Mit unbändiger Gewalt bahnen sich die Bulldozer der Straßenbaugesellschaft ihren Weg durch den brasilianischen Dschunge...
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Mit unbändiger Gewalt bahnen sich die Bulldozer der Straßenbaugesellschaft ihren Weg durch den brasilianischen Dschungel. Für die Arbeiter ist das Projekt ein knochenharterJob. Für Tom Ericson, den archäologischen Mitarbeiter des Analytic Institute of Mysteries, ist es ein Wettlauf gegen die Zeit, den er kaum gewinnen kann. Während die Maschinen gnadenlos über die zerfallenen Bauwerke, die letzten Uberreste einer bisher unbekannten Indianerkultur hinwegrattern, erhebt sich aus den Tiefen der verfallenen Tempel das Grauen, um über die ahnungslosen Bauarbeiter herzufallen ... Tom Ericson hat nur eine Chance, das Rätsel um die vergessene Stadt zu lösen: Er muß herausfinden, woher die sonderbaren Spuren stammen, die sich, unberührt seit über tausend Jahren, unter den zerfallenen Ruinen finden und dennoch unzweideutig auf Mitarbeiter des Analytic Institute of Mysteries verweisen ... Uralte Geheimnisse, exotische Ausgrabungsstätten und mystische Artefakte ... DIE ABENTEURER - das ist Science Fiction, Krimi, Fantasy und Grusel, vermischt mit einem exquisit ausgearbeiteten archäologischen Background: eine fesselnde, unvergleichliche Romanserie aus der Feder des Stammautorenteams um Robert deVries und »Perry Rhodan«-Autor Hubert Haensel. Die Autoren dieses Romans: Hubert Haensel, geb. im August 1952 in einer Kleinstadt im Fichtelgebirge und dort noch immer wohnhaft, machte sich mit zahlreichen Veröffentlichungen im phantastischen Romangenre (u. a. »Atlan«, »Mythor«) einen Namen. Heute schreibt er als freiberuflicher Autor hauptsächlich für »Perry Rhodan«. Die ABENTEURERReihe wurde von ihm 1992 zusammen mit Robert deVries, Marten Veit und Frank Rehfeld konzipiert. Robert deVries, geboren 1960 in Venlo an der deutsch-holländischen Grenze, lebt in Norddeutschland und ist als freier Publizist tätig. Als Gastautor schrieb er unter anderem für die Bastei-Reihe »Vampira«. Bei den ABENTEURERN ist er maßgeblich für den spekulativ-achäologischen Hintergrund verantwortlich.
Hubert Haensel& Robert deVries
Erbe der Vergangenheit
Zaubermond-Verlag Schwelm „Erbe der Vergangenheit"
Buch 1 der Reihe DIE ABENTEURER Bisher sind in dieser Reihe folgende· Titel erschienen: 3-931407-3I-9 >·Erbe der Vergangenheit,Ja, ganz recht, mein Kind.« »Was ist mit meinem Haar?« Valerie fuhr sich verunsichert mit der Hand durch die schulterlange Löwenmähne, als wolle sie sich überzeugen, daß damit nichts Schlimmes geschehen war. »Ich find' mein Haar ganz in Ordnung so.« »Ja, auf den ersten Blick schon«, räumte Frau Gmeler-Däumlingein. Sie griff nach einer von Valeries Locken und rieb sie prüfend zwischen den Fingern hin und her. »Aber die Spitzen sind ganz brüchig. Eindeutig Spliss! Und auch die Tönung müßte etwas aufgefrischt werden. Durch die Sonne ist der Silber-Ton ein wenig ausgebleicht.« »Das ist natur.« »Oh! Tatsächlich?« Frau Gmeler-Däublin wirkte einen winzigen Augenblick lang irritiert, überspielte es aber sofort mit einem glockenhellen Lachen. »Na, wie auch immer. Um einen Nachschnitt der Spitzen kommen wir auf keinen Fall herum. Dabei könnte man natürlich überlegen, ob man nicht gleich etwas mehr macht. Ich kann mir vorstellen, daß es da so manch reizvolle Alternative gäbe.« »Wie schon gesagt«, setzte Valerie an, »ich bin eigentlich recht zufrieden mit meinem...« »Zum Glück habe ich eine kompetente Kollegin mitgebracht, die sich dieses Problems annehmen wird, während wir Ihr Kleid aussuchen.« Sie erhob ihre Stimme noch eine Oktave höher und deutete mit theatralischer Geste zum anderen Ende des Raumes. »Wenn ich vorstellen darf-Frau Lautknarrer-Schneckenhäuser!« Dort tauchte eine weitere Frau jenseits der Fünfzig auf, die aussah wie Mireille Mathieu mit einer Nana Mouskouri-Brille auf der Nase. Ihr ausdrucksloses, schwarzes Beerdigungskleid hätte zu beiden gepaßt - genauso wie ihr totenbleicher Teint. Im Gegensatz zu Gmeler-Däublinschien sie zu eher introvertiert zu sein. Ihr Blick war zu Boden gesenkt, und ihre Hände spielten nervös miteinander. Na bravo! dachte Valerie. Mrs. Jekyll und Mrs. Hyde persönlich. Besser hätte sie es kaum treffen können. Ihr Blick wanderte erneut zu Daniel. »Das kann doch nicht dein Ernst sein?« Ein triumphierendes Lächeln umspielte seine Lippen. »Mein voller! « »Frau Lautknarrer-Schneckenhäuser wird sich auch um Ihre Nägel kümmern«, verkündete Frau Gmeler-Däublin. »Meine... Nägel?« Valerie hob ihre Hand. »Was ist damit?« Gmeler-Däumling fischte die Hand aus der Luft, zog sie vor ihr Gesicht und blickte streng drein. »Hier, mein Kind! Sehen Sie nur! Viel zu unregelmäßig und vor allem viel zu kurz. Aber keine Bange, das können wir mit Kunstnägeln schnell beheben. Sie werden sehen, das werden die schönsten Nägel sein, die sie je hatten! Und die längsten.« »Aber... ich mag kurze Nägel«, wandte Valerie kraftlos ein. »Lang sind sie einem ständig im Weg, brechen pausenlos ab, und nie kann man damit etwas richtig anfassen.« »Aber lange Nägel sind schön«, beharrte Frau Gmeler-Däublinunnachsichtig. »Und Sie wollen doch schön sein, oder?« Valerie blickte fassungslos drein. Das war so ziemlichdie dümmste Frage, die man ihr je gestellt hatte. Sie fragte sich, ob das alles hier wirklich wahr war. Doch nachdem sie dreimal geblinzelt hatte, ohne daß sich an der Szenerie auch nur das Geringste geändert hatte, mußte sie sich eingestehen, daß heute nicht ihr Tag war. Gmeler-Däublin nahm ihre ausbleibende Antwort als stillschweigendes Einverständnis und zog sie mit sich. »Kommen Sie, mein Kind! Wir müssen uns beeilen, wenn wir noch rechtzeitig fertig sein wollen.« Valerie ließ sich mitziehen, wobei ihr Blick erneut Daniel such- te. Noch konnte er dem Wahnsinn ein Ende bereiten. Er mußte doch verstehen, wie ihr zumute war! Das schien er auch genau zu tun. Genüßlich betrachtete er ihr Leid und schien sich daran sogar noch zu weiden. »Bis nachher, Schwesterherz! « gab er ihr schmunzelnd mit auf den Weg. Valeries Blick nahm vernichtende Züge an. Na warte! stand darin geschrieben. Das wirst du büßen! Als Valerie Daniel eine knappe Stunde später unter die Augen trat, zeigte ihr Gesicht in etwa den begeisterten Ausdruck eines Lausbuben, der von seinen Eltern zum Friseur gezerrt worden war und sich seiner Sandkastenliebe nun mit seinem neuen Topf haarschnitt zeigen mußte. So schlimm war es in ihrem Fall nicht. Trotzdem war Daniel erstaunt, wie sehr sie sich verändert hatte. Ihre lockige Löwenmähne war verschwunden und hatte einem schulterlangen, glatten Pagenschnitt Platz gemacht. Er betonte ihre hohen Wangenknochen und die leicht südländisch-orientalischen Gesichtszüge, die in so starkem Kontrast zu ihren klaren, grauen Augen standen. Aus der nett und fröhlich aussehenden jungen Frau, die sie vor einer Stunde noch gewesen war, war eine Dame geworden, die eine Aura von Unnahbarkeit und Unterkühltheit ausstrahlte. Alles andere als unterkühlt hingegen war das schwarze Kleid, das sie trug. Ärmellos, am Rücken hoch geschlossen, offenbarte es ein tiefes Dekollete, das sich - an den Brüsten durch ein hauchfeines Kettchen zusammengehalten bis hinunter zum Bauchnabel zog. »Und?« fragte sie unsicher, fast schüchtern - etwas, was er gar nicht an ihr kannte.
»Atemberaubend«, antwortete er.
Sie sah ihn unsicher an, wie um zu ergründen, ob er sie auf den Arm nehmen wollte. Doch nichts dergleichen lag in seiner Miene.
Nur ehrliche Bewunderung.
»Ich hasse dich!« zischte sie leise.
Er lachte. »Ich mag dich auch sehr gerne.«
Sie kamen nicht dazu, ihre interfamiliären Angelegenheiten Weiter zu erörtern, denn in diesem Moment stürmten die beiden Modeexpertinnen mit der akustischen Wucht eines Taifuns ins Zimmer. »Wenn Sie Ihre Schwester doch bitte überzeugen könnten, daß Schminke nichts Übles ist«, forderte Frau Gmeler-Däublin schrill. »Im Gegenteil, es ist eine Kunst, die Stärken eines Gesichts richtig herauszuarbeiten und zu betonen! « »Ja, ganz genau!« stimmte Lautknarrer-Schneckenhäuser zu. »Es gehört viel Erfahrung dazu! « »Vor allem ist die Zeit knapp! « drängelte Gmeler-Däumling. »Wir brauchen schon ein paar Minuten Zeit dafür, wenn es ordentlich werden soll.« »Daniel!« Valeries Tonfall machte klar, daß ihr Vorrat an Geduld und Gutmütigkeit endgültig aufgebraucht war. »Ich mach' dir zuliebe ja gern mal den Gesellschaftsaffenund zieh' mir auch den entsprechenden Affenfummelan...« Die beiden Frauen sahen sich pikiert an, die Münder entrüstet gespitzt. »...aber du kannst mich nicht überzeugen, mir auch noch Farbe ins Gesicht zu schmieren. Ich will das nicht, und ich hab' das nicht nötig.« »Aber, Kindchen! « rief Frau Gmeler-Däumlingechauffiert. »Das ist doch nur zu Ihrem Besten!« »Jetzt ist langsam Schluß mit Kindchen!« rief Valerie. »Was ist nun, Daniel, befreist du mich endlich von diesem Alptraum oder nicht?« Er verstand, wen er mit Alptraum meinte. »Also gut. « Er wollte es schließlich nicht auf die Spitze treiben. »Keine Schminke.« Die Modeexpertinnen blickten frustriert drein, widersprachen aber nicht. Dazu war ihnen Daniel vermutlich zu wichtig als Kunde. »Passende Schuhe haben wir ebenfalls nicht gefunden«, nörgelte Gmeler-Däumling.»Ihrer Schwester war einfach nichts recht.« »Alles, was sie mitgebracht hat, sind hockhackige Schuhe«, verteidigte sich Valerie. »Du weißt genau, daß ich in diesen Dingern nicht laufen kann. Willst du, daß ich mir die Füße breche?« »Hm. Willst du zu dem Kleid deine ausgelatschten Turnschu-he anziehen?« »Du weißt genau, was ich am liebsten würde - erst gar nicht mitkommen! « »Dazu ist es zu spät. Du hast mir bereits dein Wort gegeben.« »Und sei dir sicher - ich bereue schon jetzt jedes einzelne da w-on. Dabei sind wir noch nicht einmal dort.« An der Eingangstür klingelte es. Sekunden später meldete die Haushälterin, daß das Taxi vorgefahren sei, das sie zu dem Empfang bringen sollte. Valerie stand ein paar Augenblicke mit unglücklichem Gesicht da, dann gab sie sich einen Ruck. »Also schön«, meinte sie zu Gmeler-Däumling.»Bringen Sie mir eben die Schuhe mit den höchsten Absätzen, die Sie haben.« »Aber, Kindchen, die passen doch gar nicht zu...«
»Ich hab' schon mal gesagt, daß ich kein Kindchen mehr hören kann. Tun Sie einfach, was ich sage! «
Gmeler-Däumling sah zu Daniel, und als von ihm kein Beistand kam, tat sie, wie ihr geheißen worden war. Daniel hütete sich,
Valerie zu sagen, daß sie es nicht gleich übertreiben mußte. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, daß er es damit nur noch schlimmer machen würde. Bei den Schuhen, die Gmeler-Däumling brachte, handelte es sich um rote Lackstiefeletten mit Stilettabsätzen. Valerie schlüpf te hinein und stakste ein paar Schritte so unsicher umher wie jemand, der durchaus darin gehen konnte, es aber partout nicht zeigen wollte. Daniel ließ sich dadurch nicht provozieren. Gmeler-Däumlingschüttelte den Kopf. »Also wenn Sie mich fragen... «
»Tut aber keiner«, fiel Valerie ihr ins Wort. Sie sah Daniel an. »Und? Was meinst du?"
»Vielleichtetwas eigenwillig,aber bei dir geht das glatt als Stil durch.«
Abermals musterte sie ihn forschend. Machte er sich wirklich nicht lustig über sie?
»Komm, laß uns los«, sagte er. »Der Fahrer wartet.«
Im Hinausgehen wandte er sich noch einmal den beiden Damen zu. »Vielen Dank für Ihr Kommen und Ihre Geduld. Die Rechnung
schicken Sie bitte an mich.« Als sie ins Freie traten, war es merklich schwüler geworden, Dunkle Wolken waren aufgezogen. Ein Abendgewitter kündigte sich an. »Wieso deren Geduld?« fragte Valerie streitlustig. »Und was ist mit mir? Schau dir an, was sie aus mir gemacht haben! Zum Glück habe ich sie davon abhalten können, mir die Fingernägel knallrot anmalen zu lassen.« »Schade", meinte er trocken. »Hätte bestimmt zu den Schuhen gepaßt.« Sie funkelte ihn wütend an. »Du nimmst mich nicht ernst.« »Doch, tue ich. Und entspann dich endlich!« »Entspannen? Du hast gut reden. Mit dir ist ja auch nichts passiert. Du hast einfach nur den Anzug gewechselt.« Vor dem Taxi blieben sie kurz stehen, und er sah ihr in die Augen. »Und? Wie fühlst du dich nun?« Sie überlegte kurz. »Nackt.« »Wegen der Haare oder dem Kleid?« »Weder noch.« Sie lachte humorlos und schüttelte den Kopf. »Weil ich mich entblödet habe, bei der Sache überhaupt
mitzumachen.« »Womit mir wieder beim alten Thema wären.« Der Fahrer hielt ihnen die Tür auf, und sie stiegen ein. »Wie wär's, wenn du versuchen würdest, den Abend zu genießen?« schlug Daniel vor. »Auf so einem steifen Empfang? Zwischen all den verknöcherten Business-Leuten mit ihren aufgedonnerten Weibern? Bei einem tiefgehenden Small talk über das heutige Wetter?« »Vielleicht solltest du nur ein wenig offener und menschenfreundlichersein. « Der Wagen fuhr los. »Hältst du mich für menschenfeindlich?«fragte Valerie. »Das nicht. Aber freundlich ist etwas ganz anderes als nur nicht feindlich.« Valerie saß eine Zeitlang nachdenklichda. »Es ist ja nicht so, daß ich die Menschheit nicht mögen würde«, bekannte sie. »Nein, ich glaube, im Grunde mag ich sie sogar sehr gerne.« Er sah sie erstaunt an. Solche Worte aus ihrem Mund waren ihm ganz neu. Sie hob die Schultern und seufzte. »Es sind immer nur die ganzen Leute, die ich nicht leiden kann.«
3. Kapitel
Entre Rios liegt am Zusammenfluß des Rio Curuá mit dem Rio Iriri, rund dreihundertundfünfzig Kilometer südlich der Stadt Santarem, und damit im Randgebiet Amazoniens. Die großen Verkehrswege sind die Transamazónica im Norden, im Bereich zwischen Altamira und Itaituba und die Südroute der BR 163 von Itaituba bis Cuiabá als Pforte zum Pantanal. Die Abzweigung Richtung Entre Rios ist nicht asphaltiert, eine Schlammpiste während der Regenzeit, von Schlaglöchern übersät und nichts als spröde, rotbraune Erde. An guten Tagen bewältigte ein Bus die Strecke, ein klappriges altes Gefährt, das seine besten Zeiten längst hinter sich hatte und hauptsächlich vom Improvisationsgeschick und den Gebeten Dom Cruzeiros zusammengehalten wurde. Die Reihenfolge mochte jeder Mitfahrer für sich selbst entscheiden. Dom Cruzeiro, nicht minder verwittert als sein blau und weiß lackierter Bus, schaute geflissentlich zur Seite, wenn Christen vor dem Einstieg das Kreuzzeichen schlugen oder Indios einen grell-bunten Vogelbalg aus irgendeiner Umhängetasche hervorzogen. Dom Cruzeiro liebte seinen Bus über alles. Die beiden Gasflaschen und der Schweißbrenner waren seit Jahren bei jeder Fahrt dabei. Dürftig mit Hanfstricken festgezurrt, beanspruchten sie einen Teil des niedrigen Dachgepäckträgers, und hin und wieder, wenn neue Löcher in der Piste aufgebrochen waren, die Cruzeiro noch nicht kannte, oder denen er nicht ausweichen konnte, schlugen sie dröhnend gegeneinander. AMAZONAS hatte der selbsternannte Dom mit verschnörkelten weißen Lettern auf das Heck seines Busses gepinselt, während die Seitenfront an ein Patchworkmuster erinnerte, weil immer neue Bleche übereinandergeschweißt worden waren. Auf die W-1'eise schien die Karosserie langsam von innen nach außen zu wachsen, wie eine Schlange, die sich häutete. Tabakkauend lehnte Cruzeiro am grob zugehauenen Pfosten eines schattenspendenden Blätterdachs und beobachtete die einsteigenden Fahrgäste. Altamira galt, obwohl die Stadt sich in den vergangenen zehn Jahren gemausert und ihr verschlafenes Image abgelegt hatte, noch immer als ein Ort der Verheißung, vorwiegend für die Habenichtse aus dem Nordosten des Landes. Nach den Geologen und Prospektoren der Ölmultis hatte der Straßenbau Leben gebracht, inzwischen waren es die Vertreter großer Pharmakonzerne, die jede Blüte, jedes Blatt und jeden Schmetterling unter die Lupe nahmen; Extreme, die zueinander paßten wie die Faust aufs Auge. »Oi, Senhor!« Heftig mit beiden Armen gestikulierend, stieß sich Dom Cruzeiro ab. »Das Gepäck gehört nicht in den Bus.« Aufmunternd entblößte er sein tabakgelbes Pferdegebiß und spuckte den Priem aus. »Nach oben, Senhor, aufs Dach,« Zögernd wandte der Mann sich um. Vergeblich hatte er versucht, eine sperrige Leichtmetallkiste durch den schmalen Einstieg neben dem Fahrersitz zu wuchten. Er mochte Engländer sein, vielleicht sogar Deutscher, aber im Grund war das Dom Cruzeiro egal, solange er für die Uberfahrt zahlte. Ein Trinkgeld von ein paar Reals mehr konnte nie schaden. Mit dem Daumen zeigte Cruzeiro auf das Busdach, wo sich außer seinem Werkzeug inzwischen Benzinkanister, Flechtkörbe und sogar ein großer Vogelkäfig stapelten. Vier Fahrgäste bis jetzt, dazu der Europäer, die Zeiten waren auch nicht mehr wie früher. »Reifen, neue Radlager, Benzin - die Madonna möge mir gnädig sein«, murmelte Cruzeiro im Selbstgespräch. »Das kostet alles... « Eine Stunde über der Zeit, aber trotzdem nur ein einziger Mitreisender mehr. Cruzeiro kratzte sich die schüttere Haarpracht. Lange durfte er nicht mehr warten, wollte er nicht in die Nacht hineinkommen. Im fahlen Scheinwerferlichtwuchsen die Schlaglöcher zu düsteren Toren in eine unergründliche Unterwelt, eines neben dem anderen. »Bitte, Senhor, da oben ist Platz für Gepäck. Und beeilen Sie sich. « »Nein«, sagte der Fremde. Schlicht und einfach nein. Er mochte gut und gerne einen Meter achtzig groß sein, war schlank und durchtrainiert. Nur seine Hautfarbe gefiel Cruzeiro nicht, sie ließ jede natürliche Bräune vermissen. Mit einer Hand rückte der Mann seine Sonnenbrille auf der Nasenspitze zurecht und taxierte den Busfahrer über den dünnen Rand hinweg, ganz so, als würde jemand ein seltenes Insekt für seine Sammlung betrachten. Mit seinen ein Meter dreiundsechzig war der Dom gezwungen, zu dem Europäer aufzuschauen. »Wohin?« fragte Cruzeiro maulfaul. »Endstation.« »Wir fahren gleich ab. Ihre Fahrkarte?« Der Fremden kramte in seinem Sakko, schließlich fand er das schon am Busbahnhof gekaufte Ticket. Fahrgäste, die erst im Bus zahlten, waren Cruzeiro lieber, da ging dann schon das eine oder andere nebenher. Ganz abgesehen davon war der Mann für eine Fahre in den Regenwald denkbar schlecht gekleidet. Ein Bürohengst, dachte Dom Cruzeiro bitter, einer von der Sorte, die ohnehin alles besser wissen. Er mußte über den Koffer klettern, um in den offenen Einstieg zu gelangen. Ein gequältes Seufzen auf den Lippen, ließ er sich auf den Fahrersitz gleiten. Der Zündschlüssel steckte - und klemmte wie gewöhnlich. Erst der dritte Versuch ließ den Motor endlich launisch tuckern. Mehrere Fehlzündungen übertönten den ohnehin herrschenden Straßenlärm. »Was wird mit mir?« fragte der Europäer. Dom Cruzeiro zuckte mit den Schultern und hob beide Handflächen in einer überraschten Geste. »Warum steigen Sie nicht ein?« »Der Koffer muß mit.« Cruzeiros Augenaufschlag himmelwärts sagte mehr als alle Worte.
»Der Dachträger wackelt wie ein Kuhschwanz...«, kam augenblicklicher Protest.
»Da passiert schon nichts. Was haben Sie in Ihrem Koffer? Sprengstoff?«
„Reagenzien, biochemische Präparate, Screening-Material..." Der Motor dröhnte mittlerweile munter vor sich hin. Dom Cruzeiro
rammte den Fuß aufs Gaspedal, ein urzeitliches Röhren war die Folge, aber danach konnte man sich wenigstens in gemäßigter Lautstärke unterhalten. Beide Hände um den oberen Lenkradrand verkrampft, wandte er sich wieder dem Fremden zu. „Biologe?" »...und Genetiker.« »Hm. Also nur wieder einer von denen, die den Regenwald ausplündern wollen. Ist es nicht so?« »Im Gegenteil.« Mittlerweile schwang ein ärgerlicher Unterton in der Stimme mit. »Leute wie Sie werden uns eines Tages dankbar sein, daß wir für den Erhalt der Artenvielfalt eintreten. Wenn der Regenwald stirbt, stirbt auch der Mensch.« »Hin.« Cruzeiro hatte begonnen, auf der Unterlippe zu kauen. »Klingt irgendwie wahr. Weder Garimpeiros noch Ölsucher und wer sonst alles sein Unwesen treibt, kümmern sich um den Wald. Es ist zwar gegen die Vorschriften, Senhor - äh...?« »Swen Matjörn.« »...aber ich drücke ausnahmsweise beide Augen zu. Das heißt... « »Wieviel?« fragte Matjörn endlich. »Sie beschämen mich, Senhor.« Ein dünnes Gummi hielt das Bündel Scheine zusammen, das der Biologe zum Vorschein brachte. Er zählte fünf fast druckfrische Banknoten ab und steckte sie dem Busfahrer in die Hemdentasche. »Danke, danke - obrigado. Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Senhor Matjörn, ein Mißverständnis, aber eines, das wir zum Glück schnell beheben können. Tudo bem? Alles klar?« Gemeinsam verfrachteten sie die Aluminiumkiste in den Bus. Irgendwie standen die vordersten Sitzreihen zu weit vorne und der Gang war zu eng, aber sie schafften es mit vereinten Kräften, die Kiste ganz nach hinten zu transportieren. Auf dem Rücksitz gackerten mindestens zwölf Hühner in einem allerdings viel zu engen Käfig. Eine steile Unmutsfalte erschien über der Nasenwurzel des Europäers. Er hatte offenbar einige unfeine Worte auf der Zunge, überlegte es sich aber im letzten Moment doch anders und nickte nur verbissen. Dom Cruzeiro setzte sein strahlendstes Lächeln auf. »Muito prazer - es war mir ein Vergnügen. Sie werden sehen, amor, eine Fahrt wie auf Wolken.« »Hauptsache, wir kommen wirklich ans Ziel.« »Aber, Senhor, wofür halten Sie mich? Für einen Betrüger? Bei der Madonna und meiner ledigen Mutter, ich, Philippe Francisco Jesus Cruzeiro, bin nie mein Wort schuldig geblieben.« Im Selbstgespräch murmelte er immer noch vor sich hin, selbst als er wieder in dem schäbigen, aufgeplatzten Ledersitz kauerte und den inzwischen verstummten Motor erneut startete. Eine Serie von Fehlzündungen ließ die Fensterscheiben klirren, sov,-eit sie überhaupt noch vorhanden waren. Mit beiden Händen mühte er sich an der Feststellbremse ab, bis sie sich endlich krachend löste und das Uralt-Vehikel einen gewagten Satz vorwärts vollführte. Wenigstens die Hupe funktionierte laut und schrill und scheuchte eine Herde ausgemergelter Ziegen nach allen Richtungen von der Piste. Eine allmählich lichter werdende Wolke aus Abgasen hinter sich herziehend, rollte der Bus an. Die Hitze machte schläfrig. Und die hohe Luftfeuchtigkeit ließ die Luft zum Schneiden dick erscheinen. Vor zwei Stunden war ein gewaltiger Wolkenbruch niedergegangen, inzwischen wogten Nebelschwaden über dem Land und den schäumenden dunklen Fluten des Rio Xingu. Die Altamira vorgelagerten Häuser fielen rasch zurück. Bretterhütten schmiegten sich an nur noch einzeln stehende Urwaldriesen, in deren Schatten sich zudem rote und gelbe Blütenbäume duckten. Vereinzelt tuckerten Traktoren mit hoffnungslos überladenen Anhängern über den morastigen Boden; alte Autoreifen bildeten einen Wall zur Straße hin, und in ihrem Schutz tobten Kinder durch den Schlamm. Über allem spannten sich endlose Stromleitungen, festgehalten von entasteten Stämmen als Menetekel der voranschreitenden Zivilisation. Irgendwann endete die befestigte Straße übergangslos. Selbst den hartgesottensten Schläfer riß das jähe Versagen der Stoßdämpfer, das Krachen und Dröhnen von den Achsen und das Aufkreischen des Federviehs aus dem Schlaf. Dom Cruzeiro drehte sich grinsend um. »Ich hoffe, es geht allen gut. Will jemand Tee, Kaffee oder Cola?« Die beiden älteren Indianerinnen, die auf dem Markt in Altamira Handarbeiten und Touristenandenken verkauft hatten, reagierten nicht. Ihre Festtagskleidung hatten sie zu Bündeln verschnürt ins Gepäcknetz gelegt und trugen nun schäbige gestreifte Hosen und farblich undefinierbare Westen. Die Füße steckten in weitschäftigen Gummistiefeln. Das junge Pärchen, Cruzeiro schätzte sie als Touristen aus dem Süden der USA ein, hatte zwei Sitzbänke mit Beschlag belegt und blickte unentwegt hinaus auf die vorbeiziehende dampfende Waldlandschaft. Abwechseln tranken sie aus einer mitgebrachten Cola-Dose und verdarben damit seinen kleinen Zuerwerb. Der Europäer hackte mit zwei Fingern auf einem winzigen Computer herum.
»Oi, amor«, rief Cruzeiro nach hinten. »Ist das Arbeit?«
Ein knappes Nicken, dann ein wilder Aufschrei: »Sieh nach vorn! «
Immer allerletzten Moment drehte sich der Brasilianer wieder in Fahrtrichtung. Es reichte gerade noch, das Lenkrad zu verreißen.
Ein großer, dunkler Schatten dröhnte vorbei. Dann erst begann der Kerl auf der Gegenseite wie verrückt zu hupen.
