Roger Blum · Heinz Bonfadelli · Kurt Imhof · Otfried Jarren (Hrsg.) Krise der Leuchttürme öffentlicher Kommunikation
Mediensymposium
Vorwort der Herausgeber Die klassischen Medien sind in die Krise geraten: Sie verlieren an Aufmerksamkeit, Reichweite und Ressourcen. Es ist offen, ob sie ihre tragende und prägende Rolle auch in Zukunft werden spielen können. Uns interessiert hier insbesondere das Schicksal der Qualitätsmedien, also jener Medien, die sich in besonderer Weise dem öffentlichen Diskurs in der demokratischen Gesellschaft widmen. Es sind Medien, denen Reputation zugeschrieben wird. Es sind Medien, die meinungsbildend wirken und als Leitmedien gelten. Es sind Medien, die man als Leuchttürme der öffentlichen Kommunikation bezeichnen kann. Werden diese Leuchttürme weiter Orientierung bieten? Oder werden ihre Lichter schwächer, ja gar erlöschen? Das vorliegende Buch definiert, was man unter Qualitätsmedien verstehen kann und analysiert deren Rolle. Es untersucht die Ökonomie der Qualitätsmedien, ihr Leistungsvermögen und ihr Publikum. Mit welchen Geschäftsmodellen können Qualitätsmedien überleben? Was bieten sie dem Publikum? Und wer ist nach wie vor auf die regelmässige Nutzung von Qualitätsmedien angewiesen? 24 Autorinnen und Autoren aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, allesamt in der Kommunikations- und Medienwissenschaft tätig, nähern sich dem Thema mit unterschiedlichen Fragestellungen, unterschiedlichen Methoden und unterschiedlichen Lösungsvorschlägen an. Sie sehen durchaus eine Zukunft für die Qualitätsmedien. Das Buch ist der elfte Band des Mediensymposiums, das von 1994 bis 2006 jeweils in Luzern stattfand und seit 2008 in Zürich durchgeführt wird. Gleich wie diese alle zwei Jahre stattfindende Veranstaltung will die damit verbundene Buchreihe Analysen zu den Bedingungen und Formen von Öffentlichkeit, öffentlicher Kommunikation und sozialem Wandel anbieten. Der nächste Band der Reihe trägt den Titel „Stratifizierte und segmentierte Öffentlichkeit – stratifizierte und segmentierte Aufmerksamkeit?“ und wird im Herbst 2012 erscheinen. Roger Blum | Heinz Bonfadelli | Kurt Imhof | Otfried Jarren, Dezember 2010
Roger Blum · Heinz Bonfadelli Kurt Imhof · Otfried Jarren (Hrsg.)
Krise der Leuchttürme öffentlicher Kommunikation Vergangenheit und Zukunft der Qualitätsmedien
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Die Reihe "Mediensymposium" setzt die Reihe "Mediensymposium Luzern" fort.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag fur Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch VS Verlag fur Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17972-8
Inhalt
Roger Blum Einleitung Leidende Leuchttürme. Über die Unentbehrlichkeit von Qualitätsmedien ............................ 7
1. Was sind Qualitätsmedien? Otfried Jarren und Martina Vogel „Leitmedien“ als Qualitätsmedien: Theoretisches Konzept und Indikatoren ....................... 17 Vinzenz Wyss Narration freilegen: Zur Konsequenz der Mehrsystemrelevanz als Leitdifferenz des Qualitätsjournalismus .................................................................................................... 31 Bernd Blöbaum Wandel von Qualitätsmedien ............................................................................................... 49 Patrick Rössler, Juliane Kirchner und Sonja Kretzschmar Qualitätsmedien auf dem Weg in die digitale Zukunft. Programmangebote von deutschsprachigen Informationssendern im Vergleich......................................................... 65
2. Die Ökonomie der Qualitätsmedien Stephan Russ-Mohl Newspaper Death Watch. Der amerikanische Journalismus als existenzgefährdetes Ökosystem ............................................................................................................................ 81 Melanie Magin und Birgit Stark Österreich – Land ohne Leuchttürme? Qualitätszeitungen im Spannungsfeld zwischen publizistischer Leistung und strukturellen Zwängen ............................................ 97 Andreas Vlaši Zwischen Public Service und der Suche nach neuen Geschäftsmodellen: Die Zukunft der Qualitätszeitungen im Netz...................................................................... 115
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Inhalt
3. Qualitätsmedien als Akteure Esther Kamber und Kurt Imhof Qualitätsmedien sind Wissensvernittler ............................................................................. 131 Linards Udris und Jens Lucht Qualitäsmedien in Pressesystemen. Wandel der Medienstrukturen gleich Wandel der Medieninhalte? ............................................................................................................. 151 Christine Landmeier und Gregor Daschmann Im Seichten kann man nicht ertrinken? Boulevardisierung in der überregionalen deutschen Qualitätspresse .................................................................................................. 177
4. Das Publikum der Qualitätsmedien Olaf Jandura und Hans-Bernd Brosius Wer liest sie (noch)? Das Publikum der Qualitätszeitungen .............................................. 195 Michael Meyen und Olaf Jandura Das Publikum der Qualitätsmedien. Eine repräsentative Studie zur Reichweite, sozialer Verortung und Nutzungsmotiven .......................................................................... 207 Lars Rinsdorf Vom Zugewinn der Marken: Potenziale überregionaler Qualitätszeitungen auf dem Nutzermarkt und ihre Voraussetzungen ............................................................... 221 Michael Schenk und Frank Mangold Entscheider, Meinungsführer und Qualitätsmedien – Die Bedeutung der Qualitätspresse für Entscheidungsträger in Wirtschaft und Gesellschaft .......................................................................................... 239
Herausgeber und AutorInnen ............................................................................................. 255
Einleitung Leidende Leuchttürme. Über die Unentbehrlichkeit von Qualitätsmedien Roger Blum Am 16. Juni 2008 weihte Uno-Generalsekretär Ban Ki Moon in London einen Leuchtturm für die freie Information ein. Die zehn Meter hohe Glasskulptur steht auf dem Dach des BBC-Hauptquartiers und ist nachts dezent beleuchtet. Jeweils während der Zehn-UhrAbendnachrichten schiesst zusätzlich ein 900 Meter hoher Laserstrahl in die Höhe. Die Lichtsäule erinnert an die Journalisten, die bei der Ausübung ihres Berufes ums Leben gekommen sind. Es handelt sich um einen Leuchtturm gegen die Gewalt, um einen Leuchtturm für die Pressefreiheit. Unsere Zeit kennt verschiedenartige Leuchttürme – ursprüngliche, symbolische und übertragene. Die ursprünglichen Leuchttürme stehen an der Meeresküste und bieten mit ihrem Leuchtfeuer den Schiffen Navigationshilfe und Orientierung. Sie sind Merkpunkte und Vertrauensposten bei Nebel und Sturm, ihnen gilt die Liebe vieler Menschen zu Land und zu Wasser. Sie erfüllen eine Leitfunktion. Die symbolischen Leuchttürme übernehmen – wie der an die toten Journalisten erinnernde in London – eine Denk- und Mahnmal-Funktion, oder sie spiegeln die jeweilige Zivilisation und Kultur. In den Metropolen der nördlichen Industrieländer, in New York, London, Berlin oder Tokyo, leuchten nachts die nervös wechselnden, überdimensionierten digitalen Werbespots und Werbeschriften an den Hochhäusern. Es sind Leuchttürme des Kommerz und des Kapitalismus. In den Zentren der islamischen Welt, in Kairo, Isfahan, Sanaa oder Damaskus, bieten nach der Abenddämmerung die grün erleuchteten Minarette Merk- und Fixpunkte. Es sind Leuchttürme des Glaubens und des Propheten. Und im übertragenen Sinn bezeichnen wir alle Institutionen als Leuchttürme, die besonders herausragen und besonders ausstrahlen. Das können Spitzenuniversitäten, überragende Kultureinrichtungen oder überdurchschnittlich anerkannte Medien sein. Wenn wir die Leuchttürme öffentlicher Kommunikation ansprechen, dann meinen wir Medien, die herausragen und ausstrahlen und denen eine Leitfunktion zukommt: BBC und ARD, „France 2“ und ORF, die „New York Times“ und das „Wall Street Journal“, „The Guardian“ und „The Times“, „Le Monde“ und „Le Figaro“, „Corriere della sera“ und „La Repubblica“, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und die „Süddeutsche Zeitung“, „Der Standard“ und „Die Presse“, die „Neue Zürcher Zeitung“ und der „Tages-Anzeiger“, „Die Zeit“ und „Der Spiegel“ sowie viele weitere Medien dieser und anderer Länder und dieser und anderer Medientypen. Wir bezeichnen diese herausragenden Medien als Qualitätsmedien. Wir behaupten, dass sie eine Krise durchmachen, dass die Leuchttürme leiden, und wir wollen ergründen, welche Funktionen sie früher erfüllt haben und welche sie in der Zukunft noch erfüllen können. Als Marcel Reich-Ranicki anlässlich der Verleihung des Deutschen Fernsehpreises den für ihn vorgesehenen Ehrenpreis ablehnte und stattdessen über den im Fernsehen geR. Blum et al. (Hrsg.), Krise der Leuchttürme öffentlicher Kommunikation, DOI 10.1007/978-3-531-93084-8_1, © VS Verlag fur Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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zeigten „Blödsinn“ schimpfte und lediglich „Arte“ davon ausnahm, beschied er im Grunde genommen den Qualitätsmedien, keine Qualität zu haben. Zwar stellte sich bald heraus, dass er vom Fernsehen wenig Ahnung hat, weil er immer nur vom Bildschirm auf das Publikum geguckt hat, aber kaum je vom Publikum auf den Bildschirm. Trotzdem: Die Debatte über die Qualität der Qualitätsmedien war lanciert: Wie kann man überhaupt von Qualitätsmedien sprechen, wenn ihnen die Qualität abgesprochen wird? Was macht Qualitätsmedien zu Qualitätsmedien? Wenn wir bestimmten Medien eine Qualität zubilligen, die wir andern absprechen, dann fällen wir ein normatives, ja moralisches Urteil. Verschiedene Autoren, so etwa Neil Postman (1988, 1990, 1993), früherer amerikanischer Professor für Medienökologie, die Autorin Marie Winn (1984), die Sprachwissenschaftlerin Bettina Hurrelmann (1989) oder der Neurowissenschaftler Manfred Spitzer (2006), ziehen den Trennungsstrich zwischen den Medientypen: Druckmedien, die Lesen voraussetzen, gelten ihnen als anspruchsvoll und seriös, Fernsehen taxieren sie als grässlich oder zumindest als problematisch. Neil Postman sagte: „Wer immer nur fernsieht und nie liest, erhält mit der Zeit ein Gehirn wie der frühere amerikanische Vizepräsident Dan Quayle.“1 Andere Autoren wiederum schreiben dem Publikum je nach Bildungsstand und sozialer Privilegierung die Eigenschaft zu, souverän mit den Medien umzugehen oder ihnen ausgeliefert zu sein. Der Schweizer Soziologe Alfred Willener schrieb bereits 1982 in seinem Buch „Notre bain quotidien“ (Unser tägliches Bad): „Nous sommes tous, mais à des degrés divers, immergés dans les eaux des media. Certains d’entre nous sont de bons nageurs, beaucoup d’autres sont plus ou moins près de se noyer, à moins que ce soit déja fait. Cette eau est dangereuse ; elle est à la fois raffraîchissante et polluée; elle est de moins en moins contenue, comme dans une piscine – elle devient raz de marée, innondation envahissante, on perd de pied» (Willener 1982 :7)2. Willener war in seinem Minderheitsbericht zur Arbeit der Kommission für die Schweizer Mediengesamtkonzeption der Meinung, dass diejenigen Menschen, die die Medien besonders für ihre Information und Bildung nötig hätten, am übelsten von ihnen traktiert werden, zumal diese durch die Medien die armseligsten Botschaften empfingen und am leichtesten in deren Abhängigkeit gerieten, so dass die am wenigsten Informierten und Gebildeten immer dümmer, die sehr gut Informierten und Gebildeten aber immer klüger würden. Ginge es nach Willener, müssten gesellschaftliche Disparitäten ausgeglichen werden, damit alle die Qualitäten der Medien erkennen und sie nutzen können. Was also macht Qualitätsmedien zu Qualitätsmedien? Es sind spezifische Eigenschaften, die sowohl für die Qualitätspresse wie für die öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernsehanstalten gelten. Es sind Eigenschaften, die sich hauptsächlich aus dem Vergleich herauskristallisierten. Denn Qualitätspresse zu definieren war stets nur möglich, wenn sie sich abheben und abgrenzen konnte von der Boulevardpresse, der Schmutzpresse, den Revolverblättern. Als James Gordon Bennett 1835 mit dem „New York Herald“ ein Blatt auf dem Markt brachte, das einen ganz anderen, einen populären und aggressiven Journalismus betrieb, da wurde die „New York Evening Post“ im Vergleich zum gediegenen, seriösen, qualitativ hochstehenden Blatt. Als hingegen Joseph Pulitzer 70 Jahre später mit der „New 1
Referat beim BZ-Lokaljournalismus-Preis 1993 in Bern „Wir befinden uns alle, allerdings unterschiedlich tief, im Wasserteich der Medien. Die einen sind gute Schwimmer, viele andere sind hingegen mehr oder weniger nahe daran abzusaufen, wenn es nicht schon geschehen ist. Das Wasser ist gefährlich, denn es ist gleichzeitig erfrischend und vergiftet; es ist immer weniger gebändigt wie in einem Schwimmbecken – es wird zu einer Sturmflut, zu einer unausweichlichen Überschwemmung, man verliert den Boden.“ 2
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York World“ auf geradezu primitive und vor allem emotionale Weise die Massen ansprach, da erstrahlte der „New York Herald“ als Qualitätsblatt. 1893, als die Stadt Zürich die Vororte eingemeindete, lancierte der deutsche Verleger Wilhelm Girardet in dieser Stadt den „Tages-Anzeiger“, eine Zeitung für das Volk und die Familie, unpolitisch, der Unterhaltung verpflichtet, billig, ein Kontrastprogramm zur seriösen und hochpolitischen, weil stramm dem schweizerischen Freisinn verpflichteten „Neuen Zürcher Zeitung“. 70 Jahre später aber, kurz nachdem der Ringier-Verlag die Boulevardzeitung „Blick“ lanciert hatte, wandelte sich der „Tages-Anzeiger“ zum journalistisch vorbildlichen, politisch linksliberalen, publizistisch unabhängigen Qualitätsblatt (Blum 1993) Die Begriffe „Qualitätsmedien“, „Qualitätspresse“, „quality press“ oder „quality paper“ werden allerdings selten definiert, wenn sie in der wissenschaftlichen Forschung gebraucht werden. Beatrice Dernbach (1990) beispielsweise begründet in ihrer Untersuchung zur „DDR-Berichterstattung in bundesdeutschen Qualitätszeitungen“ nicht, warum ihrer Meinung nach die „Süddeutsche Zeitung“ und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ Qualitätszeitungen sind. Sie vermerkt lediglich, dass sie Zeitungen ausgewählt habe, die durch eigene Korrespondenten in Ostberlin vertreten seien, denn „sie sind nicht ausschliesslich auf Agenturmaterial über aktuelle Ereignisse angewiesen, sondern verfügen auch über Hintergrundberichte und Analysen ihrer Korrespondenten“ (S. 20). Auch Martin Kött (1999), der über „Goldhagen in der Qualitätspresse“ gearbeitet hat, unternimmt eine Inhaltsanalyse in den fünf überregionalen Tageszeitungen FAZ, „Süddeutsche Zeitung“, „Frankfurter Rundschau“, taz und „Neue Zürcher Zeitung“, die, wie er schreibt, zur „sogenannten ‚Qualitätspresse’„ zählen, begründet aber nicht, warum. Johannes Raabe beschreibt die „Qualitätspresse“ im Lexikon Kommunikationswissenschaft als überregionale, national verbreitete Abonnementspresse oder als Regionalpresse mit nationalem Anspruch (Bentele, Brosius, Jarren 2006: 236). Und Stephan Russ-Mohl weist in „The International Encyclopedia of Communication“ darauf hin, dass es einen stillschweigenden Konsens gebe, wonach die Qualitätspresse 1. sich an die Intelligentsia richte, also an die Eliten und Entscheidungsträger eines Landes, 2. eher national als regional verbreitet sei3 und 3. Nachrichten und Hintergründe breit und gründlich vermittle. Er fügt als weitere Kriterien jene von Johannes Raabe hinzu, wonach Qualitätszeitungen oft international mit andern Qualitätsblättern zusammenarbeiten, vielfach lokale oder regionale Splitausgaben für verschiedene grosse Städte produzieren sowie dem Publikum ein journalistisch reiches Menu liefern und den Werbern eine attraktive Zielgruppe (Russ-Mohl 2008: 4064-4066). Wenn wir ein quality paper gegen ein popular paper abgrenzen (und dies gilt gleichermassen für den Vergleich zwischen quality broadcast und popular broadcast), dann können wir weitere Elemente hinzufügen, die sich stark auf die Organisation der Redaktionen und auf die Medieninhalte beziehen:
Das quality paper ist geprägt durch eine starke Spezialisierung der Redaktion. Die einzelnen Mitglieder erwerben sich Kompetenzen und Kenntnisse, die durchaus denen eines Universitätsprofessors entsprechen. Zur Spezialisierung gehört auch das grosse
3 Die überregionale und damit nationale Verbreitung stimmt beispielsweise weitgehend für Deutschland und Frankreich, aber eher nicht für die USA, Italien, Österreich und die Schweiz. Die „Los Angeles Times“, die „Chicago Tribune“, „The Bosten Globe“, „Il Messagero“, die „Salzburger Nachrichten“, „Der Bund“ (Bern) oder „Le Temps“ (Genf) sollten doch wohl auch als Qualitätszeitungen gelten können.
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Roger Blum inländische und ausländische Korrespondentennetz. Das popular paper hingegen arbeitet eher mit Generalisten. Das quality paper geht mit einem generell-abstrakten Ansatz an die Themen heran. Es betrachtet de Welt von oben und orientiert sich an Institutionen und ihren Ritualen und Entscheiden. Es berücksichtigt Parlamentssessionen, diplomatische Konferenzen, Aktionärsversammlungen und Filmfestivals. Das popular paper hingegen verwendet einen individuell-konkreten Ansatz. Es betrachtet die Welt von unten, aus dem Blickwinkel der einzelnen Prominenten sowie des betroffenen Individuums mit seinen Alltagssorgen. Das quality paper gibt den klassischen Themenbereichen Politik, Wirtschaft, Kultur, und Gesellschaft Priorität und konzentriert sich darauf, die Fakten zu referieren, zu interpretieren und zu kommentieren. Das popular paper hingegen verschafft den Themenbereichen People, Sex, Crime, Katastrophen, Sport und Alltag mehr Gewicht, und neigt dazu, die Fakten zu skandalisieren und zu emotionalisieren.
Weil sich Qualitätsmedien mit ihrem Fachwissen, ihren hohen Ansprüchen an die Vorkenntnisse des Publikums und ihren klassischen Schwerpunkten eher an die Eliten und die Entscheidungsträger wenden, finden ihre Analysen Eingang in viele Dossiers und werden auch zitiert – in Bulletins der Banken, in amtlichen Publikationen, in Stellungnahmen von Parteien, Gewerkschaften und Kirchen, in wissenschaftlichen Schriften, auf Websites und in Blogs, in aktuellen Printmedien. Dies alles macht sie zu Leitmedien. Otfried Jarren und Martina Vogel beschreiben es so: „Leitmedien besitzen also vor allem dann ein grosses Wirkungspotenzial, weil und wenn sie die Eliten in Politik, Wirtschaft und Kultur erreichen und dadurch Entscheidungen mit weit reichenden Konsequenzen beeinflussen können oder könnten: Was die führenden Medien aufgreifen, wird auch zum Thema der zuständigen Eliten. Leitmedien sind hier als Meinungsführermedien anzusehen“ (Jarren/ Vogel 2009: 75). Sie erhalten eine Leitfunktion für andere Medien, die sich thematisch nach ihnen richten und sie zitieren. Und sie erhalten eine erhöhte Reputation bei den Eliten und den Entscheidungsträgern. Sie sind gemeinwohlorientiert, denn sie beschäftigen sich mit Themen, die ihnen zwar Reputation und Glaubwürdigkeit verschaffen, aber nicht unbedingt Massenauflagen und hohe Einschaltquoten. Sie leisten – freiwillig oder einem Auftrag entsprechend – einen Service public, einen öffentlichen Dienst. Sie sind deshalb – in einem aufklärerischen Sinn – eminent politische Medien. Damit können wir die Beschreibung der Qualitätsmedien auch mit einer Theorie unterlegen, nämlich mit dem Sozialverantwortungsmodell aus „Four Theories of the Press“ (Siebert/ Peterson/ Schramm 1956). Theodore Peterson formulierte 1956 diese „Social Responsibilty Theory of the Press“, die sich vom liberalen Modell abgrenzt: Weil die Freiheit mit Verantwortung gepaart ist, müssen die Medien Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft übernehmen und die Funktionen, die sie für das politische System, für das ökonomische System, für die Aufklärung und für die Unterhaltung des Publikums erfüllen, mit ethischen Grundsätzen paaren. Die Grundlage für diese Theorie stammte von der amerikanischen Commission on Freedom of the Press unter der Leitung von Robert M. Hutchins, die ihre Berichte 1947 vorgelegt hatte. Und was die Kommission forderte und Peterson in eine Theorie goss, differenzierte dann Denis McQuail aus in seinem Werk „Media Performance. Mass Communication and the Public Interest“ (McQuail 1992).
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Es ist erstaunlich, wie lange die Qualitätsmedien diese soziale Verantwortung erfüllt und einen Service public geleistet haben, und durchaus mit wirtschaftlichem Erfolg. Doch inzwischen bricht das alles weg. „Le Monde“ und „Libération“ befinden sich in einer eklatanten Krise, die BBC musste umbauen, die NZZ musste abbauen, die RAI hat sich schon längst, um sich über Wasser zu halten, den Berlusconi-Kanälen angepasst, und die „Times“ und der „Daily Telegraph“ sind kaum wiederzuerkennen. „Die sogenannte Qualitätspresse hat schwere Zeiten hinter sich und vor sich“, sagte der Journalist Tom Schimmeck in Berlin am „Freischreiber“-Gründungskongress. Die Zeitungen würden immer kleiner, knapper und schlechter, fuhr er fort, es gebe keine Verleger mehr, sondern nur noch Erbsenzähler, und die Inseln beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk würden immer seltener. Die Qualitätsmedien sind in der Tat enorm unter Druck geraten, weil sie mit einem anspruchsvollen, aber nicht zahlungswilligen Publikum konfrontiert sind, mit schwankenden Werbeeinahmen, mit harter Konkurrenz durch neue Medien, mit selektiveren Nutzungsgewohnheiten der Menschen und mit schwindenden Reichweiten. Damit beginnt sich eine Spirale zu drehen: Je mehr die Qualitätsmedien wegen fehlender Ressourcen auf Qualität verzichten müssen, umso mehr enttäuschen sie die Erwartungen ihres Publikums. Und je mehr ihnen das Publikum davonläuft, umso weniger Ressourcen sind ihnen sicher. Es fragt sich daher, ob der Markt Qualitätsmedien auf Dauer finanzieren kann, ob der Staat – wie von Jürgen Habermas angeregt (Habermas 2007) – einspringen muss oder ob Stiftungen die Basis bilden sollen. Jedenfalls braucht die Demokratie zwingend Medien als Bestandesträger, wie es Ulrich Saxer einmal nannte. Und die Demokratie braucht Medien, die einen Service public leisten, die in ihrer Ausrichtung gemeinwohlorientiert sind. Diesen Service public finden wir am ehesten bei den Qualitätsmedien vor, und daraus lässt sich ableiten, dass diese unentbehrlich, unverzichtbar sind für die Demokratie. Zu dem eingeforderten Service public gehört eine umfassende Parlamentsberichterstattung, die leider auch in den Qualitätsmedien immer rarer wird und die selbst in „Le Monde“, in der „Times“ und in der „Neuen Zürcher Zeitung“ nur noch ein Abglanz früherer Zeiten ist. Zu dem Service public gehört eine intensive Beobachtung von Parteien, Verbänden und sozialen Bewegungen, zählt eine Wahlberichterstattung, die sich nicht nur um politics, sondern auch um policy und polity kümmert, zählt eine vertiefende Berichterstattung über Volksentscheide. Und zu einem solchen Service public gehört die kritische Begleitung der Regierung, die investigative Recherche beim Verdacht auf dunkle Geschäfte, die sorgfältige Analyse neuer Phänomene, die kompetente Kommentierung. Die Leuchttürme leiden. Sie sind teilweise baufällig geworden. Sie müssen repariert werden. Wir kümmern uns in diesem Buch um ihre Vergangenheit und um ihre Zukunft. Wir fragen, was eigentlich die Leuchttürme in der Form von Qualitätsmedien ausmacht und welches ihr Publikum ist. Wir analysieren, wie es um die ökonomischen Rahmenbedingungen bestellt ist und welche Rolle die Qualitätsmedien in der Gesellschaft spielen. Wir überlegen, wie die Leuchttürme funktionstüchtig gemacht werden können für das ganze 21. Jahrhundert. Und wir ergründen, ob der öffentliche demokratische Diskurs, die politische Partizipation der Bürgerinnen und Bürger lebendig bliebe ohne sie. Im ersten Teil steht die Frage zur Debatte, was eigentlich Qualitätsmedien sind. Otfried Jarren und Martina Vogel nehmen sich jenem Teil der Qualitätsmedien an, die sie als Leitmedien bezeichnen und die sich von den übrigen Qualitätsmedien dadurch unterschei-
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den, als sie permanent Position beziehen und sich so in Meinungs- und Willensbildungsprozesse einbringen. Leitmedien sind nach Jarren und Vogel universelle Medien, sie informieren und orientieren also über alle gesamtgesellschaftlich relevanten Themen; es sind exponierte Medien, die Leistungen erbringen; es sind Organisationen mit einer normativ publizistischen Linie. Die beiden Autoren schlagen Indikatoren vor, mit denen man Leitmedien empirisch analysieren kann. Vinzenz Wyss definiert Qualitätsmedien über die journalistische Qualität und schlägt die Leitdifferenz des Journalismus als archimedischen Punkt vor. Journalismus der Qualitätsmedien müsse in der Lage sein, als Meta-Narrationen in Anschlag gebrachte Geltungsansprüche freizulegen. Qualitätsmedien unterstützten ihre Publika, Meta-Narrationen zu erkennen, wenn sie über gesellschaftliche Vorgänge berichten. Mit dem Wandel von Qualitätsmedien beschäftigt sich Bernd Blöbaum, der feststellt, dass sich Qualitätsmedien in Deutschland zwischen 1990 und 2005 in ihrer Berichterstattung ausdifferenziert haben. Sie sind breiter geworden. Die einzelnen Medien entwickeln eine je eigene Dynamik. Blöbaum kommt zum Schluss, dass die in seiner Studie vorliegenden Befunde keine Hinweise dafür liefern, dass die Qualitätsmedien ihre gesellschaftliche Leistung nicht mehr erfüllen. Patrick Rössler, Juliane Kirchner und Sonja Kretzschmar belegen durch eine empirische Studie, in der sie das Angebot des Infokanals „EinsExtra“ untersuchen, dass sich die Zuschauer im crossmedialen Zeitalter nicht mehr nur an einem, sondern an vielen Leuchttürmen orientieren. Was letztlich Qualitätsmedien sind, ist daher laufend der Veränderung unterworfen. Im zweiten Teil wendet sich der Band der Ökonomie der Qualitätsmedien zu. Stephan Russ-Mohl zeigt auf, wie schlimm es um die amerikanische Presse steht, wie die Auflagen und die Anzeigen wegbrechen und wie Public Relations den Journalismus unterlaufen. Der seriöse Journalismus drohe zu verschwinden, konstatiert Russ-Mohl. Melanie Magin und Birgit Stark beschäftigen sich mit den Qualitätszeitungen im österreichischen Pressemarkt, indem sie die publizistische Leistung von Printmedien in Österreich und Deutschland vergleichen. Dabei ergeben sich Defizite im Vergleich zu den deutschen Blättern. Denn die publizistische Leistung der österreichischen Qualitätszeitungen wird durch starke wettbewerbsverzerrende Effekte beeinträchtigt, so dass nicht die Krise, sondern die Absenz von Qualitätsmedien debattiert wird. Andreas Vlasic wiederum wendet sich der Zukunft der Qualitätszeitungen im Netz zu. Er stellt die These auf, dass die Qualitätszeitungen nur Leuchttürme bleiben können, wenn sie dem Publikum Nutzen bringen, und zeigt auf, dass erfolgreiche Geschäftsmodelle für die Finanzierung der Online-Angebote noch nicht gefunden wurden. Der dritte Teil des Buches gilt den Qualitätsmedien als Akteuren. Esther Kamber und Kurt Imhof stellen sich die Aufgabe, nachzuweisen, dass Qualitätsmedien Wissensvermittler sind. Sie untersuchen bei Deutschschweizer Printmedien die Qualitätsdimensionen der Universalität, der Relevanz und der Selbstreflexivität und stellen seit 1960 einen gestiegenen Umfang des redaktionellen Angebots bei gleichzeitiger Differenzierung in Ressorts fest. Das Prestige der Qualitätsmedien wird durch eine Auswahl aus vielfältigen und relevanten Wissensgebieten gerechtfertigt. Linards Udris und Jens Lucht gehen der Frage nach, inwiefern der Wandel der Medienstrukturen Auswirkungen auf die Medieninhalte hat. Sie kommen aufgrund einer Inhaltsanalyse zum Ergebnis, dass die Qualitätsmedien in Grossbritannien, Frankreich, Deutschland, Österreich und der Schweiz einigermassen strukturre-
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sistent sind. Unter Druck geraten ist indessen der Typus der Forumspresse. Christine Landmeier und Gregor Daschmann untersuchen die Boulevardisierung in der überregionalen deutschen Qualitätspresse. Das empirische Beispiel bildet die „Frankfurter Allgemeine“, bei der in einem Vierteljahrhundert die Visualisierung zunimmt, die Dominanz der harten Themen aber erhalten bleibt. Als Fazit ergibt sich, dass die Qualitätspresse vom Phänomem der Boulevardisierung nicht erfasst wird. Im vierten Teil richtet sich der Fokus auf das Publikum der Qualitätsmedien. Olaf Jandura und Hans-Bernd Brosius fragen, wer eigentlich Qualitätszeitungen noch liest. Ihre empirische Untersuchung ergab, dass die Zuwendung zu Qualitätszeitungen am stärksten durch Bildung und Einkommen bestimmt wird. Es dominieren Oberschicht und Mittelschicht. Dieses Publikum nutzt auch im Bereich der Zeitschriften und des Fernsehens vor allem informations- und kulturorientierte Angebote. Beim Qualitätszeitungs-Publikum zeigt sich im zeitlichen Längsschnitt eine stärkere Konzentration auf die Elite und auf Ältere. Ausserdem hat die Leitmedienfunktion abgenommen. Michael Meyen und Olaf Jandura stützen sich bei ihrer Analyse des Publikums auf Bourdieus Habitus-Kapital-Theorie und gelangen dann zu einer Publikumstypologie mit neun Typen. Dabei zeigen die Daten, dass die Kritiker, die Profis, die Bildungsbürger, die Ehrgeizigen, die Pflichtbewussten und die Wählerischen Qualitätsmedien nutzen, während die Konsumenten, die Genügsamen und die Medienverweigerer dies nicht tun. Lars Rinsdorf wiederum identifiziert in seinem Beitrag ermutigende Signale: Im Lesermarkt konnten sich die Qualitätszeitungen deutlich besser behaupten als die anderen Zeitungstypen. Die überregionalen Titel Deutschlands konnten ihre Markenstärke bewahren. Allerdings ist ein starker Umbruch im Gang, der sich im sinkenden Interesse an politischen Themen, in der Spaltung in Intensiv- und Gelegenheitsnutzer und im Bedeutungsschwund permanenter aktueller Information manifestiert. Die Qualitätsmedien haben indes die Chance, mit einer klaren Markenstrategie im publizistischen und ökonomischen Wettbewerb zu bestehen. Michael Schenk und Frank Mangold schliesslich untersuchen die Bedeutung der Qualitätsmedien für Entscheidungsträger in Wirtschaft und Gesellschaft. Entscheider nutzen vorrangig Qualitätsmedien, weil sie über Kompetenz verfügen, sich mit Wissen ausrüsten wollen und weil sie im Medium eine emotionale „Heimat“ suchen. Ihr Vertrauen in die Leuchttürme ist ungebrochen gross.
Literatur Bentele, Günter/ Brosius, Hans-Bernd/ Jarren, Otfried (Hrsg., 2006): Lexikon Kommunikationswissenschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften Blum, Roger (1993): Gesellschaftswandel und Medienwandel um 1893, in: Catrina, Werner/ Blum, Roger/ Lienhard, Toni (Hrsg.): Medien zwischen Geld und Geist. 100 Jahre Tages-Anzeiger. Zürich: Werd Verlag, S. 189-197. Dernbach, Beatrice (1990): DDR-Berichterstattung in bundesdeutschen Qualitätszeitungen. Eine empirische Untersuchung (= Kommunikationswissenschaftliche Studien, Bd.9). Nürnberg: Habermas. Jürgen (2007): Keine Demokratie kann sich das leisten. In: „Süddeutsche Zeitung“ vom 16. Mai 2007. Hurrelmann, Bettina (1989) : Fernsehen in der Familie. Auswirkungen der Programmerweiterung auf den Mediengebrauch. Weinheim/ München: Juvena. Jarren, Otfried/ Vogel, Martina (2009): Gesellschaftliche Selbstbeobachtung und Koorientierung. Die Leitmedien der modernen Gesellschaft. In : Müller, Daniel/ Lingensa, Annemone/ Gendolla, Pe-
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ter (Hrsg.): Leitmedien. Konzepte – Relevanz – Geschichte, Bielefeld: transcript-Verlag, Bd. 1, S. 71-92. Kött, Martin (1999): Goldagen in der Qualitätspresse. Eine Debatte über „Kollektivschuld“ und „Nationalcharakter“ der Deutschen. Konstanz: UVK. McQuail, Denis (1992): Media Performance. Mass Communication and the Public Interest. London: Sage. Müller, Daniel/ Lingensa, Annemone/ Gendolla, Peter (Hrsg. 2009): Leitmedien. Konzepte – Relevanz – Geschichte. 2 Bd., Bielefeld: transcript-Verlag. Postman, Neil (1988): Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag; Postman, Neil (1990): Das Verschwinden der Kindheit. Frankfurt a.M. : Fischer Taschenbuch Verlag; Postman, Neil (1993): Das Technopol. Die Macht der Technologien und die Entmündigung der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag. Russ-Mohl, Stephan (2008): Quality Press, in: Donsbach, Wolfgang (ed.): The International Encyclopedia of Communication, Vol. IX, Oxford and Malden MA: Wiley-Blackwell, p. 40644066. Siebert, Fred S. / Peterson, Theodore / Schramm, Wilbur (1956): Four Theories of the Press. Urbania: University of Illinois. Spitzer, Manfred (2006): Vorsicht Bildschirm! Elektronische Medien, Gehrinentwicklung, Gesundheit und Gesellschaft. München: dtv. Willener, Alfred (1982): Notre bain quotidien. Les media en Suisse, livre, presse, ciné, radio, télé. Lausanne : Institut de science politique. Winn, Marie (1984): Die Droge im Wohnzimmer. Für die kindliche Psyche ist Fernsehen Gift. Es gibt nur ein Gegenmittel: Abschalten! Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
1. Was sind Qualitätsmedien?
„Leitmedien“ als Qualitätsmedien. Theoretisches Konzept und Indikatoren1 Otfried Jarren und Martina Vogel Im Zentrum dieses Beitrages steht die Frage, anhand welcher Indikatoren Leitmedien als Qualitätsmedien bestimmt werden können. Ziel ist es, ausgehend von einem theoretischen Konzept zu Leitmedien, Indikatoren für die empirische Bestimmung und Analyse von Leitmedien zu entwickeln. Die Argumentation ist dabei wie folgt aufgebaut: Zuerst werden die bislang in der Forschung vertretenen Leitmedienkonzepte vorgestellt und kritisch diskutiert, bevor der eigene Ansatz ausgeführt und begründet wird. Leitmedien werden in unserem Verständnis als Teil der Massen- und Qualitätsmedien, bzw. als organisationales Feld innerhalb der Medienöffentlichkeit als Ebene innerhalb der Öffentlichkeitsstruktur moderner, differenzierter Gesellschaften begriffen. Es werden sodann Charakteristika, Leistungen und Funktionen von Leitmedien erörtert. Abschließend wird darauf aufbauend ein Vorschlag zur empirischen Analyse unterbreitet
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Das Konzept „Leitmedien“ im wissenschaftlichen Diskurs
Wie Roger Blum in seinem einleitenden Beitrag in diesem Band ausführt, werden im Rahmen unterschiedlichster Studien immer wieder Qualitätszeitungen inhaltsanalytisch untersucht, jedoch ohne Begründung, weshalb gerade diese Blätter zur Qualitätspresse – oder zu den Leitmedien – zählen. Dabei lautet die Frage stets: Was macht Medien zu Qualitätsmedien? Das „Problem“ beginnt jedoch schon früher, denn wie kann „Qualität“ definiert werden? Es soll an dieser Stelle keine Wiederholung der bisher geleisteten Begriffsarbeit erfolgen, denn diese Debatte wurde bereits häufig geführt. Die Aussagen „den Pudding an die Wand nageln“ (Ruß-Mohl 1992: 85) oder „identifying the undefinable“ (Leggatt 1991) illustrieren die mit dem Begriff „Qualität“ verbundenen Schwierigkeiten. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff des Leitmediums. Auch hier existiert keine allgemein anerkannte Definition, jedoch wurden immer wieder Versuche unternommen, das Phänomen Leitmedium in verschiedenen Kontexten zu erfassen, zu beschreiben und zu erklären. Insgesamt lassen sich in der sozial- und vor allem kommunikationswissenschaftlichen Literatur fünf Ansätze ausmachen, die im Folgenden kurz ausgeführt und diskutiert werden sollen. 1.1 Bezugnahme auf historische Phasen In der Literatur findet man diverse Versuche, das Konzept der Leitmedien unter Zuhilfenahme einer Einteilung in historische Phasen zu fassen. So rekurriert beispielsweise Göttlich auf gesellschaftlich-historische Entwicklungsetappen und bezeichnet ein Leitmedium als spezifisches, dominierendes Einzelmedium in einer bestimmten historischen Phase, dem eine Hauptfunktion in der Konstitution gesellschaftlicher Kommunikation und von Öffent1
Vgl. dazu auch den Beitrag von Jarren/Vogel 2009.
R. Blum et al. (Hrsg.), Krise der Leuchttürme öffentlicher Kommunikation, DOI 10.1007/978-3-531-93084-8_2, © VS Verlag fur Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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lichkeit zukommt (vgl. Göttlich 2002: 194). Eine gebräuchliche Einteilung in historische Epochen nennt folgende Leitmedien: Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit war die Flugschrift das führende Leitmedium, abgelöst durch das Buch im 15. Jahrhundert (vgl. McLuhan 1962). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts übernahm dann der Hörfunk eine die Gesellschaft anleitende Funktion, später begann gemäß Castells das „Informationszeitalter“ und das Fernsehen wurde zum zentralen Leitmedium (vgl. Castells 2004). Um die Jahrtausendwende wurde dann auch das Fernsehen abgelöst und gegenwärtig ist immer wieder zu lesen, dass das Internet zu dem Leitmedium schlechthin geworden ist bzw. noch werde (vgl. u.a. Plake/Jansen/Schuhmacher 2001; Schmidt/Rössler 2000). Seethaler/Melischek legte kürzlich überzeugend dar, dass auch gewisse soziale Epochen, so Krisenzeiten, als Ausgangspunkt für die Bestimmung von Leitmedien und dem Wandel von Leitmeiden sein können (vgl. Seethaler/Melischek 2009). Offensichtlich ändert sich die Vorstellung darüber, was das führende Leitmedium ist, immer dann, wenn neue Medientechniken oder -technologien populär werden und die Gesamtgesellschaft national oder sogar global durchdringen. Dies kann auch aktuell beobachtet werden, wenn auf der Internet abgehoben wird, so nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit der vermeintlichen publizistischen Relevanz eines „Web 2.0“ (vgl. dazu die Beiträge in Müller/Ligensa/Gendolla 2009). 1.2 Bezugnahme auf soziale Gruppen Leitmedien werden zudem unter Bezugnahme auf bestimmte soziale Gruppen, für die sie stehen oder sie sozial anzuleiten vermögen, verortet. Dabei geht es zumeist um den Einfluss, die bestimmte Medien auf ein bestimmtes soziales Publikum haben. Wilke versteht unter „Leitmedien“ jene Massenmedien, denen gesellschaftlich eine anleitende Funktion zukommt und denen zudem Einfluss auf die Gesellschaft und andere Medien zugeschrieben wird (vgl. Wilke 1999: 302). Er nennt verschiedene charakteristische Merkmale von Leitmedien, unter anderem auch jenes der Bezugnahme auf bestimmte soziale Gruppen bzw. Zielgruppen. Leitmedien, so Wilke, würden sich durch eine spezifische Struktur ihres Publikums auszeichnen, so würden sie vor allem von Entscheidungsträgern und von Angehörigen der Elite genutzt (Wilke 1999: 302). Wilke hat diese Sichtweise jüngst in einem neueren Beitrag erweitert und durch den Einbezug verschiedener Medien und ihrer Interaktionen im historischen Prozesse dynamisiert (vgl. dazu Wilke 2009). Im Hinblick auf die Elitenorientierung werden häufig zudem Begriffe wie „Prestigemedien“ oder „Qualitätsmedien“ – oder bezogen auf Printmedien: „Elitepresse“ – synonym zum Begriff des Leitmediums verwendet. Merrill (1968) beispielweise verwendet die Begriffe „Qualitätspresse“ und „Elitepresse“ synonym. Auch er schreibt, dass ein Kriterium die primäre Zielgruppe von Qualitätszeitungen „a well-educated, intellectual readership“ ist, und dass diese Zeitungen dazu beitragen, Meinungsführer zu orientieren und auch zu beeinflussen (vgl. Merrill 1968: 31). Merrill ordnet die Elitepresse hierarchisch an und entwickelt ein Weltzeitungssystem. 1.3 Bezugnahme auf die soziale Vermittlungsstruktur In der kommunikationswissenschaftlichen Literatur wird im Zusammenhang mit Leitmedien zudem auch auf die soziale Vermittlungsstruktur, in der bestimmte Medien oder Medi-
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engruppen verortet werden können, Bezug genommen. Damit ist gemeint, dass Leitmedien aufgrund ihrer jeweiligen (zentralen) sozialen Stellung als Intermediäre in der Gesellschaft spezifische Vermittlungs- und Anschlusskommunikation ermöglichen. Von zentraler Bedeutung ist in diesem Kontext das so genannte „Inter-Media-AgendaSetting“, d.h. die Frage, ob und inwieweit sich die Medien in ihrer Berichterstattung wechselseitig wahrnehmen und beeinflussen. In einem Mediensystem sind gemäß Mathes/Czaplicki (1993) spezifische Medien als „Vorreiter“, „Mitläufer“ und „Nachzügler“ auszumachen, wobei Leitmedien die Vorreiter-Rolle einnehmen. Diese Medien werden von den in „Folgemedien“ tätigen Journalisten besonders beachtet und es werden Themen sowie Deutungen aus ihnen übernommen. Reinemann (2003) kann in seiner Studie empirisch zeigen, dass es auch innerhalb des Journalismus eine entsprechende Beobachtungsstruktur gibt. Mathes/Pfetsch haben diesen Effekt am Beispiel von „Alternativmedien“ beobachtet und sie sprechen in diesem Kontext von Spill-over-Effekten von der Alternativ- zur Elitepresse und einer sogenannten „Media Opinion Leadership“. Kepplinger hat im Hinblick auf die soziale Vermittlungsstruktur wie -leistung von Medien und unter Bezugnahme auf die politische Berichterstattung die Unterscheidung zwischen „Prestigemedien“ und „Populärmedien“ eingeführt (vgl. Kepplinger 1998). Die Populärmedien sind in dieser Systematik stärker auf Unterhaltung ausgerichtet, während die Prestigemedien im Kontext politischer Kommunikationsprozesse eine zentrale Position innehaben. Grund dafür ist, dass sie sowohl andere Medien – insbesondere eben auch Populärmedien, die sich thematisch an ihnen orientieren –, als auch Eliten aus Politik, Wirtschaft und Kultur und somit wesentliche Teile der Öffentlichkeit erreichen. Eine ähnliche Unterscheidung machen auch Jarren/Donges mit der Differenzierung zwischen „Leitmedien“ und „Folgemedien“ (vgl. Jarren/Donges 1996 und 2006). Diese wechselseitige Beobachtung von Medien und Medieninhalten findet dabei auf unterschiedlichen Ebenen statt: auf der Ebene des Mediensystem, auf der Ebene der einzelnen Redaktion und auf der Ebene der Journalisten. 1.4 Bezugnahme auf bestimmte Vermittler Der Bezug auf bestimmte Vermittler ist im Kontext von Leitmedien ebenfalls relevant, d.h. das Vorhandensein von als besonders relevant erachteten Journalisten oder Publizisten. Bestimmten Journalisten wird dabei eine für den politisch-kulturellen Diskurs besondere Stellung und ein besonderer Einfluss auf Diskurse zugeschrieben. Leitmedium ist in diesem Verständnis somit auch ein Qualitätsbegriff, der auf besonderen journalistischen bzw. publizistischen Leistungen mit entsprechend namhaften Mitarbeitern, die vielfach als Intellektuelle wahrgenommen werden und auch über das Medienschaffen hinaus an Debatten beteiligt sein können, gründet (z.B. Leitartiklern, Kommentatoren, „Edelfedern“ etc.). Diesen namhaften Journalisten bzw. Publizisten kommt eine herausragende Funktion zu, weil sie besonders stark innerhalb von Medien und Journalismus wie auch gesamtgesellschaftlich Beachtung finden. Empirisch erkennbar ist vorrangig, dass sich andere Journalisten an diesen Kollegen orientieren: Reinemann und Rössler sprechen in diesem Zusammenhang von Kollegen- oder Ko-Orientierung (vgl. Reinemann 2003; Rössler 2006; vgl. dazu auch Krämer/Schroll/Daschmann 2009). Insbesondere Pfetsch/Eilders/Neidhardt rekurrieren auf die Vermittlungsleistung einzelner Journalisten und betonen insbesondere die leitende sowie orientierende Funktion von
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Leitartiklern, und sprechen von einem „Kommentariat“. Diese Gruppe bezeichnen sie als zentrale gesellschaftliche „Meinungsmacher“ (vgl. Pfetsch/Eilders/Neidhardt 2004). 1.5 Bezugnahme auf erzielte Wirkungen Schließlich werden Leitmedien auch im Hinblick auf die erzielte oder erzielbare Wirkung beim Publikum definiert. Dieser Einfluss kann einerseits direkt bezogen auf das Publikum gesehen werden (Fernsehen als Leitmedium) oder aber auch indirekte Wirkungsvermutungen angestellt werden, wenn beispielsweise über den Einfluss der Boulevardpresse auf politische Entscheidungen oder auf bestimmte (politische, ökonomische oder kulturelle) Akteure reflektiert wird. Kepplinger postuliert vor allem einen Wirkungseinfluss von Leitmedien auf das ganze Mediensystem, d.h. auf andere Medien, auf Eliten und auf Teile des Publikums (vgl. Kepplinger 1998). Er betont damit die strukturelle Komponente: Bestimmten Medien kommt aufgrund ihrer Position in der gesellschaftlichen Vermittlungsstruktur eine als wirkungsmächtig anzusehende Position zu. Leitmedien besitzen also vor allem dann ein großes Wirkungspotential, weil und wenn sie die Eliten in Politik, Wirtschaft und Kultur erreichen und dadurch Entscheidungen mit weitreichenden Konsequenzen beeinflussen können oder könnten: Was die führenden Medien aufgreifen, wird auch zum Thema der zuständigen Eliten. Leitmedien sind hier als „Meinungsführermedien“ anzusehen. 1.6 Fazit Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der sozial- und kommunikationswissenschaftliche Forschungsstand zu Leitmedien derzeit noch eher disparat ist. So wird auch nur selten wechselseitig auf Arbeiten Bezug genommen. Charakteristisch für die vorliegenden Konzepte zu Leitmedien ist, dass sie jeweils nur einen bestimmten Aspekt oder Teilbereich des Phänomens beleuchten. Ferner richtet sich die Aufmerksamkeit entweder auf ein Einzelmedium, auf bestimmte historische Phasen stattfindet und zumeist auf die Mikroebene. Zudem wird häufig unter Einbezug von Nutzungs- und Wirkungsannahmen heraus argumentiert. Was jedoch fehlt, ist ein umfassendes und auch empirisch zugängliches Konzept. Im folgenden Abschnitt soll deshalb ein sozial- und kommunikationswissenschaftliches Leitmedienkonzept theoretisch entwickelt und begründet werden.
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Leitmedien: Der Ansatz
Leitmedien können, in Anlehnung an Arbeiten, vor allem von Neidhardt (1994), zu einem bestimmten organisationalen Feld innerhalb der Massenmedien moderner Gesellschaften gerechnet werden. Die Ebene der Massenmedien ist im Öffentlichkeitskonzept von Neidhardt von zentraler Bedeutung, weil sich dort Organisationen und Handlungsrollen sowie gesellschaftliche Nutzungsmuster auf Dauer ausgebildet haben, was zur Folge hat, dass die massenmedial vermittelte Kommunikation von besonderer Relevanz für die Gesellschaft ist. Allen Gesellschaftsmitglieder sind sich der besonderen Bedeutung der allgemeinen Massenmedien bewusst und nutzen deshalb diese, wenn auch in unterschiedlicher Weise. Die gesellschaftlichen Akteure wissen auch um die besondere Beachtung der allgemeinen
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Massenmedien und benutzen deshalb diese Medien für ihre (politischen wie ökonomischen) Vermittlungs- und (Selbst-)Darstellungsinteressen. Massenmedien kommt damit faktisch eine öffentliche Funktion zu, und die allgemeinen Massenmedien postulieren diese auch. Damit werden sie zu gesellschaftlichen Intermediären, die einen Beitrag zur gesellschaftlichen Vermittlung leisten. Sie organisieren sich deshalb in einer spezifischen Weise: Zumeist sind sie – mit Ausnahme des öffentlich-rechtlichen Rundfunks – privatwirtschaftlich verfasst, aber in ihrer Organisationsstruktur sind sie sowohl gegenüber wirtschaftlichen wie politischen Akteuren offen – und sie beziehen zudem die Rezipienten ein. Als Intermediäre weisen sie Merkmale einer intersystemischen Organisation auf, so indem sie bestimmte formale Beteiligungen ermöglichen und sich – zumal in Form der Leitmedien – auch in gewisser Weise normativ positionieren. Organisationsform und inhaltliche Positionierung – das kennzeichnet insbesondere die Leitmedien. 2.1 Massenmedien in der modernen Öffentlichkeit Massenmedien sind ein Teil der hochdifferenzierten Öffentlichkeitsstruktur moderner Gesellschaften, wobei in der Literatur zwischen unterschiedliche Ebenen von Öffentlichkeit unterschieden wird. Eine entsprechende Differenzierung moderner Öffentlichkeitsebene nimmt vor allem Neidhardt (1994) vor: die Encounter-Ebene, die Ebene der Themenöffentlichkeit sowie die Medienöffentlichkeit. Diese Differenzierung basiert sowohl auf theoretischen Überlegungen und ist zudem für empirische Analysezwecke tragfähig. Sie soll deshalb zum Ausgangspunkt der Überlegungen bezogen auf Leitmedien gewählt werden. Abbildung 1:
Öffentlichkeitspyramide nach Donges/Jarren (1998) in Anlehnung an Neidhardt (1994)
Quelle: Graphische Darstellung des Konzepts von Neidhardt (1994) nach Donges/Jarren (1998) (überarbeitet)
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Öffentliche Kommunikation vollzieht sich, wie Neidhardt (1994) herausarbeitet, am folgenreichsten auf der obersten Ebene der modernen Öffentlichkeit, in der Medienöffentlichkeit. Im Gegensatz zu den anderen beiden Ebenen der Öffentlichkeit verfügt die Medienöffentlichkeit über Organisationen (Medienorganisationen), Handlungsträger (Journalistinnen und Journalisten) mit einem bekannten Entscheidungsprogramm (insbesondere Selektion von Informationen: Nachrichtenwerte) und über ein mehr oder weniger dauerhaft vorhandenes Publikum. Und das Publikum weiß auch um die Struktur der Massenmedien und ist auch grundsätzlich über die publizistischen Leistungen wie über die normative Ausrichtung orientiert. Die Massenmedien üben, situiert auf dieser Ebene der modernen Öffentlichkeit, eine für die Gesellschaft wie für einzelne Gruppen in der Gesellschaft orientierende oder anleitende Funktion aus, weil sie alle Gesellschaftsmitglieder erreichen und damit für die öffentliche wie auch für die private Meinungsbildung und somit für das Entscheidungsverhalten relevant sind. In der Rolle als Rezipienten oder Bürger können die Gesellschaftsmitglieder mittels der allgemeinen Massenmedien die Absichten, Entscheidungen oder Handlungen von kollektiven oder individuellen Akteuren mit verfolgen und ihr Verhalten daran ausrichten. Die für moderne Gesellschaften wichtige gesellschaftliche Koordination erfolgt über die Beobachtung gesellschaftlicher Prozesse, so wie sie in den Massenmedien (Nachrichten, Informationsangebote) dargeboten werden. Je nach Nutzungsmotiv und -zeitpunkt sind – zumal unter den heute vorherrschenden Viel-Kanal-Bedingungen – natürlich höchst unterschiedliche Medien mit ihren Angeboten relevant. Je ausdifferenzierter, vielfältiger und komplexer die Ebene der Medienöffentlichkeit wird, desto relevanter werden dabei zugleich jene Medien, die für bestimmte soziale Gruppen, sachliche Themenkomplexe oder bestimmte Räume eine übergreifende, dauerhafte und in einer bestimmten Qualität erwartbaren Leistung zu erbringen vermögen. Das verweist auf die besondere Stellung von Leitmedien in der massenmedial geprägten Öffentlichkeitsstruktur moderner Gesellschaften. Sie bilden dort, wie noch zu zeigen sein wird (vgl. 2.3) ein eigenes organisationales Feld, auch weil Leitmedien über besondere organisationale Eigenschaften verfügen. 2.2 Massenmedien als spezifischer Organisationstyp: Intersystemische Organisation Massenmedien können als spezifischer Organisationstyp der Gesellschaft begriffen werden, als sogenannte intersystemische Organisationen (vgl. Jarren 2008). Dieser Organisationstyp ist charakterisiert durch eine „systematische Verquickung von Gruppeninteressen, öffentlichen Aufgaben und Formen der bürokratischen oder auch ökonomischen Programmimplementation“ (Bode/Brose 2001: 120). Damit unterscheiden sich Massenmedien von anderen Organisationen wie beispielsweise politische Akteure, Kulturorganisationen oder Unternehmen, die Themen für die öffentliche Kommunikation bereitstellen. Charakteristisch für Massenmedien ist einerseits ihr universelles publizistisches Leistungsangebot und andererseits ihre allgemeine Zugänglichkeit (vgl. dazu ausführlich Jarren 2008). Nicht alle Medien erbringen jedoch diese Leistungen, sondern nur institutionalisierte Medienorganisationen, die besondere Merkmale aufweisen, nämlich die als Intermediäre institutionalisierten Medienorganisationen. Sie postulieren die Wahrnehmung einer öffentlichen Aufgabe und es wird ihnen generell auch die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben von Seiten der Rezipienten zuerkannt. Intermediäre Organisationen sind traditionell zwischen Staat und Gesellschaft verankert und gehören damit zur Infrastruktur moderner Gesellschaften. Auch Mas-
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senmedien lassen sich dem intermediären System zuordnen, da sie wie andere Teile des Systems Vermittlungs-, Transformations- und Übersetzungsleistungen erbringen. Die Massenmedien können in sogenannte „Push-“ und „Pull-Medien“ unterschieden werden. Bei den Push-Medien haben wir einen unidirektionalen Kommunikationsfluss und wir sprechen von Rezipienten, während von den Pull-Medien von den Interessenten aktives Tun verlangt wird; wir sprechen deshalb hier von Nutzern oder, wenn diese Nutzung beigeläufig erfolgt, auch von Usern. Nur Push-Medien sind, und das begründet ihre besondere Stellung und Bedeutung in der gesellschaftlichen Vermittlungsstruktur wie auch im Vermittlungsprozess in zeitlicher wie auch sozialer Hinsicht für alle Rezipienten verfügbar. Allerdings unterscheiden sich die Massenmedien voneinander, und sie können auch vom Publikum unterschieden werden. Massenmedien können aufgrund ihrer publizistischen Angebotsleistung wie -qualität in unterschiedliche Medientypen unterteilt werden, beispielsweise in Boulevard- und Qualitätsmedien. Relevant für den vorliegenden Beitrag sind die Qualitätsmedien als Teil der Massenmedien. Qualitätsmedien meint, dass das Publikum generalisiert die Auffassung vertritt, bei diesen Medien zuverlässig informiert bzw. orientiert zu sein nach einer Nutzung. Neben der erwarteten Vermittlungsqualität ist aber auch das Wissen relevant, dass diese Medien auch von anderen Rezipienten wie von gesellschaftlichen Akteuren als Qualitätsmedien anerkannt und dementsprechend genutzt werden (könnten). 2.3 Leitmedien als Teil der Medienöffentlichkeit Massenmedien bilden die oberste Ebene in der modernen Öffentlichkeitsstruktur. Massenmedien sind in publizistischer Hinsicht durch Aktualität, Periodizität, Universalität, allgemeine Verfügbarkeit sowie Zugänglichkeit charakterisiert (vgl. Dovifat/Wilke 1976, zit. nach Noelle-Neumann/Schulz/Wilke 1999). Qualitätsmedien können dabei von anderen Massenmedien unterschieden werden. So wissen die Rezipienten um die Existenz bestimmter publizistischer Merkmale bei Qualitätsmedien, können diese benennen und auch sozial einordnen. Die Publikumsforschung zeigt beispielsweise, dass die Nutzer privat-kommerzieller Fernsehprogramme diesen eine geringere Glaubwürdigkeit beimessen als öffentlichen Programmen, denen sie sowohl Kompetenz wie auch Glaubwürdigkeit zuschreiben (vgl. Forschungsprogramm UNIVOX: Bonfadelli 2007). Durch die Unterstellbarkeit gesellschaftsweiter publizistisch-journalistischer Relevanz sowie durch die Zuschreibung einer allgemeinen wie auch spezifischen publizistischen Kompetenz verbindet man mit Qualitätsmedien somit „the promise of improved journalism“. Leitmedien wiederum können als Teil der Qualitätsmedien definiert werden, dabei weisen sie im Vergleich zu anderen Massenmedien eine explizierte normative und relativ geschlossene publizistische wie redaktionelle Grundhaltung auf. Sie verfügen, auch in der Wahrnehmung des Publikums, über ein bestimmtes redaktionelles wie publizistisches Profil. Leitmedien nehmen deshalb in einzelnen Arenen der Öffentlichkeit eine zentrale Stellung ein und ermöglichen Anschlusskommunikation (vgl. Jarren/Donges 2006: 104). Die professionellen Berufsgruppenangehörigen in diesen Medien selektionieren Informationen auf Basis eines systematischen Programms (Nachrichtenwerte) und bezogen auf ein bekanntes publizistisches und redaktionelles Programm. Potentiell können die so erzeugten Informationen besondere gesamtgesellschaftliche Beachtung beanspruchen und schließlich auch – direkt wie indirekt – Wirkung erzeugen (vgl. Blöbaum 1994; Rühl 1980).
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Otfried Jarren und Martina Vogel Leitmedien als Teil der Medienöffentlichkeit (eigene Darstellung)
Was Leitmedien von Qualitätsmedien unterscheidet, ist, dass sie sich in besonderer Weise auf laufende Meinungs- und Willensbildungsprozesse beziehen, und zwar nicht nur bezogen auf die Politik, sondern auf alle relevanten öffentlichen wie privaten Entscheidungsvorgänge. Und sie beziehen sich durch Positionsbezüge, Auswahl von Informationen wie auch Kommentierung und das Sichtbarmachen von gesellschaftlichen Positionen (bspw. durch Gastbeiträge oder die Veröffentlichung von Stellungnahmen relevanter Persönlichkeiten) auf gesellschaftliche Diskurse. Sie bilden nicht nur Diskurse aus einer bestimmten Position ab, sind nicht nur „Plattform“ für Beiträge, sondern wirken auf Diskurse eigenständig ein. Aufgrund ihrer exponierten gesellschaftlichen Stellung, ihrer thematischen Ausrichtung sowie ihres ausgeprägten Bezugs zu Meinungs- und Willensbildungsprozessen konstituieren Leitmedien damit ein spezifisches organisationales Feld innerhalb der Massenmedien. Dieses organisationale Feld ist hierarchisch geordnet, d.h. bestimmte Leitmedien stehen an der Spitze und sie werden von Redaktionen und Journalisten anderer Leitmedien wie aber auch von anderen gesellschaftlichen Entscheidungsträgern (Elitenangehörigen) beobachtet. Themen und Deutungen werden aufgegriffen und es erfolgt, zuerst und zunächst, auf der Ebene der Massenkommunikation eine Integration von Themen und Sichtweisen sowie deren Interpretation. Im organisationalen Feld der Leitmedien gelten vergleichbare Normen und Regeln für Publizistik und Journalismus. Dies betrifft zum einen das Medienunternehmen bzw. die Organisation selbst, das ein expliziertes publizistisches Selbstverständnis aufweist. Auch für den Redaktionstyp bzw. die Redaktionsstruktur sowie die redaktionelle Arbeitsweise lassen sich gemeinsam geteilte Normen und Regeln finden. Beispielsweise die Ausrichtung an Autoren und Diskursbeiträgen, der Einbezug von Experten sowie den spezifischen Bezug auf die Rezipienten (im In- und Ausland).
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2.4 Funktionen und Leistungen von Leitmedien Leitmedien sind – wie alle Massenmedien – universelle Medien, das heisst: Sie informieren und orientieren über alle gesamtgesellschaftlich als relevant anzusehenden politischen, ökonomischen, kulturellen sowie sozio-kulturellen Entwicklungen und leisten damit die Grundlage für individuelles und kollektives Entscheidungshandeln. Dabei erbringen Leitmedien nicht nur spezifische publizistische Leistungen wie die Beobachtung, Vermittlung und Repräsentation, sondern sie sind zudem auch politischen exponiert, weil sie in normativer Weise auf jene Bereiche fokussieren, welche die allgemeinen Gelegenheiten einer Gesellschaft betreffen. Leitmedien zeichnen sich also einerseits durch ihre besondere normative Positionierung in einer gegebenen Gesellschaft aus. Dabei ist der Status Leitmedium durchaus veränderbar, aber immer geknüpft an eine besondere publizistische Ausrichtung. Zudem sind Leitmedien publizistisch durch bestimmte Leistungen, die vor allem durch allgemeiner bekannte und wertgeschätzte Personen erbracht werden (Journalisten, Publizisten, Kommentatoren, Herausgeber und andere dieser Art.) exponiert. Die Exponiertheit von Leitmedien gibt ihnen eine besondere, auch allgemein bekannte und durchwegs anerkennte soziale Funktion: Sie sind insoweit ein bestimmter Teil und ein bestimmender Faktor in der sozialen Ordnung einer Gesellschaft. Diese Position wird durch Leistung erbracht, gesellschaftlich zugeschrieben und vor allem durch die Interaktion zwischen der Medienorganisation und relevanten Umwelten kommunikativ bestätigt. Leitmedien sind Organisationen mit besonderen Unternehmens- und Redaktionsmerkmalen, d.h. sie verfügen über ein redaktionelles Beobachtungs-, Selektions- und Kommentierungsprogramm. Durch Themenselektion beobachten Leitmedien auf eine bestimmte Art und Weise bestimmte gesellschaftliche Felder, Akteure und Prozesse. Dieses Programm basiert auf einer politisch-gesellschaftlichen Position der Redaktion, das heisst:. Leitmedien verfolgen eine bekannte normative publizistische Linie. Durch diese Selektion und eine bestimmte Darstellung der Themen vermitteln Leitmedien also eine bestimmte Sichtweise oder Deutung. Damit repräsentieren sie bestimmte gesellschaftliche Interessen und deren Akteure, was sie wiederum für diese Akteure, aber auch für andere relevant macht. Leitmedien repräsentieren also bestimmte gesellschaftliche Interessen und weisen somit eine Nähe zu gesellschaftlichen Organisationen auf. Durch ihren intermediären Charakter vermitteln sie diese spezifischen gesellschaftlichen Interessen und durch den Bezug auf kollektive und individuelle Entscheidungen tragen Leitmedien zur gesellschaftlichen Ko-Orientierung bei und können deshalb als „Leuchttürme“ im gesellschaftlichen Diskurs bezeichnet werden. Und diese intermediären Leistungen erbringen sie in einem Interaktionsverhältnis mit bestimmten anderen gesellschaftlichen Organisationen. Zunehmend wird dies auch gezielt entwickelt und gepflegt, so beispielsweise durch Informations- oder Diskussionsanlässe, die von Redaktionen gestaltet und sehr stark auch beworben werden. Dazu zählen auch „Medienpartnerschaften“.
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Fazit: Indikatoren für die empirische Analyse
Abschließend soll nun ein Vorschlag zur empirischen Analyse von Leitmedien unterbreitet werden. Die empirische Analyse sollte in drei Schritte unterteilt werden: Zuerst sollte eine Analyse des Organisationstyps erfolgen, dann eine Analyse der redaktionellen Strukturen
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und Regelwerke und schließlich die Analyse des redaktionellen Programms und der redaktionellen Leistung, die ein Leitmedium erbringt. Im Folgenden sollen zu jedem Schritt einige Indikatoren genannt werden. Was die Analyse des Organisationstyps betrifft, so können verschiedene Aspekte untersucht werden. Einerseits geht es um die Identifikation der strukturellen Differenzierung von Unternehmen und Redaktion bei Leitmedien. Es ist empirisch zu klären, wie die Zuständigkeits- und Kompetenzaufteilung geregelt ist: Existieren diesbezüglich Regelwerke, beispielsweise in Form von Statuten etc.? Ebenfalls zu untersuchen ist die Interaktionen oder Interaktionsmuster zwischen Management und Redaktion. So ist zu fragen, ob sich bestimmte Handlungsstrukturen ausgebildet haben, wie Publizistische Beiräte, Herausgebergremien und ähnliche Organe. Schließlich sind die Formen der gesellschaftlichen Mitkontrolle von Relevanz. Besteht eine strukturelle und prozessuale Einbeziehung Dritter? Sind sonstige nicht-mediale Formen wie Foren, Medienpartnerschaften etc. vorhanden? Die zweite Analyseebene ist die der redaktionellen Strukturen und Regelwerke. Dabei kann unterschieden werden zwischen der Analyse von Regeln, Ressourcen und Prozessen. Bei den Regeln geht es um Formen der internen Differenzierung, der Koordination und der Entscheidung (Regelwerke); um Formen der Rollendifferenzierung, um Regeln und Formen der Entscheidungsprozesse, dem Grad an Autonomie etc. Bei den Ressourcen ist der Einsatz und die Kompetenz zur Verteilung von Ressourcen zentral. Bei der Analyse von Prozessen geht darum, vor allem die journalistischen die Recherche- und Informationsbeschaffungsprozesse zu durchleuchten. Für die Analyse des redaktionellen Programms und der redaktionellen Leistung sind folgende Elemente relevant: Die Erfassung der redaktionellen und journalistischen Leistung erfordert Fragen nach Themen, Deutungen, normativen Orientierungen in Form fokussierter Berichterstattungsbereiche. Es geht dabei um ein normatives „Ausflaggen“ der publizistischen Linie in Form von Leitartikel, Kommentaren etc. sowie die Berücksichtigung anderer Positionen (Medienzitate etc.). Tabelle 1: Mögliche Indikatoren zur Analyse von Leitmedien Kategorie Organisationstyp
Redaktionelle Strukturen und Regelwerke
Redaktionelles Programm und Leistung
Ausprägung Strukturelle Differenzierung Unternehmen – Redaktion Interaktion Management – Redaktion Formen der gesellschaftlichen Mitkontrolle Regeln
Beispiel möglicher Indikatoren Zuständigkeits- und Kompetenzaufteilung Regelwerke (Statuten) strukturell und prozessual -
Ressourcen Prozesse Journalistische Leistung
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Normatives „Ausflaggen“ Berücksichtigung anderer Positionen
-
Einbeziehung Dritter Foren Medienpartnerschaften Formen der internen Differenzierung, Koordination und Entscheidung Formen der Rollendifferenzierung, Grad an Autonomie Einsatz und Verteilung von Ressourcen Informationsbeschaffung, Recherche Themen, Deutungen, normative Orientierung Leitartikel, Kommentare Medienzitate, Verweise etc.
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Vorgeschlagen wird ein induktives Vorgehen aufgrund der oben entwickelten theoretischen Überlegungen zum Typus „Leitmedium“. Neben der empirischen Analyse der redaktionellen Leistungen (Inhaltsanalyse) sind die redaktionellen Strukturen und Regelwerke (Dokumentenanalyse; Leitfadengespräche) zu erfassen. Diesbezüglich liegen bislang kaum systematische empirische Studien vor, zumal mit Blick auf Qualitäts- bzw. Leitmedien. Ferner bedarf der Organisationstyp „intersystemische Organisation“ spezifischer empirischer Analyse (Dokumentenanalyse und Leitfadengespräche). Die Bestimmung des organisationalen Feldes kann dann abschließend geleistet werden, so indem Gemeinsamkeiten und Unterschiede gefunden und zu erklären versucht werden. Der vorliegende Vorschlag fokussiert somit auf die Medienorganisation, die redaktionellen Strukturen und Regelwerke und auf das redaktionelle Programm sowie die publizistische Leistung. Erst durch die Verknüpfung der drei Analyseebenen sollte es möglich sein, Leitmedien zu identifizieren. Eine Identifikation von Leitmedien allein durch Inhaltsanalyse wie durch Rezipienten- oder ElitenBefragung, wie vielfach in der Forschung gebräuchlich, dürfte nicht ausreichend sein.
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Otfried Jarren und Martina Vogel
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„Leitmedien“ als Qualitätsmedien
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Narration freilegen: Zur Konsequenz der Mehrsystemrelevanz als Leitdifferenz des Qualitätsjournalismus Vinzenz Wyss
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Einleitung
Wie ist es möglich, über die Vergangenheit und Zukunft von Qualitätsmedien zu debattieren, bevor nicht verhandelt ist, was Qualitätsmedien sein können und welche Qualitätsmerkmale diese als solche auszeichnen? Wenn von Qualitätsmedien die Rede ist, wird oft stillschweigend eine Qualität vorausgesetzt, die diesen Medien im Unterschied zu anderen Medien – etwa zur Boulevardpresse, zum so genannten „popular paper“, zu kommerziellen Rundfunkorganisationen oder einfach zu herkömmlichen Forumszeitungen – zugeschrieben werden kann. Qualitätsmedien seien Medien, die „besonders herausragen und ausstrahlen“, die eher Spezialisten als Generalisten beschäftigen, die die „Welt von oben statt von unten“ betrachten und die „klassische Themenbereiche“ wie Politik, Wirtschaft, Kultur, Gesellschaft und Sport prioritär bearbeiten würden, sich an Eliten richten, zitiert werden und sich gemeinwohlorientiert geben (vgl. Blum in diesem Band). Dazu kommt – und das scheint ein weiteres Merkmal zu sein –, dass Qualitätsmedien zunehmend unter ökonomischen Druck geraten, weil es fraglich ist, ob der Markt sie auf Dauer noch finanzieren kann. Ein solcher Definitionsversuch von Qualitätsmedien über eine – noch beliebig zu ergänzende – Liste von Merkmalsausprägungen vermag nicht zu befriedigen. Leuchttürme öffentlicher Kommunikation werden dabei wie ein Museumsstück umschifft. Jedoch wollen wir sie nicht als Kuratoren in ihrer romantischen Ästhetik bewundern und für ihren Erhalt Sorge tragen, sondern als Forschende deren Funktion analysieren, in Frage stellen, vielleicht neu entdecken und aus dieser Erkenntnis heraus Anforderungen an deren Qualität und Leistungsfähigkeit ableiten. Dies setzt voraus, dass wir uns zunächst über die theoretische Referenz verständigen, die wiederum nur sinnvoll mit Bezug auf die theoretisch zu konzipierenden gesellschaftliche Funktion des Journalismus zu bestimmen ist. Trotz jahrzehntelanger publizistikwissenschaftlicher Qualitätsforschung bleiben jedoch entsprechende Konzeptionen zur journalistischen Qualität eher ohne theoretischen Gehalt. In letzter Zeit hat sogar die anwendungsorientierte Forschung die Führung des Qualitätsdiskurses übernommen. Diese „will durch die Bereitstellung von Konzepten mittlerer Reichweite und entsprechenden methodischen Instrumentarien zur Lösung von Qualitäts(sicherungs)problemen einzelner Medienorganisationen wie z.B. öffentlichen Rundfunksendern beitragen“ (Weischenberg 2006: 12). Ohne Rückgriff auf theoretische Gesamtkonzeptionen wird nach Standards gesucht. Diese Forschung erschöpft sich in der Messung der Qualität von Medienprodukten, wobei das Problem der theoretischen Begründung eines Kanons von Qualitätsstandards weitgehend umgangen wird. Ohne weitere Problematisierungen werden so allgemeine professionelle Regeln wie etwa Richtigkeit, Sachlichkeit, Objektivität, Relevanz, Vielfalt, Ausgewogenheit, Transparenz, Aktualität oder R. Blum et al. (Hrsg.), Krise der Leuchttürme öffentlicher Kommunikation, DOI 10.1007/978-3-531-93084-8_3, © VS Verlag fur Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Vinzenz Wyss
Verständlichkeit als neben einander stehende Begriffe in den Kanon aufgenommen (vgl. Fabris 2004: 400). Wir wollen in diesem Beitrag in einem ersten Schritt einen theoretischen Entwurf vorlegen, der zur Bestimmung von journalistischer Qualität auf die Leitdifferenz bzw. den Code des Journalismus zurückgreift. Unter Rückgriff auf die systemtheoretische Konzeption von Journalismus als gesellschaftliches Funktionssystem wird die Basisfunktion des Journalismus – dessen Beitrag zur Selbstbeobachtung und Synchronisation von Gesellschaft – zum Referenzpunkt für die Herleitung des journalistischen Qualitätsbegriffs (vgl. dazu Bucher 2003 und Arnold 2008). Als Leitdifferenz werden wir dabei den Begriff der „Mehrsystemrelevanz“ einführen, was wiederum Konsequenzen für die Realisierung spezifischer Leistungen des Journalismus für die Gesellschaft und insbesondere für dessen zu inkludierende Publika erkennen lässt. Vor diesem systemtheoretischen Hintergrund werden wir in einem zweiten Schritt Anforderungen an Qualitätsmedien ableiten. Dabei fokussieren wir auf institutionelle, organisationale und schließlich auf inhaltlich-funktionale Anforderungskriterien, denen Qualitätsmedien genügen müssen, um in Abgrenzung zu anderen Medien als solche gelten zu können. Fokussiert wird dabei primär auf die inhaltlich-funktionale Dimension, wenn – noch immer einer systemtheoretischen Perspektive folgend – deduktiv vom journalistischen Leitcode ausgehend, journalistische Qualitätskriterien hergeleitet werden, die für journalistische Leistungen generell Gültigkeit erlangen. In einem dritten Schritt wird auf die zentrale Bedeutung von Publikum verweisen, dessen Inklusion in das System Journalismus für die journalistische Leistungserbringung unverzichtbar ist. Es wird verdeutlicht, dass Publikumsorientierung vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Funktion des Journalismus eine zentrale Voraussetzung für das Gelingen der journalistischen Kommunikation darstellt. Dieser Perspektive folgend, rücken Qualitätsanforderungen in den Vordergrund, welche die kommunikative Rezeption journalistischer Angebote fördern und diese in der Lebenswelt des Publikums anschlussfähig machen. Es stellt sich also die Frage, wie der Anschluss an die Lebenswelt journalistisch bewerkstelligt werden kann. Dabei helfen weder systemtheoretische, noch normativdemokratietheoretische noch marketingtheoretische Ansätze weiter. Darum soll in einem vierten Schritt das Konzept der Narration als zentraler journalistischer Kommunikationsmodus eingeführt werden. Es wird behauptet, dass über den narrativen Kommunikationsmodus an sich inkommensurable Systemrationalitäten und Diskurse aneinander gekoppelt werden und Journalismus nur so zur Selbstbeobachtung und Synchronisation von Gesellschaft beitragen kann. Wir wollen dabei aber Narration bzw. Narrativität nicht einfach als weitere Dimension in die Liste der journalistischen Qualitätskriterien aufnehmen, sondern vielmehr auf struktureller Ebene auf dessen zentrale Bedeutung für die journalistische Konstitution von Sinn hinweisen. In einem fünften Schritt schließlich verdeutlichen wir die hegemoniale Funktion der journalistischen Narration, und weisen darauf hin, dass journalistisch (re-)konstruierte Narrationen auch dysfunktionale Folgen für die Selbstbeobachtung und Synchronisation von Journalismus haben können. Etwa dann, wenn bestimmte Diskurse durch dominante Narrationen unterdrückt werden. Vor diesem Hintergrund ergänzen wir abschließend unseren Anforderungskatalog an Qualitätsmedien, für die – ganz im Sinne des aufklärerischen Postulats – das Aufdecken und Freilegen von hegemonialen Narrationen zum Anspruch werden
Mehrsystemrelevanz als Leitdifferenz des Qualitätsjournalismus
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muss, wollen sich diese denn von herkömmlichen journalistischen Leistungserbringern abheben.
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Systemtheoretischer Zugang: Mehrsystemrelevanz und Qualität
Seit Anfang der 1990er Jahre gibt es innerhalb der Publizistikwissenschaft wesentliche Bestrebungen, Dimensionen journalistischer Qualität theoretisch herzuleiten, zu operationalisieren und einer Bewertung medialer Angebote zugänglich zu machen. Noch scheint es nicht gelungen zu sein, „die verschiedenen Ansätze in der Qualitätsforschung zu einem übergreifenden Konzept zusammenzuführen“ (Arnold 2008: 489), was die Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft 2005 dazu veranlasste, dem komplexen Thema eine Jahrestagung zu widmen (vgl. Weischenberg et al. 2006). Tatsächlich liegt ja die Beliebigkeit des Themas in der Problematik seiner Definition begründet. Die Diskussion über journalistische Qualität wird nämlich von ganz unterschiedlichen Akteurskategorien mit unterschiedlichen Interessen am Journalismus bestritten. Sie verläuft auch in der Wissenschaft entsprechend wenig strukturiert, schwer durchschaubar und widersprüchlich. So fordert Saxer (2000: 197) Qualitätsmodelle, die möglichst „komplex, integral, kohärent, transparent und operationalisiert journalistische Qualität konzipieren.“ Arnold (2008) nimmt dieses Postulat auf und versucht, verschiedene theoretische Herangehensweisen in einem umfassenden Konzept zu integrieren. Er unterscheidet dabei eine funktional-systemtheoretische, eine normativ-demokratieorientierte und eine publikumsbezogene-handlungsorientierte Ebene. Vor diesem Hintergrund wollen wir hier einen Entwurf vorlegen, der von der funktional-systemtheoretischen Konzeption von Journalismus als gesellschaftliches Funktionssystem und dessen Leitdifferenz ausgeht (vgl. dazu auch Bucher 2003: 18f). Dabei gehen wir davon aus, dass die spezifische Leitdifferenz bzw. der Code des Journalismus als Referenz dienen soll, um daraus systemkonforme Qualitätsstandards deduktiv abzuleiten. Ausgangspunkt der systemtheoretischen Konzeption von Journalismus ist die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in verschiedene Funktionssysteme, die je auf eine spezifische Problemlösung spezialisiert sind. Die Funktionssysteme Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Religion und Erziehung etc. erfüllen für die Gesellschaft exklusive Funktionen und erbringen füreinander wechselseitig Leistungen. Bei der spezifischen Problemlösung operiert jedes System selbstreferentiell nach einer eigenen Logik, was aber auch dazu führt, dass sich die verschiedenen gesellschaftlichen Systeme immer stärker auseinender bewegen, sich an unterschiedlichen Systemrationaliäten orientieren und die auf ihrer Basis zustande kommenden Wirklichkeitskonstruktionen inkompatibel bleiben (vgl. Kohring 2004: 188): Was der politischen Machtbehauptung dienlich ist, kann religiösen Auffassungen widersprechen oder was Gewinne verspricht mag im Rechtssystem nicht geduldet sein etc. Die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft hat zu komplexen gegenseitigen Abhängigkeits- und Beeinflussungsverhältnissen geführt und jedes System ist genötigt, Erwartungen über seine Umwelt auszubilden und die anderen Systeme kommunikativ zu beeinflussen. Dafür braucht es eine ständige Umweltbeobachtung, mit der einzelne Systeme überfordert wären. Nach systemtheoretischer Auffassung hat sich deshalb das Funktionssystem Öffentlichkeit herausgebildet, dessen Funktion „in der Generierung und Kommunikation von Beobachtungen über die Interdependenz, d.h. wechselseitige Abhängigkeits-
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Vinzenz Wyss
und Ergänzungsverhältnisse einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft“ besteht (Kohring 1997: 248). Durch die funktionale Differenzierung der Gesellschaft kommt es ja nicht nur zu einer Leistungssteigerung sondern auch zu einer Nicht-Kompatibilität der verschiedenen System-Rationalitäten und damit zu vermehrten Störungen und Irritationen zwischen den Systemen. Journalismus ist das zentrale Leistungssystem der Öffentlichkeit (vgl. Görke 1999) und löst das Problem der permanenten Selbstbeobachtung und Synchronisation der Gesellschaft, indem die Kommunikationen der anderen dynamisch auseinander driftenden Systeme sachlich, zeitlich und sozial aneinander geknüpft werden. Journalismus fokussiert dabei auf Themen, die konfliktive bzw. sich gegenseitig irritierende Bezüge zwischen verschiedenen – nicht-kompatiblen – Systemrationalitäten aufweisen und stellt so Bezüge von einer Systemlogik (z.B. politisch) zu einer anderen (z.B. rechtlich, ökonomisch, wissenschaftlich etc.) her. Journalismus kommuniziert dann, wenn ein Kommunikationsangebot aus der Perspektive von mehr als einem gesellschaftlichen Funktionssystem als relevant erscheint und in mehreren Systemen zugleich Resonanz bzw. Anschlusskommunikation erzeugt. Das Beispiel Sonntagsverkauf vor Weihnachten kann diese – vom Journalismus regelmässig thematisierte – Irritation zwischen verschiedenen (etwa wirtschaftlichen, rechtlichen, politischen und religiösen) Rationalitäten gut illustrieren. In Anlehnung an Kohring (2006) soll diese Kommunikation des Journalismus als „mehrsystemrelevant“ bezeichnet werden1. Mehrsystemrelevanz wird hier als die Leitdifferenz des Journalismus verstanden, die diesen dabei anleitet, aus den kontingenten Möglichkeiten von Kommunikationen in der Gesellschaft auszuwählen, bzw. zu entscheiden, welche Themen im System kommuniziert werden und welche zur Umwelt des Systems gehören. Die Verfügung über den Leitcode Mehrsystemrelevanz ist ausschließlich systemintern geregelt. Die als Autopoiesis bezeichnete operationale Geschlossenheit schliesst aber wegen der informationellen Offenheit Umweltkontakte nicht aus. Vielmehr sind alle Funktionssysteme durch strukturelle Kopplungen miteinander verbunden. Systeme können über Kommunikation in anderen Systemen Irritation auslösen und so Möglichkeiten für Anschlusskommunikation schaffen. Genau auf diese kommunikativ konstruierten und inszenierten Irritationen fokussiert der Journalismus, indem dieser zum Zweck der permanenten Selbstbeobachtung und Synchronisation von Gesellschaft sich gegenseitig irritierende Kommunikationsangebote von unterschiedlicher Systemzugehörigkeit öffentlich macht.
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Basale Anforderungen an Qualitätsmedien: Qualitätsstandards
Aus der systemtheoretischen Konzeption der gesellschaftlichen Funktion des Journalismus können nun bereits erste Anforderungen an Qualitätsmedien abgeleitet werden. Die Reproduktion von Journalismus in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft ist auf formale Organisationen angewiesen. Spezialisierte Organisationen haben organisationale Entscheidungsprogramme herausgebildet, die nun als Operationalisierungen den Leitcode des 1 Zur Frage nach der spezifischen binären Codierung des Journalismus liegen in der Journalismusforschung verschiedene Vorschläge vor. Sie reichen von Information/Nicht-Information (Luhmann, Blöbaum) über öffentlich/nicht-öffentlich (Marcinkowski, Hohlfeld) oder aktuell/nicht-aktuell (Scholl, Neuberger, Meier) bis zu relevant/nicht relevant (Weischenberg; Arnold). Hier wird mit dem Vorschlag „mehrsystemrelevant“ auf den von Kohring (2006) eingeführten Vorschlag der „Mehrsystemzugehörigkeit“ zurückgegriffen.
Mehrsystemrelevanz als Leitdifferenz des Qualitätsjournalismus
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Journalismussystems reproduzieren (vgl. Marcinkowski/Bruns 2004: 493). Journalistische Organisationen haben vielfältige Möglichkeiten, den zur Anwendung zu bringenden journalistischen Leitcode „Mehrsystemrelevanz“ in Entscheidungsprogrammen zu spezifizieren. Dabei kommt es zu einer „Arbeitsteilung“ unter den verschiedenen Organisationen eines Mediensystems. Ähnlich wie im politischen System kann hier eine Differenzierung von Zentrum/Peripherie gemacht werden (vgl. Marcinkowski/Bruns 2004: 495); mit der Einschränkung allerdings, dass es sich bei den Organisationen des Zentrums aus nahe liegenden Gründen (Unabhängigkeit) nicht um Staatsorganisationen handeln kann. Die peripheren Organisationen leisten „Zulieferdienste“, wobei die Aktivitäten in der Peripherie zu einer „Flut von Entscheidungsanforderungen an das Zentrum“ führen (ebenda: 495).2 Qualitätsmedien könnten dann durchaus als „Zentralorgane“ (Imhof 2008: 40) aufgefasst werden, die eben im Unterschied zu den peripheren Medien in der Lage sein müssen, weitere bzw. spezifische Aufgaben zu übernehmen. Eine solche Konzeption bzw. Ausdifferenzierung von Qualitätsmedien geht einher mit spezifischen Qualitätsanforderungen, die hier in einer institutionellen, in einer organisationalen sowie in einer inhaltlich-funktionalen Dimension zusammengefasst werden: In institutioneller Hinsicht ist einzufordern, dass der journalistischen Leitdifferenz der „Mehrsystemrelevanz“ auf der Ebene einer Medienorganisation ebenfalls eine Multireferentialität entspricht. Dies hat Konsequenzen sowohl für deren Institutionalisierung wie auch für deren innere organisationale Verfasstheit. Jarren (2008) bezeichnet den spezifischen Organisationstyp von Medienorganisationen als „intersystemische Organisationen“. Qualitätsmedien sind demnach weder „reine“ ökonomische, noch politische, wissenschaftliche, erzieherische oder religiöse Organisationen. Sie können keinem dieser Funktionssysteme zugeordnet werden. Vielmehr weisen sie eine hybride Struktur auf. Der intersystemische Status der Medienorganisation äussert sich in der organisationalen Trennung von Management und Redaktion bzw. in der Trennung von Medium und Journalismus (Altmeppen 2008: 82), wobei beide nur gemeinsam den Prozess der öffentlichen Kommunikation schaffen können. Nur durch diese Trennung kann sich die Redaktion unabhängig von systemfremden Leitdifferenzen mit der Reproduktion von Mehrsystemrelevanz beschäftigen, während das Medienmanagement mit anderen – z.B. politischen oder ökonomischen – Organisationen in eine rekursive Beziehung tritt; etwa um auf dem Werbemarkt Ressourcen zu beschaffen oder bei der Politik entsprechenden Forderungen bezüglich Medienregulierung oder Subventionen auszuhandeln. In organisationaler Hinsicht ist festzuhalten, dass die Spezifizierung des Leitcodes Mehrsystemrelevanz auch Implikationen für die redaktionelle Organisationsstruktur nach sich zieht. Damit einher geht durchaus der Trend zur Entdifferenzierung von Ressortstrukturen. Linienorganisationen mit klaren inhaltlichen Zuständigkeiten weichen vermehrt – und vor allem bei neu sich institutionalisierenden Medien – funktionalen Organisationsprinzipien, bei denen ein einzelner Redakteur für mehrere Ressorts gleichzeitig arbeitet (Meier 2002). Der Trend zur ressortübergreifenden Zusammenarbeit ist ambivalent zu beurteilen, weil die Einführung von Newsdesk bzw. Newsroom durchaus „seismographisches 2 Zu den peripheren Medien wären eher Fach- und Spezialmedien zu zählen, die „sich auf ein gegenstands- oder themenbezogenes Fachgebiet (z.B. Auto, Reise oder Umwelt, Wissenschaft) spezialisiert“ haben (Szyszka 2004: 181). So genannte Forumszeitungen mit einer (inputorientierten) Ausdifferenzierung klassischer Ressorts aber auch Publikumsmedien mit starker Output- und Zielgruppenorientierung (vgl. Donges/Jarren 1997) sind eher zwischen Peripherie und Zentrum anzusiedeln, während eben Qualitäts- oder Leitmedien im Zentrum agieren und deren (Ziel-) Publikum eher die Leistungs- als die Publikumsrollen der anderen Funktionssysteme umfasst.
