nach Drüppel, Iudex civitatis (wie Anm. 16),284. 45 Hans Rynmann von Öhringen/Karl August Eckhardt (Hrsg.), Sassenspegel mit velen nyen addicien san dem lehnrechte unde richtstige. Sachsenspiegel Landrecht und Lehnrecht mit doppelter Glosse. (Bibliotheca rerum historicarum, Bd. 10.) Augsburg 1516, Ndr. Aalen 1978, Ldr. cap 29; ähnlich ebd., Ldr. cap. 1. 46 Drüppel, Iudex civitatis (wie Anrn. 16),284.
Rolle jeweils erneut zugewiesen. 47 Es wird so verständlich, warum es erforderlich war, die Hegung zu Beginn jedes Gerichtstages zu wiederholen. Eine weitere Variante der ritualisierten Gerichtseröffnung findet sich etwa in Köln. Wurde um 1400 vor dem Hohen Weltlichen Gericht eine Bluttat zur Anzeige gebracht, so wies man den Klägeizunächst wieder aus dem Gerichtssaal. Ein Schöffe führte ihn dann in den Raum zurück, wobei der Kläger dreimal "waiffen" rief. Auf die Frage des Richters an den Schöffen, warum er denn "waiffen" gerufen habe, wurde die Verwundung, gegebenenfalls die Leiche, in Augenschein genommen. 48 "Waiffen" verweist auf das sogenannte , Gerüft', einen Hilferuf, bei dem in der Stadt jeder Bürger verpflichtet war, hinzuzueilen und Unterstützung zu leisten. Offenbar wurde hier zur Eröffnung des Gerichts symbolisch eine aktuelle Notsituation in ihren Grundzügen nachgestellt, die man dann in ein rechtmäßiges Verfahren überleitete. 49 Auch im weiteren Verlauf des Verfahrens waren die Dialoge von formelhaften Wendungen durchzogen. Zudem wurde jeder während der Verhandlung getätigten Einlassung, jedem gesprochenen Wort, eine besondere Bedeutung zugemessen: , Versprach' sich eine Partei, etwa bei der Aufstellung von Behauptungen oder beim Eid, konnte sie den Prozeß verlieren. Um dieser sogenannten ,Prozeßgefahr' ("vare") zu begegnen50 , bediente man sich bekanntlich eines Fürsprechers. Er sprach für die Partei, irrte er im Gebrauch einer Wendung, wurde dies nicht der Partei angelastet. 51 Hinzu trat, daß jede Rede und Widerrede der Parteien mit einer sogenannten Urteilsfrage endete. Die Partei bzw. ihr Fürsprecher stellte dem Richter die (formelhafte) Urteilsfrage - etwa welche Zeugen zugelassen würden -, dieser griff sie auf und stellte diese Frage der Reihe nach jedem einzelnen Urteil er. Die Entscheidung Bei Ritualen und performativer Sprache handelt es sich um "originäre sinnkonstitutive Akte". Diese können nicht "auf vorausgehende kognitive Leistung reduziert werden" und, so möchte man ergänzen, müssen auch keine magischen Vorstellungen evozieren; Andrea Belliger/David Krieger, Einführung, in: dies. (Hrsg.), Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch. Opladen 1998,7-33, hier 18. Zum Ritual vgl. unten die Anm. 122 und 124. 48 Stein, Akten (wie Anm. 3), Bd. 1, Nr. 318, Art. 3, § 1,2, 556f., 14.115. Jahrhundert. 49 Ähnlich in Herford; Wolfgang FedderslUlrich Weber, Das Herforder Rechtsbuch. Edition und Übersetzung, in: Theodor Helmert-Corvey (Hrsg.), Rechtsbuch der Stadt Herford. Vollständige Faksimile-Ausgabe im Original-Format der illuminierten Handschrift aus dem 14. Jahrhundelt. Kommentarband. Bielefeld 1989,2-104, hier 50; vgl. lohann lulius Wilhelm von Planck, Das deutsche Gerichtsverfahren im Mittelalter nach dem Sachsenspiegel und den verwandten Rechtsquellen. Bd. 1. Braunschweig 1878, Ndr. Hildesheim 1973,202. 50 Zum Prozeßverlust konnte "jedes Sichversprechen beim Gebrauch der vorgeschriebenen Formeln, jede falsche Körperhaltung und Gebärde" führen; Wilhelm Ebel, Recht und Form. Vom Stilwandel im deutschen Recht. (Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart, Bd. 449.) Tübingen 1975, lOff., Zitat 16. Dort (S. 14) auch Ebels bekanntes Diktum, die Form sei die älteste Norm. 51 Vgl. Hans Schlosser, Spätmittelalterlicher Zivilprozeß nach bayerischen Quellen. Gerichtsverfassung und Rechtsgang. (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 8.) München 1971, 159ff., 181 ff.; Planck, Gerichtsverfahren (wie Anm. 49), 202ff., 214. 47
der Urteiler wurde dann wieder vorn Richter verkündet. 52 Wenn im Holsteinischen der Richter in Form einer solchen Urteilsfrage sogar um die Erlaubnis bitten mußte, seinen Stuhl umsetzen zu dürfen53 , zeigt dies nicht nur die Bedeutung, die der Positionierung des Gerichtspersonals im Raum beigemessen wurde. Deutlich wird auch, daß die Urteils fragen nicht lediglich als eine Möglichkeit der Bearbeitung materiell- oder prozeßrechtlicher Probleme betrachtet werden können. Insgesamt vollzogen sich große Teile der Kommunikation vor Gericht in dieser besonderen Dialogform. Mit der Hegung war die Markierung des Diskursraumes ,Gericht' also nicht abgeschlossen. Die hier eingeleitete Form der dialogisch-formalisierten Rede zog sich durch die gesamte Verhandlung und hatte die Aufgabe, auch durch die Sprachgestaltung während des ganzen Gerichtstages das Gericht als besonderen Diskursraum zu kennzeichnen. Die Schilderung der Kommunikationsformen vor Gericht kann hier knapp ausfallen, da das Verfahren, wenn auch unter anderer Perspektive, in der Literatur breit diskutiert wurde. 54 Innerhalb dieses durch eine rituelle Eröffnung und spezifische Dialogformen aufgespannten Diskursraumes wurde insbesondere der Richter als solcher gekennzeichnet. Im Spätmittelalter erfolgte die visuelle Markierung jedoch nicht über die Kleidung, sondern über bestimmte, ihm während der Hegung beigegebene Accessoires und über die Körperhaltung. In Graubünden etwa nahm der Richter zu Beginn der Hegungsfragen den Hut vom Kopf. Der Fürsprecher beantwortete die erste Hegungsfrage des Richters am Ende mit der Bemerkung, "setzend euweren hout auf und setzend euch nider".55 In anderen Fällen wurde dem Verhandlungsleiter zu Beginn des Gerichtstages ein Schlüssel übergeben. 56 Die Hinweise auf Hut und Schlüssel sollen verdeutlichen, daß der dem Richter am weitaus häufigsten beigegebene Gegenstand, der Stab, nicht notwendigerweise (etwa weil er das Zeichen von Herrschaft war) zur Kennzeichnung benutzt werden mußte. Allerdings läßt sich aufgrund der überaus zahlreichen Belege für die Verwendung des Stabes gut aufzeigen, daß es hier um mehr ging als um die Repräsentation von Herrschaft. Obwohl der Stab dem Ammann oder Schultheißen vorn Gerichtsherrn bei der Amtseinsetzung feierlich übergeben wurde, erschien der Richter nicht mit dem ihm bereits verliehenen Symbol zum Gerichtstag. Vielmehr wurde ihm der Stab während des Hegungs- oder Eröffnungsrituals jeweils erneut, zumeist durch den Fron- oder Die spätmittelalterlichen Gerichtsformulare geben für einen Prozeß über 40 solcher Fragen vor; Götz Landwehr, ,Urteilfragen ' und ,Urteilfinden ' nach spätmittelalterlichen, insbesondere sächsischen Rechtsquellen, in: ZRG GA 96, 1979, 1-37, hier 4f. 53 Burchardt, Hegung (wie Anm. 42), 80. 54 Planck, Gerichtsverfahren (wie Anm. 49), 155 ff.; Schlosser, Zivi1prozeß (wie Anm. 51), 221 ff. 55 Zitiert nach Burchardt, Hegung (wie Anm. 42), 234. 56 Ebd. 235.
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Gerichtsboten, übergeben. 57 Zuvor fragte er beispielsweise, ob es jetzt an der Zeit sei, ,den Stab in die Hand zu nehmen' .58 Das Vorgehen erinnert an die oben wiedergegebene Hegungsfrage, mit deren Beantwortung dem Richter versichert wurde, daß er das Ding hegen dürfe, weil er der Richter sei: Der Richter betrat d.~n Gerichtsort nicht als Richter, er wurde an diesem Ort jeweils erneut dazu gemacht. Aber selbst diese Übergangsrituale59 , so scheint es, reichten nicht aus, um die betreffende Person auf die Rolle des Verhandlungsleiters festzulegen. Der Richter mußte den erst zu Beginn des Gerichtstages aufgenommenen Stab nun permanent in Händen halten. Das Niederlegen des Stabes war, wie etwa auch das Umstürzen der Bänke, auf denen Richter und Urteiler saßen, Teil des Rituals, mit dem der Gerichtstag beendet wurde. 6o Beim Stabhalten ging es jedoch nicht nur um die Eröffnung oder Aufhebung des Gerichts allgemein, sondern speziell um das Aufnehmen und Ablegen der Richterrolle im Verfahren. Als sich in Regensburg am 8. Oktober 1359 der Schultheiß weigerte, eine Verhandlung zu leiten, nahm "Ott der Woller den stab in deu hant und saz an daz recht".61 Das Beispiel Ulm illustriert sehr klar, wie Aufnehmen und Ablegen des Attributes dazu benutzt wurden, selbst während des Gerichtstages Rollenwechsel vorzunehmen. Mußte der Richter und Stadtammann ("minister"), wenn er zugleich Geschworener ("iudex iuratus") war, während einer Verhandlung als solcher agieren, hatte er für diese Zeit den Richterstab einer Person zur Aufbewahrung zu übergeben und zu den Urteilern zu treten. 62 Mit dem Stab legte er die Richterrolle ab und schlüpfte durch den Wechsel der Position im Raum in die Rolle des Urteilers. Über die Beigabe solcher Attribute hinaus wurde der Verhandlungsleiter durch eine bestimmte Körperhaltung gekennzeichnet. Bekanntlich durfte der Richter nicht stehen, er mußte auf einer Bank oder einem Stuhl Platz nehmen. Stand er auf, galt der Gerichtstag als beendet. Damit hatte das Aufstehen ähnliche Folgen wie das Niederlegen des Stabes. Das Gebot, sitzend die Verhandlung zu führen, galt zumeist auch für die Urteil er, während Parteien und Fürsprecher zu stehen hatten. 63 Anders als bei den Urteilern war dem Richter Ebd. 236 f. V gl. Gemot Kocher, Richter und Stabübergabe im Verfahren der Weistümer. Graz 1971,83. 58 Burchardt, Hegung (wie Anm. 42), 236f. (mit weiteren Belegen). 59 Zum Ritualbegriff vgL unten die Anm. 122 und 124. 60 Die Aufhebung des Gerichts war auch von der Form her quasi eine Umkehrung der Hegung; Burchardt, Hegung (wie Anm. 42), 242f.; Grimm, Rechtsaltertümer (wie Anm. 42), Bd. 2, 852 f. (bzw. 485 f.). 61 Zitiert nach Drüppel, Iudex civitatis (wie Anm. 16), 227. Ähnliche Beispiele bei Grimm, Rechtsaltertümer (wie Anm. 42), Bd. 2, 761 ff. (bzw. 371 ff.). 62 Drüppel, Iudex civitatis (wie Anm. 16),227 Anm. 19. Kocher bringt Beispiele, bei denen derjenige, der den Stab überreicht bekam, für die Zeit der Abwesenheit des ,eigentlichen' Richters selbst zum Richter wurde; Kocher, Stabübergabe (wie Anm. 57), 65 ff. 63 Adalbert Erler, Art. "Sitzen", in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte.
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darüber hinaus jedoch eine bestimmte Sitzhaltung vorgeschrieben. So hatte er der Verhandlung mit gekreuzten Beinen beizuwohnen. 64 Den Abbildungen zufolge legte der Richter zumeist die bei den Unterschenkel übereinander; seltener winkelte er ein Bein soweit an, daß die Wade des einen auf dem Knie des anderen ruhte (vgl. Abb. 1, S. 478).65 Selbstverständlich kann weder davon ausgegangen werden, daß für jedes Gericht ein solch ausführlicher Eröffnungsritus durchgeführt wurde, noch wird man für die spätmittelalterlichen Richter annehmen wollen, daß sie alle in der geschilderten Weise auftraten. Andere, subtilere Ritualformen, das Gericht zu beginnen und den Richter als solchen zu kennzeichnen, sind mehr als wahrscheinlich; der folgende Abschnitt wird Varianten vorstellen. Zuvor gilt es jedoch, ein Zwischenfazit zu ziehen. Deutlich geworden ist, daß man sich das Gericht nicht als etwas bereits Vorhandenes und die Verhandlung als etwas einfach Stattfindendes vorstellen muß. Das Gericht mußte sich als Gericht in jeder Sitzung erneut selbst konstituieren. Durch ein System von Fragen und Antworten wurde, einem Übergangsritus vergleichbar, ein besonderer Diskursraum zur Konfliktbearbeitung eingerichtet und zugleich innerhalb dieses Diskurses einer Person die zentrale Rolle des Richters zugewiesen. 66
Bd. 4. Berlin 1990, Sp. 1679; losej Kohler/Willy Scheel (Hrsg.), Die Bambergische Halsgerichtsordnung. Unter Heranziehung der revidierten Verfassung von 1580 und der Brandenburgischen Halsgerichtsordnung zusammen mit dem sogenannten Correctorium, einer romanistischen Glosse und einer Probe der niederdeutschen Übersetzung. Halle an der Saale 1902, Ndr. Aalen 1968,40, Art. 95. 64 Abbildungen bei Schild, Gerichtsbarkeit (wie Anm. 27), 133 ff.; dazu (mit Literatur) ders., Der griesgrimmige Löwe als Vor-Bild des Richters, in: Medium Aevum Quotidianum 27, 1992, 11-32, hier 11 ff. 65 Schild, Gerichtsbarkeit (wie Anm. 27), 140 Abb. 294, 77 Abb. 141, 133 Abb. 275. 66 Nach Ebel war es nicht der Gegenstand, sondern die Form, die "das Rechtsgeschäft vom formlosen bloßen Gespräch [schied], auch wenn dieses auf Rechtswirkung gerichtet" war. Allerdings band er den Befund über die Kategorie, Wahrnehmung' an eine (implizit postulierte) andere Denkweise zurück: "Der wahrgenommene und wahrnehmbare Rechtsritus entschied über die Wirkung der Rechtshandlung", und "Symbole schaffen eine sinnbildliche Form, um einen abstrakten Vorgang zum sichtbaren Ausdruck zu bringen"; Ebel, Recht und Form (wie Anm. 50), 16f., 9. Ähnlich kommt für Ott in den Rechtsgesten eine "natura1e Unmittelbarkeit von Wahrnehmung und Denken" zum Ausdruck; Norbert H. Ott, De~ Körper als konkrete Hülle des Abstrakten. Zum Wandel der Rechtsgebärde im Spätmittelalter, in: Klaus SchreinerlNorbert Schnitz1er (Hrsg.), Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. München 1992,223-241, hier 226f. Gezeichnet wird hier das Bild einer Vormoderne, die sich dem Abstrakten nur über konkret Visualisiertes und körperlich Erfahrbares annähern konnte. Es gilt aber gerade als Wesen mittelalterlicher Rechtstexte, daß sie die Schilderung von Ritualen neben die begriffliche Durchdringung des rechtlichen Vorgangs stellen; Wolfgang Seilert, Gewohnheit, Formalismus und Rechtsritual im Verhältnis zur Steuerung sozialen Verhaltens durch gesatztes Recht, in: Heinz Duchhardt/Gert Melville (Hrsg.), Im Spannungsfeld von Recht und RituaL Soziale Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. (Norm und Struktur, Bd. 7.) Köln 1997,29-47, 37f.
Gesten, Kleidung und die Etablierung von Diskursräumen im Gerichtswesen
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2. Fixieren und Vorverlagern der Rollenmarkierungen
Das Zurückweichen der soeben beschriebenen ritualistischen Elemente aus dem Prozeßwesen seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert wird zumeist als quasi-natürliche Folge eines Rationalisierungsprozesses interpretiert. Das Vordringen humanistischen Gedankengutes und die Rezeption des römischen Rechts, die unter anderem durch die sogenannten Stadtrechtsreformationen greifbar wird 67 , scheinen wenig Raum für formalistische Hegungsfragen oder für das Beachten der Gestik zu bieten. Diese Einschätzung wird zunächst durch Aussagen des 15. und 16. Jahrhunderts bestätigt. So bezeichnet der juristisch gebildete Humanist und Kartäusermönch Werner Rolevinck (14251507) die Rechtsbräuche, denen er als Kind noch fasziniert beigewohnt hatte, als "scheinheilige Nichtswürdigkeit".68 1551 ging der Richter in Soest "stracks sitten", begann also den Gerichtstag ohne rituellen Aufwand. 69
Abb. 1: Miniatur aus der Volkacher Halsgerichtsordnung von 1504. Das Gericht tagt im Freien und ist durch die Schrannen eingegrenzt. Der Richter hat keinen besonderen Stuhl, er sitzt mit den Urteilern zusammen auf der Bank. Kenntlich ist er an Stab und Beinhaltung sowie der Beschriftung ,iudex'; Schild (Hrsg.), Volkaclwr Halsgerichtsordnung (wie Amn. 94), 19.
Beides, Diskursraum und Rollenzuweisung, hatten ephemeren Charakter, d. h. sie waren weniger auf Permanenz denn auf einen limitierten Zeithorizont, auf baldige Aufhebung, ausgerichtet. Die Markierung der Richter-Rolle war genau darauf abgestellt: Sowohl der Stab als auch die Beinhaltung waren leicht ableg- bzw. änderbar. Insbesondere im Vergleich zur Kleidung, die in der mittelalterlichen Auffassung eben nicht nur ,übergestreift' war, sondern fast untrennbar zu der auf Dauer gestellten Rollenausübung dazugehörte, können die in der Hand gehaltenen Gegenstände und die einzunehmende Sitzposition als Betonung der zeitlichen Begrenztheit der ausgeübten Rolle interpretiert werden. Zudem ließen Stab und Körperhaltung die Kleidung des Richters zwar in den Hintergrund treten, sie blieb jedoch weiterhin deutlich wahrnehmbar. Auch visuell wies sich der Stadtrichter damit in erster Linie als Mitglied der städtischen, den inneren Frieden garantierenden Führungsschicht aus. Erst in zweiter Linie trat er als der für die Konfliktregelung zuständige Amtsträger in Erscheinung.
Dieses Erklärungsmodell, obwohl in den letzten Jahren Modifikationen unterworfen70, knüpft den Gebrauch bzw. Nichtgebrauch von Ritualen im Gerichtswesen weitgehend an spezifische, sich wandelnde Denkweisen. Hier wird hingegen nicht so sehr mit einer vormodernen ,Mentalität' argumentiert7 1, die im ritualistischen Symbolgebrauch aufscheine; Kleidung, ritualisierte Dialogformen, Gesten und Symbole werden vielmehr als zentrale Elemente der Orientierung von Kommunikation betrachtet. Dieser Aspekt wird von dem Argument, das Zurückdrängen des Rituals im Verfahren sei eine Folge des Vordringens von Rationalität oder einer Verwissenschaftlichung des Rechts, nicht erreicht. Damit stellt sich aber für einen kommunikationstheoretisch arbeitenden Ansatz die Aufgabe, die unbestreitbaren Veränderungen im Prozeßgeschehen ebenfalls mit diesem Instrumentarium zu analysieren und aus dieser Perspektive Erklärungen anzubieten. Im folgenden wird argumen67 Die Nürnberger Reformation von 1479 machte hier den Anfang; Wolfgang Leiser, "Kein doctor soll ohn ein solch libell sein". 500 Jahre Nürnberger Rechtsreformation, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 67, 1980, 1-16, hier 1 ff. V gl. demnächst Ingrid BaumgärtnerlPeter Johanek (Hrsg.), Die Rezeption des gelehrten Rechts im Regnum teutonicum. Kolloquium der Werner Reimers-Stiftung vom 26. bis 28. Februar 1998. Berlin (im Druck). 68 Werner Rolevinck, De laude antiquae Saxoniae nuc Westphaliae dictae. Ein Buch zum Lobe Westfalens, des alten Sachsenlandes. Text der lateinischen Ausgabe vom Jahre 1474 mit deutscher Übersetzung. Hrsg. v. Hermann Brücker. 2. Auft. Münster 1982, c. IV, 32. Vgl. dazu Drüppel, Index civitatis (wie Anm. 16),287. 69 Drüppel, Index civitatis (wie Anm. 16),287. 70 Karin Nehlsen-von Stryk, Die Krise des "irrationalen" Beweises im Hoch- und Spätmittelalter und ihre gesellschaftlichen Implikationen, in: ZRG GA 117, 2000, 1-38, 8 ff.; Wolfgang Sellert, Zur Geschichte der rationalen Urteilsbegründnng gegenüber den Parteien insbesondere am Beispiel des Reichshofrats und des Reichskammergerichts, in: Gerhard Dilcher/Bemhard Diestelkamp (Hrsg.), Recht, Gericht, Genossenschaft und Policey. Studien zn Grundbegriffen der germanistischen Rechtshistorie (Symposion für Adalbert Erler). Berlin 1986,97-113, hier 111ff. 71 Vgl. hierzu Anm. 66.
tiert, daß in der Auswahl der Richter aus einer für dieses Amt prädestinierten (und visuell markierten) Gruppe, den Juristen, in Kombination mit der architektonischen Gestaltung des Gerichtsraumes Äquivalente zu der zuvor durch Ritual und Gestik erfolgten Rollenmarkierung zu sehen sind. Im Verlauf des 16. Jahrhunderts wurden in Deutschland die erwähnten Vorbehalte gegen eine Aufnahme von Universitätsabsolventen in den städtischen Rat aufgegeben. Der Kölner Jurist Herrmann von Weinsberg berichtet voller Stolz, er sei 1543 ,seit Menschengedenken' der erste graduierte Ratsherr der Rheinmetropole geworden.7 2 Aber erst ab den 1560er Jahren gesellten sich ihm weitere Ratsherrn mit Uni vers itäts ab schluß zu; ab 1600 hatten dann recht konstant - etwa 10 bis 12 Prozent aller Ratsherrn ein Studium absolviert, der überwiegende Teil ein juristisches.7 3 Obwohl nun in den Rat integriert, waren die in diesem Gremium sitzenden Gelehrten dennoch als eigene Gruppe wahrnehmbar.74 In einer Reihe von Details wies ihre Kleidung Gemeinsamkeiten auf, die so bei den übrigen Ratspersonen nicht zu finden waren. Bekanntlich legte die Kleiderordnung der Augsburger Reichspoliceyordnung (RPO) von 1530 nach einer ausführlichen Erläuterung der für den Adel angemessenen Kleidung fest, daß ,,[d]esgleichen" die "Doctores und ihre Weiber, auch Kleider, Geschmuck, Ketten, gülden Ring und anders, ihrem Stand und Freyheit gemäß tragen" mögen.7 5 Diese im Vergleich zu den Bestimmungen für Adel und Ritter unspezifische Vorschrift ist richtigerweise so gedeutet worden, daß die Gelehrten dem Adel gleichgestellt waren. Immerhin zählten 1632 zwei der genannten Gegenstände, der Ring und die Kette, zu den Insignien, die in Freiburg den Promovenden auf dem Weg zu ihrer Disputation feierlich auf Kissen vorangetragen wurden.7 6 Aufgrund solcher Sonderrechte bestand für die Juristen die Möglichkeit, sich schon äußerlich aus dem Kreis des Patriziats einer Stadt herauszuheben. So war das Tragen von Goldketten nach der Frankfurter Kleiderordnung von 1576 auch dem ersten Stand generell verboten. Nur jene, "die es von alters hero fehig gewest", wurden von der Regelung ausgenommen, durften aber nur Ketten bis zu einem Wert von 150 Gulden anlegen. Von diesen und ande72 Zu zwei Ausnahmen vor 1543 vgl. Wolfgang Herborn, Der graduierte Ratsherr, in: Heinz Schilling (Hrsg.), Bürgerliche Eliten in den Niederlanden und in Norddeutschland. (Städteforschung, Rh. A, Bd. 23.) Köln/Wien 1985,337-400, hier 337ff., 379ff. 73 Ebd. 344. 74 Spezialuntersuchungen für den Raum nördlich der Alpen fehlen. Heide Nixdoif.{IHeidi Müller (Hrsg.), Weiße Westen - Rote Roben. Von den Farbordnungen des Mittelalters zum individuellen Farbgeschmack. Berlin 1983, 34ff., 115, können unterschiedliche Kleidung der verschiedenen Fakultäten deutscher Universitäten angeben. 75 SchmausslSenckenberg, Reichs-Abschiede (wie Anm. 10), Teilbd. 1, 338, ebenso 593 (1548), Teilbd. 2, 384 (1577). 76 Dieter Speck, Das Promotionswesen an der Universität Freiburg. Eindrücke, Trends und Probleme, in: Rainer A. Müller (Hrsg.), Promotionen und Promotionswesen an deutschen Hochschulen der Frühmoderne. Köln 2001, 51-66, hier 57.
ren Einschränkungen nicht betroffen waren diejenigen, "so ihres stands halben dessen gefreyet seind, als die vom Adel, Ritter und Doctores".77 Selbst wenn man in der Ausnahmeregelung keine unbegrenzte Befreiung hinsichtlich des Wertes und Gewichtes der tragbaren Ketten für Doktoren annehmen will78 , so ist bei der oben aufgezeigten Sensibilität für Futterstoffe oder der Ausführung von Ärmeln an Botengewändern davon auszugehen, daß die Unterschiede durchaus wahrgenommen wurden. Schon 1489 hatte es wegen dieses Männerschmucks in der Mainmetropole eine aufsehenerregende Auseinandersetzung zwischen Johann von Rücking und der Stadt gegeben. Rücking war auf einer Jerusalem-Wallfahrt dem zyprischen Schwertritterorden beigetreten, dessen Mitglieder unter anderem goldene Ketten trugen. Die Frankfurter Kleiderordnung von 1488 verbot jedoch ohne jede Ausnahme das Tragen solcher Ketten. Der Konflikt eskalierte soweit, daß Johann in Beugehaft genommen wurde, um die Einhaltung der Ordnung zu erzwingen. Dagegen konnte sich wenige Jahre später Johanns gleichnamiger Neffe, der Jurist und kaiserliche Rat Dr. Johann von Rücking (1483-1511), ohne jegliche Schwierigkeiten mit Goldketten geschmückt in Frankfurt bewegen. Hartrnut Bock, der diese Ereignisse zusammenstellt, kann so darlegen, warum in den zahlreichen Miniaturen der "Chronik Eisenberger" einzig die beiden Gelehrten Dr. Johann von Rücking und Dr. Johann Thomas Eisenberger (um 1560) mit schweren Goldketten dargestellt wurden. 79 Die ,Goldkettchen-Verordnung' wurde deshalb so ausführlich thematisiert, weil sich mit ihr in verschiedenen Quellen eindeutige Hinweise auf eine besondere visuelle Markienmg der Gelehrten in der Stadt finden lassen. Weitere Kennzeichnungen über Kleidung und Accessoires - etwa durch die Verwendung bestimmter Stoffe 80 - sind wahrscheinlich, aber weniger gut festzuklopfen. Ein bisher wenig beachteter, hier jedoch wichtiger Punkt tritt hinzu: In den Städten konnten sich die Lizentiaten ähnlich kleiden wie die Doktoren, Frankfurter Kleiderordnung von 1576, zitiert nach Inke Worgitzki, Kleiderordnungen in Frankfurt am Main von 1356-1731: Gesetzgebung, ständische Gesellschaft und soziale Wirklichkeit. Frankfurt am Main 2000, 178. Die Bestimmungen werden in den Ordnungen von 1597 und 1621 wiederholt; ebd. 182, 187. 78 Nach der RPO - und den Bezug stellt die Frankfurter Ordnung deutlich her - durften Adelige und Doktoren Ketten bis zu einem Wert von immerhin 200 fl. tragen. Schmaussl Senckenberg, Reichs-Abschiede (wie Anm. 10), Teilbd. 1,338 (1530),593 (1548), Teilbei'. 2, 384 (1577). 79 Hartmut Bock, Die Chronik Eisenberger. Edition und Kommentar. Bebilderte Geschichte einer Beamtenfamilie der deutschen Renaissance - Aufstieg in den Wetterauer Niederadel und das Frankfurter Patriziat. (Schriften des Historischen Museums Frankfurt am Main, Bd. 22.) Frankfurt am Main 2002, 422, insbes. Anm. 1257 (mit Literatur), Abb. 70 (124) und 120' (191). 80 Samt war den Patriziern in Frankfurt verboten; dem Adel und somit den Doktoren waren nach der RPO zumindest sechs Ellen erlaubt; SchmausslSenckenberg, Reichs-Abschiede (wie Anm. 10), Teilbd. 1,338 (1530); zum Samtverbot in Frankfurt vgl. Worgitzki, Kleiderordnungen (wie Anm. 77), 178. 77
wenn sie eine ähnliche berufliche Tätigkeit ausübten. 1640 werden die Lizentiaten in der Frankfurter Kleiderordnung erstmals erwähnt und in den ersten Stand eingeordnet. Zusammen mit den Doktoren waren sie von den auch für diesen Stand gültigen Beschränkungen ausgenommen - womit ihnen im Gegensatz zu den übrigen Ratsherren das tragen von Handschuhen, von vollständig samtenen Mänteln und Perlenschnüren erlaubt war. 81 Auch in dem nur fragmentarisch überlieferten Entwurf einer Kölner Kleiderordnung von 1697 wurden die "Doctores & Licensiati" zusammen mit den "Patricij" und "Syndici" der "Ima Classis" zugeschlagen,82 Nach der Frankfurter Kleiderordnung von 1731 zählen sie aber nur zum ersten Stand, "so [sie] sich ihren Dignitaeten gemäß bezeugen, und nicht in das Notarien-Amt einmischen",83 Die Notare und Prokuratoren reihte man seit 1597 in den dritten Stand ein, zwei Stufen unter jenen Gelehrten, die wichtigere Ämter in der Stadt bekleideten bzw. im Rat präsent waren. 84 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die graduierten Juristen, gleich ob Lizentiaten oder Doktoren, dann ähnliche Kleiderprivilegien in Anspruch nehmen konnten, wenn sie auch de facto zum ersten Stand in der Stadt zu rechnen waren. Die Differenz im Grad der akademischen Ausbildung stand hinter der Differenz in der Position im städtischen Sozialgefüge zurück. 85 Vielleicht ist in dieser Uneinheitlichkeit der Kleidung des Gelehrtenstandes der Grund dafür zu suchen, daß zwar die Reichspolizeiordnungen des 16. Jahrhunderts den Gelehrten einen eigenen Abschnitt widmeten, jedoch zu deren Kleidung - im Gegensatz zu den Rittern - keine genaueren Angaben machten: Die Universitätsabsolventen waren je nach Berufswahl unterschiedlichen Ständen zuzuschlagen und hatten sich dann eben diesem "ihrem Stand gemäß" zu kleiden. Auch in den meisten Trachtenbüchern sucht man vergeblich nach der Gelehrtentracht. 86 Die Aufnahme der Graduierten in den Rat der Städte signalisiert, daß sie nun als integrierter Teil der städtischen Führungsschicht betrachtet wurden. Damit stand ihrer Beschäftigung bei den Gerichten auch in der Position des Richters nichts mehr im Wege. Denn die Übertragung der Konfliktregelung an diese nun integrierte Gruppe war für die kommunale Leitung jetzt nicht mehr Worgitzki, Kleiderordnungen (wie Anm. 77), 193. Zitate nach Schwerhoff, Aufwandsordnungen (wie Anm. 11), 116. 83 Zitiert nach Worgitzki, Kleiderordnungen (wie Anm. 77), 202. 84 Ebd. 79 ff. Auch bei den Handwerkern rangierten jene, die im Rat vertreten waren, zwei Stufen über ihren Berufskollegen; ebd. 85 Die Hierarchisierung innerhalb der Juristen während des 16. und 17. Jahrhunderts war ein gesamteuropäisches Phänomen; vgl. Filippo Ranieri, Vom Stand zum Beruf. Die Professionalisierung des Juristenstandes als Forschungsaufgabe der europäischen Rechtsgeschichte der Neuzeit, in: Ius commune 13, 1985,83-105, hier 96ff. 86 Hans Weigel, Trachtenbuch. Nürnberg 1577, Faksimile-Ndr. Unterschneidheim 1969, XCII. 81
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mit der Gefahr verbunden, an Selbstdarstellungsmöglichkeiten einzubüßen. Aus Sicht des Patriziats blieb das Rechtswesen weiterhin ein zentrales kommunikatives Feld, das zwar nicht gänzlich ausgelagert, wohl aber an eine spezielle Gruppe innerhalb der Führungsschicht übertragen werden konnte, wenn diese als Bestandteil des Patriziats wahrgenommen wurde. Die Zahlen für Köln belegen, daß die gelehrten Juristen nun bei der Besetzung der Richterstellen eine herausragende Stellung einnahmen. Wie erwähnt, rekrutierte man die Richter der städtischen Gerichte in Köln aus dem vor- und nachgesessenen Rat; nach 1600 waren ca. 10 bis 12 Prozent dieser Ratsherrn Juristen. Eine Durchsicht der Kölner Ämterlisten des frühen 17. Jahrhunderts ergibt, daß man aus der kleinen Gruppe juristisch gebildeter Ratsherrn zwischen 30 und 70 Prozent aller Richter und Urteiler der Ratsgerichte rekrutierte. 87 Lediglich beim Gewaltgericht, das aber mit seinen stark polizeilich geprägten Aufgaben auch schon im 15. Jahrhundert von den Vertretern der führenden Gaffeln gemieden wurde, waren die Juristen unterrepräsentiert. 88 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Entwicklung am Kölner Hochgericht. Seine Schöffen rekrutierte das Gericht im Verfahren der Selbstergänzung 89 ; es war also bei der Rekrutierung seines Personals nicht auf das Vorhandensein von Gelehrten im Stadtrat angewiesen. Nach der von Wolfgang Herborn und Peter Arnold Heuser vorgelegten Studie besuchten zwar einige Schöffen bereits im 15. Jahrhundert die Universität, sie wählten allerdings meist die Artistenfakultät, und kaum einer machte ein Examen. 9o Erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts konnte ein nennenswerter Teil des Schöffenkollegiums ein abgeschlossenes Jurastudium vorweisen. Nach 1600 87 Aus arbeitsökonomischen Gründen basiert die Auswertung auf einer um 1900 aus den Originalen zusammengestellten Amtsträgerliste; Historisches Archiv der Stadt Köln, Ratsämter 1 (1454-1800). Die Abschrift gilt als zuverlässig; mögliche kleinere Abweichungen vermögen die relevante Aussage nicht zu beeinträchtigen. Mit einbezogen in die Auswertung wurden die Urteiler des Bürgermeister- und Amtleutegerichts. 88 V gl. Gerd Schwerhoff, Köln im Kreuzverhör. Kriminalität, Herrschaft und Gesellschaft in einer frühneuzeitlichen Stadt. Bonn 1991, 52ff.; Herborn, Führungsschicht (wie Anm. 12),326. 89 Strauch, Das Hohe Weltliche Gericht (wie Anm. 30), 772ff.; Wolfgang HerborniPeter Amold Heuser, Vom Geburtsstand zur regionalen Juristenelite - Greven und Schöffen des' kurfürstlichen Hochgerichts in Köln von 1448 bis 1798, in: RhVjb1l62, 1998,59-160, hier 79. 90 Herbom/Heuser, Juristenelite (wie Anm. 89), 79, sprechen von "mehr oder weniger intensiv universitär" vorgebildeten Schöffen; Herborn, Führungsschicht (wie Anm. 12), 418f. Die Zuordnung der Schöffen zu bestimmten Fakultäten ist nicht aus dem Blickwinkel der Kompetenz zu betrachten. "Rechtskenntnis ist in der Frühmodeme ja entweder standesgenerierend (für nichtadelige Juristen) oder statusvalidierend (für den Adel)"; Rudolf Stichweh, Der frühmoderne Staat und die europäische Universität. Zur Interaktion von Politik und Erziehungssystem im Prozeß ihrer Ausdifferenzierung (16.-18. Jahrhundert). Frankfurt am Main 1991,345.