»Kein Problem«, verkündete Cruzeiro. »Die Trucker haben doch Augen im Kopf. Ich habe noch nie wen auf der Strecke gelassen, bin immer gut angekommen.«
Er schien sich ausschütten zu wollen vor Lachen. Der Regenwald rückte näher an die Piste heran, als wolle er zurückholen, was mächtige Bulldozer ihm schon vor Jahren abgetrotzt hatten. Eine seltsam beklemmende Stimmung wurde spürbar. Der Bus tauchte ein in das Halbdunkel des Hochwaldes, der selbst während der Mittagszeit kaum Licht bis auf den Boden durchdringen ließ. Ein monotones grünes Meer wogte zu beiden Seiten empor, gierig darauf bedacht; über dem knatternden Ungetüm zusammenzuschlagenund es zu ersticken. Selbst Cruzeiro schien sich dem Unheimlichen nicht verschließen zu können. Sein Fuß trat das Gaspedal bis zum Anschlag ans Blech, der Bus holperte und bockte über Querrinnen und drohte jeden Moment auseinander zu brechen. Trotzdem begann der Fahrer zu singen. Laut und schrill. Kilometer um Kilometer dröhnte der Bus durch den Wald. Während mehrerer Zwischenstopps hatten wartende Landarbeiter die Benzinkanister abgeladen, neue Passagiere waren bis zur nächsten Haltestelle mitgefahren. Annähernd sieben Stunden waren inzwischen seit der Abfahrt in Altamira vergangen, und bald würde die in diesen Breitengraden kurze Dämmerung anbrechen. Der Biologe verstaute seinen kleinen Computer in der Kiste. Dann hangelte er sich an den Sitzen entlang nach vorne. Die Indiofrauen schliefen wieder, nur ihre Köpfe pendelten bei jeder Unebenheit der Straße von einer Seite auf die andere. Schräg rechts hinter dem Fahrer ließ sich der Europäer nieder und streckte ächzend die Beine aus. »Wann erreichen wir Entre Rios?« fragte er nach einer Weile. »Eine Stunde, vielleicht auch zwei. Das kommt darauf an.« » Worauf? « »Auf den Zustand der Straße.« Mit Daumen und Zeigefinger begann Matjörn, seinen Nasenrücken zu massieren. »Ich denke, die Bauarbeiten sind in vollem Gange?« »Genau das...« Cruzeiro stockte und schielte schräg zur Seite. »Es ist nicht einmal ein Jahr her, daß die Erzlagerstätten entdeckt wurden, aber schon tobt der stählerne Tod entlang der Flußufer.« Er stieß ein heiseres, künstlich wirkendes Husten aus, als er den irritierten Blick des Biologen bemerkte. »Mein Freund, die Indios nennen die schweren Bulldozer und Bagger, die Schredder, die jahrhundertealte Bäume in weniger als einer Stunde in Späne verwandeln, und die gewaltigen Lastwagen den stählernen Tod. Muß ich mehr dazu sagen? Ich glaube, sie haben recht.« »Ja, wahrscheinlich...« Matjörn fuhr sich mit beiden Händen unter den Kragen und lockerte das längst schweißverklebte Hemd. »Ich will ins Straßenbaucamp. Fahren wir vorbei?« »Wenn Sie das wollen, hätten Sie sich besser einen der dicken Brummer gesucht. Hin und wieder tauchen die Arbeiter in der Stadt auf, um Proviant zu holen und die Sau rauszulassen. Hartes Leben, harter Job, harte Männer«, sagte er, grinste vielsagend und schnalzte mit der Zunge. »Sie wissen schon. Trotzdem sehe ich die Kerle lieber von weitem. Eines Tages wird hier eine schöne neue Straße verlaufen, und dann fahren die großen Busse, die mit Klimaanlage, Video und Liegesitzen. Für meine Lizzy bleibt dann nur noch der Schrottplatz. Und ich...« Er kaute und spuckte einen Priem Tabak aus dem Seitenfenster. »Manchmal wünsche ich, jemand hält den verdammten Fortschritt auf«, sinnierte er unvermittelt. »Warum kann nicht alles so bleiben, wie es ist?« Die Piste wurde breiter. Eine gewaltige Schneise klaffte plötzlich im Dschungel. Auf eine Breite von mindestens einhundert Metern war der Wald gerodet worden. Rotbraune nackte Erde bestimmte das Bild. Mit den tief eingegrabenen Reifenspuren wirkte der Baustellenbeginn wie eine Mondlandschaft. Cruzeiro lenkte den Bus an den Rand der ursprünglichen Fahrbahn und würgte den Motor ab. Schnurgerade zog sich die Baustelle nach Südwesten. Zu beiden Seiten, wie mit dem Messer geschnitten, eine undurchdringlich scheinende schwarze Wand. Dabei gab es nur wenig Unterholz. Zigtausende Bäume kämpften allein in diesem Bereich um ihren Anteil am Sonnenlicht. In gewaltigen Höhen breiteten sie ihr Laub wie einen undurchdringlichen Schirm aus, der den Untergrund in trüber Dämmerung erstickte. Monströse Radlader hatten begonnen, sich tief ins Erdreich hineinzufressen, um Hügel abzutragen und feuchte Senken auf zuschütten. In der Düsternis wirkten ihre Silhouetten wie die urzeitlicher Saurier, die vor hundert Millionen Jahren hier gelebt haben mochten, gewaltige Echsen, unter deren Tritten das Land kaum weniger erzittert war. Mit einer ausschweifenden Geste deutete Cruzeiro über die Baustelle. Weit entfernt, wo der Wald sich optisch wieder vereinte, rissen Scheinwerferbatterien die Düsternis auf. Dort übertönten Dieselmotoren und Kettensägen die vielfältigen Stimmen der Natur, legten sich Abgase stinkend auf die grüne Lunge. »Will jemand aussteigen und sich die Füße vertreten?« rief der Brasilianer nach hinten. »Dann ist jetzt Zeit dazu. In spätestens einer Stunde sind wir am Ziel. « Mit den Fingerspitzen trommelte er einen hektischen Marsch aufs Lenkrad. Augenblicke später wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Tief atmete er ein und stieß die Luft keuchend wieder aus. »Mir ist nicht wohl, wenn ich das sehe. Dreimal bin ich in der vergangenen Woche die Strecke gefahren, und jedesmal wurde es schlimmer.« Mit einer knappen Kopfbewegung deutete er auf die Indiofrauen, die goldfarbene Federn zwischen den Fingern drehten und in einen monotonen Singsang verfallen waren. »Sie spüren es auch. Die Indianer sagen, daß die Ahnen zürnen; die Straße führt durch heiliges Gebiet, und wenn die Erzvorkommen erst im Tagebau ausgebeutet werden...« Er preßte die Lippen aufeinander und schüttelte verbissen den Kopf. »Wer immer die Bagger aufhalten kann, sollte es tun. Was ist mit der Wundermedizin aus dem Urwald? Sind Sie deshalb hier, amor?« »Vielleicht«, antwortete Matjörn ausweichend und zerrte schon wieder an seinem Hemdenkragen. »Was ist? Wollen wir hier Wurzeln schlagen?« Das Bus holperte weiter in die beginnende Dämmerung. Cruzeiro begann erneut zu singen, verstummte aber nach wenigen Takten. Weit beugte er sich über das Lenkrad und starrte auf die deutlich erkennbar eingegrabenen Reifenspuren.
Sein Fahrstil wurde ruppiger - bis er nach nicht einmal zwei Kilometern abrupt anhielt und sich die Hände vors Gesicht schlug. »Fahr weiter!« drängte Matjörn. Cruzeiro hörte ihn nicht. Ein Wimmern drang mit jedem Atemzug über seine Lippen. Längst nicht mehr so geschmeidig wie zuvor, eher mit eckigen, ungelenken Bewegungen, stemmte er sich hoch und taumelte zur Tür. Er sprang hinaus, fluchte über aus dem Dreck ragende dünne Wurzeln und stolperte einige Schritte weiter. Dann wandte er sich um, starrte sekundenlang verbittert unter den Bus und kratzte sich ausgiebig das wir abstehende schwarze Haar. Augenblicke später trat er wütend gegen den rechten Vorderreifen. Matjörn stieg ebenfalls aus. »Probleme?« erkundigte-er sich. Dom Cruzeiro stieß einen gut zwei Handspannen messenden, scharfkantigen Metalldorn wie einen Dolch in die Luft. »Nennen Sie das ein Problem? Die Straßenarbeiter haben das Ding weggeworfen. Und natürlich schlitze ich mir den halben Reifen damit auf.« Noch einmal trat er zu, erwischte diesmal aber das geflickte Blech. Die deutlich sichtbare Delle ließ seine Stimmung weiter absacken. Wütend schleuderte er den Dorn davon, das schwere Metall bohrte sich in den Lehmboden und blieb schräg stecken. Cruzeiro achtete nicht darauf. » Alle aussteigen bitte! « rief er, gleichzeitig laut in die Hände klatschend, während er zum Heck des Fahrzeugs ging und über die wacklige Leiter nach oben kletterte. Erst polterte ein schwerer Fahrzeugheber in den Dreck, dann eine armdicke Ratsche und gleich darauf zwei massive Bohlen, die als Unterlage dienen sollten. Ein Reserverad war am Heck befestigt; der schmächtige Cruzeiro wuchtete es mit einer Leichtigkeit aus der Halterung, die ihm niemand zugetraut hätte. Minuten später hatte er den Bus aufgebockt und begonnen, die angerosteten Radmuttern zu lösen. Immer wieder wischte er sich den Schweiß von der Stirn und hinterließ dabei eine Art Kriegsbemalung aus Rost und Schmierfett. Insektenschwärme stürzten sich auf den liegengebliebenenBus und seine Passagiere. Ihr Summen vermischte sich mit den Stimmen des Waldes, dem unaufhörlichen Keckern, Schreien und Pfeifen. Von der Straßenbaustelle wehte gedämpftes Hupen herüber. Knirschend löste sich die dritte Radmutter. Cruzeiro hielt nur kurz inne. Der Blick, mit dem er den Waldrand musterte, wirkte gehetzt, ängstlich beinahe. Auch Matjörn spürte das Unheimliche, das sich auf diesem Streckenabschnitt zu verdichten schien. Wie mit tausend dürren, kalten Spinnenbeinen kroch es seinen Rücken hinauf und ließ ihn schaudern. Er schaute zu den Indiofrauen hinüber, die sich einige Dutzend Meter hinter dem Bus auf den Boden gekniet hatten und ihre Vogelfedern im Kreis um sich herum auslegten. »Sie glauben, daß ein böser Geist in den Bus eingedrungen ist«, stieß Dom Cruzeiro kurzatmig hervor. »Und Sie?« Der Blick des Biologen ruhte immer noch auf den Frauen, von denen eine ein modernes Einwegfeuerzeug entzündete. Unruhig flackernd stach die Flamme durch die hereinbrechende Dunkelheit. Zwei Federn, in Brand gesteckt und hoch emporgehalten, wirbelten mit einer auffrischenden Brise davon. Die matten Scheinwerferkegel entrissen Schwärme von Moskitos der beginnenden Nacht. Unruhig tanzten sie in der Helligkeit. Unvermittelt ein Scharten. Gedankenschnell huschte er heran, schlug Haken und verschwand ebenso jäh in der undurchdringlich werdenden Schwärze des Waldes. »Ein Paka.« Cruzeiro grinste verzerrt. »Über der Sonnenblende hängt eine abgesägte Schrotflinte. Holen Sie sie mir, falls das Paka wiederkommt. Die Indianer schätzen die Nagetiere als äußerst schmackhaft.« Unbewußt hatte Swen Matjörn begonnen, unruhig auf und ab zu gehen. Zwei Schritte hin, zwei zurück - wie ein gefangenes Raubtier im Käfig. Trotz der immer noch dampfenden Schwüle fröstelte er. Cruzeiro wuchtete das Rad von der Achse. Er grinste schräg. »Was ist mit der Flinte, amor? Das Paka kommt bestimmt zurück.« Er stutzte. »Fühlen Sie sich nicht wohl? Mein Onkel, mütterlicherseits natürlich, war auch eines abends so blaß. Dann kam der Schweiß, und am nächsten Morgen... Aber Europäer glauben nicht an Geister. Die beiden auch nicht.« Mit einer knappen Kopfbewegung deutete er hinüber zu dem jungen amerikanischen Pärchen. Die Cola-Dose flog soeben in hohem Bogen in den Dschungel, gefolgt von einem meckernden Lachen. »Was war mit dem Onkel?« fragte Matjörn. Dom Cruzeiro ließ ein dumpfes Gurgeln hören, sein Unterkiefer klappte demonstrativ auf, und dazu verdrehte er die Augen auf geradezu erschreckende Weise. Sekundenlang schien nur das Weiß der Augäpfel aufzublitzen. »Es gibt sie, die Geister. Gute und böse. Sie schwirren überall herum, und wenn sie sich einmal eingenistet haben...« Die Stimme nahm einen verschwörerischen Tonfall an. »Seit einer Woche treiben sie hier ihr Unwesen, entlang der Straße. Ich kann sie spüren, amor. Nein, lachen Sie nicht, es ist so. Die Indios verbrennen Vogelfedern, um sich zu schützen; uralte Legenden erzählen von einem goldenen Vogel, der einst das Land und seine Kinder bewachte.« Ein Blitz flammte au£ Grell und blendend. Dom Cruzeiro zuckte heftig zusammen. Die Radmuttern fielen in den Dreck. »Thanks«, sagte der junge Amerikaner grinsend. »Ziemlich dunkel schon, aber ich hoffe, das Foto gibt die Stimmung wieder. Sagen Sie, Senhor, gibt es hier keine wilden Tiere, Jaguare oder Kaimane?«
»Stachelschweine«, entfuhr es dem Brasilianer. »Und Wander meisen. Und jetzt helfen Sie mir bitte, oder lassen Sie mich
weiterarbeiten. « Ohne eine Antwort abzuwarten, tastete er nach den großen Radmuttern, wischte sie an seiner Hose ab und drehte sie ein Stück weit mit der Hand ein. Der Biologe reichte ihm die Ratsche. »No! No!« erklang es hinter ihnen schrill. Trotz des Protestes der Frauen flammte das Blitzlicht zum zweitenmal au£ Wimmernd rafften die Frauen ihre Federn zusammen und hasteten zum Bus. »Mußte das wirklich sein, Mister?« Kopfschüttelnd wandte Matjörn sich nach dem Amerikaner um. »Warum respektieren Sie es nicht, wenn die Frauen ablehnen?« »Sie verlieren schon nicht wegen des einen Fotos ihre Seele«, kam es trotzig zurück. »Aber sie glauben daran.« Ein Warnsignal hallte aus der Ferne heran, ein langgezogener schriller Ton, der sogar auf die Distanz in den Ohren schmerzte. Sekunden später folgte der dumpfe Donner einer Explosion. Dann eine zweite. »Die Arbeiter sprengen«, schimpfte Cruzeiro. »Als ob sie den Straßenbau so brutal vorantreiben müßten.« Ein kalter Windhauch streifte den Biologen. Für einen Augenblick hatte Swen Matjörn das entsetzliche Gefühl, die Zeit bliebe stehen. Dom Cruzeiro, mitten in der Bewegung erstarrt, mit beiden Händen das Griffstück der aufgesteckten Ratsche umklammert... Der Amerikaner mit halb erhobenem Fotoapparat - hinter ihm seine Begleiterin, abgewandt, die Arme wie abwehrend nach vorne gestreckt... Sein erster Impuls war davonzulaufen, dem Unheimlichenzu entfliehen, das sich immer beklemmender manifestierte. Der Bus, die anderen Passagiere, das alles machte plötzlich nur noch den Eindruck hölzerner Filmkulissen.Irreal irgendwie. Zögernd streckte Matjörn die Hand aus. Er wollte den Brasilianer an der Schulter berühren und schreckte doch zugleich davor zurück. Weil er ahnte, daß seine Hand durch Kleidung, Haut und Knochen hindurchgleiten würde wie durch eine Projektion. Nichts erschien ihm mehr real. Er fieberte. Die einzige Erklärung war, daß er sich eine Infektion zugezogen hatte. Im regnerisch kalten Europa, nach dem Ausfall der Klimaanlageim Flugzeug oder gar erst in Brasilien. Doch falls allein drei Tage feucht-schwüle Hitze solche Folgen zeigten, tat er wohl besser daran, auf dem Absatz umzudrehen und den Dschungel zu verlassen. »Das Paka kommt wieder!« Wie aus weiter Ferne drang Dom Cruzeiros Ausruf in Matjörns Gedanken vor und holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Woher? Er wußte es nicht. Was blieb, war ein nagendes Unbehagen, die unerklärliche Erinnerung, nicht mehr hier gewesen zu sein, aber auch nicht in einer anderen Welt - falls es das überhaupt gab. Mit indianischen Geistergeschichten hatte das wenig zu tun, eher mit neuronalen Störungen, die landläufig als Tagträume bezeichnet wurden. Schizophrenie? Das gerade mal fünfzig Zentimeter lange, an den Flanken weiß gefleckte braune Etwas erschien im Scheinwerferkegel. Zögernd, allzu vorsichtig, tappte der Nager auf den Bus zu. »Nicht bewegen!« raunte Cruzeiro. »Wenn Sie jetzt die Flinte holen, sehen wir es so schnell nicht wieder.« Er faßte die Ratsche am äußersten Ende, wie um sie als Keule zu benutzen. Höchstens noch zehn Meter entfernt, kam das Paka zielstrebig näher. Unvermittelt hielt das Tier inne und hob witternd die Schnauze. Doch es floh nicht. Als hätten unsichtbare Kräfte es auf den Fleck gebannt. Nebel kam auf. Zum zweitenmal spürte Matjörn die unerklärlich klamme Kälte. Es war immer noch schwül, aber schon ein Temperaturabfall um wenige Zehntel Grad machte sich unter Umständen als unangenehmer Hauch bemerkbar. Der Nebel begann aufzuwallen. Auf einen schmalen Streifen quer über die Piste begrenzt, wogte er höher, eine bleiche, unaufhörlich wuchernde Wand. Auswüchse formten sich - wuchsen zu Armen, lang und biegsam und mit Klauen versehen. Vergeblich versuchte Matjörn, die Beklemmung abzuschütteln, die ihm den Atem stocken ließ. Längst reagierte er mit überreizter Phantasie. Er sah das, was er sehen wollte und was er sich selbst vorgaukelte, aber Nebel war in diesen Breiten nichts Ungewöhnliches. Ein hektisches Blinzeln; Matjörn massierte sich die Schläfen und die Nasenwurzel, und die Klauen und Arme verschmolzen wieder mit dem Dunst. Dafür begann sich ein kugelförmiger Schädel auszuformen. Drei, vier Meter hoch über dem Boden. Ein Gesicht? Es wirkte nicht menschlich, war im unteren Bereich stark vorgewölbt. Eine nur angedeutete Nase, ein schmallippiger Mund. Dominiert wurden das Gesicht von den großen Augen mit Schlitzpupillen. Schuppenhaut schien den Schädel zu überziehen wie bei einer Schlange. Quetzalcoatl, die gefiederte Schlange mittelamerähanischer Völker? durchzuckte ihn ein aberwitziger Gedanke. Spitze, kurzatmige Schreie aus dem Bus schreckten Matjörn aus seiner beginnenden Lethargie auf. Eine kleine Ewigkeit schien vergangen zu sein. Trotzdem waren es erst Sekunden. Das Paka kauerte immer noch auf dem Lehmboden - doch im nächsten Augenblick war es verschwunden. Als hätte es sich in Luft aufgelöst. Ungläubig starrte der Biologe auf die Straße. Die Gefahr ging von dem Nebel aus.
Wogend, sich aufbauschend, kroch er näher. Matjörn sah Staub und welkes Laub aufwirbeln und den Gesetzen der Schwerkraft widersprechend in die Höhe steigen. Der Dunst verschluckte alles. Dom Cruzeiro, der in dem Moment die letzte Radmutter festzog, fuhr mit einem Aufschrei hoch und hielt die Ratsche abwehrend wie einen Schild vor sich, »In den Bus! « stieß er keuchend hervor. »Schnell! « Kleine Wirbel bildeten sich. Winzigen Windhosen gleich rissen sie Lehmbrocken aus dem festgefahrenen Untergrund und hinterließen seltsame Rinnen im Boden. Für einen Augenblick glaubte Matjörn, Symbole in diesen Rinnen zu erkennen, Zeichen ähnlich den Wüstenscharrbildern, die er vor langer Zeit in einem Buch entdeckt hatte. Aber das war Unsinn. Auch für die kleinen Staubwirbel gab es eine völlig reale Erklärung. Unterdruck vielleicht, verursacht durch den Einsturz unterirdischer Hohlräume. Die Sprengung vor wenigen Minuten konnte das ausgelöst haben. »Ich weiß nicht, was das ist«, ächzte Cruzeiro. »Ich habe keine Ahnung, aber wir müssen hier weg.« Weit holte er aus und schleuderte die Ratsche in den Nebel. Matjörn sah, wie das schwere Werkzeug verschwand, kaum daß es die brodelnde Wand berührte. Es fiel nicht zu Boden, ebensowenig wurde es vom wogenden Dunst verschluckt - es hörte einfach auf zu existieren. Nicht einmal mehr zehn Meter war der unheimlicheNebel entfernt, den die Scheinwerferkegel nicht zu durchdringen vermochten, als Dom Cruzeiro in den Bus floh. Matjörn folgte ihm langsamer, ohne den Blick von dem Brodem abzuwenden, der eine neue Gestalt auszubilden begann. Cruzeiros vergebliche Startversuche hatten etwas Dramatisches. Als der Motor endlich dröhnend ansprang, würgte der Brasilianer ihn nach wenigen Umdrehungen wieder ab. Benzingestank wehte über die Piste. Ein neuerliches Kreischen der Zündung... Matjörn schwang sich auf den Einstieg, in dem Moment, in dem die Nebelwand zwei Ausläufer bildete, die sich innerhalb der Scheinwerferkegel auf das Fahrzeug zu bewegten. Deutlich war zu sehen, wie der festgefahrene Lehm sich auflöste. Da war auch wieder der vage runde Schädel, und die beiden Klauenarme wucherten und reckten sich dem Bus entgegen. Dom Cruzeiro fluchte erbärmlich. Er hatte den Zündschlüssel abgezogen und schaffte es nicht einmal mehr, ihn wieder ins Schloß zu stecken. Etwas klemmte. Und keine fünf Meter entfernt formte sich endgültig eine monströse Gestalt. Ein Mensch? Eine aufrecht gehende Echse? Zu vage erschien die Kreatur, nur die von ihr ausstrahlende Kälte wurde deutlicher. Wenige Augenblicke noch, dann würde sie den Bus erreichen. »Sim, sim - ja, ja«, keuchte Cruzeiro, als er endlich mit zitternder Hand den Schlüssel ins Schloß bekam und erneut startete. Das übliche Problem: mehrere Fehlzündungen, die dunkle Wolken aus dem Auspuff jagten. Eine Reihe kerniger Verwünschungen ließen den Motor ebensowenig anspringen. Wenige Schritte trennten die Nebelkreatur noch vom Bus. Die Indiofrauen hatten sich hinter den Sitzen verkrochen, und nur die beiden Amerikaner starrten wie gebannt nach vorne, als sei das alles eine riesige Show mitten in Vegas. Dennoch hatte sich inzwischen Furcht in ihren Gesichtern eingegraben. Die Kreatur schien zunehmend realer zu werden. Ein wahr gewordener Alptraum. Swen Matjörn zerrte die Sonnenblende herab. Darüber hing die Schrotflinte, von der Cruzeiro gesprochen hatte. »Näo, Senhor!« stieß der Brasilianer hervor, doch da hatte Matjörn schon die Waffe aus der Halterung gerissen und sprang nach draußen. Zwei Läufe, beide geladen. Die mittlerweile eisige Kälte ließ ihn frösteln. Und da war dieses Monstrum, das sich weiter verdichtet hatte und sich ihm mit einer ruckartigen Drehung zuwandte. Matjörn schoß. Nacheinander feuerte er beide Läufe ab, trotzdem konnte er nicht verhindern, daß der Nebel ihn erreichte. Er schaffte es nicht einmal, sich herumzuwerfen und blindlingsin die Nacht zu fliehen.