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Vinzenz Wyss
Potenzial“ freisetzen, aber auch eine Schwächung der organisationalen Verortung von Fachwissen bedeuten kann (vgl. Meier 2006; Blöbaum 2008: 125ff.). Weil jedoch die journalistische Reproduktion von Mehrsystemrelevanz die Kopplung von unterschiedlichen Systemrationalitäten verlangt, braucht es innerhalb der Redaktion umso mehr Verfahren der Qualitätssicherung, die diese Kopplung quasi aus der Perspektive der Beobachtung zweiter Ordnung organisational verankern. Gerade Qualitätsmedien sind also mit der Anforderung zu konfrontieren, im Sinne der Selbststeuerung und -kontrolle Konzepte des Qualitätsmanagements mit Selbstverpflichtungsaufträgen zu implementieren, die auf die Etablierung einer Verantwortungskultur zielen und das Management in die Pflicht nehmen, Qualitätsziele intern wie extern kontinuierlich zu kommunizieren und die Leistungen systematisch zu evaluieren (vgl. Wyss 2009b; Jarren 2007: 142). Über entsprechende Formen der Selbstverpflichtung auf Dialoge mit Akteuren der Zivilgesellschaft etwa in Codes of Conducts, Ethik Kodices oder Media Accountability Systemen (Jarren 2007: 141) können zudem auch normative Qualitätsansprüche transparent gemacht und verfolgt werden, die als spezifische Anforderungen aus der Perspektive anderer Funktionssysteme – etwa aus der Sicht des politischen, wirtschaftlichen oder religiösen Systems – an den Journalismus herangetragen werden. In inhaltlich-funktionaler Hinsicht sind es schließlich gerade die Qualitätsmedien, die mit der Erwartung konfrontiert werden, als „Zentralorgane“ des Mediensystem (Imhof 2008: 40) bei der Identifikation und Inszenierung von Mehrsystemrelevanz eine spezifische Qualifizierungsfunktion zu übernehmen. Sie müssen in der Lage sein, im Sinne der Mehrsystemrelevanz und der funktionalen Komplexitätsreduktion sich gegenseitig irritierende Diskursangebote zu koppeln. Ihre dominanten Leitbilder ihrer Redaktionen haben sich an der gesellschaftlichen Basisfunktion des Journalismus bzw. an den daraus abzuleitenden Qualitätsstandards zu orientieren. Auf der Ebene der journalistischen Organisation und ihrer Regelwerke gewinnen Funktion und Leitdifferenz (Code) des Journalismus „normative Kraft“ (Arnold 2008: 494). Die Leitdifferenz der Mehrsystemrelevanz ist also nicht nur ein analytisches Konstrukt, sondern aus ihr lassen sich auch qualitative Standards für die Leistungsfähigkeit des Journalismus und insbesondere von Qualitätsmedien ableiten:
So verweist der Leitcode bereits auf den Qualitätsstandard der Relevanz; mit der Präzisierung aber, dass Journalismus relevante Ereignisse auswählt, bearbeitet und inszeniert, die „über den Bereich hinaus, in dem sie passiert sind, Bedeutung erlangen und auch für andere Systemzusammenhänge wichtig sind“ (Arnold 2008: 493) und dort potenziell Anschlusskommunikation erzeugen. „Trotz aller individuellen Unterschiede gibt es also eine kollektive Zuweisung von Relevanz, die primär auf möglichen gesellschaftlichen Folgen und auf eigener Betroffenheit basiert“ (ebenda: 494). Des Weiteren wird vom Journalismus erwartet, dass er sich nicht „der Logik eines anderen Systems unterwirft“ (ebenda: 495). Dieser Anspruch findet seinen Ausdruck im komplexen Unabhängigkeitspostulat, das sowohl eine organisationale als auch eine inhaltliche Dimension hat. Unabhängigkeit soll sichern, dass die journalistische Thematisierungs-, Deutungs- und Bewertungsleistung nach systemeigenen Regeln erfolgt. Daran schließt der Vielfaltsbegriff an, der sich auf Themen, Quellen, Akteure, Argumente und Positionen beziehen kann. Mehrsystemrelevanz findet in der Vielfaltsleistung dann ihren Ausdruck, wenn eben zu einem thematisierten Sachverhalt
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mehrere im angesprochenen Zusammenhang relevante Rationalitäten in Anschlag gebracht werden. Aktualität – ganz im Sinne des von Grice (1979: 250) für Kommunikation generell postulierten und vom Journalismus exklusiv geleisteten Bezugs auf Jetzt-Zeit – steuert dabei die Selektionsentscheidungen etwa über das Programm der Nachrichtenfaktoren, da Journalismus ja trotz des Vielfaltspostulates im Sinne der prinzipiellen Offenheit nicht Realität an sich und vollständig darstellen kann. Dass sich Journalismus auf Fakten und tatsächlich geäußerte Meinungen bezieh (Faktizität, Richtigkeit), stärkt dessen Glaubwürdigkeit in der kommunikativen Rezeption, was wiederum auch durch Unabhängigkeit und Transparenz unterstütz wird. Transparenz bezieht sich dabei nicht nur auf eine Darstellung, die es dem Publikum ermöglichen soll, zwischen Tatsachen und Meinungen zu unterschieden, sondern auch auf das Identifizieren von Motiven bzw. Interessen und die Diskussion möglicher Ursachen und Folgen bis hin zum Offenlegen der eigenen Produktionsbedingungen.
Vor dem Hintergrund der hier deduktiv aus der journalistischen Funktion und dessen Leitdifferenz der Mehrsystemrelevanz abgeleiteten Qualitätskriterien kann nun der Kanon der Qualitätsstandards mit weiteren normativen Kriterien ergänzt werden, die als spezifische Anforderungen allerdings aus der Perspektive anderer Funktionssysteme – etwa aus der Sicht des politischen, wirtschaftlichen oder religiösen Systems bzw. deren Akteure – an den Journalismus herangetragen werden (vgl. Arnold 2008: 497). Dort artikulierte Werte wie beispielsweise Freiheit, Gleichheit, Integration, Deliberation, Legitimation (Politik), Effizienz und Zielgruppenpassgenauigkeit (Wirtschaft) oder Solidarität oder Nächstenliebe (Religion) dienen dann dazu, entsprechende Ansprüche zu untermauern bzw. „Einfluss auf die Öffentlichkeit […] zu sichern“ (ebenda: 499). Es ist durchaus möglich, dass die – quasi von aussen als Fremdreferenz – an den Journalismus herangetragenen Qualitätsanforderungen im Einklang mit dessen Eigenlogik stehen bzw. in die Selbstreferenz „eingebaut“ werden. Dies ist etwa dann der Fall, wenn gesetzlichen Regelungen Relevanz, Vielfalt oder Unabhängigkeit als Leistungsaufträge für Rundfunkveranstalter festgehalten werden. Solche Leistungsanforderungen werden ja oft auch in Kodizes der journalistischen Berufskultur (etwa im Pressekodex) als journalismusinterne Regeln reproduziert. Anforderungen wie etwa Ausgewogenheit oder Rücksichtnahme auf religiöse Gefühle hingegen gehen über die systemeigenen Qualitätskriterien hinaus bzw. überfordern den Journalismus (wie z.B. Integration, vgl. Jarren 2000). Die systemtheoretisch und – von einer Fremdreferenz – demokratietheoretisch abgeleiteten Qualitätsstandards ergänzt Arnold (2008: 495f.) mit einer publikumsorientierten Perspektive. Er nimmt deshalb auch Zugänglichkeit als weiteres Qualitätskriterium in den Kanon der Leistungsanforderungen auf, das er mit Begriffen wie Verständlichkeit, Übersichtlichkeit und Anschaulichkeit ergänzt. Publikumsorientierung ist vor dem Hintergrund der oben beschriebenen gesellschaftlichen Funktion des Journalismus eine zentrale Voraussetzung für das Gelingen der journalistischen Kommunikation. Aus diesem Grund macht es Sinn, in den Kanon der Qualitätskriterien auch Leistungsanforderungen aufzunehmen, welche die kommunikative Rezeption journalistischer Angebote unterstützen bzw. diese eben attraktiv und in der Lebenswelt des Publikums anwendbar machen. Diese Argumentation soll im nächsten Abschnitt näher ausgeführt werden, wenn die Inklusion des Publikums als zentrale Voraussetzung für das gelingen journalistischer Kommunikation postuliert wird.
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Vinzenz Wyss
Bereits an dieser Stelle sei aber angemerkt, dass gerade das Konzept der Publikumsorientierung als Systemvoraussetzung weit tieergreifendere Konsequenzen für die Leistungserbringung des Journalismus hat, als in der aktuellen Journalismusforschung bisher vordergründig system- oder demokratietheoretische Ansätze anklingen lassen.
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Kein Journalismus ohne Publikum
Das Publikum des Journalismus spielt bei dessen Leistungserbringung eine zentrale Rolle, weil nur über die kommunikative Rezeption des Publikums Kommunikationsleistungen aus der Politik, der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Religion etc. in andere Systeme „getragen“ werden, dort irritieren und Anschlusskommunikation auslösen können (vgl. Wyss 2009). Der Journalismus benötigt zur Erfüllung seiner gesellschaftlichen Funktion Publika. Diese sind auch für die Leistungsfähigkeit anderer Systeme – etwa des politischen Systems (z.B. Wähler) oder der Wirtschaft (z.B. Kunden) – relevant, weil auch deren Publikumsrollen erwartbar, dauerhaft, reichweitenstark und vertrauensbasiert am besten über den Journalismus erreicht werden können. Die Publikumsrollen des Journalismus sind also immer zugleich auch die Leistungs- oder Publikumsrollen anderer Systeme: Regierungen und Bürgerinnen, Unternehmensführerinnen und Konsumenten, Religionsführer und Gläubige etc. Publikum wird „in Form von Erwartungserwartungen und als in die Selbstreferenz professioneller Normen und Rollenselbstverständnisse eingebaute Fremdreferenz in das System inkludiert“ (Scholl 2004: 529). Der Journalismus ermöglicht es den Publikumsrollen, „sich über Themen zu orientieren, die gesellschaftliche Entscheidungsrelevanz erlangt haben oder erlangen können, und die sie zumindest teil- oder fallweise in ihr individuelles Entscheidungsverhalten einbeziehen müssen“ (Jarren: 2008: 331). Die Rezeption kann kollektive wie private Entscheidungen nach sich ziehen, vor allem dann, wenn „viele andere dieselben (Massen-)Medien nutzen […], weil allein aufgrund der Reichweite bestimmte Wirkungsannahmen angestellt werden können“ (ebenda: 332). Diese durch Journalismus erzeugte Aufmerksamkeit mittels Themen kann am besten kollektive Relevanz erlangen, wenn die Themen nicht nur aus der Perspektive einer Systemrationalität, sondern aus der Perspektive mehrerer – sich meist irritierender – Rationalitäten Resonanz bzw. Anschlusskommunikation erzeugen. Für die Publika des Journalismus – und damit eben für die zugleich in mehrere Systeme inkludierten Publikumsrollen – ist es wichtig, sich über Ereignisse in Kenntnis zu setzen, die möglicherweise ihr eigenes Handeln oder ihre Erwartungshaltungen verändern können. Journalismus greift darum mit dem Anspruch der Mehrsystemrelevanz primär Ereignisse auf, die etablierten Erwartungen zuwiderlaufen bzw. soziale Ordnungen – durch systemfremde Rationalität – stören (vgl. Nachrichtenwerte). Kommunikation wird nach systemtheoretischer Auffassung als dreistufige Selektion von Information, Mitteilung und Verstehen konzipiert (vgl. Marcinkowski/Bruns 2004: 490), was wiederum auf die zentrale Bedeutung der „Rezeption als schwerpunktmäßige Aufmerksamkeitszuwendung und kommunikative Verstehensprozesse“ (Scholl 2004: 532) hinweist. Journalistische Kommunikation hört also nicht bei der Information und Mitteilung auf, sondern setzt zudem Verstehen voraus. Erst wenn „journalistische Aktualitätsofferten vom Publikum sinnkonform verstanden werden, […] kann man von journalistischer Kommunikation sprechen“ (Görke 1999: 413). Es ist dabei unerheblich, ob ein Richter,
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eine Konsumentin, ein Aktionär, eine Pfarrerin oder ein Lehrer die journalistische Mitteilung liest, hört oder sieht – der Rezeptionsvorgang – also das Verstehen des Publikums – ist immer eine Operation im System Journalismus, dessen Fortbestand darauf angewiesen ist, dass es zu solchen und weiteren Anschlüssen kommt. In der Umsetzung des Verstehens kann es dann bei den Rezipienten zu Operationen außerhalb des Journalismus kommen. Etwa dann, wenn der Richter aufgrund einer journalistischen Mitteilung ein Urteil überdenkt oder der Konzernchef seine Aktien verkauft etc. Erst über kommunikative Rezeption durch Publikum kann Journalismus in anderen Systemen durch Irritation Resonanz auslösen. Das makrotheoretische Konzept der Mehrsystemrelevanz findet seinen Ausdruck also auch auf der mikrotheoretischen Ebene der kommunikativen Rezeption durch Publikum. Auf der mesotheoretischen Ebene der journalistischen Organisationen spiegelt sich das Konzept in unterschiedlichen – oft auch im Widerspruch zueinander stehenden – Publikumskonzeptionen. Je nach dominierender Systemlogik wird auf der organisationalen Ebene der Medienorganisation nämlich eher eine politische, ökonomische oder journalistische Systemrationalität in Anschlag gebracht. Dort prallen diese sich gegenseitig irritierenden und paradoxen Systemlogiken aneinander (vgl. Wyss 2009). Je nach dominanter Logik prägen unterschiedliche Konstruktionsprinzipien das Publikumsbild (vgl. Hasebrink 2008). Wenn das Konzept des Publikums als Bürger aktualisiert wird, so werden Rezipienten primär in der Publikumsrolle des politischen Systems – quasi als „homo politicus“ – angesprochen. Sie werden als Mitglieder des demokratischen Gemeinwesens aufgefasst und sollen vom Journalismus dazu befähigt werden, kompetent an demokratischen Prozessen teilzunehmen. Publikumskonzepte, die vorwiegend Publika als Zielgruppen oder als mündige Konsumenten beschreiben, sind durch eine Marktlogik geprägt. Sie gehen davon aus, dass Rezipienten über Kenntnisse bezüglich Qualität und Angebotslage verfügen und in der Rolle des „homo oeconomicus“ mit dem Ziel der individuellen Bedürfnisbefriedigung vernünftig begründete Konsumentenentscheidungen treffen können. Der journalistischen Systemlogik wird jedoch am ehesten das Publikumskonzept des sozialen Akteurs (vgl. Bonfadelli/Meier (1996: 7) gerecht, der sich in verschiedenen Publikumsrollen mit unterschiedlicher Intensität den Medien zuwendet und von diesen Horizonterweiterung erwartet. Die Inklusion des Publikums in das System Journalismus setzt voraus, dass die vom Journalismus thematisierten Inhalte mit den Relevanzstrukturen aus der Lebenswelt der Publika gekoppelt werden können (vgl. Lünenborg 2005: 59ff.; Schütz/Luckmann 1979: 209f.). Wie dieser Anschluss an die Lebenswelt jedoch bewerkstelligt werden kann, wird weder im systemtheoretischen noch im normativ-demokratietheoretischen Zugriff auf diesen zentralen Kommunikationsprozess weiter ausgeführt. Auch marketingorientierte Ansätze, die auf die Befriedigung der Publikumserwartungen fokussieren, vermögen hier nicht genügend Erklärungskraft aufzubringen, weil sie letztlich einer ökonomischen Logik folgen und mit dem simplen Verweis auf eine nachgefragte Themenauswahl, eine unterhaltsame Aufbereitung, eine rezeptionsfreundliche „Verpackung“ oder eine narrative Dramaturgie der komplexen Rezeptionssituation nicht gerecht werden (vgl. Rau 2007: 137ff.). Hier muss vielmehr auf Ansätze der Cultural Studies und der Wirkungsforschung zurückgegriffen werden, um nachvollziehen zu können, wie journalistische Kommunikationsangebote in der Lebenswelt der Publika als relevant wahrgenommen und verstanden werden. Dies soll im Folgenden mit dem Verweis auf Narration als zentraler journalistischer Kommunikationsmodus weiter ausgeführt werden.
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Zur zentralen Bedeutung von Narration
5.1 Mikroanalytischer Zugriff Dass nicht nur in fiktionalen Medieneinangeboten, sondern auch in der journalistischen Berichterstattung „Geschichten“ erzählt werden, haben Hickethier (1997) und weitere Journalismusforschende (vgl. z.B. Lünenborg 2005) im Rahmen der Cultural Studies längst plausibel nachgezeichnet. Narration ist ein zentraler journalistischer Kommunikationsmodus. Corner (1999: 46) definiert Narration als „representations of chain of events in causeeffect relationship occuring in time and space“ und für Hickethier (1996: 107) ist Narration „eine Form von Sinnstiftung und Sinnvermittlung durch die besondere Art der Organisation der Welt im Akt des Erzählens.“ Es kann vor allem in einem mikroanalytischen Zugriff empirisch bestätigt werden, dass die journalistische Nachrichtenproduktion als „eine Form des Kommunizierens mit Blick auf Sinnstiftung und Orientierung im Gemeinwesen“ narrativen Mustern des Storytellings zu folgen habe, damit kommunikative Botschaften für Rezipienten signifikant verständlicher, erlernbarer, reproduzierbarer und leichter erinnerbar sind (Machill et al. 2006: 480). Es gilt als unbestritten, dass das Narrative einen stärker affektiven Zugang zu Themen ermöglicht, Neugier weckt, Spannungen aufbaut, Befürchtungen wachsen lässt, Mitfühlen ermöglicht und zur Identifikation einlädt. Der narrative Kommunikationsmodus dient der Reduktion von Komplexität, die durch eine bestimmte Erzählweise, Ritualisierung sowie oft auch unter Rückgriff auf meist archaische Rollen (z.B. Helden, Erlöser) realisiert wird. Die Elemente der journalistischen Geschichte stehen in einer zeitlichen Reihenfolge und werden einer Dynamik (z.B. Konfliktbzw. Lösungsstruktur; Macht vs. Ohnmacht etc.) zugeführt. Die journalistische Geschichte verfügt über mehrere Bedeutungsebenen, wobei die konkrete Handlung ein generelles Thema repräsentiert, das über die unmittelbare Aktualität hinausweist (vgl. Lünenborg 2005: 160). Lünenborg (ebenda: 159) unterscheidet in Anlehnung an Ekström (2000: 469) informative, narrative und performative Kommunikationsleistungen von Journalismus und betont, dass die Attraktivität des Journalismus für das Publikum den narrativen Modus voraussetzt. Gerade wenn die Interpretationsleistung des Journalismus im Vordergrund steht, so werden Techniken des Storytellings angewandt (Eckström 2000: 477). 5.2 Makroanalytischer Zugriff Unser Interesse gilt hier jedoch nicht dem instrumentellen Storytelling; vielmehr soll – noch immer einem makrotheoretischen Interesse folgend – der Frage nachgegangen werden, wie Journalismus unter Rückgriff auf seinen Leitcode der Mehrsystemrelevanz sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption Sinn steuert, indem er in der Öffentlichkeit thematisierte Diskurse an Narrationen zurückbindet, die das Verstehen erst ermöglichen. Die wesentliche Funktion des Journalismus als Erzählung wird in der an den Cultural Studies orientierten Journalismusforschung längst betont und vielfältig beschrieben. Lünenborg (2005: 164) fasst die verschiedene Ansätze zusammen und stellt fest, „dass bislang kein einheitliches Konzept zur Analyse des Narrativen im Journalismus existiert“ (ebenda: 166). Sie weist darauf hin, dass Journalismus „symbolisch die soziale Ordnung durch die Art der Erzählung“ repräsentiert, „die er von gesellschaftlichen Ereignissen lie-
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fert“. Damit wird die gesellschaftliche und hegemoniale Funktion der Narration in den Vordergrund gerückt. Die narrative Konstruktion journalistischer Interpretationen kann als gesellschaftliche Problemlösungsstrategie erkannt werden (vgl. Lünenborg 2005: 165). Ein wesentliches Merkmal von Narration ist deren Bezug auf eine Lösung in der Form eines Konsenses, wobei das Problem die zunächst feststellbare Inkonsistenz verschiedener Deutungsmuster darstellt. Journalismus gestaltet demnach eine Narration, in der Konsens die Lösung wäre, „in der die Gemeinsamkeit von Interessen als das Bessere gegenüber Interessendifferenzen dargestellt wird“ (ebenda: 165). Hierbei wird durchaus eine normative Position sichtbar, wonach Journalismus zur gesellschaftlichen Verständigung beizutragen habe. So versteht auch Habermas (1981: 217) das Erzählen von Geschichten als eine Urform der Verständigung, wobei Narration als alltäglicher, lebensweltlicher Kommunikationsmodus einen entscheidenden Beitrag zur Reproduktion kulturellen Wissens, zur Koordinierung gesellschaftlicher Handlungen und zur Identitätsbildung von Personen leistet. Habermas betont die wesentliche Rolle der Narration bei der Konstituierung von Lebenswelt. Narration dient somit dem Austausch von Erfahrungen, die gesellschaftliche Akteure in spezifischen Situationen – Systemkontexten – gewonnen haben. Der narrative Modus stellt den natürlichen Weg dar, wie in der Lebenswelt Sinn gemacht, erlebt und reproduziert wird. Vor dem Hintergrund des oben ausgeführten Konzepts der Mehrsystemrelevanz als journalistische Leitdifferenz und einem Publikumskonzept, das das Publikum als soziale Akteure konzipiert, die zugleich in mehrere systemische Bezüge inkludiert sind, wird deutlich, dass sich journalistisches Handeln gleichzeitig in systemischen wie auch in lebensweltlichen Bezügen vollzieht. Gerade bei der Kopplung von systemischen und lebensweltlichen Bezügen ist Narration unverzichtbar. Sie stellt unter Rückgriff auf klassische Erzählmuster und verbunden mit meist archaischen Rollen Interpretationsfolien bereit, auf denen an sich inkommensurable Systemrationalitäten verkettet werden. Zur Erklärung dieses Verkettungsmechanismus durch Narration wollen wir auf eine Konzeption von Lyotard (1999 [1986]) zurückgreifen und behaupten, dass sich auch im Journalismus bzw. bei dessen Rezeption die Kopplung inkommensurabler Systemrationalitäten unter Rückgriff auf narratives Wissen vollzieht (vgl. Geiger 2006: 173ff; Geiger 2005: 198). Gemäss Lyotard (1999 [1986]) lässt sich Wissen in zwei Wissensarten unterteilen: das diskursive und das narrative Wissen. Während diskursives Wissen auf den zugänglichen Regeln eines bestimmten Funktionssystems und dessen Evaluationskriterien beruht und damit unter Rückgriff auf diese systemspezifischen Standards erst reflexiv wird, kann das narrative Wissen als lebensweltliches, nicht reflexives Wissen charakterisiert werden. Die Generierung und Aktualisierung von diskursivem Wissen folgt jeweils einer bestimmten Systemrationalität. Einer bestimmten Deutung, Argumentation oder Legitimation kann beispielsweise eine wissenschaftliche, aber auch eine politische, rechtliche, religiöse, ökonomische oder künstlerisch-ästhetische Rationalität zugrunde liegen. Entsprechende Argumente gelten dann als akzeptiert, wenn sie erfolgreich den in der jeweiligen Systemrationalität geltenden Regeln und Evaluationskriterien unterzogen werden können. Die einer Systemlogik folgenden Diskurse sind jedoch nicht mit anderen – einer anderen Systemlogik folgenden – Diskursen vereinbar: „Because different standards are used to justify/legitimate the reasons, the discourses are fundamentally inconsumerable and cannot be reduced to each another“ (Geiger 2005: 198). Das Problem der Verkettung wäre bei ausschließlichem Rückgriff auf diskursives Wissen unlösbar; es kann nur über den
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Rückgriff auf Narration – Geiger (2006: 195) spricht von Meta-Narrationen – gelöst werden. Narratives Wissen hingegen tritt in Form von „Erzählungen“ auf und referiert auf die Kontexte der Diskurse. „Über Erzählungen erfährt man etwas über Erfolge und Misserfolge, über gelungene und misslungene Problemlösungen, über Glück und Unglück, über Schönheit und Gerechtigkeit usw.“ (Schreyögg/Geiger 2003: 49; vgl. auch Geiger 2005: 198). Mit Narration werden also nicht nur einfach Fakten oder diskursive Argumentationen vermittelt, sondern Narration kombiniert inkommensurable Diskurse aus dem Kontext jeweils spezifischer Situationen, indem sie miteinander kausal verlinkt werden und so für den Erzähler und den Rezipienten Sinn machen. „In der ‘Erzählung’ greifen problemlos beschreibende Aussagen, vorschreibende Aussagen, evaluierende Aussagen usw. ineinander“ (Schreyögg/Geiger 2003: 50). Narration hat dabei immer auch eine selbst legitimierende Dimension. Im Unterschied zum diskursiven Wissen bedarf narratives Wissen gemäss Lyotard (1999 [1986]) keines formellen Beurteilungs- oder Legitimierungsverfahrens. Narratives Wissen „legitimiere sich durch die Pragmatik seiner Übermittlung“ (Geiger 2006: 175). Wie diese Verkettung inkommensurabler Diskurse jedoch vom Journalismus organisiert wird und welche Folgen dies auf gesellschaftlicher Ebene mit sich bringt, ist weitgehend unerforscht. Bei der Analyse solcher Mechanismen kann sicherlich die FramingForschung ihren Beitrag leisten. Das interdisziplinär verwurzelte Framing-Konzept richtet seinen Fokus auf Frames als Interpretations- und Deutungsmuster, welche Informationen strukturieren und eine Basis für die Bewertung eines bestimmten Themas bieten (vgl. Entman 1993; Dahinden 2006; Eisenegger 2008: 151f.). Der Framing-Ansatz greift jedoch unseres Erachtens zu wenig weit, weil mit diesem sowohl die Bedeutung der temporalen Struktur als auch die Zwanghaftigkeit der Verwendung (archetypischer) Rollenträger nicht erfasst wird. „Although narratives share attributes with these [frames, Anm. des Verf.] and other theoretical terms, the key difference is that narratives use a specific temporal order of events to construct meanings” (McComas/Shanahan 1999: 37). Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die konzeptionellen Hinweise von Schreyögg und Koch (2005) zur Bedeutung von Narration im (organisationalen) Wissensmanagement. Unter Rückgriff auf Lyotards (1999 [1986]) Unterscheidung von diskursivem und narrativem Wissen verweisen sie auf die Funktion unhinterfragter und unreflektierter, so genannter „blind spots“ (vgl. auch Geiger 2005: 199), die jeder Diskurs benötigt, um dessen grundsätzliches Selbstlegitimationsproblem zu stoppen: „Discursive knowledge is not able to legitimate itself; it constantly searches for legitimation but cannot find it“ (ebenda: 200). Diese „Lücke“ wird durch die „blind spots“ gefüllt, die nun aber durch narratives Wissen repräsentiert sind. Nur über sie bzw. über die sie verbindenden, so genannten MetaNarrationen können an sich inkommensurable Diskurse verkettet werden (vgl. Koch 2005: 153). „Metanarrationen umgreifen die diskursive und narrative Ebene einer Organisation gleichermassen und stellen eine transitive, sehr stabile Ordnung zwischen den Wissensdiskursen auf der einen Seite und zwischen den Narrationen auf der anderen Seite her“ (Geiger 2006: 268ff.).
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5.3 Zur Dysfunktionalität von Narration Das Konzept der Narration verweist nicht nur auf das Potenzial und Notwendigkeit der Verkettung inkommensurabler Diskurse zur Herstellung von Sinn, sondern verweist auch auf die Gefahr der Unterdrückung von Diskursen und „unpassenden“ Narrationen im öffentlichen Diskurs. Der Rückgriff auf Meta-Narrationen kann im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit des Journalismus auch dysfunktionale Folgen zeitigen. Geiger (2005) bezeichnet Narration als „paradox genre“ und spricht von „the dark side of narrations.“ Er verdeutlicht, dass der Rückgriff auf Meta-Narrationen in mehrfacher Hinsicht problematisch ist (vgl. auch Geiger 2006: 273). Gemeint ist nicht nur die mit der Narration einhergehende Simplifizierung im Sinne der Komplexitätsreduktion. Vielmehr muss mit Bezug auf den Journalismus und dessen Grundfunktion der Selbstbeobachtung und Synchronisation von Gesellschaft problematisiert werden, dass Narration aus der Sicht des Diskurses Argumentationsprozesse verhindern oder blockieren kann. Gerade wegen der Nicht-Falsifizierbarkeit von der als blinder Fleck der Diskurse auftretenden Narration kann diese die Entstehung substanziell neuen, diskursiven Wissens verhindern und im Entstehen begriffene neue Diskurse unterdrücken, ohne dass dieser Prozess sichtbar gemacht würde. Der Rückgriff auf Meta-Narration – als ungeordneter und unsystematischer Speicher von narrativem Wissen – sorgt für eine kohärente und transitive Hierarchisierung von Diskursen. Eine solche Hierarchie unterdrückt potenzielle Diskurse, die sich nicht in das narrative Ordnungsschema einfügen lassen; sie werden durch den impliziten Unterdrückungsmechanismus der Meta-Narration als Nicht-Wissen entwertet. Am Beispiel des öffentlich ausgetragenen Steuerstreits um das Schweizer Bankgeheimnis und insbesondere um die Praxis der Steuerhinterziehung kann die Ambivalenz eines stillschweigenden Rückgriffs auf Meta-Narrationen im Journalismus verdeutlicht werden. Es war der deutsche Finanzminister Steinbrück, der im Herbst 2008 die deutsche Souveränität gefährdet sah, weil die Schweizer Banken mit ihrem Angebot, das Geld von Steuerflüchtigen zu beherbergen, in die staatliche Hoheit Deutschlands, Steuern zu erheben, eingriff. Der politischen Logik folgend verwendete er das Narrativ der „deutschen Kavallerie im Kampf gegen die Schweizer Indianer“, das dann auch von vielen Medien als die dominante Geschichte tradiert wurde. Im öffentlich ausgetragenen Steuerstreit trafen zwar sehr wohl mindestens ökonomische, politische, rechtliche, wirtschaftswissenschaftliche und ethische Diskurse aufeinander, die jeweils einer eigenen Systemrationalität folgten. Dennoch ist die Gegenüberstellung von zwei Souveränitäten eine Art Grundmuster der öffentlichen Debatte geblieben, auch wenn auf beiden Seiten weitgehend Konsens darüber bestand, dass der Staat nicht in die privaten Konten schauen darf. Gerade einer normativen, aufklärerischen Perspektive folgend, müsste doch aber die Erwartung an den Journalismus sein, dominante Narrationen nicht einfach zu übernehmen, sondern als solche zu identifizieren, frei zu legen und (eventuell durchaus gewollte und geförderte) Missverständnisse aufzuklären. Das Beispiel zeigt, dass zumindest die Gefahr droht, dass Narrationen – vorübergehend – eine Hegemonie über andere Narrationen erlangen, die dann bis zur Unkenntlichkeit zurücktreten. Daraus resultiert eine in der Journalismusforschung bisher nicht auftretende Anforderung insbesondere an Qualitätsmedien, nicht nur Argumentationen und diskursive Interpretationsangebote bzw. deren Irritationspotenzial zu thematisieren, sondern durch Narration gesteuerte Diskurse journalistisch so zu spiegeln, dass die tatsächlichen Motive
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erkennbar werden und erst so im Hinblick auf ihr Publikum eine (demokratische) Meinungsbildung in Gang setzten können.
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Fazit und Folgerungen
Die Analysen zur Krise der Qualitätsmedien gehen meist von einer demokratietheoretischen Perspektive mit Rekurs auf die Normen der Aufklärung und Moderne aus (vgl. etwa McQuail 1992) und stellen empirisch fest, dass neue mediale Selektions-, Interpretationsund Inszenierungslogiken kommunikative Bezüge zur Welt weg vom Kognitiven hin zum Emotionalen verschoben haben (vgl. Imhof 2008: 47). Vor dem Hintergrund von Ansprüchen wie deliberative Demokratie, Rationalität von Diskursen und Legitimation politischer Macht wird dabei ein Strukturwandel der Öffentlichkeit diagnostiziert, der seinen Niederschlag in der „Entbettung“ der Medien von politischen Geltungsräumen bzw. in der dominanten Kopplung der Medien an die Marktlogik, deren Ablösung vom Staatsbürgerpublikum sowie in der Privatisierung des Öffentlichen oder in Phänomenen der Moralisierung und Skandalisierung findet (vgl. ebenda: 37ff.). Angesichts dieser ernüchternden Analysen ist zu fragen, ob so genannte Leitmedien als „Zentralorgane der politisch-kulturellen Öffentlichkeit im nationalen und internationalen Kontext“ quasi nur noch als in ihrer ökonomischen Existenz gefährdete Verkörperung der „Vergangenheit in der Gegenwart“ aufzufassen sind (Imhof 2008: 40) und was als Benchmark noch taugt. Wir meinen, dass der Benchmark neu zu entwickeln ist und nicht nur aus der Perspektive einer demokratietheoretischen Konzeption, sondern stärker vor dem Hintergrund journalismustheoretischer Überlegungen von der Eigenlogik des Journalismus als zentrales Leistungssystem der Öffentlichkeit auszugehen hat. So wurde hier versucht, die systemtheoretisch herzuleitende Leitdifferenz des Journalismus quasi als archimedischen Punkt zu nehmen, von dem aus seine Leistungsfähigkeit zu beurteilen ist. Die so entwickelte Leitdifferenz der Mehrsystemrelevanz kann als Referenz genommen werden, um deduktiv qualitätsorientierte Leistungsanforderungen herzuleiten, mit denen der Journalismus insgesamt und insbesondere dessen Qualitätsmedien konfrontiert werden. Bei der Reproduktion von Mehrsystemrelevanz bzw. bei der Verkettung inkommensurabler Diskurse greift Journalismus auf Meta-Narrationen zurück, was jedoch auch zur hegemonialen Stabilisierung bzw. Unterdrückung „unpassender“ Narrationen führen kann. Das Freilegen hegemonialer Meta-Narrationen im öffentlichen Diskurs wird somit auch zu einer zentralen Anforderung an den Journalismus. Mit Rekurs auf die Normen der Aufklärung und Moderne und entsprechender Ansprüche an den rationalen Diskurs muss also der Journalismus der Qualitätsmedien in der Lage sein, zunächst implizite – als Meta-Narrationen in Anschlag gebrachte – Geltungsansprüche als solche freizulegen. Ein solches diskursives Beurteilungsverfahren setzt eine Beobachtung zweiter Ordnung voraus. In der Regel ist der Journalismus mit widersprüchlichen oder zumindest konkurrierenden Geltungsansprüchen konfrontiert. Es obliegt der Entscheidung von Qualitätsmedien, welches narrative Wissen einer diskursiven Prüfung zugeführt werden soll und welches nicht. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass das relevante, Sinn steuernde, narrative Wissen zunächst identifiziert wird. Qualitätsmedien unterstützen ihre Publika dabei, solche Meta-Narrationen vor Augen zu haben, wenn diese z.B. in der Rolle als Politiker, Wirtschaftsführerin, Lehrer, Richterin, Pfarrer oder Künstlerin ihre Angebote
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rezipieren. Qualitätsjournalismus beschränkt sich also nicht darauf, Diskurse einfach wieder zu geben, sondern legt die Meta-Narrationen hinter den Diskursen frei. 3 Erst die Freilegung aus der Beobachterperspektive zweiter Ordnung ermächtigt die Publika im aufklärerischen Sinn. Auch für die Wissenschafts-Community, die sich mit entsprechenden Anforderungen an Qualitätsmedien beschäftigt, gilt, dass die von ihr geführten Diskurse „blind spots“ aufweisen können, die durch narratives Wissen repräsentiert sind. Dies könnte etwa dann der Fall sein, wenn davor gewarnt wird, dass die Journalismusforschung „ihren Gegenstand aus den Augen verliere“ wenn sie sich zu sehr auf die „noch ungewohnte“ Perspektive der Cultural Studies einlasse (Scholl 2000: 405f.). Dieser Beitrag soll auch als Plädoyer verstanden werden, sich bei der Suche nach integralen Qualitätsmodellen für den Journalismus (vgl. Saxer 2000: 197) am spieltheoretischen Obligat zu orientieren und wissenschaftliche Erkenntnisproduktion als möglichst ingeniöses Spiel gegen sperrige Gegenstände anzulegen. Es wäre demnach falsch, aus Sicht der Wissenschaft die narrative Rationalität als „wild, primitiv, unterentwickelt, rückständig, verwirrt, aus Meinungen bestehend, Gewohnheiten, Autorität, Vorurteilen, Unwissenheit und Ideologien“ abzutun und in die Welt der „Fabeln, Mythen, Legenden, gut für Frauen und Kinder“ (Lyotard 1999 [1986]: 85) zurück zu schicken. Der Rückgriff auf narratives Wissen scheint bei der journalistischen Inszenierung von Wirklichkeit gerade wegen des von diesem in Anschlag gebrachten narrativen Kommunikationsmodus eine zentrale Rolle zu spielen. Dies umso mehr, als in der Lebenswelt der Publika ohnehin immer eine narrative Aneignung der Objektwelt stattfindet. „Narrative theory generally holds that humans use narratives to weave together fragmented observations to construct meanings and realities“ (McComas/Shanahan 1999: 36).
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Wandel von Qualitätsmedien Bernd Blöbaum 1
Einleitung
Ein Leitmotiv in der Diskussion um journalistische Qualität lautet, diese sei schwer zu bestimmen. Auf die Definitionsschwierigkeit wird auch im wissenschaftlichen Diskurs über Qualitätsmedien häufig hingewiesen. Was sind Qualitätsmedien, nach welchen Kriterien lassen sie sich von anderen Medien abgrenzen und hinsichtlich welcher Dimensionen sind die Leistungen von Qualitätsmedien zu beschreiben? Dieser Beitrag schlägt fragmentarisch Antworten auf diese Fragen vor und ergänzt damit Studien, die sich in vielfältiger Weise mit Medienqualität beschäftigen (vgl. z.B. Arnold 2009). Im Mittelpunkt steht die Analyse von Veränderungen, die sich seit den 1990er Jahren bei (Qualitäts-)Medien beobachten lassen. Basierend auf Daten aus einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt zum Wandel des Journalismus1 werden Erkenntnisse zum Wandel und zur Stabilität in einem ausgewählten Medienbereich vorgestellt: Analysiert werden „Süddeutsche Zeitung“, „Kölner Stadt-Anzeiger“, „Tagesthemen“, „RTL aktuel“l, „Deutschlandfunk“, WDR 2. Ausgangspunkt sind Überlegungen zur wissenschaftlichen Analyse von Qualitätsmedien, die diese Medienform über ihre Leistungen in der Gesellschaft und über ihre journalistischen Merkmale beschreibt. Ausgehend von einem Konzept zur Analyse des journalistischen Wandels werden daran anschließend ausgewählte Ergebnisse vorgestellt, die teils Kontinuität und teils Veränderungen dokumentieren. 1.1 Zur wissenschaftlichen Analyse von Qualitätsmedien Obwohl kaum ein Beitrag – dieser eingeschlossen –, der Medien und Journalismus unter Qualitätsgesichtspunkten betrachtet, ohne den Hinweis auskommt, dass Qualität schwer bestimmbar ist, gibt es mittlerweile eine Vielzahl von Studien, die das Verständnis von Qualität im Journalismus erweitern. Arnold, der die wissenschaftliche Diskussion über Qualitätsjournalismus umfassend aufgearbeitet hat, konstatiert zwar eine Ähnlichkeit der vorgeschlagenen Qualitätskriterien, vermisst aber eine Klärung darüber, „aus welchen Gründen Journalismus bestimmte Kriterien beachten sollte“ (Arnold 2009: 18). Analytische Schwierigkeiten dieser Art tauchen auch bei der Bestimmung von Qualitätsmedien auf. Im (journalistischen) Alltagsgebrauch werden Qualitätsmedien von Boulevardmedien unterschieden. In der Kommunikationswissenschaft werden Qualitätsmedien von Leitmedien und Elitemedien getrennt und Begriffe wie Prestigemedien oder Meinungsführermedien benutzt (vgl. dazu die Beiträge in Müller, Ligensa, Gendolla 2009). Was zeichnet Qualitätsmedien aus?
1 Im Projekt mitgearbeitet haben Sophie Bonk, Anne Karthaus, Annika Kutscha, wissenschaftliche Mitarbeiterinnen am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Münster.
R. Blum et al. (Hrsg.), Krise der Leuchttürme öffentlicher Kommunikation, DOI 10.1007/978-3-531-93084-8_4, © VS Verlag fur Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Eine Lexikondefinition zu „Qualitätszeitungen“ listet auf, welche Tageszeitungen in Deutschland dieser Gruppe zugerechnet werden und nennt als Merkmale „internationale Kooperationen, zusätzliche Regionalteile bzw. -seiten für Ballungszentren oder Hauptstadtausgaben sowie diverse Redaktionsbeilagen“ und „ein publizistisch ansprechendes Angebot“ (Raabe 2006: 236). Während diese Beschreibung Angebotsstruktur und Inhalt als Merkmale in den Mittelpunkt rückt, verweisen andere Autoren auf die Publikumsseite, wobei vor allem die Rezeption von Qualitätsmedien durch Journalisten ein Indikator für die besondere Stellung diese Medien ist. Qualitätsmedien sind in diesem Sinne Meinungsführer- und Leitmedien, weil insbesondere Journalisten sie als solche anerkennen. Für Reinemann (2005: 225) sind Meinungsführermedien „solche Medien, die Journalisten als Informationsquellen nutzen und an denen sie sich orientieren.“ Auf die Leit- und Agenda Setting-Funktion innerhalb des Journalismus verweisen auch Jarren und Donges (2002: 219), die für die „überregionalen Qualitätszeitungen sowie die politischen Wochenzeitungen und politischen Nachrichtenmagazine“ festhalten, dass sie von „allen Journalisten genutzt und als besonders relevant angesehen“ (ebd.) werden. Diese Auffassung vertritt auch Habermas: „Die Qualitätspresse spielt mindestens im Bereich der politischen Kommunikation – also für die Leser als Staatsbürger – die Rolle von ‚Leitmedien’. Auch Funk und Fernsehen sowie die übrige Presse sind nämlich in ihrer politischen Berichterstattung und Kommentierung weitgehend abhängig von den Themen und Beiträgen, die ihnen die ‚räsonnierende’ Publizistik vorschießt.“ (Habermas 2007) Eine Befragung von deutschen Journalistinnen und Journalisten, die kontinuierlich über bundespolitische Themen berichten, kommt zu dem Ergebnis, dass es „nicht mehr nur überregionale Zeitungen und die Wochenpresse sind, die den Takt der politischen Berichterstattung vorgeben“ (Reinemann 2005: 242). Insbesondere die „Bild Zeitung“ übt gemäß der Studie einen wachsenden Einfluss auf die Berichterstattung anderer Zeitungen über politische Themen aus. Journalisten nutzen andere Medien zur „Rationalisierung von Auswahlentscheidungen“ (Weischenberg/Malik/Scholl 2006: 133). Die jüngste Repräsentativ-Befragung deutscher Journalisten ergibt, dass 35 Prozent der Journalisten die „Süddeutsche Zeitung“ lesen, 34 Prozent den „Spiegel“. 15 Prozent der befragten Journalisten rezipieren die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 11 Prozent die „Zeit“ und 10 Prozent die „Bild Zeitung“ (vgl. ebd.: 290). Die Rezeption in der Gruppe der Journalisten und bei Entscheidungsträgern ist für viele Autoren das zentrale Merkmal von Qualitätsmedien (vgl. auch Weischenberg/Malik/Scholl 2006: 133f.). Eine interne Differenzierung der Gruppe der Qualitätsmedien nehmen Jarren und Vogel vor, indem sie Leitmedien als Teilmenge der Qualitätsmedien beschreiben, die „ein spezifisches organisationales Feld“ konstituieren (vgl. Jarren/Vogel 2009: 88). Ihre Leistung basiert auf „ihrer exponierten gesellschaftspolitischen Stellung, der damit verbundenen thematischen wie normativen Ausrichtung (journalistische Beobachtungsleistung und Kommentierung)“ (ebd.). Als wesentliche Merkmale von Leitmedien nennen die Autoren die Rezeption in einem Kreis von Entscheidungsträgern und Angehörigen der gesellschaftlichen Elite und verweisen auf die besondere Rolle dieser Medien bei der Übernahme von Themen und Deutungen durch Journalisten anderer Medien. Leitmedien haben sich historisch als soziale Ordnung „in Form einer allgemein bekannten wie anerkannten Hierarchie der Medien“ (Jarren/Vogel 2009: 77) herausgebildet. Ihnen wird eine „besondere, weil allseits erwartbare und bekannte gesellschaftliche Beobachtungs- und Reflexionskompetenz zugeschrieben. Insbesondere diese Medien ermöglichen den gesellschaftlichen Akteuren
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wie den Rezipienten eine rasche und ressourcengünstige Beobachtung zentraler gesellschaftlicher Entwicklungen“ (ebd.: 71). Neben Selbstbeobachtung als Leistung von Leitmedien verweisen Jarren und Vogel auf ihre besondere Rolle für die gesellschaftliche KoOrientierung. Akteure der Gesellschaft beobachten sich und andere mit Hilfe dieser Medien und verschaffen sich damit Orientierungsmöglichkeiten für ihr Handeln. Die Verweise auf verschiedene Leistungen von Leit- und Qualitätsmedien helfen, die spezifischen Merkmale dieser Medientypen herauszustellen. Die Leistungen umfassen allgemeine funktionale Beiträge für die Gesellschaft, die stark den Funktionsbestimmungen des Journalismus entsprechen. Hierzu zählen die Selbstbeobachtung der Gesellschaft und ihrer Teilbereiche und die Ko-Orientierung, mit der sich Akteure und Organisationen in ihren Umwelten orientieren können. Die soziale und kulturelle Rolle von Qualitätsmedien sowie ihre spezifische Position im Journalismus erschließt sich mit Hilfe der Heuristik eines journalistischen Feldes im Rahmen der Kultursoziologie Bourdieus (vgl. Bourdieu 1998, Benson/Neveu 2005, Raabe 2005, Hanitzsch 2007). Journalismus wird dabei im Feld der kulturellen Produktion verortet. Hier stehen sich zwei Seiten gegenüber: „Das Feld der eingeschränkten Produktion mit relativ hoher Autonomie […] und einem vergleichsweise hohen Umfang an spezifischem symbolischen Kapital (Prestige des Produkts und der Produzenten)“ (Hanitzsch 2007: 248/Hervorheb. weggelassen; B.B.). Dem gegenüber steht das „Feld der Massenproduktion, das sich durch eine niedrige Autonomie, einen hohen Umfang an ökonomischem Kapital und geringen Umfang an spezifischem symbolischen Kapital auszeichnet“ (ebd.: 248). Die beiden Ränder des Feldes sind auch als Gegenüber eines intellektuellen Pols (mit hohem kulturellen Kapital ausgestatteten) und eines kommerziellen Pols (mit geringem kulturellen Kapital versehenen) deutbar (vgl. ebd.: 250). „Je näher Feldpositionen dem kommerziellen Pol stehen, umso mehr regiert die ökonomische Logik der Massenproduktion, die auf das Erreichen eines möglichst großen Publikums bzw. möglichst großer Marktanteile abzielt. Die journalistische Autonomie, d.h. die Durchsetzungskraft der spezifischen Logik des journalistischen Feldes, wird den heteronomen Kräften von Auflagen, Quoten und Nutzerzahlen geopfert“ (ebd.: 250).
Mit einer auf Bourdieus Theorie aufbauenden Heuristik kann Qualitätsjournalismus gesellschaftlich am autonomen, intellektuellen, mit hohem kulturellen Kapital ausgestatten Pol des journalistischen Feldes positioniert werden, während der Boulevardjournalismus mit seiner stärkeren Orientierung am Geschmack eines Massenpublikums und an Marktbedürfnissen dem kommerziellen Pol zuzuordnen ist. „Am intellektuellen Pol des Feldes zählt insbesondere das spezifische symbolische Kapital des Journalismus, das seinen Niederschlag in der Anerkennung der journalistischen Leistung durch Kollegen findet“ (ebd.: 252). Auf der intellektuell-autonomen Seite manifestiert sich der Ethos eines guten Journalismus. Dies erklärt, warum Journalisten, die nicht bei Qualitätsmedien arbeiten, sich nicht nur an den dort gewählten Themen und Deutungen orientieren, sondern auch deren konkrete journalistischen Praktiken schätzen wie beispielsweise das „Streiflicht“ und die „Seite Drei“ der „Süddeutschen Zeitun“g, die Nachrichtenauswahl der „Tagesschau“ und investigative Recherchen des „Spiege“l. Die Güte der bei Qualitätsmedien geleisteten journalistischen Arbeit (von der eigenständigen, bisweilen investigativen Informationssammlung über die Ausführlichkeit und Differenziertheit der Themendarstellung bis zur sprachlichen und optischen Qualität der Beiträge) konstituiert sie ebenfalls als Leitmedien, auch im
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Sinne eines Leuchtturms. Dieser markiert eine Position, zu der sich andere Positionen in Beziehung setzten können, um ihre Stellung zu beschreiben. Qualitätsmedien sind nicht – wie die Leuchtturmmetapher nahelegen könnte – als feste Punkte im System der Massenmedien und des Journalismus zu verorten, sondern auf einer Seite eines mehrdimensionalen Feldes. Sie sind nicht erschöpfend beschrieben durch ihre historische Entwicklung und Positionierung im sozialen Feld, sondern auch über journalistische Leistungen und Merkmale identifizierbar, die sie von anderen Medien abgrenzen. Auf der Ebene der journalistischen Programme sind die Differenzen zu anderen Medienformen an deutlichsten sichtbar. Die Spezifika von Qualitätsmedien lassen sich veranschaulichen, indem sie Boulevardmedien gegenüber gestellt werden, wobei zu betonen ist, dass es sich nicht um gegenüberliegende Punkte auf einer Skala handelt, sondern um unterschiedliche Bereiche im Medienfeld. Qualitätsmedien orientieren sich in ihrer Berichterstattung vorrangig am Muster des Informationsjournalismus, während Boulevardmedien stärker dem Berichterstattungsmuster des Unterhaltungsjournalismus folgen. Information und Unterhaltung sind auf das Publikum gerichtet und drücken sich in unterschiedlichen Themenselektionen sowie Vermittlungsformen aus. Diese Charakterisierungen bündeln zahlreiche Merkmale: Das journalistische Selektionsprogramm führt bei Qualitätsmedien zu einer größeren Vielfalt der veröffentlichten Themen. Qualitätsmedien thematisieren Ereignisse aus mehr gesellschaftlichen Bereichen als Boulevardmedien. Der Variety Pool der „Süddeutschen Zeitung“, der „Neuen Zürcher Zeitung“ und des „Standard“ ist größer als bei der „Bild Zeitung“, bei „Blick“ und „Kurier“ – und er ist anders zusammengesetzt. Die Ereignis- und Themenvielfalt verteilt sich bei den beiden Medienformen unterschiedlich. Während Qualitätsmedien den gesellschaftlichen Teilbereichen Politik, Wirtschaft, Kultur und Sport regelmäßig breite und differenzierte Aufmerksamkeit schenken, widmen Boulevardmedien Intimbeziehungen, Familien und Sport viel Raum. Bereits die redaktionelle Organisationsstruktur verdeutlicht diese Unterschiede: Bei der „Süddeutschen Zeitung“ sind mehr Ressorts (in der für die Rezipienten sichtbaren Blattstruktur, nicht im Impressum) ausdifferenziert als bei der „Bild Zeitung“, bei der in der Blattstruktur nur der Sportteil durch Rubrikentitel und durch die Positionierung der Seiten im Blatt erkennbar ist. Die unterschiedliche Themenauswahl wird ergänzt durch die stark abweichende Beachtung von Nachrichtenwerten an beiden Polen. Dramatik, Devianz, Prominenz und Negativität dominieren als journalistische Selektionskriterien im Boulevardbereich. Eine auf Medientypen bezogene Bestimmung von Nachrichtenfaktoren und redaktionellen Entscheidungsprozessen müsste derartige Differenzen berücksichtigen. In der Nachrichtenwertforschung wird deshalb vorgeschlagen, die Kriterienkataloge zu ergänzen, etwa um „visual attractiveness“, „entertainment“, „celebrity“, „good news“, „bad news“ (O`Neill/Harcup 2009: 165f., 168). Die Darstellungsprogramme der beiden Medientypen weichen ebenfalls voneinander ab. Qualitätsmedien benutzen eine größere Varianz bei ihren journalistischen Formen (Nachricht, Bericht, Feature, Interview, Reportage, Kommentar, Glosse, Dokumentation) als Boulevardmedien. Sie ordnen die Themen (Politik vor Wirtschaft; Kultur vor Sport) anders als Boulevardmedien; sie gewichten anders und wählen andere Präsentationsformen (Layout, Einsatz von Bildern, Grafiken, Musik, Schnitte, Überschriftenformen etc). Im Bereich der journalistischen Organisationsstruktur sind die Differenzen zwischen Qualitäts- und Boulevardmedien, abgesehen von der Redaktionsstruktur, schwächer ausgeprägt als auf der Programmebene. Boulevardjournalismus ist ähnlich personalintensiv wie
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Qualitätsjournalismus. Auf Organisationsebene sind bei Qualitätsmedien mehr Auslandskorrespondenten beschäftigt, und in einzelnen Berichterstattungsfeldern gibt es eine höhere Form von Spezialisierung. Die Qualitätsmedien sind insgesamt weitaus umfangreicher als die Boulevardtitel; sie stellen deutlich mehr Themen zur öffentlichen Diskussion. Regionalzeitungen, der Zeitungstyp mit der größten Haushaltsabdeckung in Deutschland, liegen bei den von ihnen bearbeiteten Themen näher bei den Qualitätszeitungen. Auch ihre Redaktionsstruktur ähnelt eher den national verbreiteten Titeln. Regionalmedien fokussieren sich auf umfangreiche lokale Berichterstattung und greifen bei darüber hinaus gehenden Ereignissen stärker auf Nachrichtenagenturen zurück als überregionale Blätter. Die angeführten Gesichtspunkte liefern einige Indizien dafür, dass Qualitätsmedien als relatives Phänomen aufzufassen sind. Lässt sich ihre gesellschaftliche Leistung noch normativ und funktional bestimmen, erschließen sich die journalistischen Leistungen vorrangig dadurch, dass sie sich inhaltlich, organisatorisch und rollenbezogen von anderen Medien unterscheiden. Für die weitere Forschung wäre es erhellend, wenn auch die Qualitätsmedien selbst als ein Feld konzipiert würden, das intern differenziert ist. Eine relationale Sichtweise auf Medienqualität eröffnet die Möglichkeit, innerhalb einzelner Segmente Positionierungen vorzunehmen. Bei den Regionalzeitungen wäre dann beispielsweise der „Kölner Stadt-Anzeiger“ mit umfangreicher überregionaler Berichterstattung unter Rückgriff auf zahlreiche Korrespondenten unter Qualitätsgesichtspunkten näher bei der „Süddeutschen Zeitung“ als das „Westfalenblatt“ oder die „Kreiszeitung“ von Syke. Im Bereich des Journalismus, so ist zusammenfassend festzuhalten, lassen sich Qualitätsmedien am autonomen, mit hohem kulturellen und symbolischen Kapital ausgestatten Pol des journalistischen Feldes verorten; markieren Qualitätsmedien eine Orientierungsposition für Journalisten anderer Medien; bearbeiten Qualitätsmedien mehr und andere gesellschaftliche Bereiche als andere Massenmedien; benutzen Qualitätsmedien eine Vielfalt journalistischer Darstellungs- und Vermittlungsformen; verwenden Qualitätsmedien im Vergleich zu sonstigen Medien andere Nachrichtenwerte als Selektionskriterien bei der Themenwahl; verlassen sich Qualitätsmedien vorrangig auf eigene Kräfte (Korrespondenten, freie Mitarbeiter) bei der Sammlung von Informationen im In- und Ausland. Dieser Merkmalskatalog liefert eine Systematik zur Analyse von Qualitätsmedien, die gesellschaftliche Leistungen mit journalistischen Merkmalen verknüpft. Dass solche Zuschreibungen kontingent sind, zeigt ein Blick auf die Merkmale, die Wilke Leitmedien zuschreibt. Er nennt mit Verbreitung und Reichweite (allgemein und bei der Elite), Bindung des Publikums an die Medien, Nutzung durch Journalisten, Expertenurteile und Zitierhäufigkeit andere Kriterien, die empirisch zu validieren sind (vgl. Wilke 2009: 32ff.). 1.2 Zur Analyse des Wandels von Qualitätsmedien Die Herausarbeitung der gesellschaftlichen und journalistischen Spezifika von Qualitätsmedien liefert eine Grundlage für die empirische Analyse dieses Medientyps. Die Untersu-
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chung hat Qualitätsmedien nicht nur hinsichtlich einzelner journalistischer Elemente zu fokussieren, sondern fragt auch danach, welche Bedeutung diese Medien und ihr Wandel für die Gesellschaft haben, also etwa, inwiefern Leistungen wie Selbstbeobachtung und Vermittlung von Ko-Orientierung durch Veränderungsprozesse tangiert sind. Das analytische Konzept gründet auf einem Strukturmodell des Journalismus, das durch drei Elemente gekennzeichnet ist: Im Bereich der journalistischen Organisationen geht es primär um die Redaktion als medientypische Organisationsform und die dort ablaufenden Handlungen und Kommunikationen. Gefragt wird nach dem Aufbau der Organisationen, den dort vorhandenen Ressourcen (z.B. journalistisches Personal) sowie nach den Kontextbedingungen, die die Medienorganisation beeinflussen. Im Bereich der journalistischen Rollen geraten die konkreten Tätigkeiten von Journalisten, die in und für Redaktionen arbeiten, ihre Einstellungen, ihr Publikumsbild und ihre sozialen Merkmale in den Blick. Im Feld der journalistischen Programme sind die Techniken der Informationssammlung, die Selektionsprogramme und die Darstellungsformen des Journalismus zu untersuchen (vgl. Blöbaum 2004). Weil – wie oben gezeigt – die spezifischen Merkmale von Qualitätsmedien gegenüber anderen Medien sich vor allem im Bereich der journalistischen Programme manifestieren, konzentriert sich die folgende empirische Analyse auf die Themen und Formen der Berichterstattung. Der Wandel von Qualitätsmedien lässt sich nicht nur an einem Phänomen festmachen. Wandel liegt nur dann vor, wenn sich wesentliche Strukturbereiche der Qualitätsmedien nachhaltig ändern. Deshalb können die im Folgenden geschilderten Veränderungen allenfalls als Indizien für einen Wandel dieser Medienform angeführt werden.2 Um journalistische Veränderungen bei Qualitätsmedien zu beschreiben, wird auf Daten aus einem dreijährigen, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt zum Wandel des Journalismus zurückgegriffen, in welchem Veränderungen in diesem gesellschaftlichen Bereich seit 1990 nachgegangen wurde. Wie gezeigt sind Qualitätsmedien und Qualitätsjournalismus relative empirische Phänomene. Die Auswahl der Untersuchungsobjekte basiert auf drei Überlegungen: Erstens werden die drei klassischen (und reichweitenstärksten) Mediengattung einbezogen: Zeitungen, Hörfunk und Fernsehen; damit eröffnen sich Vergleichsmöglichkeiten zwischen diesen Verbreitungsmedien. Zweitens soll eine interne Differenzierung innerhalb der Gattungen Berücksichtigung finden; deshalb wird bei Zeitungen und Hörfunk jeweils ein überregionales und ein regionales, beim Fernsehen ein öffentlich-rechtliches und ein privates Angebot gewählt. Drittens werden informationsorientierte Angebote ausgesucht, die im Verhältnis zu Alternativen im Feld inhaltlich und organisatorisch eher differenziert operieren. Während die ersten beiden Punkte auf eine interne Differenzierung im Qualitätsfeld zielen, differenziert das dritte Auswahlkriterium innerhalb der Medientypen, indem beispielsweise der „Kölner Stadt-Anzeiger“ unter der Regionalpresse als Qualitätsprodukt im Verhältnis zu anderen regional verbreiteten Zeitungen angesehen wird. „RTL aktuell“ wird relativ gesehen unter Qualitätsgesichtspunkten anders bewertet als ein Nachrichtenangebot bei Vox oder Sat1. Die Auswahl definiert damit die ausgewählten Medien einerseits absolut als Gruppe von Qualitätsmedien (im Verhältnis zu anderen Zeitungen, Hörfunk- und Fernsehsendungen) und andererseits jedes einzelne Medium relativ im Qualitätsfeld (z.B. „Süddeutsche Zeitung“ im Verhältnis zum „Kölner Stadt-Anzeiger“). 2
Zum analytischen Konzept bei der Untersuchung von Wandel im Journalismus vgl. Blöbaum 2005.
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Folgende Medien gehen in die Untersuchung ein:
„Süddeutsche Zeitung“ als überregionale Zeitung, „Kölner Stadt-Anzeiger“ als regionale Zeitung; „Deutschlandfunk“ als nationales Hörfunkprogramm (analysiert wurde die 30minütige Sendung Informationen am Abend), WDR 2 als regionales Hörfunkprogramm für Nordrhein-Westfalen (analysiert wurde die 60-minütige Sendung Der Tag); „Tagesthemen“ als TV-Nachrichtenmagazin eines öffentlich-rechtlichen Senders (ARD) und RTL aktuell als Fernsehnachrichtensendung eines privaten Senders.
Die Ergebnisse basieren auf einer Inhaltsanalyse. Aus vier Jahrgängen (1990, 1995, 2000, 2005) wurden aus jedem Monat mithilfe einer Zufallsauswahl Beiträge ausgewählt. Bei den Hörfunk- und Fernsehmedien wurde aus jedem Monat eine Sendung gezogen und vollständig inhaltsanalytisch untersucht. Damit ergibt sich pro Medium eine Stichprobe von jeweils 48 Sendungen; insgesamt umfasst die Analyse 4947 Einzelbeiträge (Hörfunk: 2058 (ohne 19903); TV: 2889). Bei den Printmedien wurden zwei Inhaltsanalysen durchgeführt. Bei der strukturellen Inhaltsanalyse auf Zeitungs- bzw. Ressortebene erfolgte die Stichprobenziehung wie bei den Hörfunk- und Fernsehmedien. Bei der Artikelanalyse, die detailliert Aufschluss über die Inhalte der einzelnen Artikel liefert und aus welcher im folgenden Ergebnisse vorgestellt werden, wurden aus den 96 bereits ausgewählten Zeitungsausgaben jeweils fünf Artikel zufällig gezogen. Damit ergibt sich eine Stichprobe von 480 Artikeln.
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Die Inhaltsanalyse liefert zahlreiche Hinweise für Veränderungen der ausgewählten Medien seit 1990. Die Darstellung der Ergebnisse konzentriert sich auf ein Element der journalistischen Programmebene: die Themen der Berichterstattung. Dabei werden folgende Dimensionen der Themen behandelt: das Themenprofil, die Aufmacherthemen, die Berichterstattungsanlässe, Emotionalisierung und Personalisierung in der Berichterstattung sowie Hintergrundinformationen. 2.1 Themenprofil und Aufmacherthemen Das Themenprofil zeigt, wie sich die Berichterstattung der untersuchten Medien über verschiedene Ereignisfelder seit 1990 verändert hat. Für alle Medien ist zu konstatieren: die Berichterstattung über deutsche Außenpolitik und Politik im Ausland hat abgenommen. Dies korrespondiert mit einem Befund der Analyse von Nachrichten im deutschen Fernsehen: Der Anteil internationaler Politik ohne deutsche Beteiligung geht bei TV-Nachrichten von 31 Prozent 1992 auf 17 Prozent 2007 zurück. Während dieses Themenfeld bei „Tagesschau“ (ARD) und „Heute“ (ZDF) mit einem Drittel über die Jahre seinen Platz behaupten konnte, halbierte es sich bei „RTL aktuell“ nahezu auf 16 Prozent 2007 (1992: 30 Prozent) (vgl. Maier/Ruhrmann/Stengel 2009: 30). 3
1990 gab es die beiden untersuchten Sendungen noch nicht.
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Der Vergleich der Themenentwicklung bei „RTL aktuell“ und „Tagesthemen“ (ARD) in der Studie zum Wandel des Journalismus zeigt, dass die Entwicklung der Themenprofile nicht einheitlich verläuft. Die Hauptnachrichtensendung des Privatsenders verzeichnet zwischen 1990 und 2005 eine starke Zunahme der Ereignisbereiche Lokales, Service und Kriminalität. Bei Tagesthemen wächst im gleichen Zeitraum der Anteil von Beiträgen in den Bereichen Innenpolitik, EU-Politik, Wirtschaft, Sport, Gesellschaft und Katastrophen. Bei RTL zeichnet sich eine Tendenz zur stärkeren Publikumsorientierung ab (mehr Lokalund Servicenachrichten), die ergänzt wird durch Devianz-Berichterstattung (Kriminalität). Dagegen profiliert sich das ARD-Nachrichtenmagazin über eher traditionell gesellschaftlich relevante Themenfelder (Politik, Wirtschaft). Betrachtet man Qualitätsmedien als Feld, dann stabilisiert sich das „Tagesthemen“-Programm im Spannungsfeld zwischen journalistisch-autonomer Themenwahl und publikumsorientierter Themenwahl, während RTL mit seiner Nachrichtensendung eher publikumsgetrieben erscheint. Der Bedeutungsgewinn von Wirtschaft seit 1990 schlägt sich bei allen Medien nieder – mit Ausnahme von RTL. Die Themenentwicklung in den TV-Nachrichtenmagazinen seit 1990 weist aus, dass das öffentlich-rechtliche Angebot inhaltlich vielfältiger aus mehr gesellschaftlichen Bereichen berichtet. Das Selektionsprogramm bei RTL verschafft im Laufe der Zeit Themen aus den Bereichen Service und Kriminalität mehr Raum. Damit entfernen sich die inhaltlichen Profile dieser TV-Angebote voneinander. Vier der untersuchten Medien („Deutschlandfunk“, „Tagesthemen“, „Süddeutsche Zeitung“ und „Kölner Stadt-Anzeiger“) schenken in der Berichterstattung dem Themenbereich Gesellschaft 2005 mehr Aufmerksamkeit als 15 Jahre zuvor. Dieses Feld umfasst Themen aus den Bereichen Bildung, Integration und Migration, Armut/Reichtum, Gewalt und Extremismus, Hilfsaktionen und Karitatives, Kirche/Religion sowie Globalisierung. Die Veränderung in diesem Themenfeld ist also keineswegs als Indiz für eine Verflachung des Angebots zu sehen, sondern als eine Ausweitung des für die Berichterstattung als relevant erachteten Ereignisraums. In der stärkeren Beachtung der EU-Politik (Zunahmen bei WDR 2, „Tagesthemen“, starke Zunahme bei der „Süddeutschen Zeitung“) spiegelt sich der Bedeutungsgewinn der Europäischen Union wieder. Hier zeigt sich erneut, dass „RTL aktuell“ diesem generellen Trend nicht folgt. Bei allen untersuchten Medien ist das Themenspektrum in den vergangenen Jahren breiter geworden. Wirtschaft und EU-Politik sowie der Themenbereich Gesellschaft haben an Bedeutung gewonnen; politische Themen haben relativ an Bedeutung verloren. Die bisher ausgewerteten Daten liefern Hinweise, dass mit dem sich verändernden Themenspektrum eine redaktionelle Profilbildung der einzelnen Medien einhergeht. Die starke Zunahme von Themen aus den Bereichen Service, Kriminalität und Lokales bei RTL kann ebenso als eine publizistische Strategie zur Profilierung dieses Angebots gedeutet werden wie die ebenfalls starke Zunahme von Wirtschaft, EU-Politik und Innenpolitik in der Berichterstattung der „Süddeutschen Zeitung“. Seit 1990 verändern sich die untersuchten Qualitätsmedien damit in unterschiedliche Richtungen. Während die öffentlich-rechtlichen und national verbreiteten Medien die gesellschaftliche Vielfalt stärker abbilden, profilieren sich das private TV-Programm und die Regionalzeitung im Sample eher über weichere Themen. Die beim Themenprofil der Medien beobachteten Veränderungen zeigen sich ebenfalls bei der Analyse der Aufmacherthemen auf den Titelseiten der Printmedien. Auf der ersten Seite erscheinen die Themen, die die Redaktion als Ergebnis des täglichen Selektionspro-
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zesses als besonders bedeutend herausstellt. Weil bei Abonnementzeitungen der Einzelverkauf an Bedeutung gewonnen hat, zeigt die Analyse der Titelseiten, mit welchen Themen die Rezipienten besonders angesprochen werden. Haben sich die als Aufmacher gewählten Themen zwischen 1990 und 2005 verändert? Die empirische Analyse zeigt, dass auf den Titelseiten der „Süddeutschen Zeitung“ und des „Kölner Stadt-Anzeigers“ die Themenvielfalt größer geworden ist. 2005 haben mehr gesellschaftliche Themen Chancen, als Aufmacher gewählt zu werden als 1990. Dominierten bei dem nationalen und dem regionalen Titel 1990 noch politische Themen aus dem In- und Ausland die Aufmachungen, treten 15 Jahre später – bei gleichbleibender Bedeutung von Innenpolitik – bei beiden Zeitungen nun vermehrt nicht-politische Themen als Aufmacher hinzu. Die Erosion des Politischen ist bei der Regionalzeitung größer als bei der „Süddeutschen Zeitung“. Der geschilderte Prozess liefert einen weiteren Hinweis auf die Strategie einer Profilierung über die Auswahl und Präsentation von Themen. Zugleich zeigt sich, dass der Wandel bei der „Süddeutschen Zeitung“ deutlich langsamer vorangeht als beim „Kölner Stadt-Anzeiger“. 2.2 Anlässe der Berichterstattung Was löst journalistische Aktivität aus? Die Untersuchung unterscheidet zwischen drei Anlässen für journalistische Berichterstattung: Ereignis (zeitlich und räumlich begrenzt, z.B. ein Staatsbesuch, eine Entscheidung des Parlaments), Stellungnahme (eine schriftliche oder mündliche Äußerung, z.B. Opel teilt die Entlassung von Beschäftigten mit) und Thema (hier liegt der inhaltliche Schwerpunkt eines Beitrags auf einem Thema/Sachverhalt, z.B. viele Patienten täuschen ein Schleudertrauma vor). Jeder der drei Berichterstattungsanlässe markiert einen Ausgangspunkt für journalistische Leistungen. Während Ereignisse vor allem die Hürde journalistischer Aufmerksamkeit überspringen müssen, um in der Berichterstattung Erwähnung zu finden, ist bei Themen die aktive journalistische Initiative stärker ausgeprägt. Löst eine Stellungnahme einen Beitrag aus, ist die damit verknüpfte Initiative von Journalisten geringer einzuschätzen als bei einem Thema, das einen höheren Anteil redaktioneller Eigenentscheidung erfordert. Der Vergleich der Qualitätsmedien ergibt kein einheitliches Bild. Zwischen 1990 und 2005 ist die Berichterstattung der „Süddeutschen Zeitung“ und bei der Nachrichtensendung von RTL themenorientierter geworden, während der „Kölner Stadt-Anzeiger“ und die „Tagesthemen“ ereignisorientierter berichten. Trotz der Unterschiede zwischen einzelnen Medien ist insgesamt eine Entwicklung zu beobachten, in der Ereignisse als Auslöser der Berichterstattung eher an Bedeutung verlieren, während Stellungnahmen von Akteuren und Organisationen Bedeutung gewinnen. Man könnte dies auf einen gestiegenen Einfluss von Organisationskommunikation zurückführen, die den Journalismus adressiert. 2.3 Emotionalität und Personalisierung Ereignisse und Themen müssen nicht nur ausgewählt und bearbeitet, sondern auch dargestellt werden. Zwei Aspekte werden in der Literatur immer wieder genannt, wenn Veränderungen bei den Präsentationsweisen und Inhalten der Berichterstattung aktueller Medien behandelt werden: Emotionalität und Personalisierung (vgl. Bruns/Marcinkowski 1997, Maier/Ruhrmann/Stengel 2009). Die Begriffe Emotionalisierung und Personalisierung
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verknüpfen Veränderungen in der zeitlichen Dimension zwischen mehreren Messpunkten mit Wandel in der sachlichen Dimension, also mit einem Wandel der berichteten Themen und ihrer Darstellungsweise. Auf den Titelseiten der Zeitungen bündeln sich, wie oben dargelegt, in besonderer Weise die Ergebnisse journalistischer Entscheidungen, das Publikum anzusprechen und Aufmerksamkeit zu generieren. Ein Indikator für den Emotionsgehalt einer Zeitung ist das Titelbild. Vergleicht man die Emotionen4 in den Titelbildern der „Süddeutschen Zeitung“ mit denen des „Kölner Stadt-Anzeigers“ so findet sich ein weiterer Hinweis darauf, dass die Medien mit einer je spezifischen publizistischen Strategie operieren. Bei der „Süddeutschen Zeitun“g ist der Anteil der Aufmacher-/Titelfotos, die Emotionen enthalten, zwischen 1990 (47 Prozent) und 2005 (43 Prozent) relativ stabil geblieben. Hier ist keine Veränderung des redaktionellen Konzepts erkennbar. Anders beim „Kölner Stadt-Anzeiger“: Dort zeigten 1990 erst 19 Prozent der Titelbilder Emotionen, in der Stichprobe 2005 stieg der Anteil auf 65 Prozent. Während die „Süddeutsche Zeitung“ ihr ausgewogenes Verhältnis von emotionalen und nicht-emotionalen Aufmacherfotos konstant hält, ist beim „Stadt-Anzeiger“ aus Köln ein Trend zur Emotionalisierung von Titelbildern erkennbar. Dass Qualitätsmedien keine gleiche und gleichzeitige Entwicklung nehmen, belegen auch die Daten zur Personalisierung. Eine klare Tendenz ist nicht erkennbar, vielmehr unterscheiden sich die untersuchten Medien darin, welche Rolle Personen in den Beiträgen einnehmen. Die Untersuchung der Artikel und Beiträge unterscheidet drei Stufen der Personalisierung: Keine und geringe Personalisierung liegt vor, wenn Namen, Personen und Titel nicht genannt werden, oder wenn sie zwar genannt werden, aber sachliche Vorgänge den Kern der Berichterstattung ausmachen; eine mittlere Personalisierung wurde dann kodiert, wenn Personen und Sachverhalte gleichrangig behandelt werden; die Ausprägung große Personalisierung umfasst Beiträge, in denen sich das Geschehen primär um namentlich genannte Personen dreht, die als Einzelpersonen dargestellt werden. In diesem Fall ist Personalisierung ein journalistisch eingesetztes Stilmittel.
4 Der Emotionsgehalt einer Abbildung gibt nicht die mit dem Bild verbundenen Emotionen des Kodierers wieder, sondern bewertet die Emotionen, die Menschen (und Tiere) in der Abbildung zeigen.
Wandel von Qualitätsmedien Abbildung 1:
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Entwicklung der Personalisierung von 1990 bis 2005
Medium
keine/geringe
mittlere
große
SZ
Ð
Ï
Î
Kölner StadtÎ Anzeiger
Î
Î
WDR
Ð
Ï
Ô
DLF
Ï
Ð
Î
Tagesthemen
Î
Î
Î
RTL aktuell
Ð
Ð
Ï
n = 5454 Die Tabelle zeigt die festgestellte Personalisierung (keine/gering, mittlere, große) bei den aufgeführten Medien. Die Pfeile in Tabelle 1 visualisieren das Maß der Veränderungen. Eine Pfeilspitze nach oben zeigt eine starke Zunahme an, eine Pfeilspitze nach unten analog dazu eine starke Abnahme und eine Pfeilspitze nach rechts bedeutet, dass der Anteil von Personalisierung in den analysierten Beiträgen über den Untersuchungszeitraum hinweg relativ konstant geblieben ist.
Ein genereller Trend zur Personalisierung ist bei den untersuchten Qualitätsmedien nicht feststellbar. Dass Personen (und nicht Sachverhalte) den Mittelpunkt der Berichterstattung bilden (große Personalisierung), hat nicht zugenommen, sondern ist eher gleich geblieben. Eine Ausnahme bildet das Nachrichtenmagazin „RTL aktuell“. Bei dieser Sendung ist eine deutliche Profilierung der Berichterstattung durch Personalisierung zu erkennen. Beiträge mit keiner/geringer und mittlerer Personalisierung haben bei der RTL-Nachrichtensendung wischen 1990 und 2005 stark abgenommen, solche mit starker Personalisierung nahmen deutlich zu. Dieses Ergebnis korrespondiert mit dem Themenprofil von RTL, bei dem mit dem Fokus auf Kriminalität, Service und Lokalem Berichterstattungsfelder wichtiger geworden sind, die sich gut über Personen darstellen lassen. Für den Kölner „Stadt-Anzeiger“ ist festzuhalten, dass dieses Medium – im Vergleich zu anderen Kategorien – hinsichtlich der Rolle von Personen in den Artikeln eine hohe Stabilität aufweist. 2.4 Hintergrundinformationen Zu den journalistischen Merkmalen von Qualitätsmedien gehört die Leistung, Ereignisse und Themen in ihren Kontexten darzustellen. Wenn diese Medien der Aufgabe gerecht werden wollen, die Rezipienten über diverse gesellschaftliche Systeme zu informieren (Leistung der Ko-Orientierung), dann drückt sich dies in der Themenvielfalt ebenso aus wie in der Verknüpfung von Themen mit Hintergrundinformationen. Damit sind Hinweise,
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Erklärungen und zusätzlich recherchierte Informationen gemeint, die den Rezipienten helfen sollen zu verstehen, wie ein Ereignis zustande kommt, welche Bedeutung es hat oder welche Folgen es haben kann. Die Analyse der Beiträge unterschiedet zwischen keinen, kurzen (bei Artikeln im Umfang von bis zu drei Sätzen) und ausführlichen Hintergrundinformationen. Abbildung 2:
Entwicklung von Hintergrundinformationen von 1990 bis 2005
Medium
keine
kurze
ausführliche
SZ
Ð
Î
Ï
Kölner StadtÐ Anzeiger
Ï
Î
WDR
Ð
Ï
Ò
DLF
Ò
Ï
Ð
Tagesthemen
Ï
Ò
Ð
RTL aktuell
Ð
Î
Ï
n = 5454
Wie bei Personalisierung zeigt sich bei der Analyse der Kontextualisierung von Informationen in Qualitätsmedien kein einheitliches Bild. Als Qualitätsgewinn bei den Qualitätsmedien ist zu deuten, dass mit Ausnahmen des „Deutschlandfunks“ und der „Tagesthemen“ der Anteil von Beiträgen ohne Hintergrundinformationen stark zurückgeht. In vielen Qualitätsmedien erfahren die Rezipienten also deutlich mehr über die Zusammenhänge und Folgen von Ereignissen und Themen. Bei den meisten der untersuchten Qualitätsmedien nehmen die kurzen Zusatzinformationen zwischen 1990 und 2005 stark zu. Das Nachrichtenmagazin des „Deutschlandfunks“ und die „Tagesthemen“ senden im Laufe des Untersuchungszeitraums deutlich weniger ausführliche Hintergrundinformationen. Sie setzten mehr auf kurze Erläuterungen und Einordnungen. Die „Süddeutsche Zeitung“ und „RTL aktuell“ verzeichnen eine starke Zunahme ausführlicher Hintergrundinformationen. Diese publizistische Leistung bezieht sich auf die spezifischen Themenprofile, die bei der Zeitung stärker politisch und beim privaten Fernsehprogramm eher bunt angelegt sind. Eine Profilierung über journalistische Leistungen wird bei der „Süddeutschen Zeitung“ ebenfalls bei der Berücksichtigung von Informationsquellen sichtbar. Wurden 1990 in 60 Artikeln noch 124 Informationsquellen konkret genannt (2,07 Quellen pro Beitrag), nannten die Journalisten 2005 in 60 Artikeln 174 Quellen (2,85 Quellen pro Beitrag).
Wandel von Qualitätsmedien
3
61
Fazit: Stabilität und Wandel bei Qualitätsmedien
Die Analyse von Qualitätsmedien unter dem Aspekt des Wandels ergibt kein geschlossenes Bild. Zwar haben sich alle untersuchten Medien zwischen 1990 und 2005 verändert, aber weder innerhalb der Mediengattungen (Zeitungen, Hörfunk, Fernsehen) noch hinsichtlich verschiedener journalistischer Dimensionen ist ein uni-direktionaler oder konsistenter Wandel sichtbar. Veränderungen bei publizistischen Qualitätsmedien lassen sich mit dem Begriff Differenzierung beschreiben: Das Spektrum der behandelten Ereignisse hat sich im Untersuchungszeitraum bei allen Medien ausdifferenziert. Die Aufmerksamkeit der Zeitungs-, Hörfunk- und Fernsehredaktionen verteilt sich 2005 auf mehr gesellschaftliche Themenfelder als 15 Jahre zuvor. Versteht man die Themenfelder als gesellschaftliche Funktionsbereiche, dann ist festzuhalten, dass Qualitätsmedien ihre Rolle als SelbstbeobachtungsEinrichtungen der modernen Gesellschaft nunmehr breiter interpretieren. In diesem Prozess verliert Politik relativ zu anderen Berichterstattungsfeldern an Bedeutung, bleibt allerdings ein wichtiges Gebiet. Die journalistische Berichterstattung spiegelt die gesellschaftliche Differenzierung wider. Die geschilderte Entwicklung bedeutet eine interne Differenzierung des Journalismus. Die journalistischen Selektions- und Entscheidungsprogramme der einzelnen Medien erzeugen differenzierte Themenprofile. Diese Profilierung zeigt sich nicht nur in der Themenauswahl, insbesondere bei den Aufmacherthemen, sondern auch in der unterschiedlichen Bedeutung von Prägungen wie Emotionalität und Personalisierung sowie bei der Kontextualisierung von Informationen. Interpretiert man die Daten für die einzelnen Medien in zeitlicher Hinsicht, lassen sich unterschiedliche Tempi des Wandels identifizieren. Während die „Süddeutsche Zeitung“ sich in den untersuchten Dimensionen eher behutsam verändert, sind die Differenzen zwischen den Untersuchungszeitpunkten 1990 und 2005 beim „Kölner Stadt-Anzeiger“ größer. Bei „RTL aktuell“ nehmen die Beiträge mit starker Personalisierung stark zu, während die „Tagesthemen“ über die 15 untersuchten Jahre hinweg hinsichtlich Personalisierung stabil geblieben sind. Bei der öffentlich-rechtlichen Nachrichtensendung gehen ausführliche Hintergrundinformationen stark zurück, bei RTL legen sie stark zu. Die untersuchten Medien entwickeln eine je eigene Dynamik. Dies ist ein Zeichen für die relative Autonomie dieser Medienform und des Journalismus. Die Daten der Inhaltsanalyse sind mit Blick auf das journalistische Feld interpretierbar: Am autonomen Pol des Feldes (wo die „Süddeutsche Zeitung“ zu verorten ist) vollziehen sich Veränderungen langsamer als am kommerziellen Pol (wo „RTL aktuell“ zu verorten ist). Zwar unterliegen alle Medien einer Publikumsorientierung und sind als Organisationen Marktgesetzen ausgesetzt, das publikumsorientierte ökonomische Kalkül schlägt bei den untersuchten Medien jedoch unterschiedlich stark durch: Während sich „RTL aktuell“ und der „Kölner StadtAnzeiger „an breite Rezipientengruppen wenden, ist die Zielgruppe der „Süddeutschen Zeitung“ homogener und dem Wandel möglicherweise weniger zugetan, als dies in anderen Zielgruppen der Fall ist. Die Regionalzeitung und „RTL aktuell“ bewegen sich schneller und ausgeprägter vom autonomen auf den kommerziellen Pol des journalistischen Feldes zu. Die dargestellten Ergebnisse belegen nicht, dass die die Mediengattung (Print, Hörfunk, Fernsehen) einen bestimmten Wandel hervorruft. Veränderungen im Themenprofil
62
Bernd Blöbaum
und bei den Vermittlungsstrategien sind nicht gattungsspezifisch – wohl aber redaktionsspezifisch. Das jeweilige redaktionelle Entscheidungsprogramm ändert sich. Innerhalb der Medienformen unterscheiden sich beispielsweise. „Tagesthemen“ und „RTL aktuell“ hinsichtlich der hier ausgesuchten Dimensionen stärker voneinander als „Deutschlandfunk“ und WDR 2. Die untersuchten Sendungen und Zeitungen stehen relativ zu andern Medienangeboten für Qualitätsprodukte. Erst ein Vergleich mit weiteren Regionalzeitungen und Nachrichtensendungen anderer Kanäle würde es erlauben, diese Qualität besser zu qualifizieren. Die Untersuchung unter dem Aspekt des Wandels verdeutlicht in zeitlicher (Tempo der Veränderung) wie in sachlicher (Themen der Berichterstattung) Hinsicht Unterschiede. Öffentlich-rechtliche Programme und die national verbreitete „Süddeutsche Zeitung“ weisen eine vergleichsweise hohe zeitliche Stabilität auf und schärfen ihr Themenprofil in den klassischen Feldern Politik und Wirtschaft. RTL setzt dagegen mehr auf die publikumsorientierten Bereiche Service und Kriminalität – und zwar auch mit mehr Hintergrundinformationen, während die öffentlich-rechtlichen Angebote „Deutschlandfunk“ und „Tagesthemen“ in den letzten Jahren weniger ausführliche Hintergrundinformationen lieferten als zuvor. Um mehr Aufschluss über das publizistische Phänomen der Qualitätsmedien zu erhalten, erscheint es ertragreich, die vorliegenden Kriterienkataloge künftig zu gewichten. Auf Basis eines plausiblen Rasters ließen sich Merkmale wie Themenprofil, Personalisierung und Hintergrundinformation – um nur einige zu nennen – in einen Index überführen, der als Maß für journalistische Qualitätsprodukte gelten könnte. Dies eröffnet eine Perspektive für weitere Forschung. Die bisher vorliegenden Befunde zu Qualitätsmedien liefern keine Hinweise dafür, dass sie ihre gesellschaftliche Leistung nicht (mehr) erfüllen. In dieser Hinsicht bleiben Qualitätsmedien stabil. Veränderungen betreffen Elemente der journalistischen Struktur, bei denen ein Wandel bei Entscheidungs- und Darstellungsprogrammen feststellbar ist. Die Untersuchung zeigt Stabilität und Wandel bei Qualitätsmedien als zwei Seiten einer Medaille. Wenn Qualitätsmedien Leuchttürme in der publizistischen Landschaft sind, dann zeigt unsere Untersuchung, dass sich die beim Leuchten eingesetzten Techniken seit 1990 etwas verändert haben.
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Wandel von Qualitätsmedien
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Hanitzsch, Thomas (2007): Die Struktur des journalistischen Felds. In: Altmeppen, KlausDieter/Hanitzsch, Thomas/Schlüter, Carsten (Hg.): Journalismustheorie: Next Generation. Soziologische Grundlegung und theoretische Innovation. Wiesbaden, S. 239-260. Jarren, Otfried/Patrick Donges (2002): Politische Kommunikation in der Mediengesellschaft. Eine Einführung. Band 1: Verständnis, Rahmen und Strukturen. Wiesbaden. Jarren, Otfried/Vogel, Martina (2009): Gesellschaftliche Selbstbeobachtung und Koorientierung: Die Leitmedien der modernen Gesellschaft. In: Müller, Daniel/ Ligensa, Annemone/Gendolla, Peter (Hg.): Leitmedien. Konzepte. Relevanz, Geschichte. Band 1. Bielefeld, S. 71-92. Maier, Michaela/Ruhrmann, Georg/Stengel, Karin (2009): Der Wert von Nachrichten im deutschen Fernsehen. Inhaltsanalyse von TV-Nachrichten im Jahr 2007. Düsseldorf. Müller, Daniel/Ligensa, Annemone/Gendolla, Peter (Hg.) (2009): Leitmedien. Konzepte, Relevanz, Geschichte. Band 1 und 2. Bielefeld. O`Neill, Deirdre/Harcup, Tony (2009): News Values and Selectivity. In: Hanitzsch, Thomas/ WahlJorgensen, Karin (Hg.): The Handbook of Journalism Studies. New York, S. 161-174. Raabe, Johannes (2005): Die Beobachtung journalistischer Akteure. Wiesbaden. Raabe, Johannes (2006): Stichwort Qualitätszeitungen. In: Bentele, Günter/Brosius, HansBernd/Jarren, Otfried (Hg.): Lexikon Kommunikations- und Medienwissenschaft. Wiesbaden, S. 236. Reinemann, Carsten (2005): Bild, BamS und Glotze? Zum Wandel der Kommunikations- und Einflussstrukturen im politischen Journalismus. In: Behmer, Markus et al. (Hg.): Journalismus und Wandel. Analysedimensionen, Konzepte und Fallstudien. Wiesbaden, S. 225-244. Weischenberg, Siegfried/Malik, Maja/Scholl, Armin (2006): Die Souffleure der Mediengesellschaft. Report über die Journalisten in Deutschland. Konstanz. Wilke, Jürgen (2009): Historische und intermediale Entwicklungen von Leitmedien. Journalistische Leitmedien in Konkurrenz zu anderen. In: Müller, Daniel/ Ligensa, Annemone/Gendolla, Peter (Hg.): Leitmedien. Konzepte. Relevanz, Geschichte. Band 1. Bielefeld, S. 29-52.