waren fast alle Mitglieder des Gerichts graduierte oder promovierte Juristen. 91 Obwohl das Hochgericht in Personalfragen formal gegenüber dem Kölner Rat größere Unabhängigkeit beanspruchen konnte, waren auch hiernach der Integration der Gelehrten in die städtische Führungsschicht und zeitlich parallel zu ihrer Beschäftigung in den Übrigen Gerichten der Stadt - sogar fast ausschließlich Juristen tätig. Für die Kommunikationssituation vor Gericht, für die Form der Übernahme der Richterrolle, mußte eine solche, auch durch Schmuck und Kleidung kenntlich gemachte Vereindeutigung jener, die überhaupt für diese Funktion in Frage kamen, gravierende Folgen haben. Die festgestellte Prädisposition der Mitglieder einer bestimmten Gruppe innerhalb des Patriziats für das Richteramt dürfte eine ritualisierte Rolleneinführung (Hegung) zu Beginn jedes Gerichtstages weniger notwendig gemacht haben. Bevor dies eingehender diskutiert werden kann, ist zunächst auf die konkrete Gestaltung des Raumes einzugehen, in dem Gericht gehalten wurde. Gericht fand im Spätmittelalter zumeist unter freiem Himmel statt. 92 Zu Beginn eines jeden Gerichtstages war daher erst der Ort abzugrenzen, an dem das Gericht tagte. Dies geschah zum Teil durch das Spannen von Seilen, zum Teil bildeten die Bänke, auf denen man saß, mit ihren erhöhten Rückenlehnen eine Abgrenzung. 93 In der Regel errichtete man jedoch eine Art Holzzaun, die sogenannten Schrannen, um den eigentlichen Gerichtsort einzugrenzen. 94 Zwar gab es in den Städten bald Gerichtshäuser, aber in ihnen fand nicht immer auch die Verhandlung statt. 95 Selbst im 15. Jahrhundert tagten auch in großen Städten einzelne Gerichte, wie etwa in Köln das erbvogteiliche Gericht St. Gereon, noch auf einem Hof unter einer Linde; für Rottweil ist dies bis in das 18. Jahrhundert hinein nachweisbar. 96 Auffällig ist zudem, daß sich Vgl. die von Herbom/Heuser, Juristenelite (wie Anm. 89), 69ff., zusammengestellten Namenlisten der Schöffen mit Angaben zu ihrer universitären Ausbildung. 92 Grimm, Rechtsaltertümer (wie Anm.42), Bd.2, 793 ff. (bzw. 411 ff.), sowie Erwin Braun, Die Entwicklung der Gerichtsstätten in Deutschland. Erlangen 1943, 93ff. Vgl. jedoch insbes. zum Gericht in Köln Strauch, Das Hohe Weltliche Gericht (wie Anm. 30), 784ff., sowie ders., Kölnisches Gerichtswesen bis 1794: Die Ordnung des Hochgerichts. 14. bis 15. Jahrhundert, in: Joachim Deeters/Johannes Helrnrath (Hrsg.), Quellen zur Geschichte der Stadt Köln. Bd. 2: Spätes Mittelalter und Frühe Neuzeit (1396-1794). 2. Aufl. Köln 1996, 29-62, hier 34 ff. 93 So Diebold Schillings Darstellung (um 1480); Gemot Kocher (Hrsg.), Zeichen und Symbole des Rechts. Eine historische Ikonographie. München 1992, 155 Abb. 236. 94 Wolfgang Schild (Hrsg.), Die Volkacher Halsgerichtsordnung von 1504. Rothenburg ob der Tauber 1997,9, 17. Nach Grimm wurden im Süddeutschen ,Bank' und ,Schranne' oft synonym gebraucht; Grimm, Rechtsaltertümer (wie Anm. 42), Bd. 2, 81Of. (bzw. 435). ,Hegen' meint ursprünglich ,Einzäunen'; Burchardt, Hegung (wie Anm. 42), 21. 95 Braun, Gerichtsstätten (wie Anm. 92), 93, 124. In Volkach trafen sich um 1500 Richter und Schöffen im Rathaus, um dann unter Führung des Richters auf dem Markt das Gericht zu hegen; Schild (Hrsg.), Volkacher Halsgerichtsordnung (wie Anm. 94), 18. 96 Lau, Entwicklung (wie Anm. 32), 42f.; Friedrich Thudichum, Geschichte der Reichs-
etwa in Köln trotz der beachtlichen öffentlichen Bautätigkeit97 keine Bestrebungen zur Errichtung eines Gerichtsgebäudes ausmachen lassen. Das erste in Köln vom Stadtrat eingerichtete Gericht hieß bezeichnenderweise "Das Gericht von den Gästen hinter der Tür". Namen wie "Das Bürgermeistergericht auf dem Fischmarkt" oder "Das Bürgermeistergericht auf dem Kornmarkt" weisen auf die Offenheit dieser Orte städtischer Konfliktregelung hin. Das Kölner Gewaltgericht tagte wohl noch zu Beginn des 17. Jahrhunderts vor dem Rathaus. 98 Neben den Vorhallen von Kirchen99 kann als ,klassischer' Ort für Verhandlungen in der Stadt die im 13. Jahrhundert aufkommende Gerichtslaube gelten. In diesen meist den Rathäusern angegliederten, offenen Vorbauten tagte beispielsweise das Lübecker Niedergericht bis weit in die Frühe Neuzeit hinein lOO , so daß der ephemere Charakter, der dem Gericht unter der Linde anhaftete, im Kern bestehen blieb (vgl. Abb. 2).101 Wenn in Herford im zweiten Drittel des 14. Jahrhunderts der Gograf das Vogtding abhalten wollte, so sollte er dies "uppe deme rathus" tun, womit, wie die zugehörige Illustration zeigt, offene Arkaden oder eine am Rathaus angefügte Laube gemeint waren. Der Tagungsort mußte jedenfalls erst herge11chtet werden, denn die Fronboten hatten zu Beginn des Gerichtstags einen Tisch aufzustellen, auf den Reliquiar und Richtschwert gelegt werden sollten. 102 Auf der Miniatur im Herforder Rechtsbuch, die das Gericht im Moment der Hegung zeigt, begrenzen Bänke mit hohen Rückenlehnen den gehegten Raum. Auch sie wurden wohl jeweils für den Gerichtstag dort aufgestellt, da sie zum Teil auf grünem Rasen stehen.1 03 Die in der Literatur zumindest für das Tagen in Lauben und ähnlich offenen Räumen gegebene Begründung, man wollte mit ihnen rechtlich geforderte ,Öffentlichkeit' herstellen, muß hier nicht diskutiert werden. Zu fragen ist
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stadt Rottweil und des Kaiserlichen Hofgerichts daselbst. (Tübinger Studien für Schwäbische und Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2.) Tübingen 1911, 69. 97 Lau, Entwicklung (wieAnm. 32), 292f., 31Off. 98 Ebd. 30ff.; Heinen, Gerichte (wie Anm.32), 133ff.; Strauch, Gerichtswesen (wie Anm. 92), 34ff.; Schwerhoff, Köln im Kreuzverhör (wie Anm. 88),52. 99 Das Kölner Hochgericht tagte in der Vorhalle des alten Domes; wann es im Mittelalter ein eigenes Gebäude bekam, ist nicht zu klären; vgl. Strauch, Das Hohe Weltliche Gericht " (wie Anm. 30), 787. 100 Wilhelm Ebe!, Lübisches Recht. Lübeck 1971, 328ff. Abbildungen noch existierender Rathauslauben bei Schild, Gerichtsbarkeit (wie Anm, 27), 143 ff. 101 Franz Heinemann, Der Richter und die Rechtspflege in der deutschen Vergangenheit. 2. Aufl. Jena 1924,12 Abb. 8 (Frankfurt, 1571); Kocher, Zeichen (wie Anm. 93), 151 Abb. 229, datiert das Bild versehentlich auf 1523. Zu Parallelen zwischen Linde und Laube schon Braun, Gerichtsstätten (wie Anm. 92), 93 ff. 102 FedderslWeber, Herforder Rechtsbuch (wie Anm. 49),38. 103 He!mert-Corvey (Hrsg.), Rechtsbuch (wie Anm.49), fol. 2rec. Meine Interpretation folgt weitgehend Ulrike Lade-Messerschmied, Die Miniaturen des Rechtsbuches der Stadt Herford, in: He1mert-Corvey (Hrsg.), Rechtsbuch (wie Anm. 49),198-207, hier 203ff.
Abb. 2: Titelholzschnitt "Neu Formular und Kanzleibuch ", Frankfurt 1571. Idealisierte Darstellung einer Gerichtssitzung in offener Halle. Der Richter sitzt bereits auf einem erhöht aufgestellten Richterthron. Anders als in Abb. 3 (S. 489) sind die Schäffen jedoch nicht auf einer gesonderten Ebene plaziert; Heinemann, Richter (wie Anm. 101), 12 Abb. 8.
vielmehr, was dieses Raumkonzept für die Kommunikation an Orientierung leistete bzw. nicht leistete. 104 Während des Spätmittelalters lassen sich die Formen der Markierung des Platzes, an dem die Gerichtsverhandlung durchgeführt wurde, zwischen den beiden Polen, Teil-Sein-von' und ,AbgegrenztSein-von' verorten. Dies entspricht der Stellung des Gerichts im kommunikativen Feld der Stadt des 14. und 15. Jahrhunderts: Hier operierte keine Institution, die an einem genau definierten Ort ihre genau definierbaren Funktionen erfüllte. Vielmehr war Konfliktbearbeitung einer von mehreren Themenberei104 Raum wird definiert als "organisierte Abstände" zwischen Menschen und/oder Gegenständen. "Konstituierend für den Raum ist die Grenze, an der er endet, und seine Qualität wechselt"; Werner Paravicini, Zeremoniell und Raum, in: ders. (Hrsg.), Zeremoniell und Raum. (Residenzenforschung, Bd. 6.) Sigmaringen 1997, 12-27, Zitat 14. V gl. Charles Burroughs, Spaces of Arbitration and the Organization of Space in Late Medievalltalian Cities, in: Barbara A. HanawaltIMichael Kobialka (Eds.), Medieval Practices of Space. (Medieval Cultures, Vol. 23.) Minneapolis 2000, 64-100, hier 74ff.
chen, in dem sich die spätmittelalterliche Stadtgesellschaft über sich selbst verständigte. Der Bereich ließ sich eingrenzen, konnte und sollte jedoch nicht dauerhaft abgegrenzt werden. Es ging dann genau darum, dieses In-derSchwebe-Halten deutlich und dauerhaft architektonisch durch die Konzeption des Raumes hervortreten zu lassen. Ein so strukturierter Gerichtsraum erweist sich zudem als gut vereinbar mit einem Konzept, das den vorübergehenden, wenig festen Charakter der Rollen akzentuiert, die von den einzelnen in diesem Diskursraum ausgeübt wurden. Speziell für den Richter tritt ein Weiteres hinzu. Das Mobiliar des Gerichts bestand neben einem Tisch fast immer aus einfachen Bänken. Während die Parteien und ihre Berater stehen mußten, nahmen der Verhandlungsleiter und die Urteiler auf diesen Bänken Platz. Auf manchen Abbildungen ist der Gerichtsschreiber die einzige Person, die auf einem Stuhl vor einem kleinen Schreibpult etwas abgesondert sitzt. 105 Bei dieser Sitzanordnung hat der Richter im wörtlichen Sinne keine herausragende Stellung inne. Von den neben ihm plazierten Beisitzern hob er sich oft nur durch den Stab - aber einen solchen hatte auch der Fronbote - und durch die gekreuzten Beine ab (vgl. Abb. 1).1 06 Ende des 15. und im Verlauf des 16. Jahrhunderts zeichnet sich in der Durchgestaltung des Gerichtsraumes ein tiefgreifender Wandel ab. Konnte vorher der Umstand dem Gericht unter der Linde noch von allen vier Seiten beiwohnen, so scheint auch für das auf dem städtischen Platz, unter der Laube oder in einem Raum tagende Gericht die Offenheit nach zumindest zwei oder drei Seiten zunächst üblich gewesen zu sein. 107 Mehr und mehr jedoch wurden Gericht und Publikum einander gegenübergestellt, so daß man nur noch von vorn an das Gericht herantreten konnte und Zuschauern bestenfalls durch Fensteröffnungen der Blick von der Seite gestattet wurde. lOS Zunehmend wurde der Richter durch eine thronartige Sitzgelegenheit von der Gruppe der Urteiler getrennt und nicht selten in der Mitte der dem Publikum gegenüberliegenden Wand plaziert. 109 Damit nicht genug: Parallel dazu begann man Etwa HerfOl'd Schild, Gerichtsbarkeit (wie Anm. 27), 151 Abb. 325. Schild (Hrsg.), Volkacher Halsgerichtsordnung (wie Anm. 94), 19; ders., Gerichtsbarkeit (wie Anm. 27), 133 Abb. 276, passim. 107 Das heute noch erhaltene Lüneburger Stadtgericht tagte in der Ecke eines größeren Raumes und war an zwei Seiten offen, nur durch die Gerichtsschranken abgetrennt; Schild; Gerichtsbarkeit (wie Anm. 27), 139 Abb. 289. Um 1500 bleibt die vollständige dreiseitige Abschließung quasi auf halbem Wege stecken; vgl. Binder, Illustriertes Recht (wie Anm. 27), Abb. D, 115; Wolfgang Sellert, Recht und Gerechtigkeit in der Kunst. Göttingen 1993,59, Holzschnitt aus "Der neu Layenspiegel", Augsburg 1512. 108 Kocher, Zeichen (wie Anm.93), 99 Abb. 142, Rotterdam 1649. Ähnlich der Titelkupfer zu Sebastian Brands Clagspiegel, Augsburg 1536; Heinemann, Richter (wie Anm. 101), 55 Abb. 52. 109 1591 wurde in Rothenburg ob der Tauber im Rathaussaal ein heute noch erhaltener steinerner thronähnlicher Sitz als Gerichtsplatz errichtet; Schild, Gerichtsbarkeit (wie Anm.27), 146 Abb. 312. Beim Umbau des Kölner Rathauses im 16. Jahrhundert erhielt 105
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nun, in dem Gerichtsraum mehrere Ebenen einzuziehen. Gerichtsschreiber, Prokuratoren und Parteien agielien auf der untersten Stufe, dem eigentlichen Boden des Raumes. Die Bänke der Beisitzer wurden auf einer hufeisenförmig angelegten zweiten Ebene aufgestellt, so daß sie das Geschehen im Innenraum von einer höheren Warte aus beobachten konnten. Der Stuhl des Richters stand, wiederum erhöht, auf dieser zweiten Ebene, so daß er auch die Beisitzer um mindestens einen Kopf überragte. Zusätzlich findet sich über dem Richterstuhl oft ein Baldachin, der dem Sitz des Verhandlungsleiters ein thron ähnliches Gepräge gab (vgl. Abb. 3).110 Die Unterschiede in der Durchgliederung des Raumes, in dem Konflikte bearbeitet wurden, und die Ausstattung und Positionierung des Richters in diesem Raum weisen in dem betrachteten Zeitraum tiefgreifende Veränderungen auf. Vor einer abschließenden Diskussion gilt es, diese bei den Aspekte zusammenzuführen. Der Personenkreis, der für eine Besetzung des immer noch zeitlich befristeten Richteramtes fast ausschließlich in Frage kam, war in der Zeit um 1600 deutlich eingeschränkt. Reichte es bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts zumeist aus, wenn man dem Patriziat zugerechnet wurde, so mußte man jetzt darüber hinaus zumeist eine Universität besucht haben. Man mußte also zur Führungsschicht gehören und innerhalb dieser Schicht Mitglied einer besonderen Gruppe sein. Aus dieser Perspektive ist der Universitätsbesuch als eine Form des Übergangsritus zu betrachten 111, denn in der Frühneuzeit qualifizierte der Abschluß bekanntlich nicht nur zur Ausübung bestimmter Berufe, sondern führte zu einer umfassenden Veränderung der Position des Graduierten in der Gesellschaft 112 . Allerdings handelte es sich bei diesem Ritual gewissermaßen um ein ,Kombinationspräparat', denn die Graduation entfaltete - wie aufgezeigt - ihre spezifische Bedeutung erst in Verbindung mit der daraufhin eingenommenen Stellung des Absolventen in der Stadt. Die Kleidung dieser Personen entsprach im großen und ganzen der eines Patriziers der jeweiligen Stadt, wich aber in deutlich wahrnehmbaren Nuandas Bürgermeistergericht ebenfalls einen gemauerten Stuhl; Marianne GechterlSven Schütte, Ursprünge und Voraussetzungen des mittelalterlichen Rathauses und seiner Umgebung, in: Walter GeislUlrich Krings (Hrsg.), Köln. Das gotische Rathaus und seine historische Umgebung. (Stadtspuren. Denkmäler in Köln, Bd.26.) Köln 2000, 69-195, hier 147. 110 Auf den 1744 und 1746 erstellten Grundrissen des Kö1ner Hochgerichts, die das damals Vorhandene wiedergeben, ist der geschlossene Raum durch mehrere Ebenen gegliedert. Von der höchsten, für die Beisitzer gedachten Ebene aus ist ,,[d]er richter Stohl mit Noch 3 auff Drit", also nur über drei Stufen, zu erreichen; Strauch, Das Hohe Weltliche Gericht (wie Anrn. 30), 789 f., Abb. 8 und 9. Das Titelblatt der Nassauer Gerichtsordnung von 1535 setzt dies ins Bild (vgl. Abb. 3); Heinemann, Richter (wie Anm. 101),53 Abb. 50; ähnlich zeichnet Tengler um 1512; Schild, Gerichtsbarkeit (wie Anm. 27), 1Of., Abb. 2. 111 Zum Promotionsritual vgl. Speck, Promotionswesen (wie Anm. 76), 56ff. 112 Vgl. Anm. 90.
Abb. 3: Titelkupfer der Gerichtsordnung der Grafschaft Nassau von 1535. Der Richter sitzt auf einem um zwei Stufen erhöhten Richterstuhl, der zudem mit einem Baldachin hervorgehoben ist. Die Schöffen sind ebenfalls erhöht, aber niedriger als der Richter plaziert. Parteien und Parteivertreter agieren auf dem eigentlichen Fußboden. Vorn ragt noch die Schranne in das Bild. Die Sitzung findet in geschlossenem Raum statt, was einerseits durch die links der Säule dargestellte Szene im Freien betont, andererseits durch das offene Fenster relativiert wird; Heinemann, Richter (wie Anm. 101), 53 Abb. 50.
cen davon ab. Der dem Patriziat angehörende Jurist war so eindeutig gekennzeichnet, der städtische Richter damit jedoch noch nicht. Denn während es in den meisten Städten nur einen Scharfrichter gab, der seinen Beruf zumeist ein Leben lang ausübte, war die Tätigkeit an einem der oft zahlreichen städtischen Gerichte weiterhin befristet und wurde ,nebenbei' ausgeübt.1 13 Der Scharfrichter mußte bei seiner Tätigkeit keinen Rollenwechsel vornehmen, der Stadtrichter war dagegen primär gelehrter Patrizier, der als solcher nur für den Tag der Verhandlung die Rolle des Richters annahm. Der Rollenwechsel wurde aber nun dadurch erleichtert, daß man jetzt auf Personen zurückgreifen konnte, die im Vergleich zum Ratsherrn des 14. oder 15. Jahrhunderts stärker für diese Rolle prädestiniert waren. Anders formuliert: In die Erwartungshaltung, die der Person des im Rat sitzenden Gelehrten entgegengebracht wurde, war bereits ein Stück weit die Möglichkeit eingewoben, daß sie auch als Vorsitzender in einem Prozeß begegnen konnte. Die, Vorinitiation ' der Gelehrten trug sicherlich zu einer Erleichterung der Rollenübernahme während der Gerichtsverhandlung bei. Zudem zeichneten sie sich während des Prozesses durch den Gebrauch einer juristischen Fachsprache aus. Der gelehrte Richter konnte seine Einlassungen mit bestimmten Spezialtermini und lateinischen Wendungen ausstatten, die sich auch vom Humanistenlatein unterschieden. 1l4 Weiter betrat der Richter nun zu Beginn des Gerichtstages einen Raum, dessen Gestaltung die Kommunikation bereits stark formatierte. Das fest installierte, zum Teil gemauerte Mobiliar signalisierte Stetigkeit und Dauerhaftigkeit, signalisierte in gewisser Weise ein Fortbestehen des Gerichts auch nach Ende der Verhandlung. Das Gericht mußte nicht erst durch das Heranschaffen von Tischen und Bänken jeweils von N eu em aufgebaut werden. Innerhalb dieses verstetigten Raumes gab es eine Kongruenz zwischen der Plazierung der Personen und der von ihnen übernommenen Rollen. Die Unterscheidung zwischen Richter und Urteiler war jetzt durch die zwischen Stuhl und Bank verdeutlicht; die eingezogenen Ebenen formten die Rollendifferenz als Höhenunterschiede aus. Das Ensemble von ineinandergreifenden Formen, mit denen um und nach 1600 operiert wurde, kann so in seiner Funktion als Äquivalent zu den rituellen Handlungen interpretiert werden, die zuvor im Gericht begegneten. Ein permanent abgetrennter, nur für den Zweck der Verhandlung benutzter Be113 lutta Nowosadtko, Scharfrichter und Abdecker. Der Alltag zweier "unehrlicher Berufe" in der Frühen Neuzeit. Paderborn 1994, 52ff. 114 Schon die mittelalterliche Rechtssprache gilt als Fachsprache, nur war sie von anderer Form und an keine bestimmte Personengruppe gebunden; vgl. Ruth Schmidt-Wiegand, Deutsche Sprachgeschichte und Rechtsgeschichte seit dem Ausgang des Mittelalters, in: Werner Besch/Anne BettenlOskar Reichmann/Stefan Sonderegger (Hrsg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Teilbd. 1. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Bd.2.) 2. Aufi. BerlinlNew York 1998, 87-98, hier 87ff. (mit Literatur).
reich in der Rathauslaube machte die während der Hegung gestellte Frage, ob dies denn der rechte Ort sei, nicht nur aus sachlichen Erwägungen heraus überflüssig. Mit dem dauerhaften Aufstellen von Schranne und Mobiliar, bevorratete' man in der Stadt nun einen latenten Diskursraum, der zuvor erst jeweils eigens durch die Hegung eingerichtet werden mußte. Die an diesen Ort gebundenen anderen Regeln der Kommunikation ließen sich zu einem Gutteil nun schon durch das Eintreten in diesen Raum und das Einnehmen festgelegter Positionen aktivieren.1 15 Das Platznehmen des Richters auf dem erhöhten, mit einem Baldachin versehenen Einzelsitz markierte dessen kommunikative Position sicherlich ebenso deutlich wie etwa das Beinkreuzen auf der Bank. Dabei war die Schwelle für die Personen, durch ihr Eintreten den Beginn eines anderen Diskurses zu markieren, schon dadurch abgesenkt, daß sie als Angehörige einer dafür prädestinierten Gruppe auftraten. Wenn die beschriebenen Möglichkeiten, den Diskurs über Konflikt zu formatieren, aus kommunikationstheoretischer Perspektive als Funktionsäquivalente betrachtet werden können, kann daraus nicht der Schluß gezogen werden, dies sei zugleich mit einem unmittelbaren Austausch der Formen (etwa: Richterstuhl gegen Beinkreuzen) verbunden gewesen. Zwar ist richtig, daß um 1600 die zuletzt beschriebene Formatierung mehr und mehr dominierte, doch auch im 14. Jahrhundert war beispielsweise der separat sitzende Richter nicht unbekannt, wie sich umgekehrt für das Kreuzen der Beine Belege bis mindestens in das späte 17. Jahrhundert hinein finden. 1l6 Zentraler noch scheint mir, daß selbst in ein und demselben Verfahren alle genannten Elemente zusammen vorkommen konnten. Nach den Illustrationen der Bamberger Halsgerichtsordnung von 1507 saß der Richter auf einem Stuhl, der zumeist wiederum erhöht aufgestellt war. Zumindest auf einer Abbildung hat der Vorsitzende die Beine gekreuzt. 117 Der Text geht zwar nicht auf die Beinhaltung ein, aber immerhin hat der Richter der Verhandlung mit dem Stab in der Hand und sitzend - und das heißt jetzt: auf dem erhöhten Stuhl - beizuwohnen.1 18
115 Zur Bedeutung der räumlichen Position des einzelnen in Relation zu anderen vgl. Stollberg-Rilinger, Rang (wie Anm. 19),385 ff.; Karl-Heinz Spieß, Rangdenken und Rangstreit im Mittelalter, in: Paravicini (Hrsg.), Zeremoniell (wie Anm. 104),39-61, hier 46ff. . 116 Der allein sitzende Richter begegnet etwa in den Sachsenspiegel-Illustrationen. Eine Bleiverglasung von 1597 zeigt noch einen Richter mit gekreuzten Beinen; Schild, Gerichtsbarkeit (wie Anm. 27), 156f., Abb. 333 und 336 (Richterstuhl); 142 Abb. 300 (Beinkreuzen). 117 Kohler/Scheel (Hrsg.), Bamberger Halsgerichtsordnung (wie Anm. 63), XLIV, Abb. 11 zur Terminsetzung. 118 Ebd. Art. 95, 40. Bei den Audienzen des Reichskammergerichts betrat der Pedell, das Zepter in der Hand, Richter und Assessoren voranschreitend den Gerichtssaal. Hier nun übergab er das Zepter dem Richter; Bettina Dick, Die Entwicklung des Kameralprozesses nach den Ordnungen von 1495 bis 1555. Köln/Wien 1981, 83. Es begegnet eine Stabüber-
Mit einer lange Zeit parallel existierenden Formenvielfalt, wie sie die Bambergensis zeigt, ist schon deshalb zu rechnen, weil bei der Gestaltung der Kommunikation kein Programm umgesetzt wurde, sondern vielmehr von einer evolutionären Entwicklung auszugehen ist. Verschiedene Verfahrens,Arten' versuchten also, wenn man so wIll, sich in ihrer gesellschaftlichkulturellen ,Umwelt' zu bewähren, was aber eben voraussetzt, daß sie gleichzeitig existierten. Redundanzen, die streng funktionalistisch betrachtet überflüssig und ineffektiv erscheinen, erweisen sich so als unbedingt notwendig. Trotz dieser Einschränkungen sind Veränderungen im Gerichtsverfahren im beobachteten Zeitraum unübersehbar. Im Vergleich zur Zeit um 1400 wurden das Aufspannen des Diskursraumes und die Rollenwechsel des Personals um 1600 wesentlich stärker vorstrukturiert. Ohne daß sich die Grundprinzipien gewandelt hätten - immer noch waren es integrale Personen, die vorübergehend in eine andere Rolle schlüpfen mußten -, führte die Änderung in der Auswahl des Gerichtspersonals und der Gestaltung des Raumes zu einer gewissen Verstetigung. Zwar war der Raum durch seine relative Offenheit weiterhin als nicht aus der städtischen Topographie ausgegrenzt charakterisiert, zwar zeigten sich die ratsfähigen Juristen in ihrer Kleidung weiter primär als Angehörige des Patriziats. Jedoch wiesen das dauerhaft aufgestellte und montierte Mobiliar sowie die beständig am Körper getragenen Ketten und andere Schmuckgegenstände bereits ein latentes Potential zur Rollenübernahme auf. Ein wichtiges Moment wird jetzt die Zusammenführung dieser Elemente, die auch bei weitgehendem Verzicht auf Riten dennoch ebenfalls einen besonderen Kommunikationsraum etabliert und den erforderlichen Rollenwechsel erst ermöglicht. Kennzeichnend für den älteren Verfahrens typ war, daß die Prozeßbeteiligten fortwährend und in aktiver Form die Art des Diskurses und ihre darin eingenommenen Rollen mit thematisierten. Die Kommunikation darüber, wie gerade kommuniziert wurde, beherrschte große Teile des Prozeßgeschehens und schob sich stark in den Vordergrund. Durch Raumgliederung und Vorauswahl des Personals wurden der spezifische Diskurs und die eingenommenen Rollen weiterhin deutlich gekennzeichnet, aber diese Kennzeichnung mußte nun nicht mehr zum Thema der fortlaufenden Kommunikation gemacht werden. Damit eröffnete sich gewissermaßen ein Spielraum, neue und andere Themen in der Verhandlung stärker zu berücksichtigen. Solche Themen waren durch die Änderungen selbst natürlich nicht weiter festgelegt. Man könnte sich zum Beispiel stärker der Diskussion um den weiteren Verfahrensgang zuwenden; man könnte sich über Hierarchien und die daraus abzuleitenden Sitzordnungen im Gerichtssaal verständigen; man könnte vermehrt eine Disgabe in abgekürzter Form; es scheint aber nicht mehr erforderlich zu sein, parallel auch noch in festgelegter Dialogform die Rollenübernahme zu thematisieren.
kussion darüber beginnen, welche Sachverhalte aus Sicht des Gerichts für die weitere Bearbeitung des Konflikts von Relevanz waren usw. Was immer nun zum Thema wurde, das Gericht machte es deutlich stärker als zuvor zum jeweils gerichtseigenen Thema, welches sich von Termin zu Termin zu einer eigenen Geschichte ausformte. 119 Betrachtet man es losgelöst von den einzelnen bearbeiteten Inhalten, hatte die Zurückdrängung der ritualisierten Kommunikation eine größere Selbstreferentialität des Verhandlungs geschehens insgesamt zur Folge. 120 Festzuhalten ist, daß für solche Schwerpunktverlagerungen nicht oder zumindest nicht ausschließlich geistes- oder mentalitäts.:. geschichtliche Strömungen, sondern auch die kommunikativen Rahmenbedingungen von zentraler Bedeutung sind. Denn erst wenn es nicht mehr erforderlich ist, fortlaufend während des Gerichtsverfahrens der Differenz der hier stattfindenden Kommunikation und der eingenommenen Rollen gegenüber anderen Diskursen und Rollen große Aufmerksamkeit zu schenken, erst dann sind die Bedingungen für die Möglichkeit gegeben, andere Themen in den Mittelpunkt zu stellen und diese stärker nach verfahrens eigenen Gesichtspunkten zu beleuchten. Festzuhalten gilt weiterhin, daß sich Veränderungen vor allem bei den ganz konkreten Formen der Kommunikation beobachten lassen. Die grundlegende Struktur der Kommunikation, auf der dieser Formenwandel aufruhte, veränderte sich dagegen kaum. So waren Diskurs und Rollenübernahme im frühen 17 . Jahrhundert nicht weniger an visuelle Symbole gebunden als um 1400, und die Er- bzw. Einrichtung des Gerichtsortes blieb ein entscheidendes Moment für die Etablierung des Kommunikationsraums ,Gerichtsverfahren', wenn diese auch auf je unterschiedliche Weise umgesetzt wurde. Man wird genau genommen nicht einmal davon· sprechen können, daß die Körpersymbolik von abnehmender Wichtigkeit war, wenn man Kleidung und Schmuck als zum wahrnehmbaren Körper gehörig interpretiert. Auch die Reglementierung der Gestik des Richters erfuhr ja ein Äquivalent durch die Plazierung seines Körpers auf dem erhöhten Stuhl. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Rolle und Rollenwechsel, bei allen konstatierbaren Veränderungen, nach wie vor über einen expressiven Signalapparat organisiert wurden, mit dem in diesem Fall zugleich das Ephemere der Rollenübernahme betont wurde.
119 Giel, Öffentlichkeit (wie Anm. 3),269 ff., 290, schildert den Prozeß des Wilhelm Treue gegen die Stadt Köln am Reichskammergericht. Obwohl gewählt, war ihm der Zugang zum Rat verwehrt worden. Das Kölner Ratswahlverfahren, u. a. Gegenstand des Prozesses, wurde in Speyer jedoch zum Teil völlig falsch verstanden. Dennoch richteten beide Parteien ihre Argumentation an dem Speyerschen Verständnis des Wahl verfahrens aus. Solche Fehler machen deutlich, wie durch das Verfahren eine eigene Realität erzeugt wurde, auf die dann im weiteren Verlauf Bezug zu nehmen war. 120 Dagegen scheinen Rituale das Refiexivwerden von Kommunikation eher zu ,beschneiden' ("coupieren"); Luhmann, Soziale Systeme (wie Anm. 17),253,613 f.
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Gesten, Kleidung und die Etablierung von Diskursräumen im Gerichtswesen
Die trotz des langen Zeitraums relativ konstanten Grundstrukturen der Kommunikation vor Gericht dürften sich auf das bereits mehrfach angesprochene Konzept der ,integralen Person' zurückführen lassen. Wenn die aufgedeckten Strukturen einen Reflex des vopnodernen Personenkonzepts darstellen, dann kann mit einer gewissen Berechtigung versucht werden, über den Bereich des städtischen Gerichtswesens hinaus allgemeine Vorschläge zur Interpretation ritualisierter, körperbetonter Kommunikation in der Vormoderne zu formulieren. Kurzfristige Rollenwechsel, so läßt sich zunächst konstatieren, erforderten angesichts des dominanten Personenkonzepts einen höheren kommunikativen Aufwand als in der Modeme. Für das spätmittelalterliche Gerichtswesen tritt dies besonders deutlich hervor, weil man im Verfahren der Hegung nicht nur Rollen wies, sondern den Diskursraum insgesamt jeweils erneut herstellte. Hier scheinen Kommunikationsformen mobilisiert worden zu sein, die nicht von ungefähr an Initiationsriten erinnern, wie sie von Amold van Gennep beschrieben wurden.1 21 Nach van Gennep dienen Übergangsrituale dazu, einer Person als Ganzes im gesellschaftlichen Gefüge eine andere Position zuzuweisen. 122 Dieses vornehmlich an Stammesgesellschaften untersuchte Potential des Rituals kommt offenbar auch hier zum Tragen. Um in Gesellschaften mit integralem Personenkonzept Rollenwechsel durchzuführen, so läßt sich nun genauer formulieren, bedmi es besonderer kommunikativer Akte, die auf die ganze Person zugreifen 123, um ihren Positions wechsel im kommunikativen Raum zu ermöglichen und die an die Person gerichteten Erwartungen anderer umzustrukturieren. So kann es nicht überraschen, daß im Zuge dieser Akte die physische Präsenz der am Diskurs Beteiligten, sei es in Form der Festlegung der Kleidung, Gestik oder Sitzposition, manipuliert wurde. Denn kennzeichnend für geringe Ausdifferenzierung ist nicht nur, daß Person und Rolle (und damit zumeist auch Status) zusammenfallen, sondern eben auch, daß von einer Einheit zwischen wahrnehmbarer körperlicher Erscheinung und Rolle ausgegangen wird. Kommunikation und die für ihr Funktionieren wichtigen Erwartungen orientieren sich an diesen Gegebenheiten; sollen Umorientierungen vorgenommen werden, ist dem Rechnung zu tragen. Ein Rückgriff auf van Genneps Ansatz läuft leicht Gefahr, die Differenzen zwischen den bei einfachen Stammes gesellschaften beobachtbaren ,Rites de passage' und der völlig anderen Situation in der europäischen Vormoderne
zu verwischen. Zwei wesentliche Unterschiede seien daher hervorgehoben: 1. Während der Initiationsritus zumeist einen dauerhaften Wechsel der Position innerhalb einer Gesellschaft begründet, wies die ritualisierte Kommunikation der Vormoderne dem Verhandlungsleiter die Richterrolle nur für die Zeit der Gerichtssitzung zu. 2. Wenn im ,klassischen' Übergangsritus die Kennzeichen der alten Position zumeist gänzlich abgestreift und neue Markierungen dauerhaft angenommen werden, so war ein wesentliches Element der hier untersuchten Rituale, die ,eigentliche' gesellschaftliche Rolle der vorübergehend als Richter agierenden Person nicht zu überdecken oder gar aufzuheben. Er wechselte eben nicht die Kleidung, vielmehr legte er sich zusätzliche Attribute zu. Regelmäßig abgehaltene Zusammenkünfte am gleichen Ort entfalten zumeist eine Eigendynamik, die zu einer Verfestigung der Kommunikationssituation führt. Dies hätte in letzter Konsequenz auch bedeuten können, daß der vorübergehend als Richter tätige Patrizier zu stark auf diese Rolle festgelegt worden wäre. Einer solchen Dynamik galt es entgegenzuwirken, und dies bedurfte eigener Anstrengungen. Notwendig war also, das wenig Feste, das Vorübergehende des Diskurses zu betonen - und dies dauerhaft. Eben deshalb mußte sich der Richter trotz Rollenzuweisung im Hegungsakt während des gesamten Gerichtstages durch Stabhalten, Sitzen-Müssen und Beinkreuzen permanent als Richter erweisen. 124 Denn damit wurde zugleich die leichte Aufhebbarkeit, das Ephemere der eingenommenen Rolle unterstrichen. Springt dies im Verfahren des frühen 17. Jahrhunderts weniger stark ins Auge, so signalisiert doch auch hier das Zusammenspiel von Körper und Position im Raum, durch das die Richterrolle erst ausgeformt wird, leichte Veränderbarkeit.
Zur Regung als liminale Phase vgl. Arlinghaus, Rituale (wie Anm. 24), 138. Das Ziel von Riten ist es u. a., ,,[d]as Individuum aus einer genau definierten Situation in eine andere, ebenso genau definierte Situation hinüberzuführen"; Arnold van Gennep, Übergangsriten (Les rites de passage). Frankfurt arn Main/New YorkIParis 1999, 15. 123 Carotine Walker Bynum, Fragmentierung und Erlösung: Geschlecht und Körper im Glauben des Mittelalters. Frankfurt am Main 1996, 280, zeigt auf der Basis theologischphilosophischer Texte, daß man "von der unerschütterlichen Gewißheit [ausging], daß das Individuum sein Leib sei".
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In diesem Sinne leisteten die im Umfeld des vormodernen Gerichtswesens praktizierten Rituale mehr als Initiationsriten und verfolgten zudem andere Ziele: Sie vermochten Diskursräume zu etablieren und hoben zugleich die geringe Festigkeit dieses Diskurses hervor; sie waren darauf abgestellt, den Wechsel von Personen eben auch in ephemere Rollen zu ermöglichen, ohne dadurch die , eigentliche' Rolle der Person in der Gesellschaft aufzuheben.
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~24 Stabhalten und Beinkreuzen sind also weiter rituelle Akte. Die Unterscheidung gilt es 1m Anschluß an Karl Leyser zu betonen, weil hier ein anderer Modus des Gestikgebrauches deutlicher hervortritt. .~eyser interpretiert den Krönungsakt bei den Ottonen im van Gennepschen Sinne als Ubergangsritus, deutet das anschließende, wiederholte ,Unter-der~one-Gehen' jedoch zu Recht als Herrschaft inszenierendes Zeremoniell; Karl Leyser, Ritual, Zeremonie und Gestik: Das ottonische Reich, in: FMSt 27, 1993, 1-26, hier 2f.
IV. Resümee Der Ausgangspunkt war die Annahme, daß auf der Basis des integralen Personenkonzepts der Vormoderne das Hinernschlüpfen in kurzfristig auszuübende Rollen anders durchgeführt werden mußte als in der Moderne, die bereits mit einer weitgehend differenzierten Konzeption von Person (,Rollenbündel ') operiert. Bei kommunalen Amtsträgern in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadt, so die Vermutung, mußte das Problem des Rollenwechsels in besonderer Weise virulent werden, weil sie bereits in einem sehr komplexen Umfeld agierten und wichtige Aufgaben oft nur zeitlich befristet zu erfüllen hatten. Hier mußten kurzfristig Rollen übernommen werden, an die andere Erwartungen geknüpft wurden als etwa an den Fernhändler oder Hausbesitzer. Wie war dies mit einem integralen Personenkonzept vereinbar? In einem ersten Schritt wurde gezeigt, daß sowohl die Verwaltungsspitze wie auch die Boten und Werkleute durch die Kleidung gekennzeichnet wurden. Anders als etwa bei Uniformen heute ging es hier jedoch darum, die Person insgesamt auf die Rolle des städtischen Amtsträgers festzulegen. Kleidung war auch für den kommunalen Amtsträger weniger Berufskleidung als Ausweis der allumfassenden Mitgliedschaft in einer bestimmten Korporation. Die Bestimmungen zum Auftreten des Kölner Bürgermeisters im öffentlichen Raum, die keinerlei Differenzierung zwischen beruflicher, öffentlicher und privater Sphäre vorsahen, machten dies besonders deutlich. In einem Zwischenfazit konnten die Aspekte ,integrale Person' und, Orientierung an der äußeren Erscheinung' zusammengeführt werden. Da in der Regel nicht mit einer Differenz zwischen Person und Rolle und dem an dieser Person visuell Wahrnehmbaren gerechnet werden mußte, war es sinnvoll, kommunikatives Verhalten über den optischen Eindruck zu strukturieren. In diesem Kontext führten Kleidung und Schmuck zu einer Reduktion von Komplexität und vermochten Erwartungssicherheit herzustellen - beides zentrale Elemente für das Funktionieren von Kommunikation. So gesehen war es nur konsequent, daß man diesen ,Äußerlichkeiten' in der Vormoderne besondere Aufmerksamkeit widmete. Es hatte weder etwas mit einer quasi-kindlichen Vorliebe für das Visuelle zu tun, wie manchmal suggeriert wird, noch läßt es sich auf Statusdenken allein reduzieren. Auffällig war, daß zwar Bürgermeister und Boten, nicht jedoch die städtischen Richter eine Amtstracht zugewiesen bekamen. Es ist davon auszugehen daß das für die Stadt zentrale kommunikative Feld ,Konfliktbearbeitung' deu~lich von den im Rat sitzenden Patriziern zu besetzen war. Eine Übertragung dieser Aufgabe an Spezialisten, wie für den medizinischen Bereich üblich, war deshalb nicht möglich. Der zum Richter bestellte Patrizier übte diese Tätigkeit quasi ,nebenberuflich' und in seiner Alltagskleidung aus.