4. Kapitel
Der Empfang fand im noblen ROYAL PLAZA statt, einer der ersten Hoteladressen in der Stadt. Der glitzernde Prachtbau mit der verspiegelten Glasfassade erhob sich in unmittelbarer Nähe des Mains. Vor dem Eingang herrschte reges Treiben. Limousinen fuhren vor, und ständig kamen Gäste an. Der Himmel hatte sich weiter zugezogen. Als das Taxi mit Valerie und Daniel das Hotel erreicht hatte, fielen bereits die ersten Regentropfen. Hier und da zuckte ein Blitz durch die Nacht, und entferntes Donnergrollen rollte heran. Kaum daß sie ausgestiegen waren, flüchteten Valerie und Daniel sich unter die große halbbogem£örinige Stoffmarkise vor dem Eingang. Hier wartete bereits ein Dutzend anderer geladener Gäste darauf, eingelassen zu werden. Die Pförtner überprüften gewissenhaft die Einladungsschreibenund verglichen sie mit den Namen auf ihrer Liste. Daniel zeigte ihre Einladung vor, und sie kamen problemlos ins weitläufige Foyer. Vor den Fahrstühlen hatte sich eine kleine Menschentraube gebildet. Der Empfang selbst fand in der vierten Etage statt, wo die Gräfin von und zu Bautnix einen großen Festsaal angemietet hatte, zu dem nur geladene Gäste Zutritt hatten. Valerie betrachtete die festlich gekleideten Gäste, die häppchenweise nach oben gefahren wurde. »Laß uns die Treppe nehmen«, schlug sie vor. »Sonst dauert es ewig, bis wir oben sind.« »Dann werden wir uns eben gedulden müssen.« »Wieso? Bist du zu dekadent zum Treppensteigen? Oder fallen wir dann zu sehr auf?« "Zur vierten Etage kommt man nur über die Fahrstühle. Alle anderen Zugänge sind aus Sicherheitsgründen gesperrt.« »Verstehe. Sind schließlich`ne Menge einflußreiche Leute hier. „Also, wenn ich mir allein die Klunker angucke, die die Frauen hier um den Hals tragen... Je dicker, desto schwerer. Ich muß wohl dankbar sein, daß du nicht darauf bestanden hast, mich auch mit so was auszustaffieren!« »Meine Hausjuwelierinwar heute abend leider anderweitig verpflichtet. Sonst sähest du genauso aus.« »Das meinst du nicht wirklich!« »Entspann dich, Schwesterlein. Warn Scherz.« Sie traten ans Ende der Menschentraube. Hier herrschte ein allgemeinesSich-Umschauen. Sehen und gesehen werden. Daniel wurde schnell von ein paar flüchtigen Geschäftsbekanntschaften entdeckt. Man stellte sich und seine Begleitungen gegenseitig vor. Valerie schnitt dabei offenkundig nicht schlecht ab. Obwohl jeder überwiegend aufs eigene Erscheinen bedacht war, erntete sie doch so manch bewunddernden oder neidischen Blick- je nach Geschlecht. Was Männern und Frauen jedoch gleichmaßen zu eigen war, war ein kurzer irritierter Blick auf ihre roten High Heels. Aber es schien niemanden weiter zu stören. Es war offenbar so, wie Daniel gesagt hatte. Wenn man sich in entsprechenden Kreisen befand, schienen Absonderlichkeiten, über die man sich sonst mokierte, als eigener Stil zu gelten. Valerie bemerkte, wie ein paar Frauen ihre Begleiter im Hinblick darauf sogar verstohlen anstießen - mit dem unausgesprochenen, aber nichtsdestotrotz überdeutlichen Vorwurf in ihren Mienen, warum sie so etwas verdammt nochmal nicht auch tragen durften. Daniel schien von alledem nichts zu bemerken. Er war schon froh, daß seine Schwester sich nicht so staksend bewegte wie bei ihren ersten Schritten in der Villa. Im Gegenteil, sie ging darin so sicher und elegant, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan. Er hatte auch keinen Augenblick lang Zweifel daran gehabt, daß es so sein würde. Schließlich kannte er ihre beinahe unglaubliche Anpassungsfähigkeit. Auch sonst machte sie keinerlei Anstalten, aus dem Rahmen zu fallen. Trotzdem hatte er diesbezüglich noch immer ein leicht flaues Gefühl in der Magengegend. Er wußte, daß er ein Auge auf sie haben mußte. Valerie bedeuteten die flüchtigen Gespräche mit Daniels Geschäftsbekanntschaften nicht viel, ebensowenig wie die andren Gäste vor den Fahrstühlen. Bei den meisten von ihnen reichte ein Blick, um sie in ihren Augen als Nullnummern einzustufen - egal wie reich, mächtig oder juwelenbehangen sie sein mochten. Also ließ sie ihren Blick scheinbar desinteressiert durch das weitläufige Foyer streifen. Dabei nahm sie mehr wahr als jede andere, der keine Ausbildung wie sie durchlaufen hatte. Mit jeder Gruppe, die nach oben gefahren wurde, rückten sie dichter an den Lift heran. Sie hatten ihn fast erreicht, als Daniel sich endlich von den Gesprächen losriß. Valerie stieß ihn leicht an. »Siehst du die drei Männer dort?« raunte sie ihm leise zu. Er sah verwirrt in die Richtung, in die sie unauffällig deutete, ohne etwas erkennen zu können. "Was für Männer?« »Na, die drei in den dunklen Anzügen, die da hinten mit den Zeitungen im Wartebereich sitzen.« »Ah, ja.« Jetzt hatte er sie entdeckt. »Was ist mit Ihnen?« »Findest du sie nicht auch verdächtig?« »Verdächtig? Warum sollte ich?« »Sie passen nicht recht hierher, findest du nicht?« „Wie kommst du darauf? Das sind ganz normale Hotelgäste, die nur dasitzen und Zeitung lesen.« »Das ist alles, was du siehst?« Er hob die Schultern. »Was siehst du denn?«
„Drei Männer, die dasitzen und so tun, als ob sie Zeitung lesen. Oder sie lesen unendlich oft denselben Satz. Jedenfalls gucken sie immer wieder nur auf dieselben Stellen.« »Und das willst du von hier erkennen?« »Sie blättern auch nicht um«, fuhr Valerie fort. »Aber sie wechseln untereinander Blicke. Und sie scheinen sich für den Empfang hier zu interessieren.« »Ist das ein Wunder? So einen Trubel gibt es hier im Hotel nicht jeden Tag.« Valerie ließ sich nicht stören. »Dann die Schuhe. Das sind Arbeitsschuhe.« »Warum nicht? Jeder mag's anders, ohne deswegen gleich verdächtig zu sein.« Daniel deutete auf Valeries Schuhwerk. »Das solltest du doch wohl wissen.« Sie ging nicht darauf ein, sondern blieb ernst. »Zumindest haben sie noble Anzüge an«, meinte Daniel. »Nur scheinbar. Das sind Fernost-Billigimitate.Vermutlich aus Bangkok.« »Woran willst du das erkennen?« »Werd' ich dir bei Gelegenheit gern verraten. Vor allem - siehst du in der Jacke des rechten Mannes die ausgebeulte Stelle?« Daniel blinzelte. »Da gehört schon viel Phantasie dazu, das sehen zu wollen.« »Keine Phantasie. Nur gute Augen.« »Und wenn schon? Vermutlich hat er dort nur sein Handy. Oder einen Notizkalender oder sonst irgend etwas.« »Zum Beispiel eine Waffe in einem Schulterhalfter...« Daniel schloß die Augen und atmete seufzend aus. Genau so etwas hatte er befürchtet! Eine Sekunden später hatte er sich wieder gefangen. »Wir sollten die Hoteldirektion verständigen«, flüsterte Valerie. »Damit man die drei mal etwas näher unter die Lupe nimmt! « Daniel blickte sich verstohlen um. Zum Glück hatte keiner der umstehenden Gäste etwas von ihrer Unterhaltung mitbekommen. »O nein!« raunte er Valerie eindringlich zu. »Das werden wir nicht! « »Dann tue ich es eben. Die drei dort...« »Nein! Das wirst du hübsch bleiben lassen!« »Wieso?« »Du bist als Gast hier und nicht als Sicherheitsexpertin! Das geht dich nichts an.« »Aber... « »Kein Aber! „ Wie das Schicksal es wollte, öffneten sich in diesem Augenblick erneut die Türen des Fahrstuhls, und der Liftboy winkte sie mit hinein. Valerie wollte sich sträuben, doch Daniel ergriff sie ebenso unauffällig wie fest am Handgelenk und zog sie mit sich. Sie hätte sich natürlich befreien können, ließ sich aber mitzerren - wenngleich mit wenig begeistertem Gesicht. Daniel war unendlich froh, als die Türen sich schlossen, und sie nach oben fuhren. Die Kabine war zu klein, als daß Valerie ihm - ganz gleich wie leise - etwas hätte zuflüstern können, ohne daß es alle anderen gehört hätten. Also beschränkte sie sich auf einen finsteren Blick, in dem - ganz allein für ihn - all ihr Mißfallen geschrieben stand. Ein anderer wäre davor vielleicht zurückgezuckt, doch Daniel begegnete ihm mit der Überlegenheit eines älteren Bruders und hielt ihm stand, bis sie die Lippen zusammenpreßte und zu Boden sah. Ihm war ihr Mißmut egal. Solange sie nur kein Theater machte. Er fragte sich, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, sie mitzunehmen. Doch jetzt war es für derartige Gedanken zu spät. Als sie im vierten Stock angekommen waren, strebten die anderen Fahrstuhlinsassen sofort auf den Veranstaltungsbereich zu. Nur Valerie und Daniel blieben noch im Korridor zurück. »Valerie, ich bitte dich! Mach kein Theater!« »Das war kein Theater. Das war mein Ernst.« »Na und? Was soll's? Selbst wenn mit den Männern etwas nicht stimmen sollte - ich betone: wenn und sollte-, ist das noch lange nicht deine Angelegenheit. Hier gibt es genügend kompetente Sicherheitsleute, die sich darum kümmern werden.« »Ach, du meinst so welche wrie die beiden Gorillas dort vorne?« Sie deutete zum Eingang des Veranstaltungsbereiches, wo links und rechts der Tür zwei glatzköpfige und ebenso muskelbepackte wie hünenhafte Wächter in dunklen Anzügen standen. Er sah irritiert dorthin. »Ja, zum Beispiel.« »Das nennst du kompetente Sicherheitsleute?« »Warum nicht? Sie sehen doch ganz fit und kräftig aus.« »Da gebe ich dir uneingeschränkt recht. Das tun sie. Das ist aber auch das einzige.« Sie rümpfte verächtlich die Nase. »Bei einer Dorfdisco kannst du die auch bedenkenlos an den Eingang stellen. Aber hier...« »Was hast du an ihnen auszusetzen?« »Sieh sie dir doch nur an! Zwei unerfahrene Milchgesichter, die sich ihre Muskeln im Bodybuilding-Studio zugelegt haben und glauben, Eindruck zu machen sei alles. Und das Hotelmanagement offenbar auch.« »Und das willst du nach nur einem Blick aus der Entfernung beurteilen können?« »Klar doch«, verteidigte sie sich. »Guck mal, wie der rechte sich gerade bewegt. Da sieht man doch ganz deutlich, daß er bei seiner Muskelmasse gar nicht mehr...« »Stop!« »äh, wie?« Daniel schüttelte den Kopf, wrie um sich von düsteren Alpträumen zu befreien. Beinahe hätte er sich auf Valeries Spiel einge lassen. »Darum geht es hier überhaupt nicht.« »Worum dann?« »Das will ich dir sagen!« Er schaute Valerie eindringlich an. »Selbst wenn du recht hättest und doppelt so gut wärst wie alle anderen hier...« Als er sah, wie sie protestierend den Mund öffnete, fügte er schnell hinzu: »Ich korrigiere, selbst wenn du tausendmal besser wärst... « Sie schloß den Mund wieder. »... berechtigt dich das noch lange nicht, das allen pausenlos unter die Nase zu reiben! Kannst du dich nicht einmal etwas zurückhalten und wie soll ich sagen? - wie eine normale Frau verhalten? «
Sie hatte tausend Erwiderungen auf der Zunge. Erwiderungen, die nichts damit zu tun hatten, daB sie recht behalten wollte, Doch sie wußte, daß er alles, was sie sagen würde, nur so verstanden hätte. Also preßte sie ihre Lippen zusammen und schwieg. »Vergiß nicht: Du bist als Gast hier!« schärfte er ihr ein. »Und zwar an meiner Seite. Also verhalte dich entsprechend! Sonst hättest du gar nicht mitkommen brauchen." In Valeries Gesicht arbeitete es. Sie fühlte sich zu Unrecht gescholten. Andererseits konnte sie auch ihn verstehen. Sehr gut sogar. Und es war ja nicht so, daß sie ihm unbedingt den Abend verderben oder irgendwelche Schwierigkeiten bereiten wollte jedenfalls keine großen. Trotzdem stand da irgendwo in ihrem Innern ein riesengroßes, trotziges Aber geschrieben. Sie versuchte es beiseite zu drängen. »Schön. Du hast ja recht. Ich werde mich zurückhalten. Es ist dein Abend.«
Er nickte zufrieden und wollte losgehen, als sie ihn noch einmal zurückhielt.
»Warte! Eines noch! « »Was denn?«
»Behandle mich bitte nicht wie deine kleine Schwester!« »Aber...« Er runzelte kurz die Stirn, dann sah er sie lächelnd an und
breitete gewinnend die Arme aus. »Du bist meine kleine Schwester! «
»Okay, vielleicht.« Valerie schnaufte. »Aber ich bin nicht mehr klein! «
»Dann benimm dich nicht so, und wir haben keine Schwierig keiten. «
Sie gingen zum Eingang, wo sie erneut ihre Einladung vorzeigen mußten. Valerie hatte für die beiden Türsteher, die ihre Augen kaum von ihrem tiefen Dekolleté abwenden konnten, nur einen mitleidigen Blick übrig. Vermutlich hätte sie sich nur etwas vorzubeugen und ihnen einen noch tieferen Einblick zu ermöglichen brauchen, und sie hätten glatt vergessen, ihr Einladungsschreiben überhaupt zu kontrollieren. Keine Frage, zwei ausgewachsene Westentaschenvollprofis. Aber sie ersparte sich jeden Kommentar und blieb brav an Daniels Seite, als sie in den Festsaal traten.
Überall standen die Leute in buntgemischten Gruppen herum. Der Empfang war schon seit einiger Zeit in Gange. Daniel grüßte mal
hierhin, mal dorthin, und Valerie bemühte sich, es ihm an Freundlichkeit gleichzutun. »Na, siehst du?« meinte er, als sie die ersten Small talks hinter sich hatten. »Ist doch gar nicht so schlimm.« Sie hätte ihm gerne ihre Meinung gesagt, unterließ es aber. Nur in ihrem Innern brodelte es weiter. Sie steuerten einen der vielen langen Büfettische an, die sich unter der Last der darauf angesammeltenKöstlichkeiten fast bogen, und stärkten sich. »Und?« fragte er. Sie nickte anerkennend. »Ist schon besser als `ne Currywurst. « Bald wurde Daniel von einer Gruppe offenbar wichtiger Geschäftspartner entdeckt, die ihn sofort in Beschlag nahmen. Binnen weniger Sekunden war man in ein Fachgespräch verwickelt. Valerie stand fast ein wenig enttäuscht da. Es mußte wirklich um wichtige Angelegenheiten gehen, überlegte sie, sonst hätten die Männer ihr und ihrem Ausschnitt sicherlich mehr Interesse gewidmet als nur einen kurzen Blick und ein kurzes Nicken. Oder aber sie waren schwul. Warum auch nicht? Nach ein paar Minuten schien Daniel sich wieder daran zu erinnern, daß er eine Schwester hatte, und wandte sich entschuldigend an sie. »Tut mir leid, Valerie. Dringende Gespräche. Kannst du dich ein paar Minuten lang alleine amüsieren?« Sie schaute skeptisch in die Runde. »Wie?« Er hatte keine Muße, sich darauf einzulassen. »Dir wird schon was einfallen.Misch dich einfach unter die Leute und amüsier dich! « Als kein Widerspruch von ihrer Seite kam, zog er sich mit seinen Geschäftsfreunden in eine ungestörte Ecke zurück. Valerie sah ihm mit einem Funkeln in den Augen nach. Sich unter die Leute mischen und sich amüsieren - das war gar keine schlechte Idee. Ja, beschloß sie, genau das würde sie tun. Um ihre Lippen zuckte es. Er hatte schließlich nicht gesagt, daß die anderen sich dabei ebenfalls amüsieren mußten! Aber - nahm sie sich vor - sie würde ihm gegenüber fair bleiben. Sie würde niemandemzu nahe treten, der einer seiner potentiellen Geschäftspartner sein konnte. Und diese zeichneten sich für sie so deutlich vom Rest der Gäste ab, als trügen sie rote Blinklichter auf den Köpfen. Es war der unübersehbare haifischartigeGlanz in ihren Augen, der sie von den anderen unterschied, während sich in deren Blicken nur gespieltes Desinteresse und eitle Selbstdarstellung spiegelten. Und genau diese nahm Valerie sich zum Ziel. Also begann sie mit Raubtieraugen zwischen den einzelnen Gesprächsgruppen umherstreifen und Ausschau nach ihren ersten Opfern zu halten. Es dauerte nicht lange, bis sie fündig geworden war. Eine Gruppe älterer Damen, die mit Sektgläsern in den Händen schwatzend beieinanderstanden, drängte sich ihr geradezu auf. Valerie stellte sich einfach dazu, quittierte die fragenden Blicke mit einem knappen, freundlichen Nicken und tat so, als sei sie brennend an dem interessiert, was eine von ihnen gerade erzählte. Auch die anderen wagten nicht, sie zu unterbrechen. »Seitdem ich mit der Malerei angefangen habe, fühle ich mich viel ausgeglichener«, erzählte sie schwärmerisch. »Das ist wirklich das, was mir immer gefehlt hat. Sozusagen mein Stein der Weisen. Also, ich kann nur jedem empfehlen, es auch einmal auszuprobieren.« Während die anderen Frauen ringsum entzückte Kommentare wie »Nein, wie erstaunlich!«, »Ach, wirklich?« oder »Also das werde ich bestimmt mal tun!« von sich gaben, fühlte Valerie sich kurz auf eigentümlicheWeise berührt. Lapsit elixir- der Stein der Weisen. Genau diesem Geheimnis waren die Mitarbeiter der Forschungsgruppe A.I.M., der auch sie angehörte, im Laufe des letzten Jahres nachgejagt. Dabei hatten sie seine Spur rund um die Welt und quer durch die Jahrtausende
verfolgt. Und seltsam, je näher sie ihm gekommen waren, desto hatte er seine Form und Gestalt verändert. Zuerst hatte sich herausgestellt, daß er offenbar mit einem anderen mysteriösen Gegenstand des Mittelalters identisch war - dem Heiligen Gral bis sie erfahren hatten, daß sich dahinter wiederum nichts anderes als die biblische Bundeslade verbarg, die von den Tempelrittern gefunden und gehütet worden war. Von ihnen war sie später im tiefsten mittelamerikanischen Dschungel versteckt worden. Dort hatten Tom Ericson und Gudrun Heber sie vor Monaten tatsächlich gefunden. Doch nur kurze Zeit später war sie ihnen während dramatischer Ereignissen wieder abhanden gekommen. Wo sie sich jetzt befand, darüber ließ sich bestenfalls spekulieren. An all das mußte Valerie kurz denken. Sie wußte, daß ein Durchschnittsbürger über diese Zusammenhänge nicht unbedingt informiert sein mußte - aber für diese Frau war der Stein der Weisen offenbar nichts anderes als eine Art Malen nach Zahlen für Fortgeschrittene. »Mit der Zeit wurden meine Fortschritte immer besser«, erzählte sie weiter. »Ich kann da nur jedem raten: Üben, üben und nochmals üben. Letzte Woche habe ich mich sogar an mein erstes Selbstporträt gewagt.« Anerkennendes Nicken ringsum. »Wie interessant«, meldete Valerie sich unschuldig zu Wort. »Von wem denn?« Ein halbes Dutzend erstarrter Gesichter musterte sie. Sie hob ergeben die Hände. »Schon gut, schon gut. Ich stör' ja nicht länger.« Befriedigt zog sie weiter. Die nächste Gruppe, die sie fand, bestand durchweg aus älteren Herren, die sich über ihre Lieblingspassionunterhielten die Jagd. Und wie jeder wußte, gab es dabei mindestens soviel zu berichten wie beim Angeln. »Zwei Fasane mit einem Schuß...«, erzählte einer der Männer. Er schüttelte fassungslos den Kopf. »Das war der verrückteste Jagdtag, den ich je erlebt hatte.« Die anderen nickten beeindruckt. »Zwei Fasane mit einem Schuß?« wunderte Valerie sich laut. »Das ist doch gar nichts.« Alle Köpfe wandten sich in ihre Richtung. Man hatte sie noch nicht bemerkt gehabt. Skeptisch wurde sie gemustert. Der Erzähler sah sie streng an. »Wie meinen Sie das?« »Nun, ich habe mal siebzehn davon mit einem einzigen Schuß erwischt. « Die passionierte Jägerschaft war nicht gewillt, sich solch ein Jägerlatein andrehen zu lassen. Aber da man die verrücktesten Geschichten gewohnt war, fragte man doch nach. »Mit welchem Kaliber wollen Sie denn geschossen haben?« erkundigte sich jemand, um sie damit in eine Falle laufen zu lassen. Die übrigen tauschten Blicke voller Vorfreude. Valerie sah den Sprecher an. »Mit einer Boden-Luft-Rakete«, meinte sie gelassen. »Ich muß zugeben, es galt auch nicht den Fasanen selbst. Sie waren sozusagen nur Kolateralschäden. Aber gezählt habe ich sie trotzdem.« Sie ließ die Jäger mit ihren verblüfften Gesichtern allein und suchte sich die andere Gruppe. Diesmal eine gemischte. Der gemeinsame Nenner: Kulturintellektualität. »Wenn ich je eine Frau finden sollte«, erklärte ein Lackaffe in einem schwarzen Frack und mit einem kunstvoll um seinen Hals drappierten Schal, »dann müßte sie dieselbe Begeisterung für Oper und Theater haben wie ich. Etwas anderes könnte ich mir gar nicht vorstellen. »Was für ein Zufall!« rief Valerie begeistert. »Oper und Theater - das sind haargenau auch meine Passionen! « »Ach ja?« Er wandte sich ihr zu, und seine Augen wurden merklich größer, als er sah, mit wem er es zu tun hatte. Mit übertrieben zur Schau gestelltem Wohlwollen musterte er sie eingehend, und dabei schien er sich rein intellektuellbereits zu fragen, mit welchem pseudogehaltvollen Gelaber sie wohl am schnellsten ins Bett zu bekommen wäre. »Wirklich. Das ist ja superb. Erzählen Sie nur! «
»Ja«, bestätigte sie unschuldig. »In Rambo zum Beispiel war ich schon viermal.«
Alle starrten sie an. »Und der Terminator ist auch nicht schlecht. Vor allem diese kraftvolle Schlußarie.« Sie sah den
schalbehängten Lackaffen mit verschwörerischer Miene an und fügte mit tiefer, inbrünstiger Stimme hinzu: „Hasta La vista, Baby!" Ihr tat gut zu beobachten, wie seine Kinnlade herunterfiel und er rot anzulaufen begann. Sie schenkte ihm noch einen verächtlichen Blick, ehe sie ihn dem hämischen Gelächter seiner Begleiter überließ und weiterging. Ein Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht. Gar nicht so übel hier. Im Gegenteil, es bereitete ihr zunehmend Spaß. Vielleicht war es doch gar keine so schlechte Idee gewesen, herzukommen. Fast schwebend näherte sie sich einer Gruppe älterer Herren. Sie sprachen zwar Deutsch, aber mit breitem, amerikanischem Akzent. Hier ging es um den Austausch von Kriegserlebnissenunter Veteranen. »Korea«, meinte einer mit schwerer Stimme. »Das war mit Abstand das Schlimmste, was ich je mitgemacht habe! Da mußte man noch Aug' in Aug' mit dem Feind kämpfen. Da hieß es: du oder ich!« Ringsum wurde bedächtigt genickt. Jedermann teilte seine Meinung. Auch Valerie schloß sich ihr an. »Das kann ich aus eigener Erfahrung nur voll und ganz bestätigen!« Ein Schatten flog über ihr Gesicht. »Das war kein Zuckerschlecken.« Der Mann sah sie stirnrunzelnd an. »Mit Verlaub, junge-Dame, dafür sind Sie viel zu spätgeboren! «
Valerie tat überrascht. »Ach ja?«
„Ja. Wie wollen Sie denn in Korea dabeigewesen sein?«
Und ob ich das war!« beharrte Valerie. »1988! Bei den olympischen Spielen. Und ich kann Ihnen sagen - es war die Hölle! Vor
allem vor den Kassenhäuschen.« Ihre Art von Humor schien bei den Herren nicht recht anzukommen. Sie erntete böse Blicke, aber das war ihr egal. Mit einem »Schönen Abend noch!« zog sie weiter. Die nächste Gruppe. Die nächsten Opfer. Diesmal wieder High Society-Gattinnen unter sich. Und das Thema - wie könnte es anders sein: Diäten. »Also, ich habe da mal die Ronald-Atkinson-Diät ausprobiert. Und drei Monate mit eisernem Willen durchgehalten. Länger ging es beim besten Willen nicht. Ja, und dann hatte ich tatsächlich elf Kilo verloren.« Valerie wog die Frau in Gedanken. Elf Kilo! Ob man die bei ihr überhaupt hatte sehen können? »Aber mittlerweile ist alles doppelt und dreifach wieder drauf«, jammerte die Frau. »Dieser verdammte Jojo-Effekt, ihr wißt ja! « Ringsum wurde lauthals in das Jammern eingestimmt. Offen bar hatten alle dieselbe leidvolle Erfahrung gemacht, daß es nichts brachte, vorübergehend zu hungern, um anschließend doppelt so stark den alten Sünden zu frönen. »O ja«, stimmte Valerie zu. »Mit den Diäten ist das so eine Sache.« Interessierte Schweinsäugleinpaare musterten sie. »Sie? Sie sehen gar nicht so aus, als hätten Sie eine Diät nötig.« Zustimmendes Nicken. »Trotzdem, zum Beispiel vor drei Jahren«, erzählte sie. »Da habe ich vierzehn Tage lang nichts Schweres gegessen, keinen Alkohol getrunken, nur Wasser, nicht geraucht, keine Männerbekanntschaften gehabt. Und als ich damit fertig war...« »Ja, und?« kreischten die Frauen wißbegierig. »Wieviel haben Sie abgenommen?« »Sagen Sie schon! Was haben Sie verloren?« »Es ist kaum zu glauben«, gab Valerie Auskunft. »Aber in den nur vierzehn Tagen habe ich gut und gern zwei ganze Wochen verloren. « Die Frauen blickten verwirrt drein. Hinter ihren Stirnen arbeitete es. Vorsorglich mischte sich schon einmal ein finsterer Zug in ihre Gesichter. Alles, was sie nicht auf Anhieb verstehen konnten, schien ihnen Unbehagen zu bereiten. Valerie machte sich lieber vom Acker. Sie wußte: Je länger ein Groschen brauchte, um zu fallen, desto härter krachte er auf den Boden. Nicht, daß die Damen dann womöglich noch auf die Idee kamen, mit ihren Handtäschchen auf sie einzuprügeln - ganz in dem Bemühen, irgendeine große Schlacht der Weltgeschichte nachzustellen. Die nächste Gruppe, die Valerie fand, bestand zur Gänze aus den Muttersöhnchen reicher Eltern, die damit prahlten, was sie alles Aufregendes und Angesagtes in ihrer Freizeit taten. Alles war vertreten, vom Canyoning über Skysurfen, von BungeeJumping bis Wildwasser-Raftig. Hauptsache, es war cool. Valerie wußte erst nicht, was sie dazu anmerken sollte. Aber das war auch nicht nötig, denn ihr Erscheinen machte die jungen Männer von ganz allein auf sie aufmerksam. Ein jeder warf sich in die Brust und erklärte begeistert, was für ein toller Bursche er doch sei. Valerie hörte es sich scheinbar interessiert an. Nein, dazu fiel ihr nun wirklich nichts ein.
Sie wollte sich abwenden, doch die Männer ließen ihr keine Ruhe und klebten verbal wie Kletten an ihr.
»Nun laufen Sie nicht gleich weg«, bat einer.
»Ja, genau«, stimmte sein Kumpel zu. »Wir haben uns doch so nett unterhalten.«
Wir?dachte Valerie verwundert. Wenn sie sich recht erinnerte, hatte sie noch keinen einzigen Ton gesagt.
»Bleiben Sie noch eine Sekunde! «
»Ganz recht. Erzählen Sie doch ein wenig über sich!« »Ja! Was machen Sie so in Ihrer Freizeit?«
Valerie wandte sich ihnen wieder zu. Die Milchbubisfeixten sich an. Anscheinend hielten sie das bereits für einen Sieg. Und ihnen
stand ins Gesicht geschrieben: So eine coole Braut mußte doch rumzukriegen sein! Wie sehr man danach vor den Kumpels hätte angeben können! »Oooch«, machte Valerie, als glaube sie nicht, daß das wirklich jemanden interessieren könnte. »Nur das, was alle Frauen so machen.« Die Bubis bekamen lange Hälse. »Und was ist das? »Ja, erzählen sie! « Abermals feixten sie sich an, als wüßten sie, daß es dabei nur um etwas gehen konnte, wovon sie früher in der Bravo gelesen hatten. Valerie sah sie der Reihe nach an, ein liebenswertes Lächeln auf den Lippen. Dann wurde ihre Miene plötzlich eiskalt und ihr Blick so knallhart, daß den Bubis das Feixen auf den Gesichtern gefror und sie unwillkürlich einen Schritt zurückwichen. »Also entweder«, sagte sie gefährlich leise, und die Art, wie sie es tat, ließ keinen Zweifel zu, daß sie es auch wirklich so meinte, »ich erschieße Leute...«
Erneut wichen die Jünglinge einen Schritt zurück. Ein paar von ihnen schluckten trocken.
Valerie schaltete übergangslos wieder in ihr liebenswürdiges Lächeln zurück. »...oder aber ich sammle Treibholz! «
Damit ließ sie die Jungs mit ihren fassungslosen Gesichtern zurück. Diesmal machte keiner mehr Anstalten, sie aufzuhalten. Sie kam
nicht dazu, sich weitere Opfer zu suchen. Plötzlich war Daniel neben ihr, ergriff sie am Handgelenk und zog grob daran. »Au! « Sie verzog das Gesicht. Jeder andere hätte so etwas wohl im selben Moment zu büßen gehabt. »Verdammt, Valerie!« Seine wütende Miene machte klar, daß er mit seiner Geduld am Ende angelangt war. »Was zum Teufel machst du hier?« »Nur das, was du gesagt hast«, verteidigte sie sich. »Ich mische mich unter die Leute und betreibe ein wenig Small talk.« »Nein! Was du machst, ist etwas ganz anderes. Du verarscht die Gäste!« Valerie wollte darauf keine rechte Antwort einfallen - etwas das ihr sonst selten Schwierigkeiten bereitete. Es erschien ihr wie ein Schuldeingeständnis- und das war es wohl auch. Daniel sah es genauso. »Glaubst du, du könntest das grenzenlos treiben? Gerade war Oberamtsrat Halmackenreuter bei mir und hat sich über dich beschwert.« »Oberamtsrat... äh, wie?« »Der mit den Fasanen! « »Oh!« Er zog sie mit sich. »Los, komm! « »Wohin willst du?« »Irgendwohin, wo wir uns kurz ungestört unterhalten können.« Valerie schluckte. Mit einem Male fühlte sie sich ähnlich wie die Jünglinge zuvor. Sie kamen nicht weit. Wie aus dem Nichts tauchte eine greise Dame in einem prächtigen Festtagskleid vor ihnen auf. In ihrem Schlepptau befanden sich mehrere noble Herren mit wichtigen Mienen. Daniel blieb abrupt stehen. »Herr Gideon, da sind Sie ja«, sagte die Dame freundlich. »Wie schön, daß Sie kommen konnten. Ich habe mich so sehr auf Ihren Besuch gefreut und schon nach Ihnen Ausschau gehalten.« Daniel brauchte einen Moment, dann hatte er sich gefangen. Er verneigte sich leicht. »Die Freude liegt ganz auf meiner Seite, Gräfin«, sagte er förmlich. »Es ist eine Ehre, hier sein zu dürfen.« Die Dame nahm es huldvoll zur Kenntnis. Ihre Augen richteten sich auf Valerie und nahmen einen fragenden Ausdruck an. »Wenn ich Sie vielleicht einander vorstellen dürfte«, beeilte er sich, der unausgesprochenen Forderung nachzukommen. »Gräfin, das ist meine Schwester Valerie.« Und nach einer kurzen Pause: »Valerie, das ist Gräfin Beatrix von und zu Bautnix.« Betont fügte er hinzu: »Unsere Gastgeberin.« Jetzt verstand sie, warum er so nervös war. Aber - dachte sie trotzig- sie hätte es auch verstanden, ohne daß er sie so übertrieben darauf aufmerksam hätte machen müssen. »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte die Gräfin und sah Valerie erwartungsvoll an. »Ja, äh«, meinte sie leise. »Mich auch.« Irgendwie schien es nicht das zu sein, was die Gräfin sich erhofft hatte. Sie nickte Valerie auffordernd zu. »Ich hoffe, es gefällt Ihnen hier?« Valerie runzelte die Stirn. Die Gräfin erwartete doch hoffentlich keinen Knicks oder etwas Ähnliches von ihr! »O ja, es gefällt ihr hier sehr gut«, versicherte Daniel mit lauter Stimme, als wolle er allein dadurch von vornherein jeglichen Zweifel ausschließen. Valerie empfand es als oberlehrerhaft. Als sich dann noch der Druck seiner Hand um ihr Handgelenk verstärkte, spürte sie Arger in sich aufsteigen. Konnte er nicht wenigstens vor anderen Leuten damit aufhören, sie wie seine kleine Schwester zu behandeln? »Erst vor ein paar Minuten hat sie mir noch begeistert vorgeschwärmt, wie überaus glücklich sie ist, hier sein zu dürfen!« fügte Daniel ebenso laut hinzu. Valerie warf ihm einen empörten Blick zu. Das war nicht sein Ernst! »Ach, ist das wirklich wahr? « freute die Gräfin sich. »Aber ja!« versicherte er laut. »Nicht wahr, Valerie? So ist es doch?« Leise raunte er ihr zu: »Los, sag endlich was Nettes!« Dabei zog er kurz so heftig - und vor allem unvermutetet - an ihrem Handgelenk, daß Valerie auf ihren hohen Absätzen fast ins Stolpern gekommen wäre und einen Ausfallschritt machen mußte, um nicht zu Boden zu stürzen. Schließlich war es nicht leicht, darin das Gleichgewicht zu wahren. Irgendwie war es der Tropfen, der den Ozean in ihr zum Überlaufen brachte. Sie schloß die Augen und versuchte noch kurz, die Flut aufzuhalten. Doch zu spät. Sämtliche Dämme waren bereits gebrochen. Sie holte tief Luft. Gut, wenn du es unbedingt so willst. Ein gewinnendes Lächeln der allerliebenswertesten Sorte erschien auf ihrem Gesicht, und sie sah die Gräfin anerkennend an. »Niedliche Titten für Ihr Alter. Waren die sehr teuer?« Die Wirkung einer einschlagenden Granate hätte kaum größer sein können. Valerie spürte, wie auch ihr das Blut plötzlich kochendheiß durch die Adern rann. Das Lächeln auf ihrem Gesicht gefror. O Gott, hatte sie das gerade wirklich gesagt?