Qualitätsmedien auf dem Weg in die digitale Zukunft. Programmangebote von deutschsprachigen Informationssendern im Vergleich Patrick Rössler, Juliane Kirchner und Sonja Kretzschmar Leuchttürme senden Signale, die als Orientierungspunkte das Navigieren im Ozean erleichtern. Betrachtet man in dieser Metapher Qualitätsmedien als solche Leuchttürme, erwarten wir von ihnen Orientierung im Ozean der Informationen. So wie die alten Leuchtfeuer durch moderne funktechnische Navigationshilfen (etwa GPS) vermeintlich überflüssig geworden sind, können kompetente Mediennutzer heute unter einer Vielzahl von Angeboten (nicht nur im Internet) auswählen und entscheiden, in welche Richtung sie navigieren wollen. Nun ergeben sich zwei Möglichkeiten: 1) Die Institution des Leuchtturms wird ausgehöhlt und zweckentfremdet: Auf alten Leuchttürmen der Schifffahrt kann man heute Urlaub machen oder sogar heiraten. Analog dazu würden die öffentlich-rechtlichen Leitmedien sich ihrem öffentlichen Auftrag entfremden und ein Angebot zusammenstellen, das allein die Reichweitenstärke zum Ziel hat. Dies verhindert aber der Rundfunkstaatsvertrag, der die öffentliche Aufgabe des Rundfunks definiert. 2) Die zweite Möglichkeit besteht darin, die traditionelle Funktion der Orientierung beizubehalten – denn obwohl (oder gerade weil) sich heute viele auf Satellitennavigation verlassen, kommt manch einer vom Wege ab und ist froh, sich an einem der traditionellen Wegweiser orientieren zu können. Der Weg zwischen beiden Punkten ist eine Gratwanderung, die derzeit in der Medienpolitik austariert wird: Wie viel Anpassung an die neuen Anforderungen muss sein, um nicht nur zum Navigationsmuseum zu werden, wie viel Anpassung darf sein, um nicht nur ein Spaß-Anbieter unter vielen zu sein? Dies ist der Hintergrund, vor dem die Debatte um den 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag stattfand (NN 2008a, NN 2008b, NN 2008c, Roether 2008, Ridder 2008, Siebenhaar 2008) und dessen Rechtmäßigkeit weiterhin diskutiert wird (Knappmann 2009). Der Info-Kanal EinsExtra, dessen Berechtigung in diesem Vertrag ebenfalls beschlossen wurde, ist ein Teil der Strategie, mit der die öffentlich-rechtlichen Leitmedien, in diesem Fall die ARD, versuchen, Qualitätsmedien fit für ihren Weg in die digitale Zukunft zu machen (Gangloff 2009: 83). Der hier angedeutete Kontext bringt es mit sich, dass jede normative Diskussion um Qualitätskriterien unauflöslich mit (medien-)politischen Argumenten und Positionen verknüpft ist, die dem Forscher die Bewertung aus wissenschaftlicher Sicht sicher nicht erleichtern. Am Beispiel des Info-Kanals EinsExtra, der bereits seit 1997 existiert, dessen Angebot aber seit Februar 2008 umfangreich ausgebaut wurde, verdeutlichen wir nachfolgend, wie eine Funktionserweiterung aussehen kann, um im Idealfall auf dem hart umkämpften Informationsmarkt bestehen zu können. Eine Inhaltsanalyse dieses und weiterer Programme, basierend auf verschiedenen Qualitätsmerkmalen für TV-Journalismus, verdeutlicht die Gemeinsamkeiten mit, aber insbesondere die Unterschiede zu klassischen Angeboten kommerzieller (n-tv, N24) und öffentlich-rechtlicher Sender (ZDFinfo, Phoenix). Im Hinblick auf die Qualität der Programme muss bedacht werden, dass es bei Spartensendern R. Blum et al. (Hrsg.), Krise der Leuchttürme öffentlicher Kommunikation, DOI 10.1007/978-3-531-93084-8_5, © VS Verlag fur Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Patrick Rössler, Juliane Kirchner und Sonja Kretzschmar
mitunter andere Ansprüche gibt als dies bei Vollprogrammen der Fall ist (vgl. Hasebrink 1997). Da sich die vorliegende Studie mit der Analyse von Nachrichten- und Informationskanälen (und somit einem aus gesellschaftlicher Sicht sensiblen Angebot) beschäftigt, wird zweifelsohne eine besonders hohe Qualität von vornherein vorausgesetzt. Dies soll nicht kaschieren, dass selbstverständlich auch innerhalb dieses Angebotstyps qualitative Unterschiede bestehen und die Frage erst noch zu klären wäre, ob überhaupt – und wenn ja auf welcher Basis – hier von „Qualitätsmedien“ gesprochen werden kann. Jede Einschätzung ist hier abhängig von den angelegten Kriterien, über die sich trefflich streiten lässt. In diesem Sinne sollen die im Folgenden vorgestellten Ergebnisse primär Hinweise auf Potenziale für Weiterentwicklungen im Bereich qualitativ hochwertiger Informationsprogramme geben.
1
EinsExtra im Kontext deutschsprachiger Informationssender
Die verfassungsrechtliche Bestands- und Entwicklungsgarantie für den öffentlichrechtlichen Rundfunk bezieht zwar das Internet (als so genannte Telemedien) mit ein, die Berichterstattung unterliegt dort jedoch zeitlichen Einschränkungen und muss programmbegleitend erfolgen (§ 11). Von grundlegender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die in §11b des Staatsvertrags getroffene Festlegung, welche Programme von den öffentlichrechtlichen Sendern überhaupt veranstaltet werden – darunter findet sich bei der ARD neben dem „Ersten“ unter anderem auch als Zusatzangebot „EinsExtra“. In einer Anlage, die Bestandteil des Vertrages ist, wird dessen Konzeption wie folgt beschrieben: „EinsExtra ist der digitale lnformationskanal der ARD. Ziel ist es, EinsExtra unter dem organisatorischen Dach von ARD aktuell und unter der Qualitäts-Marke Tagesschau zu einem umfassenden Informationsprogramm mit einem verlässlichen Nachrichtenservice für alle Nutzungsformen und Verbreitungswege weiter zu entwickeln. Kein anderer Programmanbieter verfügt über ein vergleichbares Netz von Reportern und Korrespondenten wie die ARD. Ihre aktuellen Berichte werden unter Nutzung von Synergien in einer integrierten Nachrichtenredaktion multimedial und plattformgerecht aufbereitet und verfügbar gemacht. Die ARD nimmt damit im öffentlich-rechtlichen Kernbereich „Information“ ihre Aufgabe und Verantwortung wahr, jederzeit frei verfügbare, zeitgemäße, dem hohen Anspruch von ARD aktuell entsprechende Nachrichtenangebote für alle bereitzustellen.“ [Anlage zu § 11b Abs. 1 Nr. 2 des Rundfunkstaatsvertrages: Programmkonzept Digitale Fernsehprogramme der ARD]
Diese Passage ist gleich in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert: Zum einen betont sie den hohen Qualitätsanspruch des ARD-Nachrichtenangebots, zum anderen wird dafür die „Tagessschau“ als Dachmarke eingeführt, und schließlich der neue, digitale Kanal „EinsExtra“ als zukünftiger Markenkern etabliert, aus dem sich die anderen Verbreitungswege speisen. Exemplarisch für diese Verschränkung von klassischem und digitalem Fernsehangebot mit dem Internet mag die folgende Zielvorgabe stehen: „Die Digitalisierung der Programme ermöglicht […] Angebote, die über das herkömmliche Programmangebot hinausgehen, also einen Mehrwert für den Zuschauer bilden. EinsExtra bietet deshalb – in Zusammenarbeit mit der Internetredaktion der Tagesschau – ständig aktualisierte Informationen auch außerhalb des speziellen Nachrichtenformats an. Sie werden in einer soge-
Qualitätsmedien auf dem Weg in die digitale Zukunft
67
nannten „Infoleiste“ zusätzlich zum Programm eingeblendet und ebenfalls ständig von „tagesschau.de“ aktualisiert.“ [Anlage zu § 11b Abs. 1 Nr. 2 des Rundfunkstaatsvertrages: Programmkonzept Digitale Fernsehprogramme der ARD]
Hier wird deutlich, dass mit Hilfe des umfassenden digitalen Fernsehangebots EinsExtra der von ARD aktuell unter der Dachmarke „Tagesschau“ bereitgehaltene Informationsbestand enorm erweitert und damit auch im Internet (weil programmbegleitend) präsentabel wird. Dabei sorgt dieses Konzept für medienpolitischen Zündstoff, da es die Marktposition der Internet-Ableger klassischer journalistischer Leuchttürme aus dem Print-Sektor zu bedrohen scheint. Deswegen wird es von den Print-Anbietern und den privaten Fernsehsendern heftig kritisiert, und seine inhaltliche Ausrichtung heizt auch nach dem Beschluss weiterhin die Diskussionen an (Knappmann 2009). Andererseits wird hier eine mögliche Strategie transparent, wie eine zeitgemäße Adaption bisheriger „Leuchttürme“ unter den Qualitätsmedien an den technologischen Fortschritt aussehen kann. Denn tatsächlich gilt im Informationsbereich des deutschen Fernsehens die „Tagesschau“ bis heute als Leitmedium und Benchmark (Matzen/Radler 2009): Die „20-Uhr-Tagesschau“ ist mit etwa neun Millionen Zuschauern täglich die meistgesehene Nachrichtensendung im deutschen Fernsehen. (vgl. Zubayr/Gerhard 2008) Gleichzeitig konkurriert das Flaggschiff mit Spartenkanälen wie n-tv oder N24, die zwar rund um die Uhr Informationssendungen ausstrahlen, deren Einschaltquoten aber kontinuierlich gering sind (vgl. Krüger 2008). Allerdings zeigen die Nutzungsdaten, dass vor allem die Altersgruppen jenseits von 49 Jahren zu den hohen Marktanteilen der öffentlich-rechtlichen Informationsprogramme beitragen – unter jüngeren Nutzern sind Angebote von kommerziellen Sendern oft populärer. Außerdem hat diese Zielgruppe andere Nutzungsansprüche an Nachrichten, als sie nur zu vorgegebenen Sendezeiten, z. B. um 20 Uhr zu empfangen. Im Sinne von „anytime, anywhere, anyhow“ sind auf den Bildschirmen in Bahnhöfen, U-Bahnen oder auf den Handys längst die Angebote den Nutzern an die Orte gefolgt, an denen sie Nachrichten außerhalb der klassischen Prime-Times konsumieren wollen. Diese Entwicklung, die langfristig als Entfesselung der Kommunikation von Raumund Zeit zu sehen ist und dabei einen langen historischen Vorlauf hat (Wilke 2004), wird durch die hohe Technikdynamik in den letzten Jahren verstärkt (Kretzschmar 2009); eine Zunahme der Fernseh-Nutzung „immer und überall“ wird für die Zukunft prognostiziert (Kloppenburg et al 2009) . Vor diesem Hintergrund kann die oben skizzierte Strategie von ARD aktuell also auch als Versuch gesehen werden, den Anschluss an die jüngere Zielgruppe zu behalten. Dies verdeutlichen auch die im Konzept für EinsExtra erwähnten Programmelemente: „Kernangebot des Kanals EinsExtra ist das Nachrichtenangebot EinsExtra aktuell, das seine Nachrichten zur Zeit im Viertelstundentakt anbietet, weil nach Erkenntnissen der Medienforschung informationsinteressierte Zuschauer entsprechende Programme nur kurz, dafür aber häufiger am Tag einschalten. Mit Hilfe digitaler Technik bereitet ARD aktuell Reporter-Beiträge aus Tagesschau, Tagesthemen und Nachtmagazin auf. Eigenproduzierte Berichte und Interviews ergänzen die Berichterstattung über das Tagesgeschehen. Zudem werden für EinsExtra Aktuell auch die Medien vernetzt und die Ressourcen des Hörfunks genutzt. Beiträge der Nachrichtenwellen wie NDRlnfo, mdrlnfo oder B5aktuell werden bebildert und dann gesendet. Jede Viertelstunde in EinsExtra Aktuell beginnt zurzeit mit einem Nachrichtenüberblick in 100 Sekunden – und wird abgerundet von den Ressorts. Sie bieten Hintergründe und vertiefende Informationen
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Patrick Rössler, Juliane Kirchner und Sonja Kretzschmar zu Themenbereichen wie Kultur, Wirtschaft, Sport oder Europa. Dabei greift EinsExtra auf bereits gesendete Berichte aus Sendungen der Landesrundfunkanstalten zurück.“ [Anlage zu § 11b Abs. 1 Nr. 2 des Rundfunkstaatsvertrages: Programmkonzept Digitale Fernsehprogramme der ARD]
Bemerkenswert an dieser Beschreibung ist einerseits die betont crossmediale Anlage, die – basierend auf dem „Output“ des Newsrooms von ARD aktuell – nicht nur Produkte aus anderen medialen Formaten (darunter sogar des Hörfunks) zusammenführt, sondern sogar als Strukturprinzip die aus den Info-Radios bekannte Taktung nach einer Stundenuhr übernimmt (vgl. Rössler et al 2001). Andererseits wird umgekehrt der Trend deutlich, innerhalb einer medialen Diversifikationsstrategie nach dem Prinzip „One brand – all media“ (Borowski 2003) die „Institution Tagesschau“ als Qualitätsmedium in den Vordergrund zu rücken. Markantes Beispiel hierfür ist sicherlich die 100-Sekunden-“Tagesschau“ für das Handy, die das Format an einen veränderten, mobilen und kürzeren Nutzungskontext anpasst, aber auch im Viertelstundentakt im Digital-Kanal EinsExtra ausgestrahlt wird (Kretzschmar 2008a). Die medienökonomische Sinnfälligkeit einer solchen Strategie liegt auf der Hand, denn die Diversifizierung der Ausspielkanäle des öffentlich-rechtlichen Newsrooms zielt darauf ab, auch in Zukunft alle gesellschaftlichen Gruppen zu erreichen, selbst wenn sich Nutzungsgewohnheiten ändern (Kloppenburg et al 2009, van Eimeren/Frees 2006, van Eimeren/Frees 2008, Gerhards/Klingler 2008). Aus Zuschauerperspektive ist die Etablierung eines öffentlich-rechtlichen Nachrichtensenders neben den bereits existierenden privaten News-Sendern unter anderem dann sinnvoll, wenn dieses Angebot für den Zuschauer einen qualitativen Zusatznutzen bringt. Dies ist die Ausgangsfrage unserer Untersuchung.
2
User Quality: Qualitätskriterien aus Zuschauersicht
Die umfangreiche Forschungsliteratur zur Debatte um die Qualität von Medienprodukten (vgl. stattdessen Weischenberg et al 2006, Arnold 2008), oder auch zum Fernsehen (Brosius/Zubayr 1996), die an vorliegender Stelle nicht im Detail aufgearbeitet werden kann, differenziert unter anderem nach der Perspektive des Beobachters. Qualitätseinschätzungen können – ebenso wie die Qualitätskriterien selbst – variieren, je nachdem ob sie von Betroffenen wie anderen Journalisten, Medienexperten wie professionellen Medienbeobachtern (vgl. Brosius et al 2000) oder dem breiten Medienpublikum vorgenommen werden (vgl. die Systematisierung von McQuail 1992). Dasselbe Medienprodukt mag beispielsweise von Experten als inhaltlich inkorrekt zurückgewiesen, aber von Zuschauern wegen seines besonderen Unterhaltungswerts präferiert werden. Was Medien zu Qualitätsmedien macht, hängt somit essentiell davon ab, aus welcher Sicht die Bewertung vorgenommen wird. Im vorliegenden Forschungszusammenhang, der u. a. durch die Herausforderungen gekennzeichnet ist, die die zunehmende Verbreitung digitaler und mobiler Angebotsformen mit sich bringt, haben wir uns für eine Auswahl von Qualitätsindikatoren entschieden, die sich eher auf die Zuschauerperspektive (‚user quality’, vgl. z. B. zuletzt Arnold 2009) beziehen. Beurteilungsgegenstand sind zum einen „EinsExtra“ als Prototyp für eine aktuelle Konzeption innerhalb des Formats der Info-Spartensender, sowie im Vergleich die Sender n-tv und N24 als traditionelle Anbieter in diesem Format (vgl. Krüger 2008) sowie ZDFinfo
Qualitätsmedien auf dem Weg in die digitale Zukunft
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und Phoenix als weitere Referenzmedien. Entsprechend der Unterscheidung von Hasebrink (1997) wurde Qualität auf drei Ebenen gemessen (Makro-, Meso- und Mikroebene), von denen jede für eine andere Bezugsgröße steht, für die Qualitätsmerkmale erhoben werden:
die Programmstrukturen der Sender auf der Basis von Sendungsanalysen; die Programmgestaltung der Sender auf der Basis von Sequenzanalysen; und die Berichterstattung im Einzelfall anhand eines bestimmten Themas.
Die angewendeten Kriterien beziehen sich weniger auf Aspekte journalistischen Handwerks, sondern eher auf allgemeinere strukturelle Merkmale, wie sie bereits in der klassischen Studie von Schatz und Schulz (Schatz/Schulz 1992) benannt werden: Vielfalt und Aktualität, die auf allen Ebenen gemessen werden; darüber hinaus Rechtmäßigkeit, Professionalität und Relevanz, die nur auf der Sendungs- bzw. Sequenzebene beurteilt werden.
3
Methodische Vorgehensweise und Kernergebnisse der Studie
Methodisch betritt die vorliegende Studie Neuland, da nicht (wie in der Inhaltsanalyse von TV-Nachrichten bisher meist üblich) eine Qualitätsmessung anhand von einzelnen Sendungen durchgeführt wird. Dies ist zwar methodisch leichter zu bewerkstelligen, da durch Sendungsbeginn und -ende auf – letztlich artifizielle Art und Weise – eine methodische Rahmung erreicht wird, innerhalb derer nach Qualitätsfaktoren ausgewertet werden kann. Diese Rezeptionsweise mag zwar der Nutzung von Printmedien nahe kommen, die meist artikelweise erfolgt, weshalb die Inhalte auch analog auf Basis der einzelnen Artikel ausgewertet werden können. Im Fernsehen ist die Nutzung eine andere: das „Zapping“, also das schnelle Schalten zwischen den Programmen, ist zu einer fernsehtypischen Nutzungsform geworden (Jäckel 1993, Ottler 1998, Bilandzic 2004). Ziel unserer Untersuchung war es, konsequent die Nutzerperspektive einzunehmen. Denn nur wenn ein öffentlichrechtlicher Nachrichtensender aus Nutzerperspektive, im Gegensatz zum Angebot der Privatsender, einen Mehrwert bietet, lässt sich daraus eine Existenzberechtigung ableiten, wie sie der Rundfunkstaatsvertrag vorsieht. Auf der Basis einer exemplarischen Sendewoche (11.-15.2.2008), also in der zweiten Woche nach der Ausweitung der exklusiven Sendezeit von EinsExtra von ursprünglich drei Stunden auf zehn Stunden pro Tag, erfolgte eine Vollerhebung des Programms der Sender EinsExtra, n-tv, N24, ZDFinfo und Phoenix. Um die Programmstrukturen, die Programmgestaltung und die Berichterstattung im Einzelfall auswerten zu können, wurde aus dem vorliegenden Material eine geschichtete Zufallsstichprobe von 1.000 einminütigen Sequenzen gezogen. Verteilt auf die fünf Sender ergab das pro Sender eine Stichprobe von 200 Sequenzen, die sich auf unterschiedliche Tagesabschnitte verteilte; wobei nach tageszeitbedingter Publikumsresonanz gewichtet wurde. Jede dieser Untersuchungseinheiten wurde nach verschiedenen Kriterien codiert; unter anderem wurden der Inhalt, dessen Aktualität und Relevanz ausgewertet. Neben der Inhaltsanalyse rundete eine Reihe von insgesamt sechs Expertengesprächen die Datenerhebung ab. Hierzu wurden Chefredakteure bzw. Programmgeschäftsführer aller Sender zur senderspezifischen Programmgestaltung und -struktur sowie zu typischen Arbeitsabläufen im Redaktionsalltag befragt.
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Patrick Rössler, Juliane Kirchner und Sonja Kretzschmar
Die Ergebnisse der Studie können hier aus Platzgründen nicht in der gebotenen Ausführlichkeit wiedergegeben werden (ZDFinfo und Phoenix, die als Referenzobjekte in die Untersuchung aufgenommen wurden, sollen an dieser Stelle außen vor bleiben). Wir beschränken uns daher auf zwei zentrale Ergebnisse. 1.) stellen wir Ergebnisse der inhaltlichen Auswertung vor, denn nur wenn der Inhalt bekannt ist, kann eine Diskussion um die Veränderung oder Ausweitung der Leitmedienfunktion öffentlich-rechtlicher Sender anschließen. Als eines der maßgeblichen Kriterien, um die Qualität eines Nachrichtenkanals beurteilen zu können, werden außerdem 2.) die Ergebnisse der Auswertung von Aktualität der unterschiedlichen Programmangebote vorgestellt. Da EinsExtra innerhalb des Untersuchungszeitraums nur in der Kernzeit von 9-19 Uhr mit einem exklusiven Programmangebot arbeitete, haben wir in der Inhaltsanalyse für alle Sender zusätzlich differenziert nach Sendezeit ausgewertet. Die Ergebnisse zeigen, dass EinsExtra den höchsten Anteil der Berichterstattung von Innen- und Außenpolitik aufwies, ebenso im Bereich der internationalen Politik. Der Anteil an Berichterstattung mit dem Schwerpunkt „Gesellschaft“ ist geringer als bei den privaten Anbietern; der Bereich „Wirtschaft/Soziales/Finanzen/Recht“ ist zwar ein Schwerpunkt der Berichterstattung von EinsExtra, führend ist in diesem Bereich aber n-tv. Der Fokus von n-tv steht in Übereinstimmung mit der Grundausrichtung des Senders, der sich eher an Entscheider aus dem Wirtschaftsbereich als an ein breites Massenpublikum wendet, wie die Experteninterviews ergaben. Tabelle 1: Inhalt der Sendungen (Basis: 1.000 Minuten-Stichprobe, ohne Werbeformate, Angabe in Prozent) Sender
Eins Extra
Eins Extra 9-19 Uhr
Eins Extra 19-9 Uhr
deutsche Innen- u. Außenpolitik
8,2
8,2
8,3
4,9
7,3
3,0
2,6
5,8
0
internationale Politik
Inhalt der Sendung
n-tv
n-tv 9-19 Uhr
n-tv 19- 9 Uhr
N24
N24 9-19 Uhr
N24 19-9 Uhr
6,2
10,6
2,8
3,8
1,2
6,0
2,1
1,2
2,9
Wirtschaft/ Soziales/ Finanzen/ Recht
17,6
18,8
16,7
28
37,8
20,0
11,2
16,3
6,9
Gesellschaft
26,4
15,3
35,2
31,3
20,7
40,0
39,4
27,9
49,0
Human Touch
9,8
5,9
13
7,1
6,1
8,0
18,6
16,3
20,6
Private Lebenswelt
9,8
2,4
15,7
6
2,4
9,0
10,1
16,3
4,9
Sport
5,7
11,8
0,9
5,5
7,3
4,0
3,7
3,5
3,9
Wetter
4,1
7,1
1,9
5,5
9,8
2,0
5,9
8,1
3,9
11,9
20
5,6
7,7
7,3
8,0
6,4
4,7
7,8
sonstige redaktionelle Inhalte
Qualitätsmedien auf dem Weg in die digitale Zukunft
71
Neben der inhaltlichen Ausrichtung eines Nachrichtensenders ist die Aktualität ein zentraler Faktor um festzustellen, ob Spartensender den Anforderungen im News-Bereich nachkommen, möglichst aktuell zu informieren. Hier zeigt sich, dass n-tv den höchsten Teil der tagesaktuellen Berichterstattung anbietet, wenn man von dem kompletten 24-h-Programm als Basis der Berichterstattung ausgeht. Wertet man den Zeitabschnitt von 9-19 Uhr getrennt aus, so liegt der Anteil der aktuellen Berichterstattung bei EinsExtra deutlich höher, was vor allem durch die viertelstündliche Ausstrahlung der „100-Sekunden-Tagesschau“ zustande kommt. Hier dürften sich die Werte seit dem Untersuchungszeitraum noch weiter verschoben haben, da die exklusive Sendezeit seit Juni 2008 auf 9-20 Uhr ausgeweitet wurde; eine weitere Ausweitung bis 0 Uhr ist geplant, wie die Expertengespräche ergaben. Mittelfristig ist also zu erwarten, dass EinsExtra auch im 24-h-Turnus den größten Anteil von aktueller Berichterstattung anbieten wird und damit im Bereich der Aktualität zum Leitmedium der Nachrichtenanbieter wird. Tabelle 2: Aktualität der Sendeinhalte (Basis: 1.000 Minuten-Stichprobe, ohne Werbeformate, Angabe in Prozent) Sender
Eins Extra
Eins Extra 9-19 Uhr
Eins Extra 19-9 Uhr
0,5
0
0,9
1,1
2,4
0
1,1
2,3
0
tagesaktuell
44,6
76,5
19,4
56,6
74,4
42,0
37,8
46,5
30,4
latent aktuell
45,6
21,2
64,8
18,1
19,5
17,0
16,5
25,6
8,8
nicht aktuell
9,3
2,4
14,8
24,2
3,7
41,0
44,7
25,6
60,8
Aktualität der Sendeinhalte Ausblick/ Vorschau
n-tv
n-tv 9-19 Uhr
n-tv 19- 9 Uhr
N24
N24 9-19 Uhr
N24 19-9 Uhr
Die übrigen Ergebnisse, die an dieser Stelle nicht ausführlich empirisch dargestellt werden können, sollen im Folgenden in aller Kürze zusammengefasst werden. Die Rechtmäßigkeit, gerade hinsichtlich der Einhaltung von Werbezeiten, ist bei den betrachteten, privatwirtschaftlich organisierten Anbietern i. d. R. gewährleistet. Programmübernahmen sind aus den erwähnten finanziellen Gründen üblich, vermutlich sogar unvermeidlich. Entscheidend in Bezug auf die Programmqualität ist eher die Frage der Selektionskriterien und die nach der Qualität des Pools, aus dem Inhalte ausgewählt werden können. Alle Sender sind in ihrer Berichterstattung um die Herstellung relevanter Bezüge bemüht, aber insgesamt gelingt es den privaten Sendern hier eher, dem Zuschauer eine Bedeutung der Themen für sein tägliches Leben nahe zu legen. Dies geschieht meist anhand von Fallbeispielen, die stellvertretend für einen relevanten Anteil der Mediennutzer stehen sollen, ein journalistisch weit verbreitetes Stillmittel (Daschmann/Brosius 1997, Daschmann 2001, Daschmann 2007, Zillmann/Brosius 2000, Zillmann 2002). Inwieweit es sich hier bei Sätzen wie beispielsweise „Immer mehr Leuten geht es wie Angelika G. aus Z.“ aber möglicherweise um eine Scheinrelevanz handelt, eine Art des „Immermehrismus“ (Schneider/Raue 1996), bei der deutlich wird, dass Zahlen, die diesen Trend belegen, fehlen, ist eine Frage, die sich anhand des vorliegenden Materials nicht beantworten lässt.
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Einen Zielkonflikt betrifft die Fixierung der Medienmacher auf höchstmögliche Aktualität, die fast im Sinne eines sportlichen Wettkampfs („Wer war zuerst?“) gedeutet wird. Dies steht scheinbar im Widerspruch zu einer genauso geforderten, ausführlichen Hintergrundberichterstattung, die sich üblicherweise nicht unter Zeitdruck bewerkstelligen lässt. Der öffentlich-rechtliche Sender EinsExtra versucht beide Bereiche abzudecken: Die viertelstündlich aktualisierten Programmelemente, eingebettet in die Hintergrundberichte, die aus dem Hauptprogramm übernommen werden. Allerdings deuten Zuschauerbefragungen darauf hin, dass die Bedeutung des Faktors Aktualität von den Machern eher überschätzt wird (vgl. den Beitrag von Rinsdorf im vorliegenden Band); für das Publikum ist, zumal im Internet-Zeitalter, oft schlicht das aktuell, was sie zum jeweiligen Zeitpunkt zum ersten Mal hören. Einen anderen Ansatz verfolgen die privaten Sender, die sich aufgrund geringerer Ressourcen, d.h. einem kleineren Korrespondentenpool, eine kleinteilige Aktualisierung im Viertelstundentakt nicht leisten können. Ihr Ziel ist es, den Zuschauer durch lange Studiogespräche mit Experten, die unter ökonomischen Aspekten kostengünstiger zu finanzieren sind als Nachrichtenberichterstattung, an den Ereignissen teilhaben zu lassen. In der Kombination beider Ansätze, einer aktuellen politischen Berichterstattung, eingebettet in StudioGespräche und flankiert durch Hintergrundberichterstattung, lägen die Optimierungspotenziale eines idealen Nachrichtensenders, der sowohl aktuell als auch umfassend informieren will und gleichzeitig den Zuschauer an der Entwicklung der Ereignisse teilhaben lassen möchte. Dieses Ideal bleibt zum Zeitpunkt der Studie jedoch noch unerreicht, was an einer Vielzahl von Faktoren liegt. Bei den privaten Sendern n-tv und N24 wird beispielsweise ein großer Teil des Programms mit – oft kostengünstig eingekauften – Nicht-Nachrichtenformaten gefüllt; Zweiter Weltkrieg, Katastrophen, historische Themen, Prominenz und VIPs sind hier nur einige Schwerpunkte. Diese Programmplanung ist klar ökonomisch motiviert, sie hat aber mit dem Anspruch eines Infokanals, vor allem schnell und umfassend zu informieren, nicht mehr viel gemein, wenn das Programm während langer Programmstrecken speziell am Abend mit inaktuellen Nicht-Nachrichtenformaten bestritten wird. Unter diesen Bedingungen zeichnet sich die digitale Gegenwart derzeit (noch) durch einen hohen Wiederholungsanteil aus, der aber aus der Sicht des Zuschauers nicht zwangsläufig als Manko betrachtet werden muss. Nutzungsmuster und Medienmenüs variieren zwischen Individuen, und die mehrfache Ausstrahlung eines Angebots erhöht sowohl aus Sicht des Senders die Kontaktwahrscheinlichkeit, als auch aus Sicht des Zuschauers seine Flexibilität und seine Unabhängigkeit von linearen Programmstrukturen, die längst nicht mehr die alleinige Nutzungsform von Fernsehangeboten ist (Gerhards/Klingler 2008). Während die Rezipienten vor vielen Jahren noch auf die „Tagesschau“ um 20 Uhr warten mussten, kamen in den letzten Jahren die zusätzlichen Sendungen über den Tag hinzu, und heute sind die 100-Sekunden-Formate auf EinsExtra zwischen sechs und 20 Uhr im Viertelstundentakt zu sehen. Auch für diesen Sender gelten natürlich ökonomische Einschränkungen. Er hat aber den Vorteil, durch die Übernahme von zahlreichen Politiksendungen aus dem Pool der ARD-Anstalten das Programm auch jenseits der Nachrichtensendungen kostengünstig mit politischen Informationen füllen zu können.
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Fazit: Zur Qualität von Leitmedien in der digitalen Zukunft
Nachrichten rund um die Uhr sind im produktionsaufwändigen Fernsehbereich – anders als im kostengünstigeren Hörfunkbereich – derzeit nicht finanzierbar, wie die geführten Expertengespräche belegen. Der höchste Anteil von politischer Berichterstattung findet sich bei EinsExtra. Für den Zuschauer werden durch die Formatierung außerdem in kürzeren Intervallen aktuelle Nachrichten angeboten, weil alle 15 Minuten eine Nachrichtenzusammenfassung erfolgt, während dies bei den privaten Anbietern nur einmal in der Stunde der Fall ist. Der konkrete Beitrag von EinsExtra zur externen Vielfalt liegt folglich primär darin, dass es die Antreffwahrscheinlichkeit für Nachrichtenangebote auch jenseits der vollen Stunde erhöht. Dieser Zusatznutzen, der klar an die Formatierung von Info-Radios im Hörfunk angelehnt ist, legitimiert die Kreation des neuen, gebührenfinanzierten Public-ServiceAngebots. Es zeigt sich, dass die Produktion qualitativ hochwertiger Informationsprogramme vor neuen Herausforderungen steht, die sich mit dem Stichwort „Cross-Media“ treffend beschreiben lassen. Crossmedialität bedeutet, dass Einzelmedien auf der Ebene der Produktion und des Angebotes miteinander verknüpft sind. Dabei werden unterschiedliche Grade der Crossmedialität unterschieden (Dailey et al 2005) – wobei allen gemeinsam ist, dass unterschiedliche (Teil-)Angebote, die in einer inhaltlichen Verbindung stehen, unter einer gemeinsamen Dachmarke zusammengefasst werden. Aufgrund kartellrechtlicher Bestimmungen ist Crossmedialität in Deutschland nicht in demselben Umfang möglich, wie dies in den USA der Fall ist, wo es aufgrund kartellrechtlicher Lockerungen in den letzten Jahren zur Bildung von tri- und viermedialen Medienkonzernen gekommen ist (Castaneda et al 2005). In Deutschland hat sich die Aufteilung von jeweils einem Hauptmedium und einem Online-Medium durchgesetzt, was in der Forschung entweder für den Print-Bereich (Borowski 2003, Meyer 2005, Schultz 2007) oder für den Fernsehbereich (Goldhammer/Zerdick 2002, Hack 2003, Kaumanns et al 2007) untersucht wurde; trimediale Verbünde hingegen sind selten (Loosen 2005). Prinzipiell ist es unerheblich, ob das Hauptmedium ein Print- oder ein elektronisches Medium ist: Die klassischen Leitmedien besitzen in dem Prozess der Ausdifferenzierung und intelligent gestaffelter Programmübernahmen ein erhebliches Potential, denn das „Branding“ entsprechender Informationsangebote dürfte als Selektionskriterium auf Seiten des Zuschauers an Bedeutung gewinnen: Im unübersichtlichen Überfluss orientiert man sich im Zweifelsfall am Bewährten (BLM 2009, Breunig 2006, Klein/Hanekop 2008). In diesem Szenario könnte sich also eine „Tagesschau“ als qualitativ hochwertiger Fixpunkt im Meer der medialen Info-Angebote behaupten, denn der Kern der Marke, sorgfältig recherchierte Informationen aktuell anzubieten, bleibt erhalten. Auf welchem Kanal diese Informationen den Rezipienten erreichen, ist dann sekundär. Während man den Leuchtturm der „20-Uhr-Tagesschau“ früher vor allem vom heimischen Sofa aus im Fernsehen angepeilt hat, sind die Nutzer heute zum einen mobiler geworden – „100 Sekunden“ für das Handy – (Kretzschmar 2008b), und zum anderen erwarten sie Nachrichten „On-demand“, also auf Abruf und zu jeder Zeit; etwa auf der Website, aber auch in jedem anderen Format, und damit also auch im Fernsehen. Die Reaktion auf diesen Trend lautet dort zwingend Verspartung, und bedeutet aus Zuschauersicht die Orientierung nicht nur an einem, sondern an vielen Leuchttürmen. Die Bedeutung des einzelnen Angebots reduziert sich in diesem Fall, und die Regelungen des 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag liefern dann beispielsweise ARD aktuell den Hebel, um die über das Sparten-
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progamm EinsExtra verbreiteten Nachrichteninhalte auch „programmbegleitend“ auf der Website in multimedialen Formaten anbieten zu können. tagesschau.de rangierte im Dezember 2008 mit rd. 1,5 Millionen Unique Visitors noch auf Platz 7 der deutschen NewsWebsites, mit deutlichem Abstand hinter den Marktführern aus dem Print-Sektor (spiegel.de 5,1 Mio., bild.de 4,6 Mio., focus.de 2,9 Mio usw.), aber genauso deutlich vor n-tv.de (0,99 Mio.) als größtem Konkurrenten unter den TV-Ablegern im Internet (Schröder 2009). Abschließend sollen ebenfalls einige Implikationen der referierten Befunde und Trends für die Kommunikationsforschung zur Qualität digitaler Informationsangebote aufgezeigt werden. Schon in dieser Untersuchungsanlage ist deutlich geworden, dass die Definition von Auswahleinheiten, die aus Zeiten der überwiegend monomedialen Berichterstattung stammt, für die Analyse zunehmend crossmedialer Berichterstattung nicht mehr ausreicht und eine Adaption der Untersuchungsinstrumente zwingend nötig geworden ist. Hierfür liefert unsere Studie erste Impulse. Denn wenn sich Nutzungsmuster von einzelnen Angebotsformen abkoppeln und nur die Resonanz des „Brands“ zählt, stellt sich die Frage, was genau dieses „Brand“ ist. Auf den vorliegenden Fall übertragen: Ist es EinsExtra? Die ARD? ARD aktuell? Oder nicht sogar die „Tagesschau“? Im Zentrum der Forschung würden dann nicht länger einzelne Ausspielkanäle stehen, sondern eher die crossmedial nutzbaren einzelnen Angebotselemente. Die Definition sinnvoller Analyseeinheiten erscheint für eine Methodentradition nicht trivial, die sich bis heute stark an den Darbietungsformen von Printmedien orientiert. Viele der angesprochenen Aspekte lassen sich durch zwei Fragen metaphorisch auf den Punkt bringen: Wie weit soll der einzelne Leuchtturm sichtbar sein? Und wie hell soll er leuchten? Ob solch kleinteilige Info-Schnipsel wie die „100-Sekunden-Tagesschau“ überhaupt Qualität sein können, hängt nicht zuletzt davon ab, wie man Qualität definiert. Ist die vorschnelle Gleichung gültig, dass „Hintergrund + lange Formate = Qualität“ sind, und „kurze, schnelle Information = keine Qualität“? Oder kann man dieses Format nicht als den veritablen Versuch der Funktionsanpassung eines Intermediären verstehen, um damit weiter eine Rolle bei der normativen Fokussierung in der Gesellschaft zu spielen (vgl. Jarren 2008)? Bereits Zaller (2003) argumentierte, dass es – zumindest für das amerikanische Publikum – einer Revision der Erwartungen an aktuellen Journalismus bedürfe, der zukünftig eher wie eine Alarmanlage (‚burglar alarm’) zu funktionieren habe: Das Ideal des allseitig informierten, politisch interessierten Bürgers sei unrealistisch geworden, weshalb es nunmehr die Aufgabe von Nachrichten sei, nur noch vor sozialen Problemen zu warnen, die die Gesellschaft bedrohen; eine Senkung der Qualitätsnormen, der seinerzeit heftig widersprochen wurde (vgl. z. B. Patterson 2003, Bennett 2003). Diese Diskussion, die in Europa, das von der Dualität eines öffentlich-rechtlichen und eines kommerziellen Medienangebots der Leitmedien geprägt ist, nicht mit der gleichen Intensität geführt wurde wie das in den USA mit ihrem rein kommerzialisierten Mediensystem der Fall war, zeigt, wie sehr Medien von national deutschen oder regional europäisch geprägten Qualitätsnormen abhängig ist. Dies gilt auch gerade in den journalistischen Bereichen des News-Business, bei denen objektive, aktuelle und korrekte Kriterien die Orientierungspunkte für die Qualitätsdiskussion bieten (vgl. Esser 2008). Eine Reflektion des eigenen, oft national geprägten Standpunkts ist also von herausragender Bedeutung, um zu entscheiden, welche Kriterien bei der Messung von Qualität angelegt werden. Die vorliegende Studie konnte nur eine eng beschränkte Auswahl an Indikatoren berücksichtigen, und vermutlich machen der technische und der journalistische Fortschritt in
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rascher Folge die Entwicklung neuer Kriterien erforderlich. Entscheidend ist, dass im Bereich der Qualitätsforschung gerade in Bezug auf die Leitmedien zum einen vermehrt die Nutzerperspektive mit einbezogen werden muss (Arnold 2008) zum anderen auch der Begriff des Leitmediums differenziert zu sehen ist, da sich „das“ Leitmedium selbst längst in einzelne, crossmediale Angebotselemente ausdifferenziert. In Verbindung mit einem Untersuchungsgegenstand, der wie der Rundfunk grundlegenden Veränderungen unterworfen ist, macht dies eine kontinuierliche Adaption methodischer Messinstrumente und ihrer Kriterienkataloge erforderlich. In Bezug auf eine zukünftige crossmediale Angebotsstruktur medialer Dachmarkenverbünde gibt diese Studie Anregungen, wie Qualität in diesem Bereich in Zukunft untersucht werden kann. Ob die etablierten Dachmarken ihren Anspruch, und damit ihre Leuchtturmfunktion als ‚verlässliche Bollwerke’ eines ‚großen, starken Wir’ (Gangloff 2009) auch in einer veränderten Angebotsstruktur erhalten werden können, wird Gegenstand zukünftiger Forschung sein.
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2. Die Ökonomie der Qualitätsmedien
Newspaper Death Watch. Der amerikanische Journalismus als existenzgefährdetes Ökosystem
Stephan Russ-Mohl „Journalismus, wie wir ihn kennen, ist vorbei“, so Geneva Overholser (2005), Direktorin der Journalism School an der University of Southern California und vormals Ombudsman der „Washington-Post“ in ihrem „Manifesto for Change“. Und David Carr (2007), MedienKolumnist der „New York Times“, spekulierte bereits zwei Jahre später darüber, wie Historiker die heutige Zeit im Rückblick bewerten werden: „Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit werden sie diese Periode der amerikanischen Geschichte examinieren und darüber erstaunt sein, dass der Journalismus verschwunden ist.“ Walter Isaacson (2009), ExChefredakteur von „Time“, wiederum konstatierte, die Krise des Journalismus habe „das Ausmass einer Kernschmelze“ erreicht. Lange bevor sich im Herbst 2008 die Banken- und Finanzkrise zuspitzte, steckten bereits 19 der 50 grössten amerikanischen Zeitungen in roten Zahlen – so vermeldete es im Sommer zuvor Dean Singleton, als CEO der MediaNews Group selbst Herrscher über ein Imperium von 57 US-Tageszeitungen. Viele Medienexperten halten es für möglich, dass einige amerikanische Grossstädte schon bald ohne ihre Tageszeitung werden auskommen müssen. Anders als bei Banken und Versicherungen gelten Zeitungshäuser offenbar bisher nicht als so „systemrelevant“, dass sie staatlicher Rettungspakete bedürften – obschon sie bisher unübersehbar als „Vierte Gewalt“ ein gewichtiger, unverzichtbarer Pfeiler sind, auf dem westliche Demokratien gründen. Ohne den Qualitätsjournalismus der Zeitungen, so lässt sich zumindest mutmassen, fände die notwendige Machtkontrolle im politischen Gemeinwesen nicht mehr statt, und damit geriete auch die ausgeklügelte Machtbalance selbst aus den Fugen. Obendrein gilt es, den Journalismus als ein Ökosystem zu begreifen (Downie/Schudson 2009): Um anderen den Weg weisen zu können, sind die „Leuchttürme“, also Qualitätsmedien wie die „New York Times“, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, die „Neue Zürcher Zeitung“, „Spiegel“, „Time“ oder „Economist“ ebenso wie die grossen Nachrichtenagenturen auf Zulieferungen der tausendundein anderen Medien angewiesen, die ebenfalls Nachrichten generieren, filtern und bündeln. Den amerikanischen Zeitungsverlegern ist es in den letzten Jahren ergangen wie Hans im Glück: Sie haben eine Einkunftsquelle nach der anderen verloren. Knapper als John McManus (G 2008) es tut, lässt sich der Sachverhalt nicht auf den Punkt bringen: „Es sind nicht allein die beiden Monopolstellungen auf dem Leser- und auf dem Anzeigenmarkt, welche die Zeitungen verloren haben. Sie haben sich ruiniert, indem sie im Internet gegen sich selbst konkurriert haben.“ In Amerika sind allerdings nicht nur grosse Verlagshäuser in ihrer Existenz gefährdet. Zusammen mit ihnen droht der seriöse Journalismus zu verschwinden, und es soll der Frage nachgespürt werden, weshalb das so ist. Von den drei wichtigsten „traditionellen“ Finanzierungsquellen des Journalismus werden üblicherweise nur zwei registriert: Die Einkünfte aus Abos und Einzelverkauf einerseits (Abschnitt 1) und die Einnahmen, die mit Anzeigen erzielt werden (Abschnitt 2). Was diese beiden Erlösquellen betrifft, herrschen zumindest klare Verhältnisse: sie sind in den Bilanzen ausgewiesen, und in solide geführten Häusern R. Blum et al. (Hrsg.), Krise der Leuchttürme öffentlicher Kommunikation, DOI 10.1007/978-3-531-93084-8_6, © VS Verlag fur Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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gibt es eine „Chinesische Mauer“, welche die Redaktion vom Management trennt und deren Unabhängigkeit vom Anzeigengeschäft sichert. Der dritte externe Finanzierungsbeitrag ist weniger klar erkennbar und schon gar nicht hinsichtlich seiner Höhe präzise zu beziffern. Immerhin hat der amerikanische Medienforscher Oscar Gandy bereits in den 80er Jahren darauf hingewiesen, dass es neben den Werbeeinkünften eine weitere Spielart externer Querfinanzierung von Medienangeboten gibt. Seine Vorarbeiten lassen sich weiter entwickeln, indem wir direkte und indirekte Subventionen – sprich: Werbung und Public Relations unterscheiden (vgl. Abb. 1). Abbildung 1:
Herkömmliche Finanzierung des Journalismus – „altes“ Dreieck
Wir werden deshalb nicht nur analysieren, wie PR als „trojanisches Pferd“ auf den USJournalismus Einfluss nimmt (Abschnitt 3), sondern auch „trade offs“ zwischen Werbung und PR behandeln: dass sich beide Kommunikationsstrategien längst nicht mehr isoliert voneinander betrachten lassen, hat ebenfalls Auswirkungen auf den Journalismus (Abschnitt 4). Um das Ergebnis der Analyse punktuell vorwegzunehmen: Der Journalismus gerät von allen drei Seiten unter Druck. Die Leser wandern schneller als erwartet ins Internet, wo sie für News und Journalismus nichts mehr bezahlen; die Werbung folgt ihnen dorthin zwar, aber verstreut sich und finanziert jedenfalls nur zu einem geringen Anteil die Websites der Zeitungen. Dafür schwillt die „indirekte Subventionierung“ des Journalismus durch übermächtige PR weiter an: Journalismus verschwindet also im Bermudadreieck, weil die
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beiden traditionellen Finanzierungsquellen nicht mehr sprudeln, während als dritte Komponente die PR stärker wird, den Journalismus gleichsam „überrollt“ und vor allem seine Glaubwürdigkeit unterminiert (Abb. 2)
Abbildung 2: Journalismus im Bermudadreieck
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Auflagenverluste und Lesergewinne
Die Auflagenverluste für die Printversionen amerikanischer Tageszeitungen sind dramatisch. Ein Überblick, zeigt, dass Rückgänge von 20 bis 30 Prozent in den letzten Jahren keine Seltenheit waren (vgl. Abb. 3) – und dieser Trend hat sich 2009 neuerlich intensiviert, teilweise sogar mit zweistelligen Prozentwerten.
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Abbildung 3: US-Zeitungsauflagen
Inzwischen hat sich zwar ein erhoffter Lichtblick am Horizont eingestellt: Immer mehr Amerikaner versorgen sich aus dem Internet mit Nachrichten – und klicken dabei zunehmend häufiger die Websites vor allem der grossen Zeitungen an. 40 Millionen mehr Besucher hatten die top-ten Zeitungswebsites 2008 gegenüber dem Vorjahr zu verzeichnen – ein Zuwachs von 16 Prozent (AFP 2009). Und der Verkehr bei den 50 wichtigsten Websites, die Nachrichten anbieten, hat sogar binnen Jahresfrist um 27 Prozent zugenommen (Project for Excellence in Journalism 2009). Das Jahr 2008 war eine Wegscheide: Zum ersten Mal haben mehr Amerikaner ihre Nachrichten online und damit gratis bezogen als von zu bezahlenden Printmedien (Isaacson 2009). Print- und Online zusammen genommen, hatten Zeitungen noch nie so viel Publikum. Dass die amerikanischen Leserinnen und Leser scharenweise ins Internet abwandern, ist allerdings kein Wunder, solange es dort alles, was die Verlage noch auf teurem Papier drucken und mit hohen Vertriebskosten zustellen, umsonst gibt – meist sogar früher und nutzerfreundlicher aufbereitet. Mit dieser Veränderung der Lesegewohnheiten mussten die Verlage nicht nur seit vielen Jahren rechnen, sie haben sie mit ihrer absurden Preispolitik geradezu forciert. Dabei wurde die Eigendynamik dieser Entwicklung unterschätzt. Im Rückblick war es fraglos eine Torheit, online „alles gratis“ anzubieten, was man mit herkömmlicher Druck-Technologie produziert, weiterhin teuer verkaufen wollte. Man stelle sich vor, Coca Cola würde sein Gebräu in modernen Plastikflaschen verschenken, während für dasselbe Produkt, in Glas abgefüllt, die Preise erhöht werden. Kaum anders verfahren all jene Verleger, die ihre Inhalte zum „Nulltarif“ ins Netz stellen, während sie für bedrucktes Papier auf den alten Vertriebswegen sogar die Abo- oder Einzelverkaufspreise steigern.
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Kein Wunder, dass in solch einer Konstellation die Auflagen der gedruckten Medien weg brechen. Doch der Auflagenrückgang ist sicher nicht das zentrale Problem, denn die Publika laufen ja erkennbar den Zeitungen nicht davon, sondern folgen ihnen auf ihre Websites. Wenn die Zukunft des Journalismus ungewiss bleibt, hat das mit den beiden verbleibenden Finanzierungsquellen zu tun, aus welchen sich die redaktionellen Angebote der Medien speisen.
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Die Werbung entkoppelt sich von den „mainstream media“
Ein Jahrhundert lang waren im wesentlichen Produktwerbung, aber auch das Geschäft mit Kleinanzeigen die Finanzierungsbasis des Journalismus. Streng genommen, waren Medienunternehmen gar nicht im news business tätig. Wie die Finanzanalysten der Wall Street zu sagen pflegen, verkauften die Medien vielmehr eyeballs an die werbetreibende Wirtschaft, also die Augäpfel ihrer Publika und deren Aufmerksamkeit. Das Geschäft war immer stark pro-zyklisch: Fünf Prozent Wirtschaftswachstum induzierten etwa elf Prozent Zunahme des Anzeigengeschäfts. Schrumpfte die Wirtschaft um minus ein Prozent, bedeutete dies Morgan Stanley zufolge minus sieben Prozent beim Anzeigenaufkommen (zit. n. Meyer-Lucht 2008). Doch insgesamt ging es den Zeitungen in den USA blendend: Typischerweise finanzierten sie sich zu 80 bis 85 Prozent aus Werbeeinkünften, und diese steigerten sich eben in den guten Zeiten jährlich um zweistellige Raten (Layton 2008). Aus den üppig sprudelnden Einnahmen, die mit Style, Health-, Immobilien-, Mode, Auto- und anderen konsumnahen Beilagen erzielt wurden, konnten grosse Redaktionen mit 500 oder – bei Blättern wie der New York Times und der Los Angeles Times – auch über tausend Journalisten durchgefüttert werden. Man konnte es sich leisten, umfangreich und mit Tiefgang „hard news“ aufzubereiten, die grossen Zeitungen verfügten über investigative Teams und ein Korrespondentennetz im In- und Ausland. Und man war stolz auf die eigenen „slack resources“ – jene Reporterheerschar in der Redaktion, die man losschicken konnte, um im Bedarfsfall „den Untergang der Titanic“ zu recherchieren, wie Adolph S. Ochs, der legendäre Verleger und Übervater der „New York Times“ es einmal gesagt haben soll (zit. n. Sheppard 1989:83 m.w.N.). Doch solche Zeiten sind – vermutlich für immer – vorbei. Alan Mutter (2008b), ein Kenner der Medienbranche, hat prognostiziert, der Anzeigenverkauf der US-Zeitungen würde im Jahr 2008 erstmals unter die 40 Milliarden Dollar-Grenze sinken – und dann genauer vorgerechnet, was das bedeutet: Damit würden die Haupteinkünfte der Verlage auf das Level von 1996 zurückfallen – und das noch nicht einmal inflationsbereinigt. Tatsächlich ist es noch viel schlimmer gekommen: Die Statistik wies für 2008 nicht knapp 40, sondern nur 33,7 Milliarden Dollar Werbeumsatz aus, ein Minus von 17,7 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Und auch dieser Trend verstärkte sich 2009 nochmals dramatisch: Die Werbeerlöse schrumpften neuerlich um 28,6 Prozent auf 24,8 Mrd. Dollar und somit in etwa auf das Niveau von 1984 (Newspaper Association of America, 2010).
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2.1 Keine Kompensation fürs Print-Anzeigengeschäft in Sicht
Eine Wegscheide war das Jahr 2008 auch im Blick auf das Online-Anzeigengeschäft: Erstmalig sind im vierten Quartal die im Internet erzielten Werbeerlöse eingebrochen. Die jahrelang gehegte Hoffnung, anspruchsvoller Online-Journalismus liesse sich voll und ganz über Anzeigen finanzieren, bekam damit einen gewaltigen Dämpfer (Isaacson 2009). Sie scheint sich als Fata Morgana zu erweisen. Im Report des Project for Excellence in Journalism zum Zustand der US-Medien heisst es dazu lapidar: „Mehr und mehr kristallisiert sich als grösstes Problem traditioneller Medien nicht mehr die Frage heraus, wo sich die Leute ihre Informationen holen, sondern wie für diese bezahlt werden soll. Es schält sich heraus, dass die Werbewirtschaft nicht zusammen mit den Konsumenten in den Bereich der Online-Nachrichten übersiedelt. Nachrichtenangebote und Werbung scheinen sich fundamental zu entkoppeln“ (PEJ 2008; vgl. auch PEJ 2009). Conrad Fink, Experte für Verlagsmanagement an der University of Georgia, sieht ebenfalls die Hoffnungen schwinden, die Einbussen im Printgeschäft liessen sich durch Zugewinne bei der Online-Werbung kompensieren: „Der Online-Umsatz scheint ein Plateau erreicht zu haben. Es gibt keine Aussichten mehr auf weiteres rapides Wachstum“ (zit. n. Layton 2008). In der Tat: Grosse Verlage wie A.H. Belo, E.W. Scripps, die Tribune Co. und Lee Enterprises mussten 2008 sogar bei ihren Einkünften aus der Online-Werbung erstmals Einnahme-Minderungen zwischen vier und zwölf Prozent gegenüber dem Vorjahr hinnehmen (Clifford 2008). Selbst optimistische Szenarien gehen davon aus, dass es noch Jahre dauern wird, bis steigende Online-Werbeerlöse die sinkenden Anzeigeneinnahmen aus dem Printgeschäft kompensieren könnten. Der Branchenexperte Mark Potts sah diesen Zeitpunkt 2018 vorher – aber das war noch vor der Finanz- und Wirtschaftskrise (Potts 2007 – vgl. Abb. 4). Im Kern ist Printwerbung im Vergleich zu Online-Werbung schlicht zu teuer.
Abbildung 4: Werbeerlöse der Zeitungshäuser in Milliarden Dollar. Chart: Potts 2007
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2.2 Wettbewerb erzeugt Preisdruck
„You get lousy pennies on the web“ – man bekommt nur lausige Pfennigbeträge im Web. Der Klageruf von Hubert Burda (2009), dem Online-Pionier unter der deutschen Verlegerschaft, könnte ebenso gut von einem amerikanischen Verlagsgewaltigen stammen. Obendrein variieren die Preise sehr stark. Während grosse Zeitungen wie die „New York Times“ oder die „Washington Post“ für je 1000 Clicks auf ihre Homepage zwischen 15 und 50 Dollar kassieren können, sind auf weniger attraktiven Plätzen typischerweise nur 60 Cent bis ein Dollar pro Tausend Clicks erzielbar (Clifford 2008). Eine andere Quelle nennt noch niedrigere Tarife – und macht darauf aufmerksam, dass die Preise für Online-Werbung sich innerhalb der ersten neun Monate des Jahres 2008, also noch vor dem Höhepunkt der Banken- und Finanzkrise, in etwa halbiert hatten (Mutter 2008).
2.3 Auch die Werbung revolutioniert sich
Die neuen Technologien haben nicht nur den Journalismus und das Mediengeschäft revolutioniert, sondern auch die Werbung. Das Internet ist eben nicht nur ein weiterer Verbreitungskanal. Es heizt den Wettbewerb an, und es eröffnet Werbetreibenden ganz neue Möglichkeiten und Strategien, vor allem raffiniertere Formen der Erfolgskontrolle und -messung. Diese wiederum bewirken, dass immer mehr Werbetreibende nur noch für nachgewiesene Werbeerfolge zahlen möchten. Für die Werbetreibenden herrschen nahezu paradiesische Zustände: Dank der Suchmaschinen, allen voran Google (v. Bredow et al., 2010), können sie ihre Zielgruppen ohne allzu grosse Streuverluste erreichen – anders als zu Zeiten von Henry Ford, der sich sorgte, die Hälfte seines Werbebudgets sei zum Fenster hinaus geworfen, aber nicht wusste, welche Hälfte. In der Vorinternet-Zeit mussten Werbetreibende einen Grossteil der Zeitungsund Zeitschriftenleser und später der Radiohörer und TV-Zuschauer mit bewerben, obschon sie wussten, dass sich viele von ihnen weder für ihre Produkte noch gar für eine ganz bestimmte Marke interessieren würden. Das Anzeigenvolumen – und nicht etwa das Interesse der Verleger am public service – blähte die redaktionellen Umfänge auf. Denn Anzeigenraum, so hat das schon Karl Bücher (1926) beschrieben, liess sich nur verkaufen, wenn er redaktionell eingerahmt war. Bleibt allerdings die Frage, weshalb für die viel gezieltere Online-Werbung so viel weniger bezahlt wird als bisher für Print-Werbung. Der Hauptgrund ist gewiss – wie bereits erwähnt – der intensivierte Wettbewerb. Einen weiteren nennt Robin Meyer-Lucht (2008), wenn er auf die geringere Kontakt-Qualität aufmerksam macht. Man könne die Nutzungsintensität und -loyalität von Online-Usern nicht mit der bei klassischer Zeitungslektüre vergleichen. An diesem Punkt würden sich namhafte Journalisten immer wieder in die Tasche lügen, wenn sie User- und Leserkontakte eins zu eins bewerteten. Last not least sind für die werbetreibende Wirtschaft vermutlich Leser und Leserinnen, die für ihre Zeitung bezahlen, die interessanteren Publika. Denn womöglich widmet man – jenseits aller Versuche, Kon-
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taktintensität empirisch zu messen – einem bezahlten Produkt eben doch mehr und anders Aufmerksamkeit als einem Gratis-Angebot.1 Ein „Rätsel“ sei es dennoch, so rechnet Michael Hirschorn (2009) im Atlantic Monthly am Beispiel der „New York Times“ vor, „dass eine Million Leser der gedruckten Zeitung, die für das Privileg, die Zeitung zu konsumieren, mit Barem bezahlen und für deren Aufmerksamkeit Anzeigenkunden fünfstellige Beträge pro Seite hinblättern, so viel profitabler sind als die 20 Millionen Web-User.“ Üblichen Schätzungen zufolge, könnte die „New York Times“, würde sie nur noch im Internet erscheinen, nur ein Fünftel ihrer derzeitigen Redaktion finanzieren – und solch ein personeller Aderlass würde natürlich die Nachrichtenverarbeitungs-Kapazität der Zeitung zerstören. Somit bleibt als Problem für Zeitungen bis auf weiteres, dass sie im Blick auf ihre Kostenstrukturen nicht einfach die Leser ihres Printprodukts durch Online-Leser austauschen können. „Auf einer Pro-Kopf-Basis, ist der Verkauf einer gedruckten Zeitung weitaus profitabler, als Leute auf die Website der Zeitung zu locken. Es wird geschätzt, dass eine Zeitung zwei oder drei Dutzend Online-Leser benötigt, um – im Hinblick auf erzielbare Einkünfte aus Inseraten – den Verlust eines einzigen Print-Lesers auszugleichen,“ so Thomas Patterson (2007: 13).
2.4 Die Trittbrettfahrer als Gewinner
Ärgerlich für Zeitungen und Journalisten ist und bleibt, wie im Internet die Trittbrettfahrer zu den eigentlichen Gewinnern werden: den Löwenanteil an Clicks und damit auch an Werbeeinkünften bekommen Google, Yahoo etc., die auf ihren Portalen Nachrichten anbieten, ohne sich an deren Recherche- und redaktionellen Erstellungskosten angemessen zu beteiligen (Patterson 2007). Im Februar 2008 kündigten vier grosse US-Zeitungskonzerne eine Allianz an, um gemeinsam Online-Werbung zu vermarkten. Hearst („San Francisco Chronicle“), New York Times Co. („New York Times“ und „Boston Globe“), die TribuneGruppe („Chicago Tribune“) und Gannett („USA Today“) wollen so gemeinsam für die insgesamt 200 Websites ihrer diversen Blätter Anzeigen verkaufen, um Google und anderen Wettbewerbern im Netz Paroli zu bieten (Lee 2008).
2.5 Auch das Kleinanzeigen-Geschäft revolutioniert sich
Es kommt allerdings noch schlimmer: Während die Werbung insgesamt abbröckelt und weniger einträglich zu werden verspricht, gehen Experten davon aus, dass ein lukratives Geschäftsfeld der Tageszeitungen innerhalb der nächsten fünf Jahre gänzlich wegbrechen könnte: das Geschäft mit den classified ads, den Kleinanzeigen (Project for Excellence in Journalism, 2009). Das Internet macht es möglich: Privatpersonen können z.B. bei www.craigslist.org gratis ihre Kleinanzeigen schalten, Immobilienmakler und Arbeitgeber, die Jobangebote offerieren, bezahlen Gebühren. Diese liegen aber weit unter den Sätzen, die für Kleinanzeigen üblich waren, bevor das Internet diesen Teil des Werbemarkts und Craigslist das Inter1 Experten räumen ein, dass alle bisherigen Messverfahren der Aufmerksamkeit, die Werbung in den verschiedenen Medien auf sich zu lenken mag, unbefriedigend geblieben sind – seien das Zeitungsauflagen, TV-Quoten, Page Clicks oder Besucherzahlen einer Website (Project for Excellence, 2007 - Overview).
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net revolutioniert hat. 40 Millionen Besucher monatlich vermeldet Craigslist allein in den USA – das sind fast doppelt so viele, wie die erfolgreichste Nachrichten-Website nytimes.com anzulocken vermag. Das Unternehmen generiert – so schätzt die New York Times (Cohen 2008) – zwischen 80 und 100 Millionen Dollar Umsatz pro Jahr und beschäftigt ganze 25 Mitarbeiter. In den USA ist Craigslist mittlerweile der grösste Anbieter von Kleinanzeigen. Nach Besucherzahlen ist es die Nr. 8 unter allen englischsprachigen Websites weltweit. Die Erlöse, die den Wettbewerbern auf diese Weise entgehen, betragen ein Vielfaches vom Umsatz, den Craigslist als erfolgreicher Startup selbst erzielt. Wieviel genau, ist bei der Newspaper Association of America (NAA) nicht in Erfahrung zu bringen. Um wenigstens Anhaltspunkte zu geben: Im Jahr 1950 erzielten die amerikanischen Zeitungen mit Kleinanzeigen 18 Prozent ihrer gesamten Werbeerlöse, im Jahr 2000 war dieser Anteil auf 40 Prozent angestiegen (Meyer 2008a; Mutter 2008c). Seither befindet sich das Geschäft mit den Classifieds jedoch im Sinkflug: Über zwei Drittel des Umsatzes ist seit dem Allzeithoch im Jahr 2000 weggebrochen – damals waren es knapp 20 Mrd. Dollar, zuletzt wurden noch jährlich 6,1 Mrd. Dollar Umsatz mit Zeitungs-Kleinanzeigen erzielt. Die Statistik reicht bis 1950 zurück; seither waren in keinem anderen Jahr die Einbussen dramatischer als in den letzten drei Jahren: Minus 16,5 Prozent vermeldete die Newspaper Association of America (2010) für 2007, minus 29,7 Prozent für 2008 und nochmals minus 38,1 Prozent für 2009 –was einem Umsatzrückgang von 10,8 Milliarden Dollar gleichkommt . Experten erwarten, dass es in fünf Jahren mit dem Kleinanzeigengeschäft der gedruckten Zeitungen gänzlich vorbei sein könnte (Project for Excellence in Journalism, 2009).
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Das trojanische Pferd: Aggressive PR unterminiert den Journalismus
Dem dritten Eckpunkt des Bermuda-Dreiecks wird in der Diskussion um die Zeitungszukunft am wenigsten Beachtung geschenkt – zu Unrecht, wie sich zeigen lässt. Denn PR ist eine zweischneidige Angelegenheit für den Journalismus: Einerseits ist sie als Subvention redaktioneller Arbeit zu werten, so der PR-Forscher Oscar H. Gandy (1982): Ohne die Vorleistungen, die Pressestellen und PR-Abteilungen erbringen, würde schon längst keine Redaktion mehr funktionieren. Andererseits unterminiert zu viel PR die Glaubwürdigkeit des Journalismus. Ausserdem ergänzen sich Werbung und Öffentlichkeitsarbeit nicht nur als Kommunikations-Instrumente, sondern gelegentlich substituieren sie sich auch – ein weiterer Umstand, der zum Verschwinden des Journalismus im Bermuda-Dreieck beiträgt. Das eigene Image zu pflegen und zu polieren – eben dies lassen sich Unternehmen und Behörden, Politiker und Stars eine Menge kosten. Kaum ein anderer Wirtschaftszweig wurde in den letzten Jahren so hoch gerüstet wie die Public Relations-Branche. Einer Armada von über 243 000 Menschen, die hier beschäftigt sind, stehen inzwischen in den USA nur noch rund 100 000 Journalisten gegenüber.2 Für die PR-Leute prognostiziert das 2 Die Zahl der Journalisten wird von der offiziellen Statistik weit weniger präzis ausgewiesen – dort wird nach „reporters“ und „editors“ getrennt, und bei den „editors“ sind auch die Lektoren von Buchverlagen und ähnliche Berufsgruppen mit dabei. Als verlässlichste Schätzung gelten die Berechnungen von Weaver et al.(2007): Danach
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Bureau of Labor Statistics (2008/9) in den nächsten zehn Jahren weitere 18 Prozent Zuwachs, während die Redaktionen in nicht minder atemberaubendem Tempo weiter schrumpfen werden.
3.1 Wachsender Einfluß auf die Medienberichterstattung
Damit beschleunigt sich absehbar ein Trend, den schon vor Jahren die KommunikationsForscherin Barbara Baerns (1985; 2007) mit Sorge beobachtet hat: Die Einfallstore für Öffentlichkeitsarbeit werden immer weiter geöffnet, die Redaktionen verwandeln immer öfter ungeprüft und mit wenigen Mausclicks Pressemitteilungen von Firmen, Ministerien und sonstigen Interessengruppen in „Journalismus“. Weil das so ist, zweifeln zumindest die klügeren Leserinnen und Leser mehr und mehr an der Glaubwürdigkeit ihrer Medien – und sehen immer weniger ein, dass sie dafür etwas bezahlen sollen. Als „schmutziges kleines Geheimnis des Journalismus” beschreibt Cristine Russell (2008) „das Ausmass, in dem sich seit jeher Reporter auf Presseerklärungen und PR-Stellen als Quellen ihrer Geschichten“ verlassen. Forschungsergebnisse führender Kommunikationsforscher belegen, in welchem Ausmaß PR-Leute mit ihren Taktiken und Strategien inzwischen Themen und Timing der öffentlichen Diskussion bestimmen. Ähnlich wie im deutschen Sprachraum variieren zwar auch bei einschlägigen amerikanischen Studien die Prozent-Anteile der Nachrichten beträchtlich, die auf Routine-Kanälen, also über Pressestellen, in Umlauf gebracht werden. Von 25 bis 50 Prozent ist in einigen Studien die Rede, einige Schätzungen gehen sogar von bis zu 80 Prozent aus (Cohen, zit. n. Stein 1989, 17; Sallot/Johnson 2006; Grunig 2007, 105). Andere Studien weisen allerdings auch darauf hin, dass nur ein geringer Anteil des in Umlauf gebrachten PR-Materials von den Redaktionen tatsächlich verwendet wird (Ohl et al. 1995).
3.2 Ambivalente Haltung der Journalisten
Schon aus Eigeninteresse gestehen sich Journalisten so gut wie nie ihre PR-Abhängigkeit ein, geschweige denn, dass sie darüber berichten würden. Amerikanische Journalisten verstossen ebenso wie ihre Kollegen in Europa oftmals gegen die Regel, Quellentransparenz herzustellen. Das Selbstwertgefühl vieler Presseleute lässt es nicht zu, sich einzugestehen, wie sehr sie auf die Vor- und Zuarbeit der PR-Profis angewiesen sind und wie viele ihrer Anregungen für Stories sie von dort beziehen. Es ist eine stille Revolution, die dem öffentlichen Diskurs in westlichen Demokratien ein neues Gepräge gegeben hat. Immerhin, die Forscher haben auch herausgefunden, dass Journalisten diejenigen PRLeute, mit denen sie persönlich zu tun haben, meist positiver bewerten als den Berufsstand (Jeffers 1977; Ryan/Martinson 1988). Barry Sussman (2008), als Leiter des „Nieman Watchdog-Projekts“ gewiss eine Autorität an der Schnittstelle von Journalismus und Öffentlichkeitsarbeit, sorgt sich aber zu recht, dass sich die Gewichte zwischen PR und Jourgab es in den USA im Jahr 2002 116 000 Journalisten. Als „informed guess“ hat Weaver (2009) in einer E-Mail bestätigt, dass die Zahl inzwischen die 100 000-Grenze unterschritten haben dürfte. Das Project for Excellence in Journalism (2010) geht inzwischen sogar davon aus, dass allein bei den Zeitungen von 2007 bis Ende 2009 15 000 Jobs in den Redaktionen abgebaut wurden.
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nalismus verschieben – in den USA vermutlich noch schneller und drastischer als anderswo in der westlichen Welt. Eine der Herausforderungen für die Forschung besteht darin, solche Verschiebungen zu erfassen und zu quantifizieren. Um hier wenigstens einen ersten Anstoss zu geben: Es ist davon auszugehen, dass ein erheblicher Teil von PR-Arbeit nach wie vor aus Medienkontakten besteht, also einerseits aus (Gratis-)Zulieferungen von Nachrichten und Berichterstattungs-Material an die Redaktionen, andererseits aus Anstrengungen, bestimmte Themen aus der Berichterstattung herauszuhalten. Meist unterstützen PR-Leute die Redaktionen, partiell behindern sie indes auch deren Arbeit, sei es, indem sie den Zugang zu Quellen reglementieren und blockieren, sei es, indem sie die Redaktionen mit Material überfluten, das von geringem Nachrichtenwert ist und aussortiert werden muss. Nehmen wir die oben genannten Zahlenverhältnisse zum Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen: Wenn 243 000 PR-Leute auf 100 000 Journalisten treffen, so heisst das statistisch, dass pro US-Journalist 2,4 PR-Leute im Einsatz sind. Im Vorfeld des Journalismus wird also – nach Arbeitseinsatz berechnet – mindestens der 2,4 fache Aufwand getrieben, um die Öffentlichkeit mit Nachrichten und positiver Selbstdarstellung zu „versorgen“ (bzw. den Nachrichtenfluss entsprechend zu regulieren und zu beeinflussen) als von den Redaktionen selbst. Angesichts deutlich höherer Vergütungen und Gehälter, wie sie im PR-Sektor im Vergleich zum Journalismus gezahlt werden, steigert sich dieser Faktor nochmals, wenn man den Aufwand monetär bewertet. Nehmen wir einfach an – was anhand von Gehalts- und Vergütungsstatistiken zu verifizieren wäre -, dass PR-Leute durchschnittlich 50 Prozent mehr verdienen als Journalisten. Damit ergäbe sich als neuer Faktor bereits ein 3,6-facher Aufwand für PR im Vergleich zum Journalismus.3 Andererseits ist in Rechnung zu stellen, dass ein erheblicher Teil von PR-Arbeit nicht auf Redaktionen zielt, und dass zumindest ein Teil der Pressearbeit Anstrengungen gewidmet ist, Medienberichterstattung zu verhindern statt sie zu unterstützen. Aber selbst wenn man all dies mit berücksichtigt, dürfte im Endergebnis auch bei einer sehr konservativen Schätzung herauskommen, dass jede Redaktion, die einen Dollar für Journalismus ausgibt, zwar nicht mit dem 3,6 fachen Betrag, aber zumindest mit ein bis zwei weiteren Dollars „quersubventioniert“ wird, die im Vorfeld für PR ausgegeben werden, um die redaktionelle Arbeit durch Zulieferungen zu unterstützen. Solche Zahlenspiele bzw. Bewertungsversuche sind nötig, um Licht ins Dunkel zu bringen und genauer herauszuarbeiten, wer in unserem Medien- und Informationssystem anteilig wie viel dafür bezahlt, dass wir informiert werden. Und sie erleichtern es auch, auf die nächste Frage Antworten zu finden: Wie sollten die Gewichte und damit auch die Machtbalance zwischen PR und Journalismus aussehen, damit das „System“ bestmöglich funktioniert? Ist die Balance womöglich längst aus den Fugen geraten, ohne dass dies in der Öffentlichkeit je so richtig bemerkt worden wäre? Oder halten sich die PR-Abteilungen und Pressestellen, die sich ja auch gegenseitig beobachten, wechselseitig in Schach? Wie ist es um Gruppen und Minderheiten und ihre Anliegen bestellt, die sich keine professionelle PRArbeit leisten können, um die Aufmerksamkeit der Medien zu gewinnen? 3 Dabei ist wohlgemerkt nur der Aufwand der PR-Stellen selbst einbezogen. Der tatsächliche Aufwand der Zulieferer ist noch beträchtlich grösser, weil die Öffentlichkeitsarbeiter ja ihrerseits organisationsintern recherchieren und ihre Aktivitäten abstimmen müssen, so dass auch Chefs, Kollegen und Mitarbeiter aus anderen Einheiten zum Arbeitsergebnis der PR-Leute beitragen.
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Ausgedünnte Redaktionen, das heisst ja auch: reduzierte eigene Recherchekapazität und weniger Schleusenwärter, und damit leichteren Zugang für Öffentlichkeitsarbeiter zum redaktionellen Raum. Die Chance jeder einzelnen Pressestelle oder PR-Instanz, ihre Botschaften dort zu platzieren, dürften sich nur deshalb nicht wirklich vergrössert haben, weil die Zahl der Pressemeldungen weit stärker zugenommen hat als der redaktionelle Raum – und damit die PR-Leute gegenseitig dafür sorgen, dass die Bäume der anderen nicht in den Himmel wachsen. Auf einem Auge blind ist, wer in den „Leuchttürmen“ des Qualitätsjournalismus das letzte Bollwerk sieht, das sich der Hybridisierung des Journalismus und der Durchdringung der öffentlichen Kommunikation mit PR erfolgreich entgegenstemmt. Gewiss, die wenigen verbliebenen grossen Redaktionen der Qualitätsmedien fungieren weiterhin als Korrektiv. Aber dem Trend, dass PR den Journalismus immer stärker vorformt und die Themensetzung beeinflusst, können auch sie sich nicht entziehen: Im Zweifelsfall berichtet inzwischen auch die NZZ über die Strapse von Paris Hilton, und der medialen Inszenierung des I Pad durch Apple kann sich auch die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ nicht entziehen – schon weil die anderen Medien darüber berichten, können die Leuchttürme solche Themen nicht einfach übergehen.
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Trade offs zwischen Werbung und PR
Auch damit ist der Diskurs noch nicht beendet: Denn zumindest jene Medienunternehmen, die Qualitätsjournalismus ernst nehmen, müssen sich eigentlich fragen, wieviel PR sie zulassen dürfen, ohne ihre Glaubwürdigkeit zu verspielen. Umgekehrt sollten die Kommunikationsverantwortlichen in Unternehmen, in Politik und Verwaltung und bei Non-Profit-Organisationen inzwischen nachrechnen, ob sie so viel Geld wie bisher für teure Werbung ausgeben wollen, wenn sie doch viele Botschaften mit Hilfe von PR billiger und glaubwürdiger im redaktionellen Teil unterbringen können (Ries/Ries 2002) – oder sie inzwischen dank Corporate Publishing, Social Networks und Internet einen Bypass um die Printmedien herum legen können – sowohl als Werbeträger als auch um die Redaktionen als Schleusenwärter des redaktionellen Angebots. Erfolgreiche PR entzieht somit den Redaktionen auch Ressourcen, die ihren Medienunternehmen potentiell als Werbeeinkünfte zugeflossen wären. Wenn aber diese Werbeeinkünfte fehlen, verkommt der Journalismus weiter. Es kann nicht hinreichend recherchiert werden, die Versuchung wächst, eigene Recherchen durch PR-Zulieferungen zu ersetzen, und der Teufelskreis erhält neue Nahrung. In den meisten grösseren Unternehmen und Organisationen rivalisieren allerdings Marketing und PR-Abteilung bislang – sie sind nur selten unter einem Dach vereint, sprich: einem Kommunikationsverantwortlichen unterstellt. Die Werbeetats betragen meist ein Vielfaches der PR-Budgets, und die PR-Abteilungen sind im internen Powerplay den grösseren und strategisch gewichtigeren Marketing- und Werbeabteilungen unterlegen. Deshalb wurde wenig darüber nachgedacht, wie Kommunikationsziele am effektivsten und effizientesten durch eine Bündelung von Werbe- und PR-Massnahmen zu erreichen sind. Insbesondere die Frage, ob bestimmte Ergebnisse nicht kostengünstiger über PR-Strategien statt über Werbung zu erreichen seien, wurde selten gestellt. Stattdessen haben PR und Marke-
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ting oft nebeneinander her gewurstelt (Ries/Ries 2002) – und davon haben die traditionellen Medienunternehmen profitiert. Sie sollten indes nicht unterstellen, dass es dabei bleiben wird. Vor allem erfolgreiche Start ups – von Microsoft über Starbucks bis hin zu Hennes & Mauritz – haben über die letzten Jahrzehnte hinweg mit erfolgreichen PR-Kampagnen ihre Marken aufgebaut. Statt in der Pionier- und Aufbauphase ihrer Unternehmen Millionen und Abermillionen in Werbung zu „versenken“, haben sie durch „Storytelling“ den Journalismus für ihre Zwecke eingespannt – und erst später, als ihre brands bereits jedermann aus der Medienberichterstattung kannte, in die Werbung mit dem Ziel der Markenpflege investiert (Ries/Ries 2002). Wer wirklich begreifen will, warum die US-Tageszeitungen und, damit einhergehend, auch die Leuchttürme des Qualitätsjournalismus im Bermudadreieck zu verschwinden drohen, wird das Zusammenspiel von und die Wechselbeziehungen zwischen Journalismus, PR, Werbung und Publika genauer analysieren müssen, und zwar unter Einschluss der Eigeninteressen der beteiligten Akteure.
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Österreich – Land ohne Leuchttürme? Qualitätszeitungen im Spannungsfeld zwischen publizistischer Leistung und strukturellen Zwängen Melanie Magin und Birgit Stark 1
Einführung
„Wer hat Angst vor Onkel Hans?“ Diese Frage stellte sich in Österreich in regelmäßigen Abständen (vgl. Enigl/Zöchling 2008). Hinter „Onkel Hans“ verbarg sich der inzwischen verstorbene Herausgeber der „Kronen Zeitung“, Hans Dichand. Sein Blatt ist nicht nur die größte Boulevardzeitung Österreichs, sondern mit knapp drei Millionen Lesern und einem konstant hohen Marktanteil zwischen 40 und 47 Prozent auch eine der reichweitenstärksten Zeitungen der Welt (vgl. Kaltenbrunner et al. 2007: 37). Selbst die deutsche Bild-Zeitung, die auflagenstärkste Tageszeitung Europas, kommt auf einen Marktanteil von nur rund 17 Prozent (vgl. Boenisch 2007; Resing 2007). Marktmacht spricht man der Krone vor diesem Hintergrund zweifellos zu, über die Auswirkungen ihrer speziell in Kampagnen gebündelten Meinungsmacht wird allerdings seit Jahrzehnten heftig gestritten. Beispielsweise sorgt die lang anhaltende Anti-EU-Kampagne, die im Wahlkampfjahr 2008 in einem neuen Höhepunkt gipfelte, für Aufsehen. Im Juli 2008 wandte sich die damalige SPÖDoppelspitze (noch amtierender Bundeskanzler Alfred Gusenbauer und SPÖ-Chef Werner Faymann) in einem offenen Brief an den Herausgeber der „Krone“ und gab darin die Kehrtwende der SPÖ in der Europapolitik (EU-Vertragsänderungen sollen künftig per Volksabstimmung entschieden werden) bekannt. Die latent EU-kritische Berichterstattung der „Krone“ schlägt sich in Meinungsumfragen nieder: Ihre Exklusivleser unterscheiden sich in der Haltung zur EU von den Lesern anderer Zeitungen. Im Juli 2008 waren beispielsweise 72 Prozent der „Krone“-Exklusivleser der Überzeugung, die EU-Mitgliedschaft bringe der österreichischen Bevölkerung überwiegend Nachteile. Umgekehrt sahen 70 Prozent der Exklusivleser anderer Tageszeitungen überwiegend Vorteile durch die Mitgliedschaft. Auch die verpflichtende Volksabstimmung über EU-Verträge findet bei den Exklusivlesern der Krone weitaus mehr Zustimmung als bei denen der Konkurrenzblätter (vgl. Ulram 2008). Zeitungsmacher, insbesondere im Qualitätssegment, sehen sich in Österreich deshalb mit einer ganz spezifischen Situation konfrontiert. Qualitätszeitungen haben im Land weder eine starke Tradition noch eine bedeutende Marktposition, und ihr Leitmedienstatus ist – anders als in anderen Ländern – umstritten.1 Infolgedessen fehlt ihnen auch die Meinungsführerfunktion im öffentlichen Diskurs, die international anerkannten Qualitätszeitungen als „Flaggschiffen“ eines anspruchsvollen und qualitätsvollen Journalismus in vielen Ländern zukommt. Das macht es ihnen schwer sich als Gegengewicht zur übermächtigen Krone zu positionieren. Während in anderen Ländern von der Krise der Qualitätsmedien die Rede ist (vgl. z.B. Ruß-Mohl i.d.B.), sind in Österreich dagegen Klagen zu hören, es gebe im Land 1
Zu Leitmedien siehe Jarren/Vogel i.d.B.
R. Blum et al. (Hrsg.), Krise der Leuchttürme öffentlicher Kommunikation, DOI 10.1007/978-3-531-93084-8_7, © VS Verlag fur Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Melanie Magin und Birgit Stark
gar keine solchen „Leuchttürme“, sprich Zeitungen, welche die Bezeichnung „Qualitätszeitung“ verdienten. An diesem Punkt setzt die vorliegende Untersuchung an. Sie will klären, wodurch sich österreichische Zeitungen auszeichnen, die selbst den Anspruch erheben, Qualitätszeitungen zu sein, wie gut sie die besonderen Leistungsanforderungen an diesen Zeitungstyp erfüllen und inwiefern sie sich von anderen Zeitungen unterscheiden, die nicht mit dem Etikett „Qualitätszeitung“ versehen werden. Betrachtet werden dazu Marktstrukturen, Nutzercharakteristika und Medieninhalte, letzteres im Vergleich zwischen österreichischen und deutschen Tageszeitungen. Die Studie kommt somit einer in der kommunikationswissenschaftlichen Qualitätsdebatte häufig geäußerten Forderung nach, die Qualität von Medieninhalten nicht isoliert zu betrachten, sondern in einen Gesamtzusammenhang zu stellen. Der Vergleich mit dem „großen Nachbarn“ erscheint vor allem aufgrund der Sprachgleichheit und der massiven Einflüsse deutschen Verlegerkapitals auf dem österreichischen Markt2 sinnvoll und soll dazu beitragen, die spezifisch österreichische Situation besser herausarbeiten zu können. Untersucht werden die drei österreichischen Zeitungen, die als Qualitätsblätter gelten – der linksliberale „Standard“ sowie die „Presse“ und die „Salzburger Nachrichten“ (SN), beides eher bürgerlich-konservative Zeitungen –, im Vergleich zu anderen überregionalen Tageszeitungen – der „Krone“ und zwei weiteren Blättern, die sich selbst als Qualitätszeitungen bezeichnen, in der Kommunikationswissenschaft aber nicht als solche gelten: Das Midmarket-Paper „Kurier“ und die im September 2006 neu gestartete Tageszeitung „Österreich“, die entweder – wie in der hier vorgestellten Studie – dem Midmarket-Segment oder dem Boulevard zugerechnet wird.3 Das Analyseraster orientiert sich an der Unterscheidung von Marktstruktur, Marktverhalten und Marktergebnis aus der Industrieökonomik. Mit Hilfe dieses Modells lassen sich die komplexen Wechselbeziehungen zwischen Medienkonzentration und publizistischer Leistung umfassend analysieren, da wettbewerbs- und kommunikationspolitische Ordnungsvorstellungen bzw. Regulierungsaspekte miteinander verbunden werden. Methodisch werden diese Zusammenhänge sowohl mit Hilfe ökonomischer und inhaltlicher Konzentrations- bzw. Vielfaltsmaße als auch mit Kennwerten des Nutzungsverhaltens erfasst. Bislang kommt dieser Ansatz überwiegend in Verbindung mit dem Vielfaltskonzept zum Einsatz (vgl. McQuail 1992; Siegert 2001; van Cuilenberg 2007). Die Übertragbarkeit bzw. Erweiterung auf Qualitätsmaßstäbe wird anhand des Fallbeispiels erstmalig überprüft. Dabei kann im vorliegenden Beitrag nicht die erschöpfende Betrachtung aller Merkmale im Vordergrund stehen. Vielmehr werden aus den drei Säulen des Analyserasters exemplarisch diejenigen Indikatoren ausgewählt, die erstens die spezifisch österreichische Ausgangssituation prägen und zweitens für Qualitätszeitungen eine besondere Relevanz besitzen. Aus struktureller Perspektive gilt es insbesondere wettbewerbsbestimmende Merkmale des Medienmarktes und Instrumente der Medienregulierung zu betrachten: die Marktkonzentration (Reichweiten- und Auflagenzahlen), den Werbemarkt und das Instrument der 2 So konnte beispielsweise der Standard 1988 nur mit finanzieller Beteiligung des deutschen Axel SpringerVerlags gegründet werden; von 1998 bis 2008 befand er sich im Teilbesitz des Verlags der Süddeutschen Zeitung. Die deutsche WAZ-Gruppe ist seit 1988 maßgeblich nicht nur an Krone und Kurier beteiligt, sondern darüber hinaus auch am Unternehmen Mediaprint, das Druck, Anzeigenakquise und Vertrieb beider Zeitungen organisiert. 3 Daneben gibt es mit der im Besitz der Republik Österreich befindlichen Wiener Zeitung und der Special-InterestTageszeitung WirtschaftsBlatt zwei weitere überregionale Tageszeitungen. Außerdem existieren sieben Regionalzeitungen (Kärntner Tageszeitung, Kleine Zeitung, Neues Volksblatt, Neue Vorarlberger Tageszeitung, Oberösterreichische Nachrichten, Salzburger Volkszeitung, Tiroler Tageszeitung, Vorarlberger Nachrichten).
Österreich – Land ohne Leuchttürme?
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Presseförderung, das der Vielfaltssicherung dienen soll. In der zweiten Säule des Analyserasters, dem Marktverhalten, werden mehrheitlich Parameter untersucht, die das strategische Handeln der Markteilnehmer in den Mittelpunkt stellen. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wird jedoch nicht das Verhalten der Unternehmen, sondern in Anlehnung an das Konzept von Bain (1968) das Nachfrageverhalten aus Sicht der Rezipienten betrachtet.4 Denn Qualitätszeitungen erhalten ihre Leitmedienfunktion gerade auch durch die spezifische Zusammensetzung ihres Publikums, weil sie normalerweise „vor allem in der gesellschaftlichen Führungsschicht, von Entscheidungsträgern und Angehörigen der Elite genutzt“ werden (Wilke 1999: 302).5 Inwiefern die untersuchten Parameter das Marktergebnis und damit die publizistische Leistung beeinflussen, wird in der dritten Säule des Analyserasters im Rahmen einer Inhaltsanalyse der politischen Berichterstattung österreichischer und deutscher Tageszeitungen überprüft. Dem Analyseraster folgend beginnt die Darstellung mit der Charakterisierung der Marksituation.