Denn vor dem Hintergrund der beschriebenen Strukturen der Kommunikation stand für die Übernahme zentraler, aber eben ephemerer Rollen die Markierung durch einen Kleidungswechsel kaum zur Verfügung. Andererseits wurden an den Leiter einer Gerichtsverhandlung Erwartungen herangetragen, die das übliche Spektrum patrizischer Rollenausübung sprengten. Ein Rollenwechsel war also erforderlich, und erforderlich war demgemäß auch eine Visualisierung dieses Wechsels. Die Lösung bestand in expressiven Formen der Markierung der Richterrolle, die das physische Erscheinungsbild der ,eigentlich' in der Gesellschaft ausgeübten Rolle zwar zeitweise in den Hintergrund drängten, aber eben nicht gänzlich aufhoben. Realisiert wurde dies durch die Beigabe weniger fest mit dem Körper verbundener Attribute und! oder durch bestimmte vorgeschriebene Gesten und Körperhaltungen, die zwar einerseits den Rollenwechsel deutlich akzentuierten, andererseits aber in ihrer leichten Aufhebbarkeit das Vorübergehende, die Flüchtigkeit dieses Wechsels unterstrichen. Seit dem 15. Jahrhundert wurden bestimmte rituelle Formen wie etwa die Hegungsfragen oder das Beinkreuzen mehr und mehr aus dem Verfahren verdrängt. Das zunehmend fest installierte Mobiliar des Gerichtsraumes sowie die Plazierung von Urteilern und Richtern auf verschiedenen Ebenen und unterschiedlichem Gestühl erfüllten nun weitgehend die Aufgabe, die Personen nach ihrer kommunikativen Funktion im Diskurs zu markieren. Zudem war die Schwelle zur Übernahme der Richterrolle im Vergleich zur Zeit um 1400 deutlich abgesenkt, da nun vornehmlich die im Rat vertretenen Gelehrten für den Gerichtsvorsitz ausgewählt wurden. Für die Bearbeitung des Konfliktes selbst führte dies zu einer gewissen Entlastung. Gerade weil durch Raumgestaltung und Prädestination der Personen eine gewisse Verstetigung stattgefunden hatte, mußte nun nicht mehr in dem Maße wie zuvor, während die Kommunikation lief, beständig die Art des Diskurses und die übernommene Rolle mitthematisiert werden. Dadurch eröffneten sich neue Spielräume, andere Themen konnten nun stärkere Berücksichtigung finden, konnten sich statt der Hegungsfragen und der Gestik des Richters in den Vordergrund schieben. Die vom Spätmittelalter zur Frühneuzeit beobachtbaren Veränderungen in den ThemensteIlungen vor Gericht haben so betrachtet nicht nur mit allgemein mentalitätsgeschichtlichen Umbrüchen, sondern mindestensebenso mit einer Änderung der Kommunikationsformen und -bedingungen zu tun. Denn erst als es durch eine im vorhinein erfolgte eindeutigere Vorstrukturierung des Raumes und des Personals weniger notwendig wurde, fortwährend im Kommunikationsprozeß die Art der Kommunikation mitzuthematisieren, eröffnete sich die Möglichkeit, andere Themen als die Form der Kommunikation stärker in den Mittelpunkt zu stellen. Damit war noch nicht determiniert, welche konkreten Inhalte nun mehr Aufmerksamkeit geschenkt bekamen; ein Zurücktreten der Thematisierung der Abgrenzung des Gerichts
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dürfte aber mit einer gewissen Konsequenz zu einer stärkeren Selbstreferentialität der Kommunikation vor Gericht geführt haben. Für den betrachteten Zeitraum ließen sich also durchaus gravierende Änderungen in den Kommunikationsweisen vor Ge;t2icht feststellen. Feststellen ließ sich aber auch, und dies gilt es besonders hervorzuheben, daß die grundlegenden Prinzipien der Kommunikation, wie sie für den ritualisierten Prozeßverlauf des Spätmittelalters aufgedeckt wurden, sich nicht geändert hatten und auch im frühen 17. Jahrhundert den Diskurs prägten. Sowohl um 1400 wie um 1600 wurde für einen Rollenwechse1 auf die Person als Ganzes, ihren Körper eingeschlossen, zugegriffen. Hier wie dort mußten die Rollen der afn Diskurs Beteiligten durch expressive Formgebung, mit der eben genau dieser ,ganzheitliche' Zugriff realisiert wurde, determiniert werden. Die Durchgestaltung des Raumes und die Beschäftigung von, vorinitiierten ' gelehrten Juristen, die bereits an ihrer Kleidung eine Prädestination für die Richterrolle aufscheinen ließen, können aus kommunikationstheoretischer Sicht als Äquivalente zu den spätmittelalterlichen Ritualen betrachtet werden. Letztlich handelt es sich um zwei Varianten des gleichen Prinzips, um zwei unterschiedliche Lösungen des Problems, auf der Basis eines integralen Personenkonzepts Rollenwechsel vorzunehmen. Insgesamt betrachtet, so läßt sich nun formulieren, waren große Teile der für das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit typischen expressiven, körperbezogenen Kommunikationsformen (Rituale und ihre Äquivalente) essentiell notwendig, wenn es darum ging, in dieser wenig ausdifferenzierten Gesellschaft kurzfristige Rollenwechsel vorzunehmen.
Der Körper als Medium symbolischer und performativer Praktiken Eheschließungen als Übergangsrituale im 16. und 17. Jahrhundert Von
Stefan Haas
I. Von der modernen Entkörperlichung zum postmodernen body turn Der Körper, wie wir ihn als ein integratives Element unserer je eigenen Identität zu kennen glauben, scheint gegenwärtig im Meer diskursiver Neubestimmung zu verschwinden. Die Biotechnologie einerseits, die glaubt, irgendwann in der Lage zu sein, jeden Körperteil zu ersetzen oder zu verbessern, macht aus dem Körper ein Objekt des individuellen und modischen Tunings. Die Erweiterung der Schnittstelle des Menschen zur digitalen Technologie andererseits will die Erfahnmgsebenen des einzelnen, seine Bindung an das Hier und Jetzt, überwinden und Erfahrung unabhängig vom sinnlichen Reiz der Körpergebundenheit in völlig unbekannte Dimensionen verlagern. 1 Was die einen als hoffnungsvoll stimmende Zukunftsvision beurteilen, die die Menschen in eine neue Phase der Evolution katapultiere, sehen die anderen als Bedrohung menschlicher Identität, vielleicht gar des Menschen in seiner Unversehrtheit überhaupt. 2 1 Letzteres am eindringlichsten in jener Richtung, die mit dem Begriff Cyberpunk umschrieben wird und deren Hauptprotagonisten William Gibson und Bruce Sterling sind. Gibson war es auch, der den Begriff ,Cyberspace' erfand. Vgl. exemplarisch William Gibson, Neuromancer. New York 1984; sowie Bruce Sterling, Schismatrix. New York 1985. V gl. auch den einflußreichen Roman Snow Crash, der die virtuelle Realität als "Meta~ verse" konzipiert: Neal Stephenson, Snow Crash. New York 1992. Vgl. Glenn Grant, Transcendence through Detournement in William Gibsons Neuromancer, in: Science Fiction Studies 1990, 41-49; Claire Sponsler, Cyberpunk and the Dilemmas of Postmodern Narrative. The Example ofWilliam Gibson, in: Contemporary Literature 4,1992, 62.5-6~4;. Peter Gö1z, Kolonisation geträumter Räume. William Gibsons CyberspaceTnlogle, m: Burkhardt Krause/Ulrich Scheck (Hrsg.), Verleiblichungen. Literatur- und ~lturgeschichtliche Studien über Strategien, Formen und Funktionen der Verleiblichung m Texten von der Frühzeit bis zum Cyberspace. St. Ingbert 1996,261-273. 2 V gl. Jay David Bolter, Virtuelle Realität und die Epistemologie des Körpers, in: Kunstforum 132, 1995,85-111.
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Es war nicht zuletzt das Zeitalter der Industrialisienmg, das die Ambivalenz schuf, aus der heraus diese Dichotomie der Zukunftsprognosen erwachsen konnte. Einerseits wurde der einzelne seinem Körper entfremdet, wurde er als Vernunftwesen definiert, dessen Körpyrlichkeit nur als ein zu überwindender Rest eingeschätzt wurde, verleugnet und geleugnet von Intellektuellen wie von Wissenschaftlern, zu einem puren Vehikel des geistig-mentalen Selbst in Raum und Zeit degradiert. Andererseits war es gerade die Verletzlichkeit der körperlichen Existenz, die den einzelnen anfällig machte, zu einem Opfer von Gewalt in einem bislang unbekannten Ausmaß zu werden, das mit der Degradierung des einzelnen als Teil einer gefühllosen industriellen Maschinerie begann und in den Konzentrationslagern ihren unseligen Höhepunkt erlebte, dessen unbeschreibbare Bilder der körperlichen Vernic~tung des Individuums sich in das kollektive Gedächtnis eingeprägt haben. MIt der Ablehnung der Körperlichkeit wurden auch Sterblichkeit, Verletzlichkeit und das Geworfensein in eine letztlich solipsistische Existenz an vielen Orten der Modeme verneint. Die Verdrängung des Todes aus dem kollektiven Bewußt3 sein war nur einer der Punkte, an denen dies erfahrbar wurde. Mit dem Übergang in eine postindustrielle Gesellschaft und den Diskussionen um die Bedingungen postmoderner Existenz hat sich dies gewandelt. Der Körper ist wieder zu einem Thema geworden, weniger als ein bereits klar konturiertes und kategorial definiertes, denn als ein aufzuspürendes und erst noch zu konstituierendes. 4 In diesem Kontext haben auch Historiker und Historikerinnen die Bedeutung des Körpers als eines geschichts- und damit wirklichkeitsbildenden Faktors herauszuarbeiten versucht. 5 Denn in den diskursiven Auseinandersetzungen um die soziokulturellen Veränderungen der Körpervorstellung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war auch deutlich geworden, daß die Naturwissenschaft, die lange Zeit das Monopol der wissenschaftlichen Definition des Körpers beanspruchte, diesem nicht gerecht zu werden verstand, ihn vielmehr reduzierte auf eine komplex agierende und reagierende Kohlenstoffmaschine. Diese Auffassung wurde selbst wiederum als historisch verortbar erkannt und eine prinzipielle historische Bedingtheit des Körperlichen, oder zumindest des gesellschaftlichen und kulturellen Ver6 ständnisses davon, was ein Körper sei, angenommen. Vgl. Stefan Haas, Die Ordnung des Alltags v.on d~r ständischen zur mode:ne~,Gesell schaft, in: Gisela Weiß (Hrsg.), "Zerbrochen smd dIe Fesseln des Schlendrians. Westfalens Aufbruch in die Modeme. Münster 2002,316-332. 4 Vgl. zur Diskussion um die Zukunft des Körpers Stefan Haas; Vom Ende de~ Körpers in den Datennetzen. Dekonstruktion eines postmodernen Mythos, m: Clemens WIschermann/ Stefan Haas (Hrsg.), Körper mit Geschichte. Der menschliche Körper als Ort der Selbstund Weltdeutung. Stuttgart 2000,85-108. .' . . 5 Einen Überblick über die Forschung gibt Maren Lorenz, LeIbhaftIge VergangenheIt. Emführung in die Körpergeschichte. Tübingen 2000. . . .' 6 V gl. u. a. Richard van Dülmen (Hrsg.), Körper-GeschIchten. StudIen zur hIstorISchen
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Mit diesem ersten Schritt der Entdeckung des Körpers als eines historischen Themas wurde der Körper zu einem Medium, auf den eine Kultur ihr Verständnis der conditio humana aufschrieb, er wurde zu einem "Ort der Selbst- und Weltdeutung".7 Ein zweiter Schritt aber, der sich gerade erst vollzieht und mit dem Begriff des body turn bezeichnet wird, geht noch über diese Auffa~sung hinaus .. Von einem turn, einer Kopernikanischen Wende, zu sprechen, 1st nur dort smnvoll, wo die bisherigen Grundlagen des (wissenschaftlich~n) Denkens umgekehrt werden. Nicht die Thematisierung des Körpers allem wäre demnach bereits eine solche Wende, sondern nur eine solche, die herausarbeiten würde, daß der Körper nicht nur ein Medium ist, auf dem kultureller Sinn auf-geschrieben wird, sondern daß er selbst sinngenerierend wirkt - mithin wie Körper selbst als Medien in der Lage sind, an der Konstitution von Wirklichkeit teilzuhaben. In diesen Fragehintergrund ordnet sich der fo~gende Argumentationsgang ein, indem er Körper als bedeutungstragendes WIe als bedeutungsstiftendes Medium thematisiert.
II. Eheschließungen als Initiationsrituale und performative Praktiken in der Frühen Neuzeit Wenn man Körper als wirklichkeits generierende Medien ansehen möchte dann steht eine solche Frage auf der Basis eines Konstruktivismus, der Wirk~ lichkeit nicht als eine sich außerhalb des Menschen befindende, mit naturwissenschaftlichen Methoden vermeßbare Realität ansieht, sondern als eine Lebenswelt im Husserlschen Sinn8 , als eine Welt, die erst dadurch zu einer ~irklichkeit wird, daß Menschen sie mit Sinn belegen. Über die Frage, wie dIeser Welt Sinn beigelegt wird, ist in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten, seit dem Verblassen der Überzeugungskraft sozialwissenschaftlicher Erklärungsmuster, heftig gestritten worden, und immer wieder kam es zu fundamentalen Wenden, die einen völlig neuen Zugang zu thematisieren versuchten: angefangen mit dem linguistic turn, der die Abhängigkeit von Sinn in der Lebenswelt von der Sprache und ihren medialen Bedingungen thematisierte,
Kulturforschung. Frankfurt am Main 1996; Körper macht Geschichte - Geschichte macht Körpe:. Hrsg .. v. Bielefelder Graduiertenkolleg Sozialgeschichte. Bielefeld 1999; Claudia Ben~hzen/Chnstoph Wulf (Hrsg.), Körperteile. Eine kulturelle Anatomie. Reinbek 2001. 7 Wzschermann/Haas (Hrsg.), Körper mit Geschichte (wie Anm. 4). 8 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie ..2. Auft. Hamburg 1982; vgl. Ferdinand Fellmann, Lebenswelt und Lebenserfahrung, m: Archiv für Geschichte der Philosophie 69, 1987, 78-91; Bernhard Waldenjels, Lebenswelt zwischen Alltäglichem und Unalltäglichem, in: Christoph Jamme/ Otto Poggeier (Hrsg.), Phänomenologie im Widerstreit. Zum 50. Todestag Edmund Husserls. Frankfurt am Main 1989, 106-118.
502 über den cultural turn, den visual turn oder imagic turn, dem communication turn bzw. medial turn, bis hin zum body turn, der dort, wo es nicht um den statischen Körper, sondern einen handelnden, agierenden Körper geht, als Performanz thematisiert und entsprechend jp seiner kategorialen Ausrichtung als peiformative turn charakterisiert wird. 9' Besonders der Gegensatz von Diskurs als einem Teil des linguistic turn und des Körpers bringt die Signifikanz des Themas zum Ausdruck. In der Auffassung der Diskurstheorie agieren Körper als Medien, indem sie die Opernbühne darstellen, auf der eine Partitur, die kulturell codiert und für die Zeitgenossen entschlüsselbar ist, aufgetragen wird. Symbole verdichten Bedeutungen und formulieren die soziale Lebenswelt, in der Menschen (der Frühen Neuzeit) lebten. Dies ist erforschenswert, verfehlt aber die Signifikanz, die mit der Frage, inwiefern Körper Medien sind, gestellt wird. Denn mit der Körperwende verbunden ist die Frage, ob es ein Jenseits des Diskurses gibt, etwas, das seinerseits den Diskurs in seiner Ausformung bestimmt und nicht aus ihm selbst entstammt. Die Antwort auf diese Frage muß an einem Ort gesucht werden, dessen Analyse es erlaubt, weitreichende Antworten in dieser Richtung zu geben. Ein solcher sind jene Momente, in denen Gesellschaft allererst entsteht bzw. rekonstituiert wird: Solche Momente sind die Rituale der Initiation. Diese bedeuten für den einzelnen oder die einzelne einen Übergang vom Status des Jugendlichen, der noch nicht vollwertiges Mitglied einer Gemeinschaft ist, zum vollwertigen Mitglied einer Gemeinschaft mit dem Recht der kulturellen und genetischen Weitergabe, d. h. mit der Berechtigung, legitimen Nachwuchs zu bekommen, diesen zu erziehen und ihm seinen Besitz zu vererben. Initiationsrituale im Sinn des Moments des Erwachsenwerdens, wie sie für viele außereuropäische Ethnien typisch sind, sind in der abendländischen Geschichte nicht anzutreffen. Ihre Funktion übernehmen Eheschließungen, die, indem sie den einzelnen zu einem vollwertigen Mitglied der Gemeinschaft machen, für das frühneuzeitliche Abendland den entscheidenden Adoleszenzübergang darstellen. Damit markierte das Eheschließungsritual, das aus einer Folge von verschiedenen Ritualen von der Werbung bis zu häufig mehrtägigen Hochzeitsfeierlichkeiten reichte und daher nicht auf die Trauung allein reduziert werden darf, den Übergang von Mann und Frau von der einen zu einer anderen "sozialen Identität".1° Vgl. u.a. Klaus-Peter Köpping/UrsulaRao, Die ,performative Wende'. Le~en-Ritu~l Theater, in: dies. (Hrsg.), Im Rausch des Rituals. Gestaltung und TransformatlOn der WIrklichkeit in körperlicher Performanz. Münster 2000, 1-3l. . . 10 Edward Muir, Ritual in Early Modern Europe. Cambndge 1997, 155 .. Zur Rit:LaIgeschichte der Eheschließungen vgl. auch Joel. Francis Harrinßton, Reord~nng Mar~Iage and Society in Reformation Germany. Cambndge 1995; Davzd Cressy, Buth, Marnage, and Death. Ritual, Religion, and the Life-Cyc1e in Tudor and Stuart England. Oxford 1997;
Die Forschungen, die zur Aufstellung eines "European Marriage Pattern" geführt haben, besagen, daß dieser Übergang im Durchschnitt relativ spät, in vielen Fällen sogar überhaupt nicht erfolgte. 11 Dies führte zu einer körperlichen sexuellen Praxis, deren Resultate, die nichtehelichen Kinder, von den Zeitgenossen wie von vielen heutigen Forschern als "illegitim" bezeichnet werden, da die Eltern nicht die Initiation durchlebt und damit das Recht erworben haben, in ihrer Gesellschaft Kinder zu bekommen. Hochzeit als Übergang von einem sozialen Status in einen anderen, von jenem des Ledigen bzw. der Ledigen zu dem des bzw. der Verheirateten mit der liminalen Phase des Braut- bzw. Bräutigam-Seins, stellt damit einen zentralen Statuswechsel des einzelnen innerhalb der frühneuzeitlichen Gesellschaft dar, der mit einer Änderung des Rechtsstatus verbunden ist. Der Bedeutung dieses Übergangs für den einzelnen wie für die Gemeinschaft entsprechend, wird dieser mit einer Fülle kultureller Zeichen belegt und ritueller Praktiken begangen. Der Körper wird dabei als Medium von Bedeutungen ebenso involviert wie als Schöpfer von Sinn, indem er Performanzen inszeniert und in diesen körperlichen Handlungen Bedeutungen neu generiert. Dies zu verdeutlichen, dienen die folgenden Ausführungen anhand zweier Argumentationsstrategien: Zum einen wird gezeigt, wie in Eheschließungsritualen der Körper als ein symbolisch codiertes Medium eingesetzt wird, das die Aufschreibung von Sinn erlaubt. Zum anderen gilt es nachzuweisen, daß der Körper nicht nur ein Medium in dem Sinn ist, daß er den, Kanal' darstellt, der eine Botschaft weitergibt, ohne sie zu verändern, sondern zu zeigen, wie der Körper selbst Sinn und Bedeutung generiert.
111. Körper als Träger für Symbole Bereits bei einem ersten Vergleich der frühneuzeitlichen Hochzeiten in Europa mit den Initiationen in anderen Kulturen, beispielsweise im Amazonasgebiet, fällt auf, wie unversehrt der Körper diesen Übergang übersteht. Es gibt nichts Vergleichbares zu den Praktiken beispielsweise der Guayaki, die Einritzungen in die Haut vornehmen und damit Narben auf den Körper malen, die diesen Übergang markieren und auf Dauer sichtbar machen.1 2 Die körper-' lichen Praktiken innerhalb des Hochzeitsrituals in Europa schreiben die Statusänderung auf eine Hülle auf, die um den Körper gelegt wird, indem sie
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Vera Jung, Körperlust und Disziplin. Studien zur Fest- und Tanzkultur im 16. und 17. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2001. 11 Klassisch John Hajnal, European Marriage Pattern in Perspective, in: David Victor GlasslDavid E. Eversley (Eds.), Population in History. London 1965, 101-143. 12 Pierre Clastres, Chronik der Guayaki, die sich selbst Ache nennen, nomadische Jäger in Paraguay. München 1984,45-49.
504 beispielsweise für die Ehefrau gegenüber der Unverheirateten eine differente Kleidung vorsehen. Ein Hans Stockar rasierte sich in den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts erstmals in seinem Leben den Bart, wobei die Rasur die 1iminale Phase darstellt zwischen den Hochz~itsverhandlungen mit seinen zukünftigen Schwiegereltern, die er noch bebartet vornahm, und der Zusammenlegung mit seiner Frau, zu der er glattrasiert war:
und andem auch zu untreglicher beschwerung der gantzs tage unnutzlich verzeli wurdet, so ordenen wir, das nunhin fürbas breutgam und braut sampt irer beiderseits freundtschaft und geladenen gesten sich mit dem würt vergleichen oder sunst, im fall sy die hozeiten selbst halten, dahin richten und befürdem, das sy nach volnbrachtem kirchgang somerszeit morgens umb neun und winterszeit umb zehen und also auch des nachts somers- und winterszeit zu fünf uhren, sovil muglich, zu tisch und dem essen gehen und also auch das lang tischsitzen abkurtzen." 15
"Und als wyer zu byeden syttend ains warend des hiratt und mir der fattar dye thochtar zusyatt und der handstrack geschiach, do gi eng ich und lies mir min bart abscheren zum ersten mal in mim hus durch min gefatter Ottmar, und ist mir der bart gaingen bis uber das herzgrüblin, so lang ist er gesin, der erst. Uff den dag mitdag gieng ich und min frünschaff ins burgemmiastar huss, und do gab mian uns zu saman, und was Urban Jüntalar uns pfaff, und vermelatt ich Elsbett, min frow, mit 2 ringen, gott der her geb uns glück und sin gettlichen gnad, das wier nach sinem gettlichen willen [... ]."13
Doch dieses kurpfälzische "Polizeimandat gegen das Unmaß bei Hochzeiten und Kindstaufen" von 1558 verbot darüber hinaus alle körperlichen Praktiken, die unkontrolliert Sinn konstruieren konnten:
Solche Beispiele sind typisch für die körperlichen Veränderungen, die in der liminalen Phase vorgenommen werden. Sie betreffen entweder nur die Änderung der Hülle des Körpers, wie bei der speziellen Bekleidung, oder jene Teile des Körpers, die empfindungslos zu verändern sind. Schmerzen, eine genuin körperliche Erfahrung, spielen aber dagegen in der europäischen Geschichte nicht jene Rolle, die ihnen in vielen anderen Kulturen zukommt. Ein erster Hinweis, warum der Körper nur begrenzt involviert wird, sind die vielfältigen Regelungen, mit denen verschiedene Obrigkeiten versuchten, Grenzen zu fixieren, in denen sich Körper während der Hochzeitsfeste bewegen durften. Besonders die Tänze waren Objekt obrigkeitlicher Regulierungen. Diskursiv begründet wurden solche Beschränkungen über ein Menschenbild, das seine Definition über eine Differenzsetzung von humaner und animalischer Lebensform vollzog. 1546 begründete eine kurpfälzische Hochzeitsordnung ihre Einschränkung unter anderem so: "Zum vierdten ist bißher gespürt, was offentlicher schande und mergklichs unraths auß übermessiger füllerey entstanden, dadurch nit alleyn menschlichs wesen in vihische natur verwendet, die milten gottesgaben [... ] unnützer weiß verschwendet [... ]."14
Und auch zwölf Jahre später, in einer revidierten Ordnung, findet sich noch das gleiche Argument: "Und nachdem sich auch solche unordenliche weiß eingerissen, das man gemeinlieh an eim hochzeitliehen tage kaum vor ailfen zur kirchen und oftmals kaum umb zwölf uhren zu tisch kombt und dan wole biß in die vierdte oder fünfte stundt beyeinander im sauß und unordenlichem, vihischem leben verharrt, dardurch dan manchem armen mann zu schaden 13 Zitiert nach Karf Schib (Hrsg.), Hans Stockars Jerusalemfahrt 1519 und Chronik 15201529. (Quellen zur Schweizer Geschichte, NE, Abt. 1: Chroniken, Bd. 4.) Basel 1949, 137. 14 Pfaltzgrave Friderichs, churfürsten etc., aufgerichte ordenunge christlicher und guter policey (1546), zitiert nach Emil Sehling (Hrsg.), Die evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts. Bd. 1: Sachsen und Thüringen nebst angrenzenden Gebieten. 1. Hälfte. Leipzig 1902, 108.
"Und dieweil bißher viI unzucht und leichtfertigkeit in däntzen, sowole bey tag als bey der nacht, geübt worden, so sollen furbaß die däntz zun hochzeiten, auch sonsten, nit anders dann in zuchtigem, erbarn wandel one uberftuß der unzucht, des verdrehens, sprengens, noch anderer leichtfertigkeiten gehalten, sich auch keiner, so nit zur hochzeit geladen ist, seins gefallens, selbs zu tantzen, eindringen noch ainichen zanck oder hader anfangen, und darzu die nebendentz, so bißher durch allerlai gesamblet gesindt neben den hochzeiterin und geladnen personen aigens willens unzuchtiglichen volnbracht worden, bey der thumstraf gentzlichen abgestelt und vermiten werden, doch hiemit onbenommen, einem in zuchten ein furtantzs zu geben."16
Unbeherrschte Körperbewegungen entsprachen nicht einem auf Beherrschtheit und Vernunftsteuerung setzenden Menschenbild, das sich mit dem Humanismus etabliert hatte. Die Grenzlinie, die hier gezogen wurde, folgte nicht einer Auseinandersetzung um die symbolische Bedeutung von Körperbewegungen, sondern erfolgte, weil Körperbewegungen, wenn sie ungesteuert stattfanden, etwas produzierten, das nicht steuerbar war. In diesem Sinn produzierten Tänze eine körperlich-mentale Disposition, Bedeutungen rauschhaft zu formulieren. Wo solche bewußt wurden, wurden sie, ebenso wie in den obrigkeitlichen Ordnungen, negativ konnotiert, beispielsweise wenn Balthasar Kindermann 1662 in seiner Frauen stigmatisierenden Anekdotensammlung "Die Böse Sieben" darstellt, wie sich sein Held Mundano von einer Gesellschaft zu einem verwegenen Tanz nötigen läßt, während dessen er mit der schönen Dolorinde die Ringe tauscht und somit ein Hochzeitsversprechen eingeht - der Beginn einer Ehe, die sich für den Protagonisten rasch als Hölle entpuppt: "Sie truncken hurtig herumb / und nöthigten unsem Mundano nach vollbrachter Mahlzeitf mit Dolorinden einen Tanz zu thun. Was kunte dem jungen / und noch was verborgenen Freyer frölichers angemuthet werden? Und was hätte Dolorinden wol angenehmers begegnen können? Ich halte dafür / dass unter wehrendem Tantze / Mundano mit Dolorinden die Ringe verwechselt / und des Kauffes sey einig worden: Er geleitete sich nach ihrer Ruhe-
15 Polizeimandat gegen das Unmaß bei Hochzeiten und Kindstaufen, auch bei Baneketten (1558), zitiert nach Sehling (Hrsg.), Die evangelischen Kirchenordnungen (wie Anm. 14), 263. 16 Zitiert nach ebd.
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Stefan Haas
kammer / und nahm / in Gegenwart ihrer vornehmen Eltern / von einem jedweden ins onderheit einen höflichen Abschied. [... ] Dolorinde baute in ihrem Hertzen dem Mundano wol tausend Altare / auf welchem sie ihm gezimter Ehrfurcht / alle Stunden und Augenblick ein Opfer brachte. [... ] Feuer war in beyder Herzen. Das merckte der Vater / das merckte die Mutter / und die gantze Erbare Freundschafft / darum machten sie nach der Hand genugsame Anstalt zu dem / umb welches den beyden Verliebten es auch am allermeisten zu thun war. Und sehet / in wenig Tagen war alles bereit / und deer Herold musste herumm zu den Freunden wandern / und dieselben allzumal zur Hochzeit laden. Kein Soldat mag sich so sehr auff die Beute freuen / als Mundano auff die Hochzeit. [... ] Die Kosten so zur Hochzeit mehr als gerne angewandt wurden / belieffen sich auff die achthundert ReichstahIer. Unnd durfte sich der Bräutigam darum nicht die geringste Sorge machen. Er satzte sich zu tische / und gieng so bald es ihm beliebte mit seiner Brau [sic!] zu Bette. Und diese Herrligkeit hätte er mit dem Türckischen Keyserthum nicht vetauschet."17
Konnte körperlicher Rausch dergestalt sinngenerierend wirken, formulierte er doch die vermeintliche Zuneigung zu einem Menschen, die weitere, folgenschwere Handlungen initiierte, so konnte er andererseits auch die ritualisierte Handlungsabfolge unterbrechen. Über seine Hochzeitsnacht im Jahr 1581 schrieb Hans von Schweinichen in seinen Erinnerungen: "Nach Vollziehung der Trauung wurden wir alle fürstlich traktiret und waren dabei lustig und guter Dinge. Es ward mir von I.f.Gn. das Rosenzimmer eingeräumt, darinnen ich mit Freuden und Ehren beilag, denn ich bin gleichwie die Braut eine reine Jungfrau gewesen, haben wir also einander nichts vorzuwerfen gehabt. Die Frau Herzogin, die Frau Kurzbachin nebst der Jungfrau Mutter brachten mir die Braut zu Bette geführet und gaben mir die Lehre, ich sollte die Nacht friedlich leben, welches auch von mir geschah; der starke Rausch half mir wohl, friedlich zu sein." 18
Eine weitere Strategie, die die Entkörperlichung der Eheschließungsrituale einerseits begründete, andererseits förderte, war die zunehmende Gruppierung der Ritualausführung um die Vorstellung von ,Reinheit'. Dies dürfte mit einer der wesentlichen Wandlungsstrategien diskursiver Sinnzuschreibung zur Figur der Braut in der Frühen Neuzeit zu tun haben: der Ineinssetzung dieser mit der Braut. 19 Reinheit war rituell zu wahren und symbolisch zu demonstrieren, was in sehr unterschiedlicher Weise performativ oder symbolischvisuell codiert dargestellt werden konnte: von rituellen Waschungen bis zu spezifischer, häufig weißer Bekleidung. Besonders in protestantischen Territorien wurde die Reinheit der Brautleute mit der durch die Reformation ange17 Balthasar ,Kurandor' Kindermann, Die Böse Sieben Von Welcher heute zu Tage die unglückseligen Männer grausamIich geplaget werden / Fürgestellet In einer wunderbaren Geschichte Durch Ein Mitglied des hochlöblichen Schwanen-Ordens. Zu Ende ist mit angehänget worden der verehlichten Lust und Unlust. Zeitz / Druckts Christophorus Cellarius, Im Jahr 1662, o. pag. 18 Zitiert nach Ernst von Wolzogen (Hrsg.), Des Schlesischen Ritters Hans von Schweinichen eigene Lebensbeschreibung. Berlin 1907,204. 19 Zum Diskurs um Reinheit in der Frühen Neuzeit vgl. Susanna Burghartz, Zeiten der Reinheit - Orte der Unzucht. Ehe und Sexualität in Basel während der Frühen Neuzeit. Paderborn 1999, bes. 14.
strebten Reinheit der Gesellschaft gleichgesetzt, was wiederum die Funktion des Initiationsrituals als Wiederaufführung des Gründungsmythos der Gesellschaft verdeutlicht. Da diese Reinheit zwar als geistige Reinheit verstanden, aber als körperliche Reinheit und damit Jungfräulichkeit inszeniert wurde, war der Körper das entscheidende, aber auch das gefährdete und gefährliche Medium der Eheschließung. Zwar nahm besonders durch die Lutherische Reformation das Wort als Medium in Eheschließungsritualen an Bedeutung zu, was nicht zuletzt auch die zunehmende Wichtigkeit der Hochzeitspredigt in beiden Konfessionen erklärt, entlang des Körpers und seiner Gefährdungen aber entwickelten sich die für die Frühe Neuzeit signifikanten gesellschaftlichen Reibungsflächen zwischen den sozialen Gruppen, Generationen und Geschlechtern. Denn körperliche Praktiken generierten Bedeutung, die ihrerseits interpretationsbedürftig war. Solche Interpretationskonflikte durchziehen die Frühe Neuzeit und konturieren das Bestreben der Kirchen, die Herrschaft über den Symbolraum, über die Zuschreibung von Bedeutungen zu Ritualen und bildlichen Symbolen zu erhalten. Auch wenn die Zurückdrängung sogenannter abergläubischer Praktiken nicht vollständig gelang, so blieb die Möglichkeit, Sinn umzuschreiben und in ein geändertes Konnotationssystem einzupassen. Das Ziel dieser Körperreglementierungen war die spirituelle Reinerhaltung des Hochzeitspaares, die durch die emergente Eigendynamik körperlicher Praktiken ständig gefährdet war. Symbolische Strategien, die auf den Körper aufgetragen wurden, sollten diese Mehrdeutigkeit vermeiden helfen und eine eindeutige Bedeutungszuschreibung ermöglichen. Der Kranz beispielsweise war als Fruchtbarkeitssymbol Zeichen der Jungfräulichkeit. Aber nicht nur die Braut trug einen Kranz, in einzelnen Regionen erhielten alle Hochzeitsgäste einen solchen. 20 Vielfach überreichte sogar die Braut dem Bräutigam diesen als Symbol für die Achtung ihrer Keuschheit, die er ihr entgegenbringen sollte. 1589 schrieb Michael Saxsen, Hofprediger zu Thonna, in seiner Auslegung des Kranzsymbols: "Zum dritten / das der Breuttigam den Krantz oder Schnuren von seoner Vertraweten annimmet / und ihr zu liebe und Ehren offentlich treget / geschicht auß zweyen ursachen: Erstlich zum zeugnis / das er seine Vertrawete für keusch und züchtig / rein und unbefleckt.! from und redlich achte und halte: Zum Andern / Ihm selber zur erinnerung / das er gleichen schatz seiner Braut zu bringen solle / und mit seinem unbeflecktem Leibe / die Ehe mit ihr beschreiten / und hernach seinen Ehebundt onverbrüchlich halten wollt. "21 Lyndal Roper, The Holy Household. Women and Morals in Reformation Augsburg. Oxford 1989, 143f. 21 Nutzer Bericht / von der bedeutung der Schnur und Cranztze / So di Braut dem Breutigam zu geben / und er ihr zu Liebe und Ehren / offentlich zu tragen pfleget. Gestellet durch Michaelum Saxsen / Hoffprediger zu Thonna: / und ist auch zu Pyrmont. Gedruckt zu Mühlhausen / durch Andream Hantzsch /1589,3. Abschnitt. 20
508 Der Brautkranz wurde nach der Hochzeit mit einem Schleier oder einer anderen Kopfbedeckung vertauscht, der den Statuswechsel dokumentierte. Ein Schleier konnte aber auch von der Braut vor dem Übergang getragen werden. Der Schleier neutralisiert das Subjekt, das die Initiation durchleben will. Es ist unsichtbar, nicht wirklich anwesend, eine virluelle Gestalt, die erst im Ritual geboren werden muß. Parallel zu dieser Tendenz zur Verkirchlichung mit ihrer Betonung der Reinheit wurden volks kulturelle performative Praktiken in ihrer Bedeutung zurückgedrängt oder ganz abgeschafft. 22 Zentral war dabei die Verkirchlichung der Eheschließung, die die traditionell im Vordergrund stehenden beiden Phasen Eheversprechen und Beischlaf als Vollzug dieses Eheversprechens in ihrer Bedeutung reduzierte und an ihrer Stelle die Trauung durch den Priester in den Mittelpunkt des Übergangs stellte. 23 Im späten Mittelalter und noch lange ins 16. und 17. Jahrhundert hinein markierte der Abschluß der Aushandlung der ökonomischen und finanziellen Heiratsbedingungen durch die beiden beteiligten Familienverbände den Übergang der beiden angehenden Eheleute in die liminale Phase. Mit der Veröffentlichung dieses Ergebnisses wurden sie zu Braut und Bräutigam und gehörten nicht mehr zur Gruppe der frei auf dem Heiratsmarkt verfügbaren Personen. Nun wurde diese Liminalität öffentlich gemacht. Seit dem 16. Jahrhundert wurden volkskulturelle Bräuche, die diesen Austritt aus dem bisherigen gesellschaftlichen Status in der lokalen Öffentlichkeit symbolisierten, nach und nach von Praktiken zurückgedrängt, die die kirchlichen-und weltlichen Obrigkeiten erlassen hatten. Der Körper hatte in ihnen eine besondere Rolle gespielt, beispielsweise bei dem in Pommern verbreiteten Brauch des Steingehens. Vor der Hochzeit, meist am Morgen vor der Trauung, mußte der Bräutigam sich öffentlich auf einen Stein stellen und faire Einwände, unfreundliche Beschimpfungen oder unerfreuliche Wurfgegenstände entgegennehmen. Zur Mitte des 16. Jahrhunderts ging der Brauch verloren. Einer der letzten, der diesem noch nachging, war der spätere Stralsunder Bürgermeister Bm1holomäus Sastrow, der 1551 heiratete: "Auff den Nachmittag nach dreyen, als auf den Abendt die Hochzeit angön sollte, versamlten sich die geladen, unnd dem Breutigam Beistandt leisten wölten, zu jhme; gingen nach dem Marckete nach der Seiten der Schuestrassen, der Brautman zwuschen zwen Burgermeistern, oder so die nicht vorhanden, den Furnemsten in dem Proceß. In der Tühren auf der Schwellen des Hauses, recht auf der Schuhestrassen Orrte, lag ein vierkantig Ehlstein,
22 Christian Simon, Untertanenverhalten und obrigkeitliche Moralpolitik. Studien zum Verhältnis zwischen Stadt und Land im ausgehenden 18. Jahrhundert am Beispiel Basels. Basel/Frankfurt am Main 1981, 119. 23 Harrington, Reordering Marriage (wie Anm. 10), 145-147; Richard van Dülmen, Kultur und Alltag in der Flühen Neuzeit. Bd. 1: Das Haus und seine Menschen. München 1990,143f.
dar gingk der Brautman allein hinauf, die andern alle blieben ungefehr 50 Schrit zurück in ordine, wie sie gangen. Da stunt der Brautman gar alleine [... ] Sagen, das der Brautman sich derwegen alleine auf den Stein bloß one einichen Beistandt hat stellen mussen, wo jemandts Einsage hette, sollichs er noch vor der Copulation gwertigt sein möste."24
Wie in diesem Fall, zeigten die traditionellen Formen des Aufgebots fast immer die Verletzlichkeit des Initianten über eine Isolation des Körpers des einzelnen an. Erst später wurden Aufgebotsformen zunehmend verrechtlicht und damit zugleich verschriftlicht. Die Regelungen räumlichen Ein- und Austretens dienten der Bändigung von Gefahren ebenso wie es positiv gewendet Praktiken gab, die die Reinheit in den Körper aufnahmen, wie beispielsweise das Lövelbier, das aus einem noch niemals benutzten und mithin ,sauberen' und ,reinen' Gefäß getrunken wurde. Nachdem der Kelch herumgegangen war, wurde er mit einer Kerbe versehen, womit eine physische Spur auf ihn aufgetragen wurde. Mit diesem Getränk und ähnlichen Praktiken wurde Reinheit nicht nur auf den Körper aufgeschrieben, wie bei Brautkleid und Brautkranz, sondern in den Körper hineingenommen, um sich dort zu verteilen. In räumlichen Trennungen vor der Hochzeit und der körperlichen Zusammenlegung als Akt ihres Vollzugs vollziehen sich symbolisch die Reinigungen der Brautleute. Mit ihnen werden die rituelle, spirituelle und körperliche Reinheit hergestellt, die gleichzeitig die Reinheit der Gemeinschaft garantiert. Doch griff die Verkirchlichung im 16. Jahrhundert nicht so rasch um sich, daß sie die traditionellen Vorstellungen des Ablaufs der Eheschließungsrituale völlig veränderte. Noch Hans von Schweinichen stellt in einem autobiographischen Text die legitime Sexualität als zentralen Moment der Paarwerdung im Rahmen einer insgesamt achttägigen Hochzeit dar: "Anno 1567, weil ich, wie ich gemeldet, aus der Goldberger Schule anheim kommen gewesen, hat Herr Wenzel, der Alte, zu Teschen ein Fräulein von Sachsen, Herzog Franzens Tochter, geheiratet und ist das fürstliche Beilager im März zu Teschen gehalten worden."25
Ähnlich ließ sich auch durch Reglements und Einschränkungen das nicht verhindern, was durch die betonte Körperlichkeit der außerkirchlichen Hochzeitsrituale geschah, die Erzeugung von Bedeutung der jeweiligen körperlichen Praktik. Daher kam es, wie beispielsweise 1601 in Zürich, zu völligen.· Verboten von Tänzen auf Hochzeiten. 26
24 Zitiert nach Ursula Brosthaus, Bürgerleben im 16. Jahrhundert. Die Autobiographie des Stralsunder Bürgermeisters Bartholomäus Sastrow als kulturgeschichtliche Quelle. (Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands, Bd. 11.) Köln/ Weimar/Wien 1972, 62 f. 25 Zitiert nach Wolzogen (Hrsg.), Hans von Schweinichen (wie Anm. 18), 16. 26 Stadtarchiv Zürich, III Aab I Nr. XXV, Landmandat von 1601.