Es mußte so sein. Die erstarrten Gesichter ringsum ließen keinen anderen Schluß zu. Und ebensowenig Daniels Blick, der sie gleich einem flammenden Schwert durchbohrte. Ihm war anzusehen, daß er vor Scham am liebsten im Boden versunken wäre allerdings nicht, ohne zuvor jemandem den Kopf abgerissen zu haben. Und sie mußte sich erst gar nicht fragen, um welchen Kopf es sich dabei wohl handeln mochte. Einzig im Gesicht der Gräfin lag nach wie vor Ratlosigkeit. Sie schien die Reaktionen ihrer Begleiter gar nicht zu bemerken und beugte sich statt dessen ein wenig zu Valerie vor. »Wie meinen Sie, mein Kind?« fragte sie. Ihr Gehör schien nicht mehr ganz so gut zu sein - oder ihr Hörgerät war falsch justiert. Wie auch immer - Valerie verstand mit einem Male, warum Daniel so laut gesprochen hatte. Es hatte überhaupt nichts mit ihr zu tun gehabt. Sie schluckte. Das Gefühl, einen schrecklichen Fehler gemacht zu haben, verstärkte sich. 82 »Sie müssen entschuldigen«, rief Daniel laut - in dem Bemühen zu retten, was noch zu retten war. »Meine Schwester ist der deutschen Sprache nicht sehr mächtig.« Die Gräfin sah ihn irritiert an. Valerie nutzte die Chance, die Augen aufzureißen, eifrig zu nicken und sich in gespielter Verzweiflung gegen das Brustbein zu klopfen. »Ja! Ich nix gut deutsch hier!« Endlich schien die Gräfin zu begreifen. Sie nickte gnädig. »Aber das ist doch nicht schlimm. Hauptsache, Sie amüsieren sich gut! « »O ja«, versicherte Daniel mühsam beherrscht. »Das tun wir. Sehr sogar.« »Dann wünsche ich Ihnen noch viel Spaß.« Sie gab ihren immer noch verunsicherten Begleitern das Zeichen zum Weiterziehen. »Wir werden uns später bestimmt noch sehen. Es gibt da ein paar Herren, denen ich Sie unbedingt vorstellen möchte. Es wird gewiß nicht zu Ihrem Nachteil sein.« Daniel nickte ergeben. »Ich freue mich darauf, Gräfin.« Sie verschwand zusammen mit ihrem Troß. Valerie mußte Daniel nicht einmal ansehen, um sich abermals wie von einem flammendem Schwert durchbohrt zu fühlen. Und er mußte auch nichts sagen. Wie ein geprügelter Hund folgte sie ihm. Kurz darauf standen sie sich in einer stillen Ecke gegenüber. Nur sie und er. Wie andere Leute einst in Korea. Valerie sah betreten zu Boden. Sie hatte fast erwartet, eine schallende Ohrfeige verpaßt zu bekommen. Nicht; daß er so etwas je getan hätte aber in diesem Moment hätte sie es ihm nicht einmal übelgenommen.Mehr noch, in ihren Augen hätte er jedes Recht dazu gehabt. Vielleicht hätte sie sich dann sogar besser gefühlt, als ihn einfach nur sagen zu hören: »Ich verstehe dich nicht.« In seiner Stimme lag kein Groll, sondern nur Enttäuschung und Ratlosigkeit. »Was denkst du dir eigentlich, wenn du so etwas machst?« Was sie sich gedacht hatte? Wenn Valerie sich recht entsann, war es irgend etwas wie wenn du es unbedingt willst! gewesen. Aber das würde er kaum hören wollen. »Hör zu, Daniel.« Sie hob ergeben die Hände. Es gab Momente, in denen sie sich wünschte, lieber ein Einzelkind zu sein. Und dies war definitiv einer davon. »Egal, was du sagst, du hast recht. Und es tut mir leid. Ich weiß, daB ich Mist gebaut habe, und ich fühle mich beschissen. Ich... hab' das nicht gewollt.« »Warum tust du es dann?« »Nun, weil... Ich weiß auch nicht, warum. Es überkam mich einfach. Von einem Augenblick auf den anderen. Ich konnte nichts dagegen tun.« »Nur das mit der Gräfin?« Seine Worte waren scharf wie ein Messer. »Oder auch bei den anderen Gästen?« Sie zuckte zusammen. Der Stich hatte gesessen. Er hatte ja recht! Sie blickte unglücklich drein und schwieg. »Denkst du etwa, dies hier wäre ein Spiel? Im Gegenteil, es geht um viel. Vielleicht sogar um die Zukunft von Transtek! « Sie sah zaghaft zu ihm hoch. »Ich dachte immer, der Firma ginge es gut.« »Eigentlich schon.« Er hielt kurz inne. »Aber in je größeren Becken man schwimmt, desto größer werden auch die Haie ringsum, die auf einen aufmerksam werden. Einige würden sich Transtek gerade gerne einverleiben.« Sie war ihm dankbar, daß er ihr so sachlich Auskunft gab. »Du brauchst keine Bange um das Geld zu haben«, erklärte er. »Wir würden nicht arm werden. Aber es könnte sein, daß wir die Firma verlieren.« Er mußte es nicht ansprechen, aber es klang trotzdem in den Worten durch: die Firma unseres Vaters! Es ließ Valerie sich nicht besser fühlen. Sie hatte sich in der Tat benommen wie ein kleines Kind. »Was ist nun?« fragte Daniel. »Wirst du dich benehmen? Oder willst du lieber mit einem Taxi nach Hause?« »Schon gut. Du brauchst keine Angst zu haben: Ich werde mich ganz gesittet benehmen und die Gäste in Ruhe lassen. Tu du ruhig, was du tun mußt. Ich bringe die Zeit schon rum ohne aufzufallen.« Er sah sie zweifelnd an. Ihr Blick flehte darum, ihr noch eine Chance zu geben. »Also gut«, ließ er sich erweichen. Er mißte nicht, ob das klug war. Aber wenn sie diesen Blick aufsetzte, konnte er ihr selten etwas abschlagen. Trotzdem hatte er nicht das Gefühl, als würde sie ihn bewußt einsetzen. Nein, es schien, als täte es ihr aufrichtig leid. Sie gingen in den großen Saal zurück, wo sie sich trennten. Er mußte zurück zu seinen Geschäftsfreunden. Noch einmal sah er sie mahnend an.
Valerie nickte ihm beruhigend zu. Keine Bange, sie würde schon keinen Unsinn mehr anstellen! Anschließend schaute sie sich etwas verloren um. Was nun? Als ihr Blick einen der Cocktail-Stände traf, hinter der ein Barmann mit den Shakern wirbelte, um die Wünsche der Gäste zu erfüllen, erhellte sich ihre Miene. Ja, am besten sich einfach einen Drink holen, sich irgendwo hinsetzen und warten, bis Daniel Fertig war. Sie nickte. Ein guter Plan. Nur - leider schien das Schicksal es nicht allzu gnädig mit ihr zu meinen. Kaum hatte sie sich in die kleine Schlange vor dem Stand eingereiht, wurde sie auch schon von der Seite angesprochen. »Was für ein Zufall! « erreichte sie eine leicht lallende Stimme. »Daß wir uns hier sehen!« Als sie den Kopf wandte, sah sie, daß die Stimme zu einem mindestens angeheiterten Mann mit ausgeprägter Stirnglatztze gehörte, auf der der Schweiß glänzte. Auch seine Krawatte saß längst nicht mehr korrekt. Begierlich stierte er sie an. Valerie seufzte innerlich. Ein betrunkener Verehrer - nicht auch das noch! »Kennen wir uns?« fragte sie distanziert, wohl wissend, daß ihr Bruder aus der Entfernung ein achtsames Auge auf sie hatte. Sie konnte seinen Blick regelrecht in ihrem Nacken spüren. »Wer weiß?« Er machte eine vielsagende Geste. »Lassen Sie mich raten! Sind Sie nicht...« »Nein!« Valerie schüttelte den Kopf. »Ganz bestimmt nicht.« Er stutzte, ließ aber nicht locker. »Naja, macht nichts, lernen wir uns eben jetzt kennen.« Er sah sie beifallheischendan. »Na, was sagen Sie dazu?« Valerie sagte nichts. Er fühlte sich dadurch nur bestätigt. »Also, dann fangen wir am besten bei mir an. Ich bin Prinz Tillmann von Weinstein.« Er drückte die Brust heraus. »Ich hoffe, damit wissen Sie, wer ich bin... « Valerie verzog keine Miene. »Prinz von Weinstein, nehme ich an. « Wieder stutzte er. »Ah, ja, richtig! Vor ihnen steht der Verleger des erfolgreichen Freikörperkultur-Monatsheftes Am Busen der Natur. Und ich bin auch der Schirmherr des Schutzverbandes für Pandabären in europäischen Zoos. Und dann bin ich der Organisator der bekannten Wohltätigkeitsgalas Schlemmen gegen den Hunger in Afrika.« In dem Gefühl, beeindruckende Breitseiten abgeschossen zu haben, der keine Frau widerstehen konnte, fügte er fragend hinzu: »Und Sie?« »Ich?« »Ja! Was sind Sie?«
»Genervt«, seufzte sie. Wann merkte er es endlich? »Einfach nur genervt.«
»Wovon denn?« In seinen glasigen Augen stand die Hoffnung, ihr dabei womöglich helfen zu können.
Valerie zerstörte sie endgültig. »Von Typen wie Ihnen.«
Erst starrte er beleidigt drein, dann trollte er sich von dannen - zum Glück ohne irgendwelchenArger zu machen.
Valerie atmete auf.
»Was darf s sein? « rief der Barkeeper fröhlich.
Valerie war überrascht. Sie hatte gar nicht bemerkt, daß sie schon an der Reihe war. Sie ließ ihren Blick uninspiriert
umherschweifen und hob die Schultern. »Ach, geben Sie mir irgendein buntes alkoholisches Kaltgetränk mit `ner Kirsche drin und `nem Schirmchen drauf.« Der Barkeeper sie forschend an. »Probleme?« »Nee, nur Durst.« Er verstand und fragte nicht weiter nach. Statt dessen mixte ihr einen Rum Renner. Mit dem Drink in der Hand zog Valerie sich an einen ruhigen Platz in der Nähe des Eingangs zurück. Von dort beobachtete sie distanziert das Treiben und nippte an dem Cocktail. Vielleicht ein Schuß zuviel Angostura, ansonsten aber ganz gut gelungen. Sie merkte, wie sie aus der aus der Tiefe des Saales ein Blick Daniels traf. Einen Moment später entdeckte sie ihn. Er stand fast auf der anderen Seite des Raumes, inmitten einiger Geschäftsleute. Er schien beruhigt zu sein, sie so friedlich dastehen zu sehen. Einen Moment später war er wieder ganz in seine Gespräche vertieft. Valerie wünschte ihm im stillen viel Erfolg. Das letzte, was sie beabsichtigt hatte, war, ihm Schwierigkeiten zu bereiten. Nun gut, ein wenig hatte sie es ihm schon heimzahlen wollen, daß er sie so ausstaffiert hatte. Nur war sie dabei wohl etwas übers Ziel hinausgeschossen. Sie stutzte, als sie einen Kellner sah, der sein Tablett mehr angeschickt als recht balancierte. Gerade noch konnte er verhindern, daß es samt den Gläsern darauf zu Boden stürzte. Professionell war das nicht gerade zu nennen. Und dann diese klobigen Schuhe! Moment! Waren das nicht die gleichen Arbeitsschuhe wie bei den Männern im Foyer? Ehe ihr Blick sein Gesicht erfassen konnte, war er hinter der nächsten Gästegruppe und dann hinter einer Ecke verschwunden. Valerie verspürte den instinktiven Drang, ihm zu folgen, um sich zu vergewissern. Fast hätte sie es getan, doch dann hielt sie sich zurück. Stop! War das nicht genau das, was Daniel als allerletztes gewollt hätte? Was er ihr sogar ausdrücklich untersagt hatte? Sie riß sich zusammen und blieb stehen, so schwer es ihr auch fiel. Unbewußt tastete sie nach einer Zigarette. Sie rauchte nicht oft, doch ab und zu war ihr danach. Zum Beispiel jetzt. Doch wo in ihrem knappen Kleid hätte sie eine Packung unterbringen sollen? »Zigarette gefällig?«fragte da eine Stimme neben ihr. Valerie nickte. Dankbar sah sie zu dem, der ihre Gedanken lesen zu können schien. Zuerst sah sie nur eine wohltrainierte männliche Brust in einem schwarzen Anzug. Erst als sie den Kopf in den Nacken legte, erkannte sie über sich das Milchgesicht eines der beiden Türsteher. In ihrem Innern fiel eine Klappe. Nicht das noch! Doch die Versuchung, die von der Zigarettenpackung ausging, war zu groß. Sie nahm sich eines der schlanken Stäbchen und ließ zu, daß er ihr-ganz Gentleman-Feuer gab. Dankbar nickte sie ihm kurz zu und inhalierte ein paar Züge. Damit hätte die Sache eigentlich
erledigt sein können, wenn... ja, wenn er nicht darauf bestanden hätte, sie anzumachen. »He, junge Lady«, stieß er gepreßt hervor, vielleicht in der Hoffnung, damit so zu klingen wie Humphrey Bogart. Vielleicht auch weil er irgendwann seine Stimmbänder übertrainiert hatte. »Eine Schönheit wie Sie - so ganz alleine hier?« Um Valeries Wangenmuskeln zuckte es. Sein Blick wanderte lüstern zu ihrem Ausschnitt und - soweit es möglich war- auch hinein. »Sie sind mir schon aufgefallen, als Sie hereingekommen sind. Und zwar äußerst angenehm.« O ja, erinnerte Valerie sich. Dessen war sie sich sicher. Genauso hatte er sie vorhin schon angeglotzt. »Nun sagen Sie schon!« drängte er. »Was tun Sie hier?« Versuchung, weiche von mir! dachte sie. »Ich?« hörte sie sich traurig sagen. »Ich suche nur etwas Zerstreuung. Mein Freund hat mich verlassen, und ich hatte auf et was Ablenkung gehofft. Aber leider kenne ich hier niemanden. « Sie biß sich auf die Lippen. Verflucht! Warum konnte sie ihr Mundwerk nicht im Zaum halten? Natürlich sprang er darauf an und rückte aufdringlich nahe an sie heran. »Aber das läßt sich doch ändern! Wir können uns kennenlernen! « Valerie blickte unschlüssig drein, wenngleich aus vollkommen anderen Gründen, als er wohl annahm. Nein! rief es in ihrem Innern. Tu das nicht! Andererseits - legte es dieser Möchtegernprofi nicht geradewegs darauf an? Er war schließlich engagiert worden, um die Sicherheit der Gäste zu gewährleisten. Und was tat er? Er machte Jagd auf Besucherinnen. Und dann noch ausgerechnet auf sie! Sie beschloß, ihm eine letzte Chance zu geben. »Aber... Sie sind doch für die Sicherheit zuständig. Und im Dienst. Haben Sie für so etwas überhaupt Zeit?« Sie sah ihn scheinbar naiv an. »Ich meine, das ist doch bestimmt eine wahnsinnig verantwortungsvolle Aufgabe...« Er winkte ab. »Sicherheit, pah! Das mache ich mit links. Bis hier oben kommt sowieso keiner durch. Dafür sind die unten da. « »Und wenn doch?« Er grinste selbstgefällig,hob den rechten Arm und spannte den Bizeps an. Der Stoff der Jacke schien aus allen Nähten platzen zu wollen. »Dann bekommt er das hier zu spüren. Dann wird sich jeder zweimal überlegen, ob er Arger macht.« Sicher, dachte Valerie. Außer er hat `ne Knarre dabei und drückt ab. Was für Vorstellungen hatte dieser Bubi eigentlich von dein Geschäft, in dem er arbeitete? Sie hatte ihn schon ganz richtig eingeschätzt. Dorfdisco-Türsteher - das war der Gipfel seiner persönlichen Karriereleiter. Welcher Idiot war nur auf die Idee gekommen, ihn hier einzustellen? »Wollen Sie mal fühlen?« meinte er im Hinblick auf seinen noch immer angespannten Bizeps. »Mit jemandem wie mir könnte Ihnen nichts passieren.« Die Anmache paßte zu ihm. Primitiver ging es nicht! Valerie fragte sich, ob er das wirklich selbst glaubte. Und ob es ihm vielleicht guttun würde, wenn sie ihn darin etwas erschütterte! Hör auf, Valerie., drängte eine Stimme in ihr. Sie war nicht einmal verwundert, daß sie wie Daniels Stimme klang. Du weißt, was du mir versprochen hast! Ach ja, Daniel! Valerie seufzte innerlich. Sie hätte schon genau gewußt, wie sie mit diesem Möchtegerngorilla umzugeben gehabt hätte, wenn sie ihrem Bruder nicht versprochen hätte... Moment! erinnerte sie sich da. Sie hatte ihm zugesagt, keine Gäste mehr zu belästigen. Aber der Muskelsack war kein Gast. Mehr noch, er arbeitete weitläufig in derselben Branche wie sie. Warum sollte sie sich nicht ein wenig mit ihm unterhalten? Von Fachmann zu Fachmann sozusagen. Dagegen konnte Daniel doch nichts haben. Sie sah sich verstohlen nach ihm um, ohne ihn entdecken zu können. Vor allem dann nicht, fügte sie für sich hinzu, wenn er von allem nichts mitbekam. »Nun trauen Sie sich schon! « Der Gorilla griff nach ihrer Hand und führte sie zu seinem Bizeps. »Na, wie fühlt sich das an?« Er wollte es wirklich nicht anders! »Toll! « meinte Valerie scheinbar beeindruckt. »Nicht wahr?« Er funkelte sie stolz an. Sie funkelte nicht minder zurück. »Willst du auch mal was Tolles anfassen?« Ehe er etwas sagen konnte, ergriff sie seine Prankenhand und schob sie unter ihren Ausschnitt auf ihre linke Brust. »Na, wie fühlt sich das an?« Er lief vor Aufregung rot an und in seiner Hose zeigte sich eine wachsende Ausdehnung. Valerie rümpfte die Nase. Gute Güte, er hatte es scheinbar wirklich nötig. Als er beginnen wollte, an ihrer Brustwarze herumzuspielen, schob sie seine Hand zurück. »He!« Er keuchte. »Ich wußte ja gar nicht, daß du...« »Dann weißt du es jetzt«, hauchte Valerie verführerisch. »Sag mal, gibt es hier keinen Ort, an den wir uns mal kurz zurückziehen können? Du müßtest dich doch auskennen.« »Was?« Seine Augen weiteten sich. »Jetzt gleich?« »Warum nicht? Du willst es doch auch, oder?« Sie maß ihn mit einem langen Blick. »Oder bist du etwa schüchtern?« »Nein, nein«, stotterte er. »Nur...« »Nur?« wiederholte sie gedehnt. Erinnerte er sich etwa doch noch an seine Pflichten? Er hatte sich etwas gefangen. »Ich muß wenigstens meinem Kollegen Bescheid sagen.«
»Ach ja, dein Kollege! « »Was ist mit ihm?«
»Nichts. Laß uns einfach zu ihm gehen! «
Sie taten es. Sein Zwillingsbruder stand nach wie vor am Eingang. Sonderlich aufmerksam wirkte auch er nicht - zumindest soweit
es seine Aufgabe anging. Dafür wirkte er um so interessierter, wen sein Kollege anschleppte. Ebenso anerkennend wie neidisch hob er die Augenbrauen. Auch er schien Valeries Ausschnitt noch gut im Gedächtnis zu haben. »He, Marko!« rief er. »Guten Fang gemacht!« »Nicht wahr?« stimmte Valerie zu, ehe der Angesprochene an ihrer Seite antworten konnte. Sie lächelte seinen Kollegen an. »Wir haben gerade verabredet, `ne geile Nummer zu schieben. Wie steht's mit dir? Bock auf'n Dreier?« Beide zuckten zusammen wie vom Blitz getroffen. Verunsichert sahen sie sich an. Sie hatten im Rahmen solcher Veranstaltungen sicherlich schon viele Mädels mit ihren Muskeln beeindruckt und abgeschleppt. Aber jemandem, der so direkt war, waren sie wohl noch nicht begegnet. »Was ist?« meinte Valerie herausfordernd. »Was guckt ihr so unsicher? Ihr seid doch harte Jungs, oder? Und ich mag's nun mal am liebsten hart. Oder wollt ihr etwa kneifen?« Der Blick der beiden wurde grimmiger. Nein, das wollten sie bestimmt nicht. Schon gar nicht, wenn eine Schicki-Micki-Braut sie derart herausforderte. Wer dachte sie eigentlich,daß sie war? »Wenn du's hart willst, Baby«, meinte Marko verheißungsvoll, »dann kannst du es bekommen! Wie steht's mit dir, Ben?« »Ich bin dabei.« »Schön«, meinte Valerie. »Wohin wollen wir?« »Die Personaltoilette da hinten«, fiel Ben ein. »Die läßt sich von innen abschließen.« »Worauf warten wir noch?« Sie gingen dorthin, und Ben schloß hinter ihnen ab. Danach standen die beiden Valerie gegenüber und konnten kaum noch an sich halten. »Los!« forderte Marko lüstern. »Runter mit dem Fummel!« Valerie hob die Arme. »Nicht so schnell.« »Was soll das?« protestierte Ben. »Erst konnte es dir gar nicht schnell genug gehen, und jetzt...« »Nur eine Kleinigkeit.«Valerie sah sie bittend an. »Da gibt es etwas, das ich gerne ausprobieren würde.« Die beiden hielten inne. Das hörte sich gut an. »Ihr werdet's vielleicht nicht glauben«, fuhr Valerie fort, »aber ich verstehe auch was von Selbstverteidigung. Natürlich nicht soviel wir ihr Profis, aber... Ich meine, ich muß mich ja schließlich wehren können, falls irgend jemand über mich herfällt, der mir was Übles will. Zum Beispiel zwei Burschen wie ihr.« Marko und Ben wechselten einen Blick voller Vorfreude. So lief das Spiel also. Ihnen sollte es recht sein. Hauptsache, sie kamen auf ihre Kosten. »Und?« rief Marko höhnisch - in dem Bemühen, darauf einzugehen. »Was würdest du tun, wenn wir über dich herfallen?« »Ja, genau. Zeig es uns« Valerie lächelte. So nachdrücklich hätte sie gar nicht dazu auf gefordert zu werden brauchen. »Da gäbe es mehrere Möglichkeiten. Ich würde mich für die mit dem geringsten Aufwand entscheiden. « Marko grinste breit. Eines mußte man der Kleinen lassen. Sie verstand es wirklich, es spannend zu machen. Er trat auf sie zu und baute sich drohend auf. »Nehmen wir an, ich wollte dir was Übles Was würdest du tun?« »Wenn du so still vor mir stehen würdest wie jetzt - einfach zwei wichtige Nerven lahmlegen. Den ersten, damit du dich nicht mehr bewegen kannst, und den zweiten, um zu verhindern, daß du schreist.« »Hört, hört! Und womit willst du das tun?« Valerie hob die rechte Hand mit ausgestrecktem Zeige- und Mittelfinger. »Hiermit.« Er schüttelte den Kopf. Verrückt. Wer hatte davon schon mal etwas gehört? »Wie wär's, wenn wir aufhören zu reden und du's mir endlich zeigst?« »Was meinst du, worauf ich warte?« Sie winkte ihn lockend heran. »Komm schon, stürz dich auf mich! « Er grinste breit. Diese Einladung ließ er sich ganz bestimmt nicht entgehen. Er holte tief Luft und hob die Arme, um nach ihr zu greifen. Doch das war auch schon alles. Valeries Hand schoß vor und traf ihm zweimal. Einmal unter dem Brustbein, einmal am Hals. Abrupt hielt er in der Bewegung inne. Zwei, drei Sekunden passierte gar nichts. Ben blickte verunsichert zwischen Marko und Valerie hin und her. »Ah, was soll das? Was ist das für ein Spiel?« Marko sagte gar nichts, sondern stand einfach mit erhobenen Armen da und grinste breit. »Hört auf!« verlangte Ben. »Ihr könnt mich nicht reinlegen. Das habt ihr doch abgesprochen. He, hörst du!« Er stieß Marko an den Schulter an. »Laß den Un...« Er verstummte, als Marko zur Seite kippte und stocksteif wie eine Schaufensterpuppe zu Boden stürzte. Dort blieb er reglos
liegen. Noch immer grinste er und hielt die Hände ausgestreckt, als wolle er nach jemandem greifen. Ben starrte fassungslos auf seinen Kollegen herab. Valerie wartete exakt so lange, bis sich in seiner Miene die Erkenntnis spiegelte, daß dies ein ganz anderes Spiel war, als er gedacht hatte. Zu mehr kam er nicht. Abermals schoß ihre Hand zweimal blitzschnell vor. Ben wollte ausweichen. Zu spät. Beide Treffer hatten genau gesessen. Valerie fing ihn auf, ehe er vornüber stürzte, und ließ ihn dann sanft zu Boden gleiten. An seinem Gürtel klimperte es metallisch. Sie entdeckte ein paar Handschellen. Auch Marko hatte welche am Gürtel. Valerie schüttelte spöttisch den Kopf. Noch nicht trocken hinter den Ohren, aber schon Handschellen dabei! Sie zerrte die beiden in eine der Toilettenkabinen und fesselte sie mit den Schellen Rücken an Rücken ans Klo. Langsam begannen sie sich wieder zu regen. Länger als eine Minute hielt die Lähmung nicht an. Aber für Valerie war es mehr als genug Zeit gewesen. In einem Erste-Hilfe-Schränkchen an der Wand fand sie Pflaster, und mit einem dicken Streifen davon verschloß sie ihnen die Münder. Marko starrte sie an und rollte mit den Augen. Sie tätschelte ihn an der Wange. »Keine Bange. Man wird euch schon finden.tzlich
unter einem feinen Schleier zu verbergen.
Das dumpfe Rumoren und Rumpeln schien ein nahendes Unwetter anzukündigen. Doch dieses Geräusch kam nicht aus dem strahlenden
Blau des Himmels, es wurde im Untergrund geboren, stieg aus der Tiefe der Stadt empor und ging einher mit dem Knirschen
übereinander reibender Steinblöcke.
'r=' Tolos erstarrte in der Höhe. Braam konnte sehen, daß der Freund geschickt nach einem Halt suchte und sich festklammerte. Staub
rieselte an den Mauern herab.
Die Spitze der Stadt-eine nicht schätzbare Anzahl beeindruckend großer Steinblöcke, die auf und ineinander geschichtet waren und eine
sinnverwirrende Formation bildeten - begann zu zittern. Ganz sacht erst nur, dann heftiger und schließlich so stark, daß Tolos Mühe
hatte, nicht abzurutschen. Wie im Geäst eines sturmgepeitschten Baumes hing er dort oben.
Nur der goldene Vogel saß wie erstarrt.
All dies mochte drei oder vier, allenfalls fünf Herzschläge ge
dauert haben.
Kmirschend brach der Gipfel der Totenstadt ein. nie Mauersteine sackten nach unten weg, als hätte sich jeder
Flalt unter ihnen aufgelöst. Es war ein dumpfes Donnern und Krachen, mit dem die Blöcke in unergründliche Tiefe stürzten,
ein unglaublicher Frevel an der Totenruhe.
Und mit den Steinen verschwanden Tolos und der erschreckt aufflatternde goldene Vogel.
Tolos' gellender Schrei hielt lange an, bevor er leiser wurde und verstummte. Er schrie sich die Seele aus dem Leib.
Braam zögerte einen Augenblick zu lange. Hin und her gerissen zwischen dem Pflichtgefühl, dem Freund helfen zu müssen und der
aufwallenden Panik, die ihn ebenfalls daran hinderte, an die eigene Sicherheit zu denken, vergeudete er seine Kraft. Das Donnern und
Rumoren fand kein Ende. Ein kraterartiges Loch war an der Spitze der Totenstadt entstanden und weitete sich aus. Staub quoll aus der
Höhe herab wie Lava an den Flanken eines feuerspeienden Berges und hüllte Braam ein.
Unter seinen Füßen zitterte der Boden nicht mehr nur, er bebte und wankte. Unaufhaltsam fraß sich der Rand des schwarzen Kraters auf
ihn zu. Braam ahnte es mehr, als er es überhaupt noch erkennen konnte.
Endlich schaffte er es, sich herumzuwerfen. Einem ersten zögernden Schritt folgte ein zweiter. Danach trat er ins Leere, weil der Boden
unter ihm wegsackte.
Mit ausgestreckten Armen fand Braam irgendwo Halt. Mit aller Anstrengung gelang es ihm, sich hochzuziehen und wieder auf die Füße
zu kommen.
Erneut lief er wenige Schritte, aber die Macht, die hier am Wirken war, kannte keine Gnade.
Und kein Ende.
Später »Ist er nicht wunderschön?« fragte Meron, die zu einem Spalt zusammengekniffenen Augen himmelwärts gerichtet.
Nur eine Silhouette im Ozean gleißenden Sonnenlichts, zog der goldene Vogel seine Kreise über Meron und Adim.
Sie hatten sich auf die versteckte Lichtung ein gutes Stück abseits der Siedlung zurückgezogen. Hierher kamen sie immer, wenn sie den
Drang verspürten, allein zu sein. Und das war oft der Fall, fast täglich.
Hin und wieder sahen sie von ihrem Versteck aus den goldenen Vogel. Eine Nacht allein hätte nicht genügt, alle Geschichten zu
erzählen, die sich um den Glücksbringer der Azachen rankten.
Adim hatte ihren Kopf in Merons Schoß gebettet und den Blick wie er nach oben gerichtet.
»Sieht er heute nicht irgendwie anders aus?« fragte sie leise. Irgend etwas am Anblick des goldenen Vogels irritierte sie. Sein
Flügelschlag erschien ihr schwerfälliger, die Kreise; die er hoch in der Luft zog, unruhiger als sonst.