2
Marktstruktur: Der österreichische Pressemarkt im Überblick
2.1 Anbieterkonzentration und Werbemarkt Der österreichische Tageszeitungsmarkt weist eine Reihe struktureller Probleme auf, welche die Situation der Qualitätszeitungen nachhaltig beeinflussen: Er ist sehr klein, die Anzahl an Tageszeitungen im internationalen Vergleich gering, die Auflagenkonzentration höher als in irgendeinem anderen europäischen Land (mit Ausnahme des Vatikans und Luxemburgs), und ausländische Verlage engagieren sich massiv, allen voran der deutsche WAZ-Konzern mit seinen Beteiligungen an „Krone“ und „Kurier“. Im hier untersuchten Jahr 20066 gab es in Österreich nur 15 publizistische Einheiten, acht davon mit nationaler Verbreitung. Abbildung 1 zeigt Reichweiten und Marktanteile aller österreichischen Kauf-Tageszeitungen im Jahr 2006. Deutlicht wird hieran die absolute Marktdominanz der „Krone“: Ihr Marktanteil lag insgesamt bei 42 Prozent, bezogen auf die national verbreiteten Tageszeitungen bei 58 Prozent – ein Marktanteil, an den die eliteorientierten Qualitätszeitungen nicht einmal annähernd heranreichen. Die vier auflagenstärksten Tageszeitungen erreichten einen gemeinsamen Marktanteil von 73 (alle Tageszeitungen) bzw. 88 Prozent (überregionale Tageszeitungen). Interpretiert man den Wert des Herfindahl-Hirschmann-Index (HHI = 0,220 bzw. 0,376) mittels der Äquivalenzzahl N (1/HHI), ist die publizistische Konzentration so hoch, als ob es (unter der Prämisse gleich großer Marktanteile) insgesamt weniger als fünf Tageszeitungen (N = 4,5) und nicht einmal drei national verbreitete (N = 2,7) gäbe. Zwar konnte der Markteintritt der neuen Tageszeitung „Österreich“ die Marktkonzentration zumindest kurzfristig leicht verringern. Dennoch muss die externe Vielfalt des österreichischen Tageszeitungsmarktes aber als stark gefähr4 Einige Autoren fügen in einer Erweiterung des Ansatzes Aspekte der Mediennutzung als eigenes Feld ein, abgehandelt werden diese jedoch weitgehend mit der Medienmarktstruktur und den Marktstrategien (vgl. Siegert 2003). 5 Hierüber besteht auch in den Definitionsversuchen (vgl. z.B. Haas 2000; Bohrmann/Duchkowitsch 1994) des Begriffs „Qualitätszeitung“ breiter Konsens, während andere übereinstimmende Definitionsmerkmale weitgehend fehlen. 6 Die Indikatoren aus den einzelnen Säulen des Analyserasters beziehen sich auf das Jahr 2006, da in diesem Jahr die Inhaltsanalyse abgeschlossen wurde.
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Melanie Magin und Birgit Stark
det angesehen werden (vgl. Melischek/Oggolder/Seethaler 2009; Seethaler/Melischek 2006: 351). Die wettbewerbsverzerrenden Effekte aufgrund der starken Marktasymmetrien stellen die Qualitätszeitungen vor schwerwiegende Probleme, wenn sie sich auf dem Publikums- und Werbemarkt behaupten wollen. Abbildung 1:
Marktanteile und Reichweiten der österreichischen Kauf-Tageszeitungen (in %; 2006)
Kro nen Zeitung Kleine Zeitung* Österreich Kurier OÖ Nachrichten Tiro ler Tageszeitung Die P resse Der Standard Salzburger Nachrichten Vo rarlberger Nachrichten Wirtschaftsblatt Neue Kärntner Tageszeitung Neues Vo lksblatt Wiener Zeitung Neue Zeitung für Tiro l* Neue Vo rarlberger Tageszeitung* Salzburger Vo lkszeitung
0
5
10
15
20
25
Reichweite
30
35
40
45
50
Marktanteil
Quelle: Media-Analyse 2006; ÖAK 2006; Melischek/Oggolder/Seethaler 2009. * Die Neue Vorarlberger Tageszeitung und die Neue Zeitung für Tirol erscheinen in redaktioneller Kooperation mit der Kleinen Zeitung; die drei Zeitungen bilden also zusammen eine publizistische Einheit.
Auf dem Werbemarkt kommt der Tagespresse eine große ökonomische Bedeutung zu, sie ist das führende Werbemedium. Im Jahr 2006 entfielen rund 57 Prozent des BruttoWerbeaufwands für klassische Werbung (2,33 Mrd. Euro) auf Printmedien allgemein (1,32 Mrd.), 28,8 Prozent des Brutto-Werbeaufwands (0,67 Mrd.) auf die Tageszeitungen – im internationalen Vergleich ein hoher Anteilswert. In Deutschland beispielsweise lag der entsprechende Anteil 2006 bei nur 26,4 Prozent (vgl. Möbus/Heffler 2007: 283). Die Anteile der übrigen Printmedien sind deutlich geringer (Magazine 13,8 Prozent (0,32 Mrd.), regionale Wochenzeitungen 9,14 Prozent (0,21 Mrd.), Fachzeitschriften 5,0 Prozent (0,12 Mrd.)). Demgegenüber entfielen auf das Fernsehen 23,4 Prozent (0,55 Mrd.), auf den Hörfunk 7,3% (0,17 Mrd.), auf das Internet 1,6 Prozent (0,04 Mrd.) und auf sonstige Werbeträger 11,0 Prozent (0,26 Mrd.) (vgl. Media Focus Research 2008: 16). Differenzierte Zahlen für einzelne Titel bzw. Zeitungsgattungen liegen nicht vor, aufgrund der gegebenen Marktsituation ist jedoch davon auszugehen, dass für die Qualitätszeitungen von diesem „Kuchen“ nur ein sehr kleines Stück abfällt.
Österreich – Land ohne Leuchttürme?
101
2.2 Das österreichische Presseförderungsmodell Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass Zeitungen durch ihren Beitrag zur Meinungs- und Willensbildung eine wichtige demokratische Funktion erfüllen. Vielfalt ist daher ein zentrales medienpolitisches Ziel, weil davon ausgegangen wird, „dass eine Vielzahl an Medienorganisationen (strukturelle Vielfalt) zu einer Vielfalt an Genres, Themen und Meinungen (inhaltliche Vielfalt) führt“ (Puppis 2007: 275) und mithin eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für Meinungsvielfalt ist. Medienpolitisch stellt eine hochkonzentrierte Marktsituation wie die österreichische daher ein Problem dar, dem durch medienpolitische Maßnahmen entgegenzuwirken ist. Um Vielfalt strukturell zu fördern, gibt es zwei Möglichkeiten: Zum einen die Regulierung der Medienkonzentration mittels des Kartellrechts, wovon in Österreich jedoch anders als in anderen Ländern wie etwa Deutschland systematisch kein Gebrauch gemacht wird. Dies hat maßgeblich zu den gegenwärtigen Marktstrukturen beigetragen, denn nur dadurch war z.B. die „Elefantenhochzeit“ zwischen „Krone“ und „Kurier“ 1988 überhaupt möglich (vgl. Puppis 2007: 173; Langenbucher 2007: 66; Wessely 1997). Zum anderen besteht die Möglichkeit staatlicher Presseförderung, die in Österreich zum Einsatz kommt. Sie soll benachteiligte Zeitungen im Wettbewerb stärken, Konzentration hemmen und Vielfalt sichern. In den meisten Ländern üblich sind indirekte Fördermaßnahmen wie etwa Steuererleichterungen oder reduzierte Postzeitungstarife. Daneben gewähren einige Staaten direkte Pressehilfen – neben Österreich z.B. Schweden, Norwegen, die Niederlande und Frankreich –, also finanzielle staatliche Zuwendungen an Zeitungen bzw. Verlage wie etwa Subventionierungen des laufenden Betriebs oder Zuschüsse für die Errichtung von Anlagen. Einzigartig in Europa kommen diese Finanzmittel in Österreich jedoch nicht selektiv nur bestimmten, als förderungswürdig erachteten Printmedien zugute, sondern allen Tages- und Wochenzeitungen, der Krone ebenso wie den ökonomisch weit weniger erfolgreichen Qualitätszeitungen (vgl. Trappel 2005: 84; Holtz-Bacha 1994: 450-451; Murschetz 2009).7 Ursprünglich verfolgte das 1975 in Kraft getretene Bundespresseförderungsgesetz keine konzentrationshemmende Absicht, sondern sollte den Verlegern einen Ausgleich dafür bieten, dass infolge des Umstiegs vom herkömmlichen auf das Mehrwertumsatzsteuersystem (1973) erstmals seit 1945 Steuern auf die Zeitungsvertriebsumsätze zu entrichten waren (vgl. Grisold 1996: 502; Holtz-Bacha 1994: 518). Nach dem „Gießkannenprinzip“ erhielten alle Tages- und Wochenzeitungen, unabhängig vom Markterfolg, Zahlungen in nahezu gleicher Höhe.8 Die Vielfaltssicherung ist erst seit einer grundlegenden Reform 1985 Ziel der Presseförderung. Hintergrund war die zu Beginn der 1980er Jahre immer offensichtlichere ökonomische Notlage kleinerer und politisch besonders engagierter Zeitungen. Die Allgemeine Förderung wurde nun ergänzt durch selektive Pressehilfen („Besondere Förderung zur Erhaltung der Medienvielfalt“) für auflagen- und anzeigenschwache Tageszeitungen ohne marktbeherrschende Stellung, die einen besonderen Beitrag zur politischen Meinungs- und Willensbildung leisten. Zu den Profiteuren zählen auch Presse und – allerdings 7 Zu den unterschiedlichen indirekten und direkten Presseförderungsmaßnahmen siehe Holtz-Bacha 1994. Zu unterschiedlichen Zielsetzungen staatlicher Presseförderung siehe Murschetz 2009. 8 Der genaue Betrag der einzelnen Zeitungen richtete sich anfangs nach der „Höhe der Umsatzsteuer, die im vorangegangenen Jahr für Vertriebserlöse (kalkuliert nach Endverkaufspreisen) angefallen wäre“ (Holtz-Bacha 1994: 518), später dienten als Berechnungsgrundlage auch die entrichtete Mehrwertsteuer, die Kommunikationsgebühren und die Aufwendungen für den Postzeitungsdienst (vgl. Trappel 2005: 88).
102
Melanie Magin und Birgit Stark
mit Unterbrechungen – Standard und SN.9 Dennoch konnte eine weitere Marktkonzentration aber nicht verhindert werden, die meisten Parteizeitungen mussten bis zum Ende der 1980er Jahre eingestellt werden (vgl. Trappel 2005: 88; Fidler 2008: 473). Nach einer erneuten grundlegenden Reform 2004 besteht das Förderungssystems aktuell aus drei Säulen: 1.
2.
3.
An die Stelle der Allgemeinen Förderung trat eine Vertriebsförderung fast aller Tagesund Wochenzeitungen. Sie soll dafür sorgen, dass alle Zeitungen mit der Frühzustellung und nicht erst im Lauf des Tages mit der Post ausgeliefert werden können, was einen Wettbewerbsnachteil bedeuten würde. Die Vielfaltsförderung („Besondere Förderung zur Erhaltung der regionalen Vielfalt der Tageszeitungen“) unterstützt Tageszeitungen mit besonderer Bedeutung für die Meinungs- und Willensbildung, deren Auflage im Jahresdurchschnitt maximal 100.000 Exemplare ausmacht und die weder bundesweit noch in einem Bundesland Marktführer sind – so auch „Presse“ und „Standard“, nicht aber die „Salzburger Nachrichten“. Entsprechend der früheren Besonderen Presseförderung soll damit eine weitere Titelkonzentration verhindert und Zweitzeitungen in einem Verbreitungsgebiet gefördert werden. Die dritte Säule, Qualitätsförderung und Zukunftssicherung, unterstützt die Ausbildung von Journalisten (bis 20.000 Euro pro Zeitung), Auslandskorrespondenten (bis 40.000 Euro pro Zeitung), Projekte zu Leseförderung und Medienforschung sowie Presseklubs (vgl. Trappel 2005: 92-94; Koschnick 2004: 310; Fidler 2008: 472).
Im Jahr 2006 belief sich der Gesamtförderungsbetrag für Tages- und Wochenzeitungen auf rund 12,84 Mio. Euro. Davon entfielen 4,53 Mio. Euro auf die Vertriebsförderung von 15 Tages- und 45 Wochenzeitungen, 6,64 Mio. auf die Besondere Förderung von acht Tageszeitungen und 1,67 Mio. auf die Qualitätsförderung (vgl. RTR o.J.). Tabelle 1 zeigt die Höhe der Förderungsmittel für die in der vorliegenden Studie betrachteten Zeitungen. Ob die Qualitätszeitungen und andere benachteiligte Blätter mit diesen im internationalen Vergleich geringen Förderungsbeträgen effektiv unterstützt werden können, erscheint jedoch fraglich.
9 Der Standard erhält seit 1990 Mittel aus der besonderen Presseförderung, aufgrund des Überschreitens der Anzeigengrenze jedoch nicht in den Jahren 1998 sowie 2001 bis 2003. Die SN bekamen nur zwischen 1997 und 2000 besondere Presseförderung. Diese Beispiele zeigen, dass das Überleben der Qualitätszeitungen vermutlich auch ohne Presseförderung längerfristig gesichert ist.
Österreich – Land ohne Leuchttürme?
103
Tabelle 1: Ergebnisse der Presseförderung im Jahr 2006 (in Euro) Standard I. Vertriebsförderung
177.067
Presse 141.654
II. Besondere 1.000.862 1.000.862 Förderung für Tageszeitungen 63.440 52.282 III. Qualitäts-förderung Redaktionsinterne Ausbildung von Nach/ / wuchsjournalisten Vereinigungen der Jour/ / nalistenausbildung Auslandskorrespondenten 40.000 40.000 Leseförderung 23.440 12.282 Forschungsprojekte / / Presseklubs / / Gesamt 1.241.369 1.194.797 Quelle: RTR o .J. Werte gerundet (ohne Dezimalstellen).
SN
Kurier
177.067
Krone
141.654 177.067 Davon: Tageszeitungen Wochenzeitungen
Alle Empfänger 4.525.050 2.443.527 2.081.523
/
/
/
6.644.500
66.589
32.762
13.647
1.668.400
18.000
8.591
1.358
279.409
/
/
/
650.676
40.000 25.231 / / 243.656
4.766 19.405 / / 174.415
/ 12.588 / / 191.014
234.320 387.944 66.000 50.052 12.837.950
Auch aus anderen Gründen wird das Förderungssystem insgesamt sehr kritisch bewertet. Die voranschreitende Pressekonzentration konnte dadurch nicht aufgehalten werden, denn es differenziert unzureichend zwischen erfolgreichen Zeitungen und solchen, die tatsächlich der Förderung bedürfen. Eine Effektivitätskontrolle sowie Anreize zu marktgerechtem Verhalten und Investitionen in Qualität fehlen weitgehend. Auch ein Marktzutritt neuer Tageszeitungen wird nicht erleichtert, da diese gerade in der schwierigen Anfangsphase nicht antragsberechtigt sind. Und angesichts der hohen Marktkonzentration erscheint fraglich, ob staatliche Presseförderung überhaupt noch in der Lage wäre, über Einzelfälle hinaus publizistische Vielfalt wirklich fördern zu können (vgl. Holtz-Bacha 1994: 550-553; Trappel 2005: 89; Langenbucher 2007: 66).
3
Marktverhalten aus Rezipientensicht: Die Leserprofile der Zeitungen
Die zweite Säule des Analyserasters basiert auf verschiedenen Datenquellen zu den Nutzern der einzelnen Tageszeitungen (Media-Analyse, Imageanalyse österreichischer Zeitungen) und gibt einen Überblick über deren Leserschaft.10 Qualitätszeitungen werden in der Regel verstärkt durch gehobene, einkommensstarke und konsumorientierte Zielgruppen genutzt. Aufgrund des hohen Ausbildungsniveaus und einer überdurchschnittlichen Berufsstellung verfügen diese Leser auch über ein höheres Haushalts-Nettoeinkommen. Zudem werden sie gemeinhin den so genannten Entscheidungsträgern zugeordnet. 10 Um die Vergleichbarkeit der Daten mit den Indikatoren aus den anderen Bereichen zu gewährleisten, wird hier auch das Jahr 2006 betrachtet. Allerdings liegen für diesen Zeitraum noch keine MA-Leserdaten für Österreich vor, da diese erst mit Verzögerung in die Media-Analyse aufgenommen wurde. Zur Leserschaft der deutschen Qualitätszeitungen siehe Brosius/Jandura i.d.B.
104
Melanie Magin und Birgit Stark
Die Altersbetrachtung für die österreichischen Zeitungen dokumentiert, dass „Salzburger Nachrichten“ und „Standard“ ein verhältnismäßig junges Publikum haben; ein Viertel der SN-Leser (beim „Standard“ etwas weniger) sind unter 30 Jahre alt. Bei „Presse“ und „Kurier“ dagegen fällt dieser Anteil unter die 20-Prozent-Marke. Während die „Presse“ weitaus stärker mehr Leser im Segment ab 50 Jahren hat, sind beim „Standard“ also die jüngeren Nutzer, insbesondere die Altersgruppe der 20- bis 29-Jährigen – gleichbedeutend mit einem hohen Anteil Studierender in der Leserschaft –, überproportional vertreten, Die Altersstruktur der „Krone“-Leserschaft ist nahezu deckungsgleich mit der Alterstruktur der Gesamtbevölkerung und ähnelt insgesamt den Leserstrukturen des „Kurier“. Außerdem fällt auf, dass auch bei der „Krone“ der Anteil jüngerer Leser bei rund 20% liegt, der Anteil älterer Leser folglich nicht überproportional hoch ist. Die größte Boulevardzeitung ist demnach in allen Altersschichten stark vertreten. Gravierende Unterschiede zwischen den einzelnen Zeitungssegmenten zeigen sich allerdings bei der Bildungsvariable. Erwartungsgemäß gibt es zwischen den Lesern der Qualitätspresse und denen des Midmarket- bzw. Boulevardbereichs ein starkes Gefälle. Während von den „Krone“-Lesern nur knapp ein Viertel über Abitur bzw. ein Hochschulstudium verfügt, sind es bei „Presse“ und „Standard“ jeweils über 70 Prozent. Besonders der Anteil an Personen mit einem abgeschlossenen Hochschulstudium ist im Segment der Qualitätszeitungen mit über 40 Prozent doppelt so hoch wie im Boulevard-Segment. Die „Salzburger Nachrichten“ und der „Kurier“ platzieren sich zwischen diesen beiden Extremen. Wenig überraschend verfügen die Leser des „Standard“ und der „Presse“ auch über ein höheres Haushaltseinkommen; insbesondere Haushalte mit mehr als 3000 Euro im Monat sind überproportional stark vertreten. Bündelt man die wichtigsten soziodemographischen Variablen in einer Schichtvariable,11 werden vor allem in der bestgereihten Schicht A Unterschiede in den einzelnen Lesersegmenten deutlich (siehe Abbildung 2, die die ersten drei Kategorien von sechs möglichen Ausprägungen veranschaulicht). Die höchsten Anteile finden sich hier bei der „Presse“, gefolgt von „Standard“, „Kurier“, „Salzburger Nachrichten“ und „Krone“. In der Schicht B zeigen sich zwischen dem Qualitäts- und Midmarket-Segment dagegen weniger starke Unterschiede, lediglich die Leser der „Krone“ passen sich hier nahezu dem Bevölkerungsdurchschnitt an. Auch in der Schicht C nivellieren sich die Differenzen zwischen den einzelnen Zeitungskategorien, so dass insgesamt die Zwischenposition des „Kurier“ gut zum Ausdruck kommt.
11 In diese Schichtvariable fließen die Informationen aus folgenden Variablen mit ein: Haushaltsnettoeinkommen, Berufsmilieu des Haushaltsvorstandes und Schulausbildung des/der Befragten.
Österreich – Land ohne Leuchttürme? Abbildung 2:
105
Leserschaftsprofile (Schichteinteilung; in %))
Standard
27
Presse
30
31
Salzburger Nachrichten
31
16
Kurier 9
0
20
19
22
20
10
21
29
18
10
Gesamt
15
30
20
Krone
18
20
30
40
50
A
B
60
70
80
90
100
C1
Quelle: Media-Analyse 2006.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich „Standard“ und „Presse“ aus Publikumssicht zweifelsohne als Qualitätszeitungen positionieren. Allerdings diffundiert die „Krone“ nicht zuletzt aufgrund ihrer hohen Reichweite zu einem gewissen Grad auch in mittlere bzw. obere Bevölkerungsschichten. Zudem fallen die Unterschiede der Qualitätszeitungen zum Midmarket-Paper „Kurier“ teilweise überraschend gering aus. Interessant ist die Positionierung der „Salzburger Nachrichten“, deren Leserprofil nicht dem traditionellen Qualitätszeitungspublikum entspricht, sondern sie bei einigen Lesermerkmalen eindeutig stärker im Midmarket-Segment verortet. Vergleichbare Tendenzen zeigen sich auch in der Qualitätsbeurteilung seitens der Leser. Die Daten sind der in regelmäßigen Abständen von der Gesellschaft für Konsumforschung durchgeführten Imageanalyse österreichischer Zeitungen entnommen. Regelmäßige Leser bilden die Basis für das so genannte Selbstbild-Image.12 In der Beurteilung der Kernkompetenzen schneidet der „Standard“ sehr gut ab, er liegt bei allen Merkmalen (Seriosität, Hintergrundberichterstattung, Kommentare und politische Unabhängigkeit) an erster Stelle, dicht gefolgt von der „Presse“ und mit größerem Abstand vom „Kurier“. Deutlich wird die Sonderstellung der „Krone“: Sie liefert in den Augen ihrer Leser mehrheitlich (63 Prozent bzw. 73 Prozent) interessante Hintergrundinformationen und gute Kommentare bzw. Glossen, wobei die letztgenannte Beurteilung sicherlich mit den populären und charakteristischen Kolumnen der Zeitung zu tun hat. So findet sich beispielsweise Österreichs 12 Die face-to-face-Befragung, die knapp 3000 Interviews umfasst, wurde Anfang des Jahres 2007 durchgeführt. Grundgesamtheit ist die österreichische Gesamtbevölkerung ab 15 Jahren. Aus Gründen der Übersichtlichkeit wird in der Grafik auf die Darstellung der Salzburger Nachrichten verzichtet. Sie positioniert sich – vergleichbar zum Kurier – weitgehend im Mittelfeld.
106
Melanie Magin und Birgit Stark
berühmtester „Kräuterpfarrer“ Hermann-Josef-Weidinger selbst posthum noch mit einer täglichen Kolumne im Blatt. Umstritten ist die Kolumne von Wolfgang Martinek, der unter dem Pseudonym Wolf Martin mehrzeilige Gedichte in der Rubrik „In den Wind gereimt“ schreibt. Auch Herausgeber Hans Dichand selbst kommentiert unter dem Pseudonym Cato in unregelmäßigen Zeitabständen wichtige Themen. Abbildung 3:
Kernkompetenzen der Qualitätspresse (in %) 87
besonders seriös
48 82
interessante Hintergrundinformationen
63 79 gute Kommentare u. Glossen
73 40 politisch unabhängig
33 0
10
20
30
Krone
40
Kurier
50
60
Presse
70
80
90
100
Standard
Quelle: GfK-Austria, Image der Tageszeitungen 2007; Basis: Regelmäßige Leser der Zeitung.
Überraschend hoch werden auch die politische Unabhängigkeit und die Seriosität der „Krone“ von ihren Lesern eingeschätzt. Beides Punkte, die von den Gegnern des Blattes vehement bestritten werden. Insbesondere die populistische Ausrichtung und die Parteinahme für oder gegen bestimmte Themen und Personen in Kampagnenform werden immer wieder kritisiert (vgl. zusammenfassend Fidler 2008). Diese Diskrepanz macht sich auch in der Gegenüberstellung von Selbst- und Fremdbild bei der „Krone“ bemerkbar. In der Fremdbildwahrnehmung werden Personen befragt, die zwar die Zeitung dem Namen nach kennen, aber keine regelmäßigen Leser sind. Hier zeigt sich sehr deutlich, dass das Blatt im Fremdbild bei den oben genanten Kriterien weitaus schlechter abschneidet. Eine Korrespondenzanalyse veranschaulicht abschließend anhand der verschiedenen Gruppierungen (nach 15 Kriterien) die Imagepositionierung der österreichischen Tageszeitungen. Das Mapping im Selbstbild zeigt, dass „Presse“ und „Standard“ einer Gruppe zugerechnet werden, die sich vor allem über drei Merkmale charakterisieren lässt: berufliche Wichtigkeit, Seriosität und politische Unabhängigkeit. Diese „Informationszeitungen“ heben sich insbesondere von den lokalen Zeitungen ab, die sich weitaus stärker über emotionale Kriterien wie Sympathie und Vermissen definieren und für die insbesondere das imageprägende Kriterium „lokales Geschehen“ maßgeblich ist. Letzterem Segment werden auch die „Salzburger Nachrichten“ zugerechnet. Wiederum wird die Sonderstellung der „Krone“ offensichtlich, da sie keiner der beiden Gruppen eindeutig zuordenbar ist und ihre
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Stellung vor allem über die Kriterien „unterhaltsam“ und „sensationslüstern“ definiert. Aus Nutzersicht bestätigt sich somit die Einordnung des „Standard“ und der „Presse“ als Qualitätsmedien, für die „Salzburger Nachrichten“ ist eine solche Positionierung aufgrund der Ergebnisse hingegen fraglich. In breite Bevölkerungsschichten dringen sowohl „Krone“ als auch „Kurier“ vor.
4
Marktergebnis: Die publizistische Leistung der Qualitätszeitungen
Inwiefern die bisher betrachteten Parameter das Marktergebnis und damit die publizistische Leistung der Zeitungen beeinflussen, wird in der dritten Säule des Analyserasters im Rahmen einer Inhaltsanalyse von zwölf überregionalen österreichischen und deutschen Tageszeitungen überprüft. Die Qualitätszeitungen werden dabei zwei anderen Zeitungstypen, Boulevardzeitungen und Midmarket-Paper, gegenübergestellt. Interessant ist der binationale Vergleich mit Deutschland, da die dortigen überregionalen Qualitätszeitungen anders als die österreichischen auch international einen Ruf als anspruchsvolle Meinungsführermedien genießen. Will man untersuchen, wie gut eine Zeitung inhaltlichen Qualitätsansprüchen genügt, ist zu definieren, was darunter verstanden wird. Da es weder für den Begriff ‚Qualitätszeitung’ noch für ‚publizistische Qualität’ eine allgemeingültige Definition gibt, ist man auf kommunikationswissenschaftliche Kriterienkataloge verwiesen, die vorwiegend auf zwei normativen Quellen – Journalismus- und Demokratietheorien einerseits, Medienrecht und journalistische Ethik-Kodizes andererseits – basieren. Die vorliegende Studie betrachtet neben dem Umfang der Berichterstattung mit Vielfalt und Transparenz zwei kommunikationswissenschaftliche Qualitätskriterien, die sich aus beiden Bezugssystemen ableiten lassen (vgl. ausführlicher Magin 2009; Weischenberg 2006; Schatz/Schulz 1992).13 Verglichen wird die tatsachenbetonte politische Berichterstattung14 der Qualitätszeitungen (Österreich: „Standard“, „Presse“, „Salzburger Nachricten“; Deutschland: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ), „Süddeutsche Zeitung“ (SZ), „Frankfurter Rundschau“ (FR), „Welt“, taz) mit der von Boulevardzeitungen (Österreich: „Krone“; Deutschland: „Bild“) und Midmarket-Papers (Österreich: „Kurier“, „Österreich“), eine Zeitungsgattung, die in Deutschland zumindest auf überregionaler Ebene nicht existiert. Untersucht wird eine künstliche Woche aus den Monaten Januar bis März 2005, für Österreich in einer Nacherhebung von April bis Juni 2007, weil die Zeitung zum ersten Erhebungszeitpunkt noch nicht erschien. Analysiert werden bewusst Phasen der Routineberichterstattung. Das Analysematerial umfasst 72 Einzelausgaben mit 2.159 Artikeln zu politischen Themen. Im Folgenden werden die wichtigsten Ergebnisse skizziert.
13 Als drittes Qualitätskriterium wurde die Ausgewogenheit der Berichterstattung untersucht, die entsprechenden Ergebnisse können hier aus Platzgründen jedoch nicht präsentiert werden. Siehe dazu Magin 2009. 14 Die politische Berichterstattung gilt vor dem Hintergrund der öffentlichen Aufgabe der Medien als besonders funktional für demokratische Gesellschaften und wird daher im Vergleich zu anderen Ressorts als wichtiger eingestuft (vgl. Köster/Wolling 2006).
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4.1 Umfang der Berichterstattung Der Umfang der Berichterstattung ist an sich kein publizistisches Qualitätskriterium, er kann aber erste Hinweise auf die Struktur der Berichterstattung geben und stellt den Hintergrund dar, vor dem die Interpretation der Befunde zu deren inhaltlicher Qualität erfolgen muss. Qualitätszeitungen sind im Allgemeinen für ihre besonders umfangreiche politische Berichterstattung bekannt. Tatsächlich zeigen die Ergebnisse (Abbildung 4) wenig überraschend, dass die Zeitungen dieses Typs die meisten und längsten Artikel über das politische Geschehen im In- und Ausland enthalten. Besonders dürftig ist das Informationsangebot von „Bild“ und „Krone“, weshalb die Ergebnisse für diese beiden Zeitungen sehr vorsichtig zu interpretieren sind. Gerade vor dem Hintergrund der marktbeherrschenden Stellung der „Krone“ und ihres maßgeblichen Einflusses auf die politische Meinungs- und Willensbildung der österreichischen Bevölkerung erscheint ihr begrenztes Angebot demokratiepolitisch äußerst bedenklich, da das enorme Missbrauchspotenzial des Massenblattes dadurch noch verstärkt wird. Abbildung 4:
Umfang der politischen Berichterstattung (Anzahl der Artikel; n = 2159)
300 260 250
200
255 232
227 188
221
193 155
147
138
150
101 100
42
50
ld Bi
ta z
W el t
SZ
FR
Z FA
Kr on e
h
Ö st er re ic
Ku rie r
SN
d St an da r
Pr es se
0
Quelle: Eigene Erhebung.
Auffällig ist aber auch das „Umfangsgefälle“ zwischen den Ländern: Im Vergleich zu den deutschen Qualitätszeitungen enthalten die österreichischen deutlich weniger politische Artikel, die im Durchschnitt auch kürzer sind. Im Umfang ihrer Berichterstattung zeigt sich kein großer Unterschied zu den Midmarket-Papers „Kurier“ und „Österreich“.
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4.2 Vielfalt Publizistische Vielfalt gilt als zentrales Qualitätskriterium, weil sie eine „notwendige Bedingung für das Funktionieren der Demokratie“ (Maurer 2005: 93) darstellt. Denn eine eigenständige Meinungs- und Willensbildung der Bürger setzt vielfältige Informationen bzw. ein breites Medienangebot über das politische Geschehen voraus. In der vorliegenden Inhaltsanalyse werden die In- und Auslandsberichterstattung hinsichtlich ihrer thematischen und geografischen Vielfalt untersucht. Dargestellt wird diese durch einen Vielfaltsindex, das Maß der Relativen Entropie. Sein Minimalwert 0 bedeutet, dass eine Zeitung nur über einen einzigen Themenbereich oder eine geografische Region berichtet, der Maximalwert 1 sagt aus, dass alle Themenbereiche bzw. geografischen Regionen in der Berichterstattung gleichmäßig repräsentiert sind (vgl. Franzmann/Wagner 1999: 78). Je größer der Entropiewert, desto vielfältiger berichtet das Medium, was allerdings nur bis zu einem gewissen Grad wünschenswert ist, da Journalisten auch die zentrale Aufgabe haben, Relevantes zur Berichterstattung auszuwählen. Einen Grenzwert, wann beide Kriterien optimal miteinander in Einklang sind, gibt es jedoch nicht. Tabelle 2 zeigt die Indexwerte im Überblick.
Dt. Zeitungen
BILD
taz
Welt
SZ
FR
FAZ
Österr. Zeitungen
Krone
Österreich
Kurier
SN
Presse
Standard
Tabelle 2: Vielfalt der politischen Berichterstattung (Entropiewerte)
Thematische Vielfalt (Inland) 0,86 0,87 0,81 0,82 0,86 0,70 0,89 0,92 0,87 0,94 0,93 0,89 0,88 0,92 Thematische Vielfalt (Ausland) 0,85 0,78 0,85 0,87 0,81 0,72 0,86 0,82 0,83 0,85 0,79 0,86 0,68 0,85 Geografische Vielfalt (Inland) 0,53 0,67 0,64 0,43 0,48 0,36 0,61 0,75 0,77 0,68 0,69 0,70 0,70 0,75 Geografische Vielfalt (Ausland) 0,80 0,77 0,68 0,72 0,68 0,62 0,75 0,82 0,81 0,78 0,74 0,82 0,67 0,81 Quelle: Eigene Erhebung. Aufgrund unterschiedlicher Filter variiert die Basis: – Thematische Vielfalt (Inland): 1073 Artikel zu politischen Inlandsthemen (Deutschland: 701; Österreich: 387) – Thematische Vielfalt (Ausland): 1067 Artikel zu politischen Auslandsthemen (D: 593; Ö: 474) – Geografische Vielfalt (Inland): 1038 Artikel mit Handlungsort Inland (D: 660; Ö: 378) – Geografische Vielfalt (Ausland): 1021 Artikel mit Handlungsort Ausland (D: 568; Ö: 453) Die Berechnung der relativen Entropie erfolgt über die Formel ( (–a) (log2 a)) / log b, wobei a = Anteil der einzelnen Themen bzw. Regionen an allen Beiträgen; b = Anzahl aller Beiträge (Vehlow, 2006: 66).
Thematische Vielfalt: Die Entropiewerte bescheinigen der politischen Inlandsberichterstattung fast aller Zeitungen eine relativ hohe Themenvielfalt – selbst der „Bild-Zeitung“, wobei einschränkend allerdings ihr geringer Berichterstattungsumfang zu bedenken ist. Einzig die „Krone“ schneidet schlechter ab. Im Ländervergleich fällt aber auf, dass die Entro-
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piewerte der deutschen Zeitungen durchwegs etwas höher ausfallen als die der österreichischen, das heißt, letztere decken mit ihren politischen Inlandsberichten ein eingeschränkteres Themenspektrum ab. Zwischen den österreichischen Qualitätsblättern und den Midmarket-Papers ist kein wirklicher Unterschied erkennbar. In der Auslandsberichterstattung ist das Themenspektrum vor allem der Boulevardzeitungen, aber auch der Qualitätsblätter „Pressf“ und „Welt“ etwas eingeschränkt. Länderspezifische Differenzen zwischen den Qualitätszeitungen sind nicht feststellbar, es fällt aber auf, dass das Midmarket-Paper „Kurier“ mit 0,87 den höchsten Entropiewert überhaupt erreicht. Geografische Vielfalt: Relativ deutliche Unterschiede zeigen sich hingegen bei der geografischen Vielfalt sowohl der Inlands- als auch der Auslandsberichterstattung. Dieser Indikator untersucht, wie breit das Spektrum geografischer Regionen ist, über das berichtet wird. In den Inlandsberichten sollten sich aufgrund der föderalistischen Struktur beider Untersuchungsländer möglichst alle deutschen bzw. österreichischen Bundesländer wiederfinden. Die Ergebnisse zeigen für sämtliche Zeitungen einen deutlichen geografischen Schwerpunkt auf der jeweiligen Bundeshauptstadt – wenig überraschend, da Parlament und Regierung dort ihren Sitz haben. Allerdings ist der Hauptstadtbezug in fast allen österreichischen Zeitungen viel stärker als in den deutschen (maximal 47% der Artikel bezogen auf Berlin), besonders „Standard“ (59 Prozent), „Salzburger Nachrichten“ (55 Prozent) und „Krone“ (64 Prozent) verorten einen hohen Anteil ihrer Berichte geografisch in Wien. Dies ist jedoch nicht der einzige Grund für die insgesamt sehr niedrigen Indexwerte der österreichischen Blätter: In „Standard“, „Krone“, „Kurier“ und „Österreich“ kommen mehrere Bundesländer gar nicht vor – ein klares Vielfaltsdefizit. Daneben fällt in allen österreichischen Zeitungen außer dem Standard ein hoher Anteil an Artikeln ohne Bezug zu einem Bundesland auf („Presse“ 27 Prozent, „Krone“ 29 Prozent, „Österreich“ 47 Prozent, „Kurier“ 61 Prozent; deutsche Zeitungen höchstens 22 Prozent). Dieser Kategorie wurden alle Beiträge zugeordnet, deren Text sich inhaltlich nicht auf ein bestimmtes Bundesland bezog und die auch am Anfang keine genaue Ortsangabe (Spitzmarke) enthielten. Die geografische Vielfalt der Auslandsberichterstattung wird anhand des Vorkommens von Regionen weltweit untersucht. Über alle Zeitungen hinweg sind mit der EU und dem Nahen Osten zwei räumliche Schwerpunkte erkennbar, bedingt durch den hohen Nachrichtenwert von Ereignissen in diesen Regionen (geografische und kulturelle Nähe zu EULändern, Elitestatus einiger EU-Staaten, Konflikthäufigkeit im Nahen Osten). Mit Abstand am geringsten ist das Spektrum geografischer Regionen in der Berichterstattung der Boulevardzeitungen. Generelle länderspezifische Unterschiede sind nicht zu erkennen, allerdings berichten „Salzburger Nachrichten“ und „Österreich“ sowie „Presse“ und „Welt“ im Vergleich zu den übrigen Zeitungen über weniger verschiedene Regionen. 4.3 Transparenz Das zweite untersuchte Qualitätskriterium, die Transparenz, soll zur Nachvollziehbarkeit, Überprüfbarkeit und somit zur Glaubwürdigkeit der Berichterstattung beitragen. Betrachtet wird die Quellentransparenz, d.h. die Offenlegung der Recherchelage und Angaben im Text, woher einzelne Informationen stammen und als wie sicher die Quellen zu beurteilen sind (vgl. Vehlow 2006: 123). Ein Quellenbezug gilt als gegeben, wenn im Text mindestens eine sichere Quelle genannt ist (z.B. „wie die NZZ meldet“, „laut dem Bundeskanzler“), wenn explizit auf wenigstens eine unsichere oder anonyme Quelle verwiesen wird (z.B.
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„mutmaßlich“, „Augenzeugen berichten“) und bei Informationen, deren Quelle offensichtlich ist (z.B. Wahlergebnisse). Die Resultate weisen die Berichterstattung der deutschen Qualitätszeitungen, des „Standard“ und der „Salzburger Nachrichten“ als sehr transparent aus, sie nehmen in höchstens 6 Prozent aller Artikel auf keine Informationsquelle Bezug. Deutlich geringer ist dagegen die Quellentransparenz in „Presse“ und „Kurier“ (je 14 Prozent der Artikel ohne Quellenangabe), „Österreich“ (19 Prozent), „Krone“ (21 Prozent) und „Bild“ (23 Prozent). Die „Presse“, die in dieser Hinsicht den Midmarket-Papers ähnlicher ist als den übrigen Qualitätszeitungen, offenbart im Vergleich also ein Qualitätsdefizit.15 Alles in allem bieten also die österreichischen Qualitätszeitungen „Standard“, „Presse“ und „Salzburger Nachrichten“ ihren Lesern nicht nur eine weniger umfangreichere, sondern insgesamt auch thematisch und vor allem geografisch weniger breite sowie weniger transparente politische Berichterstattung als ihre deutschen Pendants. In einigen Punkten zeigen sie sogar größere Ähnlichkeiten zu den Midmarket-Blättern „Kurier“ und „Österreich“ als zu den deutschen Qualitätszeitungen. Die „Krone“ schneidet hinsichtlich aller Kriterien besonders schlecht ab, selbst im Vergleich zur „Bild-Zeitung“, ihre publizistische Leistung ist demnach als mangelhaft einzustufen.
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Schlussbetrachtung: Komplexe Interdependenzen
Was lässt sich nun abschließend über den Zusammenhang zwischen Wettbewerb und publizistischer Leistung sagen? Die spezifische Ausgangssituation in Österreich ist durch extrem konzentrierte und verfestigte Marktstrukturen und die marktbeherrschende Stellung von Mediaprint und „Krone“ gekennzeichnet. Das größte Boulevardblatt beherrscht den Lesermarkt, nahezu jeder zweite Österreicher liest es. Die österreichischen Qualitätszeitungen sind aufgrund dieser starken Marktasymmetrien wettbewerbsverzerrenden Effekten ausgesetzt. Ihre schwache Marktposition dokumentiert sich mehr noch als in geringen Reichweitenzahlen in einer umstrittenen Leitmedienfunktion, die Qualitätszeitungen üblicherweise zugeschrieben wird. Infolgedessen unterscheidet sich auch die Diskussion in Österreich von der in anderen Ländern: Thematisiert wird nicht die Krise der Qualitätsmedien, sondern die grundsätzliche Absenz dieses Medientyps. Die Medienpolitik hat diese Entwicklung nicht unterbunden, das praktizierte Presseförderungssystem konnte weder die voranschreitende Pressekonzentration eindämmen noch die Vielfaltssicherung gewährleisten. Aus Nutzersicht zeigt sich zwar eine spezifische Zusammensetzung des Publikums bei „Standard“ und „Presse“, deren Leser sich insbesondere in höher gebildeten und kaufkräftigen Schichten finden. Allerdings fallen die Unterschiede zum Midmarket-Paper „Kurier“ partiell überraschend gering aus, überdies sind die „Salzburger Nachrichten“ nicht eindeutig im Qualitätssegment positioniert. Auch aus Publikumssicht bestätigt sich die Sonderstellung der „Krone“: Sie diffundiert aufgrund ihrer hohen Reichweite in breite Bevölkerungsschichten und wird in der Qualitätsbeurteilung aus Lesersicht als seriöses, zugleich aber unterhaltsames Blatt mit informativer Hintergrundberichterstattung gesehen. 15 Daneben wurde die Urhebertransparenz, also die Nennung der Beitragsautoren, untersucht. Die Auswertung erbrachte sehr ähnliche Ergebnisse – mit einer Ausnahme: Die SN schneiden in puncto Urhebertransparenz schlechter ab als die übrigen Qualitätszeitungen.
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Inwieweit die österreichischen Qualitätszeitungen unter diesen Marktbedingungen den in ihrem Namen formulierten Anspruch erfüllen können, ist die zentrale Fragestellung der vorliegenden Untersuchung. Die Ergebnisse der Inhaltsanalyse zeigen Defizite im Vergleich zu den deutschen Qualitätszeitungen. Die mangelnde externe Anbietervielfalt kann nicht durch eine erhöhte Binnenvielfalt ausgeglichen werden. Sowohl im Umfang der politischen Berichterstattung als auch deren thematischer und geografischer Breite unterscheiden sich die österreichischen Qualitätszeitungen von den deutschen. Unter ihrer zum Teil mangelnden Quellentransparenz kann zudem ihre Glaubwürdigkeit leiden. In einigen Punkten, so zeigt sich auch hier, sind die österreichischen Qualitätszeitungen den MidmarketPapers sehr ähnlich. Demokratiepolitisch äußerst bedenklich ist die sehr eingeschränkte politische Berichterstattung des Marktführers „Krone“. Zusammenfassend veranschaulichen die Resultate die komplexen Interdependenzen zwischen Wettbewerb und publizistischer Leistung. Echte Kausalschlüsse können auf Basis der hier untersuchten Indikatoren zwar nicht gezogen werden. Die Gesamtergebnisse der Analyse von Marktstruktur, Marktverhalten und Marktergebnis legen aber den Schluss nahe, dass die schwierige Situation der Qualitätszeitungen am österreichischen Pressemarkt tatsächlich ihren Niederschlag in der Berichterstattung findet und dass die publizistische Leistung der „Leuchttürme öffentlicher Kommunikation“ in Österreich folglich durch externe Faktoren beeinträchtigt wird. Trotz finanzieller Unterstützung von staatlicher Seite können sie die publizistischen Leistungsstandards nicht adäquat erfüllen. Weiterführende Untersuchungen zu diesem Thema, auch qualitative Analysen zur Qualität der Berichterstattung, sind wünschenswert. Auch ein längerfristig angelegtes Qualitäts-Monitoring, das die Folgen des hoch konzentrierten Marktes in das öffentliche Bewusstsein rückt, ist erstrebenswert. Denn aus demokratietheoretischer Perspektive scheint die österreichische Situation besonders problematisch, da die Definitionsmacht uneingeschränkt bei einem Massenblatt liegt und damit das Missbrauchspotenzial sehr hoch ist, wie das eingangs geschilderte Beispiel zeigt.
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Zwischen Public Service und der Suche nach neuen Geschäftsmodellen: Die Zukunft der Qualitätszeitungen im Netz Andreas Vlaši 1 Licht in der Medienlandschaft: Leuchtturmsignale oder Götter dämmerung? Die Digitalisierung der Medien ist mittlerweile kein neues Phänomen mehr, dennoch verunsichert sie immer noch nachhaltig Medienwirtschaft und -politik. Das verwundert nicht: Wer kann derzeit schon absehen, welche Folgen die digitale Aufbereitung und Verbreitung von Information und die Etablierung des Internet als Kommunikationsinfrastruktur für die Medienlandschaft hat? Wie in Zeiten des Umbruchs üblich mangelt es weder an negativen Prognosen (für die klassischen Medien im Allgemeinen und die Zeitung im Besonderen) noch an Beispielen für potenziell problematische Konstellationen (in jüngerer Vergangenheit etwa der Verkauf der Süddeutschen Zeitung an eine Medienholding oder der Stellenabbau in den Redaktionen von Tageszeitungen und Zeitschriften). Eine entscheidende Frage dabei ist: Sind die wirtschaftlichen Probleme etablierter Printmedien Ausdruck eines – durchaus schmerzhaften, aber in der Evolution des Mediensystems periodisch wiederkehrenden – Veränderungsprozesses, auf den sich manche Akteure eben erfolgreicher einstellen können als andere? Oder befinden wir uns an einem kritischen Punkt der Medienentwicklung, dem „tipping point“, der in den zunächst langsamen und dann immer schnelleren und vor allem unaufhaltsamen Niedergang der (Qualitäts-)Zeitungen als Gattung mündet (vgl. Kolo/Meyer-Lucht 2007, Fabel 2006)? Einfache Antworten scheinen kaum möglich, da verschiedene empirische Indikatoren – wie noch zu sehen sein wird – sowohl positiv als auch negativ gedeutet werden können. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, die notwendige Diskussion über die Aufgaben und die Zukunft der Qualitätsmedien zu erweitern, indem die ökonomische Basis des „Geschäftsmodells Qualitätszeitung“ vor dem Hintergrund der Digitalisierung und Veränderung der Mediennutzungsgewohnheiten analysiert wird. Dahinter steht die Annahme, dass jedwede Prognose zu künftigen Entwicklungen und möglicherweise erforderliche Maßnahmen zur Sicherung der Qualitätszeitungen nur auf Basis einer Analyse der ökonomischen Gegebenheiten sinnvoll ist. Wenn im Folgenden also vom Wert der Qualitätszeitungen die Rede ist, dann geht es hierbei nicht um ihren Beitrag zur demokratischen Meinungsbildung. Dieser (Stellen-) Wert wird – ungeachtet verschiedener einschränkender Beobachtungen1 – als Prämisse vorausgesetzt. Es geht vielmehr um einen ökonomisch taxierbaren Wert der Qualitätszeitungen für ihre Leser, der die Voraussetzung dafür ist, dass diese Medien sich zumindest teilweise marktwirtschaftlich und damit weitgehend unabhängig von staatlichen Zuwendungen finanzieren können. 1 So erreichen Qualitätszeitungen ein eng umgrenztes (Eliten-)Publikum, die Meinungsbildung breiter Bevölkerungsschichten basiert oftmals auf anderen Medien wie etwa Fernsehen oder der lokalen Tageszeitung.
R. Blum et al. (Hrsg.), Krise der Leuchttürme öffentlicher Kommunikation, DOI 10.1007/978-3-531-93084-8_8, © VS Verlag fur Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Im Beitrag sollen drei Aspekte näher betrachtet werden: Zunächst wird danach gefragt, welchen Wert Qualitätszeitungen bzw. der Qualitätsjournalismus ökonomisch gesehen haben, und welche Faktoren dazu führen, dass dieser Wert steigt oder sinkt (Abschnitt 2). Dabei wird argumentiert, dass die mit der Digitalisierung verbundenen strukturellen Änderungen sich nachhaltig auf das Geschäftsmodell von Qualitätszeitungen auswirken, etwa durch die ubiquitäre Verfügbarkeit des Gutes „aktuelle Information“ und das Entstehen funktionaler Alternativen und damit stärkerer Konkurrenz. Danach wird ein Blick auf die empirische Situation der Qualitätszeitungen und ihre aktuellen Aktivitäten im Netz geworfen werden (Abschnitt 3). Dabei geht es zunächst um eine deskriptive Beschreibung der Maßnahmen, mit denen Verlage im Netz versuchen ihre Marktposition zu sichern, danach aber auch um die Frage, welchen Erfolg sie damit haben. Da die Frage nach einem Geschäftsmodell der Qualitätszeitungen ein Spezialfall der grundlegenden Frage nach einer digitalen Ökonomie ist, wird im folgenden Kapitel diskutiert, welche Probleme bei der Monetarisierung digitalisierter Informationsgüter entstehen (Abschnitt 4). Abschließend wird ein Ausblick auf mögliche Entwicklungen und Handlungsoptionen gewagt (Abschnitt 5).
2 Theoretisch beleuchtet: Der Wert von Qualitätszeitungen für die Leser Die neoklassische Theorie gibt auf die Frage nach dem Wert von Gütern eine vergleichsweise einfache Antwort: Der Wert eines Gutes bemisst sich demnach am individuellen Nutzen, den ein Wirtschaftssubjekt mit dem Konsum des Gutes verbindet. Diese Festlegung hat verschiedene Vorzüge. Zu den wichtigsten gehört die Tatsache, dass jede wirtschaftliche Beziehung auf einer Verbindung von Angebot und Nachfrage basiert. Daher erscheint es plausibel, die Nachfrage aus Sicht der Individuen zu modellieren, und nicht als ein übergreifendes Makrophänomen, das einer eigenen versteckten Logik gehorcht. Verschiedene Versuche, den Nutzen von Gütern absolut festzulegen, sind daran gescheitert, dass subjektive Präferenzen eben sehr unterschiedlich ausfallen können. Aus normativer Sicht bietet die Festlegung den Vorteil, mit vergleichsweise wenigen Voraussetzungen auszukommen. Die wichtigste ist wohl, dass sie dem Konsumenten die Souveränität zuschreibt, über seine Bedürfnisse selbst entscheiden zu können. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht bietet die Definition Anschlussmöglichkeiten an Modelle, die dem Paradigma des Methodologischen Individualismus folgen. Auch hier steht die Maximierung des Nutzens im Kern der Erklärung von Handlungen einzelner Akteure, soziale Phänomene wiederum werden als die kollektiven Folgen dieser individuellen Entscheidungen verstanden. Es scheint für die Analyse des Geschäftsmodells von Qualitätszeitungen also eine plausible Annahme zu sein, dass der Nutzen der Konsumenten und damit das Prinzip der Nutzenmaximierung im Kern des Handelns der Mediennutzer steht.2 Damit lautet die entscheidende Frage: Welche Bedürfnisse, welche Nutzen lassen sich identifizieren, und wie 2 Es gibt eine lange Debatte zwischen Befürwortern und Gegnern dieses und ähnlicher Modelle, die in der Tradition der RC-Theorie stehen. Die dabei oftmals harten Fronten erscheinen nicht mehr so konträr, wenn man das Prinzip des vernünftigen, nutzenmaximierenden Handelns um Konzepte wie heuristische Entscheiden unter Knappheit (z.B. von Zeit), Unsicherheit u.a.m. erweitert.
Die Zukunft der Qualitätszeitungen im Netz
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tragfähig sind diese für eine Prognose der Entwicklung von Produkten und Märkten in der Zukunft? Die Ökonomik hält sich mit Antworten auf diese Frage erstaunlich bedeckt. Das übliche Erklärungsmuster besteht darin, die Entscheidungen der Individuen ex post zu analysieren und im Rückschluss festzustellen, dass die gewählte Handlung (bspw. der Kauf einer Zeitung) gegenüber den Alternativen (die Zeitung nicht zu kaufen und dadurch mehr Geld im Geldbeutel zu haben) eine höhere Präferenz und damit einen höheren Nutzwert hatte. Eine weitergehende Analyse des Nutzens findet sich nur vereinzelt, etwa im Nürnberger Nutzenmodell (vgl. Vershofen 1940, zit. nach Nieschlag et al. 1997: 8). Darin wird zwischen dem Grundnutzen eines Gutes (bspw. ein Auto eignet sich zur Beförderung von A nach B) und seinem Zusatznutzen (die Automarke dient zur sozialen Positionierung in der Nachbarschaft) unterschieden. Insbesondere der Zusatznutzen hat in der modernen Warenproduktion eine entscheidende Bedeutung für den wirtschaftlichen Erfolg eines Produkts, da viele Güter heute ähnliche Eigenschaften aufweisen oder faktisch gegebene Unterschiede von den Konsumenten nicht mehr objektiv eingeschätzt werden können. In der Medien- und Kommunikationswissenschaft existiert mit der Uses & Gratifications-Forschung zu dieser Frage eine ungleich reichere empirische Forschungstradition, der zeitweise sogar ein paradigmatischer Charakter zugesprochen wurde. Viele dieser Analysen wurden durch das Auftauchen eines neuen Mediums bzw. neuer Formate angeregt (vgl. Schweiger 2007: 64ff.). Als Motive der Mediennutzung konnten etwa die Suche nach Informationen und Wissen, der Wunsch nach affektiver Erregung oder das Bedürfnis zu parasozialer Interaktion identifiziert werden. Allerdings bleibt die Erklärungs- und Prognosekraft entsprechender Mediennutzungsmodelle oftmals hinter den Erwartungen zurück, da Mediennutzung in hohem Maße von situativen Gegebenheiten und habitualisierten Mustern abhängig ist. Studien zur konkreten Funktion – und damit dem Nutzen – von Tageszeitungen rekurrieren zumeist auf kognitive Bedürfnisse. Haller (2005: 121f.) fasst auf abstrakter Ebene drei wesentliche Funktionen der Tageszeitungen zusammen: Sie sollen 1) eine aktuelle Übersicht über das Geschehen eines Tages bieten, 2) die Ereignisse in den Zusammenhang stellen und erklären und 3) schließlich in ganz allgemeiner Perspektive die Alltagswelt „aufschließen“. Dieses Orientierungsbedürfnis der Menschen in einer Gesellschaft lässt sich weit zurückverfolgen, so dass man konstatieren kann, dass die grundlegenden Bedürfnisse der Menschen relativ konstant überdauern, die Möglichkeiten zu ihrer Befriedigung sich aber im Wandel befinden.3 Was sich auf theoretischer Ebene wertfrei als funktionale Äquivalenz darstellt, kann im „echten“ Wirtschaftsleben jedoch weitreichende Konsequenzen haben. Dies wird etwa am Beispiel des Rubrikenmarkts deutlich, der mittlerweile in großen Teilen von den gedruckten Medien ins Internet abgewandert ist. Dies ist letztlich konsequent: Im Netz können Angebot und Nachfrage durch thematische, geographische und andere Formen der Filterung deutlich zielgenauer zusammen geführt werden als im klassischen Medium. Daher ist auch nicht zu erwarten, dass die Anzeigen für Wohnungen, Automobile etc. den Weg zurück auf das gedruckte Papier nehmen, die funktionale Alternative „Internet“ ist in dieser Hinsicht der Zeitung überlegen. Dieses Beispiel zeigt, wie unzureichend in der Diskussion um die Folgen der Digitalisierung für die Medienlandschaft der stoische Hinweis auf „Naturgesetze“ à la Riepl ist: Durch funktionale Alternativen kann der Nutzen und die Nutzung eines Mediums sich in einer Weise verändern, die zwar nicht notwendigerweise zu seinem völligen Verschwinden 3
Ähnlich argumentiert Lindenberg (1996) in der Beschreibung der sozialen Produktionsfunktionen.
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Andreas Vlaši
führt, jedoch zu einer abnehmenden Bedeutung und damit verbunden ökonomischen Problemen. Dies wäre am Beispiel des Briefes etwa der Fall, wenn große Teile der schriftlichen Kommunikation über E-Mail erfolgen und postalische Briefe nur noch zu besonderen Anlässen versendet würden. Auf diese Gefahr funktionaler Alternativen weisen etwa Dimmick & Rothenbuhler (1984) in ihren Ausführungen zur Theorie der Nische ausdrücklich hin. Dieses Risiko ist auch den deutschen Zeitungshäusern seit einigen Jahren bewusst, und so suchen sie nach Mittel und Wegen, sich in der digitalen Welt gegen die neue Konkurrenz zu behaupten.
3 Empirische Schlaglichter: Wie erfolgreich behaupten sich Qualitätszeitungen im Netz? Eine empirisch sichtbare Konsequenz dieser Suche ist das Engagement so gut wie aller Zeitungshäuser Deutschlands im Netz. Dabei lassen sich grob drei Phasen unterscheiden: Bis 1996 waren lediglich einige wenige Zeitungen mit einem eigenen Angebot im Netz vertreten.4 Zwischen 1996 und 2002 wuchs die Anzahl der Online-Präsenzen von Tageszeitungen erst kontinuierlich und dann sprunghaft an, seit 2003 schließlich sind alle Tageszeitungen einschließlich ihrer relevanten Ausgaben im Internet vertreten (vgl. Abbildung 1). Abbildung 1:
Entwicklung der Online-Angebote und Netto-Werbeeinnahmen (in Mrd. EUR) von Tageszeitungen 1995 – 2008
700
8 6,56
600 5,87
7
6,07 5,64
500
6 4,94 4,45 4,50 4,48 4,53 4,57
5
400 4 300
Anzahl OnlineAngebote Zeitungen gesamt
3 200
2
100
1 5
39 103 138 160 230 390 401 631 633 631 629 630 635
20 08
20 07
20 06
20 05
20 04
20 03
20 02
20 01
20 00
19 99
19 98
19 97
0
19 96
19 95
0
Quelle:
Netto-Werbeeinnahmen Zeitungen gesamt (in Mrd. EUR)
ZAW, BDZV, eigene Darstellung
4 Die Süddeutsche Zeitung, Die Welt, tageszeitung (taz), Die Zeit und die Rheinische Post starteten die ersten Angebote im Netz.
Die Zukunft der Qualitätszeitungen im Netz
119
Die Mehrheit der deutschen Qualitätszeitungen engagierte sich vergleichsweise früh im Netz, wobei hier durchaus unterschiedliche Strategien verfolgt wurden, etwa im Hinblick auf die Breite des online verfügbaren Angebots oder den Versuch, kostenpflichtige Dienste zu etablieren. Aus theoretischer Sicht lassen sich verschiedene strategische Zielsetzungen für das Engagement von Tageszeitungen im Netz definieren. Neuberger (2003: 162ff.) unterscheidet in Anlehnung an die im Marketing gebräuchliche Produkt-Markt-Matrix vier Strategien, die von einer stärkeren Marktdurchdringung bzw. Marktentwicklung mit einem bestehenden Produkt über die Weiterentwicklung des Produkts hin zur Erschließung neuer Geschäftsfelder reichen können. Eine klare Abgrenzung zwischen diesen Strategien ist nicht immer möglich. So ist es etwa durchaus fragwürdig, inwiefern das Einbinden von Videos auf der Webseite einer Zeitung noch als Entwicklung des Kern-Produkts oder nicht schon vielmehr als Diversifikation und Abzielen auf neue Märkte (etwa in Konkurrenz zum klassischen Rundfunk) gewertet werden muss. Gleichwohl macht die heuristisch fruchtbare Beschreibung der Strategien deutlich, dass Qualitätszeitungen mit ihren digitalen Aktivitäten zumindest zwei wesentliche Ziele verfolgen (müssen): erstens eine stärkere Durchdringung des Marktes, zweitens die Erschließung neuer Erlösquellen. Was die Marktdurchdringung anbetrifft, so ist es den Qualitätszeitungen – anders als vielen anderen Zeitungen – geglückt, die Reichweite in der Bevölkerung im Großen und Ganzen beizubehalten: Zwischen 1995 und 2008 ist ein moderater Rückgang von knapp einem Prozent festzustellen, die Tageszeitungen insgesamt haben in dieser Zeit rund das Zehnfache verloren (vgl. Abbildung 2). Abbildung 2:
Reichweitenentwicklung der Zeitungsgattungen 1975 – 2008 (in Prozent der Bevölkerung ab 14 Jahren)
100 90
82,3
80,9
80
79,3
77,7
75,8
72,2
70 60
69 64,2
69
68,9
67,9
67,7 62,3
50
59,5
57,3
Tageszeitungen insgesamt
52,9 Regionale AboTageszeitungen
40 30
29,6
28,9
26,4 21,8
24,3
22,2
20 10
7,2
7,1
1975
1980
19,7
17,6
5,0
5,1
5,4
5,4
4,9
4,6
1985
1990
1995
2000
2005
2008
0
Quelle:
AWA, eigene Darstellung
Kaufzeitungen insgesamt überregionale Qualitätszeitungen
120
Andreas Vlaši
Dieses für Qualitätszeitungen grundsätzlich positive Bild wird allerdings durch die Tatsache getrübt, dass der Rückgang von unterschiedlichen Niveaus aus erfolgte. Noch bedenklicher stimmt dabei die Beobachtung, dass Qualitätszeitungen, trotz ihrer vergleichsweise stabilen Verbreitung, von ihren Lesern offenbar tendenziell weniger und intensiv gelesen werden (vgl. Abbildung 3). Abbildung 3:
Intensität der Nutzung von Qualitätszeitungen 2003 – 2008 (in Prozent der Leser von überregionalen Qualitätszeitungen)
100 90
2003
81
80
74
2008
70 60
53
50 40
34
30 20
7
10
7
0 „Lese ich regelmäßig, alle Ausgaben”
Quelle:
„Lese ich ziemlich regelmäßig, wenn auch nicht alle Ausgaben”
„Lese ich ziemlich oft/ ab zu/ ganz selten”
AWA (2008)
Diese Beobachtung muss nicht zwingend als ein Indiz für die abnehmende Bedeutung der Qualitätszeitung interpretiert werden, da sie auch lediglich ein Ausdruck sich verändernder Formen der Mediennutzung sein kann.5 Aber es lassen sich weitere Hinweise darauf finden, dass die Nutzung einer (Qualitäts-)Tageszeitung heutzutage weniger selbstverständlich erfolgt, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Betrachtet man etwa die Nutzungsgewohnheiten von Kindern und Jugendlichen, so ist es zunächst wenig überraschend, dass hier in jungen Jahren eine geringe Nutzung festzustellen ist, die dann bis zum 19. Lebensjahr kontinuierlich zunimmt: Zeitungslesen setzt eben sowohl eine gewisse Lesekompetenz der Nutzer als auch ein entsprechendes Interesse voraus. Vergleicht man jedoch die Ergebnisse der JIM-Studie 2008 mit denen der Erhebung von vor 10 Jahren, so zeigt sich, dass die im Kern gleich verlaufende Entwicklung bei den im Jahr 2008 befragten Kindern und Jugendlichen auf einem deutlich niedrigeren Niveau beginnt und endet (vgl. Abbildung 4). Die Vermutung liegt nahe, dass diese Erosion der Nutzung von Tageszeitungen im Kinder5 So zeigt sich etwa im Bereich der Fernsehnutzung, dass die Intervalle der Zuwendung zum Medium – trotz einer insgesamt konstanten bzw. noch wachsenden Gesamtnutzungsdauer – ebenfalls kürzer werden.
Die Zukunft der Qualitätszeitungen im Netz
121
und Jugendalter sich auch auf das Verhalten im späteren Erwachsenenalter auswirken könnte. Abbildung 4:
Nutzung einer Tageszeitung durch Kinder und Jugendliche 1998 und 2008 (in Prozent der Befragten, die eine Tageszeitung mindestens mehrmals in der Woche nutzen)
100 90 77,8
80 70
61,6
78,7
62,0
60 59,2
48,0
50
30
10
47,8 40,8
28,9
35,2
1998
26,8
20
60,3
52,5
41,8
40
74,4
2008
16,9
0 12 Quelle:
13
14
15
16
17
18
19
Rathgeb (2008:22)
Mindestens ebenso wichtig wie die Aggregation von Nutzern ist das Erschließen (neuer) Erlösquellen im Netz. Wie erfolgreich die Verlage in dieser Hinsicht agieren, ist nur schwierig einzuschätzen, da nur wenig belastbare Zahlen vorliegen. Legt man die Nettowerbeeinnahmen der Onlineangebote von Printmedien zu Grunde, so zeigt sich eine eindeutig positive Entwicklung: Dieser Bereich des Werbegeschäfts ist seit einiger Zeit der einzige mit verlässlichen Wachstumszahlen. Die hohen Wachstumsraten beziehen sich allerdings auf ein vergleichsweise niedriges Ausgangsniveau. Hält man die Entwicklung der Netto-Werbeeinnahmen der Tageszeitungen insgesamt dagegen, so zeigt sich ungeachtet des positiven Trends im Onlinegeschäft, dass die Einnahmen aus dem Netz bzw. der digitalen Diversifizierung in toto den Rückgang im klassischen Werbegeschäft nicht annähernd kompensieren können (vgl. Abbildung 5).
122
Andreas Vlaši
Abbildung 5:
Netto-Werbeeinnahmen von Tageszeitungen und Onlineangeboten 1998 – 2007 (in Mrd. EUR)
8 Tageszeitungen
7 6
6,56 5,87
Onlineangebote
6,07 5,64 4,94
5
4,45
4,50
4,48
4,53
4,57
0,69
4 3 2 1
0,03
0,08
0,15
1998
1999
2000
0,19
0,23
0,25
0,27
0,33
0,50
2001
2002
2003
2004
2005
2006
0
Quelle:
2007
BDZV, eigene Darstellung
Während also die deutschen Tageszeitungen insgesamt unter einem nicht unerheblichen Druck stehen, halten sich die Qualitätszeitungen in dieser schwierigen Situation vergleichsweise gut (vgl. auch den Beitrag von Rinsdorf in diesem Band). Allerdings sind auch sie von Phänomenen wie einer gesellschaftlich abnehmenden Wichtigkeit der Tageszeitungslektüre oder der geringeren Lesebereitschaft nachfolgender Generationen betroffen. Zudem beunruhigt der Blick auf die Lage der (Qualitäts-) Zeitungen in den Vereinigten Staaten (vgl. den Beitrag von Ruß-Mohl in diesem Band). Zwar kann die Situation in den USA nicht ohne weiteres als Projektion der Zukunft deutscher Tageszeitungen verstanden werden, dazu sind sowohl das Mediensystem als auch die darin etablierten Formen der Mediennutzung zu spezifisch und kulturell gebunden. Gleichwohl lassen sich verschiedene – häufig technisch basierte – Entwicklungen beobachten, etwa die Entwertung von digitalen Informationsgütern aufgrund ihrer kaum eingeschränkten Reproduzierbarkeit und Weitergabe. Damit kommt man zur Gretchenfrage der digitalen Ökonomie: Wie lässt sich mit Informationsgütern unter den Bedingungen der Digitalisierung eigentlich Geld verdienen?
4 Bei Licht betrachtet: Informationsgüter in der digitalen Ökonomie Informationsgüter zeichnen sich durch eine Reihe von Besonderheiten aus, die ihre ökonomische Verwertbarkeit wesentlich beeinflussen. So werden sie in der Regel durch Konsum nicht verbraucht, sie lassen sich – insbesondere im digitalen Zeitalter – einfach kopieren und weiter distribuieren und haben somit die Tendenz, öffentliche Güter zu werden, sobald
Die Zukunft der Qualitätszeitungen im Netz
123
sie einmal auf den Markt gelangt sind (vgl. Kiefer 2001: 130ff.). Informationsgüter haben den Charakter eines Vertrauens- oder Erfahrungsgutes und sind häufig Netzwerkgüter, ihr Wert steigt also mit der Anzahl der Konsumenten. Die durch die Digitalisierung bedingte Ablösung von einem stofflichen Träger allerdings erschwert die Verwertbarkeit von Informationsgütern (vgl. Goldhammer 2006: 92). Daher gibt es einige Gründe an der Annahme zu zweifeln, die analogen Geschäftsmodelle oder zumindest ihre Umsätze ließen sich in die digitale Ökonomie „übertragen“. So könnte man etwa die unter dem Strich doch beträchtliche Kluft zwischen den gesunkenen klassischen Werbeeinnahmen der Tageszeitungen und den steigenden Online-Erlösen dadurch begründen, dass die etablierten Verlage es versäumt hätten, frühzeitig in diese neuen Geschäftsfelder einzusteigen. Eine ähnliche Argumentation findet sich im Bereich der Musikindustrie, die ebenfalls unter der Digitalisierung erhebliche Umsatzeinbußen hat hinnehmen müssen. Als ein Beispiel für ein erfolgreiches digitales Geschäftsmodell oftmals die Plattform iTunes von Apple genannt. Aus einer Makro-Perspektive betrachtet klafft allerdings eine gewaltige Lücke zwischen den Einbußen im Tonträgergeschäft seit dem Siegeszug des Internets einerseits und den Zugewinnen im Bereich der digitalen Musik (vgl. Abbildung 6). Abbildung 6:
Erträge im Tonträgergeschäft „klassisch“ und digital 1998 – 2008 (in Mio. EUR)
3.000 2.709
Umsatz Musikmarkt in Mio. €
2.648 2.630
2.500
Umsatz digitale Musik ingesamt in Mio €
2.365
1000 900 800
2.110 700
2.000
1.816
1.742 1.717
1.628
1.560
600 1.493 500
1.500
400 1.000
300
500 11
31
2004
2005
78
92
2006
2007
113
100 0
0 1998
Quelle:
200
1999
2000
2001
2002
2003
2008
PWC (2003, 2005, 2007), eigene Darstellung
Solche Beobachtungen führen zu der Frage, welche wirtschaftlichen Folgen aus der „Netzkultur“ erwachsen, und ob die Utopie einer freien und offenen Plattform für Kommunikation, Interaktion und Produktion eine „for free“-Mentalität ihrer Nutzer mit sich bringt, die das Erzielen realistischer Preise zunehmend schwierig oder gar unmöglich macht. Einen Hinweis auf diesen möglicherweise sozialisatorischen Einfluss der Internetnutzung nicht
124
Andreas Vlaši
nur bei „Digital natives“ zeigt eine Studie von PriceWaterhouseCoopers (2008), in der die Zahlungsbereitschaft für die Printausgabe einer Zeitschrift mit der für eine digitale Form verglichen wurde. Die Versuchspersonen sollten angeben, welchen Preis sie für eine digitale Ausgabe einer Zeitschrift für angemessen halten. Durchschnittlich fanden die Befragten knapp die Hälfte des ursprünglichen Preises (47 Prozent) angemessen für ein E-Paper einer Zeitschrift. Dies überrascht weniger als der Befund, dass auch für eine Kombination der Printausgabe mit einem E-Paper eine geringere Zahlungsbereitschaft besteht, hier lediglich 66 Prozent des ursprünglichen Preises (vgl. Abbildung 7). Abbildung 7:
Zahlungsbereitschaft für Print- und digitale Ausgabe von Zeitschriften (in Prozent des Preises für die Printausgabe)
100 90 80 70 60 50
100
40
66
30
47
20 10 0 Printausgabe
Quelle:
Digitale Ausgabe (E-Paper)
Printausgabe und digitale Ausgabe (E-Paper)
PWC (2008)
Man kann nun fragen, ob sich die digitalisierte Verfügbarkeit des Informationsgutes tatsächlich negativ auf die Preisbereitschaft auswirkt, und wenn ja: warum das so ist. Möglicherweise zeigt sich hier ein grundsätzliches Problem der – immer noch weitgehend erfolglosen – Suche nach funktionierenden Geschäftsmodellen für Informationsgüter im Netz. So prognostiziert etwa Carr (2008) eine Verarmung der Mittelschicht, weil unter der Bedingung der Digitalisierung immer weniger „echte“ Wertschöpfung stattfindet (ähnlich skeptisch äußert sich Keen 2008). Allerdings sind diese und andere Ausführungen essayistischer Natur, eine systematische Analyse der sich verändernden Mediennutzungsgewohnheiten der nachfolgenden Generationen, die unter anderem die Nachfrage nach bestimmten Inhalten im Längsschnitt verfolgt, bleibt ein wissenschaftliches Desiderat.
Die Zukunft der Qualitätszeitungen im Netz
125
5 Fernlicht: Wohin geht die Reise, was wird aus den Leuchttürmen? Die Medienlandschaft befindet sich derzeit in einer Phase der fundamentalen Veränderung. Dafür sind zwei Meta-Trends verantwortlich, denen sich (auch) Qualitätszeitungen stellen müssen:
Erstens lässt sich in vielen modernen westlichen Gesellschaften ein soziodemographischer Wandel beobachten, der sich knapp gesagt in einer immer älter werdenden Residenzgesellschaft und einem zunehmenden Anteil an Arbeitsmigranten niederschlägt. Zweitens führt die Digitalisierung der Kommunikationsinfrastruktur und damit der Medienlandschaft, zu einem Anstieg der medialen Optionen, kostenlosen Verfügbarkeit und damit erschwerten Verwertbarkeit von Informationsgütern, möglicherweise auch zu ihrer „Entwertung“.
Welche Folgen diese Meta-Trends für das Geschäftsmodell der Qualitätszeitungen haben werden, ist derzeit nicht verlässlich zu prognostizieren. So behaupten sich die Qualitätszeitungen einerseits vergleichsweise gut und damit gegen den Trend der Zeitungen insgesamt. Andererseits hängt gerade der (Tausch-)Wert der Qualitätszeitungen stark von der subjektiven Einschätzung ihrer Nutzer ab, und damit von deren Sozialisation und kulturellem Umfeld. Phänomene wie eine sinkende Lesebereitschaft der Kinder und Jugendlichen, die abnehmende Wichtigkeit der Qualitätszeitungen oder eine möglicherweise sinkende Zahlungsbereitschaft für Informationsgüter könnten in Zukunft an Dynamik gewinnen. Derzeit werden sie noch durch den soziodemographischen Wandel verdeckt, da sie aufgrund der zunehmenden Alterung der Gesellschaft in der aggregierten Perspektive bevölkerungsrepräsentativer Studien weniger deutlich aufscheinen. In dieser unsicheren Situation engagieren sich die Qualitätszeitungen seit Jahren intensiv im Netz, dennoch ist derzeit keine dominante Strategie zu erkennen, wie eine Finanzierung mit bezahlten Inhalten durchgesetzt werden könnte („from free to fee“). Aufgrund der geringen Zahlungsbereitschaft der Nutzer entfällt der größte Teil der Erlöse auf Werbeeinnahmen, diese gleichen jedoch die Verluste auf dem Anzeigenmarkt bei weitem nicht aus. Nun ist mit Blick auf andere Bereiche der Medienlandschaft zwar zu vermuten, dass Qualitätsmedien auch im sich zunehmend fragmentierenden Medienangebot wichtig bleiben werden, der Bedarf nach „Leuchttürmen“ der sozialen Orientierung gleichwohl bestehen bleiben wird. Ob dies nun die Qualitätszeitungen sein werden oder andere Medienangebote – etwa der öffentlich-rechtliche Rundfunk – liegt nicht zuletzt daran, inwiefern es den Zeitungen gelingt, diese Funktion und diesen Nutzen angemessen „auszuflaggen“ und in den Medienmenüs der Individuen relevant zu bleiben. Dafür müssen sich Qualitätszeitungen künftig verstärkt die Frage stellen, welchen Nutzen sie ihren Lesern bringen. Die traditionelle Antwort darauf benennt Faktoren wie eine aktuelle Berichterstattung, die sachlich richtige und umfassende Information über wesentliche Ereignisse etc. Diese gehören gleichsam zur Pflicht, und ein Herunterfahren der redaktionellen Leistung bis an die Grenze, an der offensichtliche Fehler in der Berichterstattung die Folge sind, erscheint auch ökonomisch nicht ratsam. Entscheidend könnten darüber hinaus aber andere Aspekte werden, etwa der Nutzen der Qualitätszeitung zur „Vergemeinschaftung“ innerhalb einer relativ klar umgrenzten, elitären Zielgruppe, oder
126
Andreas Vlaši
die Funktion als ein diskriminierendes Statussymbol. Gelingt es nicht, in diesen oder anderen relevanten Dimensionen eine klare Positionierung im wachsenden Konkurrenzumfeld zu etablieren, so könnte tatsächlich ein selbst-verstärkender Prozess der Erosion von Leserund Anzeigenmarkt einsetzen, an dessen Ende die Qualitätszeitung ihre Funktion (und damit auch ihre Bedeutung) verliert. Im Kontext der Diskussion über Qualitätsmedien werden ökonomisch orientierte Argumentationen nicht selten als zu kurz greifend abgelehnt. Zweifellos würde eine ausschließlich ökonomische Betrachtung den Medien und ihrer demokratietheoretischen Funktion nicht gerecht werden. Die ökonomische Analyse stellt allerdings die Grundlage dar, auf Basis derer über normative Erwartungen und Anforderungen überhaupt erst praxisbezogen diskutiert werden kann. Salopp formuliert: Man kann sich Vieles wünschen oder fordern, letztlich muss es unter der Bedingung knapper Ressourcen realisierbar sein. Wenn etwa im Hinblick auf die Qualitätszeitungen nicht so sehr ein Mangel des Angebots als vielmehr der Nachfrage bestünde (vgl. Meyer-Lucht/Rott 2008), dann würde eine staatliche Förderung der Medien wenig bewirken. Ohnehin wird es in der crossmedialen Medienrealität immer schwieriger vorstellbar, dass einzelne Medien oder Mediengattungen allein gesellschaftlich erwünschte Funktionen wie etwa Meinungsvielfalt erbringen. Bei aller verständlichen Besorgnis über die Schwierigkeiten von Tageszeitungen im Zeitalter von Digitalisierung und Konvergenz: Das bestehende System – Zeitungen als Güter mit Doppelfunktion, die fast ausnahmslos durch privatwirtschaftliche Unternehmen getragen werden – hat durchaus einige Vorzüge. So fällt die staatliche Förderung oftmals sehr stattlich und selten effizient aus, von der Gefahr der politischen Instrumentalisierung einmal ganz abgesehen. Natürlich ist nicht auszuschließen, dass das historisch gewachsene System der Finanzierung von Qualitätszeitungen gefährdet ist und neue Formen der Trägerschaft gefunden werden müssen, wenn diese Zeitungen erhalten bleiben sollen. Gleichwohl ist dann durchaus zu fragen, zu welchem Zweck und welcher Aufwand an Ressourcen hierfür gerechtfertigt ist. In der Nautik gibt es neben der Sichtnavigation eine Reihe weiterer Methoden, um seine Position und den Kurs zu bestimmen. So wichtig also Leuchttürme in bestimmten Situationen sein mögen, sie bestimmen nicht allein über das Wohl und Wehe eines Schiffes; die maßgeblichen Entscheidungen trifft letztlich der Schiffsführer. Wenn es bei der für Demokratien essentiellen Meinungsbildung durch Medien ähnlich ist, sollte mindestens genau so viel in die Entwicklung entsprechender Kompetenzen durch die Nutzer investiert werden, wie in den Erhalt der Leuchttürme.
Literatur Carr, Nicholas (2008): The Big Switch: Der große Wandel. Heidelberg: Redline Dimmick, John/Rothenbuhler, Eric (1984): The theory of the niche: Quantifying competition among media industries. In: Journal of Communication, Jg. 34, Heft 1, S. 103 – 119 Fabel, Martin (2006): „Newspaper Endgame“: Langfristige Szenarien für deutsche Zeitungsverlage im Europäischen Kontext. Online: http://www.atkearney.de/content/misc/wrapper.php/id/49665/area/telekomm/name/ pdf_24823d_01_executive_brief_newspaper_endgame_6_seiten_secured_11509962898b84.pdf [2009-02-17]
Die Zukunft der Qualitätszeitungen im Netz
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Goldhammer, Klaus (2006): Wissensgesellschaft und Informationsgüter aus ökonomischer Sicht. In: Hofmann, Jeanette: Wissen und Eigentum. Geschichte, Recht und Ökonomie stoffloser Güter. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung Haller, Michael (2005): Was soll aus der Zeitung werden? Über Funktionszuweisungen, Nutzungswünsche, Gattungsmerkmale, Probleme und Perspektiven der Tageszeitung. In: Arnold, Klaus/Neuberger, Christoph: Alte Medien – neue Medien. Theorieperspektiven, Medienprofile, Einsatzfelder. Wiesbaden: VS Verlag Keen, Andrew (2008): Die Stunde der Stümper. München: Hanser. Kiefer, Marie Luise (2001): Medienökonomik. Einführung in eine ökonomische Theorie der Medien. München [u.a.]: R. Oldenbourg Verlag Kolo, Castulus/Meyer-Lucht, Robin (2007): Erosion der Intensivleserschaft: Eine Zeitreihenanalyse zum Konkurrenzverhältnis von Tageszeitungen und Nachrichtensites. In: Medien & Kommunikationswissenschaft, Jg. 2007, Heft 4, S. 513-533 Lindenberg, Siegwart (1996): Die Relevanz theoriereicher Brückenannahmen. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 48, Heft 3, S. 127-140 Meyer-Lucht, Robin/Rott, Armin (2008): Public-Service-Journalismus: Die Mär vom Marktversagen. In: epd-Medien, 13/2008, S. 6-9 Nieschlag, Robert/Dichtl, Erwin/Hörschgen, Hans (1997): Marketing. Berlin: Duncker & Humblot Pasquay, Anja (2007): Zur Lage der Zeitungen in Deutschland 2007. Online: http://www.bdzv.de/ markttrends_und_daten.html [2008-07-14] PriceWaterhouseCoopers (2003): German entertainment and media outlook 2003-2007. Online: http://www.pwc.com/Extweb/pwcpublications.nsf/docid/6698376A0E55373E80256DC60038713 E [2008-02-28] PriceWaterhouseCoopers (2005): German entertainment and media outlook 2005-2009. Online http://www.pwc.de/fileserver/EmbeddedItem/German%20EuM_Outlook_20052009.pdf?docId=e501db4f9162ee1&componentName=pubDownload_hd [2008-02-28] PriceWaterhouseCoopers (2007): German entertainment and media outlook 2007-2011. Online: http://www.pwc.de/portal/pub/!ut/p/kcxml/04_Sj9SPykssy0xPLMnMz0vM0Y_QjzKLd4p3tnQBS ZnFG8Q76kfCRHw98nNT9YP0vfUD9AtyI8odHRUVAVBQA40!/delta/base64xml/L3dJdyEvd0Z NQUFzQUMvNElVRS82X0JfQzlF?siteArea=49ceac54e7031dd5&content=e580814000c1553 &topNavNode=49c411a4006ba50c [2008-02-28] PriceWaterhouseCoopers (2008): The medium is the message. Outlook for Magazine publishing in the Digital Age. Online: http://www.pwc.com/extweb/onlineforms.nsf/weblookup/GXENGALLSTICEpublicationrequestfo rm?opendocument&doc=magpub [2008-02-23] Rathgeb, Thomas (2008): Biografien im Wandel – wie sich Jugendliche die Medienwelt erobern. Vortrag auf der Tagung „Jugend heute“, 24.09.2008 Schweiger, Wolfgang (2007). Theorien der Mediennutzung. Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag
3. Qualitätsmedien als Akteure
Qualitätsmedien sind Wissensvermittler Esther Kamber und Kurt Imhof Der Frage „Was sind Qualitätsmedien?“ geht zwangsläufig die Frage voraus: „Was ist publizistische Qualität?“ Die Forderung nach Qualität der öffentlichen Kommunikation begleitet die Moderne und verweist auf die Bedeutung von Öffentlichkeit für die Demokratie. In einer öffentlichkeitstheoretischen Perspektive erfolgt der Anschluss an diese Qualitätsdebatten entsprechend über die unabdingbaren Voraussetzungen demokratischer Regulation. Zunächst handelt es sich hierbei um die grundsätzlichen Wissensprobleme säkularer Gesellschaften, die nicht mehr über religiös verankerte Begriffe wie Schicksal, Vorsehung oder Fügung gelöst werden können. Diese Probleme müssen über einen wissenssoziologischen Ansatz angegangen werden. Dann handelt es sich um die Frage nach den Leistungsfunktionen, die die öffentliche Kommunikation erfüllen muss, damit demokratische Regulation möglich ist. Diese Frage wird über einen demokratietheoretischen Zugang beantwortet (1. Wissensprobleme der Moderne und Leistungsfunktionen medienvermittelter Kommunikation). Auf dieser Basis lassen sich die in der publizistikwissenschaftlichen Diskussion sedimentierten Qualitätsanforderungen an die medial vermittelte Kommunikation anknüpfen und begründen (2. Was ist Qualität? Woran lässt sie sich messen?). Diese Qualitätsforderungen werden schließlich zur Charakterisierung von Qualitätsmedien genutzt und das entsprechende publizistische Angebot empirisch beschrieben (3. Strukturen der medialen Wissensvermittlung).
1
Wissensprobleme der Moderne und Leistungsfunktionen von Medien
1.1 Wissensprobleme der modernen Gesellschaft Der wissenssoziologische Ansatz beruht auf der Beschreibung des modernen Weltbildes als dezentriertem Weltbild. Im Gegensatz zum vormodernen Weltbild sind das Wahre, das Gute und das Schöne nicht mehr in der Gottesfigur verankert, sondern entfalten nach „dem Austritt aus dem Zaubergarten“ religiösen Denkens je einen spezifischen Erklärungsbedarf (Weber 1973 [1916]:444; Habermas 1981, Bd.1: 225-366). In dem das Wahre (kognitive Sachverhaltserklärungen), das Gute (die gerechte soziale Ordnung) und das Schöne (insbesondere die Identität) im Prozess der Säkularisierung vom Gottesbegriff abgelöst und verselbständigt werden, lässt sich der Lauf der Dinge nicht mehr mit Schicksal, Fügung und Vorsehung erklären. Die moderne öffentliche Kommunikation wird primär mit diesen drei Wissensproblemen befrachtet, während im Privaten das Religiöse, Magische und Esoterische weiter bestehen kann (ausführlicher: Imhof 2003b, 2005): Wie lassen sich diese Wissensprobleme beschreiben?
R. Blum et al. (Hrsg.), Krise der Leuchttürme öffentlicher Kommunikation, DOI 10.1007/978-3-531-93084-8_9, © VS Verlag fur Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
132
Esther Kamber und Kurt Imhof Das Wahre: Jenseits von Schicksal, Vorsehung und Fügung stellt sich systematisch die Frage nach den gesetzmäßigen Grundlagen von Ursache-Wirkungszusammenhängen. Das Gute: Jenseits von Schicksal, Vorsehung und Fügung muss ein gewaltiger Aufwand betrieben werden, um die soziale Ordnung zu rechtfertigen. Insbesondere muss die Moderne, wie jede Gesellschaftsformation, das Fundamentalproblem der Legitimation von Ungleichheit lösen. Das Schöne: Jenseits von Schicksal, Vorsehung und Fügung stellt sich das Problem, dass das von Menschen geschaffene Schöne nicht mehr die kunsthandwerkliche Zier zum Ruhme Gottes oder der davon abgeleiteten irdischen Macht ist. Vielmehr ist das Schöne das Produkt einer eigenlogischen Entwicklung (»l’art pour l’art«), die eine unüberblickbare Fülle subjektiver Expressionen als Kunst entlässt. Wichtiger noch: Es stellt sich die Frage der individuellen und kollektiven Identität. Dies nachdem der identifikative Bezug des Menschen zum Göttlichen über das Konstrukt der Seele erodiert und die identitätsstiftende Kraft der Konfessionszugehörigkeit schwindet.
Das heisst, die grundlegenden Wissensprobleme der Moderne lassen sich hinsichtlich der Fragen nach dem kognitiv Wahren (Ursache-Wirkungszusammenhänge), der Begründung der gerechten sozialen Ordnung (Normen und Werte bzw. moralische Grundlagen) und der säkularen Identitäten benennen. Entsprechend lässt sich die moderne Gesellschaft dadurch beschreiben, wie sie diese Wissensprobleme löst: Sie tut dies mittels Handlungssystemen – primär Wissenschaft, Religion, Kunst und Politik – sowie mittels intermediärer Organisationen des Politischen: Parteien, Verbände und zivilgesellschaftliche Bewegungen, etc. Die kommunikativen Binnenarenen dieser Handlungssysteme stehen in einem Austauschverhältnis mit der medialen Arena öffentlicher Kommunikation. In den aktualitätsgetriebenen Kommunikationsflüssen zwischen Binnenarenen und Medienarena konstituieren sich laufend neue Aufmerksamkeitstopographien, die erlauben, den Lauf der Dinge wahrzunehmen. Auf Seiten der Medien finden die je spezifischen Austauschverhältnisse in ausgegliederten Ressorts ihren Niederschlag. Sie widerspiegeln die Differenzierung der Gesellschaft und strukturieren die Wissensflüsse.