Der Körper als Medium symbolischer und performativer Praktiken
Konflikte um die Interpretation der Bedeutung körperlicher und symbolisch-kommunikativer Praktiken durchziehen die Frühe Neuzeit. 27 Das Bestreben der kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten, die Herrschaft über den Symbolraum, über die Zuschreibung von Bed,eutungen zu Ritualen und bildlichen Symbolen zu erhalten, sind in der Forschung unter den Begriffen Sozialdisziplinierung und Konfessionalisierung hinreichend untersucht worden. 28 Auch wenn die Zurückdrängung sogenannter abergläubischer Praktiken nicht vollständig gelang, so blieb, wie beim Polterabend, die Möglichkeit, Sinn umzuschreiben und in ein geändertes Konnotationssystem einzupassen. Besonders Hochzeiten waren vielfach von sogenanntem ,Aberglauben' durchsetzt, und die Obrigkeit unterließ nichts, um die schädlichen Folgen solcher Praktiken herauszustellen, wie ein Beispiel aus der Chronik von Altenburg zeigen soll: Anno 1660 in der Christnacht / wollte eine Jungfrau zu Altenburg erfahren / was sie künf~ig vor einen Mann überkommen / ob er krumb oder gleich / geschickt oder ungechickt / seyn würde? Deßwegen gehet sie zu Mitternacht hinter in den Hoff / ein Scheit aus dem Holtz-Hauffen zu ziehen / an dessen Länge sie die Beschaffenheit ihres Liebsten sehen wollte: über solcher Verrichtung aber erschrecket und bethöret sie ein Gespenste dermassen / dass sie von Stunden kranck wird / nach etlichen Tagen sterben und sich mit dem Sarge ant statt des Braut-Bettes hat beehren lassen müssen."29
In der Volkskultur gibt es vielfältige körperliche Praktiken wie das hier genannte zufällige Ziehen eines Holzstücks aus einern Holzstapel, die einen vorher nicht gekannten Sinn generieren, der für die Betroffenen handlungsleitend wird. Solche Formen der Unsteuerbarkeit werden von Vertretern einer ver27 Zur rechtlichen Codierung dieser differenten Interpretationen vgl. Gerh~rd Dilcher, Religiöse Legitimation und gesellschaftliche Ordnungs aufgabe des Eherechts 10 der Re~or mationszeit, in: Paolo Prodi (Hrsg,), Glaube und Eid. Treueformeln, Glaubensbekenntlllsse und Sozialdisziplinienmg zwischen Mittelalter und Neuzeit Münche~ 1993, ,1~9-198. 28 Zur jüngsten Weiterentwicklung der beiden Theoreme vgl. u. a'l!ez.nz.S~hllimg. (Hrs~.), Institutionen Instrumente und Akteure sozialer Kontrolle und Dlszlphlllerung 1m fruhneuzeit1iche~ Europa, Frankfurt am Main 1999; Rudolf Schlögl, Differenzierung. u~d Integration: Konfessionalisierung im frühneuzeitlichen Gesellsc~aftssystem. Das BeIspIel der habsburgischen Vorlande, in: ARG 91, 2000, 238-284; Ulrzch Pfister, Geschlos~e~e Tabernakel - saubere Paramente. Katholische Reform und ländliche GlaubenspraxIs 10 Graubünden, 17. und 18. Jahrhundert, in: Norbert Haag/Sabine Holtz/Wolfgang Zimmermann (Hrsg.), Ländliche Frömmigkeit Konfessionskultur~n und Lebe~swelten 15001850. Ostfildern 2002, 111-138; Oliver BecherlAline Stembrecher, DIe Ordnung der Ringe. Verkirchlichung von Eheschließung im Calvinismus, in: eb~. 2?5-278. . 29 Altenburgi Altitudo, Das ist Der weltberühmten Alt-Deutsch-Melßlllschen resp. RelchsChur- und Fürstl. Sächsischen Residentz- und Pleißnischen Haupt-Stadt Altenburg / Ansehnliche Hoheit / Samt unterschiedlichen Altenburgischen Altherthums stattlichen Gedächtnissen / und sonst nutzbaren besehenswerthen trefflichen Merckwürdigkeiten / theils sonderbaren neuen Geschichten und mancherley Begebenheiten / So beydes den Einheimischen und Außländischen zum Nutz und ergötzlichen Nachricht / an statt einer von vielen verlangten Altenburgischen Chronica kürtzlich entworffen Johannes Vilpius Samuel Meyenburg. Altenburg / Druck und Verlag Johann Ludwig Richter 1699, 68.
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christlichten Kirchenkultur so uminterpretiert, daß sie sich als schädlich herausstellen, wie im zitierten Beispiel der Zufall, der die Hand führt, sich als unheilbringender Weissagungsdämon erweist. Die Rolle des Körpers in Eheschließungsritualen der Frühen Neuzeit ging daher nicht in den Auseinandersetzungen der verschiedenen beteiligten Parteien um Sinn und Auslegung der symbolischen Bedeutung körperlicher Performanzen auf, sondern reichte vielmehr über diese hinaus und war in der Lage, einen Sinnüberschuß zu produzieren, der selbst geschichtsmächtig wurde. Mit anderen Worten: Der Körper war ein autopoietisch sinngenerierendes Medium, was sich im folgenden an mehreren Beispielen veranschaulichen läßt.
IV. Körper als autopoietisch sinngenerierendes Medium Was die Spontaneität körperlicher Verhaltensweisen anging, gab es zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert einen epochalen Wandel, den man anhand von zwei Beispielen der Begegnung von Verlobten nachvollziehen kann. Idealtypisch und unter Absehung von regionalen und epochalen Differenzen läßt sich für die Frühe Neuzeit feststellen, daß die Eheschließung bereits mit einer im Vergleich zur Modeme deutlich institutionalisierten Form der Bekanntschaft begann und daß vielfach die Werbung von Mitgliedern der jeweiligen Familien vorgenommen wurde, ohne daß sich die späteren Eheleute bereits kennen mußten. Besonders im Übergang vorn Mittelalter zur Frühneuzeit, im 15. und 16. Jahrhundert, war es noch eine übliche Praxis, ein Mitglied der eigenen Familie zu entsenden, um einen geeigneten Hochzeitspartner zu finden. Zunehmend setzte sich bis ins 18. Jahrhundert aber das Modell einer Liebesheirat durch. 3o Die ökonomischen Gründe traten in den Hintergrund. Eine für die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts typische Form einer Erinnerung an die eigene Hochzeit findet sich in dem sogenannten ,Tagebuch' des Lampert Distelmeier, der 1522 als Sohn einer Leipziger Bürgerfamilie geboren worden war und später Brandenburgischer Kanzler wurde: "Anno [15]48 umb Michaelis, als ir zu Budissin allerlei Freiheiten wurden vorgeschlagen, wurde mir durch Ulrich Rauscher, meinen Schwager, dem Gott gnade, mein Weib Elisa- .' beth in Schriften ahngetragen und die Sache durch Brieffe so weith behandelth, daß ich den 13. Novembris kegen Leipzigk kam und mjt allen ihren Freunden zu Leipzigk (hatte Bewilligung dehn 18. Tag Novembris, welcher St Elisabeth - Abend wahr) mit ihr öffentlich Verlöbnuss hatte in ihres Vaters Christian Goldhahhns (dem Gott gnade) Hause. Auf meiner Seite wahren Dr. Modestinus Pistrius (der redete das Worth), Ulrich, Hans und Hieronymus Rauscher und Hieronymus Wulff; auf ihrer Seiten Dr. Lustel (der redete), Andreas Waner Burgermeister, Magister Johannes Goritz Stadtrichter, Andreas Mandersterk, MagiVgl. leffrey R. Watt, Marriage Contract Disputes in Early Modern Neuchatel. 15471806, in: JSocH 22, 1988, 129-147.
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ster Paulus Gerlitz, Wulff Beyling, Daniel Ambtoch. Und hatten dehnselben Abenth mehr als 30 Geste. Den volgenden Thag zu Mittage zoge ich wider kegen Budissin. [... ] Am 4. Thag Februarii desselben 49. Jhares (bin damals in das 27. Jahr gangen) habe ich in Hieronymi Rauschers Hause am Markte Hochzeith gehalten und habe flugs darauf dehn 7. Februarii wider in Budissin und danne nach Prag' verreisen müssen. Den 1. Martii ist mein Weib erstmals kegen Budissin kommen."31
Den größten Raum in der Erinnerung nimmt die Phase der Werbung und der Aushandlung der Heiratsbedingungen ein. Das Fest aus Anlaß des Eheversprechens und der Besiegelung der Vereinbarungen, die aber nicht berichtet werden, wird ebenfalls erwähnt. Das eigentliche Hochzeitsfest im folgenden Jahr wird nur als private Feier erinnert, der Kirchgang selbst kommt nicht zur Sprache, ebensowenig wie weitere ritualisierte und symbolisierte Formen der Eheschließung. Galten körperliche Berührungen vor der Eheschließung noch im 15. und 16. Jahrhundert als unstatthaft, so interpretierte man im 18. Jahrhundert spontane körperliche Äußerungen als Zeichen emotionaler Bindung zwischen den beiden Verlobten und damit als Nachweis einer wohl begründeten Basis für die kommende Eheschließung. Elisabeth Schmidt schrieb in ihren Erinnerungen über das Zusammentreffen ihrer Schwester Meta Moller mit ihrem zukünftigen Mann, dem Schriftsteller Friedrich Gottlieb Klopstock, acht Tage vor der Hochzeit am 2. Juni 1754: "Wie Klopstock zur Hochzeit herreißte wollte Meta ihm biß Pineberg entgegenfahren, aber V2 Meile von Hamburg kommt Klopstock ihnen schon entgegen. Metas Schwager sieht ihm [sie] zuerst: sagt ziemlich langsahm; da komt Klopstok her, da sizt er auf den Wagen der uns entgegen körnt, den Augenblick war Meta schon halb aus dem Fenster des Wagens, konnte die Thür nicht aufkriegen, Klopstok auch schon von seinem Wagen auf dem Schlage des unsrigen Meta um den Hals, natürlich dauerte es lang, dass Schwester und Schwager sie wieder von einander brachten [... ] unterdeß stieg Meta aus dem Wagen ging mit Klopstok unterm Baum si zen und die Schwester hatte Mühe, sie da wegzubringen, damit sie noch wieder des Abends nach Hamburg zurük komen konten. "32
Meta Moller und Friedrich Gottlieb Klopstock waren zu diesem Zeitpunkt seit zwei Jahren verlobt, hatten sich seit längerem nicht gesehen und trafen sich in Hamburg, wo sie am 10. Juni, acht Tage nach der geschilderten Begegnung, getraut wurden. Die Schilderung konzentriert sich auf die bei den Personen und betont solche Handlungen, die als Zeichen einer emotionalen persönlichen Beziehung gedeutet werden, wohingegen die Einbindung in familiäre Kontexte keine wesentliche Rolle spielt. 31 Zitiert nach Julius Heidemann (Hrsg.), Ein Tagebuch des brandenburgischen Kanzlers Lampert Distelmeier. (Wissenschaftliche Beilage zum Programm des Berlinischen Gymnasiums zum Grauen Kloster, Ostern 1885.) Berlin 1885, 14f. 32 Zitiert nach Franziska Tiemann/Hermann Tiemann (Hrsg.), "Es sind wunderliche Dinger, meine Briefe". Meta Klopstocks Briefwechsel mit Friedrich Gottlieb Klopstock und mit ihren Freunden 1751-1758. München 1980, Dok. 194,298.
Solche emotionalen Ausbrüche gab es auch im 16. Jahrhundert, in nicht wenigen Quellen werden sie aber für die Diskursivierung in Texten negativ konnotiert. So schrieb der Arzt und Humanist Felix Platter in seiner Autobiographie über seine Rückkehr in seine Heimatstadt: "Es entpfiengen mich meine nochburen und war ein groß freudt in der gaBen. Und wie ich hernoch innen worden, so luff der hebam Dorly Becherer magt fir meins künftigen schwechers hus, gwan meiner zuokünftgen auch das bottenbrot ab, dorab sy erschrack, will sy zelauth geschruwen. "33
Der Vater Platters arrangierte in den folgenden Tagen das erste Zusammentreffen zwischen den beiden, das "nit on verenderung der farben" vonstatten ging. 34 Ob körperliche Handlungen stattgefunden haben und wie diese von den Ausführenden wahrgenommen wurden, läßt sich nicht verläßlich bewerten. In diesen bei den gegenübergestellten Beispielen wird aber deutlich, wie sich die wahrgenommene Bedeutung von körperlichen Anzeichen von Emotionalität verschob. Deren besonders distanzierte Wahrnehmung noch im 16. Jahrhundert wird auch in der von Felix Platter verwendeten rhetorischen Formel der Litotes deutlich, der doppelten Verneinung, die den Zweck verfolgt, die schamhafte Röte der Haut noch deutlicher herauszustellen. Dieser Befund, der sich an den narrativen Strategien nachvollziehen läßt, mit denen im 16. und 18. Jahrhundert die öffentliche körperliche Annäherung zwischen zwei Menschen geschildert wurde, korrespondiert mit den im vorherigen Abschnitt herausgestellten Strategien der kirchlichen wie territorialherrschaftlichen Obrigkeiten, die sinngenerierende Funktion körperlicher Performanzen zu bändigen. Im Kontext des Individualismus und der Empfindsamkeit des 18. Jahrhunderts gewann die spontane körperliche Äußerung jedoch wieder an Bedeutung und wurde in ein sich langsam wandelndes neues Wahrnehmungsmuster different konnotiert. Wie wenig jedoch körperliche Performanzen in diesen Wahrnehmungsmustern aufgingen, zeigt ein Beispiel vom Ende des Untersuchungszeitraums. Am 25. April 1790, als in Paris bereits die Revolution tobte und, obgleich der König noch lebte, die Zeichen einer neuen Zeit am Horizont bereits deutlich sichtbar waren, lag der Gutspächter August Wilhelm Lambrecht mit einem hitzigen bösartigen Fieber in seinem Bett in Herrhausen. Lambrecht hatte fünf Jahre zuvor bei Übernahme des Guts Henrietta Dorothea Köhler, eine Tochter des ortsansässigen Waagemeisters, als Haushälterin eingestellt. Mit der erneut Schwangeren hatte Lambrecht bereits einen vierjährigen Sohn und eine einjährige Tochter. Der Zustand des Kranken verschlimmerte sich zusehends, 33 Zitiert nach Dieter Hochlenert, Das, Tagebuch' des Felix Platter. Die Autobiographie eines Arztes und Humanisten. Diss. Tübingen 1996, 187. 34 Zitiert nach ebd. 188.
und am Abend des 1. Mai um zehn Uhr glaubte der Land- und Stadtphysikus Dr. Spohr nicht mehr, daß der Kranke den nächsten Tag noch erleben würde. Der herbeigeeilte Pastor Mitgau übermittelte dem Kranken diese Nachricht, nachdem dieser sich "durch den Genuss des heiligen Abendmahls zu stärken gesucht" hatte. 35 Lambrecht war betroffen,' 'blieb aber standfest und sorgte sich um seine Lebensgefährtin und die gemeinsamen Kinder. Er beteuerte dem Geistlichen, daß er nicht eher in Ruhe sterben könne, "bis diejenige, der er unter dem Versprechen der Ehe die Ehre geraubt, dieser Verlust durch priesterliche Einsegnung ersetzt worden".36 Den Einwand, daß eine solche "Copulation" nur durch vorheriges Aufgebot und vorgängige Dispensation stattfinden dürfe, entkräftete das Klagen des Sterbenden nicht. Als Henrietta Köhler erklärte, daß sie auf immer unglücklich sein würde, wenn ihr der Verlust ihrer Ehre nicht auf diese Art ersetzt würde, zeigte dies beim Pastor Wirkung. Bereits vor der Erkrankung hatten die beiden gegenüber dem Geistlichen erklärt, in den Stand der Ehe treten zu wollen, vielleicht, weil sie schon des öfteren angesichts ihrer Kinder und ihres nicht legitimierten Zusammenlebens von diesem an diesen Schritt erinnert worden waren. "Das betrübte Schicksal der vorhandenen Kinder" vernichtete die "Bedenklichkeiten" des Pastors: er vollzog wider alle Vorschriften und Regelwerke die Eheschließung des August Lambrecht und der Henrietta Köhler ohne Aufgebot und Dispensation unter Hinzuziehung von herbeigeeilten Zeugen am Sterbebett des Mannes im privaten Wohnhaus der beiden Initianten. Pastor Mitgau war sein Verhalten wohl als Verfehlung bewußt, und die Quellen legen nahe, auch wenn sie es nicht eindeutig aussagen, daß er selbst den Fall dem Fürstlichen Konsistorium als oberster territorialherrschaftlicher Instanz in Fragen der Regelung kirchlicher Angelegenheiten vortrug. 37 Er hoffte, daß die besonderen Umstände ihn vor Strafe schützen würden, da ihn doch nur seine "Weichherzigkeit" zu diesem Schritt veranlaßt hatte. Das Konsistorium aber, das den Fall für eindeutig hielt, schlug dem Herzog als oberster Instanz in glaubensrechtlichen Entscheidungen vor, keine Milde zu zeigen und die härteste Strafe auszusprechen, "weil eine ohne Beobachtung der gesetzlichen Vorschriften verrichtete Copulation den unersetzlichsten Nachtheil zur Folge haben kann, zumahl wenn, wie hier der Fall ist, Personen ehelich verbunden werden, die noch Eltern haben".38 Da dem Konsistorium "bei einem so äußerst gesetzwidrigen Benehmen die Strafe einer zeitweisen
Suspension oder einer hohen Geldstrafe noch zu gering" erschien, drohte dem Geistlichen die endgültige "Entsetzung seines Dienstes". Es war weniger die Güte des Territorialherren als die Einmaligkeit des Falls, die diesen veranlaßte, die vorgeschlagene Strafe nicht auszusprechen. Vielleicht war es auch das Mitgefühl, das die folgenden Ereignisse bedingte. Faßbar in den Diskursen der Akten ist nur das Argument, daß die Kirchenordnung nichts über den vorliegenden Fall aussage und daher die harte Strafe einer Remotion nicht zu rechtfertigen sei. 39 Es wurde die Aufgabe gestellt, eine Regelung zu entwickeln, die jeden abschrecke, es dem Herrhauser Pastor nachzutun, die aber auch "die Kirchen-Ordung nicht über ihren deutlichen Ausdruck extendiere". Es entwickelte sich ein langwieriges Verfahren, in dem immer wieder neue Gruppen von Gutachtern bestellt wurden, auf einen allgemein anerkannten Vorschlag konnte man sich aber nicht einigen. Am Ende einer Phase mündlicher Beratungen und immer neuer schriftlicher Entwürfe sandte man dem Herzog anstelle einer gemeinsamen Stellungnahme des Konsistoriums die einzelnen Gutachten ein. Zwischen unterschiedlichen Auslegungen des kirchenrechtlichen Regelwerks und der christlich-ethischen Grundlage der Kirchenordnung hin- und hergeworfen, hoffte man auf einen herzoglichen Entscheid. Erst nun, im Oktober 1790, kam man auf die Idee, der einzig entscheidenden Frage nachzugehen, ob der Pächter denn tatsächlich gestorben sei. Die Erkundigungen, die man einholte, offenbarten jedoch, daß August Lambrecht gesund seinen Geschäften nachging. Die auf christlicher Mitleidsethik basierenden Argumente verloren damit an Bedeutung, und man rang sich im Januar 1791 zu einer Entscheidung durch. Mitgau erhielt wegen "Haustrauung" und "Privat-Copulation ohne Dispensation" eine Geldstrafe und eine "Condemnation", die ihm im Wiederholungsfalle die Suspensation androhte:
Dies und das Folgende nach der Akte Niedersächsisches Staatsarchiv Wolfenbüttel, Fürstliche Kanzlei, 2 Alt 15165. Das Zitat entstammt dem Bericht des Fürstlichen Konsistoriums an den Herzog zu Braunschweig-Lüneburg vom 19. 5.1790. 36 Ebd. 37 Dies kann man aus Formulierungen schließen, die im Bericht vom 19. 5. 1790 enthalten sind, der das erste Schriftstück der Akte zu diesem Fall darstellt. Weitere Augenzeugenberichte zu den Ereignissen auf dem Gut oder zu den ersten Verhören fehlen. 38 Ebd.
Neben der Notwendigkeit, im Einzelfall zu entscheiden, legte das Ereignis die Leerstellen in der Gesetzgebung offen und setzte im Herzogtum Braunschweig-Lüneburg ein Gesetzgebungsverfahren' in Gang, das eine Wiederholung dieser von der kirchlichen wie weltlichen Obrigkeit, die in dem prote-
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"daß demselben dieses Unternehmen, wodurch er gegen die ihm bekannt seyn sollenden Verordnungen gehandelt und wobei die vorgebrachten Entschuldigungen unbedeutend und unzulänglich sind, erstlich und nachdrücklich hierdurch verwiesen, auch er wegen solcher von ihm begangenen, die gerechteste Ahndung verdienenden Ungebühr, für dies mahl 75 Taler Strafe, welche er binnen vier Wochen bey Vermeidung der Execution anhero einzuzahlen hat, genommen, zugleich aber verwarnet werde, sich zu dergleichen widerrechtlichen Handlungen in Zukunft nicht bewegen zu lassen, widrigenfalls und wenn er sich abermals darüber betreten lassen sollte, nach der Strenge gegen ihn verfahren, und er mit der" suspensione ab officio bestrafet werden solle. "40
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Ebd., Gutachten vom 16. 10. 1790. Ebd., Schreiben vom 15. 1. 1791, Resolution des Konsistoriums an Pastor Mitgau.
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stantischen Territorium zusammenfielen, ungewollten Form der Eheschließung verhindern sollte. Die Beantwortung der Frage, warum man dies noch am Ende der Frühen Neuzeit zu verhindern suchte, warum das Konsistorium so hart, der Herzog dagegen gemäßigt reagiert,e, gelingt nur über eine Analyse der an der Sinngenerierung des Eheschließungsrituals beteiligten Faktoren. Die Gültigkeit der Eheschließung wurde im gesamten Verfahren nicht bezweifelt. In Frage stand lediglich die Rechtmäßigkeit des Verfahrens, aber nie wurde diskutiert, das getraute Paar zu enttrauen oder die beteiligten Initianten zu bestrafen. Die Mächtigkeit der gesprochenen Worte und der Rituale war und blieb gültig. Mithin geht die Geschichte der Eheschließung als Initiationsritual nicht in der Frage auf, welche bedingenden Faktoren wie Konfession, Obrigkeit oder Tradition das Ritual bestimmt haben, es geht nicht allein um eine genetische Erklärung des Rituals aus seiner scheinbaren Geschichte heraus, sondern die einzelne Performanz des Rituals kann - sie muß nicht - selbst wirklichkeitsbildend wirken, indem sie eine Sinnvarianz generiert. Aber der entscheidende Punkt ist: War der Pächter wirklich krank oder spielte er nur etwas vor, um sein eigenes Ziel, eine Eheschließung ohne den öffentlichen Aufwand, also mit deutlich reduzierter Ritualausstattung, zu erreichen. Beide Möglichkeiten aber stützen eine Interpretation des Körpers als sinngenerierendem Faktor in Ritualen. Falls er nicht krank war, zeigt dies, daß der einzelne in der Lage war, so virtuos auf der Klaviatur der Rituale zu spielen, daß durch die Kombination einer vorgespiegelten Krankheit und der in der Entscheidungsfindung des Pastors wirkmächtigen christlichen Nächstenethik die Rituale umgeschrieben und ein neuer Sinn generiert werden konnte. War er wirklich krank, dann wirkte die Krankheit als eine selbst sinngenerierende, also autopoietische körperliche Performanz, die im aktuellen Kontext christlicher Werte und einer präsenten Kommunikationsstruktur von Angesicht zu Angesicht die Ritualstruktur verändern und einen eigentlich unmöglichen Sinn, die Herstellung einer legitimen Fortpflanzungs- und Besitzgemeinschaft ohne Dispensation, kreieren konnte. In bei den Auslegungen schafft das Medium Körper in den Ritualen einen eigenmächtigen Sinn.
V. Schluß In den Ritualen der Eheschließung reformuliert die frühneuzeitliche Gesellschaft ihren Gründungsmythos von einer in die Verwandtschafts- und Gemeinschaftsstrukturen eingebundenen Weitergabegemeinschaft Familie. Von der Werbung bis zu den Hochzeitsfeierlichkeiten bestanden Eheschließungen aus einer Kette von regional different ausgestalteten symbolischen und rituel-
len Handlungen. Seit dem 16. Jahrhundert verfolgten die territorial staatlichen Obrigkeiten und die sich ausdifferenzierenden Konfessionskirchen als neue Akteure in der Auseinandersetzung um Gestaltung und Bedeutungsgebung der Rituale Strategien zur Reglementierung von Handlungen und Auslegungen im Kontext der Hochzeiten. Die Generierung von Sinn ging aber nicht in den Vorgaben der Obrigkeiten auf. Nicht nur, daß sich eine emergente Eigenwirkung durch die verwandten Medien und ihre Wahrnehmung ergab, vielfach wußten die Betroffenen sehr wohl, wie sie Vorgaben, die ihnen mißfielen, unterlaufen konnten. Der Körper wurde als Medium der Auf-Schreibung von Sinn einerseits verwendet, generierte aber auch einen emergenten Sinnüberschuß, der autopoietisch Bedeutungen zu kreieren in der Lage war und damit historische Entwicklung initiieren konnte. Die Funktion körperlicher Handlungen wurde dabei von keinem der beteiligten Akteure, der Initianten, der Familien- und Sozialverbände, der Obrigkeiten, bestritten. Körperliche Rituale ließen sich nicht ersetzen, weder durch einen stellvertretend Handelnden noch durch einen formalisierten Verfahrensakt. Für das Gelingen von Hochzeiten als körperliche Rituale war in der Neuzeit die aktive Durchführung der Handlung von entscheidender Bedeutung. Auch wenn Ehemann und Ehefrau vielfach getrennter auftraten, als wir dies nach heutigen Vorstellungen erwarten - nicht zuletzt deswegen sitzt die Ehefrau auf bildlichen Darstellungen häufig alleine am Tisch der Hochzeitsfeier -, gab es immer wieder Schnittpunkte, an denen körperliche Praktiken vollzogen werden mußten, ohne die das Ritual nicht gelang. Diese Praktiken waren mit symbolischen Bedeutungen aufgeladen, um die es Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen beteiligten sozialen Gruppen gab - ersetzt werden konnten sie nicht, denn es war der körperliche Akt, der die Initiation vollzog. Insofern sind Körper in Hochzeitsritualen Medien, nicht in einer veralteten Bedeutung des Begriffs als willenlose Kanäle von diskursivem Inhalt, sondern als Mittel, mit denen eine Bedeutung allererst hergestellt werden konnte - und die in Ausnahmefällen diesen Sinn in spezifischen kommunikativen Situationen mit herstellten. Körper waren in diesem Sinn sinnbestätigende, aber auch sinngenerierende Medien im Prozeß der beständigen performativen Neu-Konstitution der frühneuzeitlichen Gesellschaft.
Zur Konstellation der Körper höfischer Kommunikation * Von
Mark Hengerer Die gleichzeitige Konjunktur der Themen Körper, Medien und KommunikationlIegt es nahe, nach dem Körper als Medium der Kommunikation in historischer Perspektive zu fragen 2 . In der Forschung zum Hof wurde auf diese Phänomene bislang vornehmlich im Zusammenhang mit der Ordnung der Bilder, Räumen von Herrschaft und deren symbolischer Aufiadung sowie dem Themenfeld der höfischen Interaktion zurückgegriffen, wobei sich die Diskussion um das höfische Zeremoniell und die höfische Repräsentation zentrierte. 3 Spätestens mit der Rezeption des Performanzbegriffs zog die Frage nach dem körperlichen Vollzug sozialer Ordnung verstärkt Aufmerksamkeit auf sich. Damit stellte sich für zeremonielle Akte die schwer zu entscheidende Frage, ob man sie eher als konstitutiv oder eher als affirmativ interpretieren sollte. 4 Wenn nach der Funktion von zeremoniell gestalteter Interaktion ge* Für die kritische Lektüre danke ich herzlich Carla Albrecht und Dmitri Zakharine. 1 V gl. die Bibliographie zur Körpergeschichte bei Maren Lorenz, Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte. Tübingen 2000, 173-239; vgl. weiter Swen Körner, Der Körper, sein ,Boom', die Theorie(n). Anthropologische Dimensionen zeitgenössischer Körperkonjunktur. Berlin 2002; Erika Fischer-Lichte!Christian HorniMatthias Warstatt (Hrsg.), Verkörperung. (Theatralität, Bd. 2.) Tübingen/Basel 2001; Jürgen Wilke, Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert. KölnlWeimarlWien 2000; Axel Hübler, Das Konzept "Körper" in den Sprach- und Kommunikationswissenschaften. Tübingen/Basel 2001; Armin Scholl, Systemtheorie und Konstruktivismus in der Kommunikationswissenschaft. Konstanz 2002. 2 In diesem Sinne war die Fragestellung der Sektion formuliert. 3 V gl. J örg Jochen BernsfI'homas Rahn (Hrsg.), Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und früher Neuzeit. (Frühe Neuzeit, Bd. 25.) Tübingen 1995; Volker Bauer, Die höfische Gesellschaft in Deutschland von der Mitte des 17. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. (Frühe Neuzeit, Bd. 12.) Tübingen 1993; Werner Paravicini (Hrsg.), Zeremoniell und Raum. 4. Symposium der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaft in Göttingen. (Residenzenforschung, Bd. 6.) Sigmaringen 1997; Hans Ottomeyer/MichaeZa Völkel (Hrsg.), Die öffentliche Tafel. Tafelzeremoniell in Europa 1300-1900. Wolfratshausen 2002; Kornelia Hahn, Körperrepräsentationen. Die Ordnung des Sozialen und der Körper. Konstanz 2002. Aus der Forschung zum Wiener Hof sind hervorzuheben: Hubert Christian Ehalt, Ausdrucksformen absolutistischer Herrschaft. Der Wiener Hof im 17. und 18. Jahrhundert. (Sozial- und wirtschaftshistorische Studien, Bd. 14.) Wien/München 1980; Christina Hofmann, Das spanische Hofzeremoniell von 1500-1700. (Erlanger Historische Studien, Bd. 8.) Frankfurt am Main/BernlNew York 1985; Jeroen Duindam, Myths of Power. Nm·bert Elias and the Early Modern European Court. Amsterdam 1994. 4 Schon deshalb, weil sich eine Schnittstelle zwischen Repräsentation und Recht zeigte; vgl. Andre Holenstein, Die Huldigung der Untertanen. Rechtskultur und Herrschaftsord-
fragt wurde, ging die Antwort meist in Richtung der Darstellung höherer Ordnung vor dem Volk und einer daraus abgeleiteten Legitimationswirkung. 5 So argumentierte auch die Zeremonialwissenschaft im 18. Jahrhundert, analysierte aber, weil sie davon ausging, daß Fürsten und Höflinge darum wußten, deren Verhaltensweisen als Theater6 - mit den,entsprechenden Konsequenzen für die Frage, ob das Dargestellte nicht erst durch die Darstellung produziert werde, also keine Re-Präsentation und mithin von zweifelhafter Legitimität sei? Auch ließ sich am Beispiel Preußens im 18. Jahrhundert beobachten, daß es nach anfänglich großen zeremoniellen Anstrengungen doch mit bedeutend weniger ging. 8 Die Relevanz des Verhaltensreglements innerhalb der Höfe ließ sich zunächst auf der psychologischen Ebene als erfolgreich verinnerlichte Sozialdisziplinierung im Sinne einer Affektbeherrschung9 festmachen, ohne daß die auch von Höflingen hervorgebrachte und rezipierte Hofkritik lO ,
das topische Lob des Landlebens ll und der sehr pragmatische Umgang mit Präsenz und Absenz vom Hof12 zu einer weitergehenden Prüfung dieser Funktionsbehauptung geführt hätten 13. So wird man den kontinuierlichen Körperbezug von Zeremoniell und Repräsentation zwar betonen, sich aber gleichzeitig fragen, ob nicht der ebenfalls konstatierbare Relevanzverlust dieser Formen von Interaktion für komplexe soziale Ordnung Rückwirkungen auf Interaktion hatte, deren Vollzug nicht in diversen ordines fixiert war. So wird man der Versuchung, die vom Körper ausgeht, wohl widerstehen und seine kommunikative Leistungsfähigkeit für den Aufbau komplexer sozialer Ordnung in Relation zu anderen Formen der Kommunikation und deren Sedimenten setzen müssen. Man wird dann die Forschungen zu Formen und Funktionen der Semiotisierung von Elementen der menschlichen Körperlichkeit bzw. zu Körpersprache 14 in Beziehung set-
nung (800-1800). (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte, Bd. 36.) StuttgartlNew York 1991; Holenstein sieht das Problem so: "nicht Produktion, aber Reproduktion", vgl. Andre Holenstein, Huldigung und Herrschaftszeremoniell im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung, in: Aufklärung 6/2, 1991,21-46, hier 29. Das Problem stellt sich auch bei der Adventus-Forschung: Joachim Lehnen, Adventus principis. Untersuchungen zu Sinngehalt und Zeremoniell der Kaiserankunft in den Städten des Imperium Romanum. (Prismata, Bd. 7.) Frankfurt am Main/BerlinlBern/New YorklParis/Wien 1997. 5 Vgl. Andreas Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 103.) Göttingen 1994. 6 V gl. Milos Vec, Zeremonialwissenschaft im Fürstenstaat. Studien zur juristischen und politischen Theorie absolutistischer Herrschaftsrepräsentation. (Ius Commune, Sonderhefte: Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 106.) Frankfurt am Main 1998, 133-298. Zum Konzept im religiösen Bereich vgl. Ursula Brosette, Die Inszenierung des Sakralen. Das theatralische Raum- und Ausstattungsprogramm süddeutscher Barockkirchen in seinem liturgischen und zeremoniellen Kontext. Bd. 1. (Marburger Studien zur Kunst- und Kulturgeschichte, Bd. 4.) Weimar 2002. 7 Vgl. Bernhard JahnlI'homas RahnlClaudia Schnitzer (Hrsg.), Zeremoniell in der Krise. Störung und Nostalgie. Marburg 1998; zur Krise der analogen Repräsentation siehe Volker Bauer, Hofökonomie. Der Diskurs über den Fürstenhof in Zeremonialwissenschaft, Hausväterliteratur und Kameralismus. (Frühneuzeitstudien, NP., Bd. 1.) Wien 1997, 111-119. 8 Zur königlichen Repräsentation am Anfang des 17. Jahrhunderts vgl. Barbara StollbergRilinger, Höfische Öffentlichkeit. Zur zeremoniellen Selbstdarstellung des brandenburgisehen Hofes vor dem europäischen Publikum, in: FBPG NP. 7/2,1997,145-176. 9 Vgl. die einleitenden Beiträge in BernslRahn (Hrsg.), Zeremoniell (wie Anm. 3). Andre Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden. Studien übet Interaktionssysteme. Frank~ furt am Main 1999, 138, sieht die Funktion der Körperdisziplin dagegen primär in der Stabilisierung von Kommunikation: "Vor diesem Hintergrund dienen Regeln, die den Zuhörern eine unbewegliche Körperhaltung, relativ ausdruckslose Gesichter, Verzicht auf jegliche Darstellung der Unbeständigkeit eigener Anteilnahme vorschreiben, primär einer stärkeren Ausdifferenzierung des Kommunikationsprozesses. Ihre Funktion liegt nicht in einer Erzwingung von Körperdisziplin schlechthin (daran besteht in sozialen Systemen kein generelles Interesse), sondern in der Erzwingung von Kommunikation sowie ihrer Engführung auf zurechenbare Beiträge." 10 Vgl. Helmuth Kiesel, "Bei Hof, bei Höll". Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von Sebastian Brant bis Friedrich Schiller. (Studien zur deutschen Literatur, Bd.60.)