Meron zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, was du meinst.«
„Etwas ist... anders.« Adim zögerte, dann: »Hast du je darüber nachgedacht, was geschehen würde, wenn der goldene Vogel einanal
nicht mehr ist?«
Wieder hob Meron die Schultern. »Unglück käme über die Azachen, das sagt die Legende, und...«
»Ich meine, was würde wirklich passieren?« unterbrach Adim ungeduldig. »Losgelöst von dem vieldeutigen Wort Unglück, verstehst
du? Wie würde sich dieses Unglück bemerkbar machen?«
Meron dachte einen Augenblick lang nach. »Warum soll ich mir den Kopf zerbrechen über Dinge, die nie geschehen werden? Der
goldene Vogel ist so alt wie unser Volk, er fliegt seit ewiger Zeit und...«
Meron verstummte mitten im Satz.
Adim neben ihm, die ihre Finger auf Wanderschaft auf seinem Körper geschickt hatte, fuhr mit einem leisen Schrei auf den Lippen
hoch.
Der goldene Vogel fiel herab.
Binnen eines Lidschlags stockten seine Bewegungen, dann verebbten sie vollends.
Das Tier fiel wie ein Stein vom Himmel und würde schon im
nächsten Moment in ihrer Nähe aufschlagen.
Meron und Adim hörten den dumpfen Laut, mit dem der Körper auf den weichen Boden prallte.
Dann kehrte Stille ein. Tödliche, unheimliche Stille. Jäh waren alle Laute des Dschungels verstummt. Dem jungen Paar stockte schier
der Atem, der Herzschlag der beiden jedoch raste.
Meron war es, der als erster seine Stimme wiederfand und sich auch bewegte. Vorsichtig huschte er zu jener Stelle, wo der Vogel lag.
Das Tier regte sich nicht.
»Das kann nicht...«, setzte Meron mühsam und mit rauher Kehle an, »...das kann nicht der goldene Vogel gewesen sein. Wir haben uns
getäuscht.« Adim trat neben ihn.
»Nein, das haben wir nicht«, sagte sie. Ihre Stimme klang fremd und bitter.
Meron wußte, daß sie recht hatte. Beide hatten sie den goldenen Vogel so oft gesehen. daß sie wußten, es gab keine Verwechslung.
»Was sollen wir tun?« fragte Adim atemlos.
»Laß uns nachsehen, was mit ihm ist«, meinte Meron. »Vielleicht...«, er zuckte hilflos mit den Schultern, »...vielleicht können wir ihm
irgendwie helfen.«
»Dann mußt du ihn auch berühren.« »Hast du einen anderen Vorschlag?«
Statt dem Geliebten zu antworten, ging Adim vorsichtig weiter. Zaghaft, weil sie ihre eigene Furcht vor dem Unbekannten überwinden
mußte. Meron beeilte sich, ihr zu folgen,
Einen letzten Schritt vor dem reglosen Vogel blieben beide gleichzeitig stehen. Und ebenso gleichzeitig kam ihnen ein Schreckenslaut
über die Lippen,
Der Vogel - war das überhaupt noch ein Vogel?
»Bei den Göttern, was ist das?« stieß Adim keuchend hervor. Meron ließ sich auf die Knie nieder und streckte bebend die Hand nach
dem Tier aus. Trotzdem wagte er noch nicht, den reglosen Körper zu berühren.
Er hatte den Vogel nie aus solcher Nähe gesehen, niemand hatte das, aber selbst aus großer Distanz hatte es keinen Zweifel daran
gegeben, daß das Tier aussah wie ein gewöhnlicher Vogel, von der Farbe seines Gefieders abgesehen. Sein Körper hatte etwa die Länge
eines Männerarmes, die Spannweite seiner Flügel maß gut das Doppelte, der Schnabel war lang und schmal nach unten gebogen.
Daran hatte sich wenig geändert.
Aber das Gefieder war nicht mehr golden, das Tier besaß kaum noch Federn.
»Schuppen«, flüsterte Adim. Sie hatte sich neben Meron hingekauert, und im Gegensatz zu ihm faßte sie das Tier an.
War es - tot?
Tief atmete Meron durch und schloß für einen Moment die Augen. »Ja, das sind Schuppen. Aber wieso?« Er stockte. Fassungslosigkeit
ließ ihn nach Worten ringen, und diesem Nichtbegreifen folgte kaltes Entsetzen, das in ihm aufstieg und ihn frieren ließ.
Unverwandt starrten beide den Kadaver an.
Die Federn waren fast zur Gänze verschwunden. Der Leib darunter wirkte wie mit winzigen Plättchen überzogen, die in Bronze- und
Grüntönen schimmerten. Aber auch das Knochengerüst des Vogels hatte sich unübersehbar verändert. Was da unter der Schuppenhaut
lag, wirkte ungestalt, deformiert und grotesk.
»Als hätte sich der Vogel verwandeln wollen«, sagte Adim nach
einer Weile.
»Aber - in was?« »In eine Echse.«
»Das ist unmöglich!« behauptete Meron.
Adim bebte schier. »Hielten wir es nicht auch für unmöglich, daß der goldene Vogel uns je verlassen könnte?«
Meron wich ihrem Blick aus und sah wieder den mißgestalteten Kadaver an.
»Kennst du alle Geschichten, die man sich über das Geschenk der Götter erzählt?« fragte er scheinbar unvermittelt.
»Ich glaube...«
»Hast du davon gehört, was mit denen geschieht, die den Vogel finden, sollte er je vom Himmel fallen?«
Adim nickte unendlich langsam, wie gegen ihren Willen. Eine unsichtbare Hand schien ihr die Kehle zuzudrücken. Ihre Stimme war die
einer alten Frau, als sie antwortete: »Ja, das habe ich.« Sie räusperte sich, doch ihre weiteren Worte wurden deswegen kaum
verständlicher: »Wer immer den Vogel tot findet, den ereilt das Unglück zuerst.«
»So ist es überliefert«, murmelte Meron.
Die Legende bewahrheitete sich. Die Prophezeiung, so alt wie das Volk der Azachen selbst, ging in Erfüllung.
Ein Schatten fiel aus der Höhe herab.
Noch ehe Meron und Adim den Blick heben konnten, wurden sie selbst von etwas mit brachialer Gewalt getroffen. Schmerz explodierte
in ihren Köpfen, machte sie blind und taub.
Gemeinsam stürzten sie in finsterste Nacht.
Der zermahlene Kadaver des monströs entstellten Vogels verbrannte in grellweißem, rauchlosen Feuer. Weder Asche noch andere Reste
blieben zurück. Einzig die Kontur des Vogels hatte sich tiefschwarz in den Stein des Urteils gebrannt, fiel jedoch in demGewirr dunkler
Linien, das den Fels wie ein enges Netz überzog kaum auf.
Das Aderwerk war Blut, getrocknet und teils uralt. Denn mochte der goldene Vogel dem Volk auch Freude gebracht haben, waren die
Azachen doch nicht frei von Fehl.
Ihre Gesetze waren ebenso schlicht wie unbarmherzig hart. Sie kannten nur eine Strafe - wer gegen die Regeln des Volkes verstieß,
bezahlte dafür mit seinem Blut. Manchmal sogar mit dem Leben.
Eines Vergehens wie Meron und Adim hatte sich nie ein Azache schuldig gemacht. Daran, daß beide das Geschenk der Götter, den
goldenen Vogel getötet hatten, bestand im Volke kein Zweifel. Auch der Hohe Rat war überzeugt davon, ebenso wie der Volkvater
selbst - obwohl es sich um sein eigen Fleisch und Blut handelte, das der schändlichen Tat angeklagt worden war.
Eine gespenstische Stille herrschte. Der ganze Stamm hatte sich um den Richtplatz eingefunden. Trotzdem gab es kein unruhiges
Scharren von Füßen, kein Getuschel, kein Räuspern. Absolut nichts.
Die Azachen warteten.
Bis der hohe Volkvater sich von seinem Podest erhob und das Wort ergriff.
Zum wiederholten Mal verlieh er der Hoffnung Ausdruck, daß das Brandopfer des toten Vogels das ärgste Unglück abwenden und
zudem der Tod der beiden Verräter die Götter weiter gnädig stimmen möge.
An zwei entgegengesetzten Seiten saßen die Hohen Räte auf steinernen Bänken, wie der Volkvater in ihre aufwendig gearbeiteten
Zeremoniengewänder gekleidet. Wie auf ein geheimes Zeichen hin verfielen sie erneut in eine halblaute Litanei und rezitierten die
Legende des goldenen Vogels.
Volkvater und Hoher Rat befanden sich auf einer steinernen Bühne, die dem Hohen Haus des Azachenherrschers vorgelagert war. Davor
wiederum erstreckte sich der Richtplatz, Teil des weiten Rundes, auf dem jedwede Feierlichkeiten der Azachen vonstatten gingen. Die
Halbkreislinie davor säumte das Volk selbst.
Meron und Adim knieten vor dem Stein des Urteils, an Händen und Füßen gebunden, die Köpfe gesenkt.
Sie hatten es längst aufgegeben, W orte zu ihrer Verteidigung vorzubringen. Vielleicht war es ihnen sogar gelungen, Zweifel an
ihrer Schuld in dem einen oder anderen unter ihren Richtern zu säen. Aber es war eine Saat, die nicht aufging. Allein schon um das
Volk ein wenig zu beruhigen, mußten Schuldige gefunden wrer den. Ihr Blut hatte zu fließen, um den Frevel fortzuwaschen.
Als der Volkvater verstummte, hob Adim doch den Kopf und sah über den Stein hinweg und hinauf zu ihrem Vater. Was hätte sie
darum gegeben, eine Regung auf seinem Gesicht zu sehen! Zu evissen, daß ihr naher Tod ihn schmerzte, hätte ihr geholfen. Aber das
Antlitz des Volkvaters lag verborgen hinter seiner Zeremonienmaske, die, wie es hieß, dem Vater der Götter selbst nachgebildet war.
Immerhin sah er seine Tochter an. Das spürte Adim. Die dunklen Höhlen der Maske waren auf sie gerichtet. Ob in den Augen,
unsichtbar dahinter, Tränen standen?
Die Stimme des Volkvaters ließ keine Trauer erkennen; sie klang fest und leidenschaftslos wie eh und je. Daß er auch anders sein
konnte, wußte Adim nur zu gut; für sie war und blieb dieser Mann erst in zweiter Linie Vater des Volkes, in erster jedoch ihr eigener,
leiblicher Vater.
»So sei es also!« rief er mit weithin hallender Stimme. »Henker, waltet eures Amtes! «
Das Gesetz der Azachen bestimmte für dieses Amt denjenigen, der Anklage gegen einen anderen erhob. Befanden Hoher Rat und
Volkvater den Angeklagten für schuldig, hatte der Ankläger selbst die Bestrafung vorzunehmen.
Die Identität auch dieser beiden Henker kannten nur Volkvater und Räte. Anklagen wurden niemals öffentlich vorgebracht, also blieben
die Kläger im Verborgenen.
Zur Urteilsvollstreckung trugen die zu Henkern berufenen Ankläger Masken; weit weniger prachtvoll jedoch als die des Volkvaters. Aus
feuergeschwärztem Holz geschnitzt, mit grob gezeichneten, ausdruckslosen Gesichtszügen. Die Körper der Henker wurden von
schwarzen Roben verhüllt, so weit geschnitten, daß niemand erkennen konnte, ob sie füllige oder schlanke Gestalten verbargen.
Reglos hatten beide Vollstrecker neben den Delinquenten gestanden. Auf ein Zeichen des Volkvaters hin traten sie vor. Meron spürte,
wie er gepackt wurde. Grob umfaßten die Henker seine Oberarme und zerrten ihn hoch. Dann stießen sie ihn vor und legten ihn der
Länge nach auf den Stein des Urteils. Wenig später lag Adim neben ihm. Sie sahen einander in die Augen.
»Wir wissen, daß wir unschuldig sind«, sagte Meron, so ruhig ' und fest, daß es ihn selbst erstaunte, woher er im Angesicht des Todes
diese Kraft nahm. »Die Götter werden uns gnädig sein.« '
Adim konnte nicht antworten. Ihre Lippen bebten, Tränen : rannen ihr übers Gesicht. Sie nickte nur.
Meron wandte seinen Blick einem der Henker zu. Wie gebannt.,` starrte er die unbewegliche Holzfratze an.
»Wer ihr auch seid«, sagte er, leise genug, daß niemand sonst ihn hörte, aber laut genug, daß die Henker ihn verstanden, »ihr wißt, daß
dieses Urteil gegen den Willen der Götter verstößt. Und y seid euch dessen gewiß - ihr werdet einer Strafe nicht entgehen! ' Denn über
euch fällen die Götter selbst das Urteil! «
Es war unmöglich festzustellen, welche Reaktion Merons Worte hervorriefen. Hinter den Schlitzen in den Masken waren die Augen der
Henker nicht einmal zu erahnen.
»Den Dolch der Götter!« schallte die Stimme des Volkvaters über den Richtplatz.
Aus den Reihen der Räte löste sich eine Gestalt. Auf vorgestreckten Armen trug der Waffenmeister einen reich verzierten Kasten,
dessen Deckel aufstand.
Er trat vor die Henker hin. Einer der beiden griff in den Behälter und nahm den Dolch heraus. Es gab keine zweite Waffe wie diese -
mit einer Klinge aus purem Licht und dem Griff aus einem Metall, wie es nirgends auf der Welt zu finden war. Die '; C=ötter hatten
diesen Dolch - neben anderen Dingen - dereinst zurückgelassen, nachdem sie die Welt urbar gemacht und schließlich wieder verlassen
hatten.
Meron hatte schon einige Verurteilte durch diese Waffe sterben sehen. Insgeheim hatte er sich stets gefragt, wie sie wohl wirken und
wie es sein mochte, auf diese Weise zu sterben. Vielleicht hätte er das besser nicht getan, nicht einmal im stillen...
Die Henker schienen unschlüssig, an wem sie das Urteil zuerst vollstrecken sollten. Meron wußte nicht, ob er darum bitten sollte, daß
die Wahl auf ihn fiel. Adim würde dann zusehen müssen,'':
wvie er starb. Andererseits wollte er nicht sehen, wie seine Liebste hingerichtet wurde.
Ein Aufschrei blieb ihm in der Kehle stecken.
Die Klinge aus Licht flirrte einem Blitz gleich durch die Luft und senkte sich in Merons Brust.
Seltsam, dachte er und brachte sogar ein Lächeln zustande, es to.t fast nicht weh...
Es war nur - heiß.
Unvorstellbar heiß.
Mochten sie ihn auch Volkvater nennen und glauben, daß seine Ahnenreihe zurückging bis in jene Zeit, als die Götter das Volk der
Azachen begründet hatten - in seinem Herzen war Valeen doch nur ein Mensch wie jeder andere.
Ein Mann, dessen Herz brach, als er den Tod seiner eigenen Tochter befehlen mußte.
Und am schlimmsten von allem mochte sein, daß er seine Trauer nie mit jemandem würde teilen können. Denn ein Volkvater durfte
keine Gefühle kennen und sich schon gar nicht einem anderen anvertrauen.
Genaugenommen, dachte Valeen, bin ich der einsamste Mensch dieser Welt, deren ganze Last auf meinen Schultern ruht...
Hinter der Maske schloß er die Augen, als die Lichtklinge des Götterdolches auf Adim niederfuhr.
Seine Tochter starb ehrenhaft. Ohne jeden Laut. Wie vor ihr auch Meron.
Ein schönes Paar waren sie gewesen, und obwohl es der Tradition widersprochen hätte, hätte Valeen nicht gezögert, beiden dereinst
seinen Segen zu geben. Gewiß, das hätte für Unruhe gesorgt, unter dem Volk ebenso wie in den Reihen des Hohen Rates; es war noch
nie geschehen, daß ein Volkvater seine Tochter an den Sohn eines gewöhnlichen Schmiedes gegeben hatte. 'dicht offiziell zumindest...
Valeen jedoch war mit der geheimen Historie des Volkes vertraut und wußte um manche Begebenheit, die nicht einmal die Räte
kannten.
Er hätte kein Geheimnis daraus gemacht, die aufrichtige Liebe seiner Tochter zu einem Mann aus dem Volk gutzuheißen. Ehrlichkeit
und Offenheit waren Valeens oberste Gebote. Und i womöglich bestand darin seine größte Last. Denn beides vertrug sich schlecht mit
den Traditionen und Pflichten eines Volkvaters.
Mit aller Härte hatte ihn dieser Widerstreit der Werte nun ereilt. Er würde sich von seinen Selbstzweifeln und vergeblichen Versuchen
einer Rechtfertigung nicht erholen.
Valeen, Volkvater der Azachen, war ein gebrochener Mann. Wäre er wahrhaftig ein Abkömmling der Götter gewesen, und hätte er mir
ein Quentchen ihrer Macht in sich getragen - er hätte den Tod seiner Tochter niemals zugelassen. Oder er hätte ihn jetzt, da er - auf sein
Geheiß hin! - geschehen war, rückgängig gemacht. Allen Gesetzen zum Trotz.
Ein Raunen riß Valeen aus seinen von Vorwürfen und Zweifein geplagten Gedanken. lNach wie vor hatte er die Augen krampfhaft
geschlossen gehalten, aber nun öffnete er zögernd und neugierig zugleich die Lider.
Erst fiel sein Blick auf das versammelte Volk am jenseitigen Rand des Richtplatzes. Unruhe hatte nicht nur die einfachen Leute
ergriffen, sondern auch die Hohen Räte angesteckt. Ein Flüstern und Murmeln hatte angehoben, gewann an Lautstärke,; erste Rufe
mengten sich hinein. Dann erst sah Valeen hinab zum Stein des Urteils - und er` prallte zurück, als hätte ihm jemand einen Stoß gegen
die Brust versetzt.
Meron lag nicht mehr auf dem Richtblock. Er war auch nicht:' mehr tot!
Meron hatte den Oberkörper aufgerichtet, saß da und blickte sich mit weit aufgerissenen Augen um, als wüßte er weder, wo er war,
noch wie ihm geschah.
An seiner Seite erwachte genau in diesem Augenblick Adim, v die Tochter des Volkvaters, von den Toten...
Tumult brach aus in Azachuan. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht, daß die Götter höchstselbst das Todesurteil des
Volkvaters und Hohen Rates aufgehoben hatten. Jeder wollte die' Auferstandenen aus der Nähe sehen und berühren, auf daß der
göttliche Funke, der in die Verurteilten gefahren war und ihnen den Tod ausgetrieben hatte, womöglich auch auf sie übersprang.
In all dem Aufruhr gelang es Tolos und Braam, sich nahezu unbemerkt abzusetzen. In einer versteckten Ecke entledigten sie sich der
Henkersmasken und der weiten Gewänder und liefen weiter dem Stadtrand entgegen, durch Gassen und an Häusern vorüber, die wie
ausgestorben wirkten. Alles Volk war auf den Beinen gewesen, um der Urteilsvollstreckung beizuwohnen. Und nun, da Adim und
Meron sich vom Stein des Urteils erhoben hatten, verließ kaum jemand den Zeremonienplatz.
So wenig Tolos und Braam die wundersame Auferstehung auch verstanden, so gelegen kam ihnen das Ereignis. Niemand würde je
erfahren, daß sie das Paar angeklagt hatten, den goldenen Vogel getötet zu haben.
Dennoch war ihr Plan gescheitert.
Schon lange hatte Tolos die Tochter des Volkvaters Valeen für sich gewinnen wollen. Aber Adim und Meron waren ein Paar, und
deshalb hatte Meron sterben müssen.
Tolos dachte nur kurze Zeit zurück. Er verstand wenig von dem, was mit ihm in der Stadt der Toten geschehen war - als wäre er
zwischen den einstürzenden Mauern von unsichtbaren Händen sanft in die Tiefe getragen worden -, aber er spürte, daß er den Keim zu
etwas Neuem, Besserem in sich trug, der weiter wachsen und ihn verändern würde.
Die damit einhergehende Verwandlung des goldenen Vogels hatte ihn in die Lage versetzt, nach Recht und Gesetz der Azachen Anklage
zu erheben. Als einer von beiden Anklägern hatte Braam den Sohn des Schmieds töten sollen, während es seine eigene Absicht gewesen
war, Adim nur zu verletzen. Aber dann war es wie ein Rausch über ihn gekommen und er hatte das größte Opfer gebracht, das ihm für
die Verwandlung angemessen erschien: Er hatte auch Adim erdolcht.
Sie ließen die letzten Häuser hinter sich und liefen hinein in den Dschungel, der Azachuan umschloß wie ein endloser Wall. Tolos eilte
schnurstracks auf einen Baumriesen zu und erklomm
den Stamm, wie sie es als Kinder oft getan hatten und er es heute bisweilen noch während einer,Jagd tat. Nur legte Tolos jetzt eine
Geschicklichkeit an den Tag wie nie zuvor.
Seltsamerweise stand Braam ihm darin kaum nach.
Erst hoch im Geäst holten sie Atem. Von ihrer hohen Warte aus konnten sie die Stadt sehen. Wenn ihnen auch der direkte'' Blick auf den
Richtplatz verwehrt war, so hörten sie doch den Sturm von Stimmen, der nach wie vor tobte. Es würde lange dau-' ern, bis sich das Volk
einigermaßen beruhigt hatte.
Braam sprach als erster. »Was jetzt?«
Tolos antwortete nicht sofort. Aus verengten, brennenden; Augen starrte er hinüber zur Stadt, aber sein Blick schien nicht wirklich auf
Azachuan gerichtet zu sein. Was er statt dessen sah,;; darüber konnte Braam allenfalls mutmaßen. Und wenn er ehr-`
lich war, wollte er es gar nicht genau wissen... Tolos hatte sich verändert.
Das galt zwar auch für Braam, aber bei seinem Freund war der unheimliche Vorgang schon fortgeschritten. Das Wissen, daß ihm
dasselbe bevorstand, brannte schmerzhaft in Braams Gedanken und ließ ihn ohne Unterlaß frösteln.
»Ich weiß es nicht«, sagte Tolos nach einer Weile. »Wir müssen in Erfahrung bringen, was mit den beiden geschehen ist.« Braam
schluckte, doch der unangenehme Geschmack von.
Metall ließ sich nicht vertreiben. »Sie waren tot, oder? Ich meine - bist du sicher, daß wir sie wirklich getötet haben?«
Tolos nickte. »Ich konnte spüren, wie die Lichtklinge Adims' Herz durchstieß.« Er ballte die Faust und stieß sie in die Luft, als; hielte er
den Dolch der Götter noch immer umklammert. Doch; der Waffenmeister des Rates hatte ihn wieder an sich genommen, noch bevor die
Toten auferstanden waren.
»Ich habe Merons Herz ebensowenig verfehlt«, erklärte Braam. ~ Er schüttelte verständnislos den Kopf. »Aber was hat sie erweckt?' Sie
waren tot und öffneten einfach die Augen...«
»Die Wege der Götter sind unergründlich«, murmelte Tolos. Endlich wandte er den Blick und schaute Braam direkt an. »Noch sind sie
es«, setzte er hinzu. »Aber wir, du und ich, werden sie ergründen. Wir werden wie die Götter selbst auf ihnen wandeln, denn sie sind für
uns bestimmt.«
Tolos legte seine Hand auf Braams Schulter. Es war eine kalte.; Hand, rauh und nicht mehr wirklich menschlich.
Braam räusperte sich unbehaglich und rückte, wie unbeabsichtigt, ein Stück zur Seite, so daß er sich Tolos' Berührung entzog. Die Hand
des Freundes fiel schwer und reglos von ihm ab.
»Ich wünschte, ich wäre mir dessen so sicher wie du«, sagte Braam leise.
Tolos lächelte, auf eine Art, wie er früher nie zu lächeln imstande gewesen war. Und er kicherte heiser und unangenehm zischelnd.
»Das wirst du sein«, meinte er, »bald schon. Glaube mir -das alles ist nur eine Frage der Zeit.«
Braam schwieg. Nicht, weil es nichts zu sagen gegeben hätte, sondern weil ihm die Kehle eng geworden war.
»Bis dahin«, fuhr Tolos fort, »werden wir beobachten, was geschieht.« Wieder dieses häßliche Kichern, und ein verschwörerisches
Blinzeln.
Braam hätte geschworen, daß sich Tolos' Augen in genau diesem Moment veränderten, den menschlichen Ausdruck verloren und statt
dessen etwas gewannen, das auf sonderbare Weise zu jener Veränderung paßte, die Tolos' Hand schon durchgemacht hatte...
Einige Tage später Die Aufregung im Volk hatte sich längst noch nicht gelegt. Die Hohen Räte waren seit dem Ereignis unterwegs, sprachen in Kundgebungen, in kleinen und in großen Runden und trachteten danach, die Gemüter zu beruhigen. Leider mit nur leidlichem Erfolg. Jeder wartete auf eine Stellungnahme des Volkvaters. Er, selbst ein Abkömmling der Götter, mußte wissen, was geschehen war, weshalb seine Tochter Adim und ihr Geliebter Meron mit neuem Leben beschenkt worden waren. Doch Valeen hatte sich seit der Stunde der Wiedergeburt dem Volk nicht mehr gezeigt, den Palast nicht mehr verlassen und war kaum von Adims Seite gewichen. Seit Tagen sah er sich nicht länger als Volkvater, sondern als Vater einer Tochter, die ihn dringender brauchte als sonst jemand. Und auch wenn er damit aller Tradition hohnsprach und jede Regel brach - es kümmerte ihn nicht. Er war der Volkvater! Ihm stand es zu, die Regeln seinem Willen unterzuordnen. Und im Augenblick wollte er nichts anderes, als bei seiner Tochter zu sein. Auch wenn Adim ihm kaum noch wie seine Tochter vorkam. Woher dieses Gefühl stammte - und mehr war es nicht als ein Gefühl - konnte Valeen nicht sagen. Er hatte in den vergangenen Tagen lange und gründlich darüber nachgedacht, immerhin hatte er mehr als reichlich Zeit dafür gehabt. Aber er hatte keine Erklärung dafür gefunden, warum ihm seine leibliche Tochter nun wie eine Fremde erschien. Nur weil sie tot gewesen und von den Göttern zu neuem Leben erweckt worden war? Das wäre weit eher Grund zur Freude gewesen als zur Nachdenklichkeit Von der Wunde, die der Dolch gebohrt hatte, war kaum noch etwas zu sehen - eine verfärbte, leicht erhabene Narbe, mehr nicht. Sein Eindruck ließ sich nicht begründen. Noch dazu hatte Adim seit ihrer Wiedererweckung kaum ein Wort gesprochen. Die meiste Zeit verbrachte sie schlafend oder zumindest in einem unruhigen Dämmerzustand, in dem sie weder ansprechbar war, noch ihre Umgebung
wirklich zu erfassen schien.
Als lebe sie zwischen den Welten, schoß es Valeen durch den Sinn Nicht auf dieser Seite, aber auch nicht im Reich der Götter.
Das mußte die Ursache seiner sonderbaren Zweifel sein. Adim war keine Fremde, die seiner Tochter lediglich zum Verwechseln ähnlich
sah, sie benötigte selbst Zeit, um sich mit dem Unglaublichen abzufinden.
Was indes nicht bedeutete, daß er sich wirklich keine Sorgen zu machen brauchte. Im Gegenteil. Jeder Heiler der Stadt hatte Adim im
Laufe der Tage und Nächte einen Besuch abgestattet Sie hatten ihr Heiltränke eingeflößt, ihre Haut mit Kräutertinkturen gesalbt und
dergleichen mehr. An ihrem Lager hatten sie gemeinsam die Götter angerufen, doch Adims Zustand blieb unverändert - sie verschlief
weiterhin die meiste Zeit der Tage und Nächte, geplagt von wirren Träumen, doch danach befragt, konnte sie keine Antwort geben.
Gerade so, als würde ihr der Sinn aller Fragen verschlossen bleiben. Sie war erschöpft, und obwohl sie dem Tod auf wundersame Weise
entronnen war, sah sie einer Toten immer noch ähnlicher als einer Lebenden.
Was ihrer naturgegebenen Schönheit indes kaum Abbruch bereitete.
Sie sah ihrer Mutter sehr ähnlich. Ein klein wenig hatte Valeen stets an dem Glauben festgehalten, Adims Mutter würde in dem
Mädchen fortleben. Aufgrund dieser frappanten Ahnlichkeit hatte er Adims Mutter nie vergessen, obwohl sie bei der Geburt ihrer
Tochter gestorben war.
Valeen hatte sich nach ihrem Tod keine neue Gefährtin genommen. Auch in diesem Gebaren unterschied er sich von seinen Vorgängern.
Vielleicht-und der Gedanke brach in Valeen zum ersten Mal mit dieser Stärke auf - waren die Dinge nicht erst mit dem Tod des
goldenen Vogels in Fluß und Wandel geraten, sondern damals schon, als er den Thron des Volkvaters bestiegen hatte.
Es war spät. Valeen hatte alle anderen aus dem Raum geschickt. Er saß allein an Adims Lager, hielt ihre Hand und streichelte ihre
weiche Haut. Die Erinnerung an die letzten Atemzüge ihrer Mutter quälte ihn.
Adims Lider waren geschlossen, doch Valeen konnte das unruhige Zucken ihrer Augäpfel sehen. Sie träumte und stöhnte leise, Wie so
oft mußte es sich um einen unangenehmen Traum handeln.
»Adim, mein Liebstes", flüsterte Valeen rauh. Sein Herz war schwer wie Stein. Was hätte er dafür gegeben, ihr helfen zu können?
Die Antwort fiel ihm leicht. Alles hätte er gegeben, ohne zu zögern, sein Amt und allen Reichtum, den Palast - und rnit Freuden sogar
sein eigenes Leben.
»Hörst du mich, Adim?« drängte er wieder. Die Bewegung unter den Lidern verebbte.
»Adim, ich bin es, dein Vater. Wenn du mich verstehen kannst, gib mir ein Zeichen. Sieh mich an. Sprich zu mir!«
Der Atem des Mädchens beruhigte sich. Valeen fühlte, daß auch ihr hektischer Herzschlag langsamer wurde.