1.2 Funktionale Anforderungen der demokratischen Selbstregulation an die medial vermittelte öffentliche Kommunikation Während diese Wissensprobleme der Moderne als Antrieb für die Erzeugung und Strukturierung von Wissensinhalten identifiziert werden können, bedeutet die Durchsetzung des dezentrierten Weltbildes darüber hinaus die Aberkennung religiöser Legitimation weltlicher Macht und die Einforderung der demokratischen Selbstregulation. Dies setzt eine freie Öffentlichkeit mit benennbaren Leistungsfunktionen voraus: Die öffentliche Kommunikation ist Mittel des Erkennens und der Auswahl von demokratisch zu lösenden Problemen, sie ist Legitimationsbedingung des Rechtsstaates und der darin vollzogenen allgemeinverbindlichen Entscheidungsprozesse und sie ist Konstitutionsbedingung des Souveräns. Die Öffentlichkeit hat somit eine Forumsfunktion (Deliberation), eine Legitimations- und Kontrollfunktion und eine Integrationsfunktion (Kamber/Imhof 2006):
Qualitätsmedien sind Wissensvermittler
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Forumsfunktion: Indem die öffentliche Kommunikation mit allen ihren über Kommunikationsflüsse verbundenen Arenen den Entdeckungszusammenhang von Problematisierungen darstellt, sorgt sie, abgestützt auf die elementaren Grundrechte der Niederlassungs-, Meinungs-, Versammlungs-, Medien- und Pressefreiheit, für eine begründbare Rationalitätserwartung gegenüber Problemauswahl- und -bearbeitungsprozessen. Legitimations- und Kontrollfunktion: Indem die öffentliche Kommunikation ebenfalls abgestützt auf die elementaren Bürgerrechte unter Einschluss des Stimm- und Wahlrechts, die Legitimation politischer Macht, des politisch-rechtlichen Geltungsbereichs sowie der institutionell verankerten Verfahrensprozesse sichert, ermöglicht sie die demokratische Selbstregulation. Integrationsfunktion: Indem die öffentliche Kommunikation das einzige Zugangsportal der Gesellschaft für ihre Mitglieder darstellt, verdankt sich ihr die Selbstwahrnehmungsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger als Mitglieder einer Gesellschaft, die Probleme auf demokratische Weise allgemeinverbindlich zu lösen im Stande ist.
Die Frage, wie Medien diese Leistungsfunktionen erfüllen sollen, erzeugt in der Moderne immer wieder Auseinandersetzungen über die Qualität öffentlicher Kommunikation. Insbesondere die daraus hervorgehenden Qualitätskriterien der Zeitungs- und Publizistikwissenschaft sind sedimentierte normative Ansprüche zur Sicherstellung der Leistungsfunktionen öffentlicher Kommunikation.1 Deshalb wird im Folgenden zunächst auf die Qualitätskriterien der Zeitungswissenschaft zurückgegriffen, um diese dann mit den Qualitätskonzepten der Forschung der letzten zwei Jahrzehnte in Beziehung zu setzen. Daraus ergeben sich die Qualitätsstandards um Medientypen empirisch zu vergleichen und ihre Veränderungen in den letzten vierzig Jahren zu skizzieren.
2
Was ist Qualität? – Woran lässt sie sich messen?
Die Frage „Was ist Qualität?“ stellt sich verschärft im Zuge des neuen Strukturwandels der Öffentlichkeit. Die Kommerzialisierung der Presse und die Dualisierung des Rundfunks verändern das Normen- und Institutionengefüge moderner demokratischer Gesellschaften. (Massen-)Medien werden zu einem eigenlogischen Handlungssystem und entwickeln neuartige Austauschverhältnisse vor allem im Schnittbereich von Politik und Wirtschaft. Die Dualisierung und Ökonomisierung,2 die Veränderungen der Selektions- und Interpretationslogiken im Zuge der Adressierung von Medienkonsumenten anstelle von Staatsbürgern (Imhof/Kamber 2001; Imhof 2003) sowie die Digitalisierung der Medien, die Veränderungen der Rechtsgrundlagen und die Professionalisierung des Journalismus3 sind Merkmale dieses Ausdifferenzierungsprozesses.
1
Medienqualitätsdebatten begleiten die Moderne (vgl. Wilke 2003, Kamber/Imhof 2006). Die Qualitätsforschung im Rundfunk setzt im Zuge der Dualisierung an rechtlichen Vorgaben (vgl. Anm. 4, Punkt 2). Der Pressebereich findet in der Qualitätsforschung weniger Beachtung und bleibt stärker der traditionellen Medienkritik verhaftet (vgl. Anm. 4, Punkt 3). 3 Dies führte zu einer verstärkten Reflexion der Handlungs-, Prozess- und Organisationslogiken des Journalismus (vgl. Anm. 4, Punkt 3 und 4). 2
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Esther Kamber und Kurt Imhof
Im Zuge dieses neuen Strukturwandels der Öffentlichkeit hat sich die Diskussion über „Medien und Qualität“ intensiviert und diversifiziert4. In diesem Beitrag interessieren jene Qualitätsdimensionen, die sich mit direktem Bezug zur demokratischen Selbstregulation sedimentiert haben und damit auf die Leistungsfunktionen der primär medial vermittelten Öffentlichkeit bezogen sind. 2.1 Leistungsfunktionen von Medien und Qualitätsdimensionen Die Leistungsfunktionen von Medien hinsichtlich der Forums-, der Kontroll- und Legitimations- sowie der Integrationsfunktion beziehen sich auf den Informations- und Nachrichtenjournalismus5 der Presse, des Rundfunks und von Online-News als Leitmedien6 der öffentlichen Kommunikation. Als intermediäre Organisationen verleihen Leitmedien Problematisierungen des Bestehenden gesellschaftsweit Resonanz und können damit die Eintrittsschwellen in das politische System für diese Problematisierungen überwinden. Welche Qualitätsdimensionen von News-Medien sind unabdingbar für die demokratische Selbstregulation?7 4 Eine vermehrte Auseinandersetzung mit Qualitätsfragen wird ab den 1990er Jahren datiert (Ruß-Mohl 2005: 375, Bucher 2003: 15-24, Bonfadelli 2002: 109-127). Identifizierbar sind fünf verschiedene Perspektiven. Sie reflektieren die Makro-, Meso- und Mikroebene bzw. das Mediensystem, seine Regulierung und Funktionen, die Medieninstitutionen, -organisationen und ihre Produkte sowie die Medienproduzenten und -konsumenten: 1. (Selbst-)Regulationsperspektive, insbesondere Medienpolitik, -recht und -kontrolle, Selbstverpflichtungen und Beschwerdeorgane (vgl. u.a. Brosius/Rössler/Schulte 2000, Eisermann 1997, Pöttker 2001, Schade/Künzler 2006, Jarren/Donges 2007) sowie Dimensionen der Rechtmässigkeit (Schatz/Schulz 1992: 708-710, Daschmann 2009: 260). 2. Funktions- und Angebotsperspektive, insbesondere Programm-, Informations-, Nachrichten- bzw. Diskursqualität und Service Public (vgl. Weiß/Trebbe 2000, Kamber/Schranz/Imhof 2002, Trebbe 2004, Krüger 2006, 2007, 2008, 2009; Weiß 2003, 2005, 2008; Maurer/Trebbe 2006, Köster/Wolling 2006, Thomaß 2006) sowie die Dimension der Vielfalt und Relevanz (Schatz/Schulz 1992: 693-701, Daschmann 2009: 258). 3. Professionalitätsansatz bzw. professionsethische Perspektive, insbesondere journalistische Qualität, Berufsethos sowie Medienkritik, -journalismus und -ethik (vgl. Pöttker 1999, Thomaß 2002, Fengler 2003, Engels 2006, Eilders 2006, Wünsch/Voigt/Beck 2006, Wunden 2003, Weischenberg 2003) und spezielle Dimension der Professionalität (Schatz/Schulz 1992: 701-705, Daschmann 2009: 259). 4. Organisations- und Produktionsperspektive, insbesondere Qualitätsmanagement und -sicherung (vgl. Russ-Mohl 1992, 2005; Wyss 2002, 2003, 2006; Meier 2006, Rössler 2006, Weischenberg 2006a, 2006b). 5. Publikumsperspektive, insbesondere Qualität aus Rezipientensicht bzw. Nutzungsqualität (vgl. Darschin/Horn 1997, Darschin/Zubayr 2001, 2004; Zubayr/Geese 2005, 2009; Herzog/Hasebrink/Eilders 2006, Arnold 2006, Wolling 2006) sowie die Dimension der Akzeptanz (Schatz/Schulz 1992: 705-708, Daschmann 2009: 529-260). 5 Qualitätsforschung muss den unterschiedlichen Mediengattungen entsprechen, um adäquate Beurteilungskriterien zu entwickeln. Allem voran drängt sich die Unterscheidung des Informations- und Nachrichtenjournalismus vom Unterhaltungsjournalismus bzw. vom Journalismus hinsichtlich spezieller Interessen und ausdifferenzierter Themengebiete auf (Schatz/Schulz 1992: 693). Während ersterer stärker klassischen Qualitätsanfoderungen unterliegt, spielen bei zweitem und letzterem Kriterien der Kunst- und der ästhetischen Kritik sowie die Publikumsperspektive eine bedeutende Rolle. 6 Leitmedien lassen sich unter anderem durch die Merkmale ihrer wechselseitigen Referenzialität und ihrer Vermittlungs- und Resonanzleistungen bestimmen. Dies definiert sie als intermediäre Organisationen (vgl. hierzu den Beitrag von Jarren/Vogel in diesem Band). 7 Noch vor jedem inhaltlichen Qualitätskriterium sind das periodische Erscheinen und die massenhafte Verbreitung von Medien unabdingbar. Die Qualitätsdimensionen der Periodizität und Verbreitung setzen Medienorganisationen voraus, die die öffentliche Kommunikation auf Dauer stellen. Auch die Zeitungswissenschaft der 1920er Jahre hielt dies über die Begriffe „Periodisches Erscheinen“ und „Mechanische Vervielfältigung“ fest (Groth 1928/1: 22).
Qualitätsmedien sind Wissensvermittler
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Unabdingbar für die drei Leistungsfunktionen ist erstens die Qualitätsdimension der Publizität. Erst damit entsteht die „Fähigkeit (von Zeitungen), sich ein Publikum zu bilden“ (Groth 1928/1: 38). Wesentlich ist diese Beziehung von Medium und Publikum, weil nur durch sie Öffentlichkeit hergestellt wird. Das Publikum ist zudem entscheidend für das Entstehen von „öffentlicher Meinung“, die nur über Prozesse der Meinungsbildung entstehen kann. In der neueren Qualitätsforschung findet dies insbesondere im Kriterium der Meinungsvielfalt seinen Niederschlag (vgl. u.a. Schatz/Schulz 1992: 694). Zweitens macht die Qualitätsdimension Universalität als Merkmal der Informationsvielfalt Karriere (Schatz/Schulz 1992: 693-695, Daschmann 2009: 258, Arnold 2008: 494, Weischenberg 2006b: 673, Schatz et. al. 1989, Schmelzer 1996, Rossmann et al. 2003, Rössler 2006, 2008). Die Informationsvielfalt im engeren Sinn bezieht sich auf Themen und Akteure als inhaltliche Vielfalt, von der die strukturelle Vielfalt unterschieden wird. Universalität besteht nach Groth darin, „dass sich die Zeitung nicht selbst Schranken setzt, sondern aus ihrem Zweck heraus frei in alle Gebiete des Lebens und Geistes greifen kann“ (Groth 1928/1: 41/42). Impliziert ist damit, dass in der gesellschaftlichen Entwicklung neuartige oder gewandelte soziale Phänomene und Bereiche Aufmerksamkeit finden. In funktionaler Sicht bedeutet dies insbesondere auch die Beobachtung der Handlungssysteme über spezialisierte Ressorts. Drittens ist die Qualitätsdimension der Aktualität (Groth 1928/1: 51) durch alle Debatten hindurch wesentlich. Denn die Forums-, Kontroll- und Legitimations- sowie die Integrationsfunktion werden durch den Gegenwartsbezug sinnvoll. In der Aktualität begründet liegt jedoch der nicht unproblematische „Drang ... nach Sensation“ wie bereits Groth (1928/1: 50) bemerkte. Dieser Sensationalismus erhält in der Ausdifferenzierung des Mediensystems neue Brisanz, weil neben den Medien v.a. auch politische und wirtschaftliche Akteure Aufmerksamkeit anzielen. Diskutiert werden die Effekte dieses Aufmerksamkeitswettbewerbes insbesondere unter den Stichworten der Skandalisierung, Konfliktstilisierung, Personalisierung und der Medialisierung (vgl. Kepplinger 1996, Münch 1997, Imhof 2006). Durch die Qualitätsdebatten hindurch zieht sich viertens die Dimension der Relevanz. Wegen der Perspektivenvielfalt der Qualitätsforschung finden heute je nach Instanz der Relevanzattribution verschiedene Relevanzkriterien Beachtung (Schatz/Schulz 1992: 696). In einer öffentlichkeitstheoretischen Sicht ist analog der in der Öffentlichkeitskritik verankerten Zeitungswissenschaft das Merkmal der Allgemeinheit des Interesses wesentlich. Negativ belegt werden „Veröffentlichungen, die „rein privater Natur“ sind“ und die „Öffentlichkeit nichts angehen“ (Groth 1928/1: 46). An diesem Aspekt schließt die traditionsreiche Qualitätsdiskussion über die Privatisierung von Öffentlichkeit an (vgl. Sennett 1983, Imhof 1999). Diesbezüglich beschrieb bereits die Zeitungswissenschaft, was der Öffentlichkeit bedarf. Hinsichtlich der Politik sind für sie der „Staat“ und das „Volk“, insbesondere die Politik entscheidend (Groth1928/1: 57-65). Die Veröffentlichung von „Tatsachen des Wirtschaftslebens“ ist ebenfalls unabdingbar (Groth 1928/1: 66). Darüber hinaus werden in der bildungsbürgerlichen Tradition der Aufklärung die Bedeutung der „Wissenschaft und Künste“ sowie die „Volksbildung“ hervorgehoben (Groth 1928/1: 66/67). Wesentlich ist somit die Berichterstattung über zentrale Handlungssysteme und über relevante Institutionen, Organisationen und Gruppen (Schatz/Schulz 1992: 696-698, Weiß 2002: 307). Die Ausdifferenzierung des medialen Handlungssystems verleiht fünftens der Qualitätsdimension der Selbstreflexion eine besondere Bedeutung. Weil Medien zunehmend ihre
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soziale Rückkoppelung verlieren und eigenständige Handlungslogiken ausbilden, und weil außer den Medien selber keine institutionalisierte öffentliche Beobachtung und Kritik existiert, können Medien den Leistungsfunktionen nur gerecht werden, wenn sie ihre eigene Rolle beachten. Die historischen Wurzeln dieser Qualitätsdimension gehen auf das Feuilleton zurück, in dem die Kritik in musisch-künstlerischer (Groth 1928/1: 847-906: Das Feuilleton im weiteren Sinne), aber auch in zeitgenössischer Hinsicht (Groth 1928/1: 899-900, Das kleine Feuilleton; 905-906: Die Rundfunkkritik) wesentlich ist. Die Medienkritik ist in diesem feuilletonistischen Rahmen verankert (Fengler 2003) und wird hinsichtlich der politischen Berichterstattung (Eilders 2006) und als Aufgabe spezialisierter Journalistenrollen (Engels 2006) diskutiert.8 Schließlich sind sechstens die genannten Qualitätsdimensionen hinsichtlich der Erfüllung der drei Leistungsfunktionen wirkungslos, wenn die öffentliche Kommunikation der Sachgerechtigkeit, der Fairness und der Verständlichkeit entbehrt (Schatz/Schulz 1992: 705, Weiß 2002: 308-310, Ruß-Mohl 2005: 374, Daschmann 2009: 258). Dabei handelt es sich um Merkmale eines professionellen Journalismus, der seine Funktionen nur durch die Erfüllung dieser Berichterstattungsqualitäten wahrnehmen kann. Insbesondere sind in der öffentlichen Kommunikation die kognitive und normativ-moralische Rationalitätsdimension die Modi der meinungsbildenden Auseinandersetzung.9 Der Norm der wahren Sachverhaltsdarstellung unterliegen alle Akteure im öffentlichen Diskurs: Wer öffentlich debattiert, muss Sachverhalte erklären bzw. sich auf Sachverhaltserklärungen abstützen. Im Besonderen ist die publizistische Diskursführung und -verarbeitung dieser Dimension unterworfen. Die Qualitätskriterien der Sachgerechtigkeit, Objektivität oder Faktentreue zeigen die Wirkmächtigkeit der kognitiven Dimension in der Sedimentierung journalistischer Qualitätskriterien. Bezüglich der Repräsentation von normativen Aussagen im Streit von Weltanschauungen unterliegt den Normen der Fairness und der Neutralität die sich auch auf die Trennung von Nachricht und Kommentar bezieht. Und nicht zuletzt soll der Meinungs- und Informationsjournalismus dem Qualitätskriterium der Ausgewogenheit genügen, also der ausgeglichenen und richtigen Darstellung von Positionsbezügen in normativmoralischer Dimension und der Perspektivenoffenheit in kognitiver Dimension. Erst im Ensemble dieser Qualitätsdimensionen kann die Sicherstellung der Leistungsfunktionen öffentlicher Kommunikation gelingen und ist die mediale Berichterstattung ein „Merkmal für den Prozess öffentlicher Kommunikation“ (Weiß 2002: 305). 2.2 Universalität, Relevanz und Selbstreflexivität als Qualitätsdimensionen Diese sedimentierten Qualitätsansprüche an die Medien bilden ein Normgefüge, das für die Wissensvermittlung und die Leistungsfunktionen von Öffentlichkeit entscheidend ist. Die beschriebenen Qualitätsdimensionen dienen entsprechend als Merkmalsbestimmung von 8 In der Forschung zur Programm-, Informations- und Nachrichtenqualität im Rundfunk ist die Medienkritik keine zentrale Dimension (vgl. u.a. Schatz/Schulz 1992). 9 Expressionen subjektiver Innerlichkeit haben den systematischen Nachteil, dass sie nicht aus sich selbst heraus, sondern nur kognitiv und normativ begründet werden können und dass die Authentizität von Affekten nur geglaubt oder bezweifelt werden kann. Dies setzt jedoch persönliches Erfahrungswissen über Personen voraus. Jenseits dessen scheitert das bessere Argument gleichsam an subjektiver Innerlichkeit. Deshalb ist die öffentliche Auseinandersetzung gegenüber und zwischen Fremden auf (bestreitbare) kognitive Sachverhaltdarstellungen und (bestreitbare) moralisch-normative Geltungsansprüche viel stärker angewiesen als auf Darstellungen subjektiver Expressionen.
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Qualitätsmedien und bilden gleichzeitig die empirische Basis, um Veränderungen der medial vermittelten Kommunikation zu messen. Zu diesem Zweck wenden wir dies mittels der Qualitätsdimensionen Universalität, Relevanz und Selbstreflexivität an. Hinsichtlich der Qualitätsdimensionen der Universalität und der Relevanz interessiert im Folgenden zunächst die Frage nach den ausdifferenzierten Ressorts, die der kognitiven Sachverhaltsdarstellung dienen Im engeren Sinn handelt es sich hierbei um Wissenschafts-, Technik- und Medizin- und Gesellschaftsbeilagen. In kognitiver und normativer Hinsicht interessieren die politischen Ressorts und die Gerichtsberichterstattung und bezüglich der expressiv-emotionalen Dimension des modernen Weltbildes ist das Feuilletons, das Vermischte und der Human Interest von Interesse. Dieses Vorgehen erlaubt, es die Universalitätsdimension auf die Ressort- und Rubriken- bzw. Spartenforschung anzuwenden und mit der Qualitätsdimension der Relevanz zu ergänzen. Merkmale von Qualität sind redaktionelle Strukturen zur Beantwortung der zentralen Wissensprobleme der Moderne und gleichzeitig die Beobachtung der zentralen Handlungssysteme und Institutionen, die diese Wissensprobleme beständig zu beantworten suchen. Hinsichtlich der Qualitätsdimension der Selbstreflexivität stellt sich dann die Frage nach Medienressorts bzw. -beilagen.
3
Strukturen der Wissensvermittlung von Deutschschweizer Printmedien im Wandel
Betrachtet werden die Inhaltsstrukturen in Form von Ressorts als historisch gewachsene und sich wandelnde ‘Figurationen’ der Wissensprobleme moderner Gesellschaften (Elias 1980/1982). Die Ausdifferenzierung, Spezialisierung und Professionalisierung der Publizistik und des Journalismus vollzieht sich als redaktionsinterne Spiegelung institutionalisierter Handlungssysteme in Gestalt einer arbeitsteiligen Delegation von Wissensproblemen. Die Unterscheidung von Ressorts, spezialisierten Redakteuren, ihren Stoffgebieten und ihrer Hinwendung zu sozialer Wirklichkeit verweist auf die komplexe Ausdifferenzierung journalistischer Tätigkeit. Diese Differenzierungen sind für die Identifikation und Evaluation von Medientypen entscheidend. Hinsichtlich des neuen Strukturwandels der Öffentlichkeit sind Entdifferenzierungsprozesse von besonderem Interesse: Auf der Produktions- und Organisationsseite treten Spezialisierungen in den Hintergrund zugunsten effizienter, generalisierter und mehrfach verwertbarer Informationsaufbereitung. In Frage steht, welche Folgen dies für die Inhalte und die Qualität des publizistischen Angebotes hat. Postuliert wird im neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit eine Verschiebung der Gewichte von Stoffgebieten und gleichzeitig der Rationalitätsdimensionen öffentlicher Kommunikation vom kognitivnormativen hin zum moralisch-emotionalen Pol.
3.1 Operationalisierung der Qualitätsdimensionen Um Qualitätsmedien in Abgrenzung zu anderen Medientypen exemplarisch zu typisieren, werden die Qualitätsdimensionen der Universalität, Relevanz und der Selbstreflexivität mittels des Kriteriums der inhaltlichen Differenzierung in Form von Ressorts operationalisiert. Die Analyse der Inhaltsstrukturen auf der Basis der drei Qualitätsdimensionen wird
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anhand der „Neuen Zürcher Zeitung“ (NZZ), des „Tages-Anzeigers“ und des „Blick“ vorgenommen. Bei der NZZ handelt es sich um ein anerkanntes Qualitätsmedium, beim „Tages-Anzeiger“ um eine ‘unabhängige’ überregionale Zeitung und beim „Blick“ um ein Boulevardmedium. Die klassischen Ressorts der Politik (in seinen Ausprägungen regional, national und international), des Feuilletons bzw. der Kultur inklusive Wissenschaft, des Sports und des Handelsteils bzw. der Wirtschaft spezialisieren sich auf Handlungssysteme und ihre Institutionen, Organisationen und Rollen. Daneben expandiert im Strukturwandel der Öffentlichkeit das Wissensangebot für Subjektives, Lebensweltliches, Privates und Intimes. Dadurch wird neben den klassischen Ressorts der öffentlichen Kommunikation das breite Stoffgebiet des Human Interest bzw. des Vermischten immer wichtiger. Wenn diese Ressorts in Form einer (werk-)täglichen Veröffentlichung periodisch erscheinen, werden sie als Standardressorts bezeichnet. Davon abgegrenzt werden Spezialressorts bzw. Beilagen mit nichtalltäglicher, aber regelmäßiger Erscheinungsform und meist thematischer Zentrierung bzw. Ergänzung der Standardressorts. Gefragt wird danach, welche Wissensvermittlungsstrukturen zur standardisierten, täglichen Veröffentlichung bei verschiedenen Medientypen gehören, wie differenziert sie sind und welche zusätzlichen spezialisierten und differenzierten Inhaltsangebote festzustellen sind. Das in Wochenstichproben erfasste Angebot in den Jahren 1960, 1980 und 2005 wird zuerst anhand der Standardressorts und dann hinsichtlich der Spezialressorts betrachtet. 3.2 Der Wandel von Standardressorts in Deutschschweizer Medien Die Entwicklung der Standardressorts von 1960 bis 2005 zeigt ein Umfangswachstum (vgl. Darstellung 1: Auszählung der täglich erscheinenden redaktionellen Seiten in Wochenstichproben und Darstellung der durchschnittlichen Seitenzahl).
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Darstellung 1: Entwicklung des Umfangs der Standardressorts 1960 bis 2005 40
Stichprobe: jeweils eine künstliche Woche
durchschnittliche redaktionelle Seitenzahl
1960
1980
2005
35
30 25
20
15
10 5
0 NZZ
Tages-Anzeiger
Blick
Im Detail wird ersichtlich, dass die NZZ 1960 noch deutlich vor dem „Tages-Anzeiger“ lag, während sich ihr Umfang 2005 nahezu egalisiert. Auffallend ist zudem der Umfangszuwachs beim „Blick“. Dies liegt einerseits begründet im massiven Wachstum des Sportteils. Andererseits stellt der „Blick“ 2004 vom Zeitungsformat auf Tabloid um und verdoppelt die Seiten- aber nicht die Beitragszahl. Trotzdem: Das Angebot täglicher Information zu Politik, Wirtschaft, Kultur und Sport sowie dem Vermischten hat in allen Medientypen zugenommen und zu einer breiteren Beobachtung relevanter Handlungssysteme und lebensweltlicher Stoffgebiete geführt. Diese Ausweitung des publizistischen Standardangebotes geht – mit Ausnahme des „Blicks“ – einher mit einer zunehmenden Differenzierung der Ressortstrukturen (vgl. Darstellung 2). Auffallend ist die zunehmende Ergänzung der Ressorts zur Politik durch weitere strukturierte Inhalte bei der NZZ und dem „Tages-Anzeiger“. Die NZZ differenziert nach 1960 Wissensvermittlungsgefäße zur Kultur und zum Vermischten aus. Beim „TagesAnzeiger“ wächst der Kultur- und Sportteil und nach 1960 wird ebenfalls das Vermischte ausdifferenziert. Diese Gefäße des Vermischten vermitteln vor allem auch Inhalte, die das Private, Subjektive, Lebensweltliche und Intime betreffen.
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Darstellung 2: Differenzierung der Standardressorts 1960 bis 2005 100%
Vermischtes
90% 80%
Politik
Wirtschaft
70% Börse Märkte
60%
Politik
Börse
Wirtschaft
Wirtschaft
50%
Kultur
40%
Politik-Region
30%
Sport
Politik-Inland
20% 10% Börse
0%
1960
1980
NZZ
2005
...
1960
1980
2005
Tages-Anzeiger
...
1960
1980
Politik-Ausland
2005
Blick
Das Boulevardmedium „Blick“ ist durch eine gegenläufige Entwicklung gekennzeichnet. Die schwache Ausdifferenzierung von Wissensvermittlungsgefäßen führt zu einer vielfältigen Füllung. Der „Blick“ entsteht 1959 und vermittelt abgesehen vom Sportteil (der die Kultur dominiert) auf den anderen redaktionellen Seiten vorerst allerlei Bemerkenswertes und Themen der Regenbogenpresse (Vermischtes). Diese Ausrichtung auf Human Interest schwindet und ab 1980 wird der allgemeine Teil zunehmend mit politischen und wirtschaftlichen Themen angereichert. Dabei dient die Seitenüberschrift „Aktuell“ und später auch „News“ in wechselnder Weise dazu, öffentlich relevante und private bunt gemischt Themen abzuhandeln. Diese Hinwendung zu politischen Themen ändert jedoch nichts an der Form der Aufbereitung von Inhalten: Der moralisch-emotional Kommunikationsmodus durchdringt diese Themenbereiche. Als erstes Zwischenfazit zeigt sich: Im historischen Vergleich weitet sich das publizistische Standardangebot aus und die Inhalte der drei Medientypen gleichen sich an. Bezüglich des Human Interest bzw. des Vermischten holen die Abonnementszeitungen gegenüber dem Boulevardmedium auf und die Politik wird vom „Blick“ ins Vermischte inkorporiert. Die Attribution von Relevanz erweitert sich auf den Human Interest und entsprechend dehnt sich die Universalität der Medien auf den Bereich des „Privaten“ aus. In der ähnlichen Entwicklung der NZZ und des „Tages-Anzeigers“ zeigt sich insbesondere, dass das Wirtschaftsressort zwischen 1980 und 2005 an Gewicht gewinnt. Ausgebaut wird insbesondere die Berichterstattung zu Börsen und Märkten; ein Indiz dafür, dass die gesellschaftliche Geltungssteigerung der Ökonomie und die massive Verbreitung von Wertschriftenbesitz im neoliberalen Gesellschaftsmodell seinen Niederschlag in den Wissensvermittlungsstrukturen finden.
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Welche weiteren Merkmale der Binnendifferenzierung politischer und wirtschaftlicher Ressorts zeigen sich bei den beiden ähnlich strukturierten Medien? Berücksichtigt man nicht nur die inhaltliche Ressortstrukturierung in Form der Seitenüberschriften, sondern auch die wiederkehrenden Gefäße innerhalb einer Seite, sogenannte Spitzmarken und Rubriken, zeigen sich Unterschiede. Die NZZ strukturiert insbesondere das politische Inlandund das Regionalressort durch Rubriken mit institutionellen und prozessuralen Bezügen und weist damit der politischen Agenda konstant besondere Geltung zu.10 Der traditionell verlautbarende Wirtschaftsjournalismus erhält zwischen 1980 und 2005 zunehmend diskursiven Charakter und gleicht sich damit der Politikberichterstattung an. Dies zeigt sich bei der NZZ auch an der Ausdifferenzierung von Meinungsrubriken.11 Im Gegensatz zum „Tages-Anzeiger“ ist das Wachstum des Wirtschaftsressorts bei der NZZ mit einer hohen Binnendifferenzierung verbunden.12 Als zweites Zwischenfazit kann festgehalten werden: Obwohl sich das publizistische Standardangebot des „Tages-Anzeigers“ und der NZZ in ähnlicher Weise entwickelt hat, zeigt die Detailbetrachtung spezifische Qualitäten. Die Ressorts der NZZ werden mittels Rubriken weiter ausdifferenziert und damit wesentlichen Institutionen und extramedialen Agenden zentraler Handlungssysteme spezielle Geltung zugemessen. Besondere Qualitätsmerkmale sind daher eine sich ausdifferenzierende Universalität und die konstante sowie differenzierte Relevanzzuschreibung hinsichtlich gesellschaftspolitischer Prozesse und Agenden. 3.3 Wandel der Spezialressorts in der NZZ im Vergleich zum „Tages-Anzeiger“ Eine dem historischen Wandel folgende Universalität und mithin eine Fokussierung neuer Relevanzbereiche lässt sich auch über Spezialressorts bzw. Beilagen realisieren. Ihre Ausdifferenzierung ist einerseits funktional hinsichtlich der Berichterstattung über Handlungssysteme und andererseits für die Bindung spezieller Publikumsinteressen für die entsprechende Werbeattraktivität. Auf der Basis der Unterscheidung gesellschaftspolitischer Relevanz und der Relevanz für private Interessen des Konsums, der Lebensberatung und der Freizeit können die Beilagen beurteilt werden. Betrachtet man die wichtigsten Spezialbeilagen bzw. -ressorts der NZZ, zeigt sich, dass ihre Differenzierung sehr konstant ist und daher ein nachhaltiges Wissensangebot ausgebildet wird. Die Spezialbeilagen umfassen sowohl solche mit gesellschaftspolitischer Relevanz als auch solche mit stärkerer Ausrichtung auf private Interessen (vgl. Darstellung 3: Die Tabelle beginnt mit jenen Beilagen, die dem gesellschaftspolitischen Relevanzkriterium am meisten entsprechen). Ab 1980 differenziert die NZZ neue Beilagen mit gesellschaftspolitischer Relevanz aus, die sich mit dem technologischen und medialen Wandel befassen („Technologie und Gesellschaft“ sowie „Medien und Informatik“). 10 1960-2005: „Session der eidgenössischen Räte“, „Aus dem Bundesgericht“, „Aus den Kantonen“, „Abstimmungsparolen“, „Kantonale Wahlen“, „Kantonale Abstimmungen“, „Zürcher Gemeinderat“, „Zürcher Kantonsrat“ und „Aus dem Obergericht“. 11 2005: „Fokus der Wirtschaft“, „Reflexe“, „Themen und Thesen der Wirtschaft“. 12 2005: Jener Teil des Wirtschaftsressorts mit der Seitenüberschrift „Börsen und Märkte“ weist eine beeindruckende Zahl von Rubriken und Unterrubriken auf: „Börsen und Märkte“ ist in fünf Hauptrubriken unterteilt: „Waren und Finanzmärkte“, „Marktübersicht und Devisen“, „Aktien Schweiz“, „Schweizer Börse“, „Auslandbörsen“ und „USA/Kanada“. Diese Rubriken gliedern sich zudem in bis zu zehn Unterrubriken, die relevante Wirtschaftsräume im Inland und Ausland fokussieren und Kennzahlen aus der ganzen Welt vermitteln.
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Darstellung 3: Differenzierung von Spezialressorts 1960 bis 2005 in der NZZ
Beilagen - Spezialressorts Schule und Erziehung Technik > Forschung und Technik Technologie und Gesellschaft Medien und Informatik Literatur und Kunst Film Radio und Fernsehen Schach und Philatelie Politische Literatur Zeitfragen Saison/Reisen/Verkehr > Tourismus Alpinismus Automobil Luftfahrt Planen - Bauen - Wohnen Wochenende Zürcher Wochenkalender
1960 1 1 0 0 1 1 1 0 0 0 1 0 1 1 0 1 0
1980 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
2005 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
Der „Tages-Anzeiger“ unterscheidet sich von der NZZ durch die vollständige Auswechslung der Beilagen und ihrer Reduktion im Untersuchungszeitraum. Während sich 1960 mehrere Beilagen kulturellen Aspekten widmeten (Literatur, Theater, Film, Radio und Fernsehen, Das aktuelle Bild) sowie auf wissenschaftlich-technische und gesellschaftspolitische Fragen fokussiert waren (Technik, Heimatkunde, Städtebau und Verkehrsprobleme sowie Unterhaltung und Wissen) und spezifische Publikumsgruppen ansprachen (Für die Frau, Euse Tagi [für Kinder/Jugendliche]), beziehen sich die Beilagen im Jahr 2005 auf Serviceinformationen (Sozial & Sicher, Akonto, Digital, Reisen und Savoir-Vivre) und auf die Gesellschaftsreflexion (Gesellschaft). Als drittes Fazit zeigt sich: Ein weiteres Qualitätsmerkmal ist eine differenzierte und diversifizierte Beilagenstruktur, die sowohl gesellschaftspolitische Themen aus den Standardressorts vertieft, als auch spezifische Bereiche lebensweltlicher Interessen behandelt. Diese Differenzierung relevanter Wissensgebiete leistet vertiefende Orientierung. Im Besonderen dienen Medienbeilagen der Selbstreflexivität.
4
Fazit und Ausblick
Im exemplarischen Medienvergleich zur Typisierung von Qualitätsmedien zeigen sich folgende Merkmale: In der historischen Entwicklung erweitert das Qualitätsmedium NZZ das publizistische Standardangebot unter gleichzeitiger Ausdehnung des Universalitäts- und Relevanzspektrums durch die Ausdifferenzierung und Binnendifferenzierung von Wissens-
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vermittlungsstrukturen. Die Universalität steigert die Zeitung zudem durch die Ausdifferenzierung eines Spezialangebotes, das auch von gesellschaftspolitischer Relevanz ist. Die Ausdifferenzierung der Ressortstrukturen bringt aber auch in der NZZ wie im „TagesAnzeiger“ eine Anreicherung der medial vermittelten Kommunikation mit Human Interest bzw. ‘Privatem’. Qualitätsmedien sind Prestigemedien, weil sie gewachsene Reputation haben. Dieses Prestige muss durch das publizistische Angebot beim Publikum bestätigt werden, indem eine Auswahl aus vielfältigen und relevanten Wissensgebieten ermöglicht wird. Qualitätsmedien stehen in einer Tradition als wesentliche Träger der öffentlichen Kommunikation. Weil sie Publika (Publizität) aus Funktionseliten wesentlicher Handlungssysteme sowie durch andere Medien generieren, erzielen sie hohe Resonanz und Definitionsmacht. Ihren Relevanzkriterien wird Bedeutung zugemessen. Daher sind sie unverzichtbare Wissensvermittler moderner Gesellschaften: Durch Universalität ermöglichen sie die Selbstwahrnehmung von Gesellschaft, durch differenzierende Universalität die Wahrnehmung des Wandels von Gesellschaften und durch die gesellschaftspolitische bzw. öffentliche Relevanzattribuierung haben sie eine wesentliche Funktion im Agendasetting der Medienarena und der politischen Arena. Diese Qualitäten sind unverzichtbar für die Forums-, die Kontroll- und Legitimations- sowie für die Integrationsfunktion öffentlicher Kommunikation. Trotz der Entwicklung des publizistischen Angebotes in der Perspektive der Qualitätsdimensionen Universalität, Relevanz und Selbstreflexion sind Qualitätsmedien einem massiven Wandel unterworfen. Die Veränderungen der Medienlandschaft und des Marktumfeldes tangieren das publizistische Angebot. Ein zweiter Blick auf die Veränderungen des publizistischen Standardangebotes der NZZ offenbart die Gewichtsverschiebungen zwischen den Ressorts (vgl. Darstellung 4). Proportional reduziert sich die politische Berichterstattung speziell zugunsten der Kulturberichterstattung. Im Rahmen der Kulturberichterstattung wächst insbesondere auch der Sport, der zum Standard täglicher Berichterstattung wird.
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Darstellung 4: Anteile der Standardressorts von 1960 bis 2005 in der NZZ 40%
35% Politik-Ausland
30% Politik-Inland
25% Politik-Region
20%
Wirtschaft
15%
Kultur
10%
Vermischtes
5%
0% 1960
1980
2005
Vor allem die Auslandberichterstattung verliert an Gewicht und damit im Ressortvergleich auch an Relevanz. Diese Gewichtsverschiebungen schmälern die Leistungen hinsichtlich der Forums-, Kontroll- und Integrationsfunktion bezüglich der demokratischen Selbstregulation und hinsichtlich der Orientierungsleistungen auf internationaler Ebene. Gerade auch in Bezug auf Qualitätsmedien gilt: Eine weitergehende Auseinandersetzung mit den kommunikativen Infrastrukturen moderner Demokratien ist angezeigt.
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Qualitätsmedien in Pressesystemen. Wandel der Medienstrukturen gleich Wandel der Medieninhalte? Linards Udris und Jens Lucht 1
Einleitung
Die Qualität von Medien hängt von den Strukturen ab, in die sie eingebettet sind (Altmeppen 2006; Giddens 1992).1 Diese Strukturen haben sich in mehreren europäischen Ländern in jüngster Zeit stark gewandelt. Die Strukturtransformationen umfassen beispielsweise das rasche Aufkommen von Gratiszeitungen in Österreich (Bakker / Seethaler 2009) und der Schweiz, die punkto Auflage und Inserate-Aufkommen die Qualitätszeitungen (allerdings auch die Kauf-Boulevardzeitungen) überflügeln, oder die Finanzierungsgrundlage der Qualitätszeitungen, die sich von „kulturell eingebundenem“ Kapital hin zu anonymem Kapital zu wandeln droht und die publizistische Leistung unter kurzfristigen ökonomischen Erwartungsdruck setzt (Habermas 2007; Jarren/Zwicky 2008). Jedoch sind diese Phänomene, in einer zeitlichen und länderübergreifenden Perspektive betrachtet, erstens nicht neu. In Großbritannien beispielsweise haben Medienanbieter, die gleichzeitig in medienfernen Branchen investierten, bereits vor einigen Jahrzehnten eine große Rolle gespielt (z.B. Roy Thomson, der in den 1960er Jahren die Times kaufte). Zweitens sorgen spezifische medienpolitische Ausgestaltungen für entsprechende Trägerschaften. So beschränkt in Frankreich ein Gesetz aus dem Jahre 1986 die Investitionen ausländischen Kapitals an französischen Zeitungen, was einen Gang an die Börse und die Bildung von primär renditeorientierten Medienunternehmen erschwert (Benson/Hallin 2007: 28); hier sorgen eher die oftmals problematisierten engen Verflechtungen der (französischen) Medienanbieter mit etablierten politischen Akteuren für Herausforderungen an die Qualitätspresse (Kuhn 2007: 253ff.). Um diagnostizierte oder befürchtete Veränderungen der Medienstrukturen – insbesondere mit Bezug auf die Qualitätspresse, die „Leuchttürme“ öffentlicher Kommunikation – in einem Land einschätzen und bewerten zu können, ist ein diachroner als auch ländervergleichender Zugriff auf einer empirischen Basis angezeigt. Dies soll eines der Hauptziele unseres Beitrags sein. Er präsentiert auf einer theoretischen (Imhof 2006; Kamber/Ettinger 2008) und empirischen Basis den Wandel der Medienstrukturen von 1960 bis in die Gegenwart. Mit diesem Vorgehen haben Udris und Lucht (2009) den Wandel der Medienstrukturen in drei Vergleichsländern – Deutschland, Österreich, Schweiz – innerhalb des demokratisch-korporatistischen Modells (Hallin/Mancini 2004) erfasst. Im nun folgenden Beitrag wird der Vergleich ausgeweitet um das liberale und das polarisiert-pluralistische Modell (vertreten durch Großbritannien resp. Frankreich), um die Homogenität der drei
1 Der theoretische Hintergrund, das Konzept und die am Mediensymposium präsentierten Resultate sind Teil eines laufenden Forschungsprojektes, das im Rahmen des Schwerpunktprogramms des Schweizerischen Nationalfonds „Challenges to Democracy in the 21st Century“ durchgeführt wird. Die theoretischen und konzeptionellen Grundlagen sind ausführlicher beschrieben in Kamber/Ettinger (2008).
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Linards Udris und Jens Lucht
Modelle (über die Zeit) empirisch zu überprüfen und um sie mit dem Wandel von Medieninhalten in Beziehung zu setzen. Auf der Seite der Medienstrukturen wurden systematisch die Anbieter- und Angebotsstruktur auf der Grundlage der dreißig auflagestärksten Pressetitel pro Zeitpunkt und Land erfasst und differenziert. Diese Methodik und Kategorisierung erlaubt uns, ausgewählte Aussagen zur Bedeutung respektive Verbreitung der Qualitätspresse – im Vergleich zur Boulevard- und Forumspresse – sowie die soziale Einbindung der Qualitätspresse innerhalb eines Pressesystems und im Vergleich zwischen Pressesystemen und über die Zeit hinweg zu treffen. Wir überprüfen damit die oftmals implizit oder explizit vorgebrachte Thesen der „Entbettung“ respektive Differenzierung der Medien von politischen und anderen intermediären Trägern (Imhof 2006; Hallin/Mancini 2004: 66ff.) sowie die wachsende Bedeutung der Boulevardmedien auf Kosten der Qualitätsmedien (2). Dabei können erste Resultate zur Erfassung von medialen Öffentlichkeitsstrukturen präsentiert werden (3). In einem weiteren Schritt wird der Wandel der Medienstrukturen mit dem Wandel der Medieninhalte in Beziehung gesetzt (4). Empirisch können wir in diesem Beitrag länderübergreifende Resultate für „Routinephasen“ der Politik (untersucht anhand von künstlichen Wochen) präsentieren. Der Beitrag schließt mit einem Fazit zur Analyse von Medienstrukturen und Medieninhalten (5).
2
Erfassung von Medienstrukturen im diachronen und länderübergreifenden Vergleich
Um Phänomene der politischen Kommunikation bewerten zu können, ist ein Vergleich – sowohl in zeitlicher als auch in räumlicher Hinsicht – unabdingbar (vgl. Thomaß 2007). Zusammengenommen ergibt die Kombination eines synchronen wie diachronen Vergleichs von Mediensystemen beziehungsweise Medienstrukturen in verschiedenen Untersuchungsländern respektive Modellen von Pressesystemen erste Antworten auf die Frage, ob der Strukturwandel der Öffentlichkeit in den Untersuchungsländern gleich stark ausgeprägt ist und zu gleichen Zeitpunkten eingesetzt hat (2.1). Die Erfassung von Medienstrukturen richtet sich dann nach bestimmten Indikatoren, die wir aus den Fragen der Differenzierungstheorie ableiten (2.2). 2.1 Modelle von Medien- und Pressesystemen Einen die wissenschaftliche Debatte entscheidend prägenden Versuch der Klassifizierung und Typologisierung von Mediensystemen, die (noch) auf sehr unterschiedliche Weise von einem Strukturwandel der Öffentlichkeit betroffen sind, haben Hallin und Mancini (2004) vorgelegt. In drei Modellen von Medien und Politik identifizieren die Autoren ein liberales, ein polarisiert-pluralistisches sowie ein demokratisch-korporatistisches Modell, deren Grundlagen und Charakteristika in einer Vielzahl von Studien zusammengefasst wurden und die als bekannt vorausgesetzt werden können (z.B. Wessler 2008; Brants/van Praag 2006; kritisch dazu Norris 2009). Wichtig an dieser Stelle ist unsere Fokussierung auf Pressesysteme innerhalb von Mediensystemen. Auch wenn sich in einigen Aspekten die Unterschiede zwischen den drei Modellen je nach Mediengattung (Fernsehen, Presse) anders akzentuieren (z.B. in allen drei Modellen ein relativ ähnlich tiefer Grad an „politischem
Qualitätsmedien in Pressesystemen
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Parallelismus“ im Fernsehen, aber größere Unterschiede in der Presse), so zielen genügend Dimensionen und Kategorisierungen – und damit Unterschiede zwischen den Modellen – auf die Presse im speziellen. Für unsere Analyse wählen wir fünf westeuropäische Länder: Großbritannien als Vertreter des liberalen sowie Frankreich als Vertreter des polarisiert-pluralistischen Modells. Für das demokratisch-korporatistische Modell wurden neben Deutschland auch die beiden Kleinstaaten Österreich und Schweiz integriert. So können wir prüfen, inwiefern sich die Größe eines Landes auf die Ausbildung und den Wandel von Medienstrukturen auswirkt und die Homogenität dieses Modells stützt; man denke etwa an den am „großen Nachbarn“ ausgerichteten Medienkonsum in Österreich und der Schweiz (vgl. Tunstall 2008: 261ff.). Zusammen mit der Analyse der Medieninhalte (siehe 4) lässt sich mit dem Vergleich der drei Modelle über die Zeit hinweg prüfen, inwiefern die drei Modelle konvergieren oder inwiefern politische wie mediale Strukturen (weiterhin) zu sehr unterschiedlichen Medieninhalten (z.B. im Grad der Personalisierung politischer Akteure) führen. Neben diesem räumlichen Vergleich fragen wir uns, wann und in welchem Maße sich die Medienstrukturen über die Zeit hinweg gewandelt haben und welche Phasen sich dabei unterscheiden lassen. In Anlehnung an Strömbäck (2008) versuchen wir verschiedene Phasen der Medialisierung zu eruieren, zu denen neben gewandelten Medieninhalten und den Logiken im Verhältnis Medien und Politik (politische Logik versus Medienlogik) eben auch die strukturelle Einbettung der Medien, etwa die (organisationelle) Verknüpfung der Medien mit der Politik, zählen.2 Um nun diese verschiedenen postulierten Phasen abdecken zu können, umfasst unsere Analyse Stichproben aus den Jahren 1960, 1970, 1980, 1990, 2005 und 2008. Was die Objekte unserer Analyse betrifft, verstehen wir in einem weiten Sinne Medienstrukturen als Set von Elementen (Akteure wie Medienunternehmen, Verbände sowie spezifische politische und gesellschaftliche Akteure; Subsysteme wie etwa das Pressesystem) und deren Beziehungen und Differenzierungen (Interaktionen; Regeln und Ressourcen etwa bezüglich Medienregulierung oder wettbewerbsbestimmender Merkmale) (Jarren 2003: 20). Bezüglich der Medienstrukturen zielt unser empirisches Erkenntnisinteresse darauf, für jedes Untersuchungsland die wichtigsten Presse-Anbieter und Presse-Angebote im Bereich der öffentlichen politischen Kommunikation zu eruieren und diese vor dem Hintergrund bestimmter Beziehungen zu analysieren. Konkret erfassen wir die dreißig auflagestärksten Pressetitel (Tageszeitungen, Wochenzeitungen und Magazine), die den Kriterien Universalität (vgl. Wilke 2004: 450 f.), regelmäßige und aktualitätsbezogene Erscheinungshäufigkeit (mindestens einmal wöchentlich) sowie ersichtlicher politischer Fokus entsprechen.3 2 Spezifisch für das demokratisch-korporatistische Modell eruieren Brants und van Praag (2006) am Beispiel der Niederlande bestimmte Phasen der Medialisierung, die sie an drei ausgeprägte Logiken der politischen Kommunikation knüpfen. Für die Zeit bis zu den 1970er Jahren stellen sie eine Dominanz der partisan logic, für die Zeit von 1970 bis 1990 eine Dominanz der public logic und für die Zeit nach 1990 eine Dominanz der media logic fest. Grundlage für diese unterschiedlichen Logiken in diesen drei Phasen sind – neben journalistischen Rollenverständnissen und gesamtgesellschaftlichen Differenzierungsprozessen betreffend der Aufweichung der Milieus – spezifische Medienstrukturen, die vor allem auf den Grad der Differenzierung der Medien von politischen Parteien und Milieus, die Bedeutung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und den Grad der Kommerzialisierung rekurrieren. 3 Das Kriterium politischer Fokus ist dahingehend entscheidend, dass damit Presserzeugnisse und Sendungen ausgeschlossen werden (können), die sich mit ‚öffentlichen’ Themen auseinandersetzen, die sich zwar nicht an eine spezifische Gruppe richten, die aber keine oder kaum Bezüge zum politischen System aufweisen (z.B. die
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2.2 Differenzierung der Medienanbieter und des Medienangebots Vor dem Hintergrund der Differenzierungstheorie (vgl. Imhof 2006: 207)4 fokussieren wir zum einen auf die funktionale Differenzierung respektive den Grad der Differenzierung der Medien von ihren herkömmlichen sozialen und politischen Trägern.5 Dabei reflektieren wir sowohl den Grad des „party-press parallelism“ (Seymour-Ure 1974) resp. „media-party parallelism“ (van Kempen 2007) als auch mögliche Entdifferenzierungsprozesse von der Ökonomie (vgl. Hallin 2008: 46ff.). Konkret erfassen wir die Anbieterstruktur, indem wir die Träger respektive Presseanbieter der dreißig auflagestärksten Titel unterteilen in öffentlich-rechtliche Anbieter (z.B. Träger eines Amtsblatts etc.), intermediäre Akteure (Parteien, Kirchen, Genossenschaften etc.) und ökonomische Akteure (Medienorganisationen), die sich (beinahe) vollständig von politischen und intermediären Akteuren gelöst haben. Je nach Differenzierung lassen sich bestimmte Logiken und Publikums-Ausrichtungen erwarten. Grundlage für Einteilung der Anbieterstruktur sind – in absteigender Priorität – das Selbstbild (z.B. Deklaration als „offizielles Organ der XY“), die organisationellen Verknüpfungen (z.B. Chefredaktoren als Parlamentarier) und die Verfasstheit (z.B. Aktiengesellschaft, Genossenschaft, öffentlich-rechtliche Anstalt) einer hinter einem Pressetitel stehenden Organisation. Zum anderen erfassen wir die stratifikatorische Dimension der Differenzierung (cf. Hallin/Mancini 2004, 80f.; Imhof 2006: 197f.), indem wir die Dominanz (oder Macht) der Medienanbieter (Medienkonzentration) und des Presseangebots bzw. bestimmter Pressetypen erfassen. Zu letzterem Punkt unterteilen wir die dreißig auflagestärksten Zeitungen und Magazine in (a) Boulevardmedien, (b) Forums- respektive „mid market“-Medien und (c) Qualitätsmedien. Eindeutige Bestimmungen, welche Zeitungen und Magazine nun „Qualitätsmedien“ sind, fehlen in vielen Studien und Beiträgen, auch wenn diese gerade Qualitätsmedien als Untersuchungsobjekt und Quelle heranziehen (siehe dazu etwa Magin 2009). Auffallend häufig wird gleichsam auf tradiertes Wissen verwiesen, wonach in einer Gesellschaft X allen klar zu sein scheint, welche Zeitung eine Qualitätszeitung sei (vgl. Russ-Mohl 2008: 4064). Dieser Ansatz ist grundsätzlich prüfenswert, denn eine breite Zuschreibung als „Qualitätszeitung“ zehrt von einer stabilen Reputation und bestimmten Leistungserwartungen an die Medienorganisation und ihr publizistisches Angebot (Jarren 2008: 334-335), sowohl von Rezipienten als auch von den Beteiligten der entsprechenden Qualitätszeitung Thematisierung von Übergewicht bei Kindern im Sinne der Beratung oder Lebenshilfe). Die politische Öffentlichkeit hingegen ist, wie Bennet und Entman (2001: 4) argumentieren, derjenige Bereich der Öffentlichkeit, in dem Ideen und Gefühle explizit an Regierungsakteure, Parteien oder Kandidaten für öffentliche Ämter gerichtet, von diesen formuliert oder über sie geäußert werden, denn diese Akteure entscheiden schließlich über die Ergebnisse von gesellschaftlichen Problemen und Konflikten. 4 Für dieses analytische Raster, das die drei zentralen Differenzierungen innerhalb der Öffentlichkeit umfasst, siehe auch die Strukturierung in Produktionsstrukturen (funktional), Segmentierung und Stratifizierung im „Public Sphere Guide“ des Social Science Research Council (http://publicsphere.ssrc.org/guide/). 5 Van Kempen unterscheidet vier Ebenen, auf denen sich der media-party parallelism manifestiere: (1) Medienhalte; (2) Besitzstrukturen der Medien; (3) Einstellungen („affiliations“) der Journalisten, Besitzer und Manager; (4) Struktur der Leserschaft. Wegen des hohen Aufwandes und der schwierigen Datenlage bei einer länderübergreifenden Analyse für die ersten drei Ebenen sei eine Analyse der vierten Ebene (Struktur der Leserschaft) zielführend. Mit unserem Ansatz versuchen wir zwar, mehrere Ebenen zu berücksichtigen. Medieninhalte werden – wie später ausgeführt – mit einer Inhaltsanalyse überprüft. Besitzstrukturen der Medien werden – trotz des hohen Rechercheaufwandes – systematisch berücksichtigt. Daten zu Einstellungen und die Struktur der Leserschaft hingegen wären zwar für die Gegenwart zu bekommen, aber kaum für eine diachrone Analyse. Daher können diese beiden Ebenen höchstens partiell berücksichtigt werden.
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selbst, die dazu entsprechende Strukturen ausbauen oder erhalten (z.B. differenzierte Redaktionsstrukturen). Nur durch diese beständigen Erwartungen ergeben bestimmte „Strukturen“ wie Presseformate und -typen – wie eben die Qualitätspresse – ihren Sinn. Trotzdem ist es gerade für einen diachronen und länderübergreifenden Vergleich zielführend, nicht primär die Einschätzungen von Rezipienten, die außerdem kaum für frühere Zeitpunkte erfasst wurden, zum Maßstab zu nehmen, sondern auf bestimmte „harte“ Indikatoren wie Charakteristika von Organisations- oder Redaktionsstrukturen und/oder bestimmte Medieninhalte Rücksicht zu nehmen. Wir stützen uns daher nicht primär auf bestehende Typologisierungen, die für verschiedene Länder verschiedene Qualitäts-“Standards“ übernehmen (emischer Zugang), sondern basieren unsere Kategorisierung von Boulevard-, Forums- und Qualitätsmedien auf einen etischen Zugriff und Indikatoren. Medien- und/oder Pressetypen lassen sich nach verschiedenen formalen, strukturellen und inhaltlichen Kriterien unterscheiden, etwa der Periodizität (z.B. Tages- versus Wochenpresse), der Verkaufs- oder Vertriebsart (Abonnements- versus Kaufzeitungen), der Selbstdeklaration des Mediums, der regionalen Gebundenheit (Lokal- versus überregionale Presse), der strukturellen Einbettung (z.B. Parteipresse versus politisch ungebundene „Forumspresse“) oder der Nutzung durch bestimmte sozio-ökonomische Gruppen (z.B. „upmarket“- versus „downmarket“-Zeitungen). Auch wenn in der Praxis verschiedene Kriterien zusammen zu bestimmten vorherrschenden Typen „gerinnen“ (z.B. ungebundene, regional verankerte, täglich erscheinende Generalanzeiger in Deutschland, aber ungebundene, überregionale täglich erscheinende „mid-market“-Zeitungen in Großbritannien), müssen für die Eruierung von Qualität zunächst inhaltliche Dimensionen berücksichtigt werden, die dann empirisch freilich mit stärker formalen und/oder strukturellen Kriterien zusammenfallen können. Leitend für die Eruierung von Qualitätsmedien sind für unser Erkenntnisinteresse in der Relevanzdimension die Fragen nach dem Grad der Darstellung von öffentlichen Inhalten und dem Grad der Darstellung von Politik (Kamber/Imhof 2010, i.d.B.; vgl. auch Sparks 2000: 14ff.). Medien, die sich fast ausschließlich mit öffentlich relevanten Fragen auseinandersetzen und über Vorgänge und Strukturen betreffend das politische und ökonomische System berichten, sind systematisch von denjenigen Medien zu unterscheiden, die vorwiegend die private Lebenswelt thematisieren und statt politischer Beiträge überwiegend Sport, Skandale und Unterhaltung anbieten. In der Dimension Universalität gilt die Frage, welche konkreten Wissensvermittlungsstrukturen ein Medium ausdifferenziert hat, um die Komplexität einer modernen Gesellschaft zu erfassen und abzubilden. Dabei wird vorgeschlagen, nicht bloß zwei Pressetypen zu unterscheiden, die an den jeweiligen Polen zu situieren sind (Qualitäts- versus Boulevardmedien). Empirisch betrachtet, lässt sich ein Großteil der Pressetitel weder als Boulevardzeitungen noch als Qualitätszeitungen im Sinne von „Flagschiffen“ der öffentlichen Kommunikation bezeichnen. Es ist daher sinnvoll, von drei Pressetypen auszugehen, was auch eine mittlere Kategorie umfasst, die hier mit dem Begriff „Forum / mid market“ umschrieben wird. Diese Unterscheidung der drei Pressetypen Boulevard, Forum und Qualität wird mittels einer Grobanalyse der Ressortstrukturen und den im Medientitel vorfindbaren Rubriken vorgenommen (vgl. Kamber/Imhof, i.d.B.), auf Grundlage von breiter Archivarbeit durch Sichtung entsprechender Exemplare. Abgegrenzt werden in einem ersten Schritt Boulevardmedien von Forums- und Qualitätsmedien. Letztere zwei zeichnen sich in der Regel erstens durch einen vergleichsweise hohen Anteil an Politik- und Wirtschaftsberichterstattung (Relevanz) und
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zweitens durch differenzierte Ressortstrukturen und entsprechende Rubriken aus (Universalität); damit wird die Komplexität der (Um-)Welt vergleichsweise differenziert gespiegelt. Der Politikteil kennt geographische Unterscheidungen (international und national, etc.), der Wirtschaftsteil befasst sich mit Unternehmen, Handel, Börse und Konjunktur sowie allgemein mit wirtschaftspolitischen Aspekten. Der Kulturteil ist nicht nur ein Ratgeber und Veranstaltungskalender für Kulturanlässe, sondern befasst sich inhaltlich mit Veranstaltungen und Produkten aus den Bereichen Kunst und Unterhaltung, Wissenschaft und Religion. Qualitätsmedien als „Flaggschiffe“ der öffentlichen Kommunikation zeichnen sich – anders als Forums- respektive „mid market“-Zeitungen – ebenso durch Inhalte des klassischen Feuilletons aus und kennen differenzierte Spezialrubriken und Beilagen, die nicht nur dem life style (Mode, Reisen, etc.) gewidmet sind, sondern sich vertieft auch mit strukturellen Fragen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und ihrem Zusammenspiel befassen. Beispiele für Qualitätszeitungen sind die „Frankfurter Allgemein“e in Deutschland, die „Neue Zürcher Zeitung“ in der Schweiz, die „Presse“ in Österreich. der „Guardian“ in Großbritannien und „Le Monde“ in Frankreich. Forums- respektive „mid market“-Zeitungen, welche in der Dimension Relevanz und Universalität zwischen den beiden Polen Boulevard und Qualität liegen, entsprechen in vielen Fällen dem klassischen Generalanzeiger (oder einer „mid market“-Zeitung in Großbritannien). Der gewählte Begriff „Forum/Mid Market“ verweist auf die Tatsache, dass dieser Pressetyp oft mit einer Adressierung der Medien an eine schichtunspezifische Leserschaft („mid market“) und einem ausgeprägten Binnenpluralismus einhergeht (wie bei den Generalanzeigern) (Forum). Dass auch Qualitäts- wie Boulevardmedien im Sinne des Binnenpluralismus auch „Forumsmedien“ sein können, ist unbestritten; für die Begriffswahl entscheidend war jedoch die mittlerweile empirische Häufigkeit dieses Typs wie auch die zu starke Einschränkung durch alternative Begriffe (bspw. regionale Abonnementszeitung), besonders im Ländervergleich. Titel der Forums- respektive „mid-market“-Presse umfassen etwa die „Westdeutsche Allgemeine“, „Sächsische Zeitung“ oder „Kölner Stadt-Anzeiger“, „Kurier“, „Kleine Zeitung“ oder „Tiroler Tageszeitung“ (aber auch der „Standard“, der nach den oben genannten Kriterien keine Qualitätszeitung ist), „Ouest France“, „Daily Mail“ und „Tages-Anzeiger“, „Tribune de Genève“ oder „Thurgauer Zeitung“. Demgegenüber vermischen Boulevardmedien häufig Politik sowie Wirtschaft mit privaten und human-interest-Themen. Dabei wird dem human interest viel Raum und teilweise viel Aufmerksamkeit (Schlagzeile und Frontstory) eingeräumt. Typischerweise sind Rubriken in der Boulevardpresse, was politische Bezüge betrifft, deutlich weniger ausgeprägt. Beispiele für Boulevardtitel sind „Bild“ oder „Express“ in Deutschland, „Blick“ oder „20 Minuten“ in der Schweiz, die „Krone-Zeitung“ oder „Österreich“ in Österreich, der „Daily Mirror“ oder „News of the World“ in Großbritannien und „Le Parisien/ Aujourd’hui“ in Frankreich.
3
Wandel der Medienstrukturen: empirische Befunde
Wie haben sich die Medienstrukturen in den untersuchten Ländern seit den 1960er Jahren verändert? Dazu werden nachfolgend Ergebnisse bezüglich des Wandels der Presseanbieter respektive die „Entbettung“ der Presse von ihren früheren politischen und intermediären Trägern im Pressemarkt generell (3.1) und spezifisch für die Qualitätspresse (3.2) präsen-
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tiert. Vor diesem Hintergrund werden der Wandel des Pressemarkts (3.3) und spezifisch die Bedeutung der Qualitätspresse innerhalb des Pressemarkts nachgezeichnet (3.4). 3.1 Entbettung der Medienanbieter Die Abbildung 1 zeigt die Entwicklung der Anbieterstruktur der dreißig auflagestärksten general interest-Titel mit politischem Fokus in den fünf Untersuchungsländern. Die Analyse zeigt dabei deutlich die „Entbettung“ respektive Differenzierung der Presse von ihren früheren politischen und sozialen Trägergruppen – im Untersuchungszeitraum besonders ausgeprägt in den Ländern des demokratisch-korporatistischen Modells. Während 1960 in der Schweiz und in Österreich noch zirka ein Drittel der berechneten Auflage an intermediäre Akteure gebunden ist (in Deutschland zirka 10%), sinkt dieser Anteil dann besonders 1980 auf zirka 20% (in Deutschland auf 4%) und während der 1990er und 2000er Jahre auf zirka 15% (Österreich) und beinahe gegen Null (Schweiz und Deutschland). Dieser Rückgang hat – rein auf die hinter den Daten stehenden Medienangebote und Medienanbieter bezogen – folgende Gründe: Erstens streifen Medienanbieter im Laufe der Zeit ihre intermediären Bindungen ab und wandeln sich zu rein ökonomischen (Medien-)Organisationen. In der Schweiz beispielsweise deklariert sich das „St. Galler Tagblatt“ noch bis in 1990er Jahre als bürgerlich liberale und der FDP nahestehende Zeitung, während in der Gegenwart diese Bindungen beinahe vollständig gelöst sind, auch mit der finanziellen Beteiligung durch die Medienorganisation der NZZ Gruppe. Zweitens sinkt die Auflage der an intermediäre Träger gebundenen Titel drastisch im Vergleich zu denjenigen Titeln, hinter denen primär ökonomische Akteure stehen. Die Auflagezahl der sozialdemokratischen AZ („Arbeiterzeitung“) in Österreich beispielsweise reduziert sich von 1960 bis 1980 um ein Viertel. Gleichzeitig erfährt die „Kronen-Zeitung“ eine massive Auflagensteigerung von zirka 100’000 Anfang der 1960er Jahre auf knapp 900’000 im Jahre 1980. Drittens werden vormals bedeutende intermediäre Zeitungen und Zeitschriften in diesem Prozess ganz eingestellt: Die AZ in Österreich oder das katholisch-konservative „Vaterland“ in der Schweiz erscheinen ab 1991 nicht mehr.
158 Abbildung 1:
Linards Udris und Jens Lucht Rolle der intermediären Presse-Anbieter im zeitlichen Verlauf
Intermediäre Anbieter 1960–2008 (Anteil an Top 30-Titeln; Auflage). Basis: Dreißig auflagestärkste Zeitungen und Magazine mit politischem Fokus in Österreich (2006 statt 2005), Frankreich, Deutschland, Großbritannien und der Schweiz. Quellen: Österreichische Auflagenkontrolle, Pressehandbuch, Handbuch Österreichs Presse, Werbung, Grafik, Melischek/Seethaler (1999) (Österreich), Répértoire de la presse française, Association pour le côntrole de la diffusion des médias (OJD) (Frankreich), Stamm Leitfaden für Presse und Werbung, Presse- und Medienhandbuch Stamm, IVW Quartalsauflage (Deutschland), The Newspaper press directory and advertisers’ guide (und nachfolgende Bände von Benn’s Brothers, basierend auf Auflagedaten der ABC), Seymour-Ure (1996), www.abc.org.uk, www.newspapersoc.org.uk (Großbritannien), Schweizerischer Zeitungstarif, WEMF Auflagebulletin, Impressum (Schweiz), eigene Berechnungen.
Im zeitlichen und länderübergreifenden Vergleich sind zwei Punkte besonders zu beachten: Erstens: Der Prozess der Differenzierung setzt in den kleineren Ländern des demokratischkorporatistischen Modells deutlich später, dann aber deutlich rascher ein als in Deutschland, das diesbezüglich mehr Gemeinsamkeiten mit dem liberalen Modell aufweist. Erklärungen dafür sind zum einen in der Größe des Marktes zu suchen, die in Deutschland – nach der „Stunde Null“ – rascher ein vielfältiges und finanzstarkes Pressewesen begünstigte als in Österreich. Die Kleinstaatlichkeit behinderte ebenso in der Schweiz die rasche Loslösung der Presse von intermediären Trägern hin zu rein kommerziellen Anbietern. Zum anderen sorgte die in der Schweiz und in Österreich länger anhaltende Versäulung der Gesellschaft für eine relativ prominente Rolle der parteigebundenen Presse. Zweitens: Auf die gegenwärtige Situation bezogen, stellt nicht Deutschland, sondern Österreich in gewisser Weise den ‚Ausreißer’ dar: Besonders in Deutschland, aber auch in der Schweiz sind die Medienanbieter mittlerweile beinahe ausschließlich ökonomischen Anbietern zuzuordnen. Titel wie die „Neue Westfälische“, an der sich die SPD namhaft beteiligt, oder die auf das Tessin beschränkte Sonntagszeitung „Il Matino della domenica“, die von der rechtspopulistischen Lega dei Ticinesi verlegt wird, sind klare Ausnahmen. Der „politische Parallelismus“ der österreichischen Presse hingegen ist vergleichsweise (noch) stärker ausgeprägt, was in unseren Daten das Beispiel der Styria Medien AG, die dem Katholischen Medien-
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verein der Diözese Graz (intermediärer Anbieter) gehört, am besten reflektiert (vgl. auch Seethaler und Melischek 2006). Im Vergleich zum demokratisch-korporatistischen Modell beginnt die Entbettung der Medien im liberalen Modell viel früher. In unseren Daten hat Großbritannien bereits 1960 eine weitgehend ausdifferenzierte Presse, in der ökonomisch orientierte Medienanbieter den Pressemarkt dominieren. 1960 machen der „Reynolds News/Sunday Citizen“ (verbunden mit der Labor Party), der „Daily Herald“ (zu einem grossen Teil im Besitz des Trades Union Council) und die „Yorkshire Evening Pos“t (Selbstdeklaration als Zeitung der Konservativen) bereits weniger als 5% der berechneten (Gesamt-)Auflage der dreißig Titel aus. Bald darauf sinken die Auflagezahlen dieser intermediär gebundenen Titel (wie bspw. auch beim kommunistischen „Morning Star“) und/oder diese Titel werden ganz eingestellt, während Medientitel von primär ökonomischen Anbietern an Bedeutung gewinnen. Damit soll nicht behauptet werden, dass im Pressemarkt Großbritanniens keine Formen des „political parallelism“ auf der Ebene der Rezipienten (van Kempen 2007) oder auf der Ebene der Inhalte existierten. Auf einer strukturellen Ebene jedoch sind Beziehungen zu intermediären Trägern beinahe verschwunden. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass Medienanbieter (und ihre Titel) weder in bestimmte soziale Milieus eingebettet sind noch Parteipositionen konsequent vertreten, sondern die politischen Seiten wechseln, wenn dies aus „kommerziellen Gründen“ opportun erscheint (Kuhn 2007: 217f.), wie das berühmte Beispiel der Sun in den 1990er Jahren mit ihrer plötzlichen Unterstützung der Kampagne Tony Blairs zeigt. Das polarisiert-pluralistische Modell schließlich, wie es am Fall Frankreich untersucht wurde, bietet ein ambivalenteres Bild. Generell zeigt sich auch in der französischen Presse, nicht zuletzt wegen der abnehmenden Polarisierung und Konfliktintensität zwischen politischen und sozialen Milieus (Kuhn 2007: 249), eine deutliche Entbettung. Auf die Daten bezogen, zeigt sich das an den sinkenden Auflagezahlen von intermediär gebundenen Titeln („L’Humanité“, das Organ der Kommunistischen Partei, oder das christlich-konservative „La Croix“), während die Auflagezahlen von (neuen) Titeln von ökonomisch orientierten Medienanbietern vergleichsweise zunehmen. In jüngster Zeit kann jedoch auch eine (möglicherweise bloß temporäre?) Entdifferenzierung von politischen Akteuren beobachtet werden. Dies ist vor allem auf die politische Involvierung von Serge Dassault zurückzuführen, der nicht nur die Medienorganisation SOC Presse (Herausgeber u.a. des „Figaro“) kontrolliert, sondern auch als Bürgermeister in Corbeil-Essonnes und als Senator für die bürgerliche UMP fungiert. Diese politische Involvierung weicht jedoch in unserer Interpretation von einer stabilen ‚Einbettung’ der Medien in einem sozialen Milieu insofern ab, als sie vor allem fast exklusiv auf den Hauptbesitzer gestützt ist, welcher zudem eher die Rolle eines Geschäftsmanns und Medientycoons spielt als die des homme politique. Entsprechend wurden die Titel der SOC Presse als ökonomisch codiert. Im Folgenden soll nun hinsichtlich der strukturellen Grundlagen für den Typ der Qualitätspresse die Differenzierung respektive Entbettung der Medienanbieter spezifisch für die Qualitätspresse betrachtet werden.
3.2 Entbettung der Qualitätspresse? Der Definition der Qualitätszeitung folgend, richtet sich eine Qualitätszeitung kaum an die ökonomische Logik der Massenproduktion aus, indem sie vor allem Fragen des human
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interest in den Vordergrund rücken würde, sondern bildet die Welt in ihrer Komplexität ab und lässt dem Politischen eine hohe Relevanz zukommen. Strukturell müsste sich dies beispielsweise so zeigen, dass Qualitätszeitungen vor allem denjenigen Organisationen angehören, in denen die kommerzielle Logik kaum ausgeprägt ist. Welche Typen von Organisationen geraten damit in den Fokus? In einer Annahme wird die Qualität als hohe Bedeutung der „politischen Logik“ interpretiert und damit erklärt, dass die Qualitätspresse öfter an intermediäre und damit kaum kommerziell orientierte Träger (vor allem Parteien, Gewerkschaften etc.) gebunden ist als die Forums- und die Boulevardpresse. Unsere Auswertungen zum Zusammenhang von Anbindung an intermediäre Anbieter und Pressetyp ergeben dabei folgendes: Alle Untersuchungsländer und –zeitpunkte zusammengenommen, korrespondiert die ‚Einbettung’ der Medien – im Sinne, dass sie einem intermediären Träger gehören oder sich einem bestimmten Milieu zugehörig fühlen – nicht mit dem Typ der Qualitätspresse. Empirisch betrachtet, ist die Kombination intermediäre Träger und Forumszeitungen deutlich häufiger. Gerade in Österreich und der Schweiz haben sich die (regional gebundenen) Forums- oder Midmarkettitel (als Typ zwischen der Qualitäts- und der Boulevardpresse) lange Zeit als Sprachrohr eines bestimmten Milieus in enger Anlehnung an eine Partei verstanden. Auch lässt sich (immer wieder) eine Anbindung von Boulevardzeitungen an intermediäre Träger beobachten, von britischen Boulevardzeitungen als Sprachrohr der Gewerkschaften um 1960 bis zur Boulevardzeitung der rechtspopulistischen Lega dei Ticinesi in der Schweiz um 2005. Im zeitlichen Verlauf zeigt sich, dass eine größere Zahl an Qualitätstiteln bereits um 1960 stärker von politischen und sozialen Trägergruppen gelöst ist als bei den Typen Forums- und Boulevardpresse (die einzige Ausnahme betrifft die NZZ in der Schweiz), während sich die Forumspresse erst im Laufe der Zeit, dann aber rasant entbettet. Gerade für diesen Pressetyp sind daher die stärksten Veränderungen auch auf inhaltlicher Ebene zu erwarten. Insofern könnte auch gerade die Loslösung respektive Autonomie von intermediären Trägern wie politischen Parteien (und damit von Partikularinteressen) als Voraussetzung für die Qualitätspresse interpretiert werden. Freilich muss dabei der Grad der Ausrichtung an ökonomische Logiken berücksichtigt werden. In der Forschung zur „Struktur des journalistischen Feldes“ beispielsweise wird die Qualitätspresse am „intellektuellen Pol“ verortet als der Typ, der über hohes symbolisches, aber geringes ökonomisches Kapital verfüge (vgl. Hanitzsch 2007: 245-253). Hier wird die Qualitätsorientierung weniger auf eine Orientierung an (partei-)politischen Logiken, sondern generell auf eine Orientierung am Gemeinwohl zurückgeführt (vgl. dazu auch Brants/van Praag 2006). Welche (privatwirtschaftlich organisierten) Medienanbieter dann eher „gemeinwohl“- als renditeorientiert handeln, muss über weitere Indikatoren zu klären sein. Um mögliche Entdifferenzierungsprozesse von der Ökonomie genauer zu erfassen, könnte man eine mögliche Kommerzialisierung anhand der Zugehörigkeit eines Medientitels zu einer Unternehmensgruppe operationalisieren. Gerade wenn eine Unternehmensgruppe auch in medienfremden Branchen investiert, könnte dies als Zeichen einer hohen Rendite- statt Gemeinwohlorientierung interpretiert werden. Aber auch wenn man diese Kriterien zum Maßstab nimmt, ergeben sich in unseren Daten keine abschließenden Befunde. In der Mehrzahl der Fälle gehör(t)en die untersuchten Qualitätszeitungen – auch zu den einzelnen untersuchten Zeitpunkten – zwar keiner (kommerzialisierten) Unternehmensgruppe an (NZZ, „Frankfurter Allgemeine“, „Le Monde“, „Guardian“, bis vor kurzem
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auch die „Süddeutsche Zeitung“). Gegenbeispiele für Qualitätszeitungen, die einer (kommerzialisierten) Medienorganisation mit teilweise „anonymem“ Kapital von Finanzinvestoren angehör(t)en, betreffen die „Welt“, den „Independent“, den „Daily Telegraph“, den „Observer“ (der in der Zwischenzeit einer Ölfirma gehörte) oder „Le Figaro“. Damit ist das Kriterium „Zugehörigkeit zu einer Unternehmensgruppe“ nicht zufriedenstellend, um die Existenz oder hohe Verbreitung eines Qualitätstitels zu erklären. Weiterführend wären daher Analysen zu den Finanzierungsgrundlagen, die pro (Qualitäts-)Titel die Werbeabhängigkeit erfassen und/oder mögliche Ressourcenverteilungen (zugunsten oder zulasten der Qualitätspresse) innerhalb einer Medienorganisation aufdecken. Dass diese Daten entweder gar nicht erhältlich oder aber sehr teuer sind, erschwert natürlich ein solches Vorhaben. Außerdem ist bei der Rede vom wachsenden Kommerzialisierungsdruck zu beachten: Die jüngsten (finanziellen) Schwierigkeiten der Qualitätspresse (siehe etwa Russ-Mohl 2009, i.d.B.) betreffen ebenso die anderen Pressetypen (v.a. die Forumszeitungen) und somit den Printjournalismus generell. Sie haben damit strukturell auch andere Ursachen (z.B. Abwanderung der Werbeinserate in den Online-Bereich) als die zunehmende Differenzierung der Medien von ihren früheren Trägergruppen. Zwischenfazit: Die Ergebnisse zusammenfassend, können wir bei allen Pressetypen eine zunehmende Differenzierung von ihren früheren politischen und sozialen Trägern feststellen, bei Qualitätsmedien gar früher als bei Forumsmedien. Gleichzeitig findet bezüglich des ökonomischen Systems eine Entdifferenzierung statt (Habermas 2008: 184), generell hoch bei Boulevardmedien und prozesshaft gesehen vor allem bei der Forumspresse, weniger bei der Qualitätspresse. Die Kommerzialisierung zeigt sich in einer insgesamt wachsenden Pressekonzentration (Ausdruck von Strategien von Medienorganisationen, in komplexen Märkten Unsicherheit zu reduzieren) und in einem wachsenden oder weiterhin hohen Anteil an Boulevardmedien (besonders in Berücksichtigung des Fernsehens), die stärker noch an ein möglichst breites Publikum ausgerichtet sind, um Einnahmen zu generieren. Dieser Prozess erklärt am besten die Entwicklungen innerhalb des demokratischkorporatistischen und – teilweise – des liberalen Modells. Besonders in den Kleinstaaten im demokratisch-korporatistischen Modell zeigen sich diese Veränderungen später, aber vergleichsweise rasch, vor allem im Pressebereich. Deutschland weist diesbezüglich mehr Ähnlichkeiten auf mit dem liberalen Modell (frühe und danach weniger rasche Veränderungen im Pressebereich, fundamentalere Veränderungen im Fernsehbereich). Frankreich als Vertreter des polarisiert-pluralistischen Modells ist der komplexeste Fall. Auf der einen Seite ähneln die Entwicklungen im Pressebereich denjenigen in den beiden anderen Modellen. Auf der anderen Seite sind sie stärker herausgefordert durch (jüngere) Instrumentalisierungsversuche durch politische Akteure. Zusammengenommen, entspricht dies dem Befund von Hallin/Mancini (2004: 90ff.), die Frankreich als „Grenzfall“ („borderline case“) des polarisiert-pluralistischen Modells definieren. Wie hat sich vor dem Hintergrund des Wandels der Medien- respektive Presseanbieter das Angebot der Presse verändert (3.3), und welche Bedeutung nimmt die Qualitätspresse innerhalb des Pressesystems (noch) ein (3.4)? 3.3 Wandel des Pressemarktes Wenn man zunächst die Entwicklung der Presse in ihrer Rolle als politikvermittelnde und meinungsbildende Instanz allgemein analysiert, zeigt die Gesamtauflage der dreißig größ-
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ten Pressetitel mit (überwiegend) politischem Inhalt in den Untersuchungsländern über die Zeit eine unterschiedliche Entwicklung. Während in den beiden Kleinstaaten Schweiz und Österreich die Auflagenzahl von 1960 bis 2008 steigt, stagniert sie in Frankreich auf – im Verhältnis zu den anderen beiden Großstaaten Deutschland und Großbritannien – geringem Niveau. Die Auflage der dreißig größten Pressetitel in Deutschland wuchs in der alten Bundesrepublik zwischen 1960 und 1980 kontinuierlich an und erfuhr im Rahmen der Wiedervereinigung durch die Eingliederung bzw. teilweise Neugründung von (DDR-)Pressetiteln eine weitere Steigerung, sank aber seitdem kontinuierlich ab und hat heute fast exakt das gleiche Auflageniveau wie in der alten Bundesrepublik 1970. Bemerkenswert ist der deutliche Rückgang der Auflagenzahl in Großbritannien: Hier hat sich die Gesamtauflage der dreißig größten politisch relevanten Pressetitel von 1960 bis 2008 mehr als halbiert, ist aber immer noch der höchste gemessene Wert der Vergleichsländer. Diese Zahlen könnten bedeuten, dass sich der Zeitungsmarkt in den Ländern, in denen die Auflagezahl gesunken ist, diversifiziert hat und so weniger Auflage auf die „Top 30“-Titel vereint wird. Vor dem Hintergrund anderer Forschungen, die zeigen, dass die Gesamtauflagezahl aller Printtitel in Deutschland, aber auch Großbritannien gesunken ist (z. B. Schütz 2007: 561; Kuhn 2007: 7-10), vor dem Hintergrund sinkender Zeitungsnutzung (vgl. Lucht 2006: 141) und – wie noch zu zeigen sein wird – deutlicher ökonomischer Konzentrationstendenzen im Zeitungsmarkt ist aber davon auszugehen, dass diese Analyseeinheit ein guter Indikator für die Entwicklung auf dem politisch relevanten Pressesektor darstellt. Die Auflage der relevanten Pressetitel in Frankreich verbleibt auf einem im Vergleich zu Großbritannien und Deutschland sehr geringen Niveau. Dies scheint die von Hallin und Mancini aufgestellte These zu bestätigen, dass wir es hier mit einer Arena zu tun haben, in der das Medium Zeitung tendenziell eher von Eliten genutzt wird und vor allem das Fernsehen eine große Rolle in der Vermittlung von politischen Inhalten spielt (s.u.). Die beiden Kleinstaaten Schweiz und Österreich weisen eine vergleichsweise hohe Auflage bei den größten dreißig Pressetiteln aus, die im Untersuchungszeitraum leicht angestiegen ist. Setzt man die gemessene Auflage mit der Bevölkerungszahl in Beziehung, ergibt sich in diesen Ländern der höchste Koeffizient. Dies korreliert aber nicht per se mit der Zeitungsnutzung, sondern verweist auf einem im Vergleich deutlich kleineren Zeitungsmarkt, der weniger diversifiziert ist als die Märkte der anderen Vergleichsländer. Hier erreicht die Messung der wichtigsten dreißig Titel die meisten relevanten Zeitungen des Zeitungsmarktes. Sind die Entwicklungen in Bezug auf die Auflagezahlen nicht einheitlich, zeigen sich in Bezug auf andere, für die Rolle der Qualitätszeitungen wichtige Faktoren in den verschiedenen Ländern ähnliche Entwicklungen. Zunächst ist festzuhalten, dass die untersuchten Zeitungssysteme im Laufe der letzten Jahrzehnte fast vollständig „entbettet“ worden sind, d. h., dass intermediäre Träger im Zeitungsmarkt praktisch keine Rolle mehr spielen und ausschließlich ökonomische Unternehmen Zeitungen produzieren. Eine Ausnahme stellt hier Österreich dar, wo die von der katholischen Kirche kontrollierte Styria Medien AG mit einem Gesamtmarktanteil von ca. 15% eine gewichtige Rolle spielt (vgl. ausführlich 3.1). Diese Kommerzialisierung des Zeitungsmarktes geht mit ökonomischen Konzentrationstendenzen einher, d. h. dass immer weniger Medienunternehmen den für die politischen Meinungs- und Willensbildung relevanten Pressemarkt dominieren. Außer in Deutschland, wo dieser Konzentrationswert leicht zurückging, aber über 60% erreichte, stieg die markt-
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beherrschende Stellung der 5 größten Medienunternehmen überall an und erreicht in allen Vergleichsländern 2005 Werte von über 80% (für Frankreich lagen keine Daten vor).6 Diese Tendenzen setzen sich weiter fort, wie z. B. in der Schweiz die 2009 angekündigte und viel beachtete Übernahme des Westschweizer Medienunternehmens Edipresse durch die Zürcher Tamedia-Gruppe exemplarisch zeigt. Als Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass wir es in den Vergleichsländern mit einem Pressemarkt zu tun haben, der sich in den Großstaaten durch sinkende Auflagezahlen, durch eine deutliche Kommerzialisierung des Medienmarktes und durch Konzentrationstendenzen auf diesen Märkten auszeichnet. 3.4 Rolle der Qualitätsmedien im gewandelten Pressemarkt Wie ist die Rolle der Qualitätspresse, der „Leuchttürme“ der öffentlichen Kommunikation, im gewandelten Pressemarkt? Verlieren oder gewinnen die Qualitätstitel an Bedeutung? Im synchronen Vergleich 2008 zeigt sich, dass Großbritannien den größten Anteil von Qualitätspresse am Pressemarkt aufweist, gefolgt von Deutschland und Frankreich (Abbildung 2). Gemessen an der Größe der Länder erreicht die Qualitätspresse in Großbritannien die meisten Stimmbürger, in Österreich und Frankreich (in Frankreich aufgrund der geringen Größe des Pressemarktes) werden die wenigsten Stimmbürger von der Qualitätspresse erreicht.
6 Um das Sample kohärent zu halten, wurden bei der Addierung der Auflagezahlen bezüglich eines Medienanbieters jeweils nur diejenigen Titel berücksichtigt, die zu den insgesamt dreißig auflagestärksten Titeln gehören. Selbstredend kann eine solche Analyse nur annäherungsweise Aussagen treffen zur ‚Meinungsmacht’, weil erstens nicht alle Titel oder andere Mediengattungs-Produkte (z.B. Radiosendungen) eines Medienanbieters erfasst werden und zweitens mit diesen Daten die Probleme der komplementären Nutzung der Medien und der Überschneidung der Leserschaft nicht berücksichtigt werden (vgl. dazu Kepplinger 2007). Zu berücksichtigen ist außerdem im Fall Deutschland, dass sich mit der Wiedervereinigung 1990, auf das Gesamtgebiet der Bundesrepublik bezogen, zunächst die Zahl der Tageszeitungen und der Verlage/Herausgeber erhöhte (Wilke 1999: 20). Mit der Kooperation bzw. der Übernahme von Verlagen in Ostdeutschland nimmt die Pressekonzentration dann wieder zu.
164 Abbildung 2:
Linards Udris und Jens Lucht Wandel des Medienangebots: Boulevard-, Forums- und Qualitätspresse im Vergleich
Basis: Dreißig auflagestärkste Zeitungen und Magazine mit politischem Fokus in Österreich (2006 statt 2005), Frankreich, Deutschland, Großbritannien und der Schweiz. Quellen: Österreichische Auflagenkontrolle, Pressehandbuch, Handbuch Österreichs Presse, Werbung, Grafik, Melischek/Seethaler (1999) (Österreich), Répértoire de la presse française, Association pour le côntrole de la diffusion des médias (OJD) (Frankreich), Stamm Leitfaden für Presse und Werbung, Presse- und Medienhandbuch Stamm, IVW Quartalsauflage (Deutschland), The Newspaper press directory and advertisers’ guide (und nachfolgende Bände von Benn’s Brothers, basierend auf Auflagedaten der ABC), Seymour-Ure (1996), www.abc.org.uk, www.newspapersoc.org.uk (Großbritannien), Schweizerischer Zeitungstarif, WEMF Auflagebulletin, Impressum (Schweiz), eigene Berechnungen.