Tübingen 1979, und Vdclav Bok, Hofkritik in der deutschen moralisierenden Literatur des 16. und 17. Jahrhundelts, in: Vaclav Buzek/Pavel Kral (Eds.), Slavnosti a zabavy na dvorech a v rezidencnich mestech raneko novoveku. (Opera Historica, Vol. 8.) Ceske Buctejovice 2000, 333-344. 11 Dtto Brunner, Adeliges Landleben und europäischer Geist. Leben und Werk Wolf Helmhards von Hohberg 1612-1688. Salzburg 1949. 12 Vgl. Petr Mafa, Sournrak venkovskych rezidenci. "Urbanizace" ceske aristokraeie mezi stavovstvim a absolutismem, in: Vac1av Bu~ek/Pavel Kral (Eds.), Residence a dvory v ranem Novoveku. (Opera Historica, Vol. 7.) Ceske Budejovice 1999, 139-162, und Mark Hengerer, Kaiserhof und Adel in der Mitte des] 7. Jahrhunderts. Eine Kommunikationsgeschichte der Macht in der Vormoderne. (Historische Kulturwissenschaft, Bd. 3.) Konstanz 2004, Kap. A.n. 13 Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft. Frankfurt am Main 1983; Jürgen Freiherr von Kruedener, Die Rolle des Hofes im Absolutismus. (Forschungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 19.) Stuttgart 1973; Ehalt, Ausdrucksformen (wie Anm. 3). Kritik formulierte Aloys Winterling, Der Hof der Kurfürsten von Köln ] 688-1794. Eine Fallstudie zur Bedeutung "absolutistischer" Hofhaltung. (Veröffentlichungen des Historischen Vereins für den Niederrhein insbesondere das Alte Erzbistum Köln, Bd. 15.) Bonn1986, der allgemeine Deutungsrahmen wurde indes nur geringfügig revidiert. 14 Vgl. Dietmar KamperlChristoph Wulf (Hrsg.), Transfigurationen des Körpers. Spuren der Gewalt in der Geschichte. (Historische Anthropologie, Bd.6.) Berlin 1989; Volker Kapp (Hrsg.), Die Sprache der Zeichen und Bilder. Rhetorik und nonverbale Kommunikation in der frühen Neuzeit. (Ars Rhetorica, Bd. 1.) Marburg 1990; Rudolf Behrens/Roland Galle (Hrsg.), Leib-Zeichen. Körperbilder, Rhetorik und Anthropologie im 18. JahrhuIi:: dert. Würzburg 1993; Claudia MontilWalter BuschJElmar Locher/Isolde Schiffermüller (Hrsg.), Körpersprache und Sprachkörper. Semiotische Interferenzen in der deutschen Literatur. (essay & poesie, Bd. 3.) Boden/Innsbruck/WienI996; Dmitri Zachar'in, Symbolische Körperhaltungen. Eine Differenz zwischen russischen und westeuropäischen Zeremonial-"Grammatiken" des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Margreth Egidi/Oliver SchneiderlMatthias Schöning/Irene Schütze/Caroline Torra-Mattenklott (Hrsg.), Gestik. Figuren des Körpers in Text und Bild. Tübingen 2000, 87-102; Angelika Corbineau-Hoffmannl Pascal Nicklas (Hrsg.), Körper/Sprache. Ausdrucksformen der Leiblichkeit in Kunst und Wissenschaft. (Literaturwissenschaft im interdisziplinären Dialog, Bd. 1.) Hildesheim/ Zürich/New York 2002. Den Forschungen zum frühneuzeitlichen Ehrbegriff verdankt die
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Mark Hengerer
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"nnen zu den Formen und Funktionen schriftlicher Kommunikation zen ko b .. k und dabei den jeweiligen Bezug zu räumlicher und sozialer Ordnung e:uc sichtigen müssen. Vor diesem Hintergrund möchte ich die These formuhe~en, daß die Formen der zugelassenen Kommunikation unter Anwesenden mc~t zuletzt vom Grad der Möglichkeit abhängig waren, Interaktion und EntscheIdung zu entkoppeln. Diese vor allem auf S~hrif~lichkeit aufruhende Entkop~ lung ermöglichte und erforderte die Mo~IfikatIO~ d.es Spektru~s an b.ereIts ausdifferenzierten KommunikationssituatIOnen mIt emem sehr dIfferenzIerten . Zugriff auf Körperlichkeit als Medium von Ko~~mikation:. Um Problemstellung und These näher zu begrunden, mochte Ich (1.). vor dem Hintergrund kommunikations- und medientheoretischer Persp~kt1ven einen Analyserahmen für Körper in Kommunikation d~skutieren ~~d 1m Anschluß daran (Il.) am Beispiel des frühneuzeitlichen Kmserhofes eI~Ige exe~ plarische Kommunikationssituatione~ analysie~en und so DynamIk und HIstorizität kommunikativer KonstellatIOnen und Ihrer Elemente vorstellen.
I. Körper und Kommunikation 1. Die Attraktivität des Körpers als Kategorie einer komplexen Umwelt dü.rfte nicht zuletzt daher rühren, daß Körper ungeachtet der Diskussion übe.r Ihre Diskursivität überhaupt einen klaren Anhaltspunkt für Zurech~nbar~:It ~nd besonders für das Verstehen von Vergangenheit zu bieten schemen. DIese Forschung den geschärften Blick für die un~ttelbare ~elevanz von Elementen d~r Interaktion und damit die Offenlegung eines wichtIgen Verbllldung~ele~.ents der ~erschledenell Disziplinen und Gegenstände: die Form ihrer Fortsetzung .. DIes d.u~te darmt zusarmnenhängen daß in Interaktion Anschlußkommunikationen WIe BeleId~~ungen ~nd Gewalttaten a~ch in ihren festen Formen wie Injurienprozeß und Duell uberdeuthch m~chen, daß sich in Interaktion soziale Reproduktion unter der Voraussc:~zung von KontIn%enz vollzieht. V gL Klaus Schrein,erIGerd Schwerhoff, Verletzte Ehr~. U~erlegungen zu elllem Forschungskonzept, in: dies. (Hrsg.), Verletzte Ehre. Ehrkonflikte III ~~sel1sc~aften ~es Mittelalters und der Frühen Neuzeit. (Norm und Struktur, Bd. 5.) KolnlWeImar/WIen 1995, 1-28. ., d S . 1'1"t d 15 Cornelia Bohn, Schriftlichkeit und Gesellsch~ft. Kommumkatlon un OZIa I a er 't Wiesbaden 1999' in historischer PerspektIVe vgL besonders Horst Wenzel (Hrsg.), N Geuze·~·h _ Boten _ B'riefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mit~elalt~r. (p~8~~~gfsche Studien und Quellen, Bd. 143.) Berlin ~99~; Werner Röcke, MündhchkeI1, Schriftlichkeit, WeltbildwandeL Literarische KommumkatIo~ und Deutu~gssche~ata v?n Wirklichkeit in der Literatur des Mittelalters und der fruhen NeuzeIt. (ScnptOralia, Bd. 71.) Tübingen 1996. . ..' d 16 Zur Diskursivität vgl. Judith Butler, Körper von GeWIcht. DIe dIsku~sIVen Gr~n~~n es Geschlechts. Frankfurt am Main 1997. Der Soziologe Bette stellt dIe AttraktIVItat des Referenzpunktes Körper für Erfahrungs- und Erklärungsansätze UI~.t~r Bezug auf Sport nachdrücklich in Frage. "Sport", so Bette, ,,~fferiert Unterkomple~Itat und Kausa~erfah rung. Er bietet eine wichtige Ressource, nämlIch Menschen aus. FleIsch und Blut, dIe ['.: '.] als Garanten von Authentizität, als Instanzen des Echten, erschelllen. [... ] Der Sportlerkol-
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Erwartung wurde auch von Historikern an den Körper gerichtet, jedoch, wie Barbara Duden konzedierte, enttäuscht. 17 Wenn historische Körper dennoch nicht allein als Gegenstand, sondern kategorial als Medium bedacht werden sollen, scheint es geboten, die Frage nach dem Medienbegriff zu stellen. Die Wahrnehmung von Phänomenen, die nicht mit dem Körper des Wahrnehmenden in Kontakt stehen, können nur dann mit einem Medienbegriff ohne Zirkelschluß verstanden werden, wenn man den Begriff des Mediums mit dem der Form verbindet. 18 Das Medium besteht dann aus Elementen, deren lose Bindung die Bildung von Formen ermöglicht, welche die Elemente des Mediums zwar nicht verändern, aber deren Verbindung spezifisch ausformen. Diese Formen können wahrgenommen werden. Das Beispiel von Licht und Farbe - Farbe und Bild macht deutlich, daß es von einer erst zu bestimmenden Perspektive abhängt, was als Medium und was als Form wahrgenommen wird. Überträgt man dies auf den Körper, wird deutlich, daß er nicht allein als Medium, sondern auch als Form wahrgenommen werden kann (wie etwa Ballett und bildende Kunst zeigen 19), und daß seine Bestimmung als Medium nicht unbedingt determiniert, welche Form als relevant betrachtet werden soll: sein Verhalten, sein Raumbezug, seine Kleidung2o . Körper ist nicht einfach als Medium gegeben, er wird dazu durch soziale und somit historisch vermittelte Zuschreibung von Sinn, welche eine spezifische Beziehung zu einer spezifischen Form herstellt. Körper als Referenz einer ahistorischen Authentizität scheidet damit aus, ja selbst seine Einheit erweist sich als Zuschreibung von Sinn. 21 per kann auf der Grundlage einer ,organischen Empathie' ohne größere Eigenanstrengungen wahrgenommen und ,verstanden' werden." Karl-Heinrich Bette, Systemtheorie und Sport. Frankfurt am Main 1999, 126. 17 Barbara Duden, Das "System" unter der Haut. Anmerkungen zum körpergeschichtlichen Bruch der 1990er Jahre, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 8, 1997,260-273. 18 VgL dazu unter Anlehnung an Fritz Heider Niklas Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1997, 195 f. 19 VgL nur Gerhard Johann Lischka (Hrsg.), Kunstkörper, Werbekörper. Köln 2000, und Dorion Weickmann, Der dressierte Leib. Kulturgeschichte des Balletts (1580-1870). Frankfurt am MainlNew York 2002. 20 VgL Thomas Küpper, Der beobachtete Körper. Systemtheorie und Gender Studies, in: Alexandra Karentzos/Birgit Käufer/Katharina Sykora (Hrsg.), Körperproduktionen. Zur Artifizialität der Geschlechter. Marburg 2002, 34-41: Küpper bringt das von mir geteilte Ergebnis seiner Analyse auf das Problem der Polykontexturalität des Körpers. Zur Kleidung in historischer Perspektive: Martin Dinges, Von der "Lesbarkeit der Welt" zum universalisierten Wandel durch individuelle Strategien. Die soziale Funktion der Kleidung in der höfischen Gesellschaft, in: Saeculum 44,1993,90-112; aus systemtheoretischer Perspektive: Cornelia Bohn, Kleidung als Kommunikationsmedium, in: Soziale Systeme 6, 2000,111-135. 21 VgL dazu nur den Begriff der Aura oder den des Leibes: RudolJzur Lippe (Hrsg.), Vom Leib zum Körper. Naturbeherrschung am Menschen in der Renaissance. Hamburg 1988.
Zur Konstellation der Körper höfischer Kommunikation
Die Unterscheidung zwischen Medium und Form hat eine weitere Implikation, welche in einem engeren Sinn für die Frage nach Körper und Kommunikation bedeutsam ist. Wenn Kommunikation nicht als einfache "Übertragung" von Information konzipiert werden kanIl~2, ist Kommunikation (Form) von ihrem physischen Substrat (Medium) zu unterscheiden. Darauf hat nachdrücklich Heinz von Foerster hingewiesen, der für das physische Substrat von Kommunikation den Begriff der Kommunikabilie einführt. 23 Aus der Perspektive von Kommunikation weitet sich damit die Zahl der möglichen Typen von Medien in Prozessen der Generierung von Sinn ganz erheblich aus. Damit wird deutlich, daß die Betonung von menschlichen Körpern bereits auf einer voraussetzungsvollen sozialen Aggregation beruht, von deren privilegierter Positionierung zweifelhaft ist, ob sie analytisch ertragreicher ist als die Wahl anderer Optionen, welche die Äquivalenz derjenigen Elemente hervorheben, welche Körperlichkeit überhaupt erst konstituieren. 24 Jedenfalls wird deutlich, daß die Privilegierung des Blicks auf den belebten Menschenkörper als Medium von Kommunikation von einer Theorie der Kommunikation nicht ohne weiteres unterstützt wird. Dies legt die Ergänzung der Analyse der kommunikativen Relevanz des menschlichen Körpers um eine Analyse der kommunikativen Relevanz nichtmenschlicher Körper und damit zugleich einen Vergleich nahe. So ließe sich, um in Anlehnung an Koschorke zu sprechen25 , beispielsweise zwischen Menschen-Körperströmen und Papier-Körperströmen unterscheiden und deren kommunikative Relevanz mit derjenigen von Körpern höherer Immobilität vergleichen: der von Mauem oder von Treppen etwa. 2. Als Ausgangspunkt kommt hierfür das Verhältnis von Interaktion und technisch-medialer Kommunikation in Betracht. Interaktion meint die Kommunikation unter mindestens zwei anwesenden Personen. 26 Von Kommuni-
Zu dieser Tripelselektion vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß eine~ allgemeinen Theorie. 5. Aufl. Frankfurt am Main 1994, 194f.; vgl. dazu aus der Perspektive des Theorievergleichs Norbert Meuter, Die körperliche und soziale Infrastruktur des Handeins, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 48,2000,579-593. 23 Heinz von Foerster, Observing Systems. With an Introduction by Francisco J. Varela. 2. Aufl. Seaside, Cal. 1984, 262: "A formalism necessary and sufficient for a theory of communication must not contain primary symbols representing communicabilia (e.g. symbols, words, messages, etc.). Outragous as this proposition may look at first glance, on second thought however it may appear obvious that a theory of communication is guilty of circular definitions if it assumes communicabilia in order to prove communication." 24 V gl. Reinhart Koselleck, Zeitschichten. Studien zur Historik. Mit ein .. Beitrag v. HansGeorg Gadamer. Frankfurt am Main 2000; Klaus Kuhm, Raum als Medmm gesellschaftlicher Kommunikation, in: Soziale Systeme 6,2000,321-348. 25 Vgl. Albrecht Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999. 26 Präziser: Ein soziales System, das aus Kommunikationen unter gleichzeitig ~nwesen den besteht. Vgl. ausführlich Kieserling, Kommunikation (wie Anm. 9). Einen Uberblick 22
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kation kann dabei gesprochen werden, wenn eine Person aus dem Verhalten einer anderen Person eine Information generiert und diese Information der ersten Person als beabsichtigter Inhalt der Mitteilung zuschreiben kann. Zwar können auch bloße Wahrnehmungen über etwas informieren, doch erlaubt bloße Wahrnehmung noch keine Zuschreibung auf eine Mitteilungsabsicht. 27 Ist eine solche Situation wechselseitiger Wahrnehmung gegeben, ist die Beobachtung unausweichlich, daß das Verhalten bei der Personen von der jeweils anderen als Mitteilungsverhalten und damit als kommunikatives Verhalten betrachtet und zugerechnet werden kann.28 In Interaktion wird so die wahrnehmungsbasierte "präkommunikative mit kommunikativer Sozialität kombiniert". 29 Die Betonung beider Ebenen ist für den Verlauf von Interaktion aus zwei Gründen von besonderer Bedeutung. Zum einen, weil "zahllose Komponenten, die in der Interaktion selbst zur Definition ihrer Situation beitragen, [... ] bereits auf der Ebene des reflexiven Wahrnehmens bereitgestellt" werden und daher kaum bestreitbar sind.3o Dazu gehört in der Regel die räumliche Lokalisierung des Körpers 31 , die Verortung im entsprechenden symbolisch aufgeladenen Raum32 sowie unter Umständen eine Zuordnung von Verhalten zum funktionalen Kontext spezifizierter 33 Räume . Zum anderen wird in Interaktion mehr als das eindeutige Mitteilungsverhalten wahrgenommen. 34 Insbesondere läßt sich die Differenz zwischen verbalen und nonverbalen Äußerungen beobachten35 , was sich für die bietet Hellmut Ge ißner, Kommunikationstheorie, in: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 4. Tübingen 1998, 1187-1209. 27 Kieserling, Kommunikation (wie Anm. 9), 118. 2~ D~e .öste~eichi~che Redensart, wonach man einen Anwesenden ,nicht einmal ignonere , Illustnert dIeses Problem wunderbar. Der SituationsbeoTiff bietet freilich weiteres P?ten~ial: vgl. J~n Barwise/John Perry, Situationen und Ein~tellungen. Grundlagen der SItuatIOns semantIk. Berlin/New York 1987. 29 Kieserling, Kommunikation (wie Anm. 9), 119. 30 Ebd. 125. 31 Ebd. 125:. "Auch die räumliche Lokalisierung des Körpers rechnet zu den Aspekten, die d~rch ~e~exives Wahrnehmen mit der Gewalt einer sozialen Tatsache ausgerüstet werden. Em Ml~lmum an Identifikation mit der Situation, dem Anlaß, der Szenerie und gegebenenfalls mIt dem System der Interaktion selbst ist schon nicht mehr zu vermeiden wenn man überhaupt physisch präsent ist und sozial als anwesend in Anspruch genom~en wird." (Hervorhebung im Original). 3~ Ebd. 126. Vgl. zur historischen Dimension Gotthardt Frühsorge, Der Hof, der Raum, dIe Bewegung. Gedanken zur Neubewertung des europäischen Hofzeremoniells, in: Euphorion 82, 1988,424-265, und ders., Vom Hof des Kaisers zum ,Kaiserhof'. Über das Ende des Ceremoniells als gesellschaftliches Ordnungsmuster, in: Euphorion 78 1984 237-265. ' , 33 Kieserling, Kommunikation (wie Anm. 9), 125-127. 34 Ebd. 135. 35 Ebd. ~40: "Selbstverständlich vermittelt die Wahrnehmung der Körper stets mehr an InformatIon, als für Kommunikation ausgewählt und mitgeteilt worden ist. Anders als die Sprachlaute oder Gesten, die sie von sich geben, sind die Körper der Anwesenden nicht auf Kommunikation spezialisierbar. Sie haben, während sie sprechen oder zuhören und da-
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Selbstdarstellung der an Interaktion Beteiligten "auf jeder nur denkbaren Stufe des Raffinements" als eine zentrale Herausforderung erweist36 . Auf die Unwägbarkeiten, die daraus für den Verlauf von Interaktion entstehen, reagieren unter anderem die Ausdifferenzierung von, Sprecher- und Zuhörerrollen. Diese sicherten Aufmerksamkeitszentren (und sei es nur durch die Nichtdarstellung von Desinteresse) und eine thematische Strukturierung von verbaler Kommunikation. 37 Sie sensibilisierte gerade deshalb für neben der wörtlichen Rede ausgedrückte Referenzen auf andere, zusätzliche Situationsdeutungen der Kniefall etwa mahnte den gerechten Herrscher an seine Milde. 38 Die andere Seite der Demuts- und Verzweiflungsgeste ist freilich das Entgleisen der Interaktion in Richtung offenen ehrverletzenden Streits und nicht zuletzt der Gewaltanwendung. 39 Die zeitgenössische Literatur über den Hof wies nachdurch zur Kommunikation beitragen, immer auch noch anderes zu tun. Sie atmen. Sie husten. Sie wissen nicht wohin mit ihren Augen, ihren Händen, ihrem Juckreiz. Alles Reden und alles Schweigen macht solche Informationen zugänglich, und psychisch gesehen ist es völlig normal, daß man auch diese nichtmitgeteilten Informationen zur Überprüfung dessen verwendet, was mitgeteilt wurde." V gl. die Systematisierung dieser somatischen und weiterer Ansatzpunkte für eine sprachliche Codierung bei Hartwig Kalverkämer, Körpersprache, in: Ueding (Hrsg.), Wörterbuch (wie Anm. 26), Bd. 4, 1339-1371. 36 Kieserling, Kommunikation (wie Anm. 9), 141: "In diesem Sinne gehören Simulation von Spontaneität und Dissimulation von Kontrolliertheit zu den unentbehrlichen Requisiten der Selbstdarstellung. Daß so etwas nicht glatt funktionieren kann, ist bei der Komplexität der Problemstellung, um die es geht und die sich auf jeder nur denkbaren Stufe des Raffinements wiederholt, leicht zu erkennen. In jeder Interaktion gibt es nichtmitgeteilte Infonnation, die im Verhältnis zur Kommunikation inkonsistent ist." 37 Ebd. 136. 38 V gl. zum Herrscherbild der Habsburger Franz Bosbach, Princeps in Compendio, in: Konrad Repgen (Hrsg.), Das Herrscherbild im 17. Jahrhundert. (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte, Bd. 19.) Münster 1991, 79-114, und Anna Coreth, Pietas Austriaca. Österreichische Frömmigkeit im Barock. 2. Aufl. Wien 1982. 39 Kieserling, Kommunikation (wie Anm. 9), 73: "Man kann dies noch weiter fassen und auf die Differenzen zwischen Wahrnehmung und dem, was in Kommunikation relevant sein darf, hinweisen, auf die Differenz des Geschlechts, der Körpergröße, der körperlichen Stärke." Ebd. 74 f.: "Die Zumutung, solche wahrnehmbaren Differenzen überall dort zu ignorieren, wo sie nicht zugleich auch als symbiotischer Mechanismus der Kommunikation fungieren können, stammt nicht aus der Interaktion selbst, sondern aus der Gesellschaft. Die Differenzierung der Kommunikationsmedien für Macht und für Liebe setzt eine entsprechende Differenzierung auch der symbiotischen Mechanismen voraus. Macht ist dann mit physischer Gewalt so verbunden wie Liebe mit Sexualität. Außerhalb dieser Verbindungen muß der Bezug auf die entsprechenden Körpervollzüge zurücktreten. Aber gerade diese gesellschaftliche Vorgabe ermöglicht eine stärkere Ausdifferenzierung der Interaktion, nämlich eine höhere Selektivität ihrer kommunikativen Prozesse gegenüber dem Wahrnehmungsbereich. Die gesellschaftlich geforderte Indifferenz gegenüber dem Offensichtlichen kann in der Interaktion, da sie auf Wahrnehmungs leistungen aufruht, nicht einfach unterstellt werden. Sie muß vielmehr durch systemeigene Prozesse und durch systemeigene Grenzen hergestellt und verteidigt werden. Daher macht eine Gesellschaft, die ihre Anforderungen an den Körpergebrauch der Menschen differenzieren und spezifizieren will, sich selbst davon abhängig, daß es Interaktionssystemen gelingt, das dafür erforderliche Unterscheidungsvermögen gegen den diffusen Eindruck der Wahrnehmung
drücklich darauf hin, daß die Zuspitzung von Handlungsoptionen auf entscheidbare Alternativen, auf die Differenz von Ja/Nein, in Interaktion äußerst problematisch war: Allein die Ablehnung von Sinnzumutungen in Interaktion wies wegen der Gefährdung der mitlaufenden Ehransprüche eine große Nähe zur "offensio" auf, welche bei den Seiten als verhängnisvoll erscheinen mußte und deshalb zu vermeiden war. 40 Daß der Körper der in Interaktion beteiligten Personen Potential für rasche Anschlußkommunikation bietet, macht ihn zu einem wirksamen Helfer bei der Verfolgung von Anliegen - lassen sich doch nicht zuletzt in affektgeleitetem (oder entsprechend simuliertem) Verhalten auch nonverbal Droh- und Mitleidspotentiale sichtbar machen. 41 Man wird den Körper in Interaktion von daher als mögliches Erfolgsmedium bezeichnen können. Ist aber auf die Rechts- oder Finanzlage Rücksicht zu nehmen und ein Nachgeben von daher inopportun, ist die Gefahr der Konfrontation gegeben - was die Ausgrenzung des bedrohlichen Körpers nahelegt: Aus der steten Mahnung der Höflingsliteratur, anderen kein "Entweder/Oder" aufzudrängen, kann man dann folgern: "Die Interaktion ist nicht darauf abgestellt, durch binäre Schematisierung zu Ergebnissen zu führen. (Das bleibt den Funktionsbereichen vorbehalten.)"42 Für die Fortsetzung der Interaktion bedeutet dies, daß über Themenwechsel und die Fortsetzung des Kontaktes bis zum unverfänglichen Ende der Interaktion43 derartige Situationen entschärft werden können und müssen. Eine solche Entschärfung der Verbindung von Verhaltens zumutung und diesbezüglicher Reaktion fällt leichter, wenn Verhaltens zumutung und Reakz~ etablieren." V gl. dazu Niklas Luhmann, Symbiotische Mechanismen, in: ders., SoziologIsche Au~lärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation. 2. Aufl. Opladen 1991, 228-244, hier 2~O: "Der .Bez.ug z.ur orga~ischen Sphäre bleibt in allen Interaktionssystemen erh~Iten, WIrd aber In SItuatIOnen, dIe durch Kommunikationsmedien geregelt werden, zu eIner bloßen Möglichkeit generalisiert und dann respezzjiziert." 40 Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modemen Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt am Main 1993, 137: Die Fortsetzung des Kontaktes "verträgt kein hartes Nein, jedenfalls nicht die Kommunikation eines Nein die in der Interaktion zum Gesichtsverlust oder zum Konflikt führt". Dementsprechend mÜßten auch ",Jorced choice' Situationen" vermieden werden. Zur "offensio", vor deren Verursachung SIch auch der Fürst hüten solle, vgl. Mark Hengerer, Macht durch Gunst? Zur Relevanz -yon Zuschreibunger: am früh~euze,it1~chen ~of, in: Vaclav Buzek/Pavel Kral (Eds.),. ~lech!a v hv~bs?urske monarchll a cIsarsky dvur (1526-1740). (Opera Historia, Vol. 10.) Ceske BudeJovIce 2003,67-100, hier 91. 41.Ein Beispiel bietet die Situation, in der der spätere Kaiser Leopold I. in Gegenwart seI~es Vaters und mehrerer Geistlicher in einem Wortspiel über zwei Geistliche witzelte: KaIser Ferd.inand !II .. gab seinem Sohn durch eine Gebärde seine Mißbilligung zu verstehen, bot Ihm mIt eIner verbal formulierten Frage indes eine gesichtswahrende Chance zu: Entspannung der Situation, welcge der junge Erzherzog auch nutzte (StMni oblastni arChIV Zamrsk, RA Piccolomini, Inv. C. 1271820/1, 155-158, Constantin Sattler an Ottavio Piccolomini, Wien, 29. 7. 1654). 42 Luhmann, Gesellschaftsstruktur (wie Anm. 40), 137. 43 Ebd. 136 f.
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tion zeitlich entkoppelt werden und sich damit letztere aus der Interaktion h~r aus verlagern läßt. In der Interaktion, in welcher die Ver~altense~wartung mItgeteilt wird, lassen sich dann personenbezogene u~d mteraktIO~sbezogene Faktoren (wie Tränen) würdigen44 , welche später bel der Bescheldung u~ter, Umständen nicht einmal mehr in der Erinnerüng präsent sind. In InteraktIOn kann man trösten, wenn man vertrösten kann. Die einheitliche Reaktion, deren Konsistenz und Kompaktheit in der Interaktion als Konsistenz der Person . . auf dem Spiel steht, wird so differenzierbarer. Diese Differenzierungsleistung wird von schriftlicher KornrnumkatIOn besonders deshalb unterstützt, weil sie in der Regel mit der Entkoppelung von Kommunikation und Anschlußkommunikation einhergeht. 4s Zudem werden die Wahrnehmungskontexte der an der Kommunikation beteiligten Personen entkoppelt - die Ordnung und symbolische Aufladung ~er ~~ume ~es L~sers steht dem Autor nicht zwangsläufig vor Augen, und die Tranen, dIe bel der Übergabe einer Bittschrift fallen, müssen die Tinte treffen, wenn .sie auch noch den Beamten motivieren sollen, dem man sie später zur BearbeItung zustellt. Weiter ermöglicht schriftliche Kommunikation eine höhere Toleranz für Dissens.46 Die Ablehnung schriftlich formulierter Sinnzumutungen fällt leichter als in Interaktion und gerade deshalb läßt sich eine "Allianz" von sozialer Differenzierung und Schriftlichkeit konstatieren, welche sich nicht zuletzt als Affinität von Schriftlichkeit und binär codierter Entscheidungskommunikation respezifiziert. 47 3. Die Differenzierbarkeit der Interaktion wird daher durch die Verfügbarkeit von Schrift erhöht. Wechselt das Papier, das die Sachdimension verkörpert, den Besitzer, endet mit der Interaktion nicht auch di? Beh~ndl~ng der Sachfrage, was den Abbruch erheblich erleichtert. Aus eI?er SItuatIOn des Vorbringens und Entscheidens läßt sich die Situation einer Ubergabe forme.n, die einen die Interaktion störenden, unterbrechenden und be endenden Zeltverbrauch schon deshalb ermöglicht, weil man sich erst einmal auf das Lesen Ebd. 138. Der binäre Code von Ja und Nein bezieht sich danac~ besonders auf die binären Codes der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien, ~o etwa Recht ~nd Geld; in der Interaktion setzt man sich dagegen gern davon ab:. ".[~]~.e werden zugleIch durch Darstellung reflektierter Rücksicht und wohlwollender Senslb~lItat auf de.r Ebene der Interaktion kompensiert. Eine für hochdifferenzierte Systeme uner~aßbche St~lgerung d~s Neinsagenkönnens wird so durch eine gegenstrukturelle InteraktlOnssemantlk ausgeglIchen." 45 Vgl. Bohn, Schriftlichkeit (wie Anm. 15),59-77. ..... . 46 Zu der gegenüber Interaktion erhöhten Toleranz der SchnftlIchkeIt fur Dissens vgl. ebd. 89-100. 47 Zur Entkoppelung vom gemeinsamen Wahrne~mungskontext vgl. ebd. 59-77, zur "AIlianz" von Schriftlichkeit und sozialer DifferenzIerung ebd. 173-221. Zum ~us~en hang von Entscheidung, Schrift und Organisation vgl. Niklas Luhman~, O~gal11SatlOn und Entscheidung. OpladenlWiesbaden 2000, 159f., 214f., sowie Cornelw Vlsmann, Akten. Medientechnik und Recht. Frankfurt am Main 2001.
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verlegen kann. Sind zudem räumlich vom Ort der Interaktion separierte Institutionen vorhanden, die auf schriftliche Bearbeitung von Anliegen spezialisiert sind, und wird zudem die Entscheidung in Form eines Schriftstücks erwartet, ist von vornherein nicht mehr zu erwarten als eine Zusage, alles zu einem guten Ende bringen zu wollen. Für das Produzieren und Kommunizieren von Entscheidungen eröffnet die Auslagerung von Entscheidungen aus der Interaktion die Möglichkeit, mehr Zeit zu verbrauchen, die Gegenstände fallenzulassen, sie in Form von Ritualen abzuarbeiten oder sie in Verfahren einzuspeisen. 48 Die Zeit, welche Interaktion und Entscheidung voneinander trennt und das Problem für denjenigen, der mit einer Verhaltens zumutung konfrontiert wird, löst, gibt freilich der anderen Seite Zeit, nach Möglichkeiten zu suchen, noch mehr zu tun: Über wiederholte oder andere Interaktionen auf die Entscheidung (1) doch noch einzuwirken, also mit Höflingen und Beamten zu reden, sie zu beschenken, ihnen Unterlagen abzuluchsen oder die Berücksichtigung neuer Faktoren nahezubringen. Diese wenigen Andeutungen zeigen, daß Körperlichkeit für Kommunikation Relevanz auf sehr verschiedenen Ebenen hat. Eine dieser Ebenen ist Kommunikation unter Anwesenden; diese wird zwar regelmäßig als Ausgangspunkt des Sozialen beschrieben49 , kommt aber wegen ihrer Störanfälligkeit als Kernsituation sozialer Reproduktion in dem Maße weniger in Betracht, in welchem sich die Möglichkeit bietet, nicht interaktionsbasierte Kommunikationsformen zu nutzen. Damit erweist sich die jeweilige historische Konstellation der Inanspruchnahme der Steuerungsfunktion von Phänomenen von Körperlichkeit einschließlich der Räumlichkeit und Materialität sozial relevanter Kommunikabilien als abhängig vom Stand der Entwicklung und Nutzung der einzelnen Elemente - wobei die Aufnahme von Neuerungen und die Orientierung an traditionellen Formen für ein zusätzliches Maß an Komplexität im Sinne einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen sorgen.