»Verzeih mir, Adim«, bat er, die Stimme noch erstickter als zuvor. »Verzeih, was ich getan habe. Es mag Recht gewesen sein, aber es
war nicht richtig. Ich danke den Göttern auf Knien, daß sie dich vor dem Tod bewahrten - vor meiner Dummheit, vor dem Hochmut und
der Herzlosigkeit des Volkvaters.«
Eine Träne stahl sich brennend heiß aus Valeens Auge, wanderte über seine Wange und löste sich - fiel nieder wie eine Perle und
landete auf Adims linkem Lid.
Das Mädchen öffnete jäh die Augen. Ihre Lider schnappten auf wie die Schale überreifer Früchte.
Das merkwürdige Gefühl der Fremdheit wurde für Valeen unerträglich. Es lag an Adims Augen, ihrem Blick, der keinerlei Erkennen
zeigte. Er war ein Fremder für seine Tochter - und das war es, was sie selbst so fremd erscheinen ließ.
Mißtrauen lag in ihrem Blick. Ebenso verhaltene Furcht. Ein mattes Flackern in dem sonst so strahlenden Glanz.
»Adim? Verstehst du mich, Adim?«
Das Mädchen antwortete weder, noch nickte es. Nur der Schimmer in den Augen signalisierte eine Regung.
»Wie... wie fühlst du dich, Adim?«
Ihre Lippen bewegten sich bebend, ohne einen Laut zu formen. Als halte sie eine unhörbare Zwiesprache.
Sie war verwirrt. Ein schlimmer Gedanke: Hatte ihr Geist im Augenblick des Todes gelitten? Valeen beugte sich vor. »Was willst du
mir sagen, Adim?«
»Adim?«
Valeen umfaßte mit einer Hand ihr Gesicht, berührte mit Daumen und Mittelfinger ihre Wangenknochen und begann, sie mit langsam
kreisender Bewegung zu massieren.
»Warum... Adim?« Das Sprechen schien seiner Tochter ungeheure Mühe zu bereiten. Ihre Stimme war nur wie ein Hauch. Valeen
verstand nicht. » Warum ich dich Adim nenne?« fragte er. »Willst du das wissen?«
»Ja«, antwortete sie, begleitet von einem zaghaften, kraftlosen Versuch eines Nickens.
»Adim ist dein Name.«
Sie schüttelte den Kopf. »N-nein.«
»Nein?« Valeen wußte nicht, was er sagen sollte, begriff nicht, was geschah. Wenngleich sich tief in ihm und kaum bewußt zu spüren,
eine bittere Ahnung regte...
»Hast du einen anderen Namen?« fragte er.
Ein Aufblitzen in den matten Augen - wie die ersten Strahlen
der Morgensonne, die sich anschickt, über den Horizont aufzusteigen.
»Sag mir, wie du heißt«, forderte Valeen seine Tochter auf, und das Gefühl, am Bett einer Fremden zu sitzen, wurde so übermächtig,
daß er beinahe aufstöhnte unter der Wucht dieser Erkenntnis. »Nenne mir deinen Namen.«
»Ich heiße...«, setzte das Mädchen an, brach ab und versuchte es abermals: »Mein Name ist... Ericson. Thomas Ericson...«
8. Kapitel Valerie hatte keine Mühe, für den nächsten Tag einen Direktflug nach Bangkok zu bekommen. Die thailändische Hauptstadt war eines der großen asiatischen Flugdrehkreuze und wurde von Frankfurt aus von nahezu allen großen Linienfluggesellschaften täglich angeflogen. So hatte sie die freie Auswahl, welche sie nahm, und als kundige Reisende entschied sie sich für Garuda, die indonesische Fluggesellschaft. Sie gehörte nicht nur zu den sichersten und komfortabelsten der Welt, sondern konnte noch mit einem besonderen Schmankerl aufwarten: die Super Tourist Class. Für nur ein paar hundert Mark zusätzlich reiste man dabei anstatt in der Economy-Class im Business-Bereich - etwas, das den Flugpreis bei anderen Gesellschaften schnell verdreifachte. Und dort gab es dann bequemere Sitze, Fußstützen, ein eigenes Videoprogramm und vor allem viel, viel Platz. Und auf einem 14-stündigen Non-Stopp-Flug war das das Allerwichtigste, um ausgeruht anzukommen. Valerie streckte wohlig die Beine aus, als der Flieger startete, und genoß die Vergünstigungen, die sie sich gegönnt hatte. Das war in ihren Augen Luxus und nicht ein noch so teurer Klunker, den sie sich um den Hals hängte. Natürlich hätte sie es sich genauso gut leisten können, erster Klasse zu reisen - und es sicher auch getan, wenn es keinen anderen Weg gegeben hätte, ihr Ziel zu erreichen -, aber das bißchen, das dort an zusätzlichem Luxus und Service offeriert wurde, war ihr den immensen Aufpreis nicht wert. Diese Klasse tat es da auch. Über die Lautsprecher stellte sich der Pilot in exellentem Englisch als Suparman Kalibukbuk vor und wünschte allen Passagieren einen guten Flug. Suparman - soweit Valerie wußte, bezeichnete das in Indonesien den viert- oder fünftgeborenen Sohn einer Familie. So genau wußte sie es nicht mehr. Sie lächelte versonnen, ehe sie die Augen schloß und zu schlafen versuchte. Ein Flug mit Supermanm - denn genau so sprach man es aus -, was konnte da schon schief gehen? Und abgesehen von ein paar kleineren Turbulenzen auf det nördlichen Flugroute am Himalaya entlang, blieb auch alles ruhig. Mehr als vier Stunden lang erstreckte sich die beeindruckende Bergkette mit ihren weiß glitzernden Gipfeln von einer zur'; anderen Seite des Horizonts - und das bei einer Reisegeschwindigkeit von guten 1000 Stundenkilometern. Wieder bekam Valerie einen bildhaften Eindruck, wie unermeßlich groß der Himalaya; war. Die Alpen waren im Vergleich dazu kaum mehr als ein kleines Hügelgebiet. Tausend Jahre hätten kaum ausgereicht, ihn ganz zu erforschen. Welche Geheimnisse mochten sich in den Millionen und Abermillionen Schluchten und Tälern noch verbergen? Manche von ihnen waren vielleicht schon seit Hunderten oder Tausenden von Jahren nicht mehr von einem Menschen . betreten worden. Auch die Abenteurer waren in den zurückliegenden zwei Jahren einmal dort gewesen und einen ersten Eindruck der Geheimhisse bekommen. Und sicher würde es nicht ihr letzter Besuch dort gewesen sein, dessen war Valerie sich sicher. Sie wischte diese Gedanken beiseite und versuchte noch ein bißchen zu schlafen. Als die Maschine auf dem International Airport in Bangkok auf setzte, fühlte Valerie sich erholt und ausgeruht. Und während die anderen Passagiere sich an den Ausgängen zur Gangway drängten und stauten, schlüpfte sie durch die gesonderte Gangway für bevorzugte Fluggäste hinaus. Noch ein freundlichen Nicken für die Flugbegleiterinnen, dann war sie draußen. Die Zollkontrolle durchlief sie ohne Probleme. Die kleine Plastikpistole in ihrem leichten Handgepäck war den Röntgengeräten in Frankfurt verborgen geblieben, und hier war es nicht anders. Als Valerie aus dem klimatisiertem Flughafengebäude unter den Abendhimmel trat, empfing sie tropische Luft, Smoggeruch und schwüle Hitze. Im ersten Moment war es, als trete man direkt in eine kompakte warme Wasserwand hinein. Vielleicht lag es daran, daß einem sofort der Schweiß aus allen Poren brach und einen wie ein stetiger dünne Film umgab. Alles, was die Haut spüren konnte, war Nässe. Valerie empfand es nicht als unangenehm. Im Gegenteil, sie blieb stehen und sog die Eindrücke kurz in sich auf. Sie war gern in den Tropen und mochte diese ganz spezielle Art von Wärme, die andere Touristen mitunter binnen weniger Tage zermürbte. Leider war Bangkok für sie ein heißes Pflaster. Aufgrund früherer Agenteneinsätze war sie in hiesigen Geheimdienstkreisen nicht gerade beliebt und galt bei manchem als persona non grata. Ein wenig hatte sie befürchtet gehabt, es würde bei ihrer Einreise deshalb zu Schwierigkeiten kommen, aber dem schien nicht so zu sein. Vielleicht hatte Goldstein da seine ordnenden Hände im Spiel. Wenn er als hoher Mossad-Offizier sich in Bangkok auf hielt, tat er dies bestimmt nicht aus touristischen Gründen oder weil ihm das Nachtleben hier so gut gefiel. Der kurze Moment der Besinnung war vorbei, als sie von guten zwei Dutzend Gepäckträgern, Taxifahrern und Werbern, die sie zu einem bestimmten Fahrzeug hindirigieren wollten, umringt wurde. Und sie alle redeten durcheinander und so gestenreich auf sie ein, als hinge ihr Leben davon ab. Für ihr kleines Handgepäck brauchte sie jedoch keinen Träger, und die sich eifrig anpreisenden Fahrer und Werber ignorierte sie ebenfalls. Statt dessen wählte sie ein technisch vertrauenswürdig aussehendes Taxi, das am Straßenrand stand und dessen Fahrer einfach hinter dem Steuer darauf wartete, welchen Gast ihm das Schicksal bescheren würde. Valerie hatte-bei ihren Reisen in diesen Gefilden die Erfahrung gemacht, daß mit einem solchen Fahrer - zumal in einem buddhistischen Land sehr viel besser auszukommen war als mit einem seiner sich lautstark anbiedernden Kollegen. In aller Regel würde er seine Fahrgäste ruhig und zuvorkommend befördern, ohne ihnen unentwegt alle möglichem Geschäfte aufschwatzen zu wollen oder darauf zu drängen, unbedingt an einem Laden vorbeizufahren, der zufällig gerade auf dem Weg lag und noch viel zufälliger irgend etwas weitaus günstiger anbot als alle anderen Läden im Land. Und das natürlich nur jetzt und heute. Selbst wenn man sich nicht überreden und ausnehmen ließ - das Geschwätzt nervte ganz einfach gehörig, wenn einem nach Ruhe zumute war. »Amari Watergatea, gab Valerie dem Fahrer ihr Fahrziel an. Er nickte nur kurz und fuhr dann los. Valerie lehnte sich zurück. Sie hatte ihn offenbar richtig eingeschätzt. Auch als sie ihn bat, die eisig eingestellte Klimaanlage zu drosseln, nickte er nur und kam dem sofort nach. Hier drinnen hatte sie der Schweiß, der ihr draußen auf die Haut getreten war, schnell frösteln lassen. Leider war die Vorliebe der Einheimischen, die Klimaanlagen möglichst stets bis an die Grenze der Leistungsfähigkeit zu belasten, eine latend lauernde Gefahr für jeden Besucher. Wer
nicht aufpaßte, konnte sich durch die extremen Kalt-Warm Wechsel auch bei fünfunddreißig Grad im Schatten schnell eine hartnäckige
Erkältung einfangen. Obwohl es auf den ersten Blick einen Widerspruch in sich zu bilden schien, gehörte für viele unvorsichtige
Pauschaltouristen eine chronische Erkältung ; einfach zu einem Tropenurlaub dazu.
Gegen diese Dinge war auch eine Ex-Agentin nicht gefeit. Deshalb war Valerie lieber vorsichtig. Ungute Erfahrung machte eben klug.
Der Weg vom Airport in die Stadt dauerte eine Dreiviertelstunde, und je näher sie der City kamen, desto voller wurden die Straßen. Es
herrschte der typische Verkehr asiatischer Metropolen. Die Wagenkolonnen bewegten sich Stoßstange an Stoßstange . weiter, stets
hupend und umschwirrt von Schwärmen knatternder Mofas, die sich schlängelnd ihren Weg durch die Blechlawinen bahnten, stets
bedroht vom Gesetz des Stärkeren auf der Straße, '
Bald wurde für das Taxi jedes Vorankommen nahezu unmög lieh. Jeder Meter kostete eine halbe Minute.
Valerie tippte dem Fahrer auf die Schulter und bat darum, herausgelassen zu werden. Sie kannte sich in der City aus und wußte, daß das
Hotel nicht mehr weit entfernt war. Diese letzten Meter konnte sie genauso zu Fuß zurücklegen. Was hieß genausogut? Viel schneller
sogar.
Sie gab dem Fahrer ein prächtiges Trinkgeld für sein angenehmes Schweigen und war einen Moment lang ehrlich berührt, wie er sich
freute und sich mit strahlenden Augen und vor der Brust zusammengefalteten Händen bedankte.
Valerie lächelte. Das war ein Mensch, den sie definitv mochtet Mit ihrer kleinen Reisetasche in der Hand tauchte sie in den Trubel auf
den Bürgersteigen ein. Für einen Abendländer wirkte , es wie ein dichtes, ameisengleiches Gedränge - doch genau das war es nicht'
Denn es gab kein Gedränge, keine Rempler und keine Berührungen. Egal wie überfüllt die Bürgersteige auch waren, jedermann hielt
respektvollen Abstand vor dem anderen, selbst wenn es oftmals nur ein einziger Millimeter war. Aber dieser Millimeter Abstand blieb
immer.
Irgendwie fühlte Valerie sich dieser Obacht und Feinfühligkeit sehr verbunden. Sie mußte daran denken, wie sehr Daniel sich aufgeregt
hatte, daß sie seinen Wagen so knapp eingeparkt hatte. Diese Menschen hier hätten es verstanden. Schließlich praktizierten sie es
tagtäglich bis zur absoluten Perfektion. Kein Wunder, daß Touristen hier oft so tapsig, unbeholfen und bulldozermäßig wirkten, daß
man sie allein daran schon von weitem erkannte.
Valerie hatte keinerlei Mühe, sich dem Takt der Einheimischen anzupassen. Geschmeidig und zielstrebig bewegte sie sich durch das
Menschengewimmel voran. Und das bewahrte sie zugleich davor, von den unzähligen Straßenhändlern als Beute betrachtet zu werden.
Nein, sie war definitiv kein typischer Tourist, kein »Geldsack auf zwei Beinen«, wie man diese landesintern leicht spöttisch - und aus
der Einkommenssicht eines Thais durchaus verständlich - nannte.
Die Straßen des Stadtteils Sukhumvit, in denen sie sich befand, bildeten eines von Bangkoks weltberühmten Einkaufsvierteln, in denen
sich Hochglanzgeschäft an Hochglanzgeschäft reihte. Hier nahm die gleichnamige Sukh2emvit Road ihren Ausgangspunkt eine der
längsten Straßen der Welt, die bis zur kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh verlief und die gesamte Strecke über denselben
Namen trug.
Überall war Valerie von glitzernden Fassaden und kaltleuchtenden Neonfassaden umgeben. Menschen aller Nationen bewegten sich an
ihr vorbei. Unwillkürlich mußte sie an Suzy Duvall denken. Die ebenso verbrecherische wie mächtige asiatische Schönheit war die
Helferin ihres ehemaligen Gegenspielers Eiar gewesen: Im Gegensatz zu ihm hatte sie die Geschehnisse vor einem Vierteljahr überlebt.
Und Bangkok war stets eines ihrer bevorzugten Operationsgebiete gewesen.
Valerie ertappte sich dabei, wie sie bei jeder elegant gekleideten Asiatin, die Suzy Duvall ähnlich sah, unwillkürlich zweimal hinsah, um
sich zu vergewissern, daß es sich nicht um sie handelte. Natürlich wußte sie, daß es Blödsinn war. Die Wahrscheinlichkeit, ausgerechnet
hier und heute zufällig auf sie zu stoßen, war verschwindend gering. Es war auch nicht so, daß Valerie Angst ' gehabt hätte, sie zu
treffen. Dazu war sie zu selbstsicher. Aber es hätte auf jeden Fall Arger bedeutet. Suzy Duvall hatte seit der vergangenen Geschehnisse
noch eine Rechnung mit ihr offen, und irgendwie war Valerie sich sicher, daß sich ihre Wege nicht zum letzten Mal gekreuzt hatten.
Sie bemerkte, daß sie von zwei halbwüchsigen Einheimischen ins Visier genommen wurde, die an einer Hauswand lehnten, sich :ä, mit
einem knappen Blick verständigen und dann direkt auf sie zukamen. Sie hatten es unverkennbar auf Valeries Reisetasche abgesehen.
Auch das gehörte zum Bild auf Bangkoks Straßen.
Sie ließ sich nicht anmerken, daß sie die beiden bemerkt hatte, und ließ sie herankommen.
Als sie dann nach ihrer Tasche greifen und damit weglaufen wollten, entzog Valerie sie ihnen schnell. Dem einen, der fast das
Gleichgewicht verlor, als sein Griff so plötzlich ins Leere ging und er an ihr vorbeistolperte, versetzte sie einen Tritt in den Hintern.
Und bei dem verblüfften anderen reichte es aus, ihm einfach ein Bein zu stellen, um ihn ebenfalls ins Stolpern zu bringen.
Einen Moment später fanden sich beide auf dem Gehsteig wieder und starrten zu ihr empor - wütend darüber, so leicht ausgetrickst und
zum Gespött der Leute gemacht worden zu sein, die ringsum dastanden und asiatisch verhalten hinter vorgehaltenen Händen kicherten.
So war es hierzulande nun einmal. Geschah etwas Peinliches, reagierte man darauf am besten mit einem Kichern. Europäer würden an
dieser Stelle wahrscheinlich entweder gaffen oder unbeteiligt weggucken.
Die beiden Halbwüchsigen kamen auf die Beine und nahmen eine drohende Stellung ein, als hätten sie zu viele amerikanische Kung
Fu-Filme gesehen. Offenbar wollten sie nun, nachdem sie bloßgestellt waren, um so mehr Eindruck schinden und auf diese Art schnell
verlorenes Terrain zurückgewinnen. Dabei nickten sie sich bestärkend zu. Valerie erweckte kurz den Eindruck, als wäre sie beeindruckt
oder gar ängstlich - dann machte sie unvermittelt einen Schritt auf sie zu und starrte sie mit weit aufgerissenen Augen drohend an.
Die beiden Straßenräuber erschraken, stolperten ein paar Schritte zurück und gaben dann Fersengeld, so schnell sie konnten. Eine solch
wehrhafte Frau schien ihnen nicht recht geheuer zu sein.
Valerie lächelte. Wehrhaft zu erscheinen, war manchmal schon mehr als die Hälfte dessen, was in Situationen wie dieser gefragt war.
Kompliziert wurde es immer nur dann, wenn man auch auf die andere Hälfte zurückgreifen mußte.
Sekunden später hatte sich der kleine Kreis von Passanten, der sich um die Szene gebildet hatte, wieder verflüchtigt. Der Strom der
Menschen floß weiter.
Auch Valerie fügte sich wieder in ihn ein. Sie wußte, daß sie von den beiden Straßenräubern nichts mehr zu befürchten hatte.
Minuten später hatte sie das Amari Watergate erreicht. Der ultramoderne Hotelkomplex mit seinen über 500 Zimmern ragte ganz in der
Nähe des World Trade Centers in den Abendhimmel. Sowohl unter Touristen wie auch Geschäftsleuten besaß es einen legendären Ruf
ob seines Ambientes. Kein Wunder, dal3 Goldstein es als Treffpunkt ausgewählt hatte.
Kaum hatte Valerie die weitläufige, mehrere Stockwerke hohe Foyerhalle mit ihrem spiegelnd sauberen Marmorboden betreten, blieb
der Trubel draußen auf den Straßen zurück. Aus der wimmelnden Hektik tauchte man in eine Oase der Ruhe ein. Nicht unwesentlich
trugen dazu auch die oasenhaften Beflanzungen in der Halle bei. Gleich ein halbes Dutzend Bäume streckten ihre :Aste bis hinauf zur
dritten Etage.
Valerie steuerte die Rezeption an.
»Sie wünschen?« fragte der Portier mit einer höflichen Verbeugung.
Valerie nahm sich die Zeit, sie zu erwidern. Sie wußte, was sich gehörte. »Ich möchte zu Mr. Goldstein. Ich nehme an, er ist Gast dieses
Hotels?«
Der Portier forschte im Computer nach. »Ja, so ist es. Und er hält sich derzeit in seiner Suite auf.«
»Dann melden Sie mich bitte an.«
Er griff nach dem Hörer der hoteleigenen Telefonanlage. »Wen darf ich melden?«
»Kiwi, das reicht aus.« Es war ihr Spitzname, den sie schon im Mädchenalter von ihrem neuseeländischem Vater bekommen hatte -
nach dem dortigen fluguntauglichem Vogel, der auch das Wappentier des Landes war. Es gab nur sehr wenige Menschen auf der Welt,
die das wußten, und noch viel weniger, die sie derart vertraulich ansprechen durften. Goldstein gehörte dazu. »Er erwartet mich.«
»Ich werde Sie melden.« Der Portier drückte einen Knopf, woraufhin zwei Pagen im Alter um die zwanzig geradezu Blitzartig an der
Rezeption erschienen und beflissentlich danach trachteten, ihr die Reisetasche abzunehmen. »Wenn Sie ihnen bitte ` folgen würden...
Sie werden Sie zu der Suite bringen.« Und an' die beiden gewandt, fügte er hinzu: »Suite 449.«
Die beiden nickten bestätigend.
Valerie gab ihre Tasche frei und ließ sich zu einem der Aufzüge in der weitläufigen Foyerhalle bringen. Ein paar Sekunden später war
die Kabine da, und die Türflügel öffneten sich.
Sie stiegen ein. Valerie hätte keinerlei Verdacht geschöpft und die Pagen glatt als ungefährlich eingestuft, wenn nicht plötzlich ein
anderes Gästepaar herbeigeeilt gekommen wäre, um den Fahrstuhl ebenfalls zu benutzen. Doch die Pagen wiesen sie mit einer für
asiatische Verhältnisse rigorosen Geste grob zurück, obwohl noch genügend Platz in der Kabine gewesen wäre.
Die Türen schlossen sich und ließ das Paar mit enttäuschten Gesichtern zurück. Der Lift setzte sich in Bewegung.
Valerie tat unbeteiligt und ahnungslos, aber in ihrem Innern spannte sich alles an. Keine Frage, die beiden waren alles andere als
Hotelpagen. Sie bemerkte, wie sie sich einen Blick zuwarfen, um sich zu verständigen - in der Gewißheit, sie würde es nicht merken.
Aber so unaufmerksam war sie nicht.
Dann hatten sie das gewünschte Stockwerk erreicht und verließen den Lift. Der Korridor vor ihnen war leer.
»Keine Bange, Madam«, versicherte einer der Pagen. »Wir werden die Suite gleich erreicht haben.«
Bei jemand anderem hätte sie es für bloße Gesprächigkeit oder nichtssagende Höflichkeit gehalten, nicht aber bei ihm. Welchen Grund
hätte er haben sollen, ihr so versichern, daß sie die Suite gleich erreichen, wenn er nicht etwas ganz anderes im Sinn gehabt hätte? Sie
selbst hatte jedenfalls keine diesbezügliche Beüirchtung geäußert.
In Valeries Augen zeigte sich ein gefährliches Funkeln. Die beiden sollten nur nicht glauben...
Sie sah sich bestätigt, als die beiden sich kurz zublinzelten, und dann synchron unter die Westen ihrer Pagenuniformen griffen. Aber sie
ließ ihnen nicht mehr die Zeit hervorzuziehen, was
immer sie hervorzuziehen versuchen, sondern kam ihnen zuvor. Am besten immer als erster handeln, war schon immer ihre hevorzugte
Devise gewesen.
Zwei Minuten später verschaffte Valerie sich mit einem Fußtritt Eintritt in Suite 449 und präsentierte dem dort wartenden Goldstein die
blessierten Hotelpagen, die sie an deren Krawatten hinter sich her in den Raum zog.
Goldstein saß in einem Ledersessel und schwenkte zu ihr herum. Niemand, der ihn nicht kannte, hätte dem Fünfziger mit dem schütteren
Haarkranz und der unauffälligen randlosen Buchhalterbrille zugetraut, einen Job wie den seinen auszuüben. Er besaß eines der
analytischsten Gehirne, denen sie je begegnet war.
»Was soll das, Goldstein?« fauchte Valerie und ließ die Krawatten los. »Glaubst du, du könntest mich mit diesen Anfängern
beeindrucken?«
Die beiden sanken auf die Knie, bemühten sich, die viel zu engen Bindungen um den Hals zu lösen und schnappten nach der Luft, die
sie in den letzten zwei Minuten nicht bekommmen hatten. Zumal ein Organismus nach einer Abreibung sehr viel davon benötigte.
Valerie wußte, daß ihnen dementsprechend viele Kreise vor den Augen herumtanzten.
»Reg dich ab, Valerie«, meinte Goldstein amüsiert. »Es galt nicht dir, sondern den beiden Jünglingen, die sich bereits für perfekte
Agenten halten. Ich dachte, ich lasse sie ihr Können mal an jemandem ausprobieren, der in der höchsten Liga spielt. Damit sie sehen,
welchen Weg sie noch vor sich haben. Wie ich dich kenne, hat dich das doch nur ein Schulterzucken gekostet, oder?«
Valerie verzog das Gesicht. »Nur leider habe ich einen mörderischen Muskelkater und keine Lust auf diese Späßchen. Mir tun die
Knochen noch von anderen Dingen weh.«
Auch wenn er sicherlich alles so eingerichtet hatte, wie er es sagte - sie war sich sicher, daß es trotzdem eine Botschaft für sie
beinhaltete. Und es lag auf der Hand, welche das war: Sie sollte sich herausgefordert fühlen, weil er ihr keine schwierigere Prüfung
zumutete. Er wollte sie locken zu sagen: Unterschätz mich nicht! Los, gib mir eine richtige Aufgabe, und ich beweise dir, was ich kann!
Doch von solchen Worten war Valerie weit entfernt. Diese Zeiten waren endgültig vorbei. Sie sah ihn forschend an. Glaubte er wirklich,
sie so einfach locken zu können? Wie üblich spiegelte sich in den Augen hinter seiner Buchhalterbrille nichts außer nichtssagender
Unverbindlichkeit. Valerie beging trotzdem nicht den Fehler, ihn zu unterschätzen. Genau dies war sein Pokergesicht.
»Wieder einmal etwas eifrig unterwegs gewesen?«
Sie fragte sich, ob er wußte, was sich in Frankfurt zugetragen hatte. Bestimmt. Die Geschichte hatte schließlich weite Kreise gezogen.
»Vielleicht«, antwortete sie vage.
»Nun, wie auch immer...« Er verstand, daß sie nicht mehr erzählen wollte, und drang nicht weiter in sie. Statt dessen breitete er kurz die
Arme aus und sah sie an. »Schön, dich wieder mal zu sehen! «
Sie neigte zur Antwort leicht den Kopf. Es war so etwas wie ein ernstes, halbes Nicken. Das war alles, was sie sich an Vertraulichkeiten
zugestanden. Ihr Verhältnis war auf anderen Fundamenten errichtet.
»Komm, setz dich!« forderte er sie auf und deutete auf einen anderen Sessel. »Was willst du trinken? Whisky, Sekt? Die Zimmerbar ist
gut gefüllt.«
»Mineralwasser.« Sie wollte einen kühlen Kopf bewahren, Er versorgte sie damit, dann saßen sie sich gegenüber. »Lassen wir den
ganzen Begrüßungsfirlefanz«, sagte Valerie,
»und kommen wir gleich zum Wichtigsten.«
»Ganz meine Meinung. Und das Allerwichtigste...« Er holte tief Luft und sah sie eindringlich an. »Was um Gottes willen hast du mit
deinem Haar gemacht?«
Sie griff sich an die glatte Frisur, die von ihrer Löwenmähne übrig geblieben war. Richtig, erinnerte sie sich, Mrs. Jekyll und
Mrs. Hyde! Ihre Spuren würden noch lange zu sehen sein. »Das ist privat«, beschied sie unglücklich.
Er bohrte nicht weiter nach. Es war selten, daß sie solch ein gewvichtiges Argument in den Ring warf. Früher einmal war er wohl
derjenige Mensch gewesen, der ihr näher gestanden hatte als jeder andere. Er hatte sie in- und auswendig gekannt - oft sogar besser als
sie selbst. Er wußte um ihre inneren Abgründe und Gipfel und war in den Stunden ihrer größten Siege, aber auch ihrer bittersten
Niederlagen bei ihr gewesen - zum Beispiel, wenn sie sich ausgiebigen Schönheitsoperationen hatte unterziehen müssen, um
Folterspuren auf ihrem sonst so makellosen Körper beseitigen zu lassen. Die meisten von ihnen waren fast vollständig getilgt - soweit es
die rein physischen Narben betraf. Einem geübtem Auge blieben sie dennoch nicht verborgen. Genau deshalb trug sie meist nur
Kleidungsstücke, die den gesamten Rücken bedeckten.
Valerie war froh, daß diese Zeiten vorbei waren und sie es geschafft hatte, sich von Goldstein zu distanzieren. Denn seine intimsten
Kenntnisse ihrer Person hatten noch eine andere Komponente beinhaltet, die sie erst spät erkannt hatte: Es hatte sie manupulierbar
gemacht?
Und dessen hatte er sich ausgiebigst bedient. Nie unfair oder zu ihrem persönlichen Nachteil, aber natürlich immer ganz im Sinne des
Geheimdienstes. Vieles von dem, was sie lange für persönliche Verbundenheit gehalten hatte, hatte sich als nichts anderes als eine
berufliche Führungsmethode herausgestellt. Ganz besonders diese Erkenntnis hatte sie damals in dem Entschluß bestärkt, den ganzen
Geheimdienstkram hinzuwerfen. Sie wollte sich nicht mehr manipulieren lassen und nur noch ihr eigener Herr sein.