Im diachronen Vergleich zeigt sich dagegen, dass die Qualitätszeitungen in Frankreich, Österreich und der Schweiz mehr Stimmbürger als noch 1960 erreichen. In Deutschland erreicht die Qualitätspresse 2008 zwar mehr Personen als noch 1960, aber deutlich weniger als in den „goldenen Jahren“ um 1970 und 1980. Diese Ergebnisse sind vor dem Hintergrund des generellen Rückgangs des Pressesektors in den Großstaaten (s. o.) zu bewerten: Bleibt auf der einen Seite der Anteil von Qualitätspresse relativ stabil, wie in Großbritannien oder Deutschland, sinkt auf der anderen Seite die absolute Auflage der Qualitätszeitungen, da der „Gesamtkuchen“ (Pressemarkt) schrumpft. Die hauptsächliche Verschiebung findet relativ gesehen aber nicht in Bezug auf die Qualitätspresse statt, sondern hauptsächlich zwischen Forumstiteln und Boulevardtiteln. So hat das Forum (die „klassische“ regional gebundene Tageszeitung) in Großbritannien, Schweiz und Österreich teilweise dramatisch an Bedeutung zugunsten des Boulevards verloren, Ausdruck einer ständig wachsenden Polarisierung zwischen „Prestige- und Massenzeitungen“ (Curran 2000: 128). In Frankreich und Deutschland bleibt das Forum (noch) einigermaßen stabil. Vor allem in den Kleinstaaten Schweiz und in Österreich lässt sich eine stark wachsende Boulevardisierung feststellen, hier auch zuungunsten der Qualitäts-
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presse (vgl. Abbildung 2), während der Anteil Boulevardmedien in Deutschland und Großbritannien trotz leichtem Rückgang auf einem vergleichsweise hohen Niveau verbleibt. Diese insgesamt hohe Boulevardisierung steht oftmals im Zusammenhang mit der Pressekonzentration, einem weiteren Indikator der Kommerzialisierung der Presse. Allerdings zeigen sich im diachronen Verlauf unterschiedliche Entwicklungsdynamiken: Während die britische und deutsche Presse bereits 1960 sowohl „entbetteter“ war (vgl. 3.1) als auch mehrere auflagenstarke Boulevardtitel kannte, waren die kleinen, überschaubaren Pressemärkte in der Schweiz und in Österreich mehrheitlich von Zeitungen geprägt, die inhaltlich weder das Niveau von Qualitätszeitungen erreichten, noch sich mit boulevardhaften Elementen an eine möglichst breite Leserschaft richteten. Im Zuge der Erosion der Parteipresse kommt es in der Schweiz und in Österreich zu einer deutlichen Zunahme von Boulevardzeitungen, in Österreich dabei früher als in der Schweiz. Diese Boulevardzeitungen scheinen einerseits die Leserschaft der alten Parteiblätter übernommen und andererseits neue Bevölkerungsgruppen erschlossen zu haben. In Deutschland hingegen bietet der bereits früher kommerzialisierte Pressemarkt wenig zusätzliche Entfaltungschancen für Boulevardzeitungen (wohl aber für Boulevardsendungen im Fernsehbereich, vgl. Lucht 2009) – in Großbritannien jedoch schon. Gerade in Deutschland aber spielen die regionalen und überregionalen Forumszeitungen eine weiterhin wichtige Rolle, wenn auch die allerjüngsten Entwicklungen (Bsp. Auflageverluste) problematisch sind. Wie lassen sich die geschilderten Entwicklungen erklären? Bezüglich der drei Großstaaten könnte man – mit einigen Einschränkungen – dem Modell von Hallin/Mancini folgen: Großbritannien als Vertreter der liberalen Kategorie zeichnet sich dadurch aus, dass dort der gesamte politisch relevante Zeitungsmarkt abnimmt (bei einem hohen Anteil von Boulevardtiteln) und auch die Qualitätssendungen im Fernsehen in den letzten zwanzig Jahren stark abnehmen. Dies könnte man als Ausdruck starker Kommerzialisierung interpretieren, die Hallin/Mancini für Länder dieser Kategorie prognostizieren. Auch für das polarisiert-pluralistische Modell, als dessen Vertreter hier Frankreich untersucht wurde, scheinen einige Annahmen zuzutreffen: Der Zeitungsbereich wird hier vor allem als Elitemedium (im Vergleich zu anderen Ländern wenig) genutzt, bei gleichzeitiger starker Nutzung des Fernsehens. Hier ist der Zeitungsbereich insgesamt auf niedrigem Niveau stabiler als in Deutschland und Großbritannien, gleichzeitig ist auch der Anteil von Qualitätsmedien relativ stabil. Innerhalb des demokratisch-korporatistischen Modells, als dessen Vertreter hier Deutschland, Österreich und die Schweiz untersucht wurden, ergeben sich aber signifikante Unterschiede, die über das Hallin/Mancini-Modell nicht erklärt werden können. Für Deutschland könnte man noch annehmen, dass der stabile Anteil von Qualitäts- und Forumsmedien im Pressebereich in das Modell passt. Die deutlichen Unterschiede hinsichtlich Boulevardisierung und der Bedeutung der Qualitätspresse, die unterschiedliche Entwicklung des Pressebereichs insgesamt und der unterschiedlichen Rolle anderer Medien, wie z. B. des Fernsehens in diesen Ländern, lassen sich so nicht erklären. Es ist daher angebracht von einem multifaktoriellen Erklärungsmodell auszugehen, das neben den Faktoren, die Hallin und Mancini ausgearbeitet haben, weitere Elemente wie z. B. das Bildungsniveau einer Gesellschaft, historische Zäsuren, kulturelle Traditionen, das Verkaufs- und Distributionssystem oder die Größe des Landes und damit auch des Medienmarktes berücksichtigt (vgl. auch Russ-Mohl 2008: 4064). Fazit: Von einem generellen Bedeutungsverlust der Qualitätszeitungen im Pressemarkt kann nicht die Rede sein. In Deutschland und Großbritannien haben die Qualitätszeitungen
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sogar leicht steigende Anteile im für die Politikvermittlung relevanten Pressesektor. In Frankreich haben wir eine Abnahme des Anteils der Qualitätszeitungen von 2005 zu 2008 zu verzeichnen, allerdings ist der Anteil 2008 deutlich höher als in den 1960er bis 1980er Jahren. Die Entwicklungen in diesen Ländern sind aber vor dem Hintergrund eines generellen Bedeutungsverlustes des Pressemarktes zu sehen. Die Entwicklung in den Kleinstaaten Österreich und der Schweiz verläuft anders. Hier verlieren die Qualitätsmedien anteilsmäßig an Gewicht (vor allem in der Schweiz, die diachron einen deutlichen größeren Anteil an Qualitätsmedien als Österreich aufweist), bei gleichzeitigem Anwachsen des Boulevardsektors. Durch das Anwachsen des Boulevardbereiches kommt es in beiden Ländern zu einer Vergrößerung des relevanten Pressemarktes, das heisst: Hier sind die absoluten Auflagezahlen der Qualitätstitel zwar stabil, verlieren aber an relativer Größe. Wirft man einen Blick auf die jüngsten Entwicklungen des Werbemarktes, scheint es verfrüht, eine generelle Entwarnung für die „Leuchttürme der öffentlichen Kommunikation“ zu geben. Generell haben alle Zeitungen und hier vor allem die Tageszeitungen mit einem Wegbrechen der Werbekunden zu kämpfen, die in den Internetbereich abwandern (vor allem Inserate). Dieses Wegbrechen betrifft im Moment noch hauptsächlich die Forumszeitungen. Auch Refinanzierungsmöglichkeiten über online-Angebote dieser Zeitungen zeigen nicht die erhoffte Refinanzierungsquote (vgl. Russ-Mohl in diesem Band). Von daher werden sich die gezeigten Tendenzen eines unter Druck geratenen Pressemarktes insgesamt weiter verschärfen und damit natürlich auch die Qualitätszeitungen erfassen bzw. noch mehr unter Druck setzen.
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Wandel der Medienstrukturen gleich Wandel der Medieninhalte?
Die entscheidende Frage, die sich vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Strukturveränderungen des Mediensystems ergibt, ist: Wie wirken sich diese Veränderungen auf die Medieninhalte aus? Und: Wirken sie sich überhaupt aus? 4.1 Annahmen Auf einer empirisch nicht immer fundierten Grundlage wird beispielsweise oftmals angenommen, dass die sich wandelnden Medienstrukturen Auswirkungen auf die Inhalte hätten (siehe grundlegend Picard 2008); so sei die öffentliche politische Kommunikation – nicht nur in der Qualitätspresse, sondern insgesamt – verstärkt durch veränderte Selektions- und Interpretationslogiken der Medien geprägt. Diese Veränderungen umfassten beispielsweise eine Abkehr von Inhalten von öffentlichem und politischem Interesse hin zu Themen von privater Relevanz (Sparks 2000; Blöbaum 2008), ein zunehmendes Auftreten von Skandalisierungen und Strategien der Personalisierung sowie neue Resonanzchancen für diejenigen Akteure, die sich den neuen Medienlogiken anpassten (Kepplinger 1998; Imhof 2003). Jedoch sollte der Zusammenhang von Struktur und Kultur einer genauen Prüfung unterzogen werden (vgl. die grundsätzlichen Beiträge in Altmeppen et al. 2007): Führt eine Konzentration der Besitzverhältnisse im Medienbereich tatsächlich zu einer veränderten Berichterstattung, zum Beispiel zu einem „Konzernjournalismus“? Seltener eingenommen wird zudem eine Perspektive, die auf die Wechselwirkungen zwischen einzelnen Medienorganisationen und den einzelnen Medientiteln innerhalb eines
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Mediensystems fokussiert. Dass Boulevardzeitungen „boulevardesker“ sind als Qualitätszeitungen, ist evident und Teil der Definition. Prüfenswert sind vielmehr Veränderungen innerhalb eines Medientyps. Führt beispielsweise die Dominanz bestimmter Mediengattungen, also das Aufkommen von Boulevardzeitungen, zu spill-over-Effekten von der Boulevard- hin zur Qualitätspresse (Esser 1999)? Oder definieren sich die Qualitätszeitungen nun in besonderem Maße als Nischenprodukt (vgl. Rensdorf 2009, i.d.B.), das sich gerade durch einen besonders hohen Grad an Qualität auszeichnen muss, während vor allem die Forumszeitungen sich den Boulevardmedien anzupassen versuchen? Daneben muss die Frage gestellt werden, in welchem Bereich allfällige Anpassungen vorgenommen werden: So könnten sich spill-over-Effekte insgesamt oder nur in bestimmten Bereichen der Qualitätspresse zeigen (z.B. Zunahme der Qualität durch Ausbau der Feuilleton-Rubrik, gleichzeitig Abnahme der Qualität durch Herausgabe von soft news-Beilagen und Rubriken). Um diese Fragen und ganz generell das Verhältnis von Medienstrukturen und Medieninhalten zu beleuchten, werden wir die folgenden Hypothesen, die wir aus der Kommerzialisierung der Medienstrukturen ableiten, einer inhaltsanalytischen Überprüfung zuführen:
Bedeutungsverlust der politischen Berichterstattung respektive Verdrängung der politischen Berichterstattung durch human-interest-Berichterstattung (z.B. Prominenz, Verbrechen, Lebenshilfe etc.) Mehr Enthüllungen und Skandale in der öffentlichen Kommunikation a) in einer diachronen Perspektive und b) in solchen Mediensystemen, in denen vermehrt Boulevardblätter und TV-Programme vorkommen, die durch soft news oder eine Mischung aus soft und hard news geprägt sind. Größere Personalisierung und Privatisierung von politischen Akteuren a) in einer diachronen Perspektive und b) in solchen Mediensystemen, in denen vermehrt Boulevardblätter und TV-Programme vorkommen, die durch soft news oder eine Mischung aus soft und hard news geprägt sind.
4.2 Wandel der Medieninhalte: empirische Befunde Um die Hypothesen zu den Auswirkungen des Wandels der Medienstrukturen beantworten zu können, wurde eine Inhaltsanalyse durchgeführt. Diese umfasst Stichproben respektive je eine künstliche Woche in den Jahren 1960, 1980 und 2005 in den Qualitätszeitungen „Le Monde“, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Neue Zürcher Zeitung“, „Die Presse“ und „Guardian“.7 Erfasst wurden im Stammteil der Zeitungen8 unter anderem die Struktur von Rubriken, der Umfang der Berichterstattung über Politik, die Vielfalt und Resonanzchancen von Themen und Akteuren, die Kontextualisierung von Ereignissen, das Auftreten von Routineframes wie Skandalisierung, Personalisierung, Konfliktstilisierung oder „horserace“-Frames. Nachfolgend sollen ausgewählte Ergebnisse (a) zum Umfang der politischen Berichterstattung, (b) zur Skandalisierung und (c) zur Personalisierung präsentiert werden (vgl. Tabelle 1).
7 Im Projekt werden zusätzlich pro Land je eine Forums- und eine Boulevardzeitung erfasst, um die Effekte spezifisch für unterschiedliche Medientypen untersuchen zu können. 8 Konkret wurden nicht die Vollausgaben einer Zeitung erfasst, sondern die Standardrubriken ohne (Sonder-)Beilagen. Von den Standardrubriken wurden Regionen-/Lokalrubriken und Sportrubriken ebenfalls nicht erfasst.
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(a) Umfang der politischen Berichterstattung Diese Analyse ergibt – in absoluten Zahlen gemessen – eine deutliche Zunahme der politischen Berichterstattung in allen fünf Ländern, besonders ausgeprägt zwischen 1960 und 1980, etwas schwächer zwischen 1980 und 2005. 2005 finden sich in einer Qualitätszeitungen durchschnittlich mehr als doppelt so viele Beiträge mit eindeutigem politischen Bezug als noch 1960. Da die Zeitungen in ihrem Gesamtumfang über die Zeit ebenfalls zunehmen (die wachsende Zahl der Beilagen noch gar nicht mitberücksichtigt), kann dieser Befund eines wachsenden politischen Informationsangebots nicht überraschen. Im Vergleich mit anderen Themenfeldern nimmt die Bedeutung der politischen Berichterstattung in allen Qualitätszeitungen zwar etwas ab: So weisen in der „Frankfurter Allgemeinen“ 1960 noch 69 Prozent der erfassten Beiträge einen eindeutigen politischen Bezug auf, während dieser Wert 2005 nur noch 46 Prozent beträgt. Allerdings ist dieser vermeintliche relative Bedeutungsverlust der politischen Berichterstattung nicht auf eine Zunahme der human-interestBerichterstattung zurückführen. Zumindest also auf der Ebene der Themengewichtung kann die erste Hypothese in dieser Form nicht bestätigt werden. Stattdessen sorgt die stark zunehmende Wirtschaftsberichterstattung (Börsen- und Unternehmensberichterstattung) für diese Verschiebungen, ausgeprägt in den Ländern des demokratisch-korporatistischen Modells. Dies scheint zum einen für die wachsende Bedeutung des neoliberalen Gesellschaftsmodells zu sprechen, welches spätestens in den 1990er Jahren das sozialmarktwirtschaftliche Gesellschaftsmodell ablöst (Eisenegger/Vonwil 2004). In dieser Perspektive reflektiert die Qualitätspresse – auch die Presse generell, wie weitere Auswertungen zeigen – vor allem den sozialen Wandel.9
9 Inwiefern sich die Unternehmensberichterstattung selbst im Zuge des neuen Strukturwandels der Öffentlichkeit verändert, konnte in diesem Projekt nicht untersucht werden. Andere Studien weisen aber darauf hin, dass die Wirtschaftsberichterstattung immer stärker durch Effekte der Personalisierung (u.a. Fokussierung auf CEOs) und der Skandalisierung geprägt ist (Schranz 2007).
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Tabelle 1: Ausgewählte Ergebnisse zum Wandel von Medieninhalten in der Qualitätspresse10 Indikator / Zeitung Durchschnittliche Anzahl Beiträge mit eindeutigem politischen Bezug pro Ausgabe (in Klammern Anteil an erfassten Beiträgen pro Ausgabe) Le Monde FAZ NZZ Presse Guardian Skandale und Skandalisierung (in Klammern aktive Skandalisierung) Le Monde FAZ NZZ Presse Guardian Personalisierung (in Klammern rollenferne Personalisierung) Le Monde FAZ NZZ Presse Guardian
1960
1980
2005
24 (77%) 16 (69%) 6 (58%) 12 (54%) 10 (54%)
35 (66%) 33 (64%) 19 (61%) 17 (66%) 24 (71%)
34 (64%) 39 (46%) 23 (53%) 28 (64%) 31 (42%)
2% (2%) 4% (2%) 4% (0%) 4% (4%) 4% (0%)
3% (0%) 0% (0%) 4% (0%) 0% (0%) 2% (2%)
10% (0%) 2% (1%) 8% (3%) 4% (0%) 21% (8%)
16% (6%) 9% (3%) 29% (5%) 11% (4%) 9% (7%)
24% (10%) 21% (12%) 14% (5%) 8% (6%) 22% (11%)
29% (18%) 5% (2%) 15% (0%) 4% (4%) 9% (4%)
(b) Skandale und Skandalisierung Bezüglich der untersuchten Politikberichterstattung ergibt sich für die Qualitätspresse insgesamt für den Indikator Skandale und Skandalisierung ein differenziertes Bild. Auffallend sind gewisse Verschiebungen über die Zeit: Beiträge, die zentral Skandale thematisieren, nehmen in drei der fünf untersuchten Qualitätszeitungen leicht zu (NZZ, „Guardian“, „Le Monde“). Um zu überprüfen, ob das Medium primär im Kampf um Aufmerksamkeit selbst Skandale schürt – was als Ausdruck eines Kommerzialisierungsdrucks interpretiert werden könnte -, wurden aktive Skandalisierungen separat erfasst: Diese nehmen nur bedingt zu. Dies bedeutet, dass die Qualitätspresse, wenn Skandale Gegenstand der Berichterstattung sind, vor allem auf Skandale rekurriert und selten aktiv skandalisiert. Dies spricht dafür, dass die Qualitätspresse zum einen auf brisante (und relevante) Konflikte im Ausland rekurriert und diese reflektiert (Skandale als Auslöser in der Auslandsberichterstattung), zum anderen in zumeist kritisch-distanzierter Weise auf Skandalisierungen in der Innenpolitik 10 Für die Eruierung der Anzahl Beiträge mit einem eindeutigen politischen Bezug (im Gegensatz etwa zu Beiträgen über kulturelle Veranstaltungen) wurden nur Beiträge mit einer Mindestgröße von 10 Prozent einer Zeitungsseite (inklusive Bebilderung) ausgewählt. Für die weiteren Auswertungen wurde dieses Sample nochmals eingeschränkt, indem nur Beiträge mit einem eindeutigen politischen Bezug mit einer Mindestgröße von 20 Prozent einer Zeitungsseite (inklusive Bebilderung) erfasst wurden. Basis: künstliche Woche der Jahre 1960, 1980, 2005 für Le Monde (n = 258 codierte Beiträge mit politischem Bezug und Mindestgröße von 20 Prozent einer Zeitungsseite), Frankfurter Allgemeine Zeitung (n = 255), Neue Zürcher Zeitung (n = 191), Die Presse (n = 217) und Guardian (n = 173). Die Prozent-Werte in den einzelnen Feldern bei „Personalisierung“ und „Skandalisierung“ widerspiegeln den Anteil der Beiträge mit entsprechendem Indikator an der Menge der codierten Beiträge pro Jahr.
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verweist, die etwa von der Boulevardpresse in Form eines Kampagnenjournalismus lanciert und angetrieben werden. Im Ländervergleich bestehen vor allem zwischen „Le Monde“ und den Qualitätszeitungen in den demokratisch-korporatistischen Ländern kaum Unterschiede. Hier fällt einzig der „Guardian“ auf, der 2005 relativ hohe (aktive) Skandalisierungswerte aufweist. Mit gebotener Vorsicht könnte dies als Strategie der Aufmerksamkeitserzeugung und damit als Folge des verstärkten Wettbewerbs zwischen den (nationalen) Presseerzeugnissen im britischen Pressemarkt interpretiert werden (Esser 1999; Curran et al. 2009: 8). Weil in der Analyse allerdings künstliche Wochen erfasst wurden, in denen jeweils bestenfalls kurze Ausschnitte einer Skandalisierungswelle erhoben wurden, müssen diese Ergebnisse mit einem breiteren Vorgehen validiert werden. (c) Personalisierung Die Ergebnisse zum Vorkommen von Personalisierung11 ergeben ebenfalls ein gemischtes Bild. Zwar nimmt die Personalisierung, d.h. die Fokussierung auf Personen statt auf Kollektive und/oder Sachfragen, insgesamt zu (durchschnittlich von 12% 1960 auf 18% 2005), doch nicht in allen Qualitätsmedien und nicht zwingend linear. Diese auf den ersten Blick zurückhaltenden Befunde decken sich mit mehreren Studien, in denen sich – meist gegen die aufgestellten Hypothesen – keine (starke) Zunahme der Personalisierung zeigt (z.B. Wilke/Reinemann 2001; Marcinkowski/Greger/Hünning 2001: 42ff.). Allerdings ist Personalisierung ein komplexes Phänomen, das mit einem einzigen „catch-all“-Begriff nur schwer erfasst werden kann und wohl auch Befunde nivelliert, so etwa wenn die breite Schilderung von staatlichen Verhandlungen, die von zwei Rollenträgern ausgeführt werden, genauso als „Personalisierung“ bezeichnet wird wie die breite Schilderung der Gefühlswelt eines Politikers beim Tod seines Haustiers (Privatisierung als Subform von Personalisierung, vgl. auch Rahat/Sheafer 2007: 66-68). Auf der Grundlage der in der Literatur breit rezipierten Unterscheidung von rollennaher und rollenferner Personalisierung hat Eisenegger (2009: 14ff., i.E.) mit Rekurs auf die Habermas’sche Theorie des kommunikativen Handelns ein dreidimensionales Personalisierungs-Schema entwickelt. Zentral ist die Beobachtung, dass sämtliche Akteure moderner Gesellschafte – also auch Individuen – in Diskursen immer genau im Hinblick auf drei Weltbezüge thematisiert und bewertet werden können: Es sind dies die objektive, die soziale und die subjektive Welt (vgl. Habermas 1984: 75ff.). Diese drei Weltbezüge sind durch eine spezifische Thematisierungs- und Beurteilungslogik charakterisiert.12 Sie gehorchen je den Geltungsansprüchen der kognitiven Wahrheit, der normativen Korrektheit und der emotionalen Attraktivität. Als rollennahe Personalisierung gilt dann die Darstellung einer Person in der objektiven Welt kognitiv (sachlogisch) überprüfbarer Ursache-Wirkungszusammenhänge. Die Thematisierung und Bewertung der Person greift auf die Frage zurück, ob die Person die adäquaten Mittel ergreift, um vorgegebene Ziele zu erreichen und ob sie die ihr zugewiesene Leistungsrolle ausfüllt. Die Person als „Rollenträger“ tritt (noch) 11 Auf Beitragsebene wurde die Frage beantwortet, ob sich der Beitrag durch eine Fokussierung auf Personen (statt auf Kollektive oder eine Sachfrage) auszeichnet. Demnach müssen für die Vergabe von „Personalisierung“ Personen den „roten Faden“ der Berichterstattung bilden. 12 In der objektiven Welt werden die Akteure danach beurteilt, ob sie in kognitiver Hinsicht den Zwecken ihrer Funktionssysteme (Politik, Wirtschaft etc.) dienen. In der sozialen Welt wird die normativ-moralische Korrektheit zum Beurteilungsmaßstab. Und in der subjektiven Welt schließlich gilt das Interesse der Frage, welche emotionale Wirkung vom je individuellen Wesen des Akteurs ausgeht.
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hinter die Verfahren und die durch sie repräsentierten Organisationen zurück.13 Als etwas rollenfernere Personalisierung gelten auf der anderen Seite Darstellungen, die die „Verkörperung“ einer bestimmten (ideologischen) Position oder Organisation betonen14 (soziale Welt), sowie – als Personalisierung, die vergleichsweise am stärksten von der Rolle entfernt ist – diejenigen Darstellungen, in denen die Charaktereigenschaften, die besonderen Talente und Begabungen, den individuellen Werdegang oder die private Lebenswelt der Person oder deren Gefühle ins Zentrum rücken (subjektive Welt; Privatisierung und Emotionalisierung). Auch mit dieser Differenzierung, in der für diese Auswertung die Personalisierung der sozialen und der subjektiven Welt zusammengenommen als „rollenferne Personalisierung“ gruppiert wurden, zeigt sich in der Qualitätspresse ein ambivalentes Bild. Die rollenferne(re) Personalisierung nimmt zwar insgesamt leicht zu, was für eine gewisse Tendenz hin zu einer Emotionalisierung der Berichterstattung spricht. Deutlich wird allerdings auch der Einfluss von bestimmten ideologisch aufgeladenen Konfliktsituationen; so erklärt sich der hohe Wert in „Le Monde“ im Jahr 1960 auch durch die starke Fokussierung auf Exponenten der algerischen Exilregierung (F. Abbas). Zwischenfazit: Die hier untersuchten Qualitätszeitungen zeigen sich also, was die ausgewählten Indikatoren betrifft, als einigermaßen „strukturwandelsresistent“. Bedingte „spill-over-Effekte“ auf die Qualitätspresse zeigen sich, den Erwartungen entsprechend, noch am ehesten im vergleichsweise kommerzialisierten liberalen Modell („Guardian“). Hier ist der Umfang der politischen Berichterstattung vergleichsweise tief, der Anteil an (aktiver) Skandalisierung und Personalisierung im Zeitverlauf vergleichsweise hoch. Insgesamt sprechen die nur schwach messbaren Effekte – vor allem im demokratischkorporatistischen Modell – damit eher für die Annahme, dass Qualitätszeitungen gleichsam als Nischenprodukte (weiterhin) qualitativ hochwertige Informationen anbieten. Erste Ergebnisse der oben beschriebenen Inhaltsanalyse weisen darauf hin, dass sich viel eher beim Typ der Forumszeitungen „spill-over-Effekte“ beobachten lassen (für ähnliche Ergebnisse aus Belgien vgl. Hauttekeete 2005: 263f.).15 Um die Ergebnisse bezüglich (geringer) „spill-over-Effekte“ auf die Qualitätspresse validieren zu können, plädieren wir schließlich – neben der vergleichenden Analyse von Forums- und Boulevardzeitungen – für die Berücksichtigung von verschiedenen „Phasen“ der Politikberichterstattung. Neben der Erfassung der „Routinephasen“ durch künstliche Wochen ist eine Ausweitung auf Kriegs- und Konfliktphasen fruchtbar, da sich in diesen Phasen unterschiedliche Effekte erwarten lassen. Veränderungen der Ressortstrukturen, Berichterstattungsumfang sowie die thematische und Akteursvielfalt lassen sich am besten während „Normalphasen“ der Berichterstattung erfassen. Hier wäre eine Phase, in der ein überragendes Kriegs- oder Krisenereignis 13
Typisch sind Beiträge über Gipfeltreffen, in denen die Abfolge der Handlungen von Staatsoberhäuptern ins Zentrum rückt. Typisch wären für die Phase des Kalten Krieges Beiträge, in denen Nikita Chrustschow gleichsam für das „böse“ Sowjet-Imperium steht. Neben der Verkörperung des „Fremden“ lassen sich aber auch vergleichsweise positive personalisierte Darstellungen eruieren, etwa die „Hoffnungsträger“ einer bestimmten politischen Partei. 15 Diese Inhaltsanalyse von vier belgischen Tageszeitungen im Zeitraum 1981 bis 2001 anhand von künstlichen Wochen ergibt eine starke „Boulevardisierung“ (gemessen am zunehmenden Anteil von Sport- und Human- Interest-Beiträgen sowie an der visuellen Aufbereitung) nur bei der Boulevard- (Het Volk) sowie der Forumspresse (Het Laatste Nieuws), während die Qualitätszeitungen De Standaard und De Morgen – abgesehen von einer zunehmenden Bebilderung – kaum von dieser Entwicklung betroffen sind. 14
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diskutiert wird, wenig geeignet, da solche Ereignisse sowohl in Umfang als auch Inhalt die publizistische Darstellung verändern können. So absorbiert ein solches Ereignis regelhaft andere Ereignisse, über die dann deutlich weniger berichtet wird. In Kriegs- und Konfliktphasen findet regelhaft eine Aktivierung der Öffentlichkeit statt, die sich in der erhöhten Bedrohungswahrnehmung und der Intensität der Debatte äußert. Mit der Polarisierung von Deutungsrahmen und Positionen (für oder gegen den Krieg; Stellungnahme für eine Partei) einher geht eine Problematisierung des Fremden. Insofern sind Skandalisierung und Personalisierung in diesen Phasen häufig zu beobachtende und daher diskontinuierlich auftretende Phänomene – man denke etwa an die starke Fokussierung auf Walter Ulbricht beim Bau der Mauer 1961 auch in der Qualitätspresse. Fragen nach dem Wandel von Medieninhalten und den Unterschieden zwischen den verschiedenen Pressetypen müssten dann weitere Indikatoren wie etwa die „Metaberichterstattung“ im Sinne einer Kritik am Beziehungsspiel zwischen Medien und politischen Akteuren (Esser 2009) oder die Rationalität der Argumentation (Wessler 2008; vgl. auch Bennett/Lawrence 2008) berücksichtigen. Eine Inhaltsanalyse auf thematisch zentrierte Berichterstattungsketten wie etwa im Bereich von Krieg und Krisen ist auch daher eine sinnvolle Ergänzung, indem Kommunikationsereignisse (Berichterstattungsketten) respektive Thematisierungswellen und „news waves“ (Wolfsfeld/Sheafer 2006; Vasterman 2005) auf ihre Auslöser, Treiber, Dynamiken und Narrative untersucht werden. Skandale haben einen Verlauf und eine Geschichte (Imhof 2000) und auch Akteursresonanzen und Deutungsmacht lassen sich im Laufe eines Kommunikationsereignisses valider erfassen als über eine eher punktuelle Codierung in Form von künstlichen Wochen. Im Laufe des oben vorgestellten Projekts werden daher zusätzlich systematisch Kriegs- und Kommunikationsereignisse untersucht. In der Kombination dieser beiden Inhaltsanalysen wird das Projekt einen Beitrag zu der Frage liefern können, inwiefern sich in den Medieninhalten spezifische nationale Journalismuskulturen reflektieren oder sich diese trotz unterschiedlicher politischer Strukturen einer „transnationalen Journalismuskultur“ annähern (Esser 2008).
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Fazit
In diesem Beitrag wurden Ergebnisse einer Analyse sowohl des Wandels von Medienstrukturen und der Medieninhalte in fünf westeuropäischen Ländern zwischen 1960 und der Gegenwart präsentiert. Im Fokus standen dabei das Presseangebot respektive die Bedeutung der Qualitätspresse (im Vergleich zu anderen Typen der Presse wie Boulevardzeitungen und Forums- respektive „mid market“-Zeitungen), die Träger der Qualitätspresse sowie Veränderungen innerhalb der Qualitätspresse über die Zeit. Hinsichtlich der medialen Strukturen zeigt sich, dass sich die drei von Hallin/Mancini (2004) entwickelten Modelle zwar angleichen und in allen Modellen die Kommerzialisierung insgesamt zunimmt (Entbettung respektive Loslösung der Anbieter von intermediären Trägern; Pressekonzentration; Bedeutung der Boulevardpresse). Im zeitlichen Verlauf und hinsichtlich der Intensität dieser Entwicklungen zeigen sich aber deutliche Unterschiede. Bezüglich des Angebots der Pressetypen im allgemeinen und der Rolle der Boulevardpresse im speziellen lässt sich früh ein hoher Anteil an Boulevardmedien im liberalen Modell sowie in Deutschland, eine späte aber rasche Zunahme in den Kleinstaaten des demokratisch-korporatistischen Modells und eine leichte Zunahme in Frankreich beobachten. Die
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Qualitätspresse allerdings hat in diesem Prozess ihre Bedeutung – rein auf die Verbreitung bezogen – nicht eingebüßt. Vielmehr ist der Typus der Forumszeitung unter Druck geraten. Ähnliche Entwicklungen gibt es bezüglich der „Entbettung“ der Presse von ihren früheren politischen und sozialen Trägergruppen, die in allen drei Modellen ausgeprägt ist, jedoch besonders spät und rasch in den kleineren Ländern des demokratisch-korporatistischen Modells einsetzt. Diese Entbettung ist mit Bezug auf die Pressetypen jedoch kein Charakteristikum der Qualitätspresse; sie betrifft vor allem die Forumspresse. Die Qualitätspresse aber kennzeichnet sich strukturell durch eine vergleichsweise frühe Loslösung von politischen und intermediären Trägern aus. Bezüglich möglicher Entdifferenzierungsprozesse von der Ökonomie ergeben Indikatoren wie Zugehörigkeit zu einer Unternehmensgruppe oder Börsennotierung kein einheitliches Bild; hier sind vertiefte, systematische Forschungsanstrengungen im Bereich der Verlags- und Redaktionsstrukturen angezeigt (vgl. Jarren 2008). Der jüngste Kommerzialisierungsdruck schließlich – verstärkt durch die sinkenden Werbeeinnahmen – betrifft nicht speziell die Qualitätspresse, sondern auch die Forums- und die Boulevardpresse. Die zunehmende Kommerzialisierung, die auf der Ebene der Pressesysteme zu beobachten ist, wurde hinsichtlich der Frage nach Einflüssen auf Medieninhalte anhand einer Inhaltsanalyse mittels künstlicher Wochen in fünf Qualitätszeitungen analysiert. Diese Inhaltsanalyse fördert relativ wenige „spill-over-Effekte“ von der Boulevard- zur Qualitätspresse zutage (Indikatoren Anteil der politischen Berichterstattung, Skandalisierung, Personalisierung). Qualitätszeitungen bieten (weiterhin) hochwertige Informationen zu Politik, Wirtschaft und den grundlegenden Zeitfragen an, und sie erreichen – auch im Kontext einer wachsenden Bedeutung von Boulevardzeitungen – im Laufe der Zeit keinen geringeren Anteil der Bevölkerung. In den jeweiligen Presselandschaften sind Qualitätszeitungen momentan und wohl auch weiterhin zentrale Leuchttürme. Problematisch erscheinen uns das drohende Wegbrechen von Forums- respektive „mid market“-Zeitungen und deren vermehrte Ausrichtung an Inhalten und Inszenierungslogiken von Boulevardmedien. Mit dieser Polarisierung in letztlich Elite- und Boulevardmedien werden auch Wissensbestände und damit auch Macht in einer Gesellschaft zunehmend ungleich verteilt (vgl. Curran et al. 2009: 21). Eine intensivere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Typus von Zeitungen und ihren Veränderungen wäre daher angebracht.
Literatur Altmeppen, Klaus-Dieter (2006): Journalismus und Medien als Organisationen. Leistungen, Strukturen und Management. Wiesbaden. Altmeppen, Klaus-Dieter/Hanitzsch, Thomas/Schlüter, Carsten (Hg.) (2007): Journalismustheorie: Next Generation. Soziologische Grundlegung und theoretische Innovation (Lehrbuch). Wiesbaden. Bakker, Piet/Seethaler, Josef (2009): Supporting Concentration or Promoting Diversity? The Impact of Free Dailies on the Austrian Newspaper Market. In: Stark, Birgit/Magin, Melanie (Hg.): Die österreichische Medienlandschaft im Umbruch (Relation: Beiträge zur vergleichenden Kommunikationsforschung, New Series, vol. 3). Wien, S. 67–80. Bennett, W. Lance/Entman, Robert M. (2001): Mediated Politics: An Introduction. In: dies. (Hg.): Mediated Politics. Communication in the Future of Democracy. Cambridge, S. 1-29. Bennett, W. Lance/Lawrence, Regina G. (2008): Press Freedom and Democratic Accountability in a Time of War, Commercialism, and the Internet. In: Graber, Doris A./McQuail, Denis/Norris,
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Im Seichten kann man nicht ertrinken? Boulevardisierung in der überregionalen deutschen Qualitätspresse Christine Landmeier und Gregor Daschmann 1
Forschungsinteresse
Im Jahr 1991 proklamierte der damalige RTL-Chef Helmut Thoma sein Geschäftskonzept für den jungen Privatsender: im Seichten kann man nicht ertrinken. Bis heute wird dieser Satz als der Inbegriff des Anfangs vom Ende des seriösen Journalismus verwendet. Der gängige Vorwurf aus Medien und Wissenschaft lautet, durch den Einzug des Privatfernsehens und damit der Unterhaltung in deutsche Wohnzimmer sei der Qualitätsjournalismus gefährdet. Der Übergriff auf die Qualitätspresse sei bereits durch die Boulevardisierung vollzogen worden (vgl. Friedrich Ebert-Stiftung 2000/2003). Empirische Beweise belegten dies bislang aber noch nicht (vgl. Hoffmann 2001:15). Die vorliegende Studie geht der Frage nach, ob die Kritik an einer fortschreitenden Boulevardisierung des deutschen Qualitätsjournalismus gerechtfertigt ist. Falls von einer Boulevardisierung gesprochen werden kann, woran ist sie formal, sprachlich und thematisch1 erkennbar? Und bedeutet sie einen Substanzverlust und Verwässerung der medialen Qualität oder bietet sie lediglich Unterhaltung auch für den informationsinteressierten Leser?
2
Theoretischer Hintergrund
2.1 Was ist Boulevardisierung? Zur Beantwortung dieser zentralen Fragen muss zunächst der Begriff definiert werden. In der wissenschaftlichen Literatur herrscht hierzu keine Einigkeit, ein Wissen über seine Bedeutung wird häufig vorausgesetzt. Dieser Missstand wird von vielen Autoren bemängelt (vgl. u.a Dulinski 2003: 236; Esser 1999: 292; Hoffmann 2001: 15). Bei Sichtung des übersichtlichen Forschungsstands im Printbereich fällt auf, dass Einigkeit darüber herrscht, dass Boulevardisierung allgemein bedeutet, dass die Eigenschaften und Merkmale des Boulevardjournalismus auch in anderen Mediengattungen zu finden sind. Durch den Prozess der Boulevardisierung kann ein Medium also boulevardeske Züge annehmen. Dabei bedeutet das alleinige Auftreten eines Merkmals noch nicht zwangsläufig eine Boulevardisierung, erst die Summe der Merkmale oder ein gehäuftes Erscheinen lässt Rückschlüsse auf boulevardeske Tendenzen zu. Im Folgenden sollen daher die Eigenschaften erläutert werden, die den Boulevardjournalismus kennzeichnen. Büscher stellt fest, dass Boulevardzeitungen aufgrund der Straßenverkaufssituation ihr gesamtes redaktionelles Handeln auf die zwei Bereiche Leserfang und Leserbindung ausrichten. Zum Leserfang gehört, dass unmittelbar Aufmerksamkeit und Interesse des poten1 Mehrere Autoren schlagen diese drei Teilbereiche vor: u.a. Dulinski 2003: 239; Bruck/Stocker 1996: 24; Donsbach/Büttner 2005: 26; Schönbach 2000: 63
R. Blum et al. (Hrsg.), Krise der Leuchttürme öffentlicher Kommunikation, DOI 10.1007/978-3-531-93084-8_11, © VS Verlag fur Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Christine Landmeier und Gregor Daschmann
ziellen Käufers geweckt werden sollen, der Rezipient muss zunächst erreicht werden. Dies ist aufgrund der Konkurrenzsituation zu etlichen anderen Titeln notwendig, die bei Abonnementzeitungen nicht gegeben ist. Die Leserbindung ist eher langfristig ausgerichtet. Dabei wird versucht, den Leser als langfristigen Käufer zu binden, der täglich aufs Neue entscheidet, am Kiosk das gleiche Boulevardblatt zu kaufen (vgl. Büscher 1996: 24). Um diese beiden übergeordneten Ziele zu erreichen, bleiben dem Boulevardjournalismus drei Gestaltungsbereiche: Formales, Sprache und Inhalt. Diese Unterteilung erscheint sinnvoll, da ein Konzept von Boulevardisierung, das ausschließlich auf einer reinen Themenverteilung basiert, problematisch wäre. So könnte man vordergründig untersuchen, ob mehr ‚weiche’ als ‚harte’ Themen berichtet werden. Genau hierin liegt eine Schwierigkeit. Denn es stellt sich beispielsweise die Frage, ob Themen aus dem Alltagsleben automatisch ‚weich’ sind. Sind Kriminalität und Unglücke per se boulevardesker Natur oder werden sie es erst, wenn diese beispielsweise in einen sehr emotionalen Zusammenhang eingebettet sind? Hier wird bereits deutlich, dass verschiedene Aspekte gegeben sein müssen, um von boulevardesker Berichterstattung sprechen zu können (vgl. Dulinski 2003: 239). Auch die Forschungsliteratur unterscheidet diese drei Indikatorenbereiche Formales, Sprachliches und Inhaltliches. Die formale Ebene weist vorwiegend eine optische Gestaltung in Form von Visualisierung auf, die den Einsatz von Bildern, Grafiken usw. innerhalb journalistischer Beiträge beinhaltet, was zu weniger Text führt. Zudem wird mehr Farbe eingesetzt. Die Auswahl des Bildmaterials orientiert sich an den Kriterien von ‚Schock und Kitzel’, was den Eindruck von Authentizität und Unmittelbarkeit verstärkt (vgl. Bruck/Stocker 1996: 27). Denn die Leseransprache im Boulevardjournalismus funktioniert nicht über kognitives Verstehen, sondern über die Emotionen (vgl. Schirmer 2001: 11f). Ziel ist dabei vor allem, Aufmerksamkeit zu erregen. Mögliche Gründe für diese Vorgehensweise sind wie folgt: Die Rezipienten sehen sich mit einem Überangebot von Informationen konfrontiert, was eine Verminderung der Aufmerksamkeit zur Folge hat. Über die Visualisierung kann diese wieder geweckt werden. Zudem wird angenommen, dass die Menschen durch den Fernsehkonsum konditioniert sind, visuell orientiert zu sein (vgl. Djupsund/Carlson 1998: 102). Die formale Ebene ist also geprägt von starker Visualisierung, die dazu führt, dass sowohl die Artikellänge sich verkürzt, als auch deutlich mehr Farbe eingesetzt wird. Sprachlich zeichnet sich die Boulevardisierung durch die journalistische Aufbereitung mit Hilfe diskursiver Strategien aus. Darunter ist zu verstehen, dass die Artikel umgangssprachlich, also an die Alltagssprache angelehnt geschrieben werden (vgl. Esser 1999: 293) und viele meinungsbetonte Darstellungsformen vorzufinden sind. Die Sätze sind kurz und unkompliziert verfasst, Einfachheit ist also ein weiterer Aspekt (vgl. Bruck/Stocker 1996: 22). Es werden verstärkt rhetorische Mittel eingesetzt, eine betont adjektivische, malerische Sprache passend zur bereits erwähnten Visualisierung prägt den sprachlichen Eindruck. Unter dem Stichwort ‚narrative Inszenierung’ spielen die Elemente Inhalt, Visualisierung und sprachliche Aufbereitung dabei zusammen (vgl. Bruck/Stocker 1996: 24). Bruck und Stocker identifizieren dabei verschiedene Strategien, die eingesetzt werden. Zu diesen gehört die Personalisierung, die gekennzeichnet ist durch die Nähe zur privaten Erfahrungswelt der Rezipienten. Erzielt wird sie durch die Schilderung persönlicher Erlebnisse von Prominenten und ‚normalen’ Menschen, lexikalisch häufig umgangssprachlich verstärkt. Sie beinhaltet auch melodramatische Aspekte wie die Übertragung der Verantwortung beispielsweise für eine Katastrophe auf eine Schicksalsinstanz. Die Simplifizierung kommt
Boulevardisierung in der überregionalen deutschen Qualitätspresse
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zustande durch die Konstruktion übersichtlicher Weltbilder, das einseitige Beziehen normativer Positionen und eine Reduktion komplexer gesellschaftlicher Vorgänge auf Personen und Einzelfakten (vgl. Dulinski 2003: 92f und Bruck/Stocker 1996: 24-27). Gleich ist den genannten diskursiven Strategien, dass sie in der Zurückstellung der Information zugunsten der Emotion zusammenlaufen. Diese Emotionalisierung ist besonders dann gegeben, wenn im Zentrum des Diskurses die Vermittlung von Gefühlswelten steht und der Informationsgehalt des Textes und der Bilder vergleichsweise gering ist (vgl. Bruck/Stocker 1996: 29). Die Emotionalisierung kann dabei durch besonders affektive, wertende Sprache, die negative oder positive Ereignisse beschreibt, erzeugt werden (vgl. Oestreicher 2005: D-13). Es werden also Gefühle angesprochen, die sich aber nicht auf die private Erfahrungswelt der Leser beziehen. Dulinski nennt weitere sprachliche Strategien dafür, wie man eine Sensation ‚macht’, wo eigentlich keine ist. Dazu gehören die (Brand-)Aktualisierung bzw. Spektakularisierung, Devianzierung, Sexualisierung, Katastrophierung/Tragödisierung und Kriminalisierung. Die Strategien verbindet, dass einem Thema durch ihren Einsatz ein Sinn verliehen wird, der im Kern so nicht existiert, sondern ihm zugeschrieben wird.2 Als letzte diskursive Strategie ist an dieser Stelle die so genannte Skandalisierung anzuführen, bei der das Medium einen tatsächlichen oder vermeintlichen gesellschaftlichen Missstand anprangert, ihn zum Skandal ‚erklärt’. Dabei ist unerheblich, ob der Missstand tatsächlich besteht, relevant ist es, wahrzunehmen ob ein Sachverhalt als solcher bezeichnet und kritisiert wird. Dieses Vorgehen beruht auf der Dramatisierung, also der übertriebenen Darstellung des Geschehens (vgl. Kepplinger 2001: 39). Wie auch bei den anderen genannten diskursiven Strategien geht es also auch hier „nicht vorrangig um die Richtigkeit der Behauptungen, sondern um die dadurch gesteuerten Emotionen“ (Kepplinger 2001: 56). Im sprachlich stilistischen Bereich liegt der Schwerpunkt also auf den diskursiven Strategien, mit deren Hilfe der Journalist die Inhalte aufbereitet und somit Emotionen erzeugen will. Inhaltlich sind Boulevard-Themen unter dem Begriff der ‚soft news’ zu fassen. Dazu gehören die wichtigen Bereiche der Unterhaltung und des Service, sowie ‚sex, crime and sports’. Auch hier zählen emotionale Aspekte besonders. So ist Sport beispielswese durch die immanente Spannung zwischen Sieg und Niederlage gekennzeichnet, die der Ablenkung dienen kann. Kriminalität ist erschütternd, erschreckend und dient dadurch dem Spannungsbedürfnis der Rezipienten. Melodramatik erreicht der Boulevard-Journalismus durch die Thematisierung von Prominenten und ihrem Privatleben sowie durch Konzentration auf das Persönliche und Familiäre (vgl. Bruck/Stocker 1996: 22f). Diese letzten Bereich lassen sich unter dem Begriff des ‚Human Interest’ zusammenfassen, der als besonders gefühlsträchtig gilt (vgl. Büscher 1996: 12). All diese Aspekte zählen zum Bereich der soft news. Unter hard news sind Themen zu verstehen, die sich mit öffentlichen Angelegenheiten von politischer, wirtschaftlicher und kultureller Bedeutung beschäftigen (vgl. Reumann 2002: 129f). Symptomatisch für die inhaltliche Ausrichtung boulevardesker Berichterstattung ist, dass die Information hinter der Unterhaltung zurücktritt (vgl. Esser 1999: 293), auch durch das so genannte ‚softening of hard news’, was beispielsweise die Thema2 Diese Aspekte können aus Raumgründen an dieser Stelle nicht näher ausgeführt werden. Exemplarisch werden zwei der genannten Strategien erläutert: Unter Spektakularisierung ist zu verstehen, dass einem Ereignis ein Neuigkeitswert und eine Bedeutsamkeit zugewiesen werden, die aufgrund seines Datums und seiner Tragweite ungerechtfertigt sind. Devianzierung meint, dass ein Sachverhalt als außergewöhnlich, bizarr und unnormal dargestellt wird, obwohl er diese Merkmale nicht enthält. Eine detaillierte Erläuterung findet sich bei Dulinski 2003: 81f.
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Christine Landmeier und Gregor Daschmann
tisierung des Privatlebens eines Politikers im grundsätzlich ‚harten’ Ressort Politik bedeutet (vgl. Connell 1998: 21). Übergeordnetes Ziel dieser Ausrichtung ist die Unterhaltung. Inhaltlich zeigen sich boulevardeske Tendenzen also durch thematische Verschiebungen, bei denen soft news mehr Aufmerksamkeit erfahren als hard news. Die Ausführungen zeigen, dass Boulevardisierung als komplexes Gebilde erst aus dem Zusammenspiel der Merkmale bzw. Ausprägungen ersichtlich wird. Sie sind so verbunden, dass eine klare Trennung nicht immer möglich ist. Deshalb sollen die Merkmale in ihrer Gemeinsamkeit als boulevardesk gelten, nicht das alleinige Auftreten eines einzelnen Indikators. So wäre beispielsweise ein Beitrag als boulevardesk einzustufen, der bebildert ist, soft news thematisiert und mit Hilfe diskursiver Strategien aufbereitet wurde. Tabelle 1 gibt einen Überblick über die einzelnen Merkmale der drei Indikatorenbereiche von Boulevardisierung. Dabei werden das einzelne Merkmal, seine verschiedenen Ausprägungen sowie das Ziel, das hinter seinem Einsatz steht, dargestellt. Tabelle 1: Merkmale, Ausprägungen und Ziele der drei Indikatorenbereiche von Boulevardisierung Formal Merkmal
Visualisierung
Sprachlich diskursive Strategien
Ausprägungen
Mehr Bilder Mehr Farbe Weniger Text
Emotionalisierung Personalisierung Spektakularisierung Katastrophierung Devianzierung Kriminalisierung Sexualisierung Simplifizierung Skandalisierung
Ziel
Aufmerksamkeit erregen
Emotionen erzeugen
Inhaltlich soft news
human interest-Themen: ‚sex, crime and sports’ Prominente Akteure/Stars Privates/ Persönliches
unterhalten
2.2 Ursachen und Folgen von Boulevardisierung Nachdem dargelegt wurde, was unter der Boulevardisierung zu verstehen ist, sollen im Folgenden mögliche Ursachen des Phänomens erläutert werden. Im TV-Bereich wird das Thema der fortschreitenden Boulevardisierung bereits seit vielen Jahren diskutiert. Denn seit der Einführung der privaten TV-Sender Mitte der 80er Jahre buhlen immer mehr Sender um die Gunst der Zuschauer. Der Markt wird von der Quote und dem damit verbundenen Kampf um die Anzeigenkunden beherrscht. Dieser Wettbewerb verändert auf der Suche nach publikumswirksamen Themen die medialen Inhalte, um die Einschaltquoten zu verbessern. „Das Mittel ist die Boulevardisierung, der Zweck der kommerzielle Erfolg“ (Weischenberg 2003: 72, Herv. i. O.). Auf dem Pressemarkt hat es einen solchen Einschnitt nicht gegeben, ein Wettbewerb bestand hier schon immer. Es stellt sich aber auch hier die
Boulevardisierung in der überregionalen deutschen Qualitätspresse
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Frage, welche Ursachen es dafür geben könnte, dass die Qualitätspresse dem Vorbild des Boulevards folgt. Dabei ist zunächst der ökonomische Druck zu nennen. In Zeiten sinkender Auflagen und im Kampf um die Leser zeigen sich Boulevardblätter immer noch als verhältnismäßig verkaufsstark. Sie scheinen als Garanten für den finanziellen Erfolg von Verlegern zu gelten (vgl. Bruck/Stocker 1996: 15). Wenn also deren Konzept offensichtlich funktioniert, warum sollten dann nicht die weniger verkaufsstarken Blätter einzelne Elemente übernehmen, um neue Leser zu gewinnen? Es wäre also möglich, dass die Qualitätspresse versucht, sich am Erfolg der anderen zu orientieren. Außerdem wird Druck seitens der Anzeigenkunden ausgeübt, die natürlich ein Interesse daran haben, dass möglichst viele Leser angesprochen werden (vgl. Esser 1999: 291). Weiterhin könnte die verstärkte intermediäre Konkurrenz begründen, warum sich seriöse Zeitungen der Methoden der Boulevardpresse bedienen. Denn im Laufe der Jahrzehnte ist auch der intermediäre Wettbewerb härter geworden. Durch die bereits erwähnte Einführung des dualen Rundfunksystems ist auf dem Anzeigenmarkt neue Konkurrenz durch die werbefinanzierten Sender entstanden. Natürlich buhlen alle um die Aufmerksamkeit bzw. Zeit der Rezipienten. Zudem fand eine Umwälzung des Medienmarkts im Anschluss an die Wiedervereinigung Anfang der 90er Jahre und durch das Aufkommen der New Economy und deren Niedergang um 2000 sowie die darauf folgende Anzeigenkrise statt (vgl. Soldt 2005: 30f). Veränderte Marktsituationen fordern eine Reaktion seitens der Presse, um ihr Fortbestehen zu sichern. Orientiert sich also das Medium Zeitung zukünftig als gedrucktes Fernsehen und bedient sie den unaufmerksamen Leser, den es nach anstrengungsloser Unterhaltung verlangt? Es wurde bereits erwähnt, dass der Rezipient durch das Fernsehen konditioniert wird und sich daher möglicherweise verstärkt visuell orientiert. Die Qualitätspresse muss dabei eine doppelte Funktion innerhalb der Presselandschaft erfüllen, denn sie muss die Nachfrage nach Information und Bildung gewinnträchtig befriedigen. Besonders in Zeiten von Anzeigenkrise und Leserschwund stellt dies also eine besondere Herausforderung dar (vgl. Habermas 2007: 13). Wenn die Boulevardisierung dazu führt, dass mehr Leser generiert werden können, stellt sich die Frage, warum sie so stark angegriffen wird. Ihre Kritiker sehen in der Boulevardisierung eine Gefahr für die journalistischen Qualitätsstandards. So kann beispielsweise die zunehmende Privatisierung des Politischen zu einem Vertrauensverlust führen (vgl. Esser 1999: 315). Die politischen Informationen und dadurch der objektive Meinungsbildungsprozess wird den unterhaltenden, publikumswirksamen, gesellschaftlich aber wenig relevanten Themen geopfert, so lautet der Vorwurf. Grundlage des politischen Meinungsbildungsprozesses in einer Demokratie ist das Wissen über die Themen der politischen Agenda, über die damit verbundenen alternativen Sichtweisen sowie über die Relevanz verschiedener Themen für die Gesellschaft. Dabei liegt die Vermittlung von Wissen in der Verantwortung der Massenmedien. Diese Funktion der Medien in einer Demokratie könnte durch den Trend zur Unterhaltung statt zur Information gefährdet werden. Denn die Information der Menschen wäre durch die veränderten Inhalte nicht mehr ausreichend gewährleistet, um am politischen Meinungsbildungsprozess teilzunehmen, der auf Wissen basiert und für eine objektive politische Willensbildung notwendig ist (vgl. Djupsund/ Carlson 1998: 101f). Durch die Boulevardisierung verliert der Journalismus so viel Substanz, dass er möglicherweise als Instrument der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung untauglich wird, so die Kritiker. Sie führe zu einer Verwässerung des Journalismus (vgl. Weischenberg/Malik/Scholl 2006b).
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2.3 Bedeutet Boulevardisierung einen Qualitätsverlust? Unvermeidbar ist an dieser Stelle also die Verortung des Phänomens innerhalb der Diskussion um journalistische Qualität, ihre Ansprüche und Veränderungen. Es war bereits mehrfach die Rede von der Angst vor einem Qualitätsverlust. Daher soll im Folgenden kurz beleuchtet werden, ob Boulevardisierung tatsächlich einen Qualitätsverlust bedeutet. Diese Diskussion um Definition und Wesensart kann und soll an dieser Stelle aus Raumgründen nicht erschöpfend wiedergegeben werden. Zudem gilt sie seit Jahren als ‚unabschließbar’ (vgl. Bucher 2003: 11) Es gibt unzählige Diskussionen seitens der Medien selbst, der Medienmacher, des Publikums, der Investoren, die hier nicht berücksichtigt werden können. Daher soll das Augenmerk vor allem auf den Blickwinkel der Kommunikationswissenschaft und möglichen Indikatoren liegen, anhand derer eine Zeitung als qualitativ hochoder minderwertig eingestuft werden kann. Ausgehend von der Funktion der Medien als öffentliche Wissensvermittler werden im Folgenden diejenigen Dimensionen und Maßstäbe dargelegt, die die Qualität publizistischer Produkte ausmachen. Zu diesen zählt die Wissenschaft die Bereiche Vielfalt, Relevanz und Professionalität3. Die Ausführungen beschränken sich damit auf die Dimensionen, die inhaltsanalytisch erhebbar sind, um eine Ausgangsposition für die folgende Inhaltsanalyse zu erhalten. Die Kategorie der Vielfalt misst die Eigenschaften der Medienprodukte bezüglich der in den Medien geführten öffentlichen Diskussion. Sie garantiert auf der inhaltlichen Ebene, dass kein Lebensbereich von Belang aus der öffentlichen Diskussion ausgeschlossen wird. Dazu gehört, dass konkurrierende Positionen kommuniziert und ernst genommen werden. Strukturell beinhaltet sie auch die Abdeckung unterschiedlicher Darstellungsformen. Insgesamt soll Vielfalt eine inhaltliche Breite des Medienangebots gewährleisten, in der unterschiedliche Lebensbereiche und eine Pluralität von Interessen und Positionen, die mehrere Blickwinkel sowie Hintergrundwissen beinhaltet, dargestellt werden (vgl. Weiß 2002: 305f). Vor allem bezieht sich die Vielfalt also auf die inhaltliche Breite des Medienangebots. Die Dimension der Relevanz stellt die Frage in den Mittelpunkt, ob die Journalisten aus der Vielzahl der zur Verfügung stehenden Themen und Ereignisse die wichtigsten als berichtenswert auswählen. Es ist das Schlüsselkriterium zur Beurteilung journalistischer Auswahlentscheidungen und –prozesse (vgl. Maurer/Reinemann 2006: 30). Allerdings beinhaltet Relevanz auch den Bedeutungsgehalt bestimmter Themen für Individuen oder soziale Gruppen innerhalb der Gesellschaft. Aus ihren jeweiligen Lebenslagen ergibt sich, was Relevanz definiert. So gibt es verschiedene Ebenen (z.B. Individuum, Gruppe) und Relevanzstärken (z.B. Zahl der Betroffenen, Intensität). Diese gestalten eine Messung der Relevanz schwierig, da sie dadurch eine subjektive Dimension zugeschrieben bekommt. Eine abschließende Definition soll daher an dieser Stelle nicht bestimmt werden. Stattdessen soll Relevanz hier auf einer möglichst allgemeinen Ebene pluralistisch als ‚Bedarf der Allgemeinheit’ bzw. der Publika verstanden werden (vgl. Weiß 2002: 307f). 3 Die Literatur in diesem Zusammenhang bezieht sich zumeist auf Schatz & Schulz 1992, die die Vielzahl der in Qualitätsdebatten genannten Merkmale in fünf Dimensionen zusammengefasst haben: Vielfalt, Relevanz, Professionalität, Akzeptanz und Rechtmäßigkeit. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf die ersten drei, da die Akzeptanz inhaltsanalytisch nicht messbar ist und sich vor allem auf den TV-Bereich bezieht. Die Rechtmäßigkeit kann in letzter Instanz nur von Juristen entschieden werden und ist auch inhaltsanalytisch nur schwer nachweisbar (vgl. Maurer/Reinemann 2006: 29).
Boulevardisierung in der überregionalen deutschen Qualitätspresse
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Im Rahmen von Professionalität werden unterschiedliche Kompetenzen angesprochen. Auf inhaltlicher Ebene gehört dazu die sachliche Richtigkeit von Beiträgen, Faktentreue ist also unerlässlich. Zudem sollten Objektivität, Fairness und Neutralität gewährleistet sein. Diese sind vor allem bei der Darstellung konkurrierender Positionen notwendig und helfen so, eine falsche Wahrnehmung durch beispielsweise Verzerrung oder Selektion zu vermeiden. Zur analytischen Qualität und Verständlichkeit gehört, dass ein Sachverhalt angemessen komplex behandelt und hinterfragt wird sowie eine logische Vorgehensweise der Argumentation gegeben ist (vgl. Weiß 2002: 308f). Gestalterisch bedeutet professionell, dass eine ästhetisch-künstlerische formale Aufmachung angestrebt wird. Abbildung 1:
Merkmale von Boulevardisierung innerhalb der Dimensionen journalistischer Qualität
Vielfalt
Inhaltlich
formal
Professionalität
Inhaltlich
Thematisch schmales Angebot
Relevanz
gestalterisch
Ebene
‚Reißerisch‘ visualisiert
Niveau
Für politische Willensbildung wenig Relevantes tritt in den Vordergrund
Deskriptive Qualität (Objektivität)
Analytische Qualität Simplifizierung
Sachgerechtigkeit
Unparteilichkeit
Aktualität
Richtigkeit
Vollständigkeit
Ausgewogenheit
Neutralität
(Brand-) aktualisierung
Falsche Darstellung
Einseitigkeit Verzerrung
Einseitigkeit
Distanzlosigkeit Privates/Intimes
A Merkmale journalistischer Qualität
A Merkmale von Boulevardisierung
Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Maurer/Reinemann 2006: 32
Rein analytisch lassen sich die drei Dimensionen voneinander trennen, faktisch hängen sie jedoch zusammen (vgl. Maurer/Reinemann 2006: 29). Dies wird auch dadurch deutlich, dass die Professionalität die umfassendste der drei Dimensionen ist. Denn Relevanz und Vielfalt können als Ergebnis professionellen journalistischen Handelns gedeutet werden (vgl. Maurer/Reinemann 2006: 31). Vergleicht man nun die Eigenschaften der Boulevardisierung mit diesen gerade ausgeführten Eigenschaften journalistischer Qualität, so zeigt sich, dass sie sich widersprechen (siehe Abbildung 1)
184
Christine Landmeier und Gregor Daschmann
Gestalterisch-professionell zeichnet sich Boulevardisierung beispielsweise durch eine stark visualisierte und damit ‚reißerische’ formale Aufmachung aus, die einer ästhetischkünstlerischen Gestaltung innerhalb der Dimension der Professionalität entgegensteht. Auf der Ebene der Vielfalt, die eine breite Themenstreuung beansprucht, bedeutet Boulevardisierung, dass nur noch über einige wenige Themen berichtet wird. Das Themenspektrum wird also schmaler, da eine Verschiebung von den hard news zu den soft news vollzogen wird. Diese thematische Veränderung macht sich auch auf der Relevanz-Ebene bemerkbar, da im Sinne der Boulevardisierung die Relevanz darin besteht, ein möglichst breites, visuell orientiertes Publikum anzusprechen. Sie besteht nicht mehr darin, ein möglichst großes Publikum mit den für die Meinungsbildung innerhalb einer Demokratie benötigten Informationen zu versorgen. Es treten Themen in den Vordergrund, die nur wenig relevant für den Prozess der politischen Meinungsbildung sind. Auf Ebene der analytischen Qualität innerhalb der Dimension der Professionalität zeigen sich boulevardeske Tendenzen durch die diskursive Strategie der Simplifizierung, die dazu führt, dass komplexe Sachverhalte nur ungenügend, da auf einfache Weltbilder reduziert, dargestellt werden. Im Bereich der Sachgerechtigkeit innerhalb der Objektivitätsebene ist festzustellen, dass durch künstliches ‚brandaktualisieren’ der Aspekt der Aktualität verfälscht wird. Ebenso beeinflussen die weiteren diskursiven Strategien wie Sexualisierung oder Kriminalisierung, da sie eine falsche Darstellung verursachen, den Aspekt der Richtigkeit negativ. Dem Anspruch an Unparteilichkeit, die sich aus Ausgewogenheit und Neutralität zusammensetzt, wird durch die boulevardeske Einseitigkeit und die Distanzlosigkeit, die bei der Berichterstattung von Privatem stattfindet, widersprochen. Anhand dieser Indikatoren, die den Ansprüchen an einen qualitativ hochwertigen Journalismus entgegenstehen, sollte deutlich geworden sein, warum Boulevardisierung häufig als Gefährdung des Qualitätsjournalismus gesehen wird.
3
Untersuchungsanlage
Als Untersuchungsgegenstand wurde die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ ausgewählt, da sie als die konservative publizistische Institution Deutschlands gilt (vgl. Siering 2002: 86). Die FAZ wird zum Kreis der so genannten Elitemedien oder prestige papers gezählt. Diese Medien zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich selbst als solche definieren und von anderen gesellschaftlichen Eliten dafür gehalten werden (vgl. Hachmeister 2002: 15). Kepplinger nennt als primäres Zeichen für den Prestige-Journalismus, dass er in Medien von hoher Zentralität und Qualität organisiert ist. Zentralität bezeichnet dabei ihre quantitative Bedeutung für die Berichterstattung anderer Medien. Qualität bezieht sich auf die Wertschätzung, die das Medium bei Berufskollegen und gesellschaftlichen Entscheidungsträgern genießt (vgl. Kepplinger 2000: 87). Unter der Annahme, dass die von Journalisten regelmäßig genutzten Medien als ‘innerjournalistische Meinungsführer’ gesehen werden können, ist die FAZ als eine Qualitätszeitung zu bezeichnen (vgl. Weischenberg/Malik/Scholl 2006a: 359). Da ihre Berichterstattung auch für andere Medien relevant ist, die sich an ihr orientieren und aufgrund des Wissens über ihre hohe Qualität Informationen übernehmen, würde sich eine boulevardeske Veränderung auch auf andere Medien auswirken. Die FAZ wurde vor allem ausgewählt, da sie einen sehr konservativen Test ermöglicht, bei dem kaum Tendenzen bezüglich einer Boulevardisierung erwartet wurden. Dies zog nach sich,
Boulevardisierung in der überregionalen deutschen Qualitätspresse
185
dass das Instrument zur Messung der Tendenzen sehr genau ausgewählt und angelegt werden musste, um auch kleinste Veränderungen nachweisen zu können. Da Boulevardisierung ein Prozess ist, müssen Veränderungen im Laufe der Zeit erkennbar sein. Um zu untersuchen, ob sich bereits boulevardeske Tendenzen in der Qualitätspresse finden lassen, wurden die Forschungsfragen daher empirisch im Rahmen einer Langzeitanalyse von 1982-2006 der FAZ inhaltsanalytisch untersucht. Dieser Zeitraum wurde ausgewählt, da er die Einführung des dualen Rundfunksystems und die Zeit der Werbekrise nach 2000 umfasst. Innerhalb dieser 24 Jahre wurde in jedem zweiten Jahr eine künstliche Woche erhoben. Damit lagen der Analyse 78 Ausgaben der FAZ zu Grunde. Im Zuge der Inhaltsanalyse wurden die erwähnten Merkmalsbereiche operationalisiert und die Langzeitanalyse durchgeführt, um Veränderungen im Zeitverlauf nachweisen zu können. Untersucht wurden die fünf Ressorttitel Titelseite, Deutschland und die Welt, Wirtschaft, Sport und Feuilleton, um alle wichtigen Themenbereiche abbilden und erheben zu können. Insgesamt flossen so 1962 Artikel in die Analyse ein, die auf Beitragsebene codiert wurden. Im Folgenden werden zentrale Ergebnisse zu den drei Indikatorenbereichen diskutiert.
4
Zentrale Ergebnisse
Auf formaler Ebene kann ein leichter Trend in Richtung einer verstärkten Visualisierung nachgewiesen werden. Der Anteil bebilderter Artikel steigt im Zeitverlauf an, wie in Abbildung 2 zu sehen ist. Dabei steigt allerdings nicht die absolute Anzahl der Bilder, sondern die Anzahl der Artikel wird geringer. Gleichzeitig ist zu erkennen, dass der Umfang der Berichterstattung im Zeitraum ausgeweitet wurde, da die Artikel im Zeitverlauf größer wurden (siehe Abbildung 2). Anzahl der Artikel, Bilder und die durchschnittliche Artikelgröße im Zeitverlauf
350
350
300
300
250
250
200
200
150
150
100
100
50
50
0
0 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 Anzahl Artikel Anzahl Bilder Durchschnittliche Artikelgröße in Spaltenmillimetern
Basis: n = 1962 Beiträge, n = 237 Bilder
Spaltenmillimeter
Anzahl
Abbildung 2:
186
Christine Landmeier und Gregor Daschmann
Die journalistische Aufbereitung der Artikel zeigt im Zeitverlauf kaum Veränderungen. Außer bei den beiden diskursiven Strategien Emotionalisierung und Personalisierung war keine boulevardesk anmutende Darstellung zu erkennen. Auch die beiden Genannten traten nur gelegentlich und in geringer Ausprägung auf (siehe Tabelle 2), und wenn, dann in einem thematisch passenden Zusammenhang bzw. Ressort.
Tabelle 2: Auftreten der diskursiven Strategien in den einzelnen Ressorts Titelseite %
Emotionalisierung liegt nicht vor liegt vor Personalisierung liegt nicht vor liegt vor
Deutschland und die Welt %
Wirtschaft %
Feuilleton %
Sport %
(n = 438) 94 6
(n = 435)
(n = 478)
(n = 241)
(n = 370)
88 12
99 1
71 29
79 21
99 1
92 8
99 1
90 9
90 9
Basis: n = 1962 Beiträge
Ein zentrales Ergebnis der inhaltlichen Untersuchung lautet, dass zwar die Prominenz der soften Themen steigt, die Dominanz der harten Themen aber deutlich zu erkennen ist.4 Im Zeitverlauf ist eine Verringerung des Anteils der hard news von rund 60% im Jahr 1982 auf knapp 53 % im Jahr 2006 zu beobachten. Entsprechend verändert sich der Anteil der soft news von knapp 40 % auf 47% (siehe Abbildung 3). Hierbei ist als wichtige Einschränkung anzumerken, dass diese Themenverteilung nicht auf das Spektrum innerhalb der gesamten Zeitung übertragbar ist, da nur die einzelnen Ressorttitel erhoben wurden. Die Berichterstattung der FAZ hat sich im Laufe der Jahre deutlich ausgeweitet. Vor allem wurde der Wirtschaftsteil der Zeitung durch die neuen Bücher ‚Unternehmen’ und ‚Märkte’ ausdifferenziert und so umfangreicher gestaltet.
4 Zu den soft news zählten folgende thematische Bereiche des ‚human interest‘: Natur/Umwelt/Tiere, Medien, Sexualität, Unfälle/Katastrophen, Service, Sport, Kriminalität (Diebstahl, Raub, Mord), die gesellschaftlichen Teilbereiche Schicksal, Armut, Krankheit sowie Skurriles. Als hard news sind folgende thematische Bereiche öffentlicher Angelegenheiten von politischer, wirtschaftlicher und kultureller Bedeutung zu nennen: Politik, Wirtschaft, Kultur, Zeitgeschichte/Historie, Wissenschaft, die gesellschaftlichen und sozialen Teilbereiche, die sich mit Folgen politischer Handlungen beschäftigen sowie der Teilbereich Kriegsfolgen aus der Rubrik Kriminalität.
Boulevardisierung in der überregionalen deutschen Qualitätspresse Abbildung 3:
187
Prozentualer Anteil der hard news und soft news im Zeitverlauf
70 60
Prozent
50 40 30 20 10 0 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 hard news
soft news
5
n = 3261 Nennungen (hard news: n = 1859; soft news: n = 1402)
Aus den verschiedenen Merkmalen (Bebilderung, Themenverteilung, diskursive Strategien) wurde mit Hilfe einer Reliabilitätsanalyse6 eine Skala gebildet, die sich zur Erstellung eines Mittelwert-Index eignete.7 Dieser Boulevardisierungs-Index (BI) ermöglicht die Abbildung des komplexen Phänomens der Boulevardisierung anhand einer einzigen Kennziffer im Gegensatz zu den oben behandelten Einzel-Aspekten. Dabei bedeutet ein BI-Wert von 1.0, dass ein Beitrag hoch boulevardesk ist, ein Wert von .0, dass dies nicht der Fall ist. Der durchschnittliche BI zeigt, dass er sich mit .18 auf einem sehr niedrigen Niveau befindet. Die Tatsache, dass er sich im gesamten Zeitraum von .16 auf .20 erhöht, deutet an, dass auf diesem niedrigen Niveau eine Veränderung stattgefunden hat (siehe Abbildung 4). Diese ist zwar nur gering, weist aber darauf hin, dass sich die FAZ im Lauf der Zeit gewandelt hat und dass dies in geringfügiger Art und Weise durch boulevardeske Merkmale verursacht wurde.
5
Pro Artikel konnten bis zu drei Themen codiert werden. Cronbachs Alpha = .745 7 Formale Merkmale: Bildanzahl und –größe; sprachliche Merkmale: die diskursiven Strategien; inhaltliche Merkmale: Art der Berichterstattung, Themen und Akteure. Für eine detaillierte Betrachtung wird auf die Magisterarbeit von Landmeier 2007 verwiesen. 6
188
Christine Landmeier und Gregor Daschmann
Abbildung 4:
Der Boulevardisierungs-Index (BI) im Zeitverlauf
0,28 0,24 0,2 0,16 0,12 0,08 0,04 0 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 Index
n =1386 Beiträge8
5
Diskussion
Die Annahme, dass die Qualitätspresse von dem Phänomen der Boulevardisierung erfasst wurde, konnte in der zugrunde liegenden empirischen Untersuchung insgesamt nicht bestätigt werden. Die geringfügigen boulevardesken Tendenzen reichen nicht aus, um von einer Boulevardisierung der FAZ zu sprechen. Sie zeigen aber, dass Mechanismen des Phänomens auch innerhalb der Qualitätszeitung genutzt werden. Kritisch anzumerken bleibt bei der vorliegenden Untersuchung, dass nicht eindeutig festgelegt werden kann, welcher Wert zwischen 0 und 1 als boulevardesk einzustufen wäre. Diese Einschätzung unterliegt möglicherweise nicht einer objektiven Einschätzung, sondern müsste qualitativ erhoben werden. Auch wurde der Index gleichmäßig gewichtet aus den Merkmalsbereichen erstellt. Möglicherweise ist es notwendig, die einzelnen Aspekte unterschiedlich stark zu gewichten. Da eine unterschiedliche Relevanz der einzelnen Indikatoren aus der Forschungsliteratur nicht ersichtlich ist, wurde eine solche Gewichtung hier nicht vorgenommen. Zudem wäre eine weitere Analyse notwendig, die mehr als ein Medium einschließt. So würde ein Vergleich mit anderen Presseerzeugnissen, auch der Boulevardpresse, eine Einordnung der gewonnenen Erkenntnisse erleichtern und eindeutiger interpretierbar machen. Für die weitere Forschung wäre es interessant, ein ‚BoulevardisierungsSpektrum’ zu entwickeln. In Anlehnung an das politische Spektrum von links nach rechts, dem politische Linien zugeordnet werden, würde dies eine Einordnung, einen Vergleich und die Nachverfolgung von Veränderungen verschiedener Zeitungen ermöglichen. Die wenigen boulevardesken Tendenzen, die innerhalb der FAZ festzustellen sind, sollten nicht als Qualitätsverlust interpretiert werden. So ist es offensichtlich einerseits 8 Die Anzahl der Artikel weicht von der Gesamtanzahl ab, da bei der Index-Bildung eine Berücksichtigung von Fällen durch listenweisen Fallausschluss durchgeführt wurde.
Boulevardisierung in der überregionalen deutschen Qualitätspresse
189
erfolgsversprechend, einige wenige, als boulevardesk zu bezeichnende Elemente in eine Zeitung einfließen zu lassen, wie zusätzliche Serviceaspekte oder Unterhaltung. Andererseits ist es aber auch wichtig, dies nur geringfügig umzusetzen, indem die Information weiterhin emotionsfrei bleibt, da dies von den Lesern nicht akzeptiert würde. Es geht also weniger darum, die Vorzüge des Fernsehens – Visualität und Emotionalität – zu kopieren, als die Eigenschaften zu pflegen, in denen sich das eigene publizistische Produkt auszeichnet und die von der Konkurrenz nicht ohne weiteres zu ersetzen sind. Kritiker ereifern sich häufig über ein boulevardeskes Äußeres, aber das, worauf es schließlich ankommt, ist der Inhalt. Wenn dieser für den Leser ansprechender gestaltet ist, ist dies als Vor- und nicht als Nachteil zu werten und erst recht nicht als boulevardesk. Dies trifft nach den Ergebnissen der Inhaltsanalyse auf die FAZ zu. Im Formalen ist eine leichte Visualisierungstendenz nachweisbar. Die journalistische Aufbereitung ist nicht als boulevardesk zu werten. Inhaltlich ist festzustellen, dass zwar die Prominenz der soft news steigt, die Dominanz der hard news aber weiterhin besteht. Daher scheint die FAZ mit ihrer veränderten Gestaltung vor allem eine erleichterte Leseransprache und Unterhaltung auch für den informationsinteressierten Leser zu bieten. Der Vorwurf, die Boulevardisierung habe auch auf die überregionale deutsche Qualitätspresse übergegriffen, hat im Hinblick auf die FAZ keinen Bestand. Somit ist für den Augenblick auch die Sorge vor einer falsch wahrgenommenen Funktion der Medien innerhalb des politischen Meinungsbildungsprozesses unbegründet. Noch besteht mit Blick auf die FAZ also kein Grund zu der Befürchtung, die Qualitätszeitungen hätten sich die Idee zu Eigen gemacht, im Seichten könne man nicht ertrinken.
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190
Christine Landmeier und Gregor Daschmann
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Boulevardisierung in der überregionalen deutschen Qualitätspresse
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4. Das Publikum der Qualitätsmedien
Wer liest sie (noch)? Das Publikum der Qualitätszeitungen Olaf Jandura und Hans-Bernd Brosius 1
Qualitätszeitungen als meritorisches Gut
Wer kennt Sie nicht, die Anzeigenmotive der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und der „Süddeutscher Zeitung“: „Dahinter steckt immer ein kluger Kopf“ bzw. „Schenken Sie ihren Kindern schlaue Eltern“. Die Verlage, welche die Qualitätszeitungen – neben der FAZ und SZ werden in Deutschland meist auch noch die „Frankfurter Rundschau“ und die „Welt“ als solche bezeichnet – herausgeben, werben zu Recht mit der Qualität ihrer Leserschaft, verfügt sie doch über eine überdurchschnittliche Bildung, überdurchschnittliches Einkommen und überdurchschnittlichen Einfluss in die Entscheidungsprozesse der Bundesrepublik Deutschland (FAZ-Verlag, SZ-Verlag). Dies allein ist aber für eine Daseinsberechtigung in einem marktwirtschaftlich organisierten Pressesystem nicht hinreichend. Im Zuge sinkender Auflagen und angespannter Werbemärkte wird das Geschäftsmodell anspruchsvoller Medieninhalte immer wieder kritisch hinterfragt. Dabei greift jedoch eine rein nachfrageorientierte Betrachtung zu kurz: Bei Qualitätszeitungen handelt es sich um meritorische Güter. Neben ihrer für den Verleger unbestritten monetären Bedeutung erfüllen sie eine übergeordnete gesellschaftliche Funktion, indem sie als intra- und extramediäre Meinungsführer agieren und den öffentlichen Diskurs über gesellschaftlich relevante Sachverhalte begleiten. Die politisch-publizistische Bedeutung der Qualitätspresse lässt sich anhand von fünf Indikatoren festmachen: (1) Qualitätszeitungen werden von Journalisten intensiv genutzt. Studien von Köcher (1985), Weischenberg, Löffelholz & Scholl (1994) sowie Reinemann (2003) zeigen, dass Journalisten die Qualitätszeitungen aufmerksam lesen und sie sich an ihrer Berichterstattung orientieren. So lesen 86 Prozent der Journalisten mindestens eine überregionale Qualitätszeitung, wobei die „Süddeutsche Zeitung“ mit einem Anteil von 73 Prozent die meistgelesene Qualitätszeitung in Journalistenkreisen ist. Es folgt die FAZ (59 %), die „Welt“ (41 %) und die „Frankfurter Rundschau“ (26 %; Reinemann, 2003: 155ff.). Die den Qualitätszeitungen durch die Journalisten zugeschriebene Bedeutung wird auch anhand der Parallelnutzung ersichtlich. Jeder siebente Journalist liest alle vier Zeitungen, weitere 22 Prozent drei der vier und 28 Prozent lesen zumindest zwei Qualitätszeitungen, wobei die Kombination FAZ und „Süddeutsche Zeitung“ hier überwiegt (ebenda: 195). Diese Orientierung an Prestigemedien ist dem System Journalismus inhärent. Aus internationalen Journalistenbefragungen (z.B. Donsbach, 1993) geht hervor, dass die intensive Nutzung der Qualitätspresse durch Journalisten kein deutsches Phänomen ist, sondern dass über die Hälfte der Journalisten in den USA, Großbritannien, Schweden und Italien den Prestigemedien ihres Landes eine ähnlich hohe Bedeutung zuschreiben.
R. Blum et al. (Hrsg.), Krise der Leuchttürme öffentlicher Kommunikation, DOI 10.1007/978-3-531-93084-8_12, © VS Verlag fur Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
196
Olaf Jandura und Hans-Bernd Brosius
(2) Qualitätszeitungen werden von anderen Tageszeitungen zitiert. Das jährliche Zitateranking des Media-Tenors, das seit Mitte der 1990er Jahre publiziert wird, zeigt, dass die Qualitätszeitungen – wiederum besonders die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und die „Süddeutsche Zeitung“ – mit zu den am häufigsten zitierten Medien gehören (Media Tenor, 2009). (3) Qualitätszeitungen geben Themen und Tendenzen der Berichterstattung vor. Schon Mitte der 50er Jahre argumentierte Breed (1955), dass Prestigemedien als Meinungsführer für andere Medien fungieren. In der Journalistenbefragung von Reinemann (2003: 223) gaben 77 Prozent der befragten Journalisten an, dass die Qualitätszeitungen die wichtigsten Medien bei der Suche nach bundespolitischen Themen sind. Jeder Zweite attestierte den Qualitätszeitungen eine Orientierungshilfe bei der Auswahl bundespolitischer Themen (ebenda: 223). Empirische Belege für ein intermediäres Agenda-Setting durch die Qualitätspresse stammen aus den späten 1980er und frühen 1990er Jahren (Knoche & Lindgens, 1988; Mathes & Pfetsch, 1991; Mathes & Czaplicki, 1993). In den letzten Jahren mehren sich jedoch Befunde, dass diese Funktion gerade in Bezug auf die regionalen Abonnementzeitungen abnimmt bzw. die Qualitätszeitungen nicht allein die Agenda der Regionalmedien bestimmen. So weist Rössler (2007: 445) nach, dass die Berichterstattungswirklichkeit der „Süddeutschen Zeitung“ nicht mit der von verschiedenen regionalen Tageszeitungen korreliert. Die Überschneidung der Berichtsanlässe zwischen ausgewählten Regionalzeitungen und der „Süddeutschen Zeitung“ lag nur zwischen 18 und 28 Prozent, d.h. über gut drei Viertel der Berichterstattungsanlässe berichtete die „Süddeutsche Zeitung“ allein, was sich nicht allein mit deren größerem Umfang erklären lässt. Auch Donsbach und Jandura (2001:145) zeigen, dass sich bei der Bundestagswahl 1998 die Wahlkampfberichterstattung zwischen ausgewählten Regionalzeitungen und den Qualitätszeitungen unterschied. Eine breit angelegte Studie, die Intermedia-Agenda-Setting Prozesse in den deutschen Nachrichtenmedien untersucht, steht allerdings noch aus. (4) Qualitätszeitungen werden von Eliten gelesen. Überregionale Qualitätszeitungen werden von Entscheidern in Wirtschaft, Verwaltung, Politik und öffentlichen Dienst gelesen. Regelmäßig ermitteln Leseranalysen wie die Allensbacher Werbeträgeranalyse, die LAEntscheider oder Befragungen von Eliten, dass die überregionalen Qualitätszeitungen gesellschaftliche Entscheider erreichen. Stolz (1987), Puhe & Würzberg (1989) und Peter (1998) können zeigen, dass Politiker und andere Eliten zu den regelmäßigen Lesern der überregionalen Qualitätszeitungen zählen. Dadurch ergibt sich ein Wirkungspotential der Prestigemedien, das aufgrund der Multiplikatorfunktion von Eliten über die Größe des Publikums hinausgeht (Dahlem, 2000: 260). (5) Sie werden von den Bürgern als Qualitätsmedien anerkannt. Jarren (2008: 331f.) argumentiert mit Alltagsheuristiken, nach denen die Bürger die wichtigen von den weniger wichtigen Medien unterscheiden. Dass es solche Differenzierungen gibt, zeigen die Imagestudien zum öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Bürger gestehen ARD und ZDF eine höhere Qualität und Kompetenz zu, wenn es um deren Informationsfunktion geht (Ridder & Engel, 2005: 435).
Das Publikum der Qualitätszeitungen
197
Doch auch wenn dies Belege eine besondere Relevanz der Qualitätspresse untermauern können, bleibt der Befund bestehen, dass sich gerade einmal 5 Prozent der Deutschen regelmäßig einer dieser gesellschaftspolitisch relevanten Tageszeitungen zuwenden (BDZV, 2008). Im Schnitt zählen also nur ca. 3,2 Millionen Leser zu den für den gesellschaftlichen Diskurs wichtigen Multiplikatoren bzw. zu den für die Werbung attraktiven Zielgruppen. Um mehr über die Positionierung der Blätter am Markt und deren gesellschaftspolitische Bedeutung zu erfahren, wollen wir in diesem Aufsatz die häufig angewandte Perspektive der Betrachtung des Publikums der Qualitätszeitungen drehen. Wir werden nicht die für einen Verlagskaufmann entscheidende Frage nach der Leserstruktur der Blätter stellen, sondern der gesellschaftlich relevanten Frage nachgehen, was die Leser überregionaler Tageszeitungen von den Nichtlesern unterscheidet.
2
Untersuchungsdesign und Analysemodell
Für die Analyse können wir auf den Datensatz einer großen Markt- und Mediastudie in Deutschland, der „Typologie der Wünsche“, zurückgreifen. Seit nunmehr 35 Jahren werden in dieser Studie regelmäßig wichtige Einstellungen und Verhaltensweisen der Verbraucher, ihre Mediennutzung sowie der Kauf und die Verwendung von über 400 Marken und Produktbereichen erhoben. Als Grundgesamtheit der Studie gilt die deutsche Bevölkerung ab 14 Jahren, was zurzeit 64,2 Millionen Menschen entspricht. Die TDW erhebt eine große Stichprobe von ca. 20.000 Fällen, um auch für die kleinere Produktbereiche und Nutzergruppen hinreichende Fallzahlen zu erhalten. In den für die vorliegende Analyse ausgewählten Erhebungen 2006/2007 und 1997/1998 wurden 19.111 Personen bzw. 20.666 Personen repräsentativ befragt. Der Vorteil dieser großen Fallzahl gegenüber anderen Studien ist, dass auch für kleine Gruppen in der Bevölkerung eine für die Analysen aussagekräftige Fallzahl erhalten bleibt. So stehen bei Auszählungen des Gesamtdatensatzes hinter jedem Prozentpunkt 191 bzw. 206 Befragte. Zunächst werden die Leser der Qualitätszeitungen identifiziert. Die Erfassung erfolgt in der Typologie der Wünsche über das MA-Abfragemodell, das mit p-Werten arbeitet. Solche p-Werte sind Nutzungswahrscheinlichkeiten von Werbeträgern; sie können zwischen 0 (keine Nutzung) und 1 (Nutzung aller 12 vergangenen Ausgaben) liegen. Ein pWert von 0,5 bedeutet, dass der Befragte die Hälfte der letzten 12 Ausgaben eines Werbeträgers zumindest in der Hand hatte, um darin zu blättern oder zu lesen (Hess, 1996: 177). Es können jedoch keine Aussagen darüber gemacht werden, welche der sechs Ausgaben genutzt wurden. In der Typologie der Wünsche wird neben der Nutzungswahrscheinlichkeit regionaler Abonnementzeitungen (Blockabfrage) die Nutzung von Boulevardzeitungen und überregionalen Tageszeitungen, unter ihnen die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Frankfurter Rundschau“, „Welt“, „Süddeutsche Zeitung“ und das „Handelsblatt“, erfasst.1 Für die Differenzierung von Lesern und Nichtlesern haben wir zunächst die p-Werte der fünf Qualitätszeitungen für jeden Leser ermittelt. Zu klären ist dann, ab welcher Höhe ein Befragter als Leser einer Qualitätszeitung zählt. Reicht allein das Lesen einer Ausgabe einer der fünf 1 Einschränkend ist hier zu erwähnen, dass die p-Werte auch in der Typologie der Wünsche nach den Vorgaben der MA „behutsam“ gewichtet werden. Dieses Vorgehen hat zur Folge, dass wir nicht mit der tatsächlichen Nutzungswahrscheinlichkeit, rechnen können, sondern mit gewichteten Nutzungswahrscheinlichkeiten (TDWMethodenband, 2008: 219).