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Vgl. dazu Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.), VOlllioderne politische Verfahren. (ZHF, Beih. 25.) Berlin 2001; zum Ritual vgl. Andrea Belliger/David J. Krieger (Hrsg.), Ritualtheorien. Opladen/Wiesbaden 1998. Zum Beratungs- und Entscheidungsverfahren am Kaiserhof des 17. Jahrhunderts vgl. Stefan Sienell, Die Geheime Konferenz unter Kaiser Leopold 1. Personelle Strukturen und Methoden zur.. politischen Entscheidungsfindung am Wiener Hof. (Beiträge zur neueren Geschichte Osterreichs, Bd. 17.) Frankfurt am MainlBerlin/BernIBfÜssel/New York/Oxford/Wien 2001, und Hengerer, Kaiserhof (wie Anm.12),B.II.l.c. 49 Bohn, Schriftlichkeit (wie Anm. 15), 77. 48
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H. Konstellationen differenzierten Körpergebrauchs in Kommunikation Im folgenden möchte ich einige der für den frühneuzeitlichen Kaiserhof zentralen Kommunikationssituationen skizzieren, die von einem sehr unterschiedlichen Zugriff auf Körper als Medium der Kommunikation geprägt waren - hinsichtlich der räumlichen Situierung, hinsichtlich der Differenz zwischen verbaler und nonverbaler Kommunikation, hinsichtlich der Wahl sonstiger Kommunikabilien. Den Anfang macht das kaiserliche Lever als eine Situation, in der die Person des selbst schutzlosen und teils entblößten Kaisers gegen die Nutzung von potentiell möglicher Nähe und Intimität geschützt wird. Es folgt die kaiserliche Audienz als eine Situation, in welcher Raumordnung und Körpersprache bei gesicherter Situationshoheit des Kaisers zwar Themenoffenheit gewährleisten, welche aber zunehmend zu einer Situation der Übergabe von Schriftstücken umfunktioniert wurde. Dies wiederum ermöglichte die Engführung von Entscheidungs situationen, deren Spezifizierung als schriftliche Bescheidung von Vorlagen bzw. als Entscheidung im Rat weitgehend auf einem schriftbasierten Verwaltungsverfahren beruhte. Nach einem (viel zu kurzen) Blick auf die komplexere Ordnung der Schriftstücke soll schließlich auf deren Versuch hingewiesen werden, die Situation der Interaktion noch einmal einzuholen. 1. Beginnen möchte ich mit dem Lever des Kaisers. 5o Henriette Graf interpretierte es am Beispiel Kaiser Karls VI.51 unter dem Hinweis auf fehlendes Dessen vergleichsweise geringe Beachtung verwundert angesichts des Umstands, daß die neuere Hofforschung von Norbert Elias' umstrittener Analyse des Lever des französischen Königs ausging; vgl. Elias, Gesellschaft (wie Anm. 13), 126-129. 51 Unter Bezug auf Stieve; vgl. dessen Darstellung: ,,3. Die Kayserl. Levee geschiehet mit folgender Ordnung und Ceremonien: Der Ober Cammer=Herr kommt zu der ihm von' Kayserl. Majestät abends vorhero, gegebenen Stunde, klopffet modest an die Thüre des Kayserlichen Schf=Gemachs, und continuiret solches von Virtel=Stunde zu Virtel=Stunde, welche er aus der bey sich tragenden Taschen=Uhr bemercket; biß eine Cammer=Frau die Thüre öffnet, nachdem Ihro Majestät die Kayserin, schon vorher aufgestanden, und sich in Dero Zimmer begeben. Der Herr Ober=Cämmerer reichet Kayserl. Majestät ein reines Hembde, welches der Kayser, wenn Er noch im Bette, anziehet, und nimmt darauf einen kurtzen Abtritt für das Zimmer. Darauf bethen Ihro Majestät für dem in dem Schlaf=Gemach befindlichen Altar im Schlaf=Rocke; gehen alsdenn heraus in die erste Retirade, in welcher Sie, von denen darzu bestellten Personen, vollends angekleidet werden. Der Cammer=Diener hält alle Tage 6. biß 7. Kleider parat, und erwartet, welches Kayserl. Majestät herzureichen befehlen werden. Wenn sich nun der Kayser in einen Fauteuil gesetzet, so nimmt Ihnen der Ober=Cämmerer die Nachtmütze ab, und leget Ihnen einen Haar=Mantel um die Schultern, da denn der Barbier parat stehet, den Kayser zu rasiren, oder auch nur bloß zu kämmen. Wenn dieses verrichtet, reichet der Cammer=Diener dem Kammer=Herrn die Kleidung von Stück zu Stück, auf einem silbernen Lavoir, und gedachter Cammer=Herr kleidet den Kayser gäntzlich an; bey welchem Actu die Kayserl. Majestät selbst keine Hand anleget, ausser daß Sie sich die Bein=Kleider selbst zuknöpffen, alsdenn besprechen sich Ihre Majestät bißweilen mit dem Leib=Medico, und gehen so
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Publikum und auf den "Privatraum", in dem es vorgenommen worden sei als "gänzl~ch. private Angelegenheit"52. Christina Hofmann hingegen stellt~ es am BeIspiel der Genese des Hofzeremoniells des späteren Kaisers Karl V. 53 dann in die zweyt~ RetiI:ade ~eraus, in welcher Sie die Minister und Cavaliere aufwartende finden. Ist der Kaiser em Wlttwer, oder schläffet Ihro Majestät die Kayserin etwan aus besonderen Ursachen, nicht bey Dero Majestätischen Herrn Gemahl, so ist der Ober=Camme:er=Herr ge?al~en, bey solchen Umständen auf einem besondern Bette in dem KayserlIch.en D~rrmtono zu schlaffe~. Die Cammer=Diener, und sonderlich diejenigen an :velchen die ReIhe der Aufwartung 1st, schlaffen für des Kaysers Gemach und ist über Ihrer Bett=Stäte ein Glöcklein, welches der Kayser in dem Bette liegende 'anziehen und lauten . k~nn, welches so offt es geschiehet, die Cammer=Diener Erlaubniß haben, auch sogar ~.~ Ihrem Schlaf=Rock~ für Kayserlicher Majestät zu erscheinen." Gottfried Stieve, Europais~hes. Hof=Zeremomel [... ]. 2. Aufl. Leipzig 1723, 265-267; zu Stieve vgl. Vec, Zeremomalwlssenschaft (wie Anm. 6),43-63. V gl. zudem Johann Basilius Küchelhecker Allerneueste Nachricht vom Römisch=Kayserlich. Hoff [... ]. Hannover 1730,358 f.: "Da~ Lever ~es Kays.ers betreffende, so verhält es sich damit folgender massen: Nachdem Kayserhche MaJ~stät sich aus dem Bette erhoben, so begeben sich Dieselben aus dem Schlaff=Gemach m das nechste Zimmer, im Schlaff=Rock. Allhier nun lassen sich Dieselben von denen Cam:ner=Dienern und Cammer=Herren, so im Dienst sind, oder die Aufwartung haben,.. ankleIde.n. Je~e verrichten die geringem Dienste mit Anziehung derer S~.huhe und Strumpfe; ~lese h~ngegen leisten ihre Dienste, wenn Se. Kayserlichen Majestat das Hembde und dIe Kleld~r anlegen, und die Peruque auffsetzen. Hierbey ist zu mercken, daß zu. solchen Le~er memand k?mmen kan, als diejenigen, so die Aufwartung ~aben, welches m Franckrelch, vornehmlIch, was das petit Lever anlanget, fast einem Jedweden frey stehet. Wen? nun Kayserliche Majestät völlig angekleidet, und in ihrem ~em~ch dero Andacht vemchtet, so hören sie in der Capelle, so in der Kayserlichen Burg 1st, dIe Messe." 52 Henri.et!e Graf, Das kaiser!iche Zeremoniell und das R~präsentationsappartement im LeopoldIlllschen Trakt der Wlener Hofburg um 1740, in: Osterreichische Zeitschrift für Kuns~ un? Denkmalpflege. Wiener Hofburg. Neue Forschungen 51, 1997,571-587, hier 5.16; ah~lIch: ~eroenp~indam, The Co~rt of the Austrian Habsburgs: Locus of a ComposIte Hentage, m: MItteIlungen der ReSIdenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaft zu Göttingen 8, 1998,24-58, hier 38f. 53 Hofmann, .H0fze~emonieU (wie Anm. 3), 66f.: "Wenn sich Herzog Karl morgens erhob, d~rf~en nur die BedIensteten der Camera anwesend sein. Sie mußten vor der Türe warten, bIS SIe gerufen wurden. Wurde das Bett des Herzogs gerichtet, hatte der Premier Sommeiller d~ Corps mit einer. Kerze in der H~nd dabei. zu leuchten. War der Sommeiller de Corps verhmdert, konnten dIe Chambell~ns I~n d~bel vert:eten. Beim Coucher (Schlafengehen) oder Lever (Aufstehen) durften keme medngen BedIensteten wie Barbiere, Schneider u. a. ohne .beson~eren Befehl anwesend. sein. B.efan~ sich vor dem Schlafgemach des Herzogs nur eI~ VorzlI~mer, warteten dort dIe PenSlOnnaireS, die Chambellans, die Maltres d'Hötel, und dIe. Gen~Ilho~es, bis sie .eintreten durften. Gab es dagegen zwei Vorzimmer, so' hatten SIch die GentIlshommes 1m ersten [... ] und die Pensionnaires Chambellans und M.altres d'Hötels im zweiten Vorzimmer aufzuhalten. Dort warteten si'e, bis sie vom Premler.oder Second ChambeUan die Erlaubnis zum Eintritt erhielten. Die Huissiers de SaUe fun.glerten als Türhüter des Schlafgemachs. [... ] Der Guardaropa erkundigte sich beim Kaiser, ,,:elches Gewand d~r anzulegen wünschte und reichte die Kleidungsstücke dann an den Sur~llller ~e Corps eIter. ~us. dessen Händen empfing sie der Camarero Mayor, der dem K~Ise~ beIm AnkleIden behIlflIch war. Befand sich ein Ritter des Ordens vom Goldenen VlIes 1m Raum,. reicht~ ihm dieser anstelle des Camarero Mayor die Ordenskette (Collane) und das VlIes (TOlson) (Tuson). Auch die Gentileshombres scheinen das Recht besessen zu haben, dem Camarero Mayor die Kleidungsstücke zu reichen."
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als Teil eines Programms von Kabinettsregierung, persönlicher Unnahbarkeit und sakral-religiöser Ausrichtung des Hofzeremoniells dar54 . Mit einem grundlegenden Wandel des Ablaufes des Aufstehens und Ankleidens kann der erhebliche Unterschied dieser InterpretationeJ? nicht begründet werden, war das Lever doch ungeachtet der schwierigen Traditionsfrage sehr ähnlich und auch in seinen Formen äußerst langlebig, wie die Berichte für Ferdinand 1. 55 bzw. Don Juan 56 , Kaiser Karl v., Kaiser Ferdinand III.57 und Kaiser Karl VI. zeigen.
Die Interpre~~tion, die ich hier vorschlagen möchte, geht nicht von der Dichotomie von Offentlichem und Privatem aus, sondern von der kommunikati~-komm~nikabilen Konfiguration der Situation, die, so meine Deutung, auf dIe Un~erbmdungjedweder an den Dynasten gerichteten Zumutung spontaner thema~Isch offener Kommunikation mit weiterreichenden Folgen angelegt ist. Daß dIese Form des Lever nicht allein mit dem Umstand zu erklären ist daß es sich hier etwa im Sinne Turners um ein Ritual der allmorgend1iche~ Inthronisation der Majestät handeln mochte, zeigt der Vergleich mit dem schon morgens ungleich gesprächigeren König von Frankreich. 58 Greifen wir einige Elemente des komplexen Ablaufes heraus: Die Zeit des Aufstehens wurde am Vortag vom Fürsten bestimmt; morgens weckte ihn dann .ein Laut in Form eines Klingelns (Ferdinand IH.) oder Klopfens, nicht der emer menschlichen Stimme. Beim Wiederholen blieb es beim technisch erzeugten akustischen Laut; daß es nicht zum Wechsel zur menschlichen Stimme (Karl VI.) kam, stützte die Deutung des Lauts als einer bloßen Erinnerung an die eigene Anordnung, so daß eine Neuinterpretation im Sinne
Ebd. 72f Ebd. 33 f, 66f: Die Form des Lever der österreichischen Linie der Habsburger geht aufgrund der Erziehung des späteren Kaisers Ferdinand I. unt~r der Au~sicht v?n Königin Isabella von Kastilien und Ferdinand V. von Arag6n vermutlIch auf dIe PraxIs der Hofhaltungen von Kastilien und Aragon zurück; das burgun~ische Zeremoniell lernte er ~elbst lediglich zwischen 1518 und 1521 kennen. Das Zeremomell, das Karl V. aus der ModIfikation burgundischer und spanischer Traditionslinien bis 1548 formte, ~annte er danach nicht. Zur Traditionsfrage vgl. zuletzt Christina Hofmann-Randall, DIe Herkunft und Tradierung des Burgundischen Hofzeremoniells, in: BemslRahn (Hrsg.), Ze.r~rr:oniell (wie Anm.3), 150-156; zum Ursprungskontext Burgund vgl. Werner Paravlclru, !he Court ofthe Dukes ofBurgundy: a Model for Europe? in: Ronald G. Asch/AdolfM. BIrke (Eds.), Princes, Patronage, and the Nobility. The Court at the Beginning of the Modem Age. 1450-1650. London 1991, 69-102. 56 Hofmann, Hofzeremoniell (wie Anm. 3), 35 f (Prinz Don Juan): "An der Tür warteten die Mozos de Otmara mit den Gewändern während der Camarero allein mit dem Hemd des Prinzen eintrat. [ ... ] Der Camarero nahm dem Prinzen die N achtgew änder ab und half ihm, die Strümpfe anzulegen und festzubinden. Inzwischen traten die übrigen Bediensteten der Camara ohne Schuhe und ohne Kopfbedeckung ein: Die Reposteros bewachten die Innentür. Der Mozo de Retrete nahm die Kerze an sich, die während der Nacht im Gemach des Prinzen gebrannt hatte und trug sie zusammen mit dem Nachthemd in das Retrete, wo er , die Kerze löschte. Er brachte auch ein Becken und einen silbernen Wasserkrug, damit sich der Prinz die Hände waschen konnte. Im Winter hatte er ein Kohlenbecken bereitzuhalten, um die Camara etwas zu wärmen. Vor der Tür der Camara warteten der Zapatero (Schuhmacher) und der Barbero (Barbier) darauf, hereingerufen zu werden. Der erste zog dem Prinzen die Schuhe an, während ihn der andere gleichzeitig kämmte. Zu beiden Seiten des Stuhles, in dem der Prinz saß, knieten zwei Mozos de Camara [Kammerdiener], um ihn zu halten, während der Schuhmacher ihm die Sporen anschnallte. Bis zu diesem Zeitpunkt durfte sonst niemand die Camara betreten. Im Retrete befand sich auch die Leibschüssel des Prinzen, die vom Mozo de Bazin (Leibschüsseldiener) betreut und gereinigt wurde. Nach Beendigung ihrer Verrichtungen verließen Schuhmacher und der Barbier den Raum; der Prinz vollendete seine Toilette. Die Mozos de Camara reichten dem Camarero die einzelnen Kleidungsstücke, nachdem sie diese vorher geprüft hatten, und der Camarero war dem Prinzen beim Anlegen behilflich." Danach kam der Lehrer des Prinzen. 57 Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv [im folgenden: AVA] , GD-Nachlässe, B/492/c/6/1: "Servizio imperiale della camera la mattina", Darstellung von Raimondo Montecuccoli in der korrigierten Fassung. Montecuccoli wurde am 22.7. 1645 kaiserlicher Kämmerer: Österreichisches Staatsarchiv, Haus-, Hof- und Staatsarchiv [im folgenden: HHStA], OMeA SR 186, fol. 126; zu seiner Laufbahn ygL Sienell, Konfe~~nz (wie Anm. 48),159-162. Eine an einigen Stellen etwas ungenaue Ubersetzung find~t sIch bei Alois Veltze (Bearb.), Ausgewählte Schriften des Raimund Fürsten Montecucco11. General-Lieutenant und Feldmarschall. Hrsg. v. der Direction des k. und k. Kriegs-Archivs. Bd. 4: Miscellen. Correspondenz [... ]. Wien/Leipzig 1900, 17. Eine neue zuverlässigere Übersetzung findet sich in der Biographie von Georg Schreiber, Raimondo Montecuccoli. 54 55
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Feldherr, Schriftsteller und Kavalier. Ein Lebensbild aus dem Barock. GrazlWien/Köln 2000, ~4. "Zu ~er voll! Kaiser festgesetzten Stunde weckt der Erste Kämmerer oder der vom Dle~ste mIttels emes Glockenzeichens den Monarchen. Der tritt im Nachtgewande h~raus. DIe Käm~erer vom Dienste treten ohne Mantel und ohne Degen ein, der Oberstk~mmerer aber lllit Mantel und Degen; mit diesem erscheinen auch der Arzt, der Barbier, dIe. Zwerge, Narren un~ Schalke. Der Erste Kämmerer tritt etwas früher ein und legt dem Kaiser das I:Iemd. an. D.le Kämmerer, mit einem Knie am Boden, der älteste beim rechten F~ße, be~lelden Ihn mIt Hose, Strümpfen und leichten Schuhen. Der älteste Kämmerer reIcht knleen~ das Waschzeug, nachdem er vorher die Wasserprobe vorgenommen hat, und der Oberst~KaIllmerer das Handtuch. Dann gibt dieser, nachdem er gleichfalls die Wasserprobe verrIch.tet hat, das Wasser zum Reinigen der Zähne, ein Kämmerer hält das Becken m das der. Kaiser sich aus.spült. ~ie Kämmerer stellen sich dann seiner Majestät gegenübe; auf, ergreIfen den Fuß, bmden dIe Strumpfbänder und ziehen ihm knieend die Schuhe an wä!rren~ de~ Barbier ihn kämmt. Seine Majestät erhebt sich, ein Kämmerer zieht ihm da~ Bem~leld .hinauf und befestigt es. Er zieht ihm das Nachtgewand aus, der älteste Kämmere~ reIcht IhI? das Wams und beide befestigen es an die Hose; vordem hat ihm der Erste Kammer.er dIe Magenbinde umgelegt und überbringt die gefütterte Jacke. Der Erste Käm~erer reIcht dem Kaiser eine Fleischbrühe, worauf alle verschwinden und die Kämmerer Ihre n,egen und Mäntel wieder umnehmen." Anders als Veltze übersetzt Schreiber richtiger~else Kämme:er statt Kammerdiener (vgl. ebd. 281 Anm. 16), was auch durch die StreIC?~,n.g von ,,11 valetti di ~amera" und die Ersetzung "il Call1erie maggiore, 0 quello di ... guardia 1m ersten Satz sowIe durch andere Stellen bestätigt wird (AVA, GD-Nachlässe . B/492/aJ~/3). An~~rs als S~hreiber bin.~ch der Auffassung, daß "cameliere maggiore" mi~ "Ober~tkam~erer statt mIt "Erster Kalllillerer" zu übersetzen ist; für diese Differenzierung ~l~;et ~Ie ~andschri~t keinen,.An~alt;. richtig ist die Übersetzung von "cameriere piu vecchlO. ~l11t "al.tester Kammerer; dIe Ubersetzung von "matti" mit "Schalke" dürfte e~?hemistIsch sem. Zur Bekleidung vgl. die Arbeit über die im Sarg erhaltenen Kleidungsstucke Rudolfs 11. von Beket Bukovinska, Kleidung Rudolfs H., in: Prag um 1600. Kunst und Kultur am Hofe Rudolfs 11. Hrsg. v. d. Kulturstiftung Ruhr Essen. Freren 1988 570571 (mit zwei Abbildungen). '
58 V~l. Hofmann, Hofzere.~oniell. (wie !'nm. 3), 73; zu Frankreich Monique Chatenet, La Cour de France au XVIe sIec1e. Vle soclale et architecture. Paris 2002, bes. 112-141.
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einer von einem Höfling an den Kaiser gerichteten Verhaltenserwartung ausgeschlossen wurde. Er mußte also nich~ antwo~~n. . Von Bedeutung war weiter die räumlIche ZuruckgezogenheIt des Bettes unter Nutzung der davorliegenden Räume zur D~fferen~ienmg d~s A~fwartens vor dem teilweise innen wie außen bewachten SchlafzImmer. DIe Prasenz ~on Personen die nicht auf den Morgendienst spezialisierte Inhaber von Hofamtern war;n, ließ sich so ausschließen. Das Lever fand im räuml~ch bewachten und gesicherten Raum des Hofes und im abgeschlossenen SozI~lverband des Hofstaats statt. Der Schutz wurde noch dadurch verstärkt, daß Je nach AI~er und Familienstand des Fürsten Inhaber von Ämtern besonderen .ve~rauens ~m und/oder vor dem Schlafraum des Dynasten nächtigten. Der Emtntt der emzeInen Personen wurde zudem unter Beachtung der überwiegend vorhe~ ~est stehenden Kriterien Amt, Hierarchie, Anciennität und Befehl so formahsIe~~ daß die Vertretung und Substitution von Personen ebenfalls ger~gelt war. Der Fürst wußte so, welche Rolleninhaber bzw. welche Perso~en Ihm.b~~eg nen würden. Er wußte, daß diese den Ablauf kannten und daß Ihre Aktlvltaten innerhalb der Räume vom jeweils ranghöchsten Anwesend~n über~a~ht wurden, wobei diesem der Rückgriff auf physische GewaltmIttel moghch war. Der Fürst mußte so im Zweifel nicht selbst zur Ordnung rufen. . Die Rollen der beteiligten Personen wurden in dem horizontal. vergleIc~s weise nur mehr geringfügig ausdifferenzierbaren Schlafzimmer, m ~~m SIch die meisten Körper zudem wegen der notwendigen A~läufe un~ zuruckzulegenden Wege nicht primär statisch einande~ z~ordnen heßen, g~eIchwohl nach räumlichen Kategorien differenziert, speZIfiZIert und sym?ol~.sch festg~legt. Im 16. und 17. Jahrhundert knieten diejenigen Personen, dIe lan~ere Zeit unmittelbar am Leib des Fürsten zugegen waren, und nahmen so eme Demutshaltung ein, welche zugleich eine vertikale Hierarc~isierung der ~örper herstellte (Kammerdiener, Kämmerer). Die KammerdIener mußten sI~h zude~ ihrer Schuhe entledigen (Don Juan, Ferdinand 1.), die Kämmer~r Immerhm ihres Mantels (Ferdinand IH.); auf die Kopfbedeckung mußten be~dep~ruppen verzichten. Dies unterstützte die vertikale Strukturierung der SituatIOn, betonte die schutzlose Körperlichkeit der partiell entblößten Akteure z~ Laste~ ihrer Personalität, minderte ihre Beweglichkeit, erhöhte ihre ~ngrelfbarkelt und lieferte sie den bewaffneten Reposteros (Don Juan, Ferdmand 1.) bz:v. dem bewaffneten Oberstkämmerer, dessen Personalität und Gewaltzugnff
V gl. zu den ineinandergreifenden Differenzierung~kriterie~ Mark Heng~rer, Hofze~e moniell Organisation und Grundmuster sozialer DIfferenzIerung am Wlene~. f!of 1m 17 Jah;hundert, in: Klaus Malettke/Chantal Grell (Hrsg.), Hofgesellschaft und Hofhnge an eu~opäischen Fürstenhöfen in der frühen Neuzeit (15.-18. !.ahrhundert). (Forsc~ungen zur Geschichte der Neuzeit. Marburger Beiträge, Bd. 1.) MunsteriHamburg/Berlm/London
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durch Mantel und Degen erhalten blieben (Ferdinand IH.), aus. Eine spontane Mitteilung war von dem so bezeichneten "Unten" her so nicht zu erwarten. Die für Ferdinand IH. überlieferte Präsenz von "nani, matti, e buffoni" (Zwergen, Närrischen und Narren) vertiefte die vertikale Ordnung der Anwesenden. Zudem sorgte sie dafür, daß etwaige verbale Kommunikation innerhalb dieser Situation für Störung offen gehalten wurde, sei es dadurch, daß ungefragte Kommentare von dieser Gruppe her möglich waren, sei es, daß sonstige Störungen die Bildung von Subsystemen exklusiver Interaktion zwischen Kaiser und einzelnen Gesprächspartnern jederzeit aufzubrechen drohten. Zudem hatten die Mitglieder dieser Gruppe aufgrund der ihnen möglichen freieren Standortwahl im Raum die Möglichkeit, Gesprächsdistanzen, welche durch die knienden Personen ohnehin schon erhöht waren, zusätzlich kontingent zu halten. 60 Mögliche Gespräche, deren Themen offen gewesen wären, wurden so von Anfang an sozial auf den Oberstkämmerer bzw. den ranghöchsten Diener beschränkt, Gelegenheit dazu aber wurde in einer Form geschaffen, die für andere uneinsehbar war: Der ranghöchste Höfling trat als erster und allein ein. Bemerkenswert ist vor diesem Hintergrund die Erwähnung von Unterhaltungen des Kaisers mit dem Arzt (Karl VI.) - sie macht deutlich, daß auch in dem Regelwerk des Lever thematisch vorstrukturierte verbale Äußerungen in Gegenwart der anderen Personen vorgesehen sein konnten, wenn sie sich auf die ausnahmsweise vom Kaiser erwünschte Feinabstimmung der Interaktion bezogen. Die Gestaltung des Lever scheint so geeignet gewesen zu sein, den Tag ohne spontane Kommunikationszumutungen zu beginnen und damit die von den Herrschern wenig geliebte Einbindung in thematisch offene Interaktion mit dem Adel zu vermeiden. Insofern strukturell verwandt war mit dem Lever die öffentliche Tafel im Vorzimmer. Ähnlich wie das mit Entblößung verbundene Aufstehen ist auch das Mahl, eine der zentralen Situationen der sozialen Vergemeinschaftung, eine heikle Situation, und so wird man ungeachtet der präsenten höfischen Öffentlichkeit und aller Repräsentativität sehen müssen, daß bei der Tafel die bedienenden Höflinge einen geregelten und weitestgehend per Gewaltzugriff gesicherten Ablauf gewährleisteten61 , während die aufwartenden (!) Höflinge
Zu den Narren der Kaiser und ihrer Höflinge in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts vgl. Harald Tersch, Freudenfest und Kurzweil. Wien in Reisetagebüchern der Kriegszeit (ca. 1620-1650), in: Andreas Weigl (Hrsg.), Wien im Dreißigjährigen Krieg. Bevölkerung, Gesellschaft, Kultur, Konfession. Wien 2001, 155-249, hier 196-199. Zum weiteren Kontext siehe Klaus E. Müller, Ethnologia passionis humanae. München 1996, 68f. "Buffoni" sind Narren im Sinne von Possenreißern, "Matti" Narren im Sinne von als geistig verwirrt Betrachteten. 61 V gl. zur kaiserlichen öffentlichen Tafel zuletzt Ingrid Haslinger, Der Kaiser speist en public. Die Geschichte der öffentlichen Tafel bei den Habsburgern vom 16. bis ins 20. Jahrhundert, in: OttomeyerNölkel (Hrsg.), Tafel (wie Anm. 3),48-57. 60
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ebenfalls mit einer äquivalenten Erwartung konfrontiert waren: "bescheidenheit mit still sein und schweigen"62. 2. Eine der zentralen Situationen für Unterredungen mit dem Kaiser war die Audienz, und obschon die sehr differenzierten Regeln für Zulassung, Frequenz und Ausgestaltung im einzelnen weit komplexer waren als sich hier darstellen läßt, darf man doch einen allgemeinen Rahmen für Audienzen des 17. Jahrhunderts skizzieren: Wer zur Audienz zugelassen werden wollte, hatte zuvor ein mehr oder weniger aufwendiges Verfahren zu durchlaufen, in dem zunächst einmal der formelle Status des Besuchers festgestellt bzw. zugewiesen wurde.63 Mit diesem Status war dann die Anerkennung der gegenseitigen Ehrerbietungsansprüche und somit auch die Ausgestaltung besonders der nonverbalen Elemente der Begrüßung des Kaisers verbunden. 64 Anläßlich der in der Regel an den Oberstkämmerer zu richtenden Zulassungs- und Terminwünsche ließ sich zudem eine inhaltliche Vorprüfung und entsprechende Vorbereitung des Treffens vornehmen. Je nach der vorliegenden Konstellation mochte die Audienz dann ausnahmsweise als optisch wie akustisch äußerst imposante, waffenstarrende und vertikal stark differenzierte Großveranstaltung (etwa für türkische Gesandte65 ) vorgenommen werden oder aber als ungleich weniger aufwendige Routineaudienz (etwa für Höflinge oder ständige Gesandte, die ihren öffentlichen Einzug bereits absolviert hatten). Aber auch diese hatten die Wachen der Hofburg zu passieren, sich mit dem Platzmangel für die Kutschen im innersten Hof zu befassen, die Zahl ihrer Zugpferde dem anzupassen, was man ihnen kaiserlicherseits zugestand, wiederum Wachen zu passieren, zahlreiche Treppen zu erklimmen, durch die mit Bewaffneten gefüllte Wachstube zu gehen, an der Seite eines Höflings, der sie je nach Rang Vgl. HHStA, OMeA SR 73, Konv. r. 122, 4), rote Nr.22, eigenhändige "Vernere instruction und Erc1ärung" Kaiser Ferdinands UI. für den Oberstkämmerer Waldstein, Wien, 2.3. 1651. Vgl. auch eine der Funktionen der Tafelmusik: Sie erlaubte es, bei Tisch geführte Gespräche zumindest für das nicht mit dem unmittelbaren Tafeldienst befaßte Personal und sonstige Anwesende unhörbar zu machen. 63 Hier ist besonders das sich formalisierende Gesandtenwesen zu nennen - die Zuweisung beziehe ich auf Hofämter, von denen Zugangsmöglichkeiten abhingen. 64 Besonders die Frage des Bedeckens des Kopfes mit dem Hut; wegen dieser Frage flossen mitunter beinahe Tränen: So bei Vorverhandlungen zum gegen die Schweden gerichteten kaiserlich-polnischen Bündnis bei einem Gesandten des polnischen Königs, weil der Kaiser sich in der Audienz weigerte, ihm dieses Privileg eines Formalbotschafters zu gewähren; aufgrund vorheriger Beratungen mit dem Oberstkämmerer hatte der Gesandte dies aber erwartet; Biblioteca Apostolica Vaticana [im folgenden: BAVJ, Vat. Lat. 10423, fol. 151f. 65 V gl. die Darstellung der venezianischen Gesandten Zeno und Contarini von 1638; Joseph Fiedler (Hrsg.), Die Relationen der Botschafter Venedigs über Deutschland und Österreich im siebzehnten Jahrhundert. Bd. 1: K. Matthias bis K. Ferdinand IU. (Fontes rerum austriacarum, Abt. 2: Diplomataria, Bd. 26.) Wien 1866, 202f. Vgl. zur sozialen Funktion der Unterscheidung von "oben" und "unten" in formalisierten Statusbeziehungen Niklas Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation. Mit einem Epilog 1994. (Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Bd. 20.) 5. Aufl. Berlin 1999, 162f.
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hier o~er dort empfing oder auch mit einer Kutsche holte, die Türen zu passieren, dIe zum Audienzzimmer führten; unterwegs dürften sie des Wappenschmucks der Burg, der aufwartenden Höflinge, der sonstigen Anwesenden, der jeweiligen Tapisserien, später auch des Bildschmucks gewahr geworden sein. 66 Eine solche Vorgeschichte und eine solche situative Einbettung von Kommunikation war geeignet, deutlich zu machen, bei wem in einer Audienz die Situationshoheit zu liegen hatte. 67 Jene, die nicht mit dem Privileg regelmäßigen und leichten Zugangs zum Kaiser ausgestattet waren und sich so an das Setting gewöhnen konnten, mochte es nachhaltig beeindrucken und dazu bewegen, ein Ansuchen um eine Audienz von der Wahrscheinlichkeit ihres Erfolges abhängig zu machen. Mit einem solchen Kalkül aber war die Spezifizierung des Gegenstandes der Unterredung auf eine Entscheidung verbunden, die immerhin so wichtig war, daß man sich_dem Gang in die Burg überhaupt unterzog. Paradoxerweise führte so die Selektivität der Zulassung zur Interaktion bei dem größten Teil der Interaktionspartner zur Formulierung einer letztlich auf die Alternative von Ja oder ~ein zugespitzten Vorlage und damit gerade zu derjenigen Konstellation, die In Interaktion so schwer zu handhaben war. Selbst einem Direktor der Hofkammer stand 1656 ein kaiserliches Nein als Ergebnis einer Audienz als Schreckensvision vor Augen: "sollte Ich ein absonderliche audienz nemben undt Ihre Khayl: Mayl: nicht in solchen humor antreffen, ds sy gleich ein allerg[nädig]stes fiat von sich geben theten, [... ] hette [ich] als dan das herz nimber, was weitters in einer absonderlich~n audienz vorzubringen." Und so mochte er denn auch nicht gehen und sann\mf andere (schriftliche) Wege. 68 Andere brachen unter einem solchen Druck s~hon einmal in Tränen aus wenn sie um ihnen Wichtigstes baten, aber dies W\denn doch eine Seltenheit. 69
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66 Vgl. zum Parkplatzmangel zu Anfang der HHStA, OMeA SR, K. 73, Konv. ~7, 2), Nr. 10. Zu Raumord~ung und Zeremomell vg\. Christian Benedik, Die herrschafthc?en ~ppartements. Funkuon ynd Lage während d\r Regierungen Kaiser Leopold 1. bl~ Kaiser Franz Joseph I., in: Osterreichische Zeitschl~ft für Kunst und Denkmalpfl~ge. Wlener Hofb~rg. Neue Forschungen 51, 1997,552-57' sowie Graf, Zeremoniell (:VIe Anm. 52); zu~ bIldenden Kunst siehe u. a. Birgit Franke, ttestamentliche Tapissenen und Zeremomell am b~rg~ndischen Hof, in: Berns/Rahn ( rsg.), Zeremoniell (wie Ann:. 3), 332-352, und Fnednch B. Polleroß, Des abwesenden Prinzen Porträt. ZeremO~lelldarstellung im Bildnis und Bildnisgebrauch im Zeremoniell in: ebd. 382-409. Zu Be~chten von Besuchern des Hofes im früheren 17. Jahrhundert sie~' Tersch, Freudenfest (wIe Anm. 60). 67 Zu ~en ~ugangsn:ögli~?keiten adeliger ~rauen im Umkreis des Ho~staats vgl. Susanne Claudzne PlIs, SchreIben uber Stadt. Das Wien der Johanna Theresia Harrach 1639-1716 Wien 2002, 227-238. . 68 Weißenwolfisches Archiv Steyregg, Akten, Fach 76, Nr. 45, Hofkammerdirektor Cle~ent von Ra~o.lt an D~vid Ungnad von Weissenwolf, Wien, 27. 12. 1656. AVA, Farmhenarchiv Harrach, Karton 444, Konv. Johann Quintin von Jörger, fol. 3, ders. an Franz Albrecht von .Harrach, Wien, 12.3. 1665. Der Hofkriegsratsvizepräsident bat demnach 1665 um das freIgewordene Amt des TtIrofmeisters, wurde aber abgewie-
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~.
538 So sorgte eine solche Konstellation zumindest grundsätzlich für Geschmeidigkeit in der thematisch so zugespitzten und gefährlichen Interaktion respektive für die Akzeptanz von Vertagung und Vertröstung, was immer noch besser war als eine definitive Ablehnung. Auc~ ausführlichere Schilderungen von Gesprächen mit dem Kaiser im Rahmen von Audienzen zeigen dies: Der venezianische Gesandte Grimani beispielsweise beschrieb in seiner Relation aus dem Jahr 1641 ein längeres Gespräch über einen der Dauerkonflikte zwischen Venedig und dem Kaiser, der ihn zum wiederholten Male zur kaiserlichen Audienz führte: Sein Vortrag wurde, obschon ihn der Kaiser nach Grimanis lakonischen Worten wohl "zum hundertsten Mal" hörte, "höflich und geduldig" angehört.7 0 In der Sache widersprach der Kaiser zwar zunächst ("No"), begründete diese Haltung aber mit den Informationen seiner Beamten. Grimani entgegnete ehrerbietig ("riuerente"), in der Sache aber unnachgiebig, worauf der Kaiser das Sachargument zu widerlegen suchte. Seine nächste sachliche Entgegnung brachte Grimani darauf mit höchster Bescheidenheit vor ("col termine della maggior modestia"). Diese Entgegnung belächelte der Kaiser, was Grimani als Ausdruck des Unglaubens hinsichtlich der vorgebrachten Tatsachen deutete ("A che mostrando la M. S. con modesto sorriso quasi non potersi prestar fede") und zu detaillierteren Ausführungen veranlaßte, wobei er das Lob der Person des Kaisers mit der Kritik an den innerösterreichischen Beamten verband. Nach einiger Überlegung schloß der Kaiser die Unterredung, indem er die Sorge des Botschafters für die Interessen der Untertanen Venedigs anerkannte, die Legitimität seiner eigenen Sorge um die Interessen seiner eigenen Untertanen dagegenstellte und vorläufig - für den hypothetischen und zu prüfenden Fall, daß Grimanis Ausführungen den Tatsachen entsprechen sollten - dem Gesandten Recht gab. Da er den entgegenstehenden Informationen seiner Behörden nicht mißtrauen könne, wolle er den Prozeß der Informationsbeschaffung mittels eines schriftlichen Verfahrens neu aufrollen. Dem hatte Grimani nichts zu entgegnen, er war mit ~______ dem Ergebnis des Gesprächs soweit zufrieden, machte seine Reverenz und
gtng-;--- / Ein Nein des Kaisers war demnach in Interaktion zwar möglich und auch ein darauf bezogener Widerspruch, doch wurde die Person des Kaisers explizit aus dem Konflikt, der innerhalb der Sachfrage auf die Glaubwürdigkeit der jeweiligen Informationsquellen zugeschnitten wurde, herausgehalten. Kompensiert wurde die zeitweilige Unbeugsamkeit in der Sache durch die Beugung des Entgegnenden: Am Ende der Unterhaltung stand kein Nein, sondern
sen - dann flossen Tränen, woraufuin er immerhin Kriegsratspräsident wurde; vgl. Sienell, Konferenz (wie Anm. 48), 83. 70 Vgl. die Darstellung aus der Relation Grimanis bei Fiedler, Relationen (wie Anm. 65), 264-266. Der Kaiser war nach Grimani bei seinen Audienzen stets allein; ebd. 388.