Sie empfand dennoch keinen Groll gegen Goldstein. Sie wuBte, aus welchen Gründen er es getan hatte. Und sie hätte von Anfang an
wissen sollen, daß persönliche Dinge im Geheimdienstgeschäft von keinerlei Belang waren. Was zählte, war allein der Erfolg.
Trotz ihres zwiespältigen Verhältnisses war eine seltsame Verbundenheit zwischen ihnen erhalten geblieben. Sie wußte, daß er sie nach
wie vor niemals verraten oder belügen würde. Aber ebenso sicher war sie sich, daß er nach wie vor keinerlei Skrupel haben würde, sie
in seinem Sinne zu manipulieren - um irgendwelche Ziele zu erreichen.
,s »Also«, forderte Valerie ihn zum Sprechen auf. »Hier bin ich.
„Code read- war das die gesamte Nachricht?« »Im Grunde ja. Ich könnte dir noch sagen, von wem sie stammt,
denn er hat sich namentlich bei uns gemeldet. Aber das weißt du ja bestimmt. Sonst hättest du ihm den Code nicht gegeben.« Valerie
nickte. Vor ihrem inneren Auge tauchte das Bild eines schlaksigen, jungen Engländers auf, mit schütterem blondem Haar und einer
dicken Brille. Der Prototyp eines Nachwuchsakademikers, der von Theorie jede und von Praxis keinerlei Ahnung hatte.
»Geoffrey Barnington«, sprach sie seinen Namen aus.
»Es geht mich eigentlich nichts an«, meinte Goldstein. »Ich bin ja nur der Weiterleiter der Nachricht. Aber kannst du mir sagen, wieso
du jemandem wie Barnington eine Code read-Vollmacht gibst?«
»Der Einsatz damals in Kambodscha. Die Geschichte um die Gefangenenlager. Sie erinnern sich?«
»Klar. Die Sache hat damals viel Staub aufgewirbelt und in den hiesigen Geheimdienstkreisen so manchen Kopf gekostet. So etliche
Ruheständler werden sich sicher noch lebhaft an dich erinnern. «
»Fakt ist, daß wir damals nie herausgekommen wären, wenn uns nicht ein junger britischer Student der Kunstgeschichte außer Landes
geschmuggelt hätte. Er war damals im Rahmen irgendeines Kulturaustauschprojektes in Angkor Wat gewesen. Mehrfach hat er sein
Leben riskiert, um uns rauszubringen. Ich dachte, das wäre eine Gegenleistung wert.«
Goldstein nickte bedächtig, als würde er sich schwammig an die entsprechenden Aktenberichte erinnern. Dabei war Valerie sich
vollkommen sicher, daß er sie im Vorfeld allesamt so genau "` studiert hatte, daß er sie Wort für Wort auswendig hätte herunterbeten
können.
»Und deswegen hast du ihm gesagt: Wenn du irgendwann mal in große Schwierigkeiten geraten solltest, ruf da und da an, gib Code
read durch, und dann komme ich und rette dich! «
»Genau. Dafür ist das System doch da, oder?«
Goldstein schüttelte den Kopf und seufzte. »Nein, und das weißt du auch!«
»Da muß ich in all der Aufregung damals wohl die Vorschriften nicht mehr so gut im Kopf gehabt haben.«
»Du weißt, daß so ein Code weder für Ex-Agentinnen noch irgendwelche Bürger anderer Länder gedacht ist. Eigentlich hätte ich ihn dir
gar nicht weiterleiten dürfen.«
»Aber getan haben Sie's«, stellte Valerie fest. »Und da ich jetzt schon mal hier bin, können Sie mir auch den Rest verraten. Es ist ja
nicht so, daß ich Unterstützung haben will.«
»Die wird es auch nicht geben!« stellte er klar. Er ließ ihr ihre kleinen Triumphe. Dazu war sie in der Vergangenheit zu kostbar für ihn
gewesen. Und er hatte das Gefühl, daß sie das irgendwann wieder sein würde. Ob dauerhaft oder nur punktuell, das würde sich zeigen.
»Was können Sie mir noch sagen?«
»Der Rest ist schnell erzählt. Die Nachricht kam vor fünf Tagen bei unserer hiesigen Vertretung an. Es hat ein wenig gedauert, ehe sie
an mich weitergereicht wurde. Glücklicherweise hielt ich mich gerade hier in Thailand auf.«
»Woher kam sie? Irgendwoher hier aus der Nähe?« »Aus dem Postamt in Kengtung.«
»Keng... wie?«
»Kengtung«, wiederholte er. »Das ist eine kleine Provinzstadt in Burma, etwa hundertfünfzig Kilometer nördlich der thailändischen
Grenze.«
Valerie runzelte die Stirn. »Das ist ja Niemandsland. Was macht Barnington denn ausgerechnet da?«
Zum ersten Mal zeigte sich auf Goldsteins Lippen so etwas wie ein hauchdünnes Lächeln. »Diese Frage kann ich vielleicht beantworten.
Ich habe ein paar Erkundigungen über ihn einholen lassen.«
»Ja?« »Er leitet dort in der Nähe eine archäologische Ausgrabung. Oder besser: Er tat es bis vor ein paar Monaten.«
»Was heißt das?«
»Dann ist ihm offenbar das Geld ausgegangen. Seine Geldgeber haben ihm die Unterstützung entzogen. Es scheint, als hätte man eine
Kommission von England nach Burma geschickt, und die hat beschlossen, die Arbeiten einzustellen. Barnington hat dann wohl noch
eine Zeitlang auf eigene Faust weitergemacht. Aber weit ist er dabei nicht gekommen. Und seit einigen Wochen hat man nichts mehr
von ihm gehört. Bis auf seinen Notruf vor ein paar Tagen. «
»Worum ging es bei der Ausgrabung?«
»Keine Ahnung. Archäologin war deine Tarnung, nicht meine.« Valerie dachte ein paar Sekunden lang nach. »Fragt sich nur, wie man
nach Burma kommt. Sehr besucherfreundlich ist die dortige Regierung nicht.«
Goldstein ließ sich mit der Antwort etwas Zeit. »Wie man dorthin kommt, weiß ich nicht. Dafür aber, wie du dorthin kommst.« »Und
wie?«
»Morgen früh nimmst du einen Linienflug nach Chiang Mai. Dein Platz ist schon reserviert. In Chiang Mai wartet dann ein
zuverlässiger Kontaktmann auf dich, der dich mit seinem kleinen privaten Flieger weiterbringen wird. Er hat schon öfter den ein oder
anderen Transportauftrag für uns übernommen. Er wird dich bis in die Nähe von Kengtung fliegen und dort auf einem kleinen Rollfeld
absetzen.«
Sie sah ihn überrascht an. Mit soviel Unterstützung hatte sie gar nicht gerechnet. Handelte es sich um reine Freundlichkeit, oder steckte
etwas anderes dahinter?
»Ist das keine illegale Einreise?« fragte sie.
»Kümmert dich das? Wie auch immer-von da an bist du ganz auf dich allein gestellt.«
Valerie nickte. So war es ihr am liebsten. »Hm. Einen Engländer in der tiefsten burmesischen Provinz finden, und dann noch einen
Ausgrabungsleiter wie Barnington - das kann doch nicht so schwer sein!«
»Ja, und richte ihm aus, niemals wieder Code read zu benutzen!«
»Bleibt nur eine Frage: Wenn ich ihn gefunden habe, wie komme ich mit ihm dann außer Landes?«
Goldstein erhob sich und holte einen kleinen silbernen Stab herbei, der aussah wie ein etwas zu groß geratener Kugelschreiber.
»Hier«, erklärte er. »Das ist ein Sender. Wenn du ihn aktivierst, holt dich der Pilot binnen fünf Stunden auf dem Rollfeld ab. Aber es
funktioniert nur einmal, und wenn der Pilot Gefahr laufen sollte, am Boden in irgendwelchenÄrger verstrickt zu werden, dreht er gleich
wieder ab. Denk daran, wenn du diesen Weg wählst.«
Er reichte ihr den Stift.
Valerie hob erstaunt die Augenbrauen. »Und das nennen Sie keine Unterstützung?«
»Warte, bis du die Rechnung zugeschickt bekommst.« Sein Tonfall ließ nicht erkennen, ob er es ernst meinte oder nur scherzte. Valerie
beschloß, sich überraschen zu lassen. »Bis morgen habe ich dir hier im Watergate ein Zimmer gebucht. Ich nehme an, das ist in deinem
Sinne. Oder willst du dir eine eigene Bleibe suchen?«
»Nicht nötig. Hauptsache, es gibt keine Milchbubi-Überfälle oder sonstigen Kram mehr! «
»Wird es nicht. Versprochen. Und was ist mit dem restlichen Abend?«
»Was sollte sein?«
»Hast du schon etwas gegessen?« »Flugzeugkost.«
»Dann laß uns Essen gehen. Ich lade dich ein. Dann können wir ein wenig plaudern.«
Sie sah ihn mißtrauisch an. »Worüber?«
Goldstein hob abwehrend die Hände. »Keine Hintergedanken. Einfach nur ein wenig Plauderei. Zum Beispiel über die alten leiten.«
Valerie blieb mißtrauisch. Ausgerechnet bei dem Thema wollte er keine Hintergedanken haben!
»Also schön«, stimmte sie zu. »Plaudern wir ein wenig.«
9. Kapitel Südamerika, vor sehr langer 7xit »Er ist anders geworden, unser Sohn.«
Nal stand an der Feuerstelle und bereitete das Essen zu. Die Flammen leckten nach ihren Händen, als sie die Zutaten in den Topf gab,
aber sie spürte die Hitze nicht. Seit Tagen schon wurde ihr nicht mehr warm, seit Meron verurteilt worden war. Und nichts vermochte
ihr diese Kälte auszutreiben. Nicht einmal die Tatsache, daß ihr Sohn den Tod überlebt hatte.
_Jerrod saß hinter ihr am Tisch, die großen, schwieligen Hände wie zum Gebet erhoben. Auch er hatte sich verändert. Seit Meron
zurückgekommen war, redete er wenig, und wenn, nur knappe Worte, aus denen Mißtrauen sprach und etwas, das Nal für Furcht
gehalten hätte, wäre nicht genau das völlig untypisch gewesen für den kräftigen Jerrod.
»Unser Junge...«, murmelte er halblaut. »Ist er das noch - unser Junge? «
Nal hielt inne in ihrem Tun, wandte sich aber nicht um. »Wie... meinst du das?« fragte sie erschrocken.
»Ich frage mich, ob das«, Jerrod wies mit dem Kinn zur Tür, »wirklich noch unser Sohn ist.«
Nal wollte bestürzt protestieren, doch Jerrod unterbrach sie. »Er war tot, Frau! Wer weiß, was ihn ins Leben zurückgebracht hat. a Er
schluckte schwer. »Es ist nicht rechtens, auf dem Pfad ins Götterreich umzukehren.«
Jetzt drehte sich Nal um und trat an den Tisch. Sie ließ sich Jerrod gegenüber nieder und faßte mit ihren Händen nach den seinen.
»So darfst du nicht reden, Jerrod! Wie hätte unser Junge umkehren sollen auf diesem letzten Weg, wenn nicht die Götter selbst ihn
zurückgeschickt hätten? Es ist so - und ich bin froh, daß Meron wieder bei uns ist.«
Jerrod entzog ihr seine Hände und ächzte wie ein uralter Mann. »Ich sehe auch, daß er sich verändert hat«, fuhr Nal fort. »Aber das
müssen wir verstehen und hinnehmen. Er war tot, Jerrod verstehst du? Wer kann nachempfinden, was das bedeutet?« Zweifelnd
schüttelte der Schmied den Kopf.
»Frage lieber, warum er zurückgekommen ist. Was hat er vor?« Nal schwieg betroffen. Sie schaute Jerrod an - und blickte doch durch
ihn hindurch, während ihr Mann versuchte, sie von seinen Bedenken zu überzeugen: »Meron ist kaum daheim, er treibt sich nur noch
herum, und wenn er da ist, spricht er kaum und schaut uns an, als hätte er uns nie zuvor gesehen.«
»Er muß erst mit sich selbst klarkommen«, wandte Nal ein.
»Das dauert eben seine Zeit.«
Ein Geräusch schreckte sie auf. Ein Scheppern und Klappern. »Das war in der Werkstatt«, bemerkte Jerrod irritiert.
Die Schmiede lag nebenan. Niemand außer ihm arbeitete dort. Er ging hinüber, um nachzusehen. Nal folgte ihm.
»Meron?« stieß der Schmied ungläubig hervor.
Sein Sohn wirkte hilflos, wie er in der Mitte der gemauerten Werkstatt stand, der Tür den Rücken zugewandt. Zu seinen Füßen lagen
Werkzeuge, die zur Reparatur anstanden. Er mußte sie versehentlich aus den Regalen gestoßen haben.
»Was tust du hier, Meron?« fragte Jerrod, als sein Sohn nicht reagierte.
Endlich drehte der junge Mann sich um. Und er sprach. Auch diesmal mit schwerer Zunge, als gehorche sie ihm nicht recht. Wie schon
in den Tagen zuvor betrachtete er seine Eltern wie Fremde - er musterte sie, als suche er irgend etwas Vertrautes. Aber zum ersten Mal
gestand er ein, daß dieser Eindruck nicht trog.
»Wo bin ich hier?« fragte er, und in seinen Zügen zeichnete sich leise Verzweiflung ab.
Nal trat an Jerrod vorbei und faßte ihren Sohn besorgt an beiden Armen.
»Meron, bei allen Göttern, du redest im Fieber.«
»Meron...« Es schien, als lausche er dem Klang des Namens. Dann schüttelte er den Kopf. »Der Name klingt vertraut, aber...« »Aber?«
fragte Nal.
»...meine Eltern nannten mich anders.«
Nal schaffte es nicht, einen Schreckenslaut zu unterdrücken.
Hinter ihr stöhnte Jerrod auf.
Mitten hinein in die atemlose Stille, die plötzliche die Schmiede erfüllte, verriet der junge Mann, wie er wirklich hieß.
Nal und Jerrod starrten ihren Sohn an wie einen Geist.
Dann, nach einer endlosen Weile, sank Nal vor ihm auf die Koie. Ihre Lippen berührten seine nackten Füße.
Der junge Mann, der behauptete, nicht mehr Meron zu sein, zuckte zurück.
Jerrod folgte dem Beispiel seines Weibes nicht. Aufrecht stand er da und trotzte dem Blick Merons - der soeben behauptet hatte, ein
Gott zu sein!
Alsbald wußte man es in ganz Azachuan. Obwohl Jerrods Lippen versiegelt blieben, hatte Nal nicht lange die Wahrheit verschweigen
können.
Daß Meron nicht mehr Meron war...
Daß er sich offenbart hatte - als Gott Ruun! Ruun, der Sämann unter den Göttern.
Er war zurückgekehrt nach dem Tod des goldenen Vogels. Und das Volk wurde nicht müde, mit immer neuen Ideen aufzuwarten, was
diese Rückkehr bedeuten könnte.
Vor dem Haus des Schmieds türmten sich die Opfergaben, und es wurde von Menschen umlagert. Jeder wollte einen Blick erhaschen
auf den Mann, in den ein Gott eingefahren war.
Meron - oder Gud Ruun, wie er sich genannt hatte, schwieg zu allem.
Wie auch sein Vater. Jerrod redete nicht einmal mehr mit Nal. Doch seine Gesten und Blicke ließen keinen Zweifel daran, wie wenig er
den Aufruhr guthieß, den sie mit ihrer Geschwätzigkeit heraufbeschworen hatte.
»Ich habe das Richtige getan«, behauptete Nal dennoch ein ums andere Mal. »Ruun ist zu uns gekommen, und das Volk mußte davon
erfahren. Wir durften diese Kunde nicht für uns behalten. «
»Ich hätte es getan«, erinnerte Jerrod.
»Weil du ihm nicht glaubst!« erwiderte Nal anklagend. »Du zweifelst an den Worten eines Gottes! «
»Wenn er ein Gott ist, soll er es mir beweisen«, verlangte Jerrod.
»Wenn er mich überzeugt, werde ich nicht länger zögern, ihm alle Ehre zu bekunden, die ein Gott verdient.«
»Dein Gerede wird uns noch ins Unglück stürzen«, schimpfte Nal. Sie wandte sich an Meron. »Verzeiht ihm, ich bitte Euch. Er kann
nicht fassen, welches Glück uns widerfahren ist. Daß Ihr in unser Haus eingekehrt seid und unseren Sohn erwählt habt...a
Weiter kam sie nicht. Vor dem Haus entstand Unruhe. Das monotone Raunen der betenden Menge hatte sich verändert. Rufe mengten
sich hinein. Augenblicke später dröhnten kraft volle Schläge gegen die Tür.
Jerrod lugte durch einen Spalt hinaus, fuhr erschrocken zurück und löste rasch den Sperrbalken aus der Halterung, um die Tür zu öffnen.
Ein Hoher Rat in prächtigem Gewand trat ein, im Gefolge vier Bewaffnete aus der Leibgarde des Volkvaters.
Nal senkte ehrfürchtig das Haupt. Jerrod sah dem Rat ungerührt ins Gesicht.
»Ihr wünscht?« fragte er.
»Euren Sohn«, erwiderte der Hohe Rat knapp und wies an ,Jerrod vorbei auf Meron, der wie teilnahmslos auf einer Bank saß. Zwei der
Gardisten schritten auf den jungen Mann zu.
»Was...«, wollte der Schmied aufbegehren, und Nal trat besorgt auf die beiden Männer zu, die vor Meron standen.
»Der Volkvater wünscht den Mann zu sehen, von dem es heißt, er sei der Sämann der Götter«, erklärte der Hohe Rat und gab den
beiden Bewaffneten ein Zeichen.
Sie mußten Meron nicht zwingen, ihnen zu folgen. Er stand freiwillig auf, trat zwischen sie und ging mit ihnen zur Tür.
»Er will ihn nur sehen?« argwöhnte Jerrod. Sein Blick fiel ins Freie. Dort standen weitere Männer aus der Garde des Volkvaters, in
ihren Fäusten Speere und Schwerter.
Der Hohe Rat blieb die Antwort schuldig. So schnell, wie er mit den Gardisten gekommen war, verschwand er auch wieder. Die
Gardisten bahnten ihm und Meron einen Weg durch die Menge. Nal wimmerte leise und unverständlich vor sich hin. Jerrod hingegen
verspürte eine sonderbare Erleichterung, die er sich kaum erklären konnte.
Was immer Einzug gehalten hatte in sein Haus, es war vorbei.
Falls es sich um einen Traum handelte, dann zwar es der längste und realistischste Alptraum, der ihn je heimgesucht hatte. Und der
seltsamste zugleich.
Brasilia... Der archäologische Kongreß...
Das alles klang vertraut, und seine Gedanken kreisten um Namen undd Begriffe wie eine Motte um das nächtliche Licht einer Lampe.
Trotzdem blieb die Erinnerung noch weitgehend verborgen.
Der Flug über den Regenwald, von Brasilia aus nach Norden. Im gleißenden Widerschein der Sonne mußte das kleine Flugzeug wie ein
goldener VogeI aus Stahl gewirkt haben...
Seltsam irritierende Gedanken waren das.
Dann die Schneise im undurchdringlichen Grün des Dschungels... Straßenbauarbeiten... Der Einstieg zu uralten Tempelanlagen oder
gar den Überresten einer versunkenen Stadt...
Es war nicht möglich gewesen, den Fund zu datieren oder auch nur eingehender zu untersuchen.
Was hatte ihn davon abgehalten?
Seine Gedanken wirbelten im Kreis. Er fand keinen Einstieg keinen Anfang in dieser endlosen Verkettung von Bildern, die sich ihm
aufdrängten.. Aber ebensowenig konnte er aufhören, danach zu suchen, und das zermürbte ihn.
Schlimmer noch war das Gefühl nicht mehr er selbst zu sein, sondern Gefangener in einem fremden Körper.
Weiß Gott, das war der eigenwilligste Traum, den er je geträumt hatte. Obwohl ihm die Umstände gar nicht so fremd erschienen.
Dejä-vu. Anden? Erinnerungsfetzen wirbelten in den Vordergrund; Ausgemergelte, verdreckte, blutbesudelte Gestalten. In rostigen,
verbeulten Rüstungen steckten sie, lange Schwerter in beiden Händen haltend, einige auch Lanzen.
Während einer Traumzeitreise mit einem alten Schamanen der Aborigines zwar er schon einmal in die Vergangenheit verschlagen
worden, damals ins Jahr 1127 n. Chr., also achtundzwanzig Jahre nach der Befreiung Jerusalems aus der Hand heidnischer
Heerscharen. Er hatte sich irn Körper eines vom Säbelstich eines Sarazenen tödlich verwundeten Kreuzritters wiedergefunden; die
Wunde war rasch vernarbt.
Wie eine gewaltige Springflut schlugen all diese Eindrücke über ihmzusammen, weit mehr, als ihm guttat, Namen und Orte wirbelten
durcheinander, die Zeit begann in diesem Moment ihre Bedeutung zu verlieren, ja sogar ihre Schrecken. Das alles war fern und doch so
nahe.
Sein Unterbewußtsein weckte Erinnerungen an den Templer-Orden... Der Hafen von La Rochelle, der Heilige Gral an Bord eines
Schiffes, dessen Segel sich im auffrischenden Wind blähten.., Kurs lag an auf die Neue Welt.
Ein einschneidendes, unvergeßliches Erlebnis, zu erkennen, daß der Heilige Gral und die Bundeslade identisch waren.
Hatte er nicht in den Ruinen mitten im Amazonasgebiet Zeichnungen im Stein gesehen, die ihn an die Bundeslade erinnert hatten?
Vergeblich versuchte er, wenigstens diesen einen Gedanken in, dem wirbelnden Kaleidoskop festzuhalten. Es war unmöglich.
Die elende Gedankenschleife begann von neuem.
Valeen hatte mit niemanden über den seltsamen Namen gesprochen, den Adim ihm genannt hatte.
Ericsontomasericson... Und auch mit diesem Schweigen hatte er, das war ihm klar, gegen seine Pflichten als Volkvater der Azachen
verstoßen. Andererseits droht wohl keine Gefahr durch das sonderbare Verhalten seiner Tochter. Und so lange er nicht wußte, was es
damit auf sich hatte, sah er keine Veranlassung, mit dem Hohen Rat darüber zu reden.
Die Sorge um das Wohl seiner Tochter war ihm heiliger als alle Amtspflicht. Auch wenn er wenig für Adim tun konnte, so hoffte er
doch, daß die Zeit alle Antworten geben würde.
Aber gerade die Zeit erwies sich als ein trügerischer Verbündeter. Sie arbeitete gegen ihn.
Als ihm zu Ohren kam, daß auch Meron einen anderen Namen als den seinen genannt hatte, konnte er nicht länger tatenlos und nur
betend abwarten.
Er mußte handeln.
Meron, so hieß es, hatte behauptet, der göttliche Sämann selbst, Ruun, sei in ihn gefahren. Das konnte der Volkvater nicht mehr auf sich
beruhen lassen, und so ließ er schließlich nach Meron schicken.
Vielleicht, dachte Valeen, hätte er das schon sehr viel eher tun sollen. Denn womöglich kannte Meron - oder wer immer aus ihm sprach
-, die Antworten, auf die er hoffte.
Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust... Und Goethe. Woher nur kannte sie diese merkwürdigen Worte? Und diesen ebenso absonderlichen Namen?
Sie fühlte sich hin und her gerissen zwischen Vertrautheit und dem Gefühl völliger Fremde. Mehr noch, sie war innerlich zerrissen. Als
benutzten zwei Mächte unbegreiflicher Art ihr Bewußtsein als Schlachtfeld, auf dem sie einen nicht minder unverständlichen Kampf
führten - um die Vorherrschaft über ihren Körper.
Inmitten eines Pulkes bewaffneter, in Leder und Metall gekleideter Männer schritt sie durch die Stadt, in der sie sich heimisch und
fremd zugleich fühlte. Ihnen voran ging ein Mann, der weit prachtvoller gewandet war. Ein Hoher Rat.
Woher wußte sie, daß man ihn so nannte?
Das war nur eine Frage von vielen, auf die sie vergeblich eine Antwort suchte.
Obwohl sie umringt war von den Bewaffneten, fühlte sie sich von Blicken regelrecht durchbohrt, wenn sie andere Menschen passierten.
Und sie fühlte sich nackt. Weil sie nicht mehr trug als einen ledernen Schurz, der ihre Blöße bedeckte.
Nur mühsam widerstand sie dem Wunsch, ihre Arme vor der Brust zu kreuzen. Kein Mann verhüllte seine Brust vor fremden Blicken.
Kein - Mann?
Sie wollte den Gedanken greifen, festhalten, ihn verfolgen es gelang ihr nicht. Er entschlüpfte ihr wie ein Fisch, den sie mit bloßen
Händen zu fangen versuchte.
Zurück blieb die Verwunderung ob all der seltsamen Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen, seit...
Seit wann eigentlich?
Sie wußte es nicht. Nicht mehr. Oder noch nicht.
Aber ihr Wissen wuchs. Das zumindest spürte sie. Anfangs hatte sie nichts gewußt, war ihr Kopf wie leergefegt gewesen. Inzwischen
füllte er sich mit Bildern, einige merkwürdig, andere vertraut. Wie ihr Name, den sie aber nur einmal genannt hatte. Weil sie die
Reaktion darauf entsetzt hatte.
Gudrun... So hieß sie. Das war ihr wirklicher Name - im Standesamt notiert, in ihrem Personalausweis ebenso wie im Reisepaß
nachzulesen.
Nicht Meron, wie jeder zu ihr gesagt hatte. Obwohl ihr auch dieser Name vage bekannt vorkam. Er verursachte ein Gefühl, als finde er
ein Echo, irgendwo tief in ihr.
Vielleicht auf einer anderen Bewußtseinsebene?
War sie - schizophren? Das Wort erschreckte sie. Aber wer war der Fremde, der in ihr wohnte? Oder - war sie die Fremde hier?
Ericson. So hieß er. Tom Ericson.
Mehr als dieser vertraute Klang war ihm nicht geblieben. Alles andere würde ihm immer fremd bleiben, dieser Körper, die Menschen
um ihn her, diese ganze Welt.
Nichts ließ er unversucht, all das Fremde zu erkunden, zu erforschen. Aber das tat er mit einem ihm wohlvertrauten Eifer, der typisch
war für ihn, für Doktor Thomas Ericson.
Aller Absonderlichkeit seiner Situation zum Trotz empfand er ein Hochgefühl, wie nur selten zuvor in Momenten ganz besonderer
Entdeckungen. Wenn er den Schleier von Geheimnissen hatte lüften dürfen, an denen sich Generationen von Wissenschaftlern die
Zähne ausgebissen hatten.
Wenn er, Tom Ericson, eine Randnotiz ins dicke Buch der Geschichte geschrieben hatte! Wenngleich ein imaginäres Buch, das zu lesen
wenigen vorbehalten blieb. Weil die wahre Historie der Welt mitunter zu phantastisch war, um sie publik zu machen.
Und weil es Dinge gab, von denen besser niemand wußte. Weil sie in den falschen Händen der Welt selbst zur Gefahr und zum
Verhängnis werden könnten...
Dieser Entdeckergeist beseelte ihn auch jetzt. Neugierig durchstreifte er den Palast, in dem jener Mann residierte, den er aus
196 irgendeinem Grunde Vater nannte.
Hinter jeder Ecke gab es etwas Neues zu finden, mehr noch, jeder einzelne Stein schien ein Geheimnis zu bergen, atmete spürbar
Geschichte.
Die Geschichte eines Volkes, von dem Tom Ericson nie gehört hatte, obwohl er glaubte, Parallelen zu bekannten Kulturen festzustellen.
Eben diesen Spuren ging er nach, mit einer Euphorie und Gewissenhaftigkeit, als hinge sein Leben davon ab. Was in gewisser Weise
durchaus zutraf, denn diese Art der Beschäftigung war wie eine Therapie. Sie bewahrte ihn vor allzu intensivem Grübeln über Fragen, auf die es zumindest vorerst keine Antworten gab. Unwillkürlich lächelte er in sich hinein. Es gab drei sehr bedeutungsvolle Fragen, die ihn mehr als alles andere an sein früheres Leben erinnerten - hin und wieder hatte er sie sich gemeinsam mit Freunden gestellt. Aber das war während der Studienzeit gewesen, nach durchzechten Nächten. Wie heiße ich? Das war geklärt. Oder auch nicht. Zwei Namen, zwei Seelen in einer Brust. Wo wohne ich? Yale Universität... Oake Dun im hohen Norden Schottlands... Oder eine Frühkultur Südamerikas, irgendwann vor Mayas, Inkas, Azteken oder Olmeken... Was habe ich gestern betrunken? Das war am leichtesten zu beantworten: Nichts. Zunehmend deutlicher entsann er sich der unterirdischen Räumlichkeiten und der
beschädigten Anlage zur zeitlosen Ortsversetzung, die ihn so fatal an Kars schwarze Pyramide erinnert hatte.
Hatte sie ihn hierher verschlagen und diese bizarre und an sich unmögliche Lage verursacht?
Eigentlich egal. Er konzentrierte sich auf die Zeichnungen, die beide Wände des Korridors einnahmen, den er vor Stunden schon
betreten hatte. Die Malereien erzählten eine Geschichte, das Werden dieses Volkes, und Tom Ericson sog sie gleichsam in sich auf, wie
ein trockener Schwamm Wasser zog.
Bis er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Und den Namen hörte, der nicht der seine war.
»Adim?«
Er wandte sich trotzdem um - und hielt in der Bewegung inne. Sein Vater war gekommen. Aber diesmal nicht allein. In seiner
Begleitung befand sich ein deutlich jüngerer Mann, der Tom auf unbestimmte Weise bekannt vorkam. Mehr noch, sein Anblick löste
etwas in ihm aus, ein leises Ziehen, einen feinen Schmerz, der nicht wirklich weh tat, sondern sehr angenehm war.