198
Olaf Jandura und Hans-Bernd Brosius
Zeitungen aus den letzten zwei Wochen (weitester Leserkreis) oder muss die Lektüre mit einer bestimmten Regelmäßigkeit geschehen? Als Grenzwert haben wir einen p-Wert von 0,5 angesetzt, d.h. dass Befragte müssen mindestens sechs Ausgaben der Qualitätszeitungen in den letzten zwei Wochen gelesen haben, um als Leser zu gelten. Die Auszählung ergibt, dass 11,2 Prozent der Deutschen zum Weitesten Leserkreis von zumindest einer der Qualitätszeitungen zählen, während nur 4,1 Prozent regelmäßige Leser sind (Tabelle 1). Bei beiden Kriterien geht die „Süddeutsche Zeitung“ als meistgenutztes Blatt hervor, gefolgt von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, der „Welt“, dem „Handelsblatt“ und der „Frankfurter Rundschau“. Ein Vergleich mit den Daten aus der Erhebung 1997/1998 offenbart, dass der Anteil der regelmäßigen Leser in der Bevölkerung in etwa konstant geblieben ist. Vor zehn Jahren waren es 4,2 Prozent, heutzutage sind es 4,1 %). Allerdings hat sich die Doppelnutzung im weitesten Leserkreis um 2,1 Prozent deutlicher verringert. Tabelle 1: Reichweiten der Qualitätszeitungen P>0 (2006/7) % Süddeutsche Zeitung Frankfurter Allgemeine Zeitung Welt Handelsblatt Frankfurter Rundschau Summe Gesamt2
%
P>0 (1997/8) %
P > .50 (1997/8) %
4,0
1,5
4,4
1,6
3,2
1,2
3,6
1,1
2,9 1,6
0,8 0,7
3,0 2,0
0,7 0,6
1,3
0,5
2,1
0,6
13,0 11,2
4,7 4,1
15,1 11,2
4,6 4,2
P > .50 (2006/7)
Für die weiteren Analysen verwenden wir den p-Wert von größer als 0,5. Ein Leser einer Qualitätszeitung muss folglich in mindestens sechs Ausgaben der fünf Zeitungen, die innerhalb der letzten zwei Wochen erschienen sind, gelesen haben. Das Vorgehen ist wie folgt: Es werden bivariate Zusammenhänge zwischen den unabhängigen Variablen und der Nutzung von Qualitätszeitungen untersucht. Sie basieren auf einem Vergleich zwischen dem Anteil der Leser von Qualitätszeitungen in der Stichprobe mit dem Anteil in bestimmten Subgruppen. Je stärker der gefundene Wert in den Subgruppen nach oben von dem Durchschnittswert der Stichprobe von 4,1 Prozent abweicht, desto eher kann das untersuchte Merkmal als Einflussgröße angesehen werden. Zur besseren Übersicht wurden die zu untersuchenden Variablen in vier Blöcke eingeteilt: Block 1 Menschen: Hierzu zählen neben den soziodemographischen Variablen wie Alter, Geschlecht, Bildung, Bundesland, Haushaltsstand und Einkommen auch die Persönlichkeitsmerkmale der Befragten. Block 2: Hier wird Variable, die die Zugehörigkeit zu bestimmten SinusMilieu erfasst, integriert. Zum dritten Block Medien werden Variablen gezählt, die die Me2 Die Summe der gelegentlichen oder regelmäßigen Leser der fünf Zeitungen liegt höher als die Werte von 4,1 bzw. 11,2 Prozent, da es einige Menschen gibt, die mehr als eine der fünf Zeitungen lesen.
Das Publikum der Qualitätszeitungen
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diennutzung der Befragten erfassen. Dies wären u.a. die Nutzung von bestimmten Zeitschriftengenres, Genrepräferenzen im TV und die Nutzungswahrscheinlichkeit bestimmter Fernsehsender aber auch das Lesen von Büchern. Im vierten Block Märkte sind verschiedene Konsuminteressen und Konsumeinstellungen vereint, die über Listenfragen unterschiedlichen Umfangs (zwischen 18 und 31 Items) erhoben wurden. 3
3
Ergebnisse
3.1 Eigenschaften der Rezipienten Ein erster Blick auf die soziodemographischen Variablen zeigt, dass die formale Bildung der Rezipienten wie zu erwarten ein wichtiges Erklärungsmerkmal für die Nutzung der Qualitätszeitungen ist. So lesen 17,6 Prozent der Befragten mit Hochschulabschluss, 14,1 Prozent der Befragten mit Hochschulreife aber nur jeweils 1,5 Prozent der Befragten mit Hauptschulabschluss oder Realschulabschluss regelmäßig eine Qualitätszeitung (p < 0.001). Weniger deutlich sind diese Unterschiede hinsichtlich der Variablen Geschlecht und Alter: Männer (5,4%) zählen überdurchschnittlich zu den Lesern, Frauen (3,2%) unterdurchschnittlich. Beim Alter findet sich eine umgekehrte U-Funktion. In der unteren Altersgruppen (14-29 Jahre) und den oberen Altersgruppen (60-79 Jahre / 80 und älter) finden sich weniger Leser, bei den 30-44jährigen (5,2 Prozent) und den 45-60jährigen (5,4 Prozent) entsprechend überdurchschnittlich viele. Hinsichtlich des Einkommens lässt sich ein linearer Zusammenhang feststellen. Je höher das Haushaltseinkommen wird, desto größer ist der Anteil an Lesern von Qualitätszeitungen. Jedoch lesen auch nur 9 Prozent der Befragten, die in Haushalten mit mehr als 3.000 Euro Monatseinkommen leben, regelmäßig eine Qualitätszeitung. Diese Ergebnisse sind nicht überraschend, spiegeln sie doch die Leserstruktur der Zeitungen wider. Interessant ist jedoch der Zeitvergleich. Hier lässt sich zwischen 1997/8 und 2006/7 eine Zunahme des Anteils der Leser mit höherer Bildung feststellen. Während Ende der 1990er Jahre noch gut jeder fünfte Leser (22,7 Prozent) mindestens Abitur hatte, beträgt dieser Anteil 2006/7 schon 31,7 Prozent. Auch im Einkommensbereich gibt es Verschiebungen. Ferner verlieren die Qualitätszeitungen Anteile in den jüngeren Zielgruppen. Der Anteil der regelmäßigen Leser in der Gruppe der 14-29jährigen und in der Gruppe der 3044jährigen sank in den neun Jahren, die zwischen den Befragungen liegen, überdurchschnittlich (jeweils -0,2 Prozentpunkte), während die Reichweite in den älteren Zielgruppen konstant blieb. Wir können in diesem Zusammenhang von einer Elitenorientierung der Leserschaft sprechen. Auch hinsichtlich der regionalen Nutzungsverteilung offenbaren sich Unterschiede. Die Reichweite von Qualitätszeitungen ist in den alten Bundesländern mit 5 Prozent weit höher als in den neuen (1 Prozent). Auf der Ebene der Bundesländer zeigt sich, dass auf Sachsen-Anhalt (0,5 Prozent), Mecklenburg-Vorpommern (0,7 Prozent), Sachsen (1 Prozent) und Bremen (1,3 Prozent) die niedrigsten Reichweiten entfallen, währenddessen Hessen (10,4 Prozent) und Bayern (8,2 Prozent) die meisten Nutzer aufweisen. Die Nutzung ist also in den Bundesländern besonders stark, in denen die Qualitätszeitungen auch einen
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eigenen regionalen oder gar lokalen Teil haben. Dass Lokal- und Regionalberichterstattung ein Erfolgsindikator sein kann, macht das Beispiel der Süddeutschen Zeitung deutlich. Im Regierungsbezirk Oberbayern, in dem die Süddeutsche Zeitung neben dem Münchner Merkur einen eigenen Lokalteil hat, wird sie von 15,4 Prozent der Bevölkerung gelesen. In den anderen bayrischen Regierungsbezirken, in denen die Süddeutsche Zeitung ohne Lokalteil erscheint, erreicht sie gerade einmal den Bundesdurchschnitt. Zusammenfassend lässt sich hinsichtlich der Eigenschaften der Befragten feststellen, dass die Variablen Bildung und Einkommen am besten die Zuwendung zu den Qualitätszeitungen erklären können. Ferner ist die Reichweite dieser Zeitungen dort höher, wo sie lokale Teile besitzen. Das Beispiel der Süddeutschen Zeitung macht aber auch deutlich, dass ein eigener Regionalteil nicht automatisch zu einem Anstieg der Leserzahlen führt. Die meisten anderen Persönlichkeitsmerkmale jenseits der Demographie stehen weniger im Zusammenhang mit der Qualitätszeitungsnutzung. Lediglich Befragte mit hoher Leadership-Qualität und an Hochkultur Interessierte sind überrepräsentiert. Tabelle 2: Rezipienteneigenschaften (Erhebung 2006/7) Anteil in % Hochschulabschluss Hochschulreife Wohnort im Bundesland Hessen Fachhochschulreife HH-Einkommen über 3000 Euro Wohnort im Bundesland Bayern Hohe Leadership-Qualität Häufige Oper- & Konzertbesucher
17,6 14,1 10,4 10,2 9,0 8,2 8,2 7,3
Indexwerte (4,1 Prozent = 100) 429 344 254 249 220 200 200 178
3.2 Milieus Die Auszählung nach Sinus-Milieus zeigt, dass Qualitätszeitungen überdurchschnittlich in den Milieus gelesen werden, die unabhängig von der Wertorientierung hinsichtlich ihrer sozialen Lage zur Oberschicht bzw. oberen Mittelschicht zu zählen sind. So ist der Anteil an Lesern von Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Süddeutscher Zeitung, Frankfurter Rundschau, Handelsblatt und Welt im Milieu der Postmateriellen mit 7,5 Prozent am höchsten, gefolgt von den Etablierten (6,9 %), den Modernen Performern (6,9 %), den Experimentalisten (5,6 %) und den Konservativen (5,2 %). Die geringsten Reichweiten finden wir im Gegenzug in den Milieus, die von traditionellen Werten geprägt sind und zur unteren Mittelschicht bzw. Unterschicht zuzurechnen sind. So lesen im Milieu der Traditionsverwurzelten nur 1,3 Prozent eine Qualitätszeitung, bei den DDR-Nostalgischen 1 Prozent. Auch die Milieus differenzieren nicht stärker als die Soziodemographie zwischen Lesern und Nichtlesern von Qualitätszeitungen und tragen damit – wie schon in anderen Studien herausgestellt – wenig zur Erklärung sozialer Phänomene bei (vgl. Haas & Brosius, 2006).
Das Publikum der Qualitätszeitungen
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3.3 Mediennutzung Im Folgenden soll untersucht werden, ob sich die Leser von Qualitätszeitungen auch in Präferenz und Nutzung anderer Medien von den Nichtlesern unterscheiden. Hierfür wird das Genreinteresse bei Zeitschriften und Fernsehen genau so untersucht wie die Senderpräferenz. In der Typologie der Wünsche wird das Genreinteresse von 21 Zeitschriften- und 31 Fernsehgenres abgefragt. Als Ergebnis zeigt sich, dass die Leser von Qualitätszeitungen mehr Zeitschriftengenres nutzen als die Nichtleser (3,2 zu 2,6). Überdurchschnittlich viele Leser von Qualitätszeitungen nutzen auch die Wirtschaftspresse (19,2 %), Blätter aus dem Bereich Umwelt und Ökologie (15,1 %) sowie Kunst- und Kulturzeitschriften (13,9 %). Eher wenig Qualitätszeitungsleser finden sich bei denjenigen, die wöchentliche Frauenzeitschriften lesen und Supplements (3,3 %) nutzen. Qualitätszeitungsnutzer interessieren sich im Fernsehen für Informationssendungen (7,0 %), Kunst- und Kultursendungen (5,5 %) sowie Komödien (5,5 %). Hingegen lesen nur wenige Personen, die Gerichtsshows (3,1 %) oder Quiz- und Unterhaltungsshows (2,4 %) nutzen, Qualitätszeitungen. Diese Informationsorientierung findet sich auch in der Präferenz für bestimmte Fernsehsender wieder. In der Gruppe derjenigen, die zu den Nutzern der Informationskanäle ntv oder N24 zählen, lesen 8,2 Prozent bzw. 6,2 Prozent eine Qualitätszeitung. Bei den Nutzern der öffentlich-rechtlichen Sender und vor allem bei denen der privaten Vollprogramme finden sich nur wenige Leser von Süddeutscher Zeitung, Frankfurter Allgemeinen, Frankfurter Rundschau, Welt oder Handelsblatt. Im Vergleich mit der Erhebung 1997/98 lässt sich feststellen, dass sich die Leser der Qualitätszeitungen von den öffentlich-rechtlichen Sendern abgewandt haben. So sank der Anteil der regelmäßigen Leser in der Gruppe der ARD Seher von 4,3 Prozent auf 3,8 Prozent, beim ZDF von 4,4 Prozent auf 3,4 Prozent. Dieser Rückgang könnte mit der zunehmenden Unterhaltungsorientierung der öffentlichrechtlichen Programme zusammenhängen. Zusammengefasst bedeutet dies, dass in der Gruppe derjenigen, die sich für Informationsangebote interessieren und diese auch nutzen, überdurchschnittlich viele Leser von Qualitätszeitungen zu finden sind. Hingegen finden sich in der Gruppe der stark unterhaltungsorientierten Zeitschriftenleser und Fernsehzuschauer nur sehr wenige regelmäßige Leser der Qualitätspresse. Das Lesen einer Qualitätszeitung ist somit ein Indikator für einen besonders informationsorientierten Mediennutzungsstil.
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Tabelle 3: Mediennutzung Anteil in % Zeitschriftengenre Wirtschaftspresse Zeitschriftengenre Ökologie/Umwelt Zeitschriftengenre Wissenschaft/Kultur Nutzungswahrscheinlichkeit N-tv Zeitschriftengenre Lifestyle/Erotik TV-Interesse Information Zeitschriftengenre Aktuelle Zeitschriften Nutzungswahrscheinlichkeit N24 ARD-Nutzung ZDF-Nutzung SAT.1-Nutzung RTL-Nutzung
19,2 15,1 13,9 8,2 7,9 7,0 6,3 6,2 3,8 3,4 3,3 3,2
Indexwerte (4,1 Prozent = 100) 468 368 339 200 193 171 154 151 92 83 78 78
3.4 Konsumgewohnheiten Im dritten Block wird untersucht, ob bestimmte Konsuminteressen mir dem Lesen von Qualitätszeitungen in Zusammenhang stehen. Überdurchschnittlich viele Leser von Qualitätszeitungen finden wir dabei in der Gruppe der Konsumenten, die hohe Exklusivitätsansprüche beim Konsum generell, bei der Wohnungseinrichtung und beim PKW-Kauf (6,9, 5,6 bzw. 6,8 Prozent) haben, die rationale Kaufentscheidungen treffen (5,3 Prozent), die modeaffin sind (5,1 Prozent) und die im Modebereich Naturprodukte bevorzugen (5,1 Prozent). Unterdurchschnittlich sind Leser von Qualitätszeitungen hingegen in Käufergruppen vertreten, die in Discountern einkaufen (2,9 Prozent), das Auto als reinen Nutzungsgegenstand sehen (3,3 Prozent) oder traditionelle Wohneinrichtungen bevorzugen (3,9 Prozent). Wir finden somit über verschiedene Produktbereiche hinweg Eigenschaften, die mit dem Lesen von Qualitätszeitungen in Zusammenhang stehen. Jedoch ist auch hier festzustellen, dass der Anteil der Leser in bestimmten Subgruppen nie über die 10-Prozentmarke hinaus steigt. Damit ist das Lesen von Qualitätszeitungen relativ unabhängig von Konsummerkmalen. Im zweiten Schritt haben wir uns spezielle Produkte aus unterschiedlichen Produktbereichen angeschaut, um zu testen, ob es den Duft, das Getränk oder die Marke gibt, die eine besonders hohe Anziehungskraft für Qualitätszeitungsleser hat. Es zeigte sich, dass in der Gruppe der Befragten, die mehrmals die Woche Whisky trinken, der Anteil der Qualitätszeitungsleser am höchsten ist (14,6 Prozent). Zweistellige Anteilswerte von Qualitätszeitungslesern finden sich ferner bei denjenigen, die sich für Angebote von Banken und Sparkassen interessieren (12,0 Prozent), die sich für Medien und Medienprodukte interessieren (11,5 Prozent) und die häufig Wellnessangebote nutzen (11,4 Prozent). Auch hier ist festzustellen, dass es nicht das Produkt für Qualitätszeitungsleser gibt.
Das Publikum der Qualitätszeitungen
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Tabelle 4: Konsumgewohnheiten Anteil in % Mehrmals wöchentlich Whisky Interesse für Angebote von Banken & Sparkassen Interesse für Medien/Medienprodukte Häufige Nutzung von Wellnessangeboten Besitz eines Laptop Besitz eines TV-Flachbildschirm Interesse an Armbanduhren Vorliebe für trockene Weine Vorliebe für Weine aus Italien Besitz eines Festplattenrecorder
4
14,6 12,0 11,5 11,4 8,9 8,8 7,4 7,1 6,7 6,5
Indexwerte (4,1 Prozent = 100) 356 293 280 278 217 215 180 173 163 159
Fazit und Ausblick
Qualitätszeitungen sind in Deutschland sowohl wirtschaftliche Güter als auch Intermediäre (Jarren 2008), die gemeinwohlorientierte Aufgaben wahrnehmen und daher meritorischen Charakter haben. Sie werden von Journalisten und gesellschaftlichen Eliten gelesen und haben einen Einfluss darauf, über welche Themen in Deutschland diskutiert wird. Die vorliegende Analyse zeigt, dass die Ursachen für die Zuwendung zu Qualitätszeitungen sich nur über komplexe Konstrukte darstellen lassen. Nutzung von Qualitätszeitungen ist multifaktoriell verursacht. Neben vielen anderen signifikanten Einflussfaktoren mit geringer Erklärungskraft sind hohe Bildung und hohes Einkommen wichtige Determinanten der Nutzung aus soziostruktureller Perspektive. Mit Blick auf die Mediennutzung wird die Zuwendung zu Qualitätszeitungen durch eine hohe Informationsorientierung determiniert und schließlich kennzeichnen eine hohe Qualitäts- und Preisorientierung die zentralen Größen des Marktsegments. Selbst bei einer Kombination der Determinanten aus den verschiedenen Variablengruppen kann die Zuwendung zu Qualitätszeitungen nicht zufriedenstellend erklärt werden. So lesen in der Gruppe der Befragten mit Abitur und einem monatlichen Haushaltseinkommen von mehr als 3.000 Euro 19,5 Prozent eine Qualitätszeitung. Achtzig Prozent dieser Gruppe lesen keines der fünf Medien. Fügt man zu dieser Variablenkombination noch den informationsorientierten Nutzungsstil hinzu, steigt der Anteil der Qualitätszeitungsleser auf 24,1 Prozent. Der höchste Anteil an Lesern in einer Subgruppe wird erreicht, wenn die Merkmale hohe Bildung, hohes Einkommen, informationsorientierte Mediennutzung und Exklusivität beim Konsum kombiniert werden: 28,8 Prozent der Befragten lesen hier Qualitätszeitungen (Tabelle 5), aber immer noch 71,2 Prozent nicht. Nun ist es nicht unwahrscheinlich, dass eine Sekundäranalyse von Markt-Media-Daten die wirklich relevanten Größen, welche die Nutzung erklären, einfach nicht erfasst hat. Es wäre jedenfalls – gerade auch für die entsprechenden Verlage – sehr wünschenswert, wenn man die Zielgruppe für Qualitätszeitungsmarketing genauer und treffender bestimmen könnte.
204
Olaf Jandura und Hans-Bernd Brosius
Tabelle 5: Interaktionen
17,6
Indexwerte (4,1 Prozent = 100) 429
19,5
476
24,1
588
28,8
702
Anteil in % Hochschulabschluss Abitur & Einkommen über 3.000 Euro (n= 1.031 Befragte) Abitur & Einkommen über 3.000 Euro & Informationsorientierung (n= 447 Befragte) Abitur & Einkommen über 3.000 Euro & Informationsorientierung & Exklusivität beim Konsum (n= 285 Befragte)
Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus dieser Studie für die gesellschaftliche Funktion der Qualitätszeitungen ziehen? Trotz einer stabilen Reichweite bei den regelmäßigen Lesern können aus gemeinwohlorientierter Perspektive Krisenindikatoren ausgemacht werden. Die Betrachtung der Reichweite allein verdeckt den Blick auf die Struktur der Leserschaft. Gerade der Vergleich mit der Erhebung Ende der 1990er Jahre offenbart folgende Entwicklungen: 1.
2.
Elitenkonzentration: Die Leserstruktur hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Der Anteil der Qualitätszeitungsleser in der Gruppe mit hoher Bildung hat sich deutlich vergrößert, in der Gruppe mit mittlerer Bildung ist er zurückgegangen. Aber auch die Leser aus der Mittelschicht haben sich von den Qualitätszeitungen abgewandt und fehlen nun als Multiplikatoren (Interpersonale Kommunikation). Die gesellschaftlichen Eliten, die die Qualitätszeitungen lesen, bleiben so unter sich. Die Fragmentierung des Publikums in der Mediengesellschaft gewinnt an Dynamik. Qualitätszeitungen werden zunehmend von einem elitären Kreis der Gesellschaft gelesen. Älter werdende Leserschaft: Der Vergleich mit der Erhebung 1997/98 zeigt, dass auch die Qualitätszeitungen überdurchschnittlich Leser in den jüngeren Altersgruppen verlieren. Diese Verluste sind zwar nicht so stark wie bei regionalen Abonnementzeitungen, doch deuten sie darauf hin, dass der Rückgang der Leserschaft der Zeitungen in den jüngeren Zielgruppen auch vor den Qualitätszeitungen nicht halt macht. Auch hier sind die für die Zeitungen im Allgemeinen beschriebenen Kohorteneffekte zu erwarten. Dass das Internet auch bei den Qualitätszeitungen schwerlich junge Leser an das Medium bindet, macht die Analyse der Nutzung der Onlineseiten der „Süddeutschen Zeitung“, der „Welt“ und des „Handelsblattes“ sichtbar. Zwar ist der Anteil der Nutzer hier insgesamt gering; weniger als ein Prozent der Befragten (0,9 Prozent) gab an, zumindest eine dieser Seiten regelmäßig zu nutzen. Von diesen Personen las aber nur jeder Vierte auch das zugehörige Printmedium, drei Viertel beschränkte sich auf die Onlineseiten der drei Qualitätszeitungen. Man könnte zwar argumentieren, dass es letztlich egal ist, ob Leser über Papier oder Onlineseiten erreicht werden, unter Finanzierungsgesichtspunkten tut sich hier für die Verlage aber eine schmerzliche Lücke auf, die letztlich auch auf die Qualität des Journalismus zurückschlagen wird. Durch die Kohorteneffekte verschärft sich dieser zunehmende Spalt zwischen Nutzungsart und Finanzierung weiter.
Das Publikum der Qualitätszeitungen 3.
205
Zurückgehen der Leitmedienfunktion: Die Publikumsorientierung in den regionalen Abonnementzeitungen führt dazu, dass in geringerem Maße Themen aus den Bereichen Politik und Gesellschaft aufgegriffen und verbreitet werden. Damit geht die gesellschaftliche Relevanz des Diskurses, den Regionalzeitungen anstoßen, möglicherweise zurück. Dies bedeutet letztlich auch, dass die Leitmedienfunktion der Qualitätszeitungen, vor allem für jüngere Zielgruppen, insgesamt geringer werden wird.
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Olaf Jandura und Hans-Bernd Brosius
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Das Publikum der Qualitätsmedien. Eine repräsentative Studie zu Reichweite, sozialer Verortung und Nutzungsmotiven Michael Meyen und Olaf Jandura 1
Erkenntnisinteresse
Der Titel täuscht möglicherweise: Dieser Beitrag möchte nicht nur das Publikum der Qualitätsmedien beschreiben (vgl. hierzu den Beitrag von Olaf Jandura und Hans-Bernd Brosius in diesem Band), sondern zugleich einen Beitrag zur Begriffsdiskussion leisten. Die Qualitätsmedien-Definition, die hier vorgeschlagen wird, geht weg von normativen Vorstellungen, von den Zielen der Produzenten oder von Merkmalen des Inhalts, des Publikums oder des Verbreitungsgebiets. Roger Blum hat in seiner Einleitung über die „leidenden Leuchttürme“ öffentlicher Kommunikation konkrete Medien genannt, die „herausragen und ausstrahlen“, und außerdem eine ganze Reihe von Eigenschaften diskutiert, die diese Angebote „abheben und abgrenzen“ – zum Beispiel von der Boulevardpresse. Der vorliegende Beitrag hat den Anspruch, diese Diskussion um die Rezipentenperspektive zu erweitern. Er folgt damit einer Anregung von Otfried Jarren, der Massenmedien die Funktion zugeschrieben hat, die „gesamtgesellschaftliche Entscheidungsagenda“ zu beobachten und so „gesellschaftliche Koorientierung“ zu ermöglichen. Diese Funktion setze zum einen das Wissen voraus, dass viele Menschen die gleichen Angebote nutzen (weil nur dann bestimmte Wirkungsannahmen unterstellt werden können), und lasse zum anderen vermuten, dass „die Ordnung der Medien einer Gesellschaft“ bekannt ist („unabhängig von einer konkreten Nutzung bei Einzelnen oder Gruppen“). Jarren forderte „spezifische und weitere Forschungsbemühungen“ ein und sprach von „Alltagsheuristiken“: In jeder Gesellschaft werde zwischen „wichtigen“ und „weniger wichtigen“ Medien unterschieden (Jarren 2008: 331f., vgl. auch den Beitrag von Otfried Jarren und Martina Vogel in diesem Band). Um diesen Ansatz verfolgen zu können, stützt sich dieser Beitrag auf die HabitusKapital-Theorie (vgl. Bourdieu 1987). In der Soziologie Bourdieus ist der Kampf um Status geradezu ein Synonym für menschliches Leben überhaupt. Bourdieu geht davon aus, dass wir vor allem deshalb handeln, um uns von anderen abzuheben. Jeder Konsumakt (und damit auch die Nutzung von Medienangeboten) wird folgerichtig als „Unterscheidungszeichen“ beschrieben, völlig unabhängig davon, ob dahinter die entsprechende Absicht steht oder nicht (Bourdieu 1985: 21; Bourdieu 1987: 120, 355), und auch unabhängig davon, ob sich die jeweilige „Praxis“ in der Öffentlichkeit vollzieht oder in der Privatsphäre. Damit dieses Zeichen ankommt, muss es eine kollektive Vorstellung davon geben, welche Medienangebote sich zur Distinktion eignen und welche nicht (Jarrens „Ordnung der Medien“). Als Qualitätsmedien werden in diesem Beitrag alle Medienangebote gesehen, die sich zur Abgrenzung nach unten eignen. Auf welche Medien diese Definition zutrifft, wurde in einer qualitativen Studie erhoben, die sich auf Leitfadeninterviews stützt. Die Befunde dieser Untersuchung wurden anschließend in eine telefonische Befragung überführt (n=479), die repräsentativ für Deutschland ist und es erlaubt, das Publikum dieser Qualitätsmedien sozial zu verorten. R. Blum et al. (Hrsg.), Krise der Leuchttürme öffentlicher Kommunikation, DOI 10.1007/978-3-531-93084-8_13, © VS Verlag fur Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Michael Meyen und Olaf Jandura
Dabei zeigt sich wie in dem Beitrag von Olaf Jandura und Hans-Bernd Brosius, dass soziodemographische Merkmale allein für eine solche Beschreibung nicht ausreichen und dass man am Kern vorbeizielt, wenn man nur auf Eliten und Entscheidungsträger schaut (vgl. Ruß-Mohl 2008: 4064 sowie den Beitrag von Michael Schenk in diesem Band). Qualitätsmedien gehen „über die politische Klasse im engeren Sinne“ hinaus und erreichen Menschen, „die aus vielerlei Gründen umfassender informiert und mit Hintergrundwissen ausgestattet sein wollen oder müssen“ (d’Inka 2007: 7) – allerdings stets nur Minderheiten, weil sie sonst nicht mehr als „Unterscheidungszeichen“ taugen. Um diese Qualitätsmedien-Definition zu stützen, wird zunächst der theoretische Hintergrund, auf den sich die Studie bezieht, etwas ausführlicher skizziert (Abschnitt 2). Abschnitt 3 informiert über das zweistufige Untersuchungsdesign. In Abschnitt 4 wird zunächst eine Typologie der Mediennutzer vorgestellt und in Abschnitt 5 zusammenfassend das Publikum der Qualitätsmedien.
2
Habitus-Kapital-Theorie und Mediennutzung
Die Soziologie Bourdieus geht davon aus, dass menschliches Handeln mit dem gesellschaftlichen Status zusammenhängt, und hat den Anspruch, alle Formen sozialer Praxis erklären zu können – also auch die Nutzung von Qualitätsmedien. Dies hat den Vorteil, dass Nutzungsmotive im Gegensatz zu vielen Studien aus der Uses-and-GratificationsTradition nicht willkürlich konstruiert werden müssen und auch nicht von Selbstauskünften abhängen, obwohl man bezweifeln kann, dass die Befragten in der Lage sind, ihre eigenen Kommunikationsbedürfnisse zu artikulieren (Rubin 2002: 532, Ruggerio 2000). Der Nachteil einer solchen theoretischen Vorentscheidung liegt ebenfalls auf der Hand. Bourdieu gibt eine bestimmte Perspektive vor und schließt damit andere (gleichfalls denkbare, alternative) Erklärungsansätze aus. Wer mit seiner Soziologie arbeitet, sollte sich immer darüber im Klaren sein, dass es ihrem Urheber um die Position in der gesellschaftlichen Hierarchie gegangen ist, um Macht und um die Frage, wie sich Herrschaftsstrukturen gewissermaßen hinter dem Rücken der Akteure reproduzieren (vgl. Schwingel 2005). Mit den „Denkwerkzeugen“ Bourdieus werden zwangsläufig Persönlichkeitsmerkmale ausgeklammert, die von der sozialen Position und von biographischen Erfahrungen unabhängig sind. Besonders deutlich wird dies beim Habitus-Konzept. Der Habitus ist bei Bourdieu nicht angeboren, sondern speist sich aus den Erfahrungen, die ein Mensch in seinem Leben macht. Diese (individuellen und kollektiven) Erfahrungen wiederum hängen in erster Linie von der sozialen Position ab und führen zu „Systemen dauerhafter Dispositionen“, die als „strukturierende Strukturen“ wirken (Bourdieu 1976: 165). Übersetzt: Der Habitus legt fest, was möglich ist – wie ein Akteur die Welt wahrnimmt, wie er andere bewertet, welchen Geschmack er hat, wie er denkt und handelt, wie er seinen Körper präsentiert und sich bewegt. Das Habitus-Konzept ist damit auch ein Schlüssel zu den Mediengewohnheiten eines Menschen. Um konkrete Praxisformen (etwa die Nutzung von Qualitätszeitungen) untersuchen zu können, hat Bourdieu den Habitus analytisch geteilt – in einen „opus operatum“ und einen „modus operandi“. Der „modus operandi“ (wie und warum man handelt) wird dabei durch den „opus operatum“ definiert, durch die persönliche Lebensgeschichte, die sich an Dispositionen festmachen lässt (Alter, Geschlecht, Aussehen), an der Sozialisation (Herkunft, Ausbildung, Berufsstationen) und an der aktuellen Lebenssituation (Familie,
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Kinder, Kapital, Aktivitäten außerhalb des Berufs, Zukunftsperspektiven). Da Akteure über solche Voraussetzungen normalerweise nicht nachdenken und auch ihre Entstehungsgeschichte vergessen, entwickeln sie bei Bourdieu einen „praktischen Sinn“, der ihnen erlaubt, „auf alle möglichen ungewissen Situationen und Mehrdeutigkeiten“ zu reagieren (Bourdieu 1987: 190f.). Das Habitus-Konzept zielt zwar auf dauerhafte Dispositionen und betont, dass frühe Erfahrungen spätere formen, der Habitus ist aber nichts Starres und Unveränderliches, sondern wird immer wieder modifiziert. Entscheidende Determinante ist dabei die soziale Position eines Akteurs. Bourdieu setzt bei einem Menschen an, der sich von anderen unterscheiden will. Den Titel seines Hauptwerks „Die feinen Unterschiede“ (Bourdieu 1987) hat er selbst so interpretiert, das Existieren nichts anderes heiße als „sich unterscheiden, unterschiedlich sein“, wobei ein Unterschied erst dann sozial relevant sei, wenn er von jemandem wahrgenommen werde, der einen Unterschied machen könne, weil er über die entsprechenden Wahrnehmungskategorien verfüge (Bourdieu 1998: 22). Den Handlungsspielraum eines Akteurs beschreibt Bourdieu mit dem Begriff Kapital. Er unterscheidet vier Kapitalformen: ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital (Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissensformen), soziales Kapital (Netzwerke) und symbolisches Kapital (Reputation). Kapital ist dabei in jedem Fall „akkumulierte Arbeit“ (Bourdieu 1983: 183). Bei Bourdieu ist der Arbeitsbegriff mit Aufwand und Mühe, mit Investitionen und mit (latentem) Zwang konnotiert. Auch den „Erwerb von Bildung“ bezahlt man „mit seiner Person“ – selbst in privilegierten Umgebungen, in denen „die Inkorporierung von kulturellem Kapital“ möglicherweise „völlig unbewusst“ und ungewollt abläuft (ebd.: 186f.). In jedem sozialen Feld verspricht zwar eine andere Kapitalmischung den größten Handlungsspielraum, letztlich aber streben bei Bourdieu alle Menschen nach Kapital, um sich von anderen zu unterscheiden und ihre Position zu verbessern. Teilt man diese Annahmen, hat dies Folgen für die Konzeptualisierung von Mediennutzung. Zum einen ist die Zuwendung zu Medienangeboten nicht ohne den Habitus und die soziale Position zu erklären. Um den „praktischen Sinn“ zu verstehen, den ein Mensch beispielsweise mit einer Qualitätszeitung verbindet (Habitus als „modus operandi“), muss man wissen, wie er sozialisiert wurde, wie er lebt und über welche Dispositionen er verfügt (Habitus als „opus operatum“), wie viel Kapital er besitzt und wie sich dieses Kapital zusammensetzt (Position im sozialen Raum). Zum anderen dürfte jede solche Handlung bewusst oder unbewusst auch dem Kapital- und Identitätsmanagement dienen. Der Begriff Identitätsmanagement zielt dabei auf die Auseinandersetzung mit sich selbst und auf die Arbeit am „Ich“ (Scherer/Wirth 2002: 339f.). Identitätsmanagement bedeutet, den eigenen Wert zu taxieren, die eigene Lage zu bestimmen und das Meinungsklima zu erkunden (Festinger 1954, Hartmann et al. 2004, Noelle-Neumann 1980). Ohne die eigene Position zu kennen, kann man nicht wissen, ob es sich lohnt, Kapital zu akkumulieren. Die strategischen Momente, die zu jeder Form von Management gehören, lassen sich über Bourdieus „praktischen Sinn“ erfassen. Die Nutzung von Qualitätsmedien dürfte vor allem kulturelles und symbolisches Kapital versprechen (vgl. Meyen 2006, 2007). Die Akkumulation von kulturellem Kapital in Form von Medienwissen ist nötig geworden, weil der Wohlstandsschub in den westlichen Gesellschaften und die Öffnung der Bildungswege in den vergangenen drei bis vier Jahrzehnten zentrale Unterschiede nivelliert haben – vor allem beim Besitz von ökonomischem Kapital, beim Zugang zu akademischer Bildung und beim Status durch Herkunft. Kulturel-
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les Kapital in Form von Medienwissen meint natürlich auch die Kompetenz, mit der Angebotsvielfalt umgehen zu können, und Sachwissen zu bestimmten Fragen, vor allem aber geht es hier darum, über die Themen Bescheid zu wissen, die in der Gesellschaft für wichtig gehalten werden – um die Fähigkeit, mitreden zu können, wenn über Politiker- und Trainerschicksale gesprochen wird, über Ausstellungen, Bauprojekte oder Trends auf dem Finanzmarkt (vgl. Meyen 2007). Wie jede Form der Kapitalakkumulation kostet diese Fähigkeit Aufwand und Mühe. Bourdieu hat immer wieder darauf hingewiesen, dass Kapital und damit die Verbesserung der eigenen Position im sozialen Raum „nur um den Preis von Arbeit, Anstrengungen und vor allem Zeit zu haben sind“ (Bourdieu 1985: 13; 1983: 186) – Zeit, in der man auf andere, weniger anstrengende Tätigkeiten verzichten muss. Die Nutzung von Medienangeboten verspricht außerdem symbolisches Kapital. Wenn man mit Bourdieu davon ausgeht, dass es sich nur dann lohnt, kulturelles Kapital über ein bestimmtes Medienrepertoire oder über Medienwissen zu akkumulieren, wenn andere hier einen Unterschied wahrnehmen können, dürfte es in jeder Gesellschaft ein kollektives Wissen geben, welche Medienangebote mit Arbeit verbunden (und folglich anstrengend) sind und welche eher nicht (vgl. Jarren 2008: 332). Dieses kollektive Wissen garantiert zugleich, dass Medienrepertoires und Medienwissen genau wie Automarke, Wohnform oder Kleidung signalisieren, welche soziale Position ein Mensch anstrebt und welcher Gruppe er sich verbunden fühlt, welche Einstellungen und Werte er teilt und welche nicht (vgl. Bourdieu 1985: 21; Bourdieu 1987: 120, 355). Wer ein bestimmtes Medienangebot nutzt, kann darauf setzen (oder muss sich davor fürchten), dass das symbolische Kapital, das mit diesem Angebot verbunden ist, zumindest zum Teil auf ihn übergeht. Auf diese Weise lässt sich über Mediennutzung auch symbolisches Kapital erwerben und so die eigene Position im sozialen Raum markieren, ohne in ökonomisches, soziales oder kulturelles Kapital investieren und darauf hoffen zu müssen, dass die anderen dieses Kapital anerkennen. Die Distinktion über ein bestimmtes Medienrepertoire ist zwar mit anderen Konsumakten vergleichbar, kann allerdings nicht die Anerkennung ersetzen, die mit Führungspositionen im Beruf, Bildungstiteln, sichtbarem Wohlstand und der Lebensleistung verbunden ist. Der Versuch, über Mediennutzung kulturelles und symbolisches Kapital zu akkumulieren, macht nur dann Sinn, wenn es die reale Chance gibt, so die eigene soziale Position zu verbessern. Da in Bourdieus sozialem Raum ökonomisches Kapital dominiert, dürfte die Aufstiegsmotivation gering sein, wenn man wenig Geld hat und die anderen Voraussetzungen (kulturelles, soziales und symbolisches Kapital) ebenfalls vergleichsweise schlecht sind. Als Qualitätsmedien werden in diesem Beitrag alle Medienangebote definiert, deren Nutzung im kollektiven Wissen mit Anstrengung verbunden ist und die sich deshalb zur Abgrenzung nach unten eignen. Da diese Angebote nicht vorab (normativ) zu bestimmen sind und da die großen Markt-Media-Studien (Media Analyse, Allensbacher Markt- und Werbeträgeranalyse, Langzeitstudie Massenkommunikation) genau wie allgemeine Bevölkerungsumfragen (ALLBUS, Eurobarometer) nicht die nötigen Konstrukte enthalten, waren für die empirische Umsetzung zwei Schritte nötig. Bevor die Nutzer von Qualitätsmedien ermittelt und beschrieben werden konnten, war die „Ordnung der Medien“ (Jarren) zu untersuchen.
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Untersuchungsdesign
Für den ersten Schritt wurde eine qualitative Studie konzipiert (vgl. Meyen 2006, 2007). Qualitative Methoden sind standardisierten Verfahren bei der Frage überlegen, welche Bedeutung Medienangebote für die Menschen haben, weil die Befragten hier die Möglichkeit haben, frei über ihren Alltag, ihre Bedürfnisse und ihre Nutzungsgewohnheiten zu sprechen. In insgesamt 133 Leitfadeninterviews ist nach dem Medienrepertoire und nach dem Alltag gefragt worden. Um möglichst alle Nutzungsmuster erfassen zu können, wurden die Befragten nach dem Verfahren der „theoretischen Sättigung“ ausgewählt. Indikator für Qualitätsmedien waren entweder die Beschreibung von Distinktionsprozessen (natürlich bei Abonnenten der „Süddeutschen Zeitung“, aber auch bei BrigitteLeserinnen, die das Blatt deshalb schätzen, weil es im Gegensatz zu anderen Frauenzeitschriften die „großen Themen“ nicht ausspart), oder ein Vokabular, das auf Anstrengung im beschriebenen Sinn hindeutet (vgl. Abschnitt 2) – etwa wenn von der „Pflicht“ oder dem „Muss“ die Rede war, über die Themen Bescheid zu wissen, die in der Gesellschaft oder im persönlichen Umfeld für wichtig gehalten und im Moment diskutiert werden, oder von Zwängen, denen man sich nicht entziehen kann. Eine Bankkauffrau aus BadenWürttemberg, Jahrgang 1962, sagte zum Beispiel, dass sie sich die Wirtschaftsnachrichten „antun“ müsse. Wenn der nächste Kunde komme und frage, wie es eigentlich Infineon gehe, dann könne sie nicht bloß die Überschrift gelesen haben. Auch ein PR-Berater, Jahrgang 1973, meinte, er könne es sich „gar nicht leisten“, die Wirtschaftspresse nicht zu lesen. Um den Kunden Themen vorschlagen zu können, müsse man „auf der Höhe der Zeit“ sein, und auf Abendveranstaltungen mache es „einen sehr komischen Eindruck“, wenn man immerzu sagen müsse, dass man über dieses nicht Bescheid wisse und von jenem noch nie etwas gehört habe. Dass dies im Wortsinn anstrengend ist, bestätigte ein Geschäftsführer: „Eine Woche ohne ‚Spiegel’ ist eine Katastrophe. Auch wenn ich todmüde bin, lese ich nach dem Duschen noch eine halbe Stunde. Mühsam. Wenn Du mit Geschäftspartnern zusammen bist, an irgendeiner Bar, dann bist Du im Bilde.“ Da qualitative Forschung lediglich Plausibilitäts-Argumente produziert (vor allem wenn man danach fragt, wovon die Qualitätsmediennutzung abhängt) und außerdem keine Aussagen über Größenordnungen erlaubt und da vorhandene Datensätze bei weitem nicht alle Indikatoren enthalten, die für eine theoriegeleitete Sekundäranalyse nach dem HabitusKapital-Konzept nötig wären, wurde in einem zweiten Schritt eine repräsentative Telefonbefragung durchgeführt. Habitus und soziale Position (Kapital) sind dabei als unabhängige Variablen konzeptualisiert worden und Mediennutzung sowie Medienbewertung als abhängige. Dieser Teil des Fragebogens konzentrierte sich auf die Angebote, die im kollektiven Wissen mit Anstrengung verbunden sind und in der qualitativen Studie als Qualitätsmedien identifiziert worden waren. Da der Zeitrahmen für eine Telefonbefragung begrenzt ist und ohnehin nicht das komplette Medienrepertoire abgefragt werden kann (vor allem dann nicht, wenn es um konkrete Sendungen und Rubriken geht), wurden alle Angebote weggelassen, die von sehr vielen Menschen genutzt werden und sich folglich nicht zur Distinktion eignen (etwa Fernseh- und Radionachrichten, Spielfilme, Serien oder der Lokalteil in der Zeitung). Die Liste mit Qualitätsmedien unterscheidet sich dabei etwas von der Aufzählung in der Einleitung von Roger Blum:
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Michael Meyen und Olaf Jandura überregionale Tageszeitungen (auch im Internet) einzelne Zeitungsrubriken: Wirtschafts- und Kulturberichte Prestigezeitschriften o Nachrichtenmagazine, politische Wochenblätter: Spiegel, Focus, Stern, Die Zeit, Rheinischer Merkur, Freitag o Wirtschaftszeitschriften: Wirtschaftswoche, Capital, Manager Magazin o Marktführer in bestimmten Segmenten: Brigitte, Neon, Cicero, Geo, Geo Special, Welt am Sonntag, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Das Parlament o Ausländische (vor allem englischsprachige) Blätter: Time Magazine, The Economist, Harvard Business Review, Observer, Wall Street Journal, Cosmopolitan (englische Ausgabe) Wortprogramme und klassische Musik im Radio bestimmte TV-Genres: Wirtschaftssendungen und Dokumentationen
Dass diese Liste einen starken Printschwerpunkt hat, passt zu den Befunden einer DelphiStudie zur Zukunft der Mediennutzung, in der die meisten Experten der Ansicht waren, dass gerade Printmedien sich immer stärker zur Distinktion eignen (TNS Infratest 2009: 202). Neben konkreten Medienangeboten wurde außerdem nach dem Umfang der Mediennutzung gefragt (operationalisiert über die Fernsehdauer, über die Zahl der genutzten Zeitschriften sowie über die Zahl der genutzten Genres und Rubriken), nach Kenntnissen über das Mediensystem (kulturelles Kapital), nach Motiven aus dem Bereich Kapitalmanagement und nach der Wertschätzung der Medien (als Indikator für ihren Stellenwert bei der Kapitalakkumulation):
Nutzungsmotive: Nutzen Sie Medien, um „mehr (zu) wissen als andere“, „um in Beruf und Karriere voranzukommen“, „weil es erwartet wird“; Kenntnisse über das Mediensystem: „Haben Sie eigentlich schon einmal den Namen Stefan Aust gehört? Und wissen Sie auch, wo Stefan Aust arbeitet?“ (Im Untersuchungszeitraum wurde in den Medien über einen Wechsel an der Spitze des Nachrichtenmagazins Der Spiegel spekuliert); „Wenn über den deutschen Fernseh-Markt gesprochen wird, ist häufig von Senderfamilien die Rede. Wissen Sie eigentlich, welche Programme zur gleichen Familie gehören wie ProSieben? Können Sie diese Programme auch nennen?“ Wertschätzung: Sammeln von Zeitschriften, Ausschneiden von Zeitungsartikeln, allgemeines Qualitätsurteil („Über die Qualität der Medien in Deutschland hört man ja ganz unterschiedliche Dinge. Die einen sagen, dass sich jeder umfassend informieren kann. Andere meinen, dass die wichtigen Informationen ohnehin oft nicht an die Öffentlichkeit kommen. Welcher der beiden Meinungen stimmen Sie her zu?“), Bedeutung von Printmedien („Ärgert es Sie, wenn die Zeitung am Morgen nicht im Briefkasten liegt, oder finden Sie das eher nicht so schlimm?“; „Haben Sie manchmal ein schlechtes Gewissen, wenn Sie an einem Tag mal Ihre Zeitung nicht lesen konnten?“; „Wenn jemand sagt, Zeitungen sind nicht so wichtig, Fernsehen und Radio reichen auch, um sich zu informieren. Würden Sie dieser Meinung zustimmen oder nicht?“).
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Bourdieus Kernbegriffe Habitus und Kapital wurden mit Hilfe von Untersuchungen operationalisiert, die mit seinem Konzept arbeiten (ALLBUS, Typologie der Wünsche Intermedia):
Soziodemografie: Alter, Geschlecht, Formalbildung, Haushaltseinkommen; Subjektive Schichtzugehörigkeit: „In unserer Gesellschaft gibt es ja verschiedene Bevölkerungsschichten. Manche stehen eher oben und andere stehen eher unten. Wo würden Sie sich auf einer Skala einordnen, die unten mit 1 beginnt und oben mit 5 aufhört?“; Herkunft: sozial und geografisch; ermittelt über den Beruf des Vaters und den Ort der Sozialisation; Zufriedenheit mit dem bisherigen Leben: „Denken Sie jetzt einmal an Ihre persönliche Situation, jetzt und heute. Haben sich alles in allem Ihre Vorstellungen über das, was Sie im Leben erreichen wollten, bisher mehr als erfüllt / erfüllt / nicht ganz erfüllt / überhaupt nicht erfüllt?“; Zukunftsperspektiven: „Was denken Sie: Wird sich Ihre ganz persönliche Situation in zehn Jahren eher verbessert oder verschlechtert haben oder wird sie eher gleich geblieben sein?“; Aufstiegsmotivation. Berufstätige: „Möchten Sie in Ihrem Unternehmen oder in einem anderen Unternehmen eine höhere Position einnehmen?“; Arbeitslose, Hausfrauen, Berufstätige: „Haben Sie vor, sich in naher Zukunft weiterzubilden?“; Rentner: „Ich habe hier zwei Aussagen über das Leben als Rentner. Welcher der beiden Aussagen würden Sie eher zustimmen: 1. Als Rentner hat man noch viele Aufgaben und Chancen, sich zu verwirklichen. 2. Als Rentner fühlt man sich oft überflüssig.“ Persönliche Lebenslage: Zeit und Ressourcen für die Weiterbildung, Alltagspflichten (etwa durch Kinder oder Pflegefälle) und Alltagsrhythmus, Belastungen im Beruf (Arbeitszeit), Entscheidungsspielraum („Arbeiten andere Personen nach Ihren Anweisungen?“); Freizeitaktivitäten (auch als funktionale Alternative zur Mediennutzung): „In seiner Freizeit kann man ja ganz verschiedene Dinge tun. Sind Sie abends eigentlich oft unterwegs oder doch meist zu Hause?“.
Nach einem Pretest lief die repräsentative telefonische Bevölkerungsbefragung (CATI) zwischen dem 8. und dem 23. Januar 2008. Die Telefonnummern wurden vom ZUMA in Mannheim nach dem Gabler-Häder-Verfahren (Gabler/Häder 2002) gezogen und (wenn sie existierten) maximal zwölf Mal an verschiedenen Tagen kontaktiert. Innerhalb des Haushalts wurden die Befragten nach der Last-Birthday-Methode ausgewählt. Obwohl ausdrücklich auf den universitären Hintergrund hingewiesen wurde und die Interviewer hoch motiviert waren (Teilnehmer eines Hauptseminars, die ein ganzes Semester in die Konzeption der Studie investiert hatten), lag die Ausschöpfungsquote nur bei 23 Prozent – ein Wert, der allerdings auch bei Studien mit ähnlichen Voraussetzungen nicht wesentlich überschritten worden ist (vgl. Quiring 2007). Insgesamt konnten 479 Befragte erreicht werden. Die Daten wurden mit Hilfe des Mikrozensus 2006 gewichtet (Haushaltsgröße, Alter, Geschlecht, Bildung, Ortsgröße). Der Vergleich mit den Markt-Media-Studien bestätigt der Studie eine hohe externe Validität. So liegen alle gemessenen Reichweiten innerhalb der Fehlertoleranz. Beispielsweise gaben 20 Prozent der Befragten an, eine Kaufzeitung zu lesen (BDZV
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2007: 21 Prozent), und 78 Prozent sagten, sie lesen regelmäßig eine Tageszeitung (BDZV 2007: 73 Prozent).
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Ergebnisse I: Typologie der Mediennutzer
Um die (eher langfristigen und relativ stabilen) Muster der Mediennutzung (Medienrepertoire, Nutzung von Qualitätsmedien) beschreiben und das Publikum der Qualitätsmedien sozial verorten zu können, wurde eine Mediennutzertypologie gebildet, die sich auf die Dimensionen Distinktionspotenzial, Nutzungsumfang und Wertschätzung stützt. In die Indexbildung (Punkt-Summen-Index) sind dabei die Variablen, die für die Erfassung des jeweiligen Konstrukts konzipiert waren, ungewichtet eingeflossen:
Distinktionspotenzial: 19 Punkte (Nutzung von Angeboten, die im kollektiven Bewusstsein als anstrengend gelten, deshalb Prestige haben und als Qualitätsmedien gelten: 10 Punkte; intensives Zeitungslesen: 2 Punkte, arbeitsorientierte Internetnutzung: 2 Punkte; Motive, die auf den Wunsch nach kulturellem Kapital hindeuten: 3 Punkte; Kenntnisse über das Mediensystem als Indikator für das entsprechende kulturelle Kapital: 2 Punkte) Wertschätzung: 6 Punkte (Bindung an Printmedien: 3 Punkte; Bedeutung von Printmedien: 2 Punkte; Medienqualität: 1 Punkt) Umfang: 7 Punkte (Fernsehdauer: 2 Punkte; Zeitschriftennutzung: 2 Punkte; Anzahl der Rubriken und Genres in Tageszeitung, Fernsehen und Internet: 5 Punkte).
In der Diskussion auf dem Mediensymposium wurde eingewendet, dass die Punktverteilung auf den drei Dimensionen zu unausgewogen sei. Erstens spielt für die Clusteranalyse aber keine Rolle, ob man drei in etwa gleich große Indizes oder sehr unterschiedlich große einfließen lässt, zweitens hätte sich kaum begründen lassen, einzelne Indikatoren für das Distinktionspotenzial nicht mit aufzunehmen, und drittens liegen die Mittelwerte längst nicht so weit auseinander wie die Extreme (Distinktionspotenzial: 7,2, Umfang: 3,7, Wertschätzung: 2,1). Mit einer z-Transformation wurden außerdem die Unterschiede nivelliert, bevor eine explorative Clusteranalyse gerechnet wurde. Statistisch erwiesen sich neun Typen als die beste Lösung (Abbildung 2; F-Wert: 924). Der (ebenfalls in Zürich geäußerte) Einwand, das Auswertungsprogramm produziere die Typologie gewissermaßen automatisch auf Basis der vergebenen Punkte, lässt sich leicht entkräften: Würde man jeden Index in Tercile teilen (hoch, mittel und niedrig), gäbe es theoretisch 27 unterschiedliche Ausprägungen. Neun davon konnten wir statistisch nachweisen: Im Datenmaterial sind neun verschiedene Variationen der Intensität der Ausprägungen der Indices zur Distinktionsqualität, zum Umfang und zur Bedeutung der Medien enthalten, die in sich homogen, zu den anderen acht Typen jedoch heterogen sind. Die Typologie sollte zum einen zeigen, wie die unterschiedlichen Nutzungsmuster in der Gesamtbevölkerung verteilt sind, und zum anderen die Frage beantworten, welche Faktoren den Umgang mit Medienangeboten beeinflussen – über die Variablen hinaus, die in die Clusteranalyse eingeflossen sind. Für die Beschreibung der Typen wird dabei nicht auf die Indizes zurückgegriffen, sondern auf die konkreten Variablen und hier vor allem auf die Nutzung der Qualitätsmedien. Die Verdichtung von zum Teil sehr komplexen Mustern auf
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einen Typennamen ist dabei natürlich problematisch. Auf dem Mediensymposium wurde zum Beispiel diskutiert, ob die Bezeichnung „Bildungsbürger“ wirklich optimal sei. Die Beschreibung der Nutzungsmuster sollte allerdings helfen, die hier intendierte Bedeutung wenigstens nachvollziehen zu können. Abbildung 1:
Typologie der Mediennutzer und Mittelwerte der drei Indices Distinktionspotenzial
Umfang
Wertschätzung
12,9 10,9 9,8 8,1 7,8 6,0 4,8 3,1 1,2 7,2
4,0 3,9 4,0 4,8 3,0 4,6 2,3 4,2 1,1 3,7
2,3 3,7 1,4 3,4 1,9 1,8 1,4 1,7 0,9 2,1
Kritiker Profis Ehrgeizige Pflichtbewusste Bildungsbürger Genügsame Wählerische Konsumenten Medienverweigerer Gesamt
Anteil (in Prozent) 8 11 11 14 13 15 11 11 5 100
4.1 Die Kritiker (8 Prozent) Die Kritiker sind jung (Durchschnittsalter: 43 Jahre), eher männlich, formal gut gebildet, gut situiert und aufstiegsorientiert, sie sehen optimistisch in die Zukunft (54 Prozent) und stufen sich in der gesellschaftlichen Hierarchie etwas oberhalb der Mitte ein (Mittelwert 3,2). Medienangebote sind für sie etwas wichtiger als für den Durchschnitt. Dieser Typ nutzt ein sehr breites Medienrepertoire und hier vor allem Qualitätsmedien. Die Mediennutzung dieses Typs ist in erster Linie durch den Blick auf die Karriere und die Erwartungen der Mitmenschen motiviert. Die Kritiker halten Printmedien schon für wichtig und ärgern sich, wenn die Zeitung morgens nicht im Kasten liegt (64 Prozent), sie kennen sich in der Medienlandschaft sehr gut aus, glauben aber nicht, dass man sich hierzulande umfassend informieren kann (75 Prozent). Zu den Kritikern gehören vor allem Beschäftigte aus dem öffentlichen Dienst und aus der Medienbranche, Selbständige sowie Studierende. 4.2 Die Profis (11 Prozent) Die Profis sind in vielen Punkten mit den Kritikern vergleichbar: Sie nutzen ein ähnliches Medienrepertoire (auch hier vor allem Prestige- und Informationsmedien), wissen über die Medienlandschaft fast genauso gut Bescheid und sind (oder waren) in ähnlichen BerufsBereichen (öffentlicher Dienst, Selbständige). Die Profis halten die Medienqualität in Deutschland aber für sehr viel besser als die Kritiker (70 Prozent) und schätzen die Angebote folglich höher – möglicherweise auch, weil sie kulturelles Kapital in Form von Medienwissen benötigen, um ihren Status (Mittelwert 3,3) abzusichern. Die Profis sind mit ihrem Leben sehr zufrieden (71 Prozent), aber etwas älter als die Kritiker (Durchschnitt: 53 Jahre), zum Teil schon in Rente und in Sachen Zukunft etwas weniger optimistisch (35 Prozent).
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4.3 Die Ehrgeizigen (11 Prozent) Dieser Typ ist soziodemographisch fast eine Kopie der Kritiker. Auch die Ehrgeizigen sind relativ jung (42 Jahre) und haben im Leben noch viel vor, obwohl sie sich in der gesellschaftlichen Hierarchie schon jetzt etwas oberhalb der Mitte einstufen (Mittelwert 3,18), häufig Leitungspositionen bekleiden oder selbständig sind. Das Aufstiegsziel dominiert auch den Umgang mit Medienangeboten, wobei die Ehrgeizigen hier offenbar andere Mittel für erfolgversprechender halten als kulturelles Kapital in Form von Medienwissen (etwa Fachzeitschriften: Reichweite 70 Prozent). Sie lesen zwar zum Teil die überregionale Presse (28 Prozent), schätzen die Qualität des Journalismus aber insgesamt als sehr gering ein, halten Tageszeitungen und journalistische Formate im Fernsehen für nicht sehr wichtig und haben kein schlechtes Gewissen, wenn sie eine Zeitungsausgabe verpassen. 4.4 Die Pflichtbewussten (14 Prozent) Medien sind für die Pflichtbewussten sehr wichtig: Dieser Typ verbringt viel Zeit mit den Angeboten der Massenmedien und schreibt diesen Angeboten auch eine große Bedeutung zu. Neben Entspannung und Ablenkung ist dabei die Absicherung des eigenen Status das zentrale Motiv. Sie lesen ausführlich Zeitung und sehen überdurchschnittlich lange fern, um mitreden zu können (69 Prozent) und um mehr (oder wenigstens genauso viel) zu wissen wie andere (41 Prozent), sie ärgern sich (54 Prozent) und haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie ihre Zeitung (die bei nicht wenigen Pflichtbewussten auch eine Boulevardzeitung sein kann) nicht lesen können (42 Prozent), und sie tun das, was man von Menschen in ihrer Position erwartet (zum Beispiel klassische Musik hören). Qualitätsmedien werden von diesem Typ aber gemieden. 4.5 Die Bildungsbürger (13 Prozent) Die Bildungsbürger haben deutlich mehr ökonomisches Kapital als der Durchschnitt. Sie benötigen die Medien deshalb eigentlich weder als Unterhalter noch als Lieferanten von kulturellem Kapital, nutzen aber solche Angebote, die ihrem Status angemessen sind. Dieser Typ hört zum Beispiel klassische Musik (48 Prozent) oder kauft Fachzeitschriften (57 Prozent) und hat in der Regel auch eine Zeitung abonniert (48 Prozent), ohne dass er dort alles liest oder gar ein schlechtes Gewissen hat, wenn die Zeit dafür einmal nicht reichen sollte (84 Prozent). Die Bildungsbürger hören kaum Radio (67 Prozent) und sehen wenig fern (vor allem keine Unterhaltungssendungen). Zu ihrem Selbstverständnis gehört es trotzdem, sich in der Medienlandschaft auszukennen. 4.6 Die Genügsamen (15 Prozent) Die Genügsamen nutzen Medienangebote vor allem, um die Welt um sich herum zu vergessen. Dieser Typ hat in der Regel zwar eine (regionale) Zeitung (60 Prozent), liest das Blatt aber nicht komplett (vor allem nicht den Wirtschafts- und den Kulturteil, 67 bzw. 49 Prozent) und hält Printmedien auch nicht für übermäßig wichtig. Obwohl die Genügsamen zu den Vielnutzern zählen, wissen sie wenig über die Organisationsstrukturen der Medien. Dieser Typ ist vor allem in den unteren gesellschaftlichen Schichten zu finden (Mittelwert
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2,98). Die Genügsamen sind eher weiblich (64 Prozent), formal unterdurchschnittlich gebildet (52 Prozent), manchmal arbeitslos und materiell nicht besonders gut gestellt (61 Prozent). 4.7 Die Wählerischen (11 Prozent) Medienangebote spielen im Alltag dieses Typs zwar eine etwas größere Rolle als bei den Medienverweigerern, sind aber auch für ihn nicht besonders wichtig. Wichtigste Nutzungsmotive sind Spaß und Mitreden können (45 Prozent) – und zwar vor allem auf den Gebieten, für die sie sich besonders interessieren. Dazu gehört für einige Befragte, die diesem Typ zugeordnet wurden, sich Audio- und Videodateien aus dem Internet zu holen (11 Prozent). Die Wählerischen haben entweder keine Zeitung abonniert (54 Prozent) oder ärgern sich nicht, wenn das Blatt morgens nicht im Kasten liegt (88 Prozent). Dieser Typ hält Printmedien generell nicht für besonders wichtig und sieht sehr wenig fern – vermutlich weil er durch die Kinder und/oder die Arbeit in der Industrie, in einem Dienstleistungsberuf oder in der Selbständigkeit ausgelastet ist und in Bereichen tätig ist, in denen kulturelle Kapital in Form von Medienwissen keine Vorteile verspricht. 4.8 Die Konsumenten (11 Prozent) Die Konsumenten nutzen Medien, damit es daheim gemütlicher ist (72 Prozent). Sie lassen das Radio im Hintergrund laufen (87 Prozent) und sehen sehr lange fern (vor allem Unterhaltungsformate wie Serien, Shows und Komödien). Wenn eine Tageszeitung überhaupt zum Medienrepertoire dieses Typs gehört, dann ist es eher ein Boulevardblatt (28 Prozent). Die Konsumenten meiden anstrengende Angebote, wissen wenig über Medienstrukturen und glauben nicht, dass man sich in Deutschland umfassend informieren kann (77 Prozent). Dominiert wird dieser Typ von Rentnerinnen (67 Prozent), die auf dem Lande leben, formal unterdurchschnittlich gebildet sind (69 Prozent) und eher pessimistisch in die Zukunft blicken (31 Prozent). 4.9 Die Medienverweigerer (5 Prozent) Für diesen Typ sind Medienangebote vollkommen unbedeutend. Die Medienverweigerer lesen kaum Tageszeitungen (63 Prozent) und Zeitschriften (84 Prozent), hören wenig Radio, sehen wenig fern und konnten folgerichtig mit keinem der angebotenen Nutzungsmotive etwas anfangen. Obwohl (oder weil?) dieser Typ kaum Medien nutzt und wenig über die Medienstrukturen weiß, kritisiert er die Informationsqualität der Angebote (67 Prozent). Die Medienverweigerer leben oft allein. Einige Befragte, die diesem Typ zugeordnet wurden, studieren noch. Generell haben die Medienverweigerer nicht viel Geld (auch weil sie teilweise mit den Händen arbeiten), sind in der Freizeit viel unterwegs (60 Prozent) und blicken mit Optimismus in die Zukunft (60 Prozent), obwohl sich ihre Erwartungen an das Leben bisher eher nicht erfüllt haben (53 Prozent). Die Akkumulation von kulturellem Kapital über die Nutzung von Medienangeboten spielt im Lebensplan dieses Typs aber offenbar keine Rolle (mehr).
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Ergebnisse II und Fazit: Das Publikum der Qualitätsmedien
Diese Typologie zeigt zum einen, dass das Distinktionspotenzial bei der Mediennutzung nicht besonders hoch ist und Medienangebote insgesamt nicht sonderlich geschätzt werden. Bei beiden Punkt-Summen-Indizes lag der empirische Mittelwert deutlich unter dem theoretischen (vgl. Abbildung 2). Zum anderen wird zunächst erneut bestätigt, dass das Publikum der Qualitätsmedien überschaubar ist (vgl. hierzu den Beitrag von Olaf Jandura und Hans-Bernd Brosius in diesem Band) und sich eigentlich auf zwei Typen beschränkt: auf die Kritiker, die kulturelles Kapital in Form von Medienwissen benötigen, um ihre Karriere weiter voranzutreiben, und auf die Profis, die etwas älter und nicht mehr ganz so aufstiegsorientiert sind und ihren gesellschaftlichen Status absichern wollen – auch über ein Medienrepertoire aus Qualitätsmedien. Beide Typen haben eine hohe Distinktionsorientierung, liegen bei der Wertschätzung deutlich über dem empirischen Mittelwert (vgl. Abbildung 2) und stammen aus ganz ähnlichen Berufsgruppen: Sie arbeiten im öffentlichen Dienst oder im Medienbereich, studieren noch (einige der Kritiker) oder sind selbständig. Dass die Konsumenten, die Genügsamen und die Medienverweigerer keine Qualitätsmedien nutzen, ist weniger überraschend als der Blick auf die Bildungsbürger, die Ehrgeizigen, die Pflichtbewussten und die Wählerischen – auf Menschen, die (zumindest teilweise) Geld haben, formal hoch gebildet sind, leitende Positionen einnehmen, deshalb zur Elite der Gesellschaft gehören und normalerweise wenigstens in Teilen dem Publikum der Qualitätsmedien zugeschlagen werden (vgl. Ruß-Mohl 2008: 4064). Alle vier Typen können allerdings wenig mit kulturellem Kapital in Form von Medienwissen anfangen. Die Pflichtbewussten können oder wollen nicht mehr aufsteigen, die Ehrgeizigen setzen eher auf Fachund Spezialwissen, und die Bildungsbürger sowie die Wählerischen verfügen über andere (wirkungsvollere) Distinktionsmittel (über ökonomisches Kapital oder über einen Prestigeberuf). Da Qualitätsmedien überall da keine Rolle spielen, wo Medienwissen oder ein prestigeträchtiges Medienrepertoire keinen Gewinn versprechen, gibt es keinen linearen Zusammenhang mit einer hohen Formalbildung und einer gehobenen sozialen Position. Da die Kritiker und die Profis vor allem im öffentlichen Dienst, in der Medienbranche oder als Selbständige arbeiten (und damit möglicherweise auch von Aufträgen der öffentlichen Hand leben, zumindest aber von den Aktivitäten des Gesetzgebers abhängen), noch studieren oder eine Arbeitslaufbahn hinter sich haben, die mit Prestige verbunden war, ist zu vermuten, dass die soziale Position dieser Menschen stärker als bei anderen von der Legitimation der sozialen Ordnung abhängt und davon, dass sie über Medienwissen und Medienrepertoire ihre Verbundenheit mit dieser Ordnung dokumentieren. In einer Gesellschaft, in der Medienangebote tendenziell eher zur Unterhaltung genutzt werden, verspricht die Nutzung von Qualitätsmedien, die im kollektiven Bewusstsein mit Anstrengung und einem Interesse an öffentlichen Angelegenheiten verbunden sind, einen Distinktionsgewinn nach unten („Ordnung der Medien“). Dieser Befund dürfte die These von der „Krise“ relativieren, in der sich Qualitäts- und Leitmedien befinden (vgl. die Einleitung von Roger Blum in diesem Band). Da anzunehmen ist, dass der Distinktionsbedarf in einer komplexen und funktional hoch differenzierten Gesellschaft weiter steigt, werden Informationsangebote mit einem hohen symbolischen Kapital weiter ihr Publikum finden (wenn auch kein großes, da sonst die Abgrenzung nach unten ausscheidet, vgl. d’Inka 2007: 7). Dieses Publikum ist allerdings nicht unbedingt an Meinungs- und Willensbildungsprozessen interes-
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siert oder daran, sich in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen, sondern zuallererst auf der Suche nach kulturellem Kapital und nach einem Distinktionsmerkmal.
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Michael Meyen und Olaf Jandura
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Vom Zugewinn der Marken: Potenziale überregionaler Qualitätszeitungen auf dem Nutzermarkt und ihre Voraussetzungen Lars Rinsdorf 1
Einleitung
Es gibt gute Gründe, von einer Krise der Qualitätsmedien zu sprechen: Die Nachrichten von Sparpaketen, Umsatzeinbußen und Auflagenverlusten renommierter Titel weltweit häufen sich (vgl. dazu etwa die Beiträge von Blum und Ruß-Mohl in diesem Band). Auch aus dem deutschen Markt kommen nicht gerade Erfolgsmeldungen. Wie die gesamte Branche haben auch die Qualitätsblätter Probleme, junge Leser zu erreichen. Bekannt sind auch die strukturellen Veränderungen im Anzeigengeschäft, die etwa im Stellen-, KfZ- oder Immobilienbereich zu sinkenden Erlösen geführt haben. Keine rosigen Aussichten also für Leser, Redaktionen und Verleger. Aber dennoch wäre es verfehlt, den Qualitätsmedien vorzeitig ein frühes Ende vorherzusagen. Denn die aktuelle Entwicklung verdient durchaus eine differenzierte Betrachtung – insbesondere im Hinblick darauf, in welcher Hinsicht sich Qualitätsmedien in einer Krise befinden. Blum greift in seinem einführenden Beitrag dazu die Metapher der Qualitätsmedien als Leuchttürme auf, die in westlichen Demokratien für besondere publizistische Orientierung sorgen. Dieses Bild lässt sich entsprechend auffächern: Ist die aktuelle Krise eine Folge von Missmanagement und falschen verlegerischen Grundsatzentscheidungen? Dann hätten wir es quasi mit Folgeschäden lange vernachlässigter Wartungsarbeiten an Optik und Fundamenten zu tun. Die ließen sich aber wenigstens prinzipiell in den Griff bekommen – ausreichend liquide Mittel vorausgesetzt. Dieser Faktor spielt in der aktuellen Entwicklung der Qualitätsmedien sicher eine Rolle, relevanter sind allerdings Fragen nach Nutzung und Akzeptanz, die man auf zwei Ebenen stellen kann:
Wie entwickelt sich erstens grundsätzlich Nachfrage nach hochwertigem Journalismus? Gibt es vielleicht weniger Schiffe, die überhaupt navigieren möchten, oder fahren mehr Kapitäne auf Sicht? Und in welchem Ausmaß ist die Krise der Qualitätsmedien zweitens verbunden mit der Akzeptanz ihrer tradierten Ausspielkanäle: Lässt sich also, bildlich gesprochen, ein Bedeutungsverlust des Funktionsprinzips der Leuchttürme beobachten, der durch neue Navigationstechnologien verursacht wird? Das würde es immerhin den Leuchtturmbetreibern ermöglichen, unter ihrem Namen GPS-Geräte zu vertreiben.
Ob man von einer tiefgreifenden Akzeptanzkrise der Qualitätsmedien sprechen kann, ist die Hauptfrage, mit der sich der folgende Beitrag auseinandersetzt. Hierbei geht es nicht allein darum, wie die journalistischen Angebote der Qualitätsmedien in ihrem aktuellen Ausspielkanal Print genutzt werden, sondern auch darum, wie sich die Akzeptanz dieser Angebote in einer konvergenten Medienlandschaft entwickelt. R. Blum et al. (Hrsg.), Krise der Leuchttürme öffentlicher Kommunikation, DOI 10.1007/978-3-531-93084-8_14, © VS Verlag fur Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Lars Rinsdorf
Damit ist zugleich die Frage aufgeworfen, welche Rolle Medienmarken aktuell und in Zukunft spielen werden, die für eine spezifische Form des Journalismus in unterschiedlichen Ausspielkanälen stehen. Hier steht zunächst die Signaling-Funktion von Medienmarken im Vordergrund, die Nutzerinnen und Nutzen in einer von Qualitätsintransparenz geprägten Situation die Entscheidung zwischen unterschiedlichen Medienangeboten erleichtert. Ebenso geht es um die ökonomischen Vorteile, die sich aus etablierten Medienmarken bei der Gestaltung neuer Wettbewerbssituationen für Medienunternehmen ergeben. Daneben lässt sich das Markenkonzept aber auch theoretisch fruchtbar machen für die Abgrenzung von Qualitätsmedien und sonstigen Medienangeboten. Um diese Fragen in der hier geboten Kürze beantworten zu können, beschränkt sich der vorliegende Beitrag beispielhaft auf den deutschen Zeitungsmarkt. Untersucht wird die Entwicklung der Titel, denen wegen ihrer Auflagenhöhe, ihrer überregionalen Verbreitung und ihrer redaktionellen Ressourcen in Wissenschaft und öffentlicher Debatte der Status von Qualitätsmedien zugesprochen wird, nämlich der Zeit, der Süddeutschen Zeitung, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Frankfurter Rundschau, der Welt, der Financial Times Deutschland und dem Handelsblatt. Ausgangspunkt der Überlegungen ist eine Analyse der aktuellen Marktentwicklung überregionaler Titel in Deutschland in Abschnitt 2. Die Datenbasis hierfür liefern hauptsächlich die Auflagendaten der IVW sowie die Befunde der Allensbacher Werbeträgeranalyse zur Nutzung überregionaler Printmedien.1 Beide Datenbestände werden sowohl im Querschnitt als auch im Längsschnitt für die Dekade zwischen 1998 und 2008 analysiert. In Abschnitt 3 rücken dann die Perspektiven der deutschen Qualitätstitel in den Vordergrund: Welche Trends prägen die Rezeption von Massenmedien, und wie wirken sie sich speziell auf die Qualitätstitel aus? In Abschnitt 4 wird diskutiert, welche Auswirkungen dies auf die Marktchancen von Qualitätsmedien hat und welche journalistischen Herausforderungen sich dabei für die Redaktionen ergeben.
2
Die Situation auf dem Lesermarkt: Sieht so eine Krise aus?
2.1 Wider die Schwarzmalerei: Ermutigende Signale Die Sorge um die Zukunft der Qualitätstitel und deren publizistische Leistung für die moderne Öffentlichkeit erscheint auf den ersten Blick nicht unberechtigt. Die Warnsignale, die sich allein aus der Lektüre einschlägiger Branchendienste ergeben, sind schwer zu übersehen. Ein Blick auf fundamentale Daten zum Markt überregionaler Titel zeigt jedoch, dass sich diese Gattung in den vergangenen zehn Jahren erstaunlich gut entwickelt hat. Deutlich wird dies zum Beispiel an Basisdaten wie der verkauften Auflage oder der Reichweite. So hat sich Gesamtauflage2 der hier untersuchten Titel positiv entwickelt. 1998 setzten die Titel zusammen an jedem Erscheinungstag durchschnittlich 1,84 Millionen 1 Die Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern (IVW) ist die in Verlags- und Werbewirtschaft anerkannte neutrale Prüforganisation, die für den deutschen Markt verbindliche Auflagendaten zur Verfügung stellt. Die AWA ist eine repräsentativ angelegte Markt-Media-Studie mit jeweils ca. 21.000 Befragten, die jährlich vom Institut für Demoskopie Allensbach durchgeführt wird. 2 Sofern nicht anders angegeben, ist mit dem Begriff Auflage stets die verkaufte Auflage nach IVW im 1. Quartal des jeweiligen Jahres gemeint.
Vom Zugewinn der Marken
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Exemplare ab, im Jahre 2008 dagegen 1,98 Millionen Exemplare. Das entspricht einer Steigerung von 6,9 Prozent. Ähnlich ist der Trend bei der Bruttoreichweite der Qualitätstitel: Alle zusammen erreichten 1998 täglich rund 5,96 Millionen Menschen, zehn Jahre später waren es 6,07 Millionen. Die Zuwachsrate ist in Relation zur Auflage zwar geringer, liegt aber immer noch bei 1,9 Prozent. Das sind keine Zuwachsraten, die sich etwa mit der Expansion der Internet-Nutzung vergleichen lassen. Aber diese moderaten Gewinne stehen in einem anderen Licht, wenn man sie in Relation zur gesamten Zeitungslandschaft stellt. Hier zeigt sich nämlich, dass sich die Qualitätstitel bislang vom negativen Branchentrend abkoppeln konnten. Die Zeitungsmarketinggesellschaft ZMG bereitet regelmäßig die Auflagenentwicklung des Regional- und Strassenverkaufs sowie der überregionalen Zeitungen auf.3 Und in diesem Vergleich kann man gut erkennen, dass die Auflage der Überregionalen in der vergangenen Dekade stets stabil bei ca. 1,6 Millionen Exemplaren lag, während die anderen beiden Gattungen im selben Zeitraum deutlich verloren haben (siehe Tab. 1): Die Auflage der Regionalzeitungen ist insgesamt um 17 Prozent zurückgegangen. Die Kaufzeitungen – mit dem Schwergewicht BILD – haben sogar 26 Prozent ihrer Auflage eingebüßt. Tabelle 1: Auflagenentwicklung der Zeitungen nach Gattungen in Millionen Exemplaren Jahr
Lokalzeitungen
Überregionale Zeitungen
Strassenverkaufszeitungen
1998 2003 2008
17,3 15,8 14,3
1,6 1,7 1,6
6,1 5,1 4,5
Die Tabelle zeigt die verkaufte Auflage (jeweils IVW, 2. Quartal, Mo-Sa) in Mio. der verschiedenen Tageszeitungsgattungen. Quelle: ZMG
Dieser Befund ist in mehrfacher Hinsicht bedenkenswert. Erstens hilft er, die Veränderungen bei den Qualitätstiteln und deren potenzielle Auswirkungen auf die Öffentlichkeit besser einzuordnen. Denn so schwerwiegend die publizistischen Auswirkungen einer Krise an der Spitze auch sein mögen, so klar zeigt sich auch, dass die Akzeptanzverluste lokaler Titel in der Fläche nicht nur offensichtlicher, sondern aus demokratietheorietischer Perspektive unter Umständen auch weitaus problematischer sind. Aus einem ähnlichen Blickwinkel lassen sich auch die Auflagenverluste der Kaufzeitungen deuten, die in erster Linie von der BILD-Zeitung getragen werden: Was bedeutet es für politische und gesellschaftliche Diskussionen, wenn die Akzeptanz dieses Leitmediums schwindet? Hier steht sicher keine Instanz im Feuer, die durch differenzierten Journalismus Diskurse begleitet und gestaltet, aber ein Titel, der zweifellos in der Lage ist, Themen auf die Agenda zu setzen. Und ein Titel, den eine breite Leserschaft auch zur politischen Orientierung nutzt. Schließlich ließe sich diese Entwicklung schon als Indiz dafür ansehen, dass die Qualitätstitel offensichtlich besser als die Regionalzeitungen in der Lage waren, mit ihrem speziellen Leistungsversprechen Käufer zu finden und Abonnenten zu binden, ohne (primär) über deren einzigartigen Verkaufsvorteil einer breiten lokalen Berichterstattung zu verfügen. 3 In der Gattungseinteilung der ZMG tauchen unter den überregionalen Titeln neben den in diesem Text hauptsächlich betrachteten Titeln noch einige kleinere Zeitungen auf, während die Zeit als Wochentitel nicht berücksichtigt wird. Daraus erklärt sich die die Differenz zu den oben genannten Auflagenzahlen.
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Lars Rinsdorf
Allem Anschein nach konnten sich die überregionalen Titel bislang gut dem Trend entziehen, dass wachsende Teile der Bevölkerung dem gedruckten Wort den Rücken kehren und auf andere aktuelle Medien ausweichen. Ganz offensichtlich sind sie in Publikumssegmenten gut positioniert, in denen Lesen nach wie vor eine wichtige Rolle spielt. Und diese Segmente erweisen sich auch aus anderen Blickwinkeln als durchaus krisenresistent, denn die überregionalen Zeitungen in Deutschland sind gut platziert in einer exklusiven Nische des Publikums. Das wird deutlich, wenn man sich anschaut, welche Zielgruppen eine besonders hohe Affinität zu den überregionalen Titeln haben, welche also in der Leserschaft in Relation zur Gesamtbevölkerung besonders stark vertreten sind. Auch hier liefert die 2008er-Welle der AWA recht eindeutige Ergebnisse. Die Affinität einer Zielgruppe wird üblicherweise durch einen Indexwert dargestellt, in dem der Anteil der Zielgruppe unter der Leserschaft im Zähler und der Anteil der Zielgruppe an der Gesamtbevölkerung im Nenner steht, wobei das Ergebnis dann mit 100 multipliziert wird. Affinitätswerte von 100 zeigen an, dass eine Zielgruppe in Leserschaft und Bevölkerung gleich stark vertreten ist. Hohe Indexwerte deuten dagegen darauf hin, dass die jeweilige Zielgruppe einen überdurchschnittlich hohen Teil der Leserschaft ausmacht. Berechnet man auf Basis der AWA-Daten Affinitätsindices für die Kernleserschaften der hier untersuchten Titel, ergeben sich teilweise beachtliche Ausschläge (vgl. Tab. 2): Überregionale Titel sind besonders gut platziert in der Oberschicht, einer Zielgruppe, die das IfD vor allem über die materiellen Ressourcen definiert. Sie erreichen zudem besonders viele Menschen, die zur höchsten der sieben Stufen des gesellschaftlichen Status zählen, die in der AWA entlang Einkommen, Bildung und anderer kultureller Ressourcen gebildet werden. Die überregionalen Titel sind aber auch unter Meinungsführern, deren Rolle in sozialen Netzwerken sich stärker auf deren Reputation als auf deren ökonomische Ressourcen stützt, gut vertreten. Nicht zuletzt schöpfen überregionale Titel auch zukunftsträchtige Zielgruppen wie z.B. die sog. Urban Professionals überdurchschnittlich gut aus – nach AllensbachDefinition sind das hoch qualifizierte, gut bezahlte und jüngere Fachkräfte, die in Ballungsräumen wohnen. Auch Innovatoren im Sinne der Diffusionsforschung, die technische Neuerungen als erste aufgreifen, sind bei den überregionalen Titel besonders stark vertreten. Dieses Ergebnis war nicht unbedingt zu erwarten, denn beide Zielgruppen sind in der Regel auch besonders offen für technische Innovationen im Medienbereich und hätten auch verstärkt dazu neigen können, die Zeitungslektüre durch Web-Angebote zu substituieren. Allem Anschein nach ist genau das bei den überregionalen Titeln nicht passiert. Tabelle 2: Affinität bestimmten Zielgruppen zu überregionalen Tageszeitungen Zielgruppe nach AWA Oberschicht Höchster Status Urban Professionals Innovatoren Meinungsführer
Minimaler Affinitätsindex 196 261 176 416 132
Maximaler Affinitätsindex 629 532 460 805 248
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Die Tabelle zeigt die Bandbreite der Affinität attraktiver Zielgruppen zu den untersuchten Titeln. Ein Affinitätswert von 100 bedeutet, dass die Zielgruppe in der Leserschaft genauso stark vertreten ist wie in der Gesamtbevölkerung. Werte über 100 zeigen, dass die Zielgruppe in der Leserschaft in Relation zur Gesamtbevölkerung stärker vertreten ist. Lesebeispiel: Angehörige der Oberschicht sind in den Kernleserschaften der untersuchten Titel bis zu sechsmal so stark vertreten wie in der Gesamtbevölkerung. Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis der AWA 2008 Diese hohen Affinitätsgrade dürfen nicht zu dem Fehlschluss verleiten, dass die Überregionalen allein auf diese Top-Zielgruppen bauen könnten – einen Großteil ihrer Reichweite erarbeiten sich auch SZ, FAZ usw. in der Mitte der Bevölkerung. Zudem ist die Bandbreite der Affinitätsgrade auch innerhalb der Qualitätstitel beträchtlich. Dabei stehen in der Regel die Wirtschaftstitel wie FTD und Handelsblatt am oberen Ende der Skala und regional verankerte Titel wie etwa die Frankfurter Rundschau am unteren. Aber tendenziell sind die hohen Affinitäten ein weiteres Indiz für die Markenstärke überregionaler Titel. Sie profitieren zudem auch davon, dass die Zeitungen allgemein als Quelle für aktuelle Informationen im Medienalltag der Bundesbürger nach wie vor eine wichtige Rolle spielen. Darauf deuten zum Beispiel Ergebnisse der ACTA hin, in der das IfD Allensbach jährlich eine repräsentativ ausgewählte Stichprobe der Bundesbürger zu ihrer Nutzung von klassischen Medien, Computern und Internetangeboten befragt (vgl. Tab.3). Die Bedeutung verschiedener Medien als Quelle aktueller Informationen wird dabei auf zwei Ebenen erfasst: Zunächst schätzen die Teilnehmer der Studie generell den Stellenwert eines Mediums als Informationsquelle ein. Alle Befragten, die hier ein Medium genannt haben, werden danach noch zusätzlich gefragt, ob sie in den jeweiligen Medien am Vortag der Befragung tatsächlich aktuelle Nachrichten rezipiert haben. Auf der ersten Stufe hat das Fernsehen als Update-Kanal zwar den höchsten Stellenwert, aber die Zeitung liegt weit vor dem Radio und dem Internet. Dieser Trend verstärkt sich wenn man auch die tatsächliche Nutzung berücksichtigt: Hier klaffen vor allem bei Web-Angeboten noch eine relativ große Lücke zwischen „gefühlter“ Bedeutung und tatsächlicher Nutzung. Tabelle 3: Nutzung von Medien als Quelle für aktuelle Nachrichten. Medium
Als wichtigste Quelle genannt (in %)
Zeitung Fernsehen Radio Internet
54 71 38 36
Anteil der Nutzer am Vortag unter Befragten, die Quelle prinzipiell wichtig finden (in %) 72 71 59 41
Die Tabelle zeigt den Anteil der Befragten in Prozent, die das jeweilige Medium als wichtige Informationsquelle für aktuelle Nachrichten nennen, sowie den Anteil dieser Befragten, die sich am Vortag tatsächlich aus dem jeweiligen Medium informiert haben. Lesebeispiel: 54 % der Befragten halten die Zeitung für ein wichtiges Medium, um sich über aktuelle Ereignisse zu informieren. Von diesen Befragten haben 72% am Vortag auch tatsächlich aktuelle Meldungen in der Zeitung gelesen. Quelle: Köcher (2008).
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Betrachtet man dann nicht nur die Nutzung aktueller Nachrichten, sondern die Orientierungsfunktion von Medien, spielt die Zeitung als Gattung nach wie vor ihre besonderen Stärken aus. Dafür spricht zum Beispiel, dass die Zeitung in der jüngsten Welle der Studie Massenkommunikation nach wie besonders oft genannt wird, wenn es darum geht, mitreden zu können, Denkanstöße zu bekommen oder sich besser im Alltag zurechtzufinden (vgl. Engel/Windgasse 2005: 428f). 2.2 Wider die Sorglosigkeit: Beunruhigende Entwicklungen Angesichts der Eckdaten kann man sich durchaus fragen: Sieht so eine Krise der Qualitätstitel aus? Auf den ersten Blick eher nicht. Wenn man die Daten allerdings genauer analysiert, findet sich doch eine Reihe von deutlichen Hinweisen auf die Umbruchphase, in der sich die Gattung befindet. So hat sich die Auflagenstruktur der hier untersuchten überregionalen Qualitätstitel in den vergangenen Jahren deutlich verschlechtert (vgl. Tab. 4): Betrachtet man nicht mehr global die verkaufte Auflage, sondern die Einzelkomponenten, aus denen sie sich zusammensetzt, kann man sehr deutlich sehen, dass sich die Vertriebsabteilungen der Verlage diese positive Gesamtentwicklung hart erarbeitet haben. Denn das Auflagenwachstum der vergangenen Dekade speist sich vor allem aus sonstigen Verkäufen und Bordexemplaren, die beide zu deutlich rabattierten Preisen in den Markt gehen. Tabelle 4: Gesamtauflagenstruktur der hier untersuchten überregionalen Qualitätstitel Auflagenkategorie nach IVW Verkaufte Auflage (gesamt) Abonnement Einzelverkauf Sonstige Verkäufe Bordexemplare
1998 1,84 1,22 0,47 0,15 0,12
2003 1,9 1,25 0,35 0,11 0,18
2008 1,98 1,22 0,31 0,18 0,27
Die Tabelle zeigt die Entwicklung der kumulierten Auflage der hier untersuchten Titel von 1998 bis 2008 (1. Quartal, Mo-Sa) in Mio. getrennt nach Auflagenkategorien. Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis von IVWDaten
Hohe sonstige Verkäufe sind zudem ein Indiz für ein intensiviertes Abo-Marketing, das letztlich auch zu einer im 10-Jahres-Vergleich einigermaßen stabilen Abonnementsauflagen geführt hat. Betrachtet man hingegen allein die Entwicklung zwischen 2003 und 2008, sind die Abonnementsauflagen schon etwas erodiert. Dies ist ökonomisch insofern von Bedeutung, dass die Abonnenten nicht nur planbare Vertriebserlöse liefern, sondern die Abonnementsquote letztlich auch eine der härtesten Indikatoren für die Loyalität der Nutzerschaft ist. Die wiederum ist ein wichtiger Einflussfaktor auf den strategischen Wert des Kundenstamms. Sehr ernst nimmt sich bereits die Entwicklung im Einzelverkauf aus. Hier ist die Gesamtauflage der hier untersuchten Qualitätstitel in den vergangenen zehn Jahren um rund ein Drittel gesunken. Am Kiosk zeigt sich damit besonders deutlich, dass wir zwar nach wie vor von einer hohen Nachfrage nach Qualitätsjournalismus sprechen können, aber von eindeutig sinkenden Preisbereitschaften. Die Auswirkungen dieser Verschiebung werden besonders deutlich am Beispiel des einzigen Titels, der in dem untersuchten Segment in den
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vergangenen Jahren neu erschienen ist: der FTD. Zu regulären Preisen setzt der Verlag noch nicht einmal zwei Drittel der Auflage ab. Und dabei ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass nach den IVW-Regeln ermäßigte Studentenabonnements wie reguläre Abonnements behandelt werden. Tabelle 5: Auflagenstruktur der Financial Times Deutschland 2008 Auflagenkategorie nach IVW Abonnement Einzelverkauf Sonstige Verkäufe Bord-Exemplare
Anteil an verkaufter Auflage in Prozent 54,2 4,1 12,9 30,6
Die Tabelle zeigt Auflagenstruktur der FTD (1. Quartal 2008, Mo-Sa, in Tsd.). Quelle: Eigene Berechnung auf Basis von IVW-Daten
Dass dies das Geschäftsmodell der Verlage überregionaler Zeitungen mittelfristig gefährden kann, liegt nahe. Aus Publikumsperspektive sind aber die sinkenden Preisbereitschaften vor allem ein Indikator dafür, dass die Wachstumsgrenzen der Print-Titel erreicht zu sein scheinen. Denn wirklich zulegen konnten die untersuchten Titel nur in ihren Kernzielgruppen, die sie besser ausschöpfen als je zuvor. Dagegen haben sie größere Probleme in Publikumssegmenten, die noch nie zur Hauptklientel der Titel zählten. An zwei Zielgruppen lässt sich diese Spreizung beispielhaft gut deutlich manchen: So ist laut AWA die Reichweite aller untersuchten Titel unter leitenden Angestellten im vergangenen Jahrzehnt gestiegen, teilweise sogar in sehr beachtlichem Umfang. Gleichzeitig haben die Titel bei Haushalten mit einem Netto-Einkommen zwischen 1500 und 2000 Euro im Monat durchweg verloren – und hier ist noch längst nicht die Rede von sozial benachteiligten Schichten. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht kann man dieser Fokussierung auf die Kernzielgruppe durchaus positive Seiten abgewinnen – aus gesellschaftspolitischer Sicht ist diese Entwicklung zumindest dann problematisch, wenn man auch an Qualitätsmedien Integrationsansprüche stellt. Auch aus verlegerischer Sicht dürfte es aber nachdenklich stimmen, dass es den etablierten Playern im Segment der überregionalen Titel nur sehr eingeschränkt gelungen ist, den ostdeutschen Markt für sich zu erschließen. In den neuen Ländern sind die Reichweitenzahlen deutlich geringer als in der alten Bundesrepublik– allen voran beim Newcomer FTD, der in den neuen Ländern noch weniger Fuß fassen konnte als die etablierten Titel (vgl. Tab. 6). Die Auflagenzahlen der IVW zeichnen hier ein ganz ähnliches Bild. Alle Titel setzen nur einen Bruchteil ihrer Auflage in den neuen Ländern ab. Alle überregionalen Titel zusammen verkauften in den neuen Ländern laut ZMG im zweiten Quartal 2008 nur 42.000 Exemplare – und liegen damit auf dem Niveau einer mittleren Lokalzeitung.