Vertagung und der Verweis auf ein schriftliches Verfahren. 71 Diese Form der Überführung der Interaktion in ein Verfahren mochte sich bereits als Erfolg der zu Beginn des 17. Jahrhunderts nachdrücklich erhobenen Forderungen aus dem Kreis der Verwaltung nach Unterlassung von Entscheidungen ohne vorherige Überstellung der Angelegenheiten an die zuständigen Behörden verstehen. 72 3. Ein solcher Umgang mit Gegenständen, die in Audienzen besprochen wurden, setzte im Regelfall die Verschriftlichung der Anliegen voraus; eine Audienz des Gesandten Heinrich von Pflummern bei Kaiser Ferdinand II. macht dies besonders deutlich: Der Kaiser hörte sich das Vorbringen von Pflummerns in aller Ruhe und wohlwollend an - und bat nach der Rede um eine schriftliche Darlegung der komplexen Angelegenheit, welche der Gesandte dann auch parat hatte. 73 Wenn sie nicht gerade wie dasjenige dieses Gesandten (und nicht wenige andere) verschleppt wurden, gelangten solche Suppliken, versehen in der Regel mit Gutachten und Votum der zuständigen Stellen, im Rahmen der Vorträge der Stabs- und Behördenchefs oder in Sitzungen des Geheimen Rates zur Entscheidung wieder zum Kaiser - in Abwesenheit der Bittsteller. Für die meisten Personen konzentrierte sich der Zweck einer Unterredung mit dem Kaiser so auf das Überreichen einer Bittschrift bei gleichzeitiger Vermittlung des Eindrucks der Dringlichkeit der Sache bzw. der Förderungswürdigkeit der eigenen Person, und so nimmt es nicht wunder, wenn dies im wesentlichen im Rahmen des allgemeinen Aufenthalts hoffähiger Personen in den kaiserlichen Vorzimmern abgewickelt wurde und der Kaiser so zunehmend eine besondere Stelle für die Entgegennahme,und Weiterleitung von Schriftstücken wurde.7 4 Das Problem wurde dann die Zeit, die verfioß bis der
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71 In anderen Fällen war dies häufig auch der Verweis auf mit Hötlingen zu führende Unterhandlungen der Bittsteller oder der Verweis auf weitere interne Beratungen der Sache. n V gl. § 19 des Gutachtens zur Hofreform (um 1611): "sich aber darinnen oftmalen zugetragen, dass sich etliche von ihrer kais. Mt. in gehabter audienz ein befehl oder resolution empfangen zu haben berühmet und dieselbe auszufertigen in ihrer kais. Mt. namen anbefohlen haben, deren sich aber ihrer kais. Mt. hernach nicht im mindesten erinnern können", daher solle der Kaiser gebeten werden, "hinfür von keinem diener, er sei klein oder gross, keine relationes annehmen oder sich darüber allergnädigst resolviren, sie seien denn zuvor in gehörigen ~äthen berathschlagt [... ] worden"; Thomas FellnerlHeinrich Kretschmayr'(Hrsg.), Die Osterreichische Zentralverwaltung. Abt. 1: Von Maximilian 1. bis zur Vereinigung der österreichischen und böhmischen Hofkanzlei (1749). Bd.2: Aktenstücke 1491-1681. (Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte Österreichs, Bd. 6.) Wien 1907,378. 73 Der Kaiser fragte, "ob ich, waß ich vorgebracht, nicht auch auf dem papier und schrifften hette. Darauff ich die schrifftliche supplication aller underthenigst praesentirt"; Alfons Semler, Die Tagebücher des Dr. Johann Heinrich von Ptlummern 1633-1643. (Beiheft zur Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins, Bd. 98.) Karlsruhe 1950,223. 74 Die Darstellung des Couchers der Prinzen Don Juan und Ferdinand vom Anfang des 16. Jahrhunderts zeigt, daß diesen jungen Fürsten zwar Bittschriften vorgelegt wurden: Sie
Kaiser einem die gewünschte Aufmerksamkeit schenkte. Usus war geduldiges Warten, die Beschwerde darüber machte Skandal.75 So versteht sich die Entwicklung, seine Angelegenheiten doch gleich oder zumindest parallel im zuständigen administrativen Apparat einschließlich der vertrauten Höflinge geltend zu machen oder die Schriftstücke uiünittelbar an die Behörden zu adressieren. Die Kanalisierung von auf Papier gebannten entscheidungsrelevanten Gegenständen an die wenigen führenden Höflinge oder aber an die Administration wurde auch dadurch gefördert, daß die Höflinge, mit denen der Kaiser sich beim Spielen und Jagen hauptsächlich umgab, meist Kämmerer waren. Ihnen war verboten, sich im Rahmen ihres Dienstes, der sich ja nicht auf das Lever beschränkte, mit eigenen Angelegenheiten an den Kaiser zu wenden. Wenn es hier auch Verstöße gab76 , so waren zahlreiche Kommunikationssituationen, in denen der Kaiser sich alltäglich befand, vom Zumutungspotential der Interaktion doch recht wirksam entlastet. Nur vor diesem Hintergrund konnte Kaiser Leopold I. verlauten lassen, er rede, mit wem er wolle.7 7 Auch die Interaktion im Rahmen der Sitzungen des Geheimen Rates wird man als grundsätzlich zumutungsarm bezeichnen dürfen. Wenn dort dem Kaiser Gegenstände zur Beschlußfassung vorgelegt und erörtert wurden, war durch eine komplexe Vorbereitung der Voten unter Einbeziehung von Behörden und einflußreichen Höflingen, die im Vorfeld von außen kaum einsehbare Rückkopplungen mit der Position des Kaisers organisieren konnten, und durch eine hochgradig formalisierte Sitzungsgestaltung sichergestellt, daß wurden vor der Übergabesituation indes sogar durch die Übergabe derselben an ihren Kämmerer geschützt. Der Kämmerer informierte die Prinzen dann abends über die im Laufe eines Tages bei ihm eingegangenen Bittschriften, um sie danach den "zuständigen Stellen" zukommen zu lassen; Hofmann, Hofzeremoniell (wie Anm. 3), 36. Zur Situation unter Kaiser Ferdinand rr. und Irr. vgl. Hengerer, Kaiserhof (wie Anm. 12), B.1.3. 75 Vgl. die Beschreibung des französischen Gesandten Freschot vom Anfang des 18. Jahrhunderts, wonach sich ein kaiserlicher Offizier nach langer Wartezeit beschwerte, indem er "überlaut zu schreyen anfieng: Cesare chiama li tui officiali, che si fanno amazzor per te, non i trati che ti vengono contare feloppe". Zitiert nach der Ausgabe: Casimir Freschot, Relation von dem kaiserlichen Hofe zu Wien. Aufgesetzt von einem Reisenden im Jahr 1704. Köln 1705, 79. In den 1650er Jahren war in Wien registriert worden, daß der schwedische König einen kaiserlichen Gesandten unter unglaubwürdigen Vorwänden mehrere Wochen auf die Audienz warten ließ, was den Kaiser beleidigte ("sotto uarij, e friuoli pretesti con poco decoro della Maesta Imperiale, che con ragione se ne mostraua [... ] offesa"); BAV, Vat. Lat. 10423, fol. 267v. 76 Zum Verbot vgl. HHStA, OMeA SR 73, Konv. r. 122, 4, rote Nr. 22, eigenhändige "Vernere instruction und Erclärung" Ferdinands III. für den Oberstkämmerer Waldstein, Wien, 2. 3. 1651. Zu den Verstößen vgl. Hengerer, Kaiserhof (wie Anm. 12), B.1.3.c. 77 So äußerte sich Leopold 1. in einem Brief an seinen Botschafter in Spanien, Pötting, Wien, 27.9. 1666: "dann wann der Kaiser mit Auersperg nur ein Wort redt, so ist gleich Feuer in Dach und sagen alle, dieser seie wieder Hahn in Korb. Es seie ihm aber wie ihm wolle, so wird ihme der Kaiser das Maul nit binden lassen, dass er nit mit ein jeden rede, so ihm beliebt." Alfred Francis PribramlMoriz Landwehr von Pragenau (Hrsg.), Privatbriefe Kaiser Leopold 1. an den Grafen F. E. Pötting 1662-1673. (Fontes rerum austriacarum, Abt. 2, Bd. 56.) Wien 1903,247.
kaiserliche Entscheidungen im Rat in der Regel nicht als konfliktär thematisierbar waren. 78 Daß die Differenz zwischen Interaktion und schriftlicher Kommunikation für die Herstellbarkeit von Konsens von Bedeutung war, war den Kaisern bewußt: So verlangte Ferdinand IH. bei einer Hofreise die Kopräsenz zweier Behördenchefs, damit konsensuelle Vorschläge und Vorlagen zustandekämen79 - wohingegen für Hofkammerratssitzungen, bei denen der Kaiser nicht anwesend war, im Jahr 1681 für den Fall, daß man sich nicht auf ein Votum einigen konnte, Mehrheitsentscheidungen und Sondervoten zugelassen wurden 8o . Und so findet sich unter diesen und anderen Vorlagen meist der Vermerk "placet imperatori", was ohne diese Vorkehrungen doch sehr verwunderlich wäre. Das Feld möglichen Erfolgs besonderer Interaktionskompetenz des den Kaiser umgebenden Adels war in dieser Konstellation kein sehr weites mehr. Ein einflußreicher Favorit, der diese Stellung seinem Charme und seiner Gefälligkeit verdankt hätte, kam spätestens seit Rudolf H. nicht mehr in Betracht.8 1 Statt dessen konnte der bürgerliche Jurist Johann Matthias Prücklmayr österreichischer Hofkanzler und Freiherr werden, obschon er den Habitus eines ungelenken und unedel geborenen Fachmannes nicht loszuwerden vermochte; auch sorgte sein formeller Rang dafür, daß er auch von denjenigen, die dies bemäkelten, ehrerbietig behandelt und umworben wurde. 82 War noch in dem aus dem 16. Jahrhundert stammenden Traktat über den fürstlichen Rat von Friedrich Furius Seriolanus der Frage, welche körperlichen Eigenschaften ein Rat haben müsse ("Quae corporis qualitates in Consiliario requirantur"), ein ganzes Kapitel gewidmet83 , fand sich dazu in dem von einem Kenner des Vgl. Hengerer, Kaiserhof (wie Anm. 12), B.II.1.c. Und dises nit schrifftlich, sondern allein mündtlich, damit [... ] die vielleicht sich unterluf~de contradictiones verhietet werden." HHStA, ÄZA, K. 3, Konv. 19, fol. 2v. 80 V gl. dazu Rudolf Schlögl, Der frühneuzeitliche Hof als Kommunikationsraum. Interaktionstheoretische Perspektiven der Forschung, in: Frank Becker (Hrsg.), Geschichte und Systemtheorie. Exemplarische Fallstudien. Frankfurt am Main 2004, 185-225. 81 V gl. dagegen die Schilderung des Favoriten eines italienischen Hofes aus der Hand des Zeremoniars des päpstlichen Nuntius Pannochieschi: "Questo Signore Particelli era un giouine di buonissimo garbo, di grata presenza e dotato di Nobilissime qualita per le quali era arriuato ad'essere il fauorito della Corte." BAV, Vat. Lat. 10423, fol. 108. 82 V gl. die Einschätzung des Zeremoniars des auf die niedrige Geburt verweisenden päpst~;. lichen Nuntius Pannochieschi (BAV, Vat. Lat. 10423, fol. 178v) und des venezianischen Botschafters Giustiniani (1654): "Questo eun huomo di basso lignaggio, tirato innanzi dal fu Conte di Trautmesdorff per la notitia legale, fu egli Auocato; e ueramente mecanico"; Fiedler, Relationen (wie Anm. 65), 420. 83 Benutzt in der Fassung "De conciliis et consiliariis principum" in einer Sammelausgabe von Fürstenspiegeln: "Tredecim Libelli speculi ~ulicarum [... ]. Argentorati 1621, 55-61. Bereits im 16. Jahrhundert gab es zahlreiche Ubersetzungen; vgl. den entsprechenden Hinweis in der Ausgabe von 1588: "Idea conciliarii, hoc est: de conciliis et consiliariis principum [... ] libellus ex (ejus) tractatu hispanico in italicam, ac inde in latinam lingam translatus. Frankfurt am Main 1588. In Basel erschien das Werk unter dem Titel "De consiliariis, eorumque qualitatibus [... ]" in lateinischer Übersetzung bereits 1563. 78 79
Kaiserhofes um 1630 verfaßten "Princeps in compendio" nichts 84 . Von den Elementen der Interaktionskompetenz hielt sich denn im weiteren Verlauf auch des 18. Jahrhunderts gerade diejenige Ausdrucksform am längsten, deren Bezug zum Körper am geringsten ist: die Eloqu.~nz. 85 4. Das Aufspannen eines größeren medialen sowie zeitlichen, örtlichen und instanziellen Rahmens für die Herstellung von Entscheidungen, das die einzelne und entscheidende Interaktion mit dem Entscheider mehr und mehr ersetzte, führte zwar zu einem berechenbareren Verlauf einzelner Interaktionen, damit aber zugleich zu einem erhöhten Kontrollaufwand an anderen Stellen. 86 Man mußte dem Kammerpersonal verbieten, Papiere in den Räumen des Kaisers anzurühren 87 , und Behörden die Herausgabe von Akten an Betroffene untersagen 88 . Man mußte hoffen, daß die Höflinge und Beamten unbestechlich waren und sich nicht zu sehr mit den interessierten Parteien einließen. Und so ist es etwa für die Zeit Kaiser Ferdinands II!. charakteristisch, daß gerade die einflußreichsten Höflinge, die Obersthofmeister und Oberstkämmerer, teilweise als schwer zugänglich galten, sich mit gewissen Zugangshindernissen umgaben, welche besondere Audienzzeiten und -zimmer mit entsprechender Ausstattung einschlossen. 89 Aber auch die Sekretäre kaiserlicher Behörden wußten die Funktion von Türen, die man vor ungenehmen Bittstellern, Agenten, "Sollicitanten" etc. schließen konnte, zu schätzen - und sei es, um anhand der Differenz von Öffnung und Schließung den Wert der erwünschten Geschenke zu verdeutlichen. 9o Nicht jedem Höfling freilich, dessen als gerade noch im Rahmen des Geduldeten erachtete Korruptibilität bekannt war, konnte der Kaiser "Assistenten" zuteilen. 91 Wie aber sollte man
dann wissen, ob nicht manches Gutachten, das den Hof in Wien aus nachgeordneten Behörden etwa in Graz erreichte, schon dort gekauft worden war?92 Entlang der Papierströme fanden sich die aus der Interaktion mit dem Kaiser ausgelagerten Probleme also wieder, doch wurde hier der in seiner Relevanz ohnehin schon eingeschränkte Körper als Erfolgsmedium durch andere Medien zunehmend ersetzt: Ein Höfling, der bei Hof zuwenig verdiente93 , wird mehr Gefallen an Geld gefunden haben als an der Gefälligkeit einer Person. Wenn sich dagegen und trotz der Versuche adeliger Familien, mittels zahlreicher Positionen in den Behörden genuine Interessen zu wahren, die Bürokratie mittelfristig als sehr erfolgreiches Instrument fürstlicher Herrschaft etablierte, dürfte dies nicht zuletzt an den Eigentümlichkeiten der Sedimentbildung jener Papierströme gelegen haben. Archivierung, Registratur, Dokumentation, Vorlagesysteme, das zunehmend systematisierte Wachstum der Akten strukturierten Informationsproduktion und Kommunikationssituationen, die auf eine ganz andere Art von Körperlichkeit zugeschnitten waren. 94 Zwar reproduzierte die Syntax fürstlicher Schriftsätze noch die Komplexität zeremonieller Ordnung95 , der Körper des Archivs aber entzog sich dem Außen. Die Korrespondenz der höfischen Welt hingegen läßt zum Teil den Versuch erkennen, die imaginierte Interaktion von Autor und Adressat auch auf dem Papier doch noch einzuholen. Am Beispiel des von Georg Füll, einem Sekretär verschiedener hochrangiger kaiserlicher Höflinge, in der Mitte des 17. Jahrhunderts angelegten Formelbuches96 möchte ich dies zeigen. Wie Schreiben
Der venezianische Botschafter Grimani schilderte in seiner Relation nach der oben in Abschnitt II.2. dargestellten Audienz, daß er in Graz so Einfluß im Rat erworben habe, daß Venedig künftig an anderer Stelle Geld einsparen könne; ebd. 267. 93 Unter Hinweis auf die geringen Hofbesoldungen liest man in einem Gutachten zur Hofreform (um 1611): "Weil man aber den räthen bisher die nothwendige unterhaltung nit bewilliget oder gereicht, so ist den muneribus und corruptionibus die thür also geöffnet worden, dass sich etliche derselben anjitzo gar nit mehr schamen." Fellner/Kretschmayr (Hrsg.), Zentralverwaltung (wie Anm. 72), 373. 94 Vgl. Vismann, Akten (wie Anm. 47). 95 Zur Syntax vgl. Johannes Schwitalla, Komplexe Kanzleisyntax als sozialer Stil. Aufstieg und Fall eines sprachlichen Imponierhabitus, in: Inken KeimfWilfried Schütte (Hrsg.), Soziale Welten und kommunikative Stile. Festschrift für Werner Kallmeyer zum 60. Geburtstag. (Studien zur deutschen Sprache, Bd. 22.) Tübingen 2002, 379-398. V gl. auch die hinlänglich bekannten Elemente wie etwa das Respektspatium; zur Sprache des Zeremoniells und ihrer Inkompatibilität mit dem gelehrten Diskurs der Kameralistik vgl. Bauer, Hofökonomie (wie Anm. 7), 228-230. 96 AVA, Familienarchiv Harrach, Handschrift 140. Füll war 1644 bis 1651 Sekretär von Adam Matthias Graf von Trauttmansdorff (fol. 1), einem kaiserlichen Kämmerer und Sohn des kaiserlichen Obersthofmeisters Maximilian Graf von Trauttmansdorff; von 1653 bis 1664 war er Majoratssekretär bei der Familie Harrach, die in dieser Zeit neben anderen Höflingen mit Ernst Ada1bert von Harrach und Franz Albrecht von Harrach einen kaiserlichen Geheimen Rat und Kardinal sowie einen kaiserlichen Oberststallmeister aufwies. 92
Vgl. Bosbach, Princeps in Compendio (wie Anm. 38),91 f. Vgl. Luhmann, Gesellschaftsstruktur (wie Anm.40), 123. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive grundlegend zum Zusammenhang von frühneuzeitlicher Konversationstheorie und Körpersprache: Ursula Geitner, Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. (Communicatio. Studien zur europäischen Literatur- und Kunstgeschichte, Bd. 1.) Tübingen 1992. Hier wird der Bogen von Castiglione bis zum Ende des 18. Jahrhunderts gespannt; den Schlußpunkt der besonderen sozialen Relevanz der Interaktion gegenüber dem Schreiben sieht Geitner nicht zuletzt in der Betonung der Erziehung zum Schreiben gegenüber derjenigen der Befähigung zur Rede und Konversation; ebd. 333. 86 V gl. Hengerer, Kaiserhof (wie Anm. 12), B.II.2. 87 Siehe die Instruktion Kaiser Ferdinands III. vom 22. 3. 1651; HHStA, OMeA SR 74, Konv. 11, Nr. 13. 88 Vgl. Winkelbauer, Fürst (wie Anm. 41), 276-281. 89 Vgl. dazu Hengerer, Kaiserhof (wie Anm. 12), C.I.3. 90 V gl. die Schilderungen von Pflummems zur verschlossenen Tür des Sekretärs Kielmann; Semler, Tagebücher (wie Anm. 73), 247. Zum Problem der Sicherung der Ausdifferenzierung der Behörden vgl. Schlögl, Hof (wie Anm. 80). 91 Vgl. dazu die Schilderung des venezianischen Gesandten Giustiniani aus dem Jahr 1654; Fiedler, Relatjonen (wie Anm. 65), 402. 84 85
ihre Funktion als Ersatz eines Besuches explizit machen konnten97 , so bedankte man sich für Briefe, die als "Eür Liebden besuch= unnd glückwünschungs schreiben" bzw. als "die frl. besuech= als auch glückwünschung zum N euen J ahr"98 bezeichnet wurden. In der großen SJruppe der von Füll gesammelten Formulierungen aus Glückwunschschreiben wird zwar nicht bei der überwiegenden, aber doch bei einer beträchtlichen Zahl der Umstand, daß man schreibt (und nicht besucht) thematisiert, der Brief also als Substitut der Interaktion verstanden, wobei auch körpersprachliche Elemente der Interaktion aufgegriffen werden. So heißt es etwa: "Die herbey nahendte Weyhnachtlichen feyrtage erinnern mich meiner schuldigkeit, und komme hiemit dem Herrn gehorl. aufzuwarten, und die Hendt zu khüssen. "99 Der Hinweis auf den Brief ("hiemit") findet sich an anderer Stelle mit dem Hinweis auf die Körperrelevanz der mitgeteilten Gefühle: "Als hat es meine hohe schuldigkeit erfordert, mit meinem inbrünstigen voto hiemit bey meinem Herrn gehorsl. Zu~ erscheinen"lOO; auf die deiktische Geste in Richtung Brust spielt die folgende Formulierung an: "habe dem Herrn Ich durch diese Zeillen aufwarten, und zu denen bevorstehenden Weyhnacht [... ] vom Herzen wünschendte" gratulieren wollen 101 . Gegenüber dem Verweis auf die Gefühlsregung ("und dero beharrlichen affection mich darmit empfehlen wollen" 102) erweist sich der Bezug auf das alte Herkommen, wonach ein anderer Autor "vermitelst dies" seine Weihnachtswünsche übermitteln wollte, schon als Schwundstufe 103 . Und schließlich erinnert die umfängliche Begründung, mit der Briefe rechtfertigen, daß sie (unaufgefordert, wenn möglicherweise auch erwartet) an den Adressaten gelangen, daran, daß der Beginn verbaler Kommunikation nach der wechselseitigen Wahrnehmung von Präsenz im Belieben des Ranghöheren stand. So lassen sich die Begründungen der nach erhöhter Aufmerksamkeit heischenden Briefe als funktionales Äquivalent des Aufwartens sehen: "Die herzue nahenden Heyl. Weyhnacht feyrtag erinnern unns in ganzem Christenthumb der unter guten freündten und bekhandten wohlhergebrachten gratulationsgewonheit", derzufolge man nun alles Gute wünschen wolle. 104 Entsprechend liest sich die Antwort auf ein "angenemes schreiben": "Nit weniger empfangen wir
sonderbare annemblichkeit aus dem noch unter dato N. abgeloffenem gedechtnus [!] briefl, und verstehen daraus ganz freüdig, daß Eür Liebden unns in guten angedencken haben, sondern auch unnsern, und der unnserigen zuestendt bericht zu werden, sondere begirdt tragen, und zu dem allen unns abermallen Ihrem alten ganz löbl. unnd unns gar angenemben gebrauch nach zu den Heyl: Christ ferien gratuliren, und drauf folgendten Neüen Jahr glück Heyl und gesundtheit wünschen." 105
III. Resümee Ungeachtet seiner Attraktivität als scheinbar natürlich vorgegebene somatische Einheit läßt sich der menschliche Körper nicht als gesicherte mediale Einheit im Prozeß der Kommunikation konzeptionalisieren. Was als Körper, was als Geste, was als Wort, was als Räuspern wahrgenommen wird, steht nicht von irgendeinem Vornherein fest, auch nicht, was dies dann bedeutet. Erst Symbole, Semantiken und Situationen schaffen höhere Verläßlichkeiten des Verstehens, sie entziehen sich jedoch der absoluten Verfügbarkeit, sind offen für Mißverständnis und Subversion. Vor dem Hintergrund dieser Unsicherheit des Erfolgs von Kommunikation wird verständlich, warum körperliche Präsenz beim Aufbau komplexerer sozialer Ordnung ebenso vorteilhaft ist wie prekär. Kopräsenz erleichtert wegen ihrer, wenn auch unvollkommenen, Verpflichtung von Personen auf gemeinsam durchlebte Situationen das Überprüfen des Verstehens, sie erleichtert im Zweifel körperliche Gewalt und damit die Verfügbarkeit über den Erfolg der mitgeteilten Erwartungen. Kommunikation unter Anwesenden kann sich dieser potentiell reziproken und daher in verherrschafteten Beziehungen besonders problematischen Elemente ihrer Starterfunktion für soziale Ordnung zwar entziehen, doch vollzieht sich eine solche Stabilisierung in komplexen sozialen Zusammenhängen vor allem durch räumliche Asymmetrisierung und mediale Ausdifferenzierung der Kommunikationssituation, von der restriktiven Rahmung bis hin zur Vermeidung von Interaktion, letztlich also durch die Lockerung des engen Zusammenhanges von körperlicher Kopräsenz und Sinnproduktion. Das, was menschliche Körper in der Frühen Neuzeit unter dieser Voraussetzung zu Kommunikation beitragen können, wird man - sehr bescheiden zunächst in Typologien von Formen sozialer Kommunikation zu erfassen suchen, welche die Selektivität des Zugriffs auf die potentielle kommunikative Leistung von Elementen der Körperlichkeit in Abhängigkeit von derjenigen situativen und medialen Konfiguration beleuchten, in welcher Kommunika-
Aufschlußreich für die Eigenschaften des Sekretärs ist ein Zeugnis text für den Abschied eines Schreibers: "allzeit aufrecht, redlich, Erlich, still, verschwigen und fleisig" (fol. 17v). 97 Ebd. fol. 38v. 98 Ebd. fol. 45. 99 Ebd. fol. 24. Diese und die Hervorhebungen unten von M.H. 100 Ebd. fol. 25v, 26. 101 Ebd. fol. 24v. Vom Herzen ist bei Füll in diesem Zusammenhang regelmäßig die Rede. 102 Ebd. fol. 26v. 103 Ebd. fol. 26v, 27, 28 (verschiedene Beispiele). 104 Ebd. fol. 51 v. V gl. auch das Begründen des doch Befremdlichen: "Quando al mio giudicio non mi pare strano quel constume tratta sin' dal anti chi ta di augurare il buon principio dell' Anno" (fol. 28v).
105 I I
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Ebd. fol. Sv.
tion sich vollzieht, sachlich, zeitlich oder sozial restringiert oder auch ganz vermieden wird. Am Beispiel des Levers und der Audienz einerseits und andererseits am Beispiel der :eemühungen, ungestörte schriftliche Kommunikation zu sichern sowie den erfolgverheißenden körperlichen Gestus im Brief zu appräsentieren, habe ich versucht, Ansätze für eine solche differenzierende Typologie zu erproben.
Von
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Resümee: Typen und Grenzen der Körperkommunikation in der Frühen Neuzeit
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Abb. 1: Cartoon von Oswald Huber, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. 1. 2001.
Wie alle Zeichenträger gewinnt der Körper seine Bedeutung erst im Prozeß sozialer Kommunikation, weil den Beteiligten das Bewußtsein des Gegenüber jeweils unzugänglich bleibt. 1 Komplexere soziale Strukturen können deswegen nur dann aufgebaut werden, wenn Situations definitionen, Erwartungshaltungen wie auch Motive codiert und als medial vermittelte Zeichen verfügbar sind. Auch im Körper werden solche Informationen lesbar, und er ist deswegen eines der Medien, in dem Zeichen ihre Form gewinnen. Er kann für die Anwesenden bedeutend sein in seinem bloßen So- und Vorhandensein; er spannt soziale Räume auf und definiert soziale Situationen allein durch seine Position gegenüber anderen Körpern. Unser Körper ist in seinem Aussehen gestaltbar; er präsentiert sich in der Theatralik seiner Performanz und: er handelt. Medien- und kommunikationstheoretisch gelesen, ergeben sich aus solchen einfachen Beobachtungen freilich komplizierte Verhältnisse. 2 Das betrifft den medialen Status des Körpers und davon abgeleitet auch seine mediale Funktion in unterschiedlichen kommunikativen Kontexten. In der sozialen Welt der Bedeutungen und des Bedeutenden ist der Körper in zweifacher Weise vorhanden. Als präsenter Körper kann er (medialer) Zeichenträger sein, als bildlich oder sprachlich repräsentierter Körper ist er ein Medium, in dem Kommunikation ein Thema findet und so diskursive Kohärenz gewinnt. Präsente Körper werden als informations speichernde ,Schreibfläche ' genutzt oder bringen als performative, agierende Körper Bedeutung hervor. Welche von beiden Möglichkeiten sich in Kommunikation jeweils aktuell realisiert, hängt ab von den Beobachterverhältnissen und den Zuschreibungen, die sich in ihr aufbauen. Werden Körperzeichen auf eine Umwelt bezogen, wird also Fremdreferenz hergestellt, erscheint der Körper als1 Zu diesen Anfangsbedingungen von Kommunikation und den daraus sich ergebenden Unterschieden zu einer Theorie rationalen Handelns siehe Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main 1984, 191-24l. 2 Zu den einschlägigen begrifflichen Bezügen vgI. Jochen Härisch, Der Sinn und die Sinne. Eine Geschichte der Medien. Frankfurt am Main 2001; Hans H. Hiebel, Die Medien. Logik - Leistung - Geschichte. München 1998; Hans Ulrich GumbrechtlK. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Materialität der Kommunikation. Frankfurt am Main 1988; Gregory Bateson, Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Frankfurt am Main 1981, bes. 184--195.
549 Zeichenträger; hingegen kommuniziert er als performativer Körper, wenn die ihm abgelesenen Informationen auf ihn selbst oder die Einheit von Bewußtsein und Körper zugerechnet werden. 3 Stefan Haas hat seinem Beitrag diese Unterscheidung von zeichenhaftem und performativem Körper - in einer allerdings anderen Terminologie - zugrunde gelegt. Welche mediale Dimension des Körpers in Kommunikation aktualisiert werden kann, hängt ab von den dort herrschenden räumlichen und zeitlichen Distanzverhältnissen. Der präsente, sinnlich wahrnehmbare Körper hat seinen Ort in Typen der Kommunikation und der sozialen Strukturbildung, die auf Anwesenheit gebaut sind, während Kommunikation, die über Schrift und andere Distanzmedien vermittelt wird, naturgemäß auf den repräsentierten Körper zurückgreift. Weil allerdings unter Anwesenden mit der Sprache der Körper vor allem das Reden in Kommunikation eingeht, ist dort niemals nur einfach der anwesende Körper von Bedeutung, sondern immer auch schon die Semantik des repräsentierten, diskursiv geformten "kulturellen"Körpers. 4 Ich folge den Beiträgen und konzentriere mich hauptsächlich auf den anwesenden Körper der Interaktionskommunikation. Die unüberschaubare Vielfalt des diskursiven Körpers wird daher nur angesprochen, soweit die von ihm getragenen Themen für die Strukturierung von Interaktionskommunikation von Bedeutung sind. 5 Die Sozialwissenschaften haben ihren Gegenstand zunächst gegen den Körper und gegen das mit ihm verbundene Bewußtsein konturiert. 6 Erst nachdem das Soziale als Realität sui generis gefaßt war, konnte auch der Körper 3 In der Möglichkeit, diese Unterscheidung zwischen Selbst- und Fremdreferenz analytisch fruchtbar thematisieren zu können, liegt der Zuwachs an analytischem Auflösungsvermögen, den ein kommunikationstheoretischer Zugriff auf das Soziale gegenüber einem handlungstheoretischen bereithält. V gl. dazu auch die Angabe in Anm. 1 und Alois Hahn! Rüdiger Jacob, Der Körper als soziales Bedeutungssystem, in: Peter Fuchs/Andreas Göbel (Hrsg.), Der Mensch - das Medium der Gesellschaft? Frankfurt am Main 1994, 146-187. 4 Jens LoenhojJ, Die kommunikative Funktion der Sinne. Theoretische Studien zum Verhältnis von Kommunikation, Wahrnehmung und Bewegung. Konstanz 2001, 44-51, weist darauf hin, daß für die Annahmen, die den Körper in Interaktionszusammenhängen formen, nicht zuerst der wissenschaftliche Diskurs ausschlaggebend ist, sondern die (scheinbare) Evidenz eines organologischen Modells der Sinneswahrnehmung dominiert. Es läßt sich in fast allen Kulturen auffinden. 5 Die meisten neueren ,Körpergeschichten' vermischen diese Aspekte: vgl. Klaus SchreinerlNorbert Schnitzler (Hrsg.), Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit. München 1992. Das ist kulturgeschichtlich ertragreich, trübt aber den Blick auf den Körper als Kommunikationsmedium in Interaktionszusammenhängen. 6 Einen klassischen Punkt in dieser Geschichte der soziologischen Theorieentwicklung markiert Georg Simmel, Über das Wesen der Sozial-Psychologie, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik NP. 26, 1908, 285-291; vgl. auch Thomas Luckmann, Protosoziologie als Protopsychologie?, in: Max Herzog/earl P. Graumann (Hrsg.), Sinn und Erfahrung. Phänomenologische Methoden in den Humanwissenschaften. Heidelberg 1991, 155-169.
wieder als Teil der sozialen Welt thematisiert werden. Insbesondere die phänomenologische Wissenssoziologie hat hervorgehoben, daß in der Körperlichkeit des Gegenüber und der reziproken Wahrnehmung dieser Körperhaftigkeit überhaupt die Grundlage für die Anerkennung des Anderen als Alter ego liegt. 7 Die systemtheoretische Kommunikationstheorie hat hinzugefügt, daß nur in dieser Situation des vis-a-vis Wahrnehmung reflexiv werden kann. Nur hier ist dem Bewußtsein das Wahrnehmen beobachtbar, weil sinnlich faßbar wird, daß die eigene Wahrnehmung ebenfalls wahrgenommen wird. 8 Obwohl man den Körper deswegen gewissermaßen als das ,soziale Organ' des Bewußtseins bezeichnen kann, liegt seine Besonderheit als Kommunikationsmedium nicht allein in der Polivalenz seiner Zeichenhaftigkeit, sondern vor allem in der offenen Beziehung zwischen Bewußtsein und Körper. Es kann dem Bewußtsein zugerechnet werden, was dem Körper abgelesen wirdoder eben auch nicht. In welcher Weise diese Differenz für Kommunikation relevant wird, hängt ersichtlich von den kulturell und situativ höchst wandelbaren Vorstellungen über Subjekte und Adressaten von Kommunikation ab. Anstelle opaker Körper können Körper und Bewußtsein in einer dualen Gegensätzlichkeit auftreten, oder der Körper kann als getreuer Spiegel des Bewußtseins wahrgenommen werden. Ebenso war es immer möglich, daß andere (transzendente) Mächte sich durch Körper und Bewußtsein äußern. Entsprechend ändert sich dann die Kommunikationssituation jeweils grundlegend. Die für Kommunikation konstitutive Unterscheidung von Information, die aus unterscheidungsgeleiteter Beobachtung gewonnen wird, und Mitteilung, die man auf Absichten zurückbindet, gewinnt in solch verschiedenen Wahrnehmungsweisen ihre soziale und damit auch historisch-kulturspezifische Form. 9 In jedem Interaktionszusammenhang changiert der wahrgenommene Körper zwischen ,unwillkürlichem' So-Sein und absichtsvoller Performanz. In dieser Weise nimmt das Alter ego ihn beim Gegenüber wahr, aber auch Ego wird beides bei sich selbst nicht immer klar auseinanderhalten können oder wollen. Deswegen wird der Körper als Medium von Interaktionskommunikation in vielfacher Hinsicht brauchbar. In der Unhintergehbarkeit seines Vorhandenseins und in der Selbstverständlichkeit, mit der er wahrgenommen wird, baut der Körper mit an einer negations festen Plattform für interaktive Kommunikation. lO Weil man wechselseitig weiß, daß man wahrnimmt und Alfred Schütz/Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt. 2 Bde. Frankfurt am Main 1979, Bd. 1,87-98 u. Bd. 2, 153-157. 8 Andre Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysterne. Frankfurt am Main 1999, 110-146. Siehe auch LoenhojJ, Die kommunikative Funktion der Sinne (wie Anm. 4),169-172. 9 Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden (wie Anm. 8), 141-144. 10 Vgl. Volker Heeschen, Rituelle Kommunikation in verschiedenen Kulturen, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 65, 1987,82-104. 7
wahrgenommen wird, läßt sich Anwesenheit im Regelfall schon nicht bestreiten, und es bedarf kunstvoller Arrangements, um Anwesende in Kommunikation zu neutralisieren. Koordinierte Körpergestik produziert sinnlich abgesicherte Intersubjektivität, die auch über den Augenblick hinaus belastbar ist. Körpergebundene Rituale sind daher wirkungsvolle Vehikel der Massenintegration. I I Umgekehrt schreibt Gesellschaft sich in ihrer strukturellen Ordnung oft direkt in den Körper ein. Passageriten richten den Körper in entsprechender Weise zu, die Aufnahme in Gruppen wird in häufig schmerzhaften Manipulationen am Körper vollzogen und beglaubigt. 12 Andererseits bietet der Körper aber wiederum auch Schutz vor der Zwangsläufigkeit interaktiver Kommunikation. Was gesagt ist, ist gesagt, und deswegen könn~n Sprecher sich zwar vom Inhalt des Gesagten distanzieren, nur schwer aber von ihrer Mitteilungsabsicht. Das ist anders beim Körper. Wo er in interaktiver Kommunikation Berücksichtigung findet, eröffnet sich durch ihn die Möglichkeit zu indirekter Kommunikation. 13 Indirekte Kommunikation läßt offen, ob es sich um eine Mitteilung handelt, und bietet so die Möglichkeit von Kommunikation auf Widerruf. Das gilt in Interaktionskommunikation für beide Seiten. Man beobachtet zunächst und wartet ab, ob sich Erwartungen und Vermutungen bestätigen, und kann dann je nach Opportunität die Mitteilung (samt Information) bekräftigen, bestreiten oder sie - von der anderen Seite her - auch ignorieren. Sobald Kommunikation sich allerdings auf die mit indirekter Kommunikation markierte Unterscheidung von Wahrnehmung und Bewußtsein einläßt, wächst dem Körper auch eine eigentümliche kommunikative Sprengkraft zu. Es ist nicht zu verhindern, daß der Körper auch dann, gelesen' wird, wenn er nichts mitteilen soll. Für Erving Goffman war es hauptsächlich dieser Umstand, der die "körperliche Kundgabe" trotz ihrer im Vergleich zur Sprache äußerst reduzierten und unfiexiblen Zeichenhaftigkeit zum wichtigen Kommunikationsmedium des Selbst werden ließ.14 Mit der "körpergebundenen Mitteilung" betreibt das "Individuum im öffentlichen Austausch" demnach
11 Hans-Georg Soeffner, Zur Soziologie des Rituals, in: ders., Gesellschaft ohne Baldachin. Über die Labilität von Ordnungskonstruktionen. Weilerswist 2000, 180-208, hier 200-208. 12 Amold van Gennep, Übergangsriten (les rites de passage). Frankfurt am MainlNew York 1986; Beispiele aus dem Handwerk bei Andreas Grießinger, Das symbolische Kapital der Ehre. Streikbewegungen und kollektives Bewußtsein deutscher Handwerksgesellen im 18. Jahrhundert. Frankfurt am MainJBerlinlWien 1981, 101-114; vgl. auch Wolfgang Hardtwig, Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland. Vom Spätmittelalter bis zur Französischen Revolution. München 1997. 13 Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden (wie Anm. 8),147-178. 14 Erving Goffman, Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung. Frankfurt am Main 1982, 175-195; vgl. auch ders., Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt am Main 1986, 10-53.
wesentlich Prophylaxe gegen Zuschreibungen der Umwelt, denen es anders nicht begegnen kann. Die kommunikative Leistung von Körperzeichen hängt ersichtlich ab vom unterstellten Grad ihrer Verfüg- und Gestaltbarkeit. Die Eigenschaften des Körpers als Medium der Kommunikation erwachsen daher nicht aus seiner ,Natur', sondern aus der schon immer kommunikativ hervorgebrachten und diskursiv dann verfügbar gehaltenen Körpersemantik. Welche "körperlichen Kundgaben" wofür in Interaktion einsetzbar sind, ist nur in geringem Maße an die Biologie des Körpers gebunden oder an eine allgemein-menschliche conditio humanalS, sondern es wird wesentlich von den beobachtungssteuernden Vorstellungen über seine anthropologische Verfaßtheit und insbesondere über die Beziehungen zwischen Körper und Bewußtsein bestimmt. Die aber sind - wie wir wissen - weder historisch invariant noch kulturelle Universalien. Soziale Ordnung kann sich auf Dauer mit dem Körper nur arrangieren, wenn es gelingt, die osmotische Zone zwischen Wahrnehmung und Kommunikation im Bedarfsfall auch abzudichten. Dieses Problem gewinnt in dem Maß an Bedeutung, in dem soziale Strukturbildung sich über raum- und zeitüberbrückende Medien vollzieht oder sich auf symbolisch generalisierte Medien stützt, mit denen die Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation überspielt werden kann. 16 Deswegen sollten Historiker nicht nur nach der historischen Form des Kommunikationsmediums Körper fragen, sondern auch danach, wieviel und wo Körper in historischen Formen sozialer Kommunikation jeweils vorhanden sein kann. Ohne Bezug auf einen gesellschaftlichen 15 Eine unübersehbare Nähe zu solchen naturalisierenden Argumentationen findet sich in Werner Faulstichs Konzept der "Menschmedien": Vgl. Wemer Faulstich, Medien zwischen Herrschaft und Revolte. Die Medienkultur der frühen Neuzeit (1400-1700). (Die Geschichte der Medien, Bd. 3.) Göttingen 1998, bes. 7-12, 33--41. 16 Besondere Formen der Interaktionskommunikation sind ebenfalls auf eine Kontrolle des Übergangs zwischen Wahrnehmung und Kommunikation angewiesen. Die Eigendynamik sexueller Interaktion verträgt sich kaum mit dem Bedarf an Motivforschung, der bei direkter Kommunikation mitläuft. Vgl. hierzu Niklas Luhmann, Wahrnehmung und Kommunikation sexueller Interessen, in: ders., Soziologische Aufklärung. Bd. 6: Die Soziologie und der Mensch. Opladen 1995, 189-203. Einen Sonderaspekt dieser Selektivität von Kommunikation in formalen Organisationen thematisiert Erving Goffman unter dem Stichwort "Verlegenheit": Goffman, Interaktionsrituale (wie Anm. 14), 106-123. Zur' Zähmung etwa des olfaktorischen Körpers im 18. Jahrhundert vgl. Dmitrij Zachar'in, Die olfaktorische Kommunikation im russischen und westeuropäischen Paradigmenwechsel (des 17. bis 19. Jahrhunderts), in: Wiener slavistischer Almanach 41, 1998, 5-38, bes. 13-19. Für das 19. Jahrhundert siehe Horst-Volker Krumrey, Entwicklungsstrukturen von Verhaltensstandarden. Eine soziologische Prozeßanalyse auf der Grundlage deutscher Anstands- und Manierenbücher von 1870 bis 1970. Frankfurt am Main 1984, 349--463 (Interaktionsbeziehungen zwischen Männern und Frauen sowie zwischen höher- und niedrigerstehenden Personen). Zu den Möglichkeiten der "Nichtkommunikation" unter Anwesenden siehe Peter A. Berger, Anwesenheit und Abwesenheit. Raumbezüge sozialen Handeins, in: Berliner Journal für Soziologie 1,1995,99-111, bes. 104f.