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Tabelle 6: Reichweiten überregionaler Zeitungen in West- und Ostdeutschland Titel/ FAZ Frankfurter Rundschau Süddeutsche Zeitung Die Welt Financial Times Deutschland Handelsblatt Die Zeit
Reichweite in Mio. West Ost 0,78 0,06 0,51 0,02 1,20 0,06 0,67 0,06 0,29 0,02 0,32 0,02 1,90 0,15
Reichweite in % West Ost 1,46 0,52 0,96 0,17 2,25 0,52 1,26 0,52 0,54 0,17 0,60 0,17 3,57 1,29
Die Tabelle zeigt die Reichweite der untersuchten Titel in Mio. und in Prozent in Ost- und Westdeutschland im Jahr 2008. Quelle: AWA
Es scheint, als hätten die Überregionalen kein Konzept gefunden, auf die Besonderheiten des ostdeutschen Marktes zu reagieren – sondern ihr Produkt weitgehend unverändert angeboten. Ähnlich könnte es ihnen im virtuellen Raum des Web geschehen, wo sie ebenso wenig auf tradierte Nutzungsmuster setzen können, sondern vielmehr neuen Routinen und Nutzungsgewohnheiten gegenüberstehen, auf die sie mit angemessen Produktinnovationen reagieren müssen. Dass hier für Verlage und Redaktionen Handlungsbedarf besteht, zeigt nicht zuletzt auch folgender Befund: Ungeachtet der grundsätzlich nach wie vor starken Position der Zeitung als Informationsmedium werden auch die überregionalen Print-Titel zunehmend durch Online-Angebote substituiert. Dieser Wandel der Nutzungsmuster wird in einer aktuellen Studie von Kolo und Meyer-Lucht erkennbar (vgl. Kolo/Meyer-Lucht 2007). Sie haben untersucht, aus welchen Quellen sich Menschen über das aktuelle Geschehen informieren. Der Trend ist eindeutig – besonders bei den Intensivnutzern: Der Anteil der Intensivleser am allen Lesern überregionaler Zeitungen ist in den vergangenen Jahren stetig zurückgegangen. Der Anteil der Intensivnutzer überregionaler Nachrichtenseiten an allen Nutzern ist dagegen im gleichen Zeitraum deutlich gestiegen. Zudem sind die Nutzungsmuster auch eindeutig vom Alter der Befragten abhängig. Die Intensivnutzer von OnlineNachrichtenseiten sind im Schwerpunkt zwischen 30 und 44 Jahren alt, die Intensivleser überregionaler Zeitungen dagegen mehrheitlich zwischen 45 und 64 Jahren (vgl. Kolo/Meyer-Lucht 2007: 518). Mit diesem Wandel in den Nutzungsgewohnheiten insbesondere der jüngeren Kohorten müssen sich alle überregionalen Titel auseinandersetzen. Allerdings haben längst nicht alle Titel gleich gute Ausgangschancen, diese Dynamik für sich zu nutzen, denn innerhalb der Gattung haben sich Auflagen und Reichweiten sehr unterschiedlich entwickelt (vgl. Tab. 7).
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Tabelle 7: Reichweiten überregionaler Zeitungen in Deutschland im Zeitverlauf Titel Frankfurter Allgemeine Frankfurter Rundschau Süddeutsche Zeitung Die Welt Financial Times Deutschland Handelsblatt Die Zeit
1998 1,11 0,63 1,19 0,95 -0,51 1,57
2003 1,12 0,5 1,39 0,78 0,26 0,55 1,88
2008 0,83 0,52 1,26 0,73 0,33 0,35 2,05
Die Tabelle zeigt die Reichweite der untersuchten Titel in Mio. in den Jahren 1998, 2003 und 2008. Für die FTD ist kein 1998er-Wert verfügbar, da sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht erschien. Quelle: AWA
Wirklich substanzielles Wachstum findet sich zwischen 1998 und 2008 eigentlich nur bei der Zeit. Als Wochenzeitung, die sich auf Hintergrundberichterstattung konzentriert, scheint sie gut zu Mediennutzungsmustern zu passen, die generell vom schnellen Zugriff auf Nachrichten aus verschiedenen Medien geprägt sind, aber partiell auch vom gezielten Einstieg in Hintergrundinformationen. Von den etablierten überregionalen Tageszeitungen konnte in den vergangenen zehn Jahren nur die Süddeutsche ihre Reichweite steigern. Allerdings weist auch bei der SZ der 5-Jahres-Trend eher nach unten. Dennoch hat sich die SZ deutlich besser geschlagen als die Konkurrenz aus Frankfurt: Sowohl die FAZ als auch die FR haben innerhalb einer Dekade rund ein Fünftel ihrer Reichweite eingebüßt. Entsprechend negativ ist auch die Auflagenentwicklung (vgl. Tab.8). So hat die FR in diesem Zeitraum ein Drittel ihrer Abonnements verloren und verkauft am Kiosk nur noch halb so viele Exemplare. Wie ernst die Lage für die FR ist, lässt sich an den mehrfachen Eigentümerwechseln ebenso ablesen wie an der konzeptionellen Flucht nach vorn in ein Tabloid-Format. Aber auch die FAZ hat sich im Jahre 2007 zu einem für ihre Verhältnisse fast schon spektakulären Relaunch durchgerungen. Auch beim Titel Welt fielen die Reichweiten und Auflagenverluste vermutlich um einiges deutlicher aus, wenn der Axel-Springer-Verlag nicht mit hohem Aufwand den Tabloid-Ableger „Welt kompakt“ auf den Markt gebracht hätte, der der Welt insgesamt neue junge Leser und sogar steigende Einzelverkaufszahlen beschert hat. Aufwändig war auch der Markstart der FTD – so aufwändig, dass sich der FTMutterkonzern längst von seiner deutschen Tochter losgesagt hat. Aus Publikumssicht war die Alternative auf dem Markt der täglichen Wirtschaftstitel dennoch eine Bereicherung. Zwar speisen sich die Reichweitengewinne der FTD zu einem nicht geringen Teil auch aus ehemaligen Handelsblatt-Lesern – in Summe schöpfen die beiden deutlich anders positionierten Titel ihre Zielgruppe dennoch besser aus als vor zehn Jahren das Handelsblatt als Alleinanbieter.
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Tabelle 8: Auflagenentwicklung überregionaler Zeitungen in Deutschland Titel
1998
2003
2008
Frankfurter Allgemeine Frankfurter Rundschau Süddeutsche Zeitung Die Welt Financial Times Deutschland Handelsblatt Die Zeit
400.417 191.061 417.293 215.763 --
379.101 185.865 429.667 209.137 90.433
368.671 153.724 450.201 268.569 101.746
Index 2008/1998 92 90 108 124 113
141.434 473.391
144.912 456.125
147.839 485.223
105 102
Die Tabelle zeigt die verkaufte Auflage der untersuchten Titel in den Jahren 1998, 2003 und 2008. Für die FTD ist kein 1998er-Wert verfügbar, da sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht erschien. Der Index zeigt die relative Auflagenentwicklung im Vergleich zum Basisjahr 1998 (=100). Für die FTD ist das Basisjahr das Jahr 1993. Quelle: IVW
Von dieser Sonderentwicklung im Bereich der Wirtschaftstitel abgesehen, lässt sich gleichwohl untersuchen, worin allgemeine Ursachen dafür liegen, dass die Titel unterschiedlich erfolgreich im Markt agieren. Hier wäre auf Unternehmensseite etwa nach dem klügeren Marketing, stärker kundenorientierten redaktionellen Prozessen und dem Wert anderer Ressourcen zu fragen. Aus der Markt- und damit der Publikumsperspektive ist aber ein anderer Punkt bemerkenswert: Reichweite haben vor allem die Titel gewinnen können, die vielfältige Anschlussflächen an verschiedene Werte und Lebensstile bieten. Reichweite und Auflage haben hingegen Titel eingebüßt, die von ihrer publizistischen Ausrichtung her stärker in spezifischen Milieus verortet sind. Untermauern lässt sich die These vom Erfolgsfaktor Vielfalt etwa, wenn man die Parteipräferenzen in den Leserschaften der Reichweitengewinner und –verlierer unter den überregionalen Tageszeitungen miteinander vergleicht (vgl. Tab. 9). Der Indikator der AWA dazu ist der Anteil der Leser eines Titels, die die jeweilige Partei am sympathischsten finden. Dabei zeigt sich, dass die Kernleserschaft der SZ ein deutlich ausgewogeneres Präferenzspektrum hat als die Intensivleser von FR und FAZ, die entweder stärker in das rechte oder linke Lager tendieren. Tabelle 9: Parteipräferenzen der Intensivleser ausgewählter überregionaler Titel Partei CDU/CSU SPD FDP Bündnis 90/Die Grünen Die Linke Andere Partei Keine Partei
FAZ 47 17 12 8 2 9 4
FR 14 29 4 25 10 11 5
SZ 36 19 11 16 5 7 4
Die Tabelle zeigt den Anteil der Intensivleser der dargestellten Zeitungstitel, die die jeweilige Partei am sympathischsten finden. Lesebeispiel: 47 Prozent der Intensivleser der FAZ finden die CDU/CSU am sympathischsten. Quelle: AWA 2008
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Betrachtet man die Akzeptanz für unterschiedliche Grundüberzeugungen und Werte, die ebenfalls in der AWA abgefragt werden, kommt man zu ähnlichen Ergebnissen. Hier sind es zum Beispiel die Leser der Frankfurter Rundschau, bei denen soziale Gerechtigkeit in Relation zu aktiver politischer Teilhabe oder der Betonung von Selbstverantwortung und Autonomie einen besonders hohen Stellenwert genießt. Innere Vielfalt scheint daher in einer multioptionalen Gesellschaft besonders gute Chancen zu bieten, Nutzer an das eigene Angebot zu binden – sei es nun die gedruckte Zeitung oder das Online-Angebot. Es spricht sogar einiges dafür, dass diese Qualität in einer konvergenten Medienlandschaft noch einmal an Bedeutung gewinnt. Denn Orientierung und Überblickwissen rücken in einer Medienwelt, in der Informationen mehr denn je für jedermann verfügbar sind, noch stärker in den Kernbereich der journalistischen Dienstleistung.
3
Trends in der Mediennutzung und Auswirkungen auf Qualitätsmedien
Die Qualitätsmedien stehen vor einer Umbruchphase – teilweise stecken sie sogar schon mitten drin. Drei Trends in der Mediennutzung scheinen dabei bezogen auf überregionale Titel besonders bedeutsam zu sein:
sowie der Das sinkende Interesse an politischen Themen, die stärkere Spaltung in Intensiv- und Gelegenheitsnutzer gezieltere Einstieg in Hintergrundinformationen.
Welche Veränderungen sich hinter diesen Trends verbergen und welche Risiken und Chancen sich daraus für die hier untersuchte Mediengattung ergeben, wird in den folgenden Abschnitten diskutiert. 3.1 Sinkendes Interesse an politischen Themen Der erste relevante Trend ist die Verschiebung der Interessenschwerpunkte des Publikums, insbesondere in jungen Zielgruppen: Allgemeine Themen von politischer und gesellschaftlicher Relevanz verlieren an Bedeutung. Wichtiger werden serviceorientierte Informationen mit hohem Alltagsbezug. Ablesen lässt sich dies zum Beispiel aus einem Index, den das IfD auf Basis von AWA-Daten ermittelt. Hier fließen die Anteile der Befragten ein, die sich für Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Umweltschutz, Lokales sowie und Kunst und Kultur interessieren. Dieser Index ist in der Gesamtbevölkerung von 1997 bis 2008 von 390 auf 384 Punkte gesunken. Dieser leichte Abwärtstrend verstärkt sich bei den 14- bis 29-Jährigen deutlich: Hier gab der Interessensindex von 364 auf 316 Punkte nach (vgl. Köcher 2008) Auf die Entwicklung überregionaler Titel wirkt sich dieser Trend generell negativ aus, denn er entwertet potenziell die besonderen Stärken dieser Titel, gesellschaftliche Entwicklungen auf hohem Niveau journalistisch zu begleiten. Abgeschwächt wird dieser Trend allerdings dadurch, dass sich die Erosion des Interesses am Politischen im Schwerpunkt
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nicht bei den print-affinen jungen Zielgruppen vollzieht, die schon jetzt eher auch überregionale Titel nutzen. 3.2 Spaltung in Intensiv- und Gelegenheitsnutzer Im Zusammenhang mit dem Interesse am Politischen ist auch der zweite für überregionale Titel relevante Trend im Mediennutzungsverhalten zu beachten: Das Publikum differenziert sich stärker aus in Menschen mit breitem Interessenspektrum, die sich dann auch aus einem breiten Spektrum an Medien informieren, und Menschen mit einen enger umrissenen Interessengebiet, die sich darüber auch gezielt aus weniger Medien informieren. Hinweise auf den engen Zusammenhang finden sich ebenfalls in der AWA. Dort wird neben der Mediennutzung auch das Interesse an unterschiedlichen Themen erhoben und diese Befunde verdichtet zu Gruppen von (sehr) breit, durchschnittlich und (sehr) eng interessierten Befragten. Unter Befragten, die Mediengattungen sehr breit nutzen, liegt der Anteil der (sehr) breit Interessierten bei 53 Prozent, der Anteil der (sehr) eng interessierten bei 19 Prozent. Befragte, die sehr gezielt auf Medien zugreifen, haben dagegen nur zu 29 Prozent ein (sehr) breites Interessenspektrum, aber zu 40 Prozent ein (sehr) enges (vgl. Sombre 2008). Die Auswirkungen dieses Trends sind ambivalent. Auf der einen Seite sind die überregionalen Titel als General-Interest-Titel von diesem Trend zur Spezialisierung bedroht. Andererseits verfügen die Überregionalen über die redaktionellen Ressourcen, die breit Interessierten optimal zu bedienen. Bereits jetzt sind die Überregionalen besonders gut in Publikumssegmenten positioniert, die auch weitere Informationsangebote in anderen Medien besonders intensiv nutzen – beispielsweise politische Informationssendungen im Fernsehen. Dies lässt sich erkennen aus einer Mediennutzungstypologie, die das IfD auf Basis von ACTA-Daten entwickelt hat. Besonders hohe Affinität zu überregionalen Titeln haben hier die sog. Anspruchsvollen Information-Seeker, die rund ein Achtel der 14- bis 64-Jährigen ausmachen. In diesem Segment finden sich überdurchschnittlich viele Männer, hoch Gebildete und Menschen im Alter von 40 bis 64 Jahren. Gemeinsam ist ihnen nicht nur eine hohe Informationsorientierung und der Wunsch nach intensiver Hintergrundberichterstattung, sondern auch eine größere Affinität zu politischen Talkshows, Kunst- und Kultursendungen, Geschichtssendungen und politischen Magazinen (vgl. Faehling 2008). Dies entspricht Befunden aus der Mediennutzer-Typologie der ARD-Medienforschung, die mit den sog. Modern-Kulturorientierten bzw. den sog. Kulturorientiert Traditionellen ähnliche Nutzercluster identifizieren (vgl. Oehmichen 2007: 231f). Je stärker allerdings die Ausspielkanäle zusammenwachsen, desto deutlicher verändert sich aber auch die Wettbewerbsposition der überregionalen Titel. Denn dann hängt die Zuwendung zu einem Medienprodukt weniger von den spezifischen Vorteilen eines Übertragungsweg ab und den damit verbunden Nutzungsgewohnheiten, sondern stärker von der Reputation der Informationsquellen und der Qualitätsanmutung, die mit dieser Quelle assoziiert wird. Anders formuliert: Je stärker sich spezielle Affinitäten zu den unterschiedlichen Mediengattungen auflösen, desto wichtiger werden Medienmarken und die Werte, die diese Marke transportieren.4 4
Dieser Gedanke wird in Abschnitt 5 noch weiter ausgeführt.
Vom Zugewinn der Marken
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3.3 Gezielter Einstieg in Hintergründe Der dritte für Qualitätsmedien besonders relevante Trend betrifft den grundsätzlichen Umgang mit aktuellen Informationen. Hier lassen sich Indizien dafür finden, dass das Bedürfnis, ständig über das Geschehen auf dem Laufenden zu sein, abnimmt. Dagegen scheint das Bedürfnis zu wachsen, bei Bedarf gezielt – und dann auch besonders tief in ein Thema einzusteigen. Zunächst zu den quantitativen Befunden. Das IfD fragt in der AWA jährlich ab, wie wichtig es den Befragten ist, über das aktuelle Geschehen ständig auf dem Laufenden zu sein. Dieser Indikator für die individuelle Relevanz einer regelmäßigen und thematisch breiten Versorgung mit Nachrichten ist in den vergangenen fünf Jahren kontinuierlich gesunken. In der Gesamtbevölkerung ist das eher ein schleichender Prozess. Bei den Unter30-Jährigen, deren Wunsch nach kontinuierlicher Information ohnehin schon deutlich schwächer ausgeprägt war, hat die Entwicklung schon eine größere Dynamik (vgl. Tab. 10). Tabelle 10: Relevanz aktueller Informationen laut AWA Jahr/Anteile in Prozent 2003 2004 2005 2006 2007 2008
Gesamtbevölkerung 61 60 57 57 57 56
Unter-30-Jährige 45 43 40 41 40 37
Die Tabelle zeigt den Anteil der Befragten in Prozent, die darauf Wert legen, über das aktuelle Geschehen immer auf dem Laufenden zu sein. Quelle: Köcher (2008)
Gleichzeitig deuten qualitative Befunde darauf hin, dass sich der Umgang mit Nachrichten und Hintergrundinformationen grundsätzlich wandeln könnte. So hat etwa die amerikanische Nachrichtenagentur AP in einer ethnographischen Studie den Umgang von jungen, internetaffinen Erwachsenen in unterschiedlichen Regionen der Welt untersuchen lassen. Die Fallzahl ist – wie häufig bei ethnographischen Studien – gering, dafür haben sich die Wissenschaftler umso tiefer mit der Einbettung von Nachrichten in den Alltag auseinandergesetzt. Die Ergebnisse legen nahe, dass zumindest in der untersuchten Zielgruppe – der Online-Avantgarde – das Nachrichten-Nutzungsmuster nur noch eingeschränkt der Art entspricht, auf die aktueller Journalismus derzeit ausgerichtet ist. Das amerikanische Forscherteam der Context Based Research Group, die von AP mit der Studie beauftragt wurde, veranschaulicht dies mit einem sehr traditionellen Bild – nämlich dem klassischen Aufbau einer Zeitungstitelseite. Nachrichten über dem Bruch, also Aktualisierungen von laufenden Meldungen und zusätzliche Fakten, prägen mehr denn je den Nachrichtenkonsum – getrieben durch die Entwicklung schneller mobiler Endgeräte und Informationsplattformen, während Hintergrundinformationen und die Einbettung von Nachrichten in einen breiteren Kontext in den Hintergrund treten (vgl. AP 2008: 37). Dieser Strom von unzähligen, mehr oder weniger aktuellen und oft redundanten Nachrichten, überfordere und ermüde jedoch die Nutzer, ist eine Erkenntnis der Autoren, die
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dieses Phänomen als „news fatigue“ bezeichnen. Ein Nutzer im untersuchten Sample beschreibt diesen Effekt folgendermaßen: „news is not the full story, but more like a preview“ (AP 2008: 37). Die entscheidende Erkenntnis der Studie ist aber nun, dass die Menschen in der Studie dennoch nicht resignieren, sondern bei speziellen Themen, die sie für sich besonders wichtig finden, aus Eigeninitiative sehr tief einsteigen – „working the news“ wird dieses Handeln beschrieben, das den Nutzern in der Studie auch einen klar definierbaren Nutzen bringt: Nachrichten werden zur „social currency“, mit deren Hilfe das eigene soziale Netzwerk gestärkt werden kann (AP 2008: 38). Was den Nutzern in der Studie fehlt, sind allerdings Instrumente, mit deren Hilfe sie schnell in die Tiefe gehen können, anstatt auf unterschiedlichen Kanälen auf ähnliche Informationen zum selben Thema zu treffen, die unter Umständen sogar wieder von der selben Quelle stammen. Nachgefragt wird ein Modell, in dem die Nutzer nach wie vor über Nachrichten in Themen einsteigen und dann in der Lage sind, sehr gezielt dieses Thema zu verfolgen – über Updates, Hintergrundinformationen oder Prognosen (vgl. AP 2088: 56). Hieraus könnten sich durchaus Chancen für überregionale Titel entwickeln. Denn sie verfügen noch und vermutlich auch künftig am ehesten über die redaktionellen Ressourcen, die es ermöglichen könnten, dieses Bedürfnis nach gezielter Vertiefung eines Themas zu bedienen. Voll ausspielen können sie diese Stärke allerdings erst dann, wenn sie in einem konvergenten Medienumfeld als glaubwürdige Informationsquellen wahrgenommen werden, was wiederum eng mit der Stärke ihrer Marken zusammenhängt.
4
Vom Zugewinn der Marken: Chancen und Herausforderungen für Qualitätsmedien
Die Wettbewerbsvorteile von Medienmarken ergeben sich aus eine Reihe von Funktionen, die sie für das Publikum erfüllen. So verdichtet Berkler (2008: 168) die Markenfunktionen in einem zweidimensionalen Modell:
Die erste Dimension umfasst kognitiv entlastende Funktionen, nämlich die Reduktion von Komplexität in der Rezeptionssituation sowie die Reduktion des Risikos von Fehlentscheidungen. Hier geht es im Kern um die Glaubwürdigkeit eines Titels und den Aufbau einer Vertrauensbeziehung zur Medienorganisation und den dort etablierten Geschäftsprozessen. Die zweite Dimension bündelt aktivierende Markenfunktionen: Zunächst die Identifikationsfunktion, die auf die positive Entwicklung des Selbstbildes ausgerichtet ist, und desweiteren die Prestigefunktion, die auf den Zuwachs von Anerkennung in einer sozialen Gemeinschaft zielt. Hier bestehen enge Verbindungen zur gleichzeitig identitätsstiftenden wie auch distinktiven Rezeption von Qualitätsmedien, wie sie etwa im Beitrag von Meyen in diesem Band diskutiert wird.
In Kombination tragen beide Funktionsbündel dazu bei, die für den Erfolg eines Titels relevanten psychologischen Markenziele zu erreichen: eine klare Differenzierung des eigenen Produkts vom Wettbewerb, die Ausbildung eindeutiger Produktpräferenzen und schließlich die Entwicklung einer Loyalität zum eigenen Titel.
Vom Zugewinn der Marken
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Für die Bedeutung von Medienmarken in einer konvergenten Medienlandschaft ist allerdings besonders wichtig, wie diese Marken über mehrere Ausspielkanäle hinweg funktionieren. Auch hier stehen wiederum besondere Risiken neben besonderen Chancen. Wer mit Printmarken ins Internet geht, hat es leichter, im Netz ein Markenbild aufbauen, da er auf vorhandene Markenbilder zurückgreifen kann. Aus Publikumsperspektive reduziert dann die bekannte Marke auch im Internet das Risiko von Fehlentscheidungen. Das gelingt allerdings nur, wenn die journalistische Qualität über alle Kanäle konstant ist. Außerdem muss sich die Medienmarke in allen Kanälen kongruent und konsistent präsentiert (vgl. Caspar 2004: 166). Dies ist eine besondere Herausforderung, die Medienhäuser nach Caspar besser meistern, wenn sie „ihre Angebote nicht entlang der Trägermedien oder Kanäle […], sondern […] als Räume von Gemeinschaften“ zu entwickeln, die sich idealerweise über einen gemeinsamen inhaltlichen, semantischen Raum definierten (Caspar 2004: 179). Der Autor betont damit den sozialen Charakter von Medienmarken, auf den auch Siegert hinweist (vgl. Siegert 2001: 35). Von entscheidender Bedeutung ist auch, die Marke als soziales, kulturell geprägtes Objekt zu betrachten – also die geteilten Vorstellungen von einer Marke, ohne die sich insbesondere aktivierende Markenfunktionen kaum entfalten könnten (vgl. Klein-Reesink 2008: 51). Bezogen auf den Status einer Medienmarke ist der Markenkern von besonderer Bedeutung: In ihm verdichtet sich das kollektiv geteilte Markenbild der Markeninteressierten, das handlungsleitend für alle beteiligten Akteure ist. Dies ist nicht nur als Standortbestimmung für Verlagsmanager und Chefredakteure relevant. Hierin liegt auch ein Definitionsansatz von Qualitätsmedien als sozialem Phänomen: Als Qualitätsmedien wären dann all jene Titel anzusehen, in deren Markenkern sich wesentliche Qualitätszuschreibungen wie z.B. interne Vielfalt, sorgfältige Recherche oder ausführliche Hintergrundinformationen wiederfinden. Für die Beurteilung der Dynamik einer Medienmarken lohnt sich wiederum ein Blick auf die Markenperipherie. Denn in den hier repräsentierten Wissensbeständen und deren Überschneidungen zu anderen Marken deuten sich die Entwicklungslinien an, die eine Medienmarke in ihrer stetigen Anpassung an ihre Umwelt durchlaufen könnte – ohne dabei freilich ihren Markenkern erodieren zu lassen. Vor dem hier skizzierten theoretischen Hintergrund lassen sich die Chancen und Herausforderungen von Qualitätsmedien differenzierter beurteilen. Dabei sollte man im Auge behalten, dass aus Markenperspektive immer Vorteile in Relation zu Wettbewerbern betrachtet werden. Diese Vorteile verbessern die Chancen von Qualitätsmedien in Relation etwa zu Regionalzeitungen oder Boulevardtiteln, sich in einem veränderten Medienumfeld durchzusetzen. Sie garantieren aber keinesfalls den Erfolg. Eine Kernfrage ist in diesem Zusammenhang, ob und in welchem Umfang es den Qualitätstiteln gelungen ist, ihre Marken auch im Internet zu etablieren. Schon frühe Studien zur Diffusion von Zeitungsangeboten ins Netz konnten zeigen, dass es Zeitungen durchaus gelingen kann, ihren Glaubwürdigkeitsvorsprung aus der Print- in die Onlinewelt zu transferieren (vgl. dazu etwa Schweiger 1998). Und auch aktuelle Daten zur Nutzung von Nachrichtenangeboten im Netz sprechen dafür, dass insbesondere auch die überregionalen Titel recht erfolgreich im Netz agieren.
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Betrachtet man etwa die regelmäßig von der AGOF5 zur Verfügung gestellten Nutzungsdaten, so hat sich dort unter den wichtigsten Nachrichtenangeboten kein Newcomer etablieren können. Auf den Spitzenplätzen finden sich vielmehr die Ableger etablierter Medienmarken. Stelle man dann noch bei den überregionalen Titeln die Reichweiten der Print-Ausgaben und die Nutzungswerte für die Online-Seiten gegenüber, haben sie ihr Publikum im Internet weit über ihre Leserschaft hinaus ausgedehnt – mit Ausnahme der Frankfurter Rundschau und der Zeit. Dies gilt, obwohl man die Reichweite der AWA und die Unique Users der AGOF nicht einfach 1:1 miteinander verrechnen kann (vgl. Tab. 11). Auch in Relation zu anderen Angeboten können sich diese Zahlen durchaus sehen lassen. Zwar sind sie weit entfernt von Portalen wie t-online, die rund 15 Millionen Unique Users erreichen, aber durchaus noch in Reichweite von Spiegel online, das mit 5,13 Millionen Usern Platz 1 der AGOF-Rangliste im Frühjahr 2008 belegte. Tabelle 11: Nutzung der Online-Angebote überregionaler Titel Titel Die Welt Süddeutsche Zeitung Frankfurter Allgemeine Die Zeit Financial Times Deutschland Handesblatt Frankfurter Rundschau
Unique Users in Mio. 3,37 2,51 1,8 1,58 0,8 0,78 0,34
Leser in Mio. 0,73 1,26 0,83 2,05 0,33 0,35 0,52
Die Tabelle zeigt die Reichweiten der Print-Ausgabe und die Nutzung des Online-Auftritts des jeweiligen Titels. Angegeben ist hier die Zahl der Unique Users. Als Unique User gilt eine Person, die innerhalb des Erhebungszeitraums auf einer AGOF-Seite mindestens eine (einem Unique Client eindeutig zuzuordnende) Page Impression ausgelöst hat. Lesebeispiel: Der Online-Auftritt der Welt kommt auf 3,37 Millionen Unique User, die PrintAusgabe erreicht 0,73 Millionen Leser. Zum Vergleich: Der Spitzenreiter des AGOF-Rankings, t-online, kommt auf 15,15 Millionen Unique User, Spiegel Online als meistgenutzte Nachrichten-Seite auf 5.13 Millionen Unique User. Quelle: AWA 2008 / AGOF Internet Facts I/2008
Berklers breit angelegte empirische Studie zur Wirkung von Medienmarken deutet zudem recht klar darauf hin, dass Medienmarken grundsätzlich in der Lage sind, ihre rezipientenbezogenen Markenfunktionen zu erfüllen – teilweise sogar besser als Marken bei Konsumprodukten (vgl. Berkler 2008: 363). Für die hier diskutierte Fragestellung ist dabei folgender Befund besonders von Bedeutung: Publikumszeitschriften erfüllen Markenfunktionen besser als TV-Sender und –Sendungen. Der Grund dafür ist ihre grundsätzlich stärkere Nähe zum gewöhnlichen Marktgeschehen. Es erscheint plausibel, den Befund auch auf überregionale Qualitätstitel zu übertragen. Denn auch auf diese Gattung treffen die Kriterien zu, die Berkler als Ursache für den Leistungsvorsprung von Zeitschriften herausarbeitet: eine stärkere Materialität und ein klarer eingegrenztes Leistungsversprechen (vgl. Berkler 2008: 365). Die Perspektiven für Qualitätsmedien sind zumindest aus Publikumssicht also nicht so düster, wie es scheint, denn die Nachfrage nach hochwertigen Hintergrundinformationen ist 5 Die Arbeitsgemeinschaft Online-Forschung (AGOF) stellt die derzeit in der Mediabranche am breitesten anerkannten Leistungsdaten für Online-Angebote zur Verfügung. Die geplante Integration der AGOF-Daten unter dem Dach der MA mit ihren hohen methodischen Ansprüchen unterstreicht die Qualität der durch die AG0F erhobenen Daten.
Vom Zugewinn der Marken
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nach wie vor vorhanden. Allerdings müssen die Titel auf das veränderte Informationsverhalten reagieren und Themen so aufbereiten, dass der gezielte Einstieg in Hintergrundinformationen aus unterschiedlichen Situationen in einem Medienalltag möglich ist, der weniger stark als früher von klaren zeitlichen und räumlichen Nutzungsstrukturen durchzogen ist. Neben dieser primär journalistischen Herausforderung dürfte die Markenpflege noch stärker in den Vordergrund des Verlagsmanagements rücken – und natürlich die Suche nach geeigneten Geschäftsmodelle, in denen sich die durchaus vorhandene Nachfrage auch in angemessene Kapitalrenditen wandeln lässt. Auch wenn sich aber die Suche nach neuen Geschäftsmodellen sich als schwierig und ihr Erfolg sich als ungewiss herausstellt: Die publizistische Bedeutung der überregionalen Titel wird wenigstens mittelfristig eher robust sein gegen (moderate) Reichweitenverluste. Denn die starke Verankerung vieler Qualitätstitel in kaufkräftigen, print-affinen Zielgruppen in den umfangreichen Zonen der Alterspyramide wird vielen Titel auch bei sinkenden Auflagen zum lohnenden Geschäft machen – und damit auch weiter als Themengenerator für die öffentliche Debatte zur Verfügung stehen. Einzelne Titel könnten aber im derzeitigen Transformationsprozess durchaus auf der Strecke bleiben. Insgesamt scheint aber eine klare Markenstrategie eine notwendige Voraussetzung dafür zu sein, im publizistischen und ökonomischen Wettbewerb zu bestehen. Und anders als Baumgarth, der tendenziell einen Konflikt zwischen Markenführung und publizistischer Qualität sieht (vgl. Baumgarth 2004: 8), ist bezogen auf Qualitätstitel eher die Position Siegerts einzunehmen: Sie weist darauf hin, dass sich aus der Marke explizit auch Qualitätsansprüche an die Medienorganisation ableiten, die für die Erfüllung der öffentlichen Aufgabe der Medien von besonderer Bedeutung sind. Das gilt insbesondere auch für die redaktionellen Prozesse und Ressourcen. In diesem Sinne sind Medienmarken „qualitätsverpflichtender Professionalisierungsfaktor, Qualitätsausweis und vertrauenswürdige MetaMedien“ (Siegert 2004: 203). Mit anderen Worten: Es kann sich zumindest und am ehesten für Qualitätsmedien auch wirtschaftlich auszahlen, Redaktionen zu unterhalten, deren Ressourcen und Strukturen besonders geeignet sind, gesellschaftliche Debatten zu begleiten und voran zu treiben. Damit bliebe eine ökomische Grundlage dafür erhalten, dass sie als Intermediäre im Sinne von Jarren agieren können (vgl. Jarren 2008: 340 und den Beitrag von Jarren/Vogel in diesem Band). Sicher ist dies freilich nicht – und der Weg dahin kein leichtes Unterfangen. Das lässt sich nicht zuletzt daran ablesen, dass inzwischen nahezu alle Qualitätszeitungen in Deutschland, mehr oder weniger freiwillig, unter dem schützenden Dach eines großen Medienkonzerns Zuflucht gefunden haben. Damit ähneln sie bereits jetzt ein wenig Sterneköchen: Mit deren Kochkunst können sich auch fast nur noch große Hotels schmücken
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Lars Rinsdorf
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Entscheider, Meinungsführer und Qualitätsmedien – Die Bedeutung der Qualitätspresse für Entscheidungsträger in Wirtschaft und Gesellschaft Michael Schenk und Frank Mangold 1
Einführung
Die Qualitätspresse bietet – wie die Beiträge dieses Sammelbands verdeutlichen – ein reichhaltiges journalistisches Angebot an Nachrichten und Hintergründen zu einer breiten Themenpalette aus Politik, Wirtschaft, Kultur, Gesellschaft und Sport (Blum 2008). Sie ist national wie international ausgerichtet, offeriert jedoch zugleich regionale sowie lokale Splitvarianten für Ballungsräume bzw. große Städte (Raabe 2006). Neben der nationalen und internationalen Perspektive bietet sie also eine lokale Heimat, was bspw. für Quality Papers wie die „Süddeutsche Zeitung“ oder „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ kennzeichnend ist. Die Qualitätspresse gehört traditionell zu denjenigen Medien, die durch Eliten und Entscheidungsträger in Wirtschaft und Gesellschaft besonders intensiv genutzt werden. Dabei korrespondieren die universellen und spezialisierten Leistungen der Qualitätsmedien mit den beruflichen und alltäglichen Anforderungen an Entscheider. So treffen diese Entschlüsse mit weit reichenden Konsequenzen, die unter anderem durch das seitens der Qualitätspresse bereitgestellte Fachwissen abzusichern sind. Entscheider sind ferner aufgrund ihrer exponierten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stellung oft dazu gezwungen, sich kompetent zu verschiedensten aktuellen Themenlagen aus Wirtschaft und Politik, aber auch Kultur, Gesellschaft und Sport zu äußern. Zugleich verbleibt ihnen aufgrund ihrer beruflichen Beanspruchung jedoch nicht allzu viel Zeit für die Informationsaufnahme. Daher sollten Entscheider in besonderem Maße auf die Thematisierungs- und Strukturierungsleistungen der Qualitätspresse angewiesen sein, um nicht in einer unkontrollierten Informationsflut den Überblick oder gar ihre Entschlusskraft zu verlieren. Anders gewendet sollte also Quality Papers für das Berufsleben und die tägliche Lebensführung von Entscheidern eine gesteigerte Bedeutung zukommen, was spezifische Muster, Motive und Wirkungen der Rezeption der Qualitätspresse vermuten lässt. Dieser Beitrag stellt daher die Rezeption von Qualitätszeitungen durch Entscheider in den Mittelpunkt und geht der folgenden übergeordneten Forschungsfrage nach: Welche Bedeutung haben die Medien, insb. die Qualitätspresse für Entscheidungsträger in Wirtschaft und Gesellschaft?
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Theoretische Bezugspunkte der Untersuchung
Die verstärkte Rezeption der Qualitätspresse durch Eliten lässt sich aus verschiedenen theoretischen Perspektiven beleuchten. So kann die Nutzung von Quality Papers einerseits zur Erweiterung und Vertiefung des Wissens ihrer Leser beitragen. Andererseits setzen Qualitätszeitungen aufgrund der vglw. komplexen Präsentation umfassender Informationen VorR. Blum et al. (Hrsg.), Krise der Leuchttürme öffentlicher Kommunikation, DOI 10.1007/978-3-531-93084-8_15, © VS Verlag fur Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Michael Schenk und Frank Mangold
kenntnisse des Publikums voraus, die den erzielten Wissenszuwachs maßgeblich beeinflussen. So konnten Delli Carpini und Keeter (1996) zeigen, dass der Erwerb und die Präsenz von Wissen eine Funktion der Bildung ist, weshalb Eliten von der Qualitätspresse überdurchschnittlich profitieren. Aufgrund ihrer – im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen höheren – Bildung gelingt diesen eine effizientere Aufnahme und Verarbeitung der durch die Qualitätspresse bereitgestellten Informationen. Mit anderen Worten: die seitens der Qualitätspresse gepflegte Informationsdarbietung kommt in erster Linie der Informationsverarbeitung von statushöheren Eliten bzw. bereits gut mit Wissen ausgestatteten Bevölkerungsgruppen entgegen. Gesamtgesellschaftlich bedeutet dies jedoch, dass Wissenskluften durch die Qualitätspresse eher zu- als abnehmen (Tichenor et al. 1970; Bonfadelli 1994). Im Gegensatz hierzu gilt das Fernsehen eher als „knowledge leveler“, da es Informationen weniger komplex und anspruchsvoll präsentiert (Graber 1990; Prior 2007). Das Internet stellt hingegen höhere Anforderungen an den Rezipienten, der aufgrund der Hyperlinkstruktur aktiver sein muss. Ferner unterstützt die Nutzung politischer Informationen im Internet neben dem Erwerb zusätzlichen Wissens insb. die Aneignung von integrativem und strukturiertem Wissen (Eveland 2003). Daher ist davon auszugehen, dass Entscheider neben Quality Papers auch einschlägige Websites rege frequentieren. Die Nutzung von Qualitätsmedien wie z. B. überregionaler Tageszeitungen bedarf – abgesehen von sozioökonomischen Merkmalen (Bildung etc.) – entsprechender Motivationen, wobei unter motivationalen Faktoren allgemein die Mediennutzung determinierende Bedürfnisse verstanden werden (Katz/Gurevitch/Haas 1973; Schenk 2007: 706-714). Ausschlaggebend für Tageszeitungen sind hierbei Motive wie etwa Orientierung bzw. Umweltkontrolle, Wissenserwerb und Verständnis der Weltereignisse oder auch der Erhalt von Informationen für die tägliche Lebensführung. Ferner bieten Printmedien adäquate Inhalte für die Anschlusskommunikation. Sie vermitteln Hintergrundwissen, das Rezipienten im Rahmen interpersonaler Kommunikation auf beeindruckende Art weitervermitteln können (Schulz 2008: 170). Demzufolge ist zu vermuten, dass gerade Entscheider – in Folge ihres höheren Kenntnisstands durch die intensive Nutzung der Qualitätspresse – in unterschiedlichsten Themenfeldern die Rolle eines Opinion Leaders übernehmen. Dies allerdings in erster Linie bei einer verstärkten Nutzung von Printmedien, nicht dagegen des Fernsehens soweit es die Vollprogramme betrifft, wohl aber die Spartenkanäle (Schenk 2006). Die ausgeprägte Motivation, Qualitätsmedien und einschlägige Internetangebote zu nutzen, ist bei Entscheidern mit hoher Wahrscheinlichkeit von einer aktiven bzw. elaborierten Informationsverarbeitung begleitet, welche auch nach deren Rezeption anhalten dürfte. Als Folge dieser motivierten, d. h. gezielten und eingehenden Informationsverarbeitung ist ein Beitrag der Qualitätsmedien bzw. ihrer Rezeption zur Erhöhung des Kenntnis- und Wissensstands von Entscheidern zu erwarten (Eveland et al. 2003). Entscheider werden daher über ein elaboriertes politisches und gesellschaftliches Themenwissen verfügen. Vor dem Hintergrund dieser verschiedenen theoretischen Zugänge zur Bedeutung von Qualitätsmedien für Entscheider geht dieser Beitrag empirisch den folgenden Forschungsfragen nach: 1. 2.
Inwieweit unterscheiden sich Entscheider in der Nutzung von Printmedien und des Internet vom durchschnittlichen Mediennutzer? Welche Erwartungen stellen Entscheider an Qualitätsmedien und welche Funktionen erfüllen diese für sie?
Entscheider, Meinungsführer und Qualitätsmedien 3. 4.
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Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Nutzung von Qualitätsmedien und der Ausübung von Meinungsführerschaft? Profitieren Entscheider überdurchschnittlich vom Informationsangebot der Qualitätsmedien, sind sie besser informiert?
Empirische Untersuchungsbasis
Im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung steht eine repräsentative Befragungsstudie zum Mediennutzungs- und Konsumverhalten von Entscheidungsträgern in Wirtschaft und Verwaltung, die im Auftrag der Manager Magazin Verlagsgesellschaft durchgeführt wurde. Grundgesamtheit waren Entscheider in der Bundesrepublik Deutschland, die analog zur Leseranalyse Entscheidungsträger (LAE) als voll berufstätige Personen mit einem monatlichen Nettogehalt von mindestens 2.900 Euro in Westdeutschland bzw. 2.600 Euro in Ostdeutschland definiert waren. Zum Zeitpunkt der Befragung bildete diese Grundgesamtheit nach der LAE 2005 2,4 Mio. Personen. Die Stichprobe umfasste 810 Probanden und war als Quotenstichprobe angelegt. Die Verteilung nach Selbstständigen, freien Berufen, leitenden Angestellten in verantwortlicher Tätigkeit und höheren Beamten war gemäß der LAE 2005 vorgegeben. Die Interviews wurden als persönliche face-to-face-Interviews mittels CAPI in der Zeit vom 19.08. bis 28.09.2005 durch das Marktforschungsinstitut TNS Infratest München durchgeführt. Weiterhin wird Bezug genommen auf eine qualitative Studie des Rheingold Instituts (2002) zu Nutzungsmotiven, Umgangsformen und Funktionen von Qualitätsmedien bei Entscheidern. In dieser Studie wurden 60 Entscheider im Alter von 30 bis 59 Jahren in zweistündigen Tiefeninterviews befragt. Die Probanden wurden ebenfalls nach LAEKriterien ausgewählt. In weiterer Ergänzung werden Entscheiderstudien der Deutschen Fachpresse (2006), von SevenOneMedia (2003), IP Deutschland (2004) und der ARD Sales & Services (2007) herangezogen.
4
Untersuchungsergebnisse
4.1 Soziodemografisches Profil der Entscheider Entscheider sind voll berufstätig, stehen aktiv im Berufsleben und haben Führungspositionen inne. Soziodemografisch lassen sich diese wie folgt charakterisieren (vgl. Tabelle 1): Entscheider sind überwiegend männlichen Geschlechts und zwischen 40 und 49 Jahre alt. Sie sind verheiratet und leben in Mehrpersonenhaushalten, die über ein monatliches Einkommen von mehr als 3000 Euro verfügen. Ferner kennzeichnet Entscheider ihre im Vergleich zur Gesamtbevölkerung höhere Bildung. So verfügen rund 60 Prozent der Entscheider über Abitur oder haben sogar einen Hochschule besucht, während diese Gruppe gerade einmal 18 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht. Insofern besitzen Entscheider also ein distinktes soziodemografisches Profil, was vermuten lässt, dass sie sich auch in ihrer Mediennutzung vom Bevölkerungsdurchschnitt abheben. Inwieweit dies der Fall ist, untersucht der folgenden Abschnitt.
242
Michael Schenk und Frank Mangold
Tabelle 1: Soziodemografisches Profil der Entscheider (in Prozent) (Quelle: ARD Sales & Services 2007)
Alter
Geschlecht
Bildung
Familienstand
Personen im Haushalt
Haushaltsnettoeinkommen
14-29 Jahre 30-39 Jahre 40-49 Jahre 50-59 Jahre ab 60 Jahre männlich weiblich Volks-/Hauptschule weiterführende Schule ohne Abitur Abitur/Studium ledig verheiratet geschieden/verwitwet 1 Person 2 Personen 3 Personen 4 und mehr Personen bis 3.000 Euro ab 3.000 Euro
Erwachsene ab 14 Jahre 20,0 16,0 18,2 14,5 31,3 48,0 52,0 49,3
Entscheider 27,5 37,9 26,1 8,5 84,7 15,3 15,4
33,0
25,6
17,7 25,2 57,4 17,2 20,3 37,4 18,9 23,4 75,1 24,9
59,0 13,9 76,9 9,0 13,4 33,1 18,8 34,7 21,3 78,7
4.2 Muster der Mediennutzung von Entscheidern Um die Mediennutzung der Entscheider gegenüber dem Bevölkerungsdurchschnitt zu charakterisieren, werden im Folgenden die Leser pro Ausgabe1 (LpA) für verschiedene Printmedien in der Entscheiderstichprobe mit den Lesern pro Ausgabe in der Gesamtbevölkerung gemäß MediaAnalyse (MA) 2005 verglichen. Ausgewiesen werden Affinitätsindizes, die den Anteil der Leser pro Ausgabe in der Entscheiderstichprobe demjenigen in der Gesamtbevölkerung gegenüberstellen.2 Werte über 100 zeigen einen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung überdurchschnittlichen Anteil an Lesern unter den Entscheidern an. Werte unter 100 signalisieren einen unterdurchschnittlichen Anteil. Je höher also der Affinitätsindex eines Mediums ist, umso charakteristischer ist dessen Nutzung für das Rezeptionsverhalten der Entscheider. Tageszeitungen: Wie aus Tabelle X ersichtlich wird, nutzen Entscheider überregionale Tageszeitungen weit überdurchschnittlich. Die regionale Tageszeitung wird hingegen vglw. durchschnittlich gelesen. Unter den überregionalen Tageszeitungen nehmen Handelsblatt und Financial Times die Spitzenpositionen ein, für die sich Affinitätsindizes weit über 1000 finden. Mit gewissem Abstand folgen die „Klassiker“ Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die
1 Die Leistungskennziffer „Leser pro Ausgabe“ weist die Zahl der Personen aus, die eine durchschnittliche Ausgabe eines Zeitungs- bzw. Zeitschriftentitels lesen, und berechnet sich anhand von Nutzungswahrscheinlichkeiten. 2 Im vorliegenden Fall berechnen sich die Affinitätsindizes nach der folgenden Formel: Affinitätsindex = (LpA in der Entscheiderstichprobe in % / LpA in der Gesamtbevölkerung in %) x 100
Entscheider, Meinungsführer und Qualitätsmedien
243
Welt, Süddeutsche Zeitung und Frankfurter Rundschau, die ebenfalls überdurchschnittlich genutzt werden. Abbildung 1:
Zeitungsnutzung der Entscheider 1575
Handelsblatt Financial Times Deutschland
1225
Frankfurter Allgemeine Zeitung
767
656
Die Welt
539
Süddeutsche Zeitung
383
Frankfurter Rundschau
114
Regionale Abozeitung 0
200
400
600
800
1000
1200
1400
1600
1800
Affinitätsindizes (LpA): Entscheider zur Basis Gesamtbevölkerung ab 14 (nach MA 2005)
Anhand der Affinitätsindizes der Tageszeitungen lassen sich drei übergeordnete, für das Mediennutzungsverhalten der Entscheider charakteristische Rezeptionsmuster erkennen. Entscheider zeichnen sich in erster Linie durch eine (1) verstärkte Nutzung überregionaler Quality Papers aus, ihre Nutzung regionaler Zeitungen unterscheidet sich vom Bevölkerungsdurchschnitt hingegen nur marginal. Ferner erfahren in erster Linie diejenigen überregionalen Titel eine verstärkte Rezeption, denen (2) für Wirtschaftsthemen gemeinhin die höchste Kompetenz attestiert wird. Schließlich handelt es sich hierbei vorrangig um Quality Papers, die (3) in der Mitte des politischen Spektrums oder rechts von dieser angesiedelt sind. Zeitschriften: Die herausragende Rolle der Wirtschaftspresse unter Entscheidern in Wirtschaft und Verwaltung spiegelt sich auch in deren Zeitschriftennutzung wieder. So lesen Entscheider insb. Wirtschaftsmagazine wie Capital oder Wirtschaftswoche weit überdurchschnittlich. Eine hohe Bedeutung kommt auch den qualitativ hochwertigen, aber thematisch weiter gefächerten Nachrichtenmagazinen Der Spiegel und Focus zu. Für diese finden sich jedoch deutlich geringe Unterschiede zwischen den Entscheidern und dem Bevölkerungsdurchschnitt.
244
Michael Schenk und Frank Mangold
Abbildung 2:
Zeitschriftennutzung der Entscheider 883
Wirtschaftswoche
667
Capital
297
Der Spiegel
289
Focus
170
Stern
375
Men's Health Schöner Wohnen
375 185
Playboy
456
auto motor und sport PC Welt
395 331
Computer Bild Auto Bild
235 0
100
200
300
400
500
600
700
800
900
1000
Affinitätsindizes (LpA): Entscheider zur Basis Gesamtbevölkerung ab 14 Jahre (nach MA 2005)
Entscheider sind auch an gehobenem Lifestyle interessiert. So finden z. B. die Zeitschriftentitel Schöner Wohnen und Men’s Health hohes Interesse. Ferner sind die Entscheider beruflich außerordentlich mobil, besitzen häufig einen Dienstwagen und darüber hinaus auch im Haushalt weitere Kraftfahrzeuge. Ihr Interesse an Automobilen ist dabei so groß, dass sie auch überdurchschnittlich häufig zu den Lesern entsprechender Zeitschriften wie z. B. Auto, Motor und Sport zählen. Dasselbe gilt für Zeitschriften aus dem Computer- und Telekommunikationsbereich wie die PC Welt, die ebenfalls auf großes Interesse stoßen. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass Entscheider – neben Publikumszeitschriften – auch besonders häufig Fachzeitschriften lesen und das Internet nutzen. So nutzen nach einer Studie der Deutschen Fachpresse (2006) 90 Prozent der Entscheider regelmäßig Fachzeitschriften und 89 Prozent das Internet. Erstere können dabei ihr hohes Nutzungsniveau auch trotz der vielfältigen Möglichkeiten halten, die durch elektronische Medien in den letzten Jahren entstanden. Fernsehen: Da wir in unserer Entscheiderstudie vorrangig die Printmedien untersucht haben, greifen wir für das Fernsehen auf andere Untersuchungen zurück. Nach einer Studie der ARD-Werbung (2007) verbringen Entscheider mit Fernsehen deutlich weniger Zeit als der Durchschnittsbürger (155 Minuten pro Tag zu 229 Minuten). Entscheidern ist es wichtig, sich zu informieren und sich über wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Themen auf dem Laufenden zu halten. Sie vertrauen dem Programmangebot der öffentlichrechtlichen Sender überdurchschnittlich. Spitzenreiter ist die ARD mit 17,5 Prozent Marktanteil unter Entscheidern. Daneben genießen auch die Spartenkanäle ein gewisses Interesse. Unter Entscheidern mit hohem Interesse an Informationen aus den Themenfeldern Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Sport wird etwa der Spartensender n-tv von rund einem
Entscheider, Meinungsführer und Qualitätsmedien
245
Viertel regelmäßig genutzt. Mit gewissem Abstand folgen N24 und CNN (IP Deutschland 2004). Insgesamt zeigt sich somit, dass insb. hochwertige, dem Qualitätsjournalismus verbundene Zeitungen und Zeitschriften von Entscheidern überdurchschnittlich genutzt werden. Dies gilt vorrangig für diejenigen überregionalen Tageszeitungen, denen für Wirtschaftsthemen gemeinhin die höchste Themenkompetenz zugesprochen wird, und Wirtschaftszeitschriften. Überdurchschnittlich gelesen werden auch – wenngleich in schwächerem Ausmaß – andere überregionale Qualitätszeitungen sowie Nachrichtenmagazine, Fachzeitschriften und Publikumszeitschriften aus den Bereichen Automobil, Computer und Telekommunikation sowie Lifestyle. Das Internet gehört ebenfalls zu den Medien, die an der Spitze der Mediennutzung von Entscheidern stehen. Die Fernsehnutzung der Entscheider ist hingegen als eher unterdurchschnittlich zu bezeichnen, wobei die Angebote der öffentlich-rechtlichen TV-Programme und Nachrichten(sparten-) kanäle auf das vglw. größte Interesse stoßen. Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass das Mediennutzungsverhalten von Entscheidern – entsprechend unserer Annahme – erheblich vom Bevölkerungsdurchschnitt abweicht. Damit stellt sich jedoch die Frage nach den Interessen und Motivationen, die diese spezifischen Rezeptionsmuster der Entscheider determinieren? 4.3 Interessen und Motive der Mediennutzung von Entscheidern Bereits zu Anfang dieses Artikels wurde deutlich, dass das Berufsleben und die tägliche Lebensführung von Entscheidern hohe Anforderungen an die Mediennutzung begründen. So bleibt Entscheidern zumeist nicht allzu viel Zeit für die Informationsaufnahme und sie könnten bei einem Zuviel an Informationen den Überblick verlieren. Zugleich bedürfen Entscheidungen einer Absicherung durch Informationen aus der weiteren betrieblich Umwelt, weshalb Entscheider in vielfältigsten Themenbereichen wie Politik, Wirtschaft, Gesellschaft oder Kultur auf dem Laufenden bleiben müssen. Dies schlägt sich nach den Ergebnissen unserer Studie in folgenden Themeninteressen der Entscheider nieder (vgl. Abb. 3):
246
Michael Schenk und Frank Mangold
Abbildung 3:
Themeninteressen der Entscheider Innen- & Außenpolitik
5,2
Wirtschaftspolitik & -themen
5,1
Geld- & Finanzmärkte
4,9
Beruf & Karriere
4,9
Wissenschaft & Technik
4,9
Hintergrundinformationen zu Unternehmen & ihren Führungskräften
4,6
Auto & Verkehr
4,6
Sport
4,2
Kunst & Kultur
4,1
Persönliches zu Stars aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft
3,5 0
1
2
3
4
5
6
Mittelwerte auf einer Skala von 1=„überhaupt nicht wichtig“ bis 7=„außerordentlich wichtig“
An der Spitze der Themeninteressen von Entscheidern stehen Informationen aus Politik und Wirtschaft. Auf großes Interesse stoßen auch „wirtschaftsnahe“ Themen wie Geld & Finanzen und Beruf & Karriere, Informationen aus Wissenschaft & Technik und Hintergründe zu Unternehmen. Mit deutlichem Abstand folgen Automobil-, Sport- und FeuilletonThemen, die Entscheidern jedoch auch wichtig sind. Das Schlusslicht bilden CelebrityThemen aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft, was eine auf das Wesentliche reduzierte Mediennutzung der Entscheider nahe legt. Insgesamt besitzen Entscheider damit recht hohe und breit gefächerte Themeninteressen, was seine Entsprechung in den umfassenden Thematisierungsleistungen der – sehr stark rezipierten – überregionalen Qualitätszeitungen findet. Ferner erklärt das verstärkte Interesse von Entscheidern an Wirtschaftsthemen die weit überdurchschnittliche Rezeption von Wirtschaftsmagazinen und Quality Papers mit hoher Wirtschaftskompetenz. Vor diesem Hintergrund sind Medien für die Befriedigung der Informationsbedürfnisse von Entscheidern unverzichtbar, wobei das Rheingold Institut (2002) letztere in qualitativen Tiefeninterviews differenziert untersuchte. Nach dessen Ergebnissen liegen dem Rezeptionsverhalten von Entscheidern sechs Motive zugrunde, die jeweils spezifische Erwartungen an die Medien begründen: 1.
2.
Sich mit Wissen armieren: Entscheider möchten Kompetenzen aufbauen und ihr Expertenwissens stärken. Medien sollen daher zur Wissenssanierung beitragen, d. h. umfassende Informationen bereitstellen. Kompetenz und Überblick ausweisen: Entscheider möchten ein fundiertes Wissen gegenüber dem sozialen Umfeld demonstrieren. Medien sollen daher Außendarstel-
Entscheider, Meinungsführer und Qualitätsmedien
3.
4.
5.
6.
247
lungsfunktionen erfüllen, d. h. Entscheidern zu einem profunden, sozial vorzeigbaren Wissen verhelfen und zugleich durch ihre soziale Sichtbarkeit und symbolische Aufladung ein Impression Management ermöglichen. Vertraute Eigenwelten auf- und ausbauen: Entscheider suchen nach einer emotionalen Heimat. Medien sollen daher eine beruhigende Pufferfunktion erfüllen, d. h. als Konstante im mitunter befremdlichen Alltag geistigen und emotionalen Halt bieten. Neue Impulse aufsuchen: Entscheider suchen oftmals nach neuen Perspektiven. Medien sollen daher eine Dynamisierungsfunktion erfüllen, d. h. durch neue Impulse vertraute Eigenwelten aufstören. Universelle Lebensordnungen aufspüren: Entscheidern möchten sich mit den ewigen Fragen und Wendungen des Lebens auseinandersetzen. Medien sollen daher eine Funktion als Orakel oder Horoskop erfüllen, d. h. Aufschlüsse zum Sinn des Lebens geben. Stimmungen profilieren: Entscheider messen ihren emotionalen Befindlichkeiten große Bedeutung bei. Medien sollen daher eine Stimmungsregulierungsfunktion erfüllen, d. h. zur Vertiefung von Entspannung oder Aufrechterhaltung der Arbeitsverfassung beitragen.
Entsprechend dieser Funktionen werden die verschiedenen Mediengattungen durch die Probanden nach ihren Erwartungen gerankt (Abb. 4). Die Wissenssanierung und soziale Außendarstellung ist die Domäne der überregionalen Tageszeitung. Eine Pufferfunktion bzw. emotionale Heimat bietet insb. die regionale Tageszeitung, während die Grundfragen des Lebens in erster Linie durch das Fernsehen thematisiert werden. Stimmungen lassen sich durch das Radio am besten regulieren. Abbildung 4:
Ranking der Mediengattungen nach Funktionen (Quelle: Rheingold Institut 2002)
Kompetenz & Überblick
Wissen
Eigenwelten
Neue Impulse
Lebensordnung
Stimmungen
1.
Überregionale TZ
Überre-gionale TZ
Regionale TZ
Internet
TV
Radio
2.
Politische Magazine
Wirtschaftstitel
Regionales Radio
Politische Magazine
Regionale TZ & Boulevard
Überregionale TZ & Wirtschaftstitel
3.
Internet
TV
Überregionale TZ
Überregionale TZ
Überregionale TZ
TV
4.
Fachzeitschriften
Radio
Politische Magazine
TV
Politische Magazine
Internet
Quelle: Rheingold Institut 2002.
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Michael Schenk und Frank Mangold
Betrachten wir die Quality Papers in ihrer Funktion für Kompetenz & Überblick und Wissensvermittlung separat, ergeben sich aus den Tiefeninterviews detaillierte Hinweise. Überregionale Tageszeitungen bieten demnach ein umfängliches und vielfältiges Themenangebot. Sie sind global ausgerichtet, berücksichtigen aber zugleich regionale und lokale Themen. Es handelt sich um gewichtige, große und dicke Zeitungen von hoher Qualität. Die Artikel haben hohen intellektuellen Anspruch. Durch die Zeitungen könne das eigene Wissen ergänzt und vertieft werden. Es ist sogar von Wissensinstitutionen die Rede. Hintergründe von Ereignissen und neue Entwicklungen werden transparent. Auch böten die überregionalen Zeitungen viel Stoff, um „Mitreden“ zu können. Alles in allem belegen die Ergebnisse somit ein hohes Vertrauen, das Entscheider in die Quality Papers setzen. Abgesehen von den überregionalen Zeitungen zeigt sich auch für die Nachrichtenmagazine und Wirtschaftspresse, dass diese ebenfalls für Kompetenz & Wissen sowie Wissensvermittlung, darüber hinaus auch für neue Impulse und die Stimmungsregulierung recht hoch eingeschätzt werden. Somit bleibt festzuhalten, dass Quality Papers neben der – traditionell betonten – Wissensvermittlung für Entscheider weitere Funktionen erfüllen. Dabei kommt insb. dem Beitrag überregionaler Tageszeitungen zur sozialen Außendarstellung Bedeutung zu, indem sie ihren Rezipienten zu einem fundierten, sozial vorzeigbaren und letztlich überlegenen Wissen verhelfen. Diesem Zusammenhang gehen wir im folgenden Abschnitt weiter nach, indem wir uns den Wirkungen der Nutzung der Qualitätspresse – genauer gesagt der Ausübung der Meinungsführerrolle durch Entscheider – zuwenden. 4.4 Wirkungen der Mediennutzung von Entscheidern Vielfach wird davon ausgegangen, dass Entscheider generell als Meinungsführer und Multiplikatoren in ihrem beruflichen und privaten Umfeld agieren. So sind diese aufgrund ihrer soziodemografischen Merkmale besonders dazu prädestiniert, die Meinungsführerrolle für andere zu übernehmen. Ferner verfügen Entscheider – wie wir in unserer Studie nachweisen konnten – über große soziale Netzwerke, die sowohl im beruflichen Umfeld als auch privaten Kontext (Freunde, Verwandte, Bekannte) etabliert sind. Daher gibt es für sie oftmals die Möglichkeit, andere Ratschläge zu erteilen. Schließlich verfügen Entscheider aufgrund ihrer dargestellten Mediennutzung über ein breites Wissen in ganz verschiedenen Themenfeldern, was wesentliche Voraussetzung für die Übernahme der Rolle eines Meinungsführers ist. So fragten wir in unserer Entscheiderstudie etwa die Bekanntheit aktueller Wirtschaftsthemen wie die Zerlegung des Karstadt/Quelle-Konzerns, der Rücktritt des damaligen DaimlerChrysler-CEOs Jürgen Schrempp oder das VW-Sparprogramm ab. Den Entscheidern waren diese Themen durchweg bekannt, sie hatten darüber gelesen und sich dann mit anderen darüber unterhalten. Allerdings ist aus der Meinungsführerforschung bekannt, dass die Meinungsführerrolle thematisch ausgerichtet ist, d. h. es gibt für verschiedene Themen- oder Produktbereiche jeweils unterschiedliche Meinungsführer (Weimann 1994; Katz/Lazarsfeld 1955). In der vorliegenden Entscheiderstudie haben wir die Meinungsführerschaft der Entscheider für verschiedene Produktbereiche untersucht. Als Beispiele werden im Folgenden Meinungsführer in den Produktbereichen PKW sowie Technik dargestellt.
Entscheider, Meinungsführer und Qualitätsmedien Abbildung 5:
249
Anteile der Meinungsführergruppen an den Entscheidern
80 74,3% 70 62,5% 60 50 40 30
37,5%
20
25,7% Nicht-Meinungsführer
10 0
Meinungsführer PKW Technik
Die Identifikation der Meinungsführer erfolgte mittels Indexbildung. Diese bezog die (1) Kommunikationsaktivität im Produktbereich, das (2) Geben von Tipps & Ratschlägen im beruflichen & privaten Netzwerk sowie das (3) um Rat gefragt werden ein.
Wie Abbildung 5 belegt und im Vorfeld zu vermuten war, sind Entscheider in hohem Maße Meinungsführer3: 37,5 Prozent der befragten Entscheider sind PKW-Meinungsführer und 25,7 Prozent Meinungsführer im Bereich Technik.4 Gleichwohl finden sich auch unter Entscheidern graduelle Unterschiede in der Ausübung der Meinungsführerschaft, deren Ursachen man in einem höheren Produktwissen aufgrund einer intensiveren Nutzung der Qualitätspresse vermuten könnte. Die Technik- und PKW-Meinungsführer unter den Entscheidern sind am jeweiligen Produkt nicht nur stärker interessiert, sondern wissen über den Gegenstandsbereich – zumindest nach ihrer Selbsteinstufung – auch mehr (vgl. Abbildung X).
Die Identifikation der Meinungsführer erfolgte mittels Indexbildung. Diese bezog die (1) Kommunikationsaktivität im Produktbereich, das (2) Geben von Tipps & Ratschlägen im beruflichen & privaten Netzwerk sowie das (3) um Rat gefragt werden ein. 4 Zur Identifikation der Technik Meinungsführer wurden die Produktbereiche (1) PC & Notebooks, (2) Handys und (3) Digitalkameras mittels einer Clusteranalyse zusammengefasst.
250
Michael Schenk und Frank Mangold
Automobile
Interessiere mich überhaupt nicht
Interessiere mich sehr
Produktwissen
7 Weiß sehr viel
Interessiere mich überhaupt nicht
Interessiere mich sehr
Entscheider
Produktinteresse
1 Weiß sehr wenig
MF
Technik
MF
7 Weiß sehr viel
MF
Produktinteresse
1 Weiß sehr wenig
Entscheider
Produktwissen
MF
Entscheider
Produktinteresse und -wissen von Meinungsführern und Entscheidern
Entscheider
Abbildung 6:
Mittelwerte auf siebenstufigen Skalen von 1 „weiß sehr wenig“ bzw. „interessieren ich überhaupt nicht“ bis 7 „weiß sehr viel“ bzw. „interessiere mich sehr“.
Betrachtet man die Nutzung der Qualitätsmedien durch die Technik-Meinungsführer, so ergeben sich gegenüber der Basis aller Entscheider keine Steigerungsraten. Im Kern unterscheiden sich Technik-Meinungsführer vom Durchschnitts-Entscheider nur wenig, wenn es um die Nutzung der Qualitätsmedien geht. Allenfalls ist die Nutzung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bei den Technik Meinungsführern leicht überdurchschnittlich, die Nutzung der Wirtschaftstitel und Nachrichtenmagazine leicht unterdurchschnittlich. Deutlich überdurchschnittlich nutzen die Technik-Meinungsführer allerdings die Online-Angebote des Handelsblatts, der Financial Times und des Focus.
Entscheider, Meinungsführer und Qualitätsmedien Abbildung 7:
251
Offline- und Online-Nutzung von Qualitätstiteln durch PKW-Meinungsführer und Entscheider 101
Focus
123
99 104
Der Spiegel
113
Wirtschaftswoche
144 106
Capital
118
Süddeutsche Zeitung
117 109
Handelsblatt
129 141
89
Financial Times
143
91
FAZ 0
25
50
Online
75
100
145 125
150
175
Offline
Affinitätsindizes (Leser pro Ausgabe): Meinungsführer PKW zur Basis Entscheider.
Hinsichtlich der Nutzung der Qualitätsmedien wiederholt sich bei den AutomobilMeinungsführern das bereits bei den Technik-Meinungsführern festgestellte Bild: keine höhere Nutzung der Offline-Print-Ausgaben (mit Ausnahme der Süddeutschen Zeitung), aber eine überdurchschnittlich hohe Nutzung der Online-Angebote der Qualitätsmedien. Spitzenreiter ist hier die Frankfurter Allgemeine, gefolgt von der Wirtschaftswoche.
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Michael Schenk und Frank Mangold
Abbildung 8:
Offline- und Online-Nutzung von Qualitätstiteln durch TechnikMeinungsführer und Entscheider 94
Focus
143
90
Der Spiegel
129
86
Wirtschaftswoche
138
91
Capital
132 107
Süddeutsche Zeitung
133 105
Handelsblatt
165
104
Financial Times FAZ
109 0
25
50
Online
75
100
150 119 125
150
175
Offline
Affinitätsindizes (Leser pro Ausgabe): Meinungsführer PKW zur Basis Entscheider.
Damit wird ersichtlich, dass sich die Meinungsführer unter den Entscheidern insgesamt vor allem durch eine überdurchschnittliche Nutzung der Online-Versionen der Qualitätsmedien hervortun. In der Nutzung der Printausgaben finden sich nur geringe Abweichungen von den Entscheidern im Allgemeinen. Allerdings hatten wir eingangs festgestellt, dass sich die Nutzung der Qualitätsmedien bereits auf einem sehr hohen Niveau bewegt, das kaum noch Steigerungen zulässt. Insofern liegt der Meinungsführerschaft unter Entscheidern also keine verstärkte Rezeption der Quality Papers respektive hochwertigster Printtitel zugrunde. Der Meinungsführer hebt sich vom durchschnittlichen Entscheider vielmehr dadurch ab, dass er Qualitätsangebote verschiedener Mediengattungen kombiniert und sich dadurch deren jeweilige Stärken in der Anschlusskommunikation zu Nutze macht.
5
Fazit
Entscheider nutzen Qualitätsmedien wie z. B. überregionale Tageszeitungen, Nachrichtenmagazine und die Wirtschaftspresse gegenüber der Gesamtbevölkerung weit überdurchschnittlich. Insbesondere die dicken, umfassenden und vielfältigen überregionalen Tageszeitungen werden besonders häufig aufgesucht, um sich mit Wissen zu armieren und Hintergründe von Ereignissen kennen zu lernen. Die Quality Papers sind gewissermaßen „Wissensinstitutionen“ für viele Entscheider. Sie verschaffen Überblick und vermitteln Kompetenz, um sich gegenüber dem sozialen Umfeld im Beruf und Alltag darzustellen. Aufgrund der hohen Bildung, die Entscheider aufweisen, dürfte eine elaborierte Informationsverarbei-
Entscheider, Meinungsführer und Qualitätsmedien
253
tung, die durchaus auf das Wesentliche bezogen sein kann, zur Erhöhung des aktuellen Wissensstands beitragen. Da Entscheider auch einschlägige Internetangebote frequentieren, ist eine aktuelle und schnelle Informationsverarbeitung gegeben, die u. a. zur Erweiterung, Strukturierung und Integration des vorhandenen Wissens beitragen kann. Das Vertrauen der Entscheider in die Qualität der „Leuchttürme“ ist ungebrochen hoch, die Nutzung stabil. Ein großer Teil der Entscheider übernimmt Meinungsführerrollen in Beruf und Alltag für andere Personen in ihrem sozialen Umfeld. Dabei bieten Qualitätstitel, insb. deren OnlineVersionen den Meinungsführern unter den Entscheidern Informationen, um sie – versehen mit Empfehlungen und Kommentaren – an andere Personen weiterzugeben und dabei durchaus durch ihre Kompetenz und Überlegenheit zu beeindrucken.
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Herausgeber und AutorInnen
BLÖBAUM, Bernd (1957), Prof. Dr.; Studium der Sozialwissenschaften, Publizistik und Politologie in Bochum und Berlin, Volontariat und Redakteur bei einer Tageszeitung, ab 1987 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Journalistik der Universität Dortmund; Promotion 1994 und Habilitation 1998; Lehrstuhlvertretungen an den Universitäten Hamburg (WS 1998/99) und Bamberg (1999-2001). Seit 2001 Professor für Kommunikationswissenschaft mit Schwerpunkt Medientheorie und Medienpraxis an der Universität Münster. Seit 2008 Direktor der Graduate School of Communication Science. Mail:
[email protected] BLUM, Roger (1945), Prof. Dr., Studium von Geschichte und Staatsrecht an der Universität Basel, Doktorat 1976; 1971-78 Abgeordneter im Parlament des Kantons Baselland; 1978-1990 Politischer Redakteur bei den „Luzerner Neusten Nachrichten“ und beim „Tages-Anzeiger“ in Zürich, dort auch Mitglied der Chefredaktion; 1989-2010 Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Universität Bern (Schwerpunkte: Politische Kommunikation, Journalistik, Mediensysteme, Mediengeschichte). 1991-2001 Präsident des Schweizer Presserates, 1999-2005 Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Kommunikations- und Medienwissenschaft (SGKM); seit 2008 Präsident der Unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen der Schweiz (UBI). Mail:
[email protected] BONFADELLI, Heinz (1949), Prof. Dr., Studium von Sozialpsychologie, Soziologie und Publizistikwissenschaft an der Universität Zürich, Promotion 1980 (Sozialisationsperspektive in der Kommunikationswissenschaft), Habilitation 1992 (Wissenskluft-Perspektive); seit 1994 Extraordinarius und seit 2000 Ordinarius für Publizistikwissenschaft an der Universität Zürich. Forschungsschwerpunkte: Nutzung und Wirkung der Massenmedien, Informationskampagnen, Risiko- und Umweltkommunikation, Migration und Medien. Wichtige Veröffentlichungen: Medienwirkungsforschung I + II. Konstanz: UVK (2004); Medieninhaltsforschung. Konstanz: UVK (2002). Mail:
[email protected] BROSIUS, Hans-Bernd (1957), Prof. Dr., Studium der Psychologie und Medizin, Promotion 1983, Projektmitarbeiter und Assistent an der Universität Mainz, dort 1994 Habilitation (Nachrichtenrezeption); seit 1996 Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität München, Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Mediennutzung, Medienwirkung und Methoden; 1995-2004 nebenamtliche Leitung des Medien Instituts Ludwigshafen, einer Einrichtung der angewandten Medienforschung; 1998-2002 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK); seit 2001 Dekan der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität München. Mail:
[email protected] R. Blum et al. (Hrsg.), Krise der Leuchttürme öffentlicher Kommunikation, DOI 10.1007/978-3-531-93084-8, © VS Verlag fur Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Herausgeber und AutorInnen
DASCHMANN, Gregor (1962), Prof. Dr., Studium der Publizistikwissenschaft, Politikwissenschaft und Psychologie an der Universität Mainz, Doktorat 2000, 1987-1994 im Journalismus (beim SWR-Hörfunk, beim ZDF, als landespolitischer Korrespondent beim SWFFernsehen), wissenschaftlicher Assistent an der Universität Mainz, 2003-2006 Professor für Medienwissenschaft an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover, seit 2006 Professor für Publizistik an der Universität Mainz. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Medienwirkung, Mediennutzung, Methoden, Medienstruktur. Mail:
[email protected] IMHOF, Kurt (1956), Prof. Dr., Studium der Soziologie und Philosophie an der Universität Zürich, Doktorat 1989 (Diskontinuität der Moderne), Habilitation 1994 (Medienereignisse als Indikatoren des sozialen Wandels), 1994 Initiant des Mediensymposiums, seit 1997 Leiter des Forschungsbereichs Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) an der Universität Zürich, seit 2000 Professor für Publizistikwissenschaft und Soziologie an der Universität Zürich, Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Öffentlichkeits- und Mediensoziologie, Soziologie sozialen Wandels, Öffentlichkeitstheorie und -geschichte, Minderheitensoziologie, Mitglied beim „Ludwig Boltzmann Institute for European History and Public Spheres“ und beim „National Center of Competence in Research (NCCR Democracy): Challenges to Democracy in the 21st Century“. Mail:
[email protected] JANDURA, Olaf, Dr. (1974) 1994 – 1999 Studium der Kommunikationswissenschaft, Politikwissenschaft, Neueren und Neusten Geschichte und Soziologie an der Technischen Universität Dresden sowie der Universidad de Navarra (Pamplona/Spanien). Magister 1999 (Kandidatenimages im Bundestagswahlkampf 1998, Inhaltsanalyse und Bevölkerungsbefragung in Dresden). 1999-2006 Wissenschaftlicher Mitarbeiter bzw. wissenschaftlicher Assistent am Institut für Kommunikationswissenschaft der TU Dresden, 2005 Doktorat (Kleinparteien in der Mediendemokratie im Jahr 2005). Seit 2006 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Universität München. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Rezeptionsforschung, Methoden und Politische Kommunikation. Mail:
[email protected] JARREN, Otfried (1953), Prof. Dr., Studium der Publizistik-, Politikwissenschaft und Volkskunde in Münster. 1979-1987 Assistent; 1987-1989 Geschäftsführer des Studiengangs «Journalisten-Weiterbildung» an der FU Berlin. 1989-1997 Professor für Journalistik mit dem Schwerpunkt Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Universität Hamburg.1995-2001 Direktor des Hans-Bredow-Instituts für Medienforschung. Seit 1997 Ordinarius für Publizistikwissenschaft an der Universität Zürich; 1998-2008 Institutsdirektor; 2001-2005 Fachgutachter der Deutschen Forschungsgemeinschaft. 2005-2008 Co-Direktor des «National Centres of Competence in Research (NCCR): Challenges to Democracy in the 21st Century» der Universität Zürich. Forschungs- und Publikationsschwerpunkte: Politische Kommunikation, Medienregulierung, Medien- und Gesellschaftswandel. Seit 2008 Prorektor Geistes- und Sozialwissenschaften der Universität Zürich. Mail:
[email protected] KAMBER, Esther (1964), lic. phil., seit 1997 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungsbereich Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) der Institute für Publizistikwissen-
Herausgeber und AutorInnen
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schaft und Medienforschung sowie Soziologie der Universität Zürich, Mitglied der fögLeitung; Leiterin des Observatoriums, Leiterin des Departements Methoden und Daten; 2005-2008 Mitarbeit am Projekt Democracy in the media society - Theoretical support and empirical validation of a social term. NCCR: Challenges to Democracy in the 21st Century; Arbeitsschwerpunkte: Öffentlichkeitssoziologie und -geschichte, Sozialer Wandel moderner Gesellschaften, Strukturwandel der Öffentlichkeit, öffentliche Kommunikation, publizistische Qualität von Printmedien, Programmforschung in Radio und Fernsehen. Mail:
[email protected] KIRCHNER, Juliane (1985), M.A., Studium der Kommunikationswissenschaft und der Geschichtswissenschaft an der Universität Erfurt, seit 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Medienintegration der Universität Erfurt, Forschungsschwerpunkte: Mediatisierte interpersonale Kommunikation und Medienwandel, Digitale Medien und Mobilkommunikation. Mail:
[email protected] KRETZSCHMAR, Sonja (1970), Dr., Studium der Journalistik und Politikwissenschaft an den Universitäten Dortmund und Edinburgh, Volontariat bei der „Berliner Zeitung“, Promotion 2001, 2001-2004 Redakteurin bei den Tagesthemen. Wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Universitäten Erfurt und Münster. Vertretungsdozentur an der Universität Leipzig (2004/05). Lise-Meitner-Stipendium zur Arbeit an der Habilitationsschrift zu „Journalismus und Mobilkommunikation“. 2006 Gastaufenthalt an der USC, Los Angeles. Mit Susanne Fengler Herausgeberin der Buchreihe „Kompaktwissen Journalismus“, VS Verlag. Seit 2010 Vertretungsprofessorin an der Zeppelin University, Friedrichshafen. Schwerpunkte: Crossmedialität, Mobilkommunikation, Medienpraxis. Mail:
[email protected] LANDMEIER, Christine (1979), M.A., Studium der Publizistikwissenschaft, Politikwissenschaft, Anglistik und Neueren Deutschen Literatur an den Universitäten Marburg, Amsterdam und Mainz, 1999-2007 journalistische Tätigkeiten und Hospitanzen, 2003-2008 Projektassistenz in der analytischen Medienbeobachtung, seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Interne Kommunikation, Krisenkommunikation. Mail:
[email protected] LUCHT, Jens (1967), Dr., Studium der Politik- und Rechtswissenschaft. 2000-2002 Leiter des Medienanalysezentrums des Seminars für Wissenschaftliche Politik der Universität Freiburg i.Br., seit 2005 Projektleiter "Europäische Öffentlichkeit und Identität" am Forschungsbereich Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) der Universität Zürich, seit 2007 Projektleiter „Democracy in the media society (NCCR)“ am fög, seit 2009 Projektleiter „Conceptions of Europe. Alternative Demos Conceptions in the European Union (NCCR)“. Arbeitsschwerpunkte: Europäische Identität, Medien/Öffentlichkeit und politische Steuerung. Mail:
[email protected] MAGIN, Melanie (1979), M.A., Studium der Publizistik, Buchwissenschaft und Soziologie an der Universität Mainz, Mitarbeiterin am Institut für Publizistik der Universität Mainz, heute Junior Researcher bei der Kommission für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien; Forschungs-
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Herausgeber und AutorInnen
schwerpunkte: Politische Kommunikation, Medien und Wahlen, Pressemärkte, vergleichende Medienforschung. Mail:
[email protected] MANGOLD, Frank (1981), Dipl.rer.com., Studium der Kommunikationswissenschaft mit den Vertiefungsrichtungen Markt- und Kommunikationsforschung, Kommunikationsmanagement und Wirtschaftswissenschaften an der Universität Stuttgart-Hohenheim; seit 2008 dort wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft und Sozialforschung sowie an der Forschungsstelle für Medienwirtschaft und Kommunikationsforschung. Forschungsschwerpunkte: Werbewirkungsforschung, Mediaforschung und sozialpsychologische Konsumforschung. Mail:
[email protected] MEYEN, Michael (1967), Prof. Dr., Studium der Journalistik in Leipzig, 1991-1997 Journalist bei Presse, Hörfunk und Teletext, 1995 Promotion, 2001 Habilitation, 2001/02 Gastprofessur an der Technischen Universität Dresden, seit 2002 Professor für Allgemeine und Systematische Kommunikationswissenschaft an der Universität München. Forschungsschwerpunkte: Fach- und Theoriegeschichte der Kommunikationswissenschaft, Mediennutzung, DDR, Historische Rezeptionsforschung, Methoden, Journalismusforschung. Mail:
[email protected] RINSDORF, Lars (1971), Prof. Dr., Studium der Journalistik an der Universität Dortmund, 1997-2003 Leiter Forschung beim Media Consulting Team Dortmund GmbH, 2003-2008 Leiter Forschung und Service bei der „Saarbrücker Zeitung“, seit 2008 Professor für Medienwirtschaft an der Hochschule der Medien in Stuttgart. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Nutzung von Informationsmedien, Redaktionsorganisation, Zeitungsmarketing. Mail:
[email protected] RÖSSLER, Patrick (1964), Prof. Dr., Studium von Kommunikationswissenschaft, Jura und Politikwissenschaft an der Universität Mainz, Mitarbeiter an der Universität StuttgartHohenheim, Doktorat 1996 (Agenda-Setting), Assistent an der Universität München, seit 2000 Professor für Kommunikationssoziologie und –psychologie an der Universität Erfurt, ab 2003 für Kommunikationswissenschaft mit dem Schwerpunkt empirische Kommunikationsforschung. Mail:
[email protected] RUSS-MOHL, Stephan (1950), Prof. Dr., Studium der Sozial- und Verwaltungswissenschaften in München, Konstanz und Princeton/ USA; 1985-2001 Professor an der Freien Universität Berlin und Leiter des Studiengangs Journalisten-Weiterbildung und später des Journalisten-Kollegs, seit 2002 Professor für Kommunikationswissenschaft an der Università della Svizzera italiana in Lugano, dort Leiter des Europäischen JournalismusObservatoriums (EJO). Journalistische Tätigkeit für die „Neue Zürcher Zeitung“ und führende deutsche Printmedien. Forschungsfelder: Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement im Journalismus, Redaktionsmanagement, vergleichende Journalismus-Forschung (insbesondere: Deutschland, USA, Schweiz, Italien), Medien-Journalismus und Öffentlichkeitsarbeit für Medienunternehmen sowie Wirtschaftsberichterstattung. Mail:
[email protected] Herausgeber und AutorInnen
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SCHENK, Michael (1948), Prof. Dr., Studium der Betriebswirtschaftslehre und Kommunikationsforschung an den Universitäten Regensburg und Augsburg, Projektleiter bei Infratest in München, Habilitation 1983, 1984-1986 Professor für Medienwirtschaft und Medienwirkungen an der Universität Mainz, seit 1986 Professor für Kommunikationswissenschaft und Sozialforschung an der Universität Stuttgart-Hohenheim und dort Leiter der Forschungsstelle für Medienwirtschaft und Kommunikationsforschung. 1997 – 2003 Mitglied der Expertengruppe „Zukunft Schweiz“ beim Schweizerischen Nationalfonds. Lehrund Forschungsschwerpunkte: Werbe-und Medienwirkungen, Onlineforschung, Methoden der Markt-und Kommunikationsforschung. Mail:
[email protected] STARK, Birgit (1968), Dr., Studium der Sozialwissenschaften an der Universität ErlangenNürnberg, Doktorat 2005, 1996/97 Projektleiterin am Institut für Sozialforschung in Nürnberg, 1997-2005 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Stuttgart-Hohenheim, seit 2006 Post-doc-Researcher bei der Kommission für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien; Lehrbeauftragte an der Fachhochschule St. Pölten (Studiengang Medienmanagement). Mitglied im europäischen COST-Netzwerk zum Thema "Transforming Audiences, Transforming Societies". Forschungsgebiete: Nutzungs- und Rezeptionsforschung, Methoden der Marktund Kommunikationsforschung, vergleichende Medienforschung. Mail:
[email protected] UDRIS, Linards (1977), Dr. phil., Studium der Allgemeinen Geschichte, Englischen Sprachwissenschaft und Soziologie an der Universität Zürich, Promotion 2010 (Politischer Extremismus und Radikalismus), seit 2005 wissenschaftlicher Assistent, Lehrbeauftragter und Projektleiter im Rahmen der Nationalfonds-Programme „Rechtsextremismus“ und NCCR „Challenges to Democracy in the 21st Century“ am Forschungsbereich Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög; Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung / Soziologisches Institut) der Universität Zürich. Arbeitsschwerpunkte: Öffentlichkeitssoziologie, sozialer Wandel, politische Kommunikation. Mail:
[email protected] VLASIC, Andreas (1971), Dr., Studium der Philosophie, Musikpädagogik, Kommunikationswissenschaft, Psychologie und Informatik an der Universität München, Doktorat 2003 (Integrationsfunktion der Massenmedien), Lehrbeauftragter an den Universitäten München und Mannheim, der FH Ludwigshafen sowie der Dualen Hochschule Mannheim, seit 2003 Geschäftsführer des Medien Instituts in Ludwigshafen. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Massenmedien und Integration, politische Kommunikation, Methoden/Statistik sowie angewandte Kommunikationsforschung. Mail:
[email protected] VOGEL, Martina (1980), Dr., Studium der Politik- und Publizistikwissenschaft sowie Staatsrecht an der Universität Zürich, 2005-2009 Assistentin am IPMZ-Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich, Doktorat 2009 (Regierungskommunikation), Absolventin der NCCR-Doctoral School, diverse Lehraufträge, 20092010 Kommunikationsberaterin und -trainerin bei Patrick Rohr Kommunikation GmbH in Zürich, seit Ende 2010 PR-Beraterin bei C-Matrix Communications AG in Zürich (u.a. Politische Kommunikation, Standortmarketing und Corporate Communications). Mail:
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Herausgeber und AutorInnen
WYSS, Vinzenz (1965), Prof. Dr., Studium der Germanistik, Publizistikwissenschaft und Soziologie an der Universität Zürich, Doktorat 2002 (Redaktionelles Qualitätsmanagement), 1990-97 Redakteur bei einer Tageszeitung sowie im Privatrundfunk. 1995-2004 wiss. Assistent und Oberassistent am IPMZ der Universität Zürich sowie Leiter von IPMZ Transfer. Seit 2003 Professor für Journalistik und Medienforschung an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Seit 2009 Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Kommunikations- und Medienwissenschaft (SGKM), Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Journalismustheorie und Kommunikatorforschung, Journalistische Qualität und Qualitätssicherung, Medienethik, Redaktionsforschung, Transferforschung, Narrationsforschung und Religionskommunikation. Mail:
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