Rahmen und die ihn prägenden Strukturmuster wird sich eine kohärente Geschichte des Körpers als Medium der Kommunikation kaum entwickeln lassen. Sowohl in der Semantik des Körpers wie auch hinsichtlich der Anforderungen an den interaktiv kommunizierenden Körper präsentiert sich die Frühe Neuzeit als Umbruchszeit mit epochaler Kohärenz. Mit der Herausbildung funktional bestimmter und organisatorisch verdichteter Sozialzusammenhänge, wie sie durch Schrift und vor allem die Drucktechnik gestützt wurden 17, verformte sich zwangsläufig auch Interaktion, und es verschob sich die Art und Weise, in der Körper an sozialer Kommunikation beteiligt werden konnten. Gleichzeitig boten diese Prozesse Anlaß für einen breiten, zwischen Rhetorik, Physiognomik und der sich schnell entfaltenden "Theorie des Hoflebens" aufgespannten Diskurs über den kommunikativen Körper, seine Formbarkeit und sein Verhältnis zum Bewußtsein. 18 Im Unterschied zur Wahrnehmung zeichnet sich Kommunikation dadurch aus, daß sie stets das Problem der ,Aufrichtigkeit' mit sich führt und deswegen nach Strategien verlangt, um die daraus folgenden Kontingenzen einzudämmen. Beobachtungsmodi, die wechselseitige ,Berechenbarkeit' entstehen lassen, sind die eine Möglichkeit; eine andere: die Tür zu indirekten Kommunikationen, etwa durch einen leicht zu aktivierenden "Diskurs des Versehens", möglichst weit zu öffnen.l 9 An vielen Stellen des damit umrissenen Fragehorizonts steht die Frühneuzeitforschung noch am Anfang, weil sie begrifflich häufig anders strukturiert und thematisch auf andere Bezüge eingestellt ist. Es sind allerdings gerade in der jüngeren Forschung Themenzusammenhänge wahrnehmbar, in denen sich eine frühneuzeitliche Geschichte des Körpers als Kommunikationsmedium bereits konturiert. Drei solcher Felder, auf denen der Zusammenhang kommunikativer Praxis mit der Entwicklung sozialer Strukturmuster besonders deutlich wird, sollen hier hervorgehoben werden: Erstens wird die körperliche Dimension von Kommunikation in Forschungen faßbar, die sich - meist konzentriert auf das Phänomen der Ehre - mit personenzentrierter Interaktion befassen; ein zweites Feld, das die Bedeutung des Körpers für Kommunikation hervortreten läßt, ist dort erkennbar, wo die Frühneuzeitforschung sich 17 V gl. allgemein Michael Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt am Main 1991, 37-55 und passim; Comelia Bohn, Schriftlichkeit und Gesellschaft. Kommunikation und Sozialität in der Neuzeit. Opladen 1999, 173-258. 18 Siehe zu diesem Diskurs den instruktiven Überblick bei Ursula Ge itner, Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. (Communicatio. Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 1.) Tübingen 1992. 19 Peter von Moos (Hrsg.), Der Fehltritt. Vergehen und Versehen in der Vormoderne. (Norm und Struktur, Bd. 15.) Köln/Weimar/Wien 2001.
mit Prozessen sozialer Integration und der Gruppenbildung beschäftigt; drittens treten insbesondere die Grenzen körperbezogener Interaktion dort hervor, wo die Forschung der Herausbildung und der sozialen Bedeutung von formal organisierten und funktionsbestimmten Sozialzusammenhängen nachgeht. 1. Der Körper gewinnt in Interaktion dann eine besondere Bedeutung, wenn Menschen sich nicht in spezifizierten Rollen begegnen, sondern voneinander beanspruchen, sich als integrale Person wahrzunehmen und zu respektieren. Franz-Josef Arlinghaus geht in seinem Beitrag davon aus, daß dieses integrale Personalitätskonzept bis ins 18. Jahrhundert bestimmend blieb und die Möglichkeiten sozialer Strukturbildung entsprechend prägte. Kommunikation, die unter das Prinzip der Ehre gestellt wird, ist ein charakteristischer Ausdruck dieses Verständnisses von Personalität, und die jüngere Forschung zu Ehrkonflikten hat in vielfältiger Weise herausgearbeitet, daß die Ehre ihren Sitz im Körper nahm. 20 Allerdings ist eine Typologie der Verlaufsdynamik gewaltsamer Körperkommunikation erst in Ansätzen zu erkennen21 , und erst recht bleibt an dieser Stelle offen, ob der Körper in der Alltagskommunikation des 18. Jahrhunderts als Zentrum persönlicher Ehre an Bedeutung bereits eingebüßt hatte. 22 Dies gilt übrigens auch für die (Ehr-)Kommunikation der Geschlechter. Zwar läßt die Forschung keinen Zweifel daran, daß insbesondere der weibliche Geschlechtskörper in der Interaktion des Alltags immer mehr als Störfaktor empfunden und entsprechend zunehmend ausgegrenzt wurde, aber ob und in welchem Ausmaß eine ,Entsexualisierung' oder Entkörperlichung der Geschlechterkommunikation stattfand, wissen wir nicht genau zu sagen. 23 Etwas deutlicher wird das Bild dort, wo der Körper als obrigkeitliches Objekt der Strafe und Disziplinierung fungierte oder mit dem bekleideten Körper Klaus SchreinerlGerd Schwerhof{ (Hrsg.), Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. (Norm und Struktur, Bd. 5.) Köln/Weimarl Wien 1995; Sibylle BackmanniHans-Jörg KünastlSabine UllmannlB. Ann Tlusty (Hrsg.), Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit. Identitäten und Abgrenzungen. (Colloquia Augustana, Bd. 8.) Berlin 1998. 21 Siehe Andreas BlauertlGerd Schwerhof{(Hrsg.), Mit den Waffen der Justiz. Zur Kriminalitätsgeschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1993. 22 VgL Martin Dinges, Die Ehre als Thema der Stadtgeschichte. Eine Semantik im Übergang vom Ancien Regime zur Modeme, in: ZHF 16,1989,409-440. 23 Vgl. die differenzierten, aber auch widersprüchlichen Befunde bei Michael Maurer, Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1650-1850). (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 127.) Göttingen 1996, 244ff., 547-555, und Anne-Charlott Trepp, Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwischen 1770 und 1840. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 123.) Göttingen 1996,53-70, 80ff. Die These von der Sexualisierung der Geschlechterbeziehungen im 16. und 17. Jahrhundert bei Susanna Burghartz, Zeiten der Reinheit. Orte der Unzucht. Ehe und Sexualität in Basel während der Frühen Neuzeit. PaderbomlMünchen 1999, 126ff., 290f. 20
sozialer Status demonstriert wurde. Hier wie dort wird in Extremformen sichtbar, daß man den Körper als Ort und Zeichen personaler Identität erfuhr. In bei den Fällen läßt sich aber auch nachvollziehen, wie der Körper aus dieser Funktion nach und nach heraustrat. Schandstrafen gerieten in die Kritik der Aufklärung, und die Strafjustiz verzichtete - wenn auch nur sehr langsam nach und nach auf die Vernichtung und Verstümmelung des hingerichteten Leibes. 24 Mit dem Ende der Folter wurde der Körper auch nicht mehr gegen das Bewußtsein als Geisel genommen. 25 Der bekleidete Körper war ebenfalls zunächst Objekt der Verrechtlichung und Reglementierung, bis die normierte Zeichenhaftigkeit des bekleideten ständischen Körpers seit dem Ende des 17. Jahrhunderts sich in das offene und auf ideosynkratische Differenzbildung angelegte Zeichensystem der Mode transformierte. 26 Als Zeichenträger blieb der Körper gleichwohl von Bedeutung. Nur informierte er fortan nicht mehr über zugeteilte Statuspositionen, sondern über den Stand der individuellen Bemühungen, sich in einer Welt perspektivischer Vielfalt als autonomes Subjekt zu positionieren. Mit welcher Gewalt diese Aufgabe den Körper angreift, zeigt eine Gegenwart, in der Mode sich nicht mehr allein auf Kleidung bezieht, sondern den chirurgischen Eingriff am Körper nahelegt. 27 Zum nur langsamen Wandel der Hinrichtungspraktiken vgl. Richard van Dülmen, Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit. München 1985, 140-144, 172-179; ebenso Karl Wegert, Popular Culture, Crime and Socia] Control in 18th Century Württemberg. (Studien zur Geschichte des Alltags, Bd. 5.) Stuttgart 1994, 104f., 118 ff. Generell zur Zurichtung des menschlichen Körpers in der vormodernen Strafpraxis vgl. Wolfgang Schild, Verstümmelung des menschlichen Körpers. Zur Bedeutung der Glieder und Organe des Menschen, in: Richard van Dülmen (Hrsg.), Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500-2000. Wien/Köln/Weimar 1998, 261-281; Richard J. Evans, Rituale der Vergeltung. Die Todesstrafe in der deutschen Geschichte. 1532-1987. Berlin 2001, bes. 121-146, 259-266. Einen entscheidenden Punkt erreichte die Diskussion um das Verhältnis von Körper und SeelelBewußtsein in der Auseinandersetzung um die Hinrichtung durch die Guillotine; vgl. Kerstin Rehwinkel, Kopflos, aber lebendig? Konkurrierende Körperkonzepte in der Debatte um den Tod durch Enthauptung im ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Clemens WischerrnanniStefan Haas (Hrsg.), Körper mit Geschichte. Der menschliche Körper als Ort der Selbst- und Weltdeutung. (Studien zur Geschichte des Alltags, Bd. 17.) Stuttgart 2000, 151-171. Zur aufgeklärten Kritik an den Schandstrafen siehe Richard van Dülmen, Frauen vor Gericht. Kindsmord in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1991, 98-108; Markus Meumann, Findelkinder, Waisenhäuser, Kindsmord. Unversorgte Kinder in der frühneuzeitlichen Gesellschaft. (Ancien regime, Aufklärung und Revolution, Bd. 29.) München 1995, 72-95, 240-257; siehe auch Evans, Rituale der Vergeltung (wie Anm. 24), 157-181. 25 Alois Hahn, Kann der Körper ehrlich sein?, in: Hans Ulrich GumbrechtiKarl Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Materialität der Kommunikation. Frankfurt am Main 1988,666-679, hier 676ff. 26 Martin Dinges, "Von der Lesbarkeit der Welt" zum universalen Wandel durch individuelle Strategie. Die soziale Funktion der Kleidung in der höfischen Gesellschaft, in: Saeculum 44, 1993,90-112. 27 V gl. hierzu Elisabeth Beck-Gernsheim, Körperindustrie und Gentechnologie, in: van Dülmen (Hrsg.), Erfindung des Menschen (wie Anm. 24), 579-596.
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Im 18. Jahrhundert scheint es überhaupt schwierig geworden zu sein, das Selbst als unzerteilte Person zu markieren. Als Schnittpunkt individueller und sozialer Identität, in den sich sozialer Status wie soziale Marginalisierung einschreiben ließen, verlor das Kommunikationsmedium Körper zunehmend seine Funktionalität. Es behielt seine Bedeutung in personenbezogener Kommunikation, für die es den Sonderraum der Geselligkeit, der Familie und die intimisierte Liebes- oder Freundschaftsbeziehung mit spezialisierten und normierten Formen der Interaktionskommunikation gab. Auch dort erfuhr der Körper eine erneute Aufwertung. Seine natürlichen und ungezwungenen Reaktionen wurden zu Zeichen der Aufrichtigkeit und Authentizität. 28 Die emphatische Liebe des 18. Jahrhunderts teilte sich in stürmischer und ungezwungener Körperlichkeit mit, wie Stefan Haas in seinem Beitrag hervorhebt. Je genauer allerdings solche Sonderrefugien der körperbestimmten Kommunikation definiert und abgegrenzt wurden, desto weniger war ,Gesellschaft' von diesen Körper-Räumen aus zu erreichen. 2. Seine Bedeutung scheint der Körper als Kommunikationsmedium dem ersten Augenschein nach fast durchgehend dort behalten zu haben, wo soziale Strukturzusammenhänge sich in Interaktionsgemeinschaften reproduzierten und Vergesellschaftung sich daher als interaktionsnahe Gruppenbildung vollzog. In ihren Selbstbeschreibungen hielt die frühneuzeitliche Gesellschaft zäh an dieser Vorstellung fest, und Stefan Haas formuliert die These, daß sich auch im körperbezogenen Eheritual der Mythos einer über Verwandtschaft zusammengehaltenen Gesellschaft als Familiengemeinschaft aufspüren lasse. Besonders auffällig ist die mediale Bedeutung des Körpers natürlich im Bereich der Religion. Die katholische Barockreligiosität brachte Wallfahrt und Prozessionswesen zu ungekannter Blüte. 29 Der medial präsente Märtyrerkörper begann im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts eine neue, nicht vorhersehbare Karriere. Nicht nur im Jesuitenorden übernahmen die geschundenen Körper der Missionare und Glaubensopfer, die in auswuchernden Bildprogrammen die barocken Heiligenhimmel der Kirchen und voluminöse Druckwerke bevölkerten, einen Gutteil der ideellen und institutionellen Integration. 3o Im Protestantismus stellte sich schnell heraus, daß die Predigt allein 28 Zur daraus sich ergebenden neuen Bedrohlichkeit des Körpers vgl. Rebekka Habermds, Die Ehre des Fleisches. Entführungen und Verführungen im 18. Jahrhundert: Der Fall Marie Salome von Rheineck, in: Richard van Dülmen (Hrsg.), Körper-Geschichten. Studien zur historischen Kulturforschung V. Frankfurt am Main 1996, 122-149. 29 Zum Beispiel Werner Freitag, Volks- und Elitenfrömmigkeit in der frühen Neuzeit. Marienwallfahrten im Fürstbistum Münster. (Veröffentlichungen des Provinzialinstituts für westfälische Landes- und Volksforschung, Bd. 29.) Paderborn 1991. Allgemein Ronnie Po-chia Hsia, Gegenreformation. Die Welt der katholischen Erneuerung 1540-1770. Frankfurt am Main 2000, 165-229. 30 Peter Burschel, Männliche Tode - weibliche Tode. Zur Anthropologie des Martyriums in der frühen Neuzeit, in: Saeculum 50, 1999, 75-97; ders., Paradiese der Gewalt. Marty-
nicht hinreichte, um den Glaubensvollzug als Gemeinschaftserlebnis zu kommunizieren. Sie war aus gemeindlicher Perspektive ja zunächst auch auf Wahrnehmung und nicht auf Kommunikation angelegt. Die Feier des Abendmahls und die sinnlich spür- und erfahrbare Gemeinschaft im Kirchengesang wurden daher prägend für das protestantische Kirthenleben. 31 Noch enger am Körper vollzog sich die Gemeinschaftsbildung religiöser Sondergruppen. Der radikale Pietismus entwickelte hier viel und zum Teil bizarre Phantasie32 , wie man weiß. Die besondere Bedeutung von körperbezogener Gemeinschaftsbildung mag damit zusammenhängen, daß der fragile Erfahrungsraum, den das Transzendente aufspannte, einer sinnlich nachvollziehbaren Vergewisserung im interaktiv präsenten Körper und der ritualisierten Körpergemeinschaft bedurfte. Deswegen ist die entscheidende Frage hier wie in anderen Fällen, wie sich das Verhältnis solcher körperbezogenen Interaktionsgemeinschaften zu anderen Formen sozialer Strukturbildung auf Dauer entwickelte. Für Religion läßt sich auf Schleiermacher verweisen. Er hielt den Gebildeten unter den Religionsverächtern nachdrücklich vor, daß die fromme Erfahrung der Unendlichkeit ohne die expressive Ritualgemeinschaft nicht zu haben sei, und gestand damit ein, daß - wenigstens in der Religion der Gebildeten - andere Medien den Körper und damit wohl auch die Interaktionskommunikation merklich aus dem Vollzug von Religion und ihrer sozialen Konstitution verdrängt hatten. 33 In den Städten der Frühen Neuzeit finden sich vergleichbare Hinweise. Es ist bekannt, daß allgemeine Schwörtage, an denen sich die städtische Bürgergemeinschaft als Kollektiv in physischer Präsenz konstituierte, das 17. Jahrhundert oft nicht überlebten. 34 Allerdings blieb die politische Kultur der Stadt
bis ans Ende des 18. Jahrhunderts durch Interaktion bestimmt. Es ist noch nicht erforscht, wie die auch in der Stadt nachvollzogene Ausdifferenzierung funktionsbezogener Sozialzusammenhänge und der durch sie motivierte Ausbau formaler Organisation auf die Körperlichkeit der Interaktion zurückwirkten. Die Satiren Jean Pauls und Christoph Martin Wielands wie überhaupt die ,Folklorisierung' städtischer Politik im Blick der Aufklärung lassen aber vermuten, daß körperbezogene Kommunikation und ihre Rituale in der Stadt gegen Ende des 18. Jahrhunderts ebenfalls an strukturbildender Bedeutung verloren hatten. 35 Neue Sozialzusammenhänge, wie etwa die moderne Wissenschaft, die in der Frühen Neuzeit entstanden, verbanden von vornherein Interaktion mit medienvermittelter Kommunikation, die Zeit und Raum übergriff, und zogen aus deren Expansion dann die eigene Entwicklungsdynamik. Die Aufklärungsgesellschaften, die Akademien des 17. und 18. Jahrhunderts und die universitäre Wissenschaft zeigen alle zusammen, daß sich die Produktion von neuem Wissen vorwiegend in Briefkorrespondenzen und Druckmedien vollzog, während Interaktionskommunikation auf die Lehre spezialisiert und für eine besondere Form wissenschaftlicher Geselligkeit normiert wurde. 36 3. Das führt zum dritten Punkt: Die Ausdifferenzierung der "großen Funktionssysteme" wie Recht, Wirtschaft oder auch Politik in Gestalt staatlicher Herrschaft im Verlauf der Frühen Neuzeit setzte offenkundig fast immer bei körperbezogener Kommunikation an. Das ergab sich aus der Bedeutung von Interaktion für Aufbau und Stabilisierung von formal organisierten Sozialzusammenhängen. Organisation aber war unabdingbar, um funktionale Bezüge gegen Hierarchie als Differenzierungsprinzip durchzusetzen, und sie stärkte die Operationsfähigkeit hierarchischer wie funktionaler Sozialzusammenhänge in ungekanntem Ausmaß.37 Organisation vollzieht sich zwar oft als
rium, Imagination und die Metamorphosen des nachtridentinischen Heiligenhimmels, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2001, 139-181. 31 Allgemein hierzu Paul Graff, Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschlands. Bd. 1: Bis zum Eintritt der Aufklärung und des Rationalismus. Göttingen 1937; Patrice Veit, Das Gesangbuch in der Praxis Pietatis der Lutheraner, in: Hans Christoph Rublack (Hrsg.), Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte. (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, Bd. 197.) Heidelberg 1992, 435-454; Hans Preuss, Die Geschichte der Abendmahlsfrömmigkeit in Zeugnissen und Berichten. Gütersloh 1949, 103-180. 32 Barbara Hoffinann, Radikalpietismus um 1700. Der Streit um das Recht auf eine neue Gesellschaft. Frankfurt am Main 1996, bes. 98-136; Hans Schneider, Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert, in: Martin Brecht/Klaus Deppermann (Hrsg.), Geschichte des Pie~ tismus. Bd. 2: Der Pietismus im 18. Jahrhundert. Göttingen 1995, 107-197, bes. 133-135. 33 Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799). Hrsg. v. Günter Meckenstock. BerlinlNew York 1999,134-160. 34 V gl. Paolo Prodi, Das Sakrament der Herrschaft. Der politische Eid in der Verfassungsgeschichte des Okzidents. (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in
Trient, Bd. 11.) Berlin 1997, 183ff.; Andre Holenstein, Die Huldigung der Untertanen. Rechtskultur und Herrschaftsordnung (800-1800). StuttgartlNew York 1991, 244 ff. 35 Christoph Martin Wie land, Geschichte der Abderiten. (Sämtliche Werke, Bd. 19/20.) Leipzig 1796, Ndr. Nördlingen 1984; Jean Paul, Blumen-, Frucht- und Domenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des armen Advokaten F. St. Siebenkäs. (Sämtliche Werke, hrsg. von Norbert Miller, Abt. 1, Bd.2.) MünchenlWien 1996. Vgl. auch Urs Hafner, Republik im Konflikt. Schwäbische Reichsstädte und bürgerliche Politik in der Frühen. Neuzeit. (Oberschwaben - Geschichte und Kultur, Bd. 8.) Tübingen 2001,244-259. 36 Klaus Garber (Hrsg.), Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition. Die europäischen Akademien der Frühen Neuzeit zwischen Frührenaissance und Spätaufklärung. Bd. 1-2. Tübingen 1996; zur Universität vgl. den Überblick vonArno Seifert, Das höhere Schulwesen. Universitäten und Gymnasien, in: Notker Hammerstein (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd.1: 15. bis 17. Jahrhundert. Von der Renaissance und der Reformation bis zum Ende der Glaubenskämpfe. München 1996, 197-374. 37 V gl. Uwe Schimank, Funktionale Differenzierung, Durchorganisierung und Integration der modemen Gesellschaft, in: Veronika Tacke (Hrsg.), Organisation und gesellschaftliche Differenzierung. Wiesbaden 2001, 19-37.
Interaktion, geht aber nie in ihr auf. Wo sie sich auf sie einläßt, muß sie Interaktion entsprechend konditionieren. 38 Das betraf dann auch den Körper als Medium der Interaktionskommunikation. Er übernahm eine Starterfunktion, trat in der weiteren Systemintegration aber immer mehr in den Hintergrund und wurde unter Umständen sogar zu einem kommunikativen Unsicherheitsoder Störfaktor, gegen den man sich zu schützen suchte. So argumentiert Mark Hengerer in seinem Beitrag. Spätestens mit der Entwicklung eines europaweit vernetzten Bank- und Kreditwesens wurden körpervermittelte Informationen in der Kommunikation der Wirtschaft zu einer Nebensache39 , wenngleich der wirtschaftliche Gesamtzusammenhang bis ans Ende des Ancien Regime nicht verleugnen konnte, daß er auf Herrschaft beruhte, die an der Person und damit auch am Körper ansetzte. Religion vollzog sich in der körpervermittelten Gemeinschaftsbildung, wie wir sahen, aber im Kern des religiösen Kommunikationsgeschehens, in der Kommunikation mit Gott, verlor der Körper nachdrücklich an Bedeutung. Die gesamte protestantische Theologie und Frömmigkeitspraxis sind von dieser Entwicklung geprägt. Im römischen Christentum behielt der Körper als Kommunikationsmedium zwischen Gott und den Menschen im Wunderglauben ein Refugium. 40 Schon seit den Reformen des 16. Jahrhunderts war aber klar, daß gerade diese Körperlichkeit der Gotteskommunikation für die Kirche als formale Organisation ein Problem darstellte, und sie etablierte deswegen ein immer strengeres Regime der Normierung und Kontrolle, mit der die körpervermittelte (Privat-)Offenbarung und Gotteserfahrung soweit eingedämmt werden konnte, daß organisationsgefährdender Wildwuchs nicht mehr zu befürchten war. 41 Am klarsten läßt sich diese Entwicklung aber im Bereich staatlicher Herrschaft nachvollziehen. Herrschaft vermittelte sich am und durch den Körper, insofern sie auf Gewaltanwendung nie verzichten konnte. Macht verlangte als Herrschergewalt immer noch nach Anwesenheit. Auch die Verdichtung von Herrschaft zur Staatlichkeit setzte aufkörpervermittelte Interaktion. Der ältere Begriff des ,Personenverbandsstaates ' brachte dies sprechend auf den Punkt. Sehr viel länger und mit größerer Konsequenz als in den anderen Funktionssystemen wurde dieser Entwicklungspfad hier allerdings auch nach 1500 noch
Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden (wie Anm. 8), 335-387. Markus A. Denzel, La practica della Cambiatura. Europäischer Zahlungsverkehr vom 14. bis zum 17. Jahrhundert. Stuttgart 1994. W Rebekka Habermas, Wallfahrt und Aufruhr. Zur Geschichte des Wunderglaubens in der frühen Neuzeit. (Historische Studien, Bd. 5.) Frankfurt am Main/New York 1991,21-102. B Vgl. Rudolf Schlögt, Sünderin, Heilige oder Hausfrau? Katholische Kirche und weibliche Frömmigkeit um 1800, in: Irmtraud Götz von Olenhusen (Hrsg.), Wunderbare Er~cheinungen. Frauen und katholische Frömmigkeit im 19. und 20. Jahrhundert. Paderbornl \1ünchenlWien/Zürich 1995, 13-50, hier 40-43.
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fortgeführt. In den seit dem 15. Jahrhundert sich formierenden europäischen Höfen fand die sich festigende Staatlichkeit samt der mit ihr verbundenen Adelsgesellschaft einen Kern, dessen Ausdifferenzierung fast ausschließlich über Anwesenheit und Interaktionskommunikation lief. 42 Man kann von einem gigantischen Testlauf gesellschaftlicher Evolution sprechen, in dem geprüft wurde, wieviel gesellschaftliche Komplexität sich über körpervermittelte Interaktion ausdifferenzieren und koordinieren ließ und wie Interaktionskommunikation dann gestaltet werden mußte. Arlinghaus zeigt in der Entwicklung des städtischen Rechts, daß auch dort der Körper zunächst die Last trug, funktionsbestimmte Sonderräume von Kommunikation abzugrenzen. Erst am Ende des 16. Jahrhunderts verließ man sich nicht mehr ausschließlich auf eine ritualisierte, körperbezogene Situationsdefinition, sondern ergänzte sie durch eine architektonisch markierte Rahmung der Situation. Vergleichbares ereignet sich in der Entwicklung der europäischen Höfe. Wir kennen die Ergebnisse dieser Versuchs anordnung: Nicht nur Kommunikation wurde einer zunehmend genaueren und sich verrechtlichenden Reglementierung ausgesetzt, auch der Körper mußte einem harten Regime der Disziplin unterworfen werden, damit er unter diesen Bedingungen noch als Medium der Kommunikation taugte. Die Fragilität der Konstellation schlug sich nieder in einem anschwellenden Diskurs über die Kommunikation des Hofes, in dem sich eine fein ziselierte Theorie der Körperkommunikation entfaltet - samt aller denkbaren Aspekte der indirekten Kommunikation, der Dissimulation, der simulierenden Täuschung und der trotz allem nicht zu verhindernden ,Lesbarkeit' des Körpers. 43 Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts kam die Leistungsfähigkeit der Interaktionskommunikation in den funktional bestimmten und organisatorisch ausgeformten Sozialbezügen von Herrschaft und Politik an ihre Grenzen. Die Zeremonialwissenschaft im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts reflektierte dann bereits, daß sich die Struktur der Gesellschaft in einer Ordnung der Körper nicht mehr abbilden ließ.44 Soviel Staat war mit körpergebundener Interaktion dann doch nicht zu machen. Politik hatte gelernt, sich zu organisieren, und sie hatte sich in Behörden zurückgezogen. Dort aber wurde durch die 42 Eine Zusammenfassung der Forschung im europäischen Überblick findet sich bei lohn Adamson (Ed.), The Princely Courts of Europe. Ritual, Politics and Culture under the Ancien Regime. London 1999. Ein kommunikationstheoretischer Vorschlag findet sich bei Rudolf Schlögl, Der frühneuzeitliche Hof als Kommunikationsraum. Interaktionstheoretische Perspektiven der Forschung, in: Frank Becker (Hrsg.), Geschichte und Systemtheorie. Exemplarische Fallstudien. Frankfurt am Main 2004, 185-225. 43 Neben der in Anm. 18 genannten Arbeit von Ursula Geitner vgl. Manfred Beetz, Frühmoderne Höflichkeit. Komplementierkunst und Gesellschaftsrituale im altdeutschen Sprachraum. Stuttgart 1990. 44 Milos Vec, Zeremonialwissenschaft im Fürstenstaat. Studien zur juristischen und politischen Theorie absolutistischer Herrschaftsrepräsentation. Frankfurt am Main 1998.
strenge Ordnung der Entscheidungsverfahren und durch deren zunehmende Verschriftlichung dafür Sorge getragen, daß der Körper als Medium der Kommunikation sich nicht mehr in den Vordergrund spielte, sondern die Rede und das sachkompetente Argument im kollegialen Entscheidungsgremium dorninierten. 45
Abkürzung sverzeichni S Abt. AHR AJSoc ARG Bd., Bde. Beih. BlldtLG CEH ders. dies. DVjs Ed., Eds. FBPG FMSt GG GWU HA HJ HJb Hrsg. JAmH
Ib. JbHistF JEcc1H Jg. JModH JSocH MIÖG
Vgl. hierzu Mark Hengerer, Kaiserhof und Adel in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Eine Kommunikationsgeschichte der Macht in der Vormoderne. (Historische Kulturwissenschaft, Bd. 3.) Konstanz 2004.
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P&P Rh. RhVjbll Sero SZG T., Tle. TRHS Vols., Vols.
Abteilung The American Historical Review American Journal of Sociology Archiv für Reformationsgeschichte Band, Bände Beiheft Blätter für deutsche Landesgeschichte Central European History derselbe dieselbe, dieselben Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Editor, Editors Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte Frühmittelalterliche Studien Geschichte und Gesellschaft Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Historische Anthropologie The Historical Journal Historisches Jahrbuch Heraus geber Journal of American History Jahrbuch Jahrbuch der historischen Forschung Journal of Ecc1esiastical History Jahrgang The Journal of Modem History Journal of Social History Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung Past and Present Reihe Rheinische Vierteljahrsblätter Serie, Series Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Teil, Teile Transactions of the Royal Historical Society Volume, Volumes
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Abbildungsverzeichnis Beitrag Dte Schneider Abb. 1 (S. 65): Thomas Garzonus, Piazza Vniversale. Titelblatt des Exemplars der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main, Sign.: QI6/69.
Beitrag Holger Böning Abb. 1 (S. 114): "Relation aus dem Parnasso" (Titelblatt). Institut für Deutsche Presseforschung der Universität Bremen. Abb. 2 (S. 120): "Historische Remarques" (Titelblatt). Institut für Deutsche Presseforschung der Universität Bremen. Abb. 3 (S. 123): "Relationes Curiosae" (Titelblatt). Institut für Deutsche Presseforschung der Universität Bremen.
Beitrag Wemer Freitag Abb. 1 (S. 155): Votant und Marienbildnis. Votivgabe aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Marienwallfahrt Telgte. Katholische Kirchengemeinde S1. Clemens, TeIgte.
Beitrag Christopher R. Friedrichs Abb. 1 (S. 160): Das Augsburger Rathaus. Ausschnitt aus dem Kupferschnitt von Heinrich lonas Ostertag, 1711. Staats- und Stadtbibliothek Augsburg. Abb. 2 (S. 169): Pieter de Hooch, Die Ratsstube der Bürgermeister im Rathaus zu Arnsterdam. Ölgemälde um 1664/66. © Museo Thyssen-Bomemisza, Madrid. Abb. 3 (S. 170): Hans von Hemßen, Der Audienzsaal im Lübecker Rathaus. Ölgemälde, 1625. Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Hansestadt Lübeck. Abb. 4 (S. 171): Eine Sitzung des Collegios in der Sala deI Collegio im Dogenpalast zu Venedig gegen Ende des 17. Jahrhunderts, von einem unbekannten Maler. Museo Civico Correr, Venedig.
Beitrag Dagmar Freist Abb. 1 (S. 204): Henry Peacham, The World Is Ruled & Govemed by Opinion. Radierung Parthey's Wen Hollar, 1641. British Museum, Department of Prints and Drawings, 272. Abb. 2 (S. 207): Zeitungsverkäuferin in London. Flugblatt Ende des 17. Jahrhunderts. Bodleian Library, Oxford, Douce Collection Portfolio 139, n. 250. Abb.3 (S. 223): lohn Taylor, A Swarme of Sectaries and Schismatiqves, 1641 (Titelblatt) ... British Library, London, BL E.158.1.
Beitrag Martin Stuber Abb. 1 (S.314): Emanuel Handmann, Wilhelm August von Holstein-Gottorp (17531774),1769. Schloß Hindelbank. Abb. 2 (S. 320): Hennan Boerhaave, Sermo Academicus De Comparando Certo in Physicis, 1715 (Titelblatt). Abb. 3 (S.327): Georg Daniel Heumann, Göttinger Studenten-Stube, Kupferstich um 1750. Niedersächsisches Staatsarehiv.
Graphik 1 (S. 318): Hallers früher Briefwechsel 1724-1741: Orte der Kontaktaufnahme.
Autorenverzeichnis
Karte 1 (S. 317): Hallers Lehr- und Wanderjahre (1723-1728). Karte 2 (S. 321): Hallers Briefwechsel mit Boerhaave Schülern (1725-1777). Karte 3 (S. 323): Hallers Briefwechsel mit Paris (1736-1777). Karte 4 (S. 325): Hallers Briefwechsel mit seine~' Schülern (1732-1777). Karte 5 (S. 331): Haller als Vermittler von Stellen.
Beitrag Jöm Sieglerschmidt Abb. 1 (S. 456): Rodolphe Toepffer, Die beständigen Züge (Zeichnung), 1845. Aus: Ernst H. Gombrich, Maske und Gesicht. Die Wahrnehmung physiognomischer Ähnlichkeit im Leben und in der Kunst, in: ders./Julian HochberglMax Black (Hrsg.), Kunst, Wahrnehmung, Wirklichkeit. Frankfurt am Main 1977, 10-60, hier 34.
Beitrag Franz-Josef Arlinghaus Abb. 1 (S. 478): Miniatur aus der Volkacher Halsgerichtsordnung von 1504. Aus: Wolfgang Schild (Hrsg.), Die Volkacher Halsgerichtsordnung von 1504. Rothenburg ob der Tauber 1997, 19. Abb. 2 (S. 486): Titelholzschnitt "Neu Formular und Kanzleibuch", Frankfurt 1571. Aus: Franz Heinemann, Der Richter und die Rechtspflege in der deutschen Vergangenheit. 2. Aufl. Jena 1924, 12 Abb. 8. Abb. 3 (S. 489): Titelkupfer der Gerichtsordnung der Grafschaft Nassau von 1535. Aus: Franz Heinemann, Der Richter und die Rechtspflege in der deutschen Vergangenheit. 2. Aufl. Jena 1924, 53 Abb. 50.
Beitrag Mark Hengerer Abb. 1 (S. 546): Cartoon von Oswald Huber, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. 1. 2001.
Dr. Franz-Josef Arlinghaus, Universität Kassel, Fachbereich 05: Gesellschaftswissenschaften, Nora-Platiel-Str. 1, 34109 Kassel Prof. Dr. Wolfgang Behringer, Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit, Universität des Saarlandes, Postfach 15 11 50,66041 Saarbrücken Prof. Dr. Holger Böning, Institut für Deutsche Presseforschung, Universität Bremen, Postfach 33 01 60,28359 Bremen Prof. Dr. Johannes Burkhardt, Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit, Universität Augsburg, Universitäts straße 10, 86135 Augsburg Prof. Dr. Sabine Doering-Manteuffel, Europäische Ethnologie/Volkskunde, Universität Augsburg, Universitäts straße 10, 86135 Augsburg Prof. Dr. Wemer Faulstich, Institut für Angewandte Medienforschung, Universität Lüneburg, 21332 Lüneburg Prof. Dr. Dagmar Freist, Fakultät IV, Institut für Geschichte, Universität 01denburg, 26111 Oldenburg Prof. Dr. Wemer Freitag, Historisches Seminar, Abteilung für Westfälische Landesgeschichte, Universität Münster, Domplatz 20-22, 48143 Münster Prof. Dr. Christopher R. Friedrichs, Department of History, University of British Columbia, 1297 - 1873 East Mall, Vancouver, BC, Canada V6T lZI Prof. Dr. Stephan Füssel, Institut für Buchwissenschaft, Philosophicum, Universität Mainz, Welderweg 18, 55099 Mainz Prof. Dr. Gudrun Gersmann, Historisches Seminar, Universität zu Köln, Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln Prof. Dr. Michael Giesecke, Lehrstuhl für Vergleichende Literaturwissenschaft, Universität Erfurt, Postfach 307, 99006 Erfurt Prof. Dr. Stefan Haas, Department of Germanic Languages and Literatures, University ofToronto, 50 StJoseph Street, Toronto Ontario M5S 114, Canada Prof. Dr. Mark Häberlein, Lehrstuhl für Neuere Geschichte, Universität Bamberg, Fischstraße 5/7, 96045 Bamberg Dr. Maria Heidegger, Fronhausen 436, A-6414 Mieming Dr. Dietmar Heil, Greftingerstraße 7, 93055 Regensburg Dr. Mark Hengerer, FB Geschichte und Soziologie, Universität Konstanz, Fach D 5, 78457 Konstanz Dr. ChristI Kamehm, Rosa-Aschenbrenner-Bogen 11, 80797 München Prof. Dr. Maximilian Lanzinner, Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit, Universität Bonn, Konviktstraße 11, 53113 Bonn
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Autorenverzeichnis
Dr. Franz Mauelshagen, Historisches Seminar, Universität Zürich, KarlSchmid-Straße 4, CH-8006 Zürich Prof. Dr. Michael North, Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte der Neuzeit, Universität Greifswald, Domstraße 9a, ~7 489 Greifswald Dr. Regina Pörtner, University of Wales Swansea, History Department, James Callaghan Building, Singleton Park, UK-Swansea SA2 8PP Prof. Dr. Rudolf Schlögl, Lehrstuhl für Neuere Geschichte, Universität Konstanz, Fach D 5, 78457 Konstanz PD Dr. Ute Schneider, Institut für Buchwissenschaft, Philosophicum, Universität Mainz, Weiderweg 18, 55099 Mainz Prof. Dr. Winfried Schulze, Historisches Seminar, Abt. Frühe Neuzeit, Ludwig-Maximilians-Universität, Geschwister-Scholl-Platz 1, 80539 München Prof. Dr. Gerd Schwerhoff, Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit, Technische Universität Dresden, Heimholtzstraße 10,01069 Dresden PD Dr. Jöm Sieg1erschmidt, Hainstraße 20, 67435 Neustadt Dr. Martin Stuber, Historisches Institut, Universität Bern, Länggassstraße 49, CH-3000 Bern 9 Prof. Dr. Silvia Serena Tschopp, Lehrstuhl für Europäische Kulturgeschichte, Universität Augsburg, Universitäts straße 10, 86135 Augsburg Dr. Christine Werkstetter, Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit, Universität Augsburg, Universitätsstraße 10, 86135 Augsburg