Das jedenfalls war es, was Tom auf den ersten Blick sah und empfand.
Dann - ganz kurz nur, für die Dauer eines Lidschlags - glaubte er, eine andere Gestalt zu sehen, die jene des jungen Mannes überlagerte,
wie in einer Doppelbelichtung.
Das Herz in Toms Brust übersprang einen Schlag und pochte danach ungleich vehementer weiter.
Das Bild, eher eine Vision, war vergangen, und Tom sah wieder nur den jungen Mann neben seinem Vater. Seltsam, er kannte sogar
dessen Namen.
Dennoch nannte er einen anderen, der ihm ohne sein Zutun über die Lippen kam, warm und vertraut, tausend Mal gesagt trotzdem klang
er fremd aus diesem Mund.
» Gudrun? «
Die Stadt der Toten barg mehr als es schien. Sie war nicht nur der Ort, von dem aus die Verstorbenen ihren letzten Weg antraten; im
Gegenteil, das war sogar ihr geringster Zweck, und ganz gewiß war es nicht der, zu dem sie einst erbaut worden war.
Braam hatte das Geheimnis dieses Ortes geschaut, ohne es wirklich zu begreifen.
Tolos hingegen sah es mit anderen Augen, klarer und deutlicher; er erkannte, was sich unter der Nekropole befand. Und das ließ er nicht
mehr aus den Augen. Weil er sich inbrünstig als Hüter dieses Ortes bezeichnete, mehr noch, er fühlte sich berufen zum Erben der
Götter.
Braam zweifelte nicht daran. Auch er vernahm diesen Ruf, von dem Tolos oft sprach, wenngleich er für Braam leiser klang und weniger
verständlich war.
Das würde sich ändern. So wie die Veränderung bei Tolos rascher fortschritt, mochten sich ihm auch die Beweggründe dieser
Veränderung und alles, was damit einherging, schneller erschließen.
Braam wußte, daß seine Zeit kommen würde. Er glaubte sogar, den Grund zu kennen, weshalb seine Veränderung zögerlicher
voranging. Immerhin war es ihm noch möglich, sich unter anderen zu bewegen. Er erregte kein Aufsehen in Azachuan, vorausgesetzt, er
gab ein wenig. acht.
Würde Tolos jedoch offen auftreten...
Braam schüttelte entschieden den Kopf. Nein, dafür war die Zeit noch nicht reif.
Er erreichte die weite Dschungellichtung, auf der die Stadt der Toten, einem Berg aus schwarzem Fels gleich, in die Höhe ragte.
Der Vergleich stimmte nicht mehr ganz. Seit dem Tag, als Tolos dem goldenen Vogel nachgestellt hatte, ähnelte die Nekropole eher
einem Vulkan. Der Gipfel war verschwunden, eingebrochen. An seiner Stelle klaffte nun ein gewaltiges Loch, ein Schlund wie ein
Krater.
Es hatte seither keine Bestattung gegeben. Deshalb war diese gravierende Veränderung unentdeckt geblieben. Kein Azache suchte aus
freien Stücken oder nur aus Neugierde die Stadt der Toten auf.
Vielleicht, dachte Braam, war auch dies - daß niemand gestorben war in der letzten Zeit - Teil jenes Geschehens, das Tolos und er in
Bewegung gesetzt hatten.
Ohne müde zu werden, stieg er bis an den Rand jenes Kraters hinauf, der Tolos und ihn verschlungen hatte. Seltsam, es kam Braam vor,
als läge das eine Ewigkeit zurück. Als sei es in einem anderen Leben gewesen, daß sich die Totenstadt geöffnet und ihr Geheimnis
preisgegeben hatte.
Dieser Vergleich, fand Braam, traf zu. Für Tolos und ihn hatte ein neues Leben begonnen, von dem andere nicht einmal träumen
konnten. Für ihn bedeutete diese Veränderung die Erfüllung seiner Sehnsüchte. Seither hatte er verlernt, was Angst war. Furcht und
Feigheit waren von ihm abgefallen, gerade so wie eine Schlange ihre alte Haut abstreifte.
Er grinste.
Der Abstieg über den Kraterrand hinab in die Tiefe war nicht ungefährlich. Trümmerstücke boten zwar einigermaßen Halt, aber sie
saßen nur locker. Entsprechend schnell kletterte Braam hinab, um die provisorischen Stufen nicht länger als unbedingt nötig mit seinem
Gewicht zu belasten.
Das Tageslicht erhellte nur das Rund unmittelbar unter der höher liegenden Öffnung. Jenseits davon herrschte nach allen Seiten hin nur
Dunkelheit.
Braams Augen stellten sich darauf ein. Und wenn er hier unten auch noch nicht so deutlich zu sehen vermochte wie Tolos, konnte er
sich immerhin orientieren und fand seinen Weg. Schnell und sicher bewegte er sich voran.
Er hatte es eilig.
Wenn Tolos der Erbe der Götter war, dann sah sich Braam als ihr verlängerter Arm; und wenn nicht für die Götter, so erfüllte er diesen
Zweck wenigstens für Tolos, der das Reich unter der Totenstadt seit Tagen nicht mehr verlassen hatte,
Braam hielt in Azachuan Augen und Ohren offen und informierte den Freund über alles, was in der Stadt geschah, insbesondere
natürlich darüber, was Meron und Adim taten.
Das, genaugenommen, nicht sehr viel war. Beide verhielten sich passiv Ihr neues Leben schien auslösendes Moment zu sein für
Entwicklungen, die ganz Azachuan betrafen. Wie ein Stein, der ins Wasser geworfen worden war und eine Wellenbewegung verursacht
hatte.
Die Stadt der Toten war kaum mehr als eine Maske. Sie verhüllte nur, was sich dahinter oder vielmehr darunter befand eine ganz eigene
und andere Stadt, nein, ein fremdes Reich, vielleicht sogar eine ganze Welt. Nicht zum ersten Mal dachte Braam genau diesen Gedanken
- daß dies hier die sagenhafte Welt der Götter sein mochte, in die sie angebhch zurückgekehrt waren, nachdem sie das Volk der Azachen geschaffen hatten. Vielleicht lag ihr Reich also gar nicht so weit entfernt, ganz zu schweigen davon, daß es für Sterbliche eben nicht unerreichbar blieb. Braams Überlegungen stockten an diesem Punkt. Womöglich war die Welt der Götter doch nicht zu erreichen für Sterbliche. Vielleicht
war es statt dessen so, daß er und Tolos keine Sterblichen mehr...
Er verscheuchte den Gedanken. Noch erschien ihm diese Idee anmaßend und frevlerisch.
Was immer es war, das unter der Nekropole der Azachen verborgen lag, es war riesig. In seiner Ausdehnung sicher größer als die Stadt,
die sich darüber türmte. Braam wußte nicht, wie weit sich dieses sonderbare Reich aus endlosen Gängen, Kammern und Hallen nach
allen Seiten hin erstreckte, denn weder hatte er bislang versucht, es zu erkunden, noch genügten seine Sinne, es zu erfassen - aber er
spürte diese gewaltige, unbegreifliche Größe, ganz einfach. Und er fühlte sich als Teil davon - mit jedem Mal, da er diese unterirdische
Welt betrat, ein kleines bißchen mehr. Ein grandioses, herrliches Gefühl von Größe, die mit Körperlichkeit nichts zu tun hatte.
»Braam! «
Selbst Tolos' Stimme klang fremd.
Sie kam aus dem Dunkeln, und Braam fühlte sich davon berührt wie von einer Hand, die ihn erfaßte und festhielt. Dennoch war sie es,
die noch am meisten mit jenem Tolos gemein hatte, den Braam von Kindesbeinen an gekannt hatte. Alles andere an ihm hatte sich völllg
verändert.
Hatte Braam eben noch daran gedacht, daß er sich fühlte wie eine Schlange bei der Häutung, so mußte er doch gestehen, dal3 dieser
Vergleich auf Tolos sehr viel mehr zutraf - wortwörtlich geradezu. Der Freund (waren sie das noch? Freunde? Oder ließ sich ihr
Verhältnis zueinander kaum noch mit einem Begriff dieser Sprache bezeichnen?) hatte in der kurzen Zeit, seit sie zuletzt miteinander
geredet hatten, auch noch den letzten Rest dessen verloren, was an den früheren Tolos erinnerte. Das immerhin vermochte Braam zu
erkennen, und fast empfand er Dankbarkeit dafür, daß seine Sehkraft hier unten nicht genügte, um alle Einzelheiten auszumachen...
»Tolos«, begann er mit rauher Stimme. Mitunter wollte ihm die Zunge nicht mehr recht gehorchen. Auch bei ihm schritt die
W'eränderung voran. »Geht es... dir gut?« fragte er dann.
Tolos lachte im Dunkeln, leise, heiser, krächzend. Das schaurige Geräusch pflanzte sich geisterhaft fort, verlor sich in der Ferne und
kehrte zurück, bis es, nach einer ganzen Weile erst, endlich verklang.
»Mir ging es nie besser«, gab Tolos zurück. »Keinem Menschen ging es je besser als mir. Als uns! Du wirst es noch feststellen.«
Braam nickte. »Ich weiß, was du meinst.«
Eine schattenhafte Bewegung dort, wo Tolos stand. »Es wird noch besser, glaub mir.«
Er wandte sich um und ging ein Stück zur Seite, bis zur Wand, die für Braam nur schwarzes Nichts war. Tolos jedoch strich mit der
Hand darüber, und Braam konnte das schabende Geräusch der Fingernägel hören; wohl wissend, daß es keine Fingernägel waren, die da
über die Wand kratzten - nicht mehr...
Flüchtig sah er auf seine eigenen Hände hinab. Auch deren Nägel waren schon lang und spitz geworden. »Erinnerst du dich daran, wie
du als Kind sprechen lerntest?« . fragte Tolos unvermittelt.
Die Frage überraschte Braam. Es dauerte einen Moment, bis er antwortete: »Nein... nicht richtig jedenfalls. Wie kommst du darauf?«
»Weil es mir so vorkommt, als lernte ich erst jetzt zu sprechen. Zu lesen und zu verstehen.«
»Ich verstehe noch immer nicht.«
»Du wirst, sei beruhigt. Auch du wirst es noch lernen. Und es gibt viel zu lernen, sehr viel.«
Tolos huschte davon, so schien es Braam jedenfalls. Die Finsternis schien ihn zu verschlucken, als er an der Wand entlangstrich und mit
den Klauen darüber fuhr.
»Zeichen«, war dann Tolos' Stimme von neuem zu vernehmen. »Jede Handbreit dieses Raumes und vieler anderer ist voll von Zeichen.
Hinterlassen von den Göttern selbst. Und ich lerne sie zu lesen. Zu verstehen, was sie sagen. Was die Götter selbst mir zu sagen haben."
Als Braam unvermittelt vor der Wand stand, sah er erstmals, daß sie nicht leer war. Glattpoliert zwar wie nichts anderes, was Braam
kannte, vielleicht nicht einmal aus Stein, wie er bislang zumindest vermutet hatte. Aber nicht leer. Unverständliche Zeichen befanden
sich darauf, auch sie von einer Art, die Braam nie zuvor gesehen hatte. Ineinander verschlungene Linien und Symbole reihten sich
aneinander und untereinander, und Tolos behauptete, ihren Sinn zu erkennen und zu verstehen.
Braam fühlte sich wie im Fieber. Würde er wirklich lernen, diese Zeichen zu deuten? Würde sich ihm dann erschließen, was die Götter
hinterlassen hatten?
»Was geschieht in Azachuan?«
Braam schrak fast zusammen, als Tolos ihn ansprach. Lautlos wie ein Geist war der andere hinter ihn getreten.
„Deshalb bin ich gekommen«, begann Braam. Dann berichtete er, was sich in der Stadt zugetragen hatte und was man sich darüber
erzählte.
Als er fertig war, schwieg Tolos zunächst. Wieder streifte er an der Wand entlang, erweckte den Eindruck, als suche er etwas ganz
Bestimmtes, abermals verschwand er im Finstern.
.Als er zu Braam zurückkam, sagte er: »Ruun also ist eingefahren in Meron?«
»So heißt es«, bestätigte Braam.
»Ich frage mich, welcher der Götter Adim erwählt hat.« »Darüber weiß niemand etwas. Adim hat das Haus ihres Vaters nicht verlassen,
und weder Valeen noch der Hohe Rat sprechen über sie.«
Tolos nickte nachdenklich. »Dennoch, es paßt alles zusammen.« »Wie meinst du das? Was paßt wozu?«
»Was in Azachuan geschieht, steht in diesen Zeichen.« Tolos deutete auf die Wand.
»Du meinst... es wurde von den Göttern selbst. prophezeit?« Braam klang atemlos.
»Noch verstehe ich nicht alles - aber es genügt, um Zusammenhänge zu erkennen. Mehr noch, ich glaube sogar, daß nichts zufällig
geschieht. Es war unsere Bestimmung, den goldenen Vogel zu jagen, es war bestimmt, daß Adim und Meron dafür hingesichtet wurden,
auf daß ihre Leiber frei wurden für die Götter.« Er sprach nicht weiter.
»Und wir?« hakte Braam schließlich nach.
»Wir sind die Vollstrecker ihres Willens. Die Götter wirken durch uns«, erklärte Tolos in feierlichem Ton.
»Dann weißt du, was weiter zu geschehen hat?« »Ja«, sagte Tolos. »Ein neues Volk soll entstehen.« »Ein neues Volk?« echote Braam.
»Es ist der Lauf der Dinge, daß Altes weicht, wenn Neues kommt. Darauf beruht das Wirken der Götter.«
Braam schwieg. Er fröstelte. Die Vorstellung dessen, was Tolos andeutete, bereitete ihm Unbehagen. Wenn auch nicht so schlimm, wie
es noch vor Tagen gewesen wäre.
»Die Geschichte wiederholt sich«, sagte Tolos. »Ein neues Volk entsteht, und es geschieht auf jene Weise, wie einst das unsere
begründet wurde. Die Götter selbst erwählen die Gründer dieses Volkes, und ihre Nachfahren werden das Volk führen. Als Volkväter. «
Tolos' Worte hallten im Dunkel von den Wänden wider. Braam glaubte das Gewicht ihrer Bedeutung zu spüren, als sei ihm eine
unsichtbare Last auf die Schultern geladen worden.
Inzwischen fühlte er sich stark genug, sie zu tragen.
»Was erwarten die Götter von uns?« wollte er wissen. »Was werden wir tun?«
Tolos trat wieder näher zu ihm.
»Das, mein Bruder, der du mir Arm und Auge und Ohr bist, will ich dir sagen...«
Es hatte Tom Ericson kaum Mühe bereitet, seinen Vater dazu zu bewegen, sie allein zu lassen. Wenn Valeen auch anzusehen gewesen
war, daß er die Fragen, die ihn bewegten, kaum zurückhalten konnte, war er auf die Bitte seiner Tochter doch eingegangen - ein
weiterer Beweis dafür, wie sehr er Adim liebte.
Wie unsagbar schwer mußte es ihm gefallen sein, seine Tochter zum Tode zu verurteilen und die Vollstreckung selbst zu befehlen? Wie
unvorstellbar grausam mußte der Schmerz gewesen sein, der deswegen in ihm getobt hatte? Und...
...woher zum Teufel ueiß ich das alles? fragte sich Tom erstaunt und erschüttert gleichermaßen.
Seine Gedanken hatten sich verselbständigt und waren eigene Wege gegangen. Nur, waren das wirklich seine Gedanken gewesen?
Einmal mehr drohte ihm schwindlig zu werden, und einmal mehr behalf er sich damit, nicht weiter über die Fragen nachzudenken, die
in ihm hochquollen. Tom dachte an Raoul, den Kreuzritter, doch diesmal war vieles anders - vor allem war er nicht allein gekommen.
Gudrun, die damals bei den Aborigines gewesen war, war diesmal bei ihm, in seiner Nähe. Es konnte gar nicht anders sein, weil sie
neben ihm gestanden hatte, als... Die Erinnerung schlug Kapriolen, als versuchten Adims Gedanken, sich in den Vordergrund zu
drängen.
Gudrun, dachte Tom Ericson, macht diese Erfahrung zum ersten Mal. Es muß wie ein Schock für sie sein. Mit einem unwilligen Kopfschütteln wischte er alle Überlegungen beiseite und wandte sich Meron zu, dem jungen Mann, den er aus
irgendeinem Grunde für Gudrun hielt.
Wieso fühlte er sich ihm auf so sonderbare Weise zugetan? Wieder hatte er das Gefühl, hinter seiner Stirn würde ein Sturm entfesselt,
der Gedanken aufgriff wie welkes Laub und durcheinander wirbelte. Diesmal ließ sich dieser Sturm nicht besänftigen, indem Tom
kurzerhand aufhörte, nachzudenken. Er konnte es nicht. Es lag nicht in seiner Macht zu bestimmen, was er tun und denken wollte;
irgend etwas Anderes hatte ihm das Heft aus der Hand genommen...
Nein, nicht irgend etwas, sondern - jemand. Der zudem jedes Recht dazu besaß.
Die Welt, die Tom durch fremde Augen sah, begann zu schwanken. Dann fing sie an, sich zu drehen. Als stünde er inmitten eines
Karussells, das Fahrt aufnahm und schneller und schneller wurde.
Ein Karussell... Was ist das? Tom hörte die Stimme, hörte sie in sich, in seinem Kopf. Nein, nur in diesem Kopf, der nie zu Tom Ericson gehört hatte, der...
Der Boden unter ihm schien sich aufzubäumen. Tom geriet ins Taumeln, versuchte mit ausgestreckten Armen Halt zu finden. Dann
stürzte er.
Der Boden sprang auf ihn zu, dennoch vermißte er das Gefühl, wirklich zu stürzen. Es kam ihm vielmehr vor, als beobachte er nur, wie
ein Fremder stürzte.
Aus den Augenwinkeln heraus registrierte er eine Bewegung. jemand eilte zu ihm, faßte nach ihm, hielt ihn fest. Zog ihn an sich. Gab
ihm unvermittelt das Gefühl von Geborgenheit. Als sei ihm die Berührung dieser Arme nicht fremd, sondern seit langem schon vertraut.
»Adim?« Ein Flüstern an seinem Ohr, das ihn wohlig schaudern ließ.
Mein Gott, was geschieht... Er brachte den Gedanken nicht zu Ende. Ein anderer bestimmte plötzlich, was dieser Körper tat und dachte:
Adim, Tochter des Volkvaters Valeen?
Sie bestimmte, daß er sich nicht gegen die Umarmung wehrte und sich an die nackte Brust Merons schmiegte. (Nein, nicht Meron -
»Gudrun!« wollte Tom schreien. Er konnte es nicht.)
Vielmehr hörte er sich sagen: »Meron, was ist mit uns geschehen?«
Und Meron erwiderte, so nah an seinem Ohr, daß Tom den Hauch seines Atems spüren konnte: »Ich weiß es nicht... Und es, ist jetzt
auch nicht wichtig. Laß uns nicht reden, sondern dieses` Geschenk, das uns gemacht wurde, nutzen. Wer weiß, wie lange wir es
behalten dürfen?«
Adim nickte. Bebend ließ sie zu, was Meron tat. Sie gab sich seiner Männlichkeit hin, genoß sein Eindringen und seine Umarmung wie
nie zuvor.
Und Tom Ericson machte die außergewöhnlichste Erfahrung seines Lebens. Die außergewöhnlichste Erfahrung vielleicht, die je ein
Mann gemacht hatte. Alles in ihm sträubte sich dagegen. Er wollte diesen jungen, ungestümen Mann von sich stoßen, aber dann glaubte
er wieder, Gudrun in ihm zu sehen und ließ seiner Erregung freie Bahn.
Warum war alles nur so kompliziert und sinnverwirrend?
»Es muß etwas geschehen!«
Zustimmendes Raunen erklang in der Runde. Die Räte nickten, bedächtig und würdevoll, wie es ihre Art war.
Takin hatte die Ratsversammlung einberufen, an einem versteckten Ort, tief in den Gewölben des Palastes und ohne Wissen des
Volkvaters. Denn um den Volkvater ging es; darum, daß er offenbar nicht mehr zum Wohle aller entschied und handelte, daß ihm die
eigene Person und seine persönlichen Belange wichtiger geworden waren als alles andere.
Nicht alle Räte hatten sich eingefunden. Weil Takin nicht alle geladen hatte. Er kannte jeden einzelnen und wußte, wer zu weit auf
Valeens Seite stand, als daß er auch nur das Wort gegen den Volkvater erhoben hätte.
Jene jedoch, die sich versammelt hatten, jedoch beäugten die jüngsten Entwicklungen in Azachuan mit demselben Mißfallen wie Takin.
Sie hatten nur eines Anstoßes bedurft, um zu beratschlagen, wie die alte Ordnung wiederherzustellen sei, freilich unter Berücksichtigung
der sonderbaren Dinge, die sich ereignet hatten.
»Valeen denkt nicht mehr mit klarem Geist«, wandte sich Takin an die Runde. »Daß seine leibliche Tochter in die Geschehnisse
verwickelt ist, trübt seinen Blick und den Verstand«
»Was schlägst du vor?« fragte einer.
Takin hob die Hand. Er hatte sich die Worte, die er an die Hohen Räte zu richten gedachte, lange überlegt, und er wollte sich nicht
davon abbringen lassen.
»Wir sind uns einig darüber, daß etwas höchst Wundersames geschah. Ich bezweifle nicht, daß die Götter selbst ihre Hand im Spiel
haben. Auch das Volk ist sich dessen gewiß. Valeen jedoch hält alle Erkenntnisse zurück und läßt nicht zu, daß der Rat sich in
angemessener Weise mit der Sache befaßt.«
Er setzte eine markante Pause, ehe er weitersprach: »Das Volk hat Fragen, genau wie wir. Und es hat ein Recht zu erfahren, was
geschieht. Wie es dazu kommen konnte, daß zwei Hingerichtete aus dem Land der Toten zurückkehrten.«
Beipflichtendes Murmeln und Nicken. Eine Wellenbewegung durchlief die Schatten der Räte, die sich auf den Gewölbemauern ringsum
abzeichneten.
»Wenn der Volkvater nicht willens ist, alle Fragen zu beantworten«, meinte Takin, »dann werden wir unsere Pflicht als Hohe Räte tun
und die Antworten selbst finden.«
»Wie stellst du dir das vor?« kam die Frage aus der Runde. Ein paar andere nickten.
»Der Hohe Rat«, begann Takin, »ist mehr als nur Zierrat. Wir sind dem Volkvater zur Seite gestellt, um ihm zu helfen, ihn zu beraten
und - im Falle eines Falles - einzugreifen, wenn er unvorhergesehenen Ereignissen allein nicht gewachsen ist.«
Takin ließ den Blick über die Runde schweifen und schaute schweigend von einem Gesicht zum anderen. Er las die Erwartung in den
Mienen, und bei dem einen oder anderen noch immer leisen Zweifel oder gar einen Hauch von Verunsicherung.
»Meine lieben Freunde«, sagte er dann gemessenen Tones, »ich bin der Ansicht, daß ein solcher Fall eingetreten ist.« Verhaltene
Unruhe machte sich breit. Die Räte rückten hin
und her, als seien ihnen die steinernen Bänke plötzlich unbequem geworden.
Bis einer die Frage stellte, die alle bewegte.
»Takin -willst du damit sagen, daß wir den Volkvater entmachten sollen?«
Der Angesprochene ließ sich Zeit mit seiner Erwiderung. Er wartete, bis das Raunen abklang, bevor er den anderen mit einer Geste
gebot, gänzlich zu schweigen.
»Ich sehe keinen anderen Weg. Wenngleich ich nicht unbedingt von einer Entmachtung reden will. Ich betrachte solches Handeln eher
als Hilfe: für Valeen, für alle.«
»Das wird zu Unruhen führen, wie wir sie noch nicht erlebt haben - wie es sie noch nie gab in der Geschichte der Azachen!" »Unruhe
herrscht bereits«, erinnerte Takin. »Wir können ihr nur begegnen, indem wir dem Volk Gewißheit geben. Dazu müssen wir in Erfahrung
bringen, was Valeen uns möglicherweise vorenthält. «
Er hob wie entschuldigend die Schultern.
Die Stimmung um ihn her schlug zögerlich, aber spürbar zu seinen Gunsten um. Takins sorgfältig gewählten Worte hatten ihre Wirkung
nicht verfehlt.
»Was schlägst du vor?« fragte jener Rat, der eben schon geredet hatte. Eem war sein Name. Er hatte schon unter Valeens Vorgänger das
Amt eines Hohen Rates bekleidet. Und Takin wußte, daß Eem seit jeher nicht sonderlich glücklich war über Valeens eher lockeren
Umgang mit den Traditionen. Ihn auf seine Seite zu ziehen, das war Takin klar, bedeutete einen großen Schritt nach vorne. Andere,
momentan vielleicht noch Unentschlossene, würden Eems Beispiel folgen.
»Wir sollten Valeen um eine Unterredung ersuchen und ihn über unsere Bedenken in Kenntnis setzen«, erklärte Takin. »Vielleicht wäre
es klug, wenn wir ihm nicht alle gegenübertreten, sondern eine Abordnung entsenden, die ich gerne führen werde. Damit räumen wir
dem Volkvater die Möglichkeit ein, sich doch noch zu besinnen und Vernunft anzunehmen. Sollte er sich unserem berechtigten
Anliegen jedoch verweigern...«
Takin ließ den Rest unausgesprochen und streckte die Hände mit den Handflächen nach oben aus, wie um zu signalisieren, daß alles
weitere nicht in seiner Macht lag, sondern Wille der Götter sei.
Sein Vorschlag wurde angenommen und fünf Räte bestimmt, die sich zu einer Audienz bei Valeen einfinden würden, unter ihnen Takin
selbst und der ehrwürdige Eem.
Takin löste die Versammlung auf und versicherte den anderen abgeordneten, daß er sich beizeiten mit ihnen in Verbindung setzen
würde. Dann verließen die Räte das unterirdische Gewölbe. Zurück blieb nur Takin.
Als draußen die letzten Schritte und Stimmen verklungen waren, wandte er sich um, trat wieder in die Mitte des Raumes, und hätte ihn
jemand gesehen, hätte dieser angenommen, der Hohe Rat führe ein Selbstgespräch, denn er richtete seine Worte scheinbar ins Nichts.
»Nun? Was sagst du? Bist du zufrieden mit dem Lauf der Dinge«
Der flackernde Schein der Feuer, die in tonnenartigen Behältnissen brannten, leuchtete nur das Zentrum des Gewölbes aus. Der Rest des
Raumes verlor sich im Dunkel. Und dort entstand schattenhafte Bewegung, als sich aus dem Schutz einer Säule eine Gestalt löste.
Heiser lachend trat sie näher, blieb am Rand von Licht und Schatten stehen. Sie trug eine weite Kutte, deren Kapuze sie jetzt
zurückschlug.
Der Anblick des Gesichts darunter veranlaßte Takin, sich unbewußt am Arm zu kratzen. Dann am Kinn. Ein Gefühl, als krabbelten
Tausende von Ameisen auf seiner Haut, hatte sich seiner plötzlich bemächtigt.
Er kannte den anderen. Lange schon. Aber erst seit kurzem wußte er von der seltsamen Veränderung, die geschah. Dennoch würde er
sich wohl nie an den veränderten Anblick gewöhnen.
Sein Gegenüber merkte, was mit Takin vorging, und grinste dünn.
»Das geht vorbei, keine Sorge«, versicherte er. Takin hörte auf, sich zu kratzen,
»Und um auf deine Frage zu antworten«, fuhr Braam fort, »ja, ich bin zufrieden. Sehr sogar.«
Braam rieb sich die Hände. Ein Geräusch wie von welkem Laub raschelte durch das Gewölbe.
Takin war gegangen. Braam blieb noch.
Er wollte nicht nur Zwietracht säen. Auch, natürlich, aber in erster Linie war es ihm darum gegangen, eine ganz andere Saat
auszubringen. Dazu war es erforderlich gewesen, die Räte - oder wenigstens die Mehrzahl von ihnen - an einem Ort zu versammein.
Deswegen hatte sich Braam der Hilfe Takins versichert und ihn zuerst mit dem beladen, was Braam längst nicht mehr als Fluch
betrachtete. Ein Segen war es, gegeben von den Göttern selbst, und er, Braam, war auserwählt, ihn weiterzutragen.
Takin hatte den Keim als erster erhalten, inzwischen trugen ihn auch jene Räte in sich, die der Aufforderung gefolgt waren und sich im
Gewölbe eingefunden hatten.
Nun mußte die Saat gedeihen.
Braam wußte aus eigener und längst nicht mehr leidvoller Erfahrung, daß nicht sehr viel Zeit vergehen würde. Er hatte nur die Dinge im
Auge zu behalten und zu reagieren, sobald die Saat Früchte trug und die Zeit reif war.
» Gudrun? «
Was immer Tom Ericsons Ich vorhin - vor einer kleinen Ewigkeit, wie ihm schien - unterdrückt und in die Tiefe eines lichtlosen
Kerkers verbannt hatte, war gewichen. Der lange Liebesakt hatte den anderen Geist erschöpft und Tom die Herrschaft über den Körper
zurückgegeben.
Dennoch empfand auch er selbst etwas von dieser wohligen Mattigkeit, die nach der körperlichen Liebe folgte.
Nur, dieser Akt war anders gewesen als alles, was Tom je in dieser Hinsicht erlebt hatte. Diesmal hatte er es im Körper einer Frau getan,
und er hatte empfunden wie eine Frau, mit allen Sinnen. Eine zutiefst verwirrende Erfahrung, bestürzend beinahe und so völlig anders,
daß Tom nicht einmal für sich wußte, wie er es beschreiben sollte.
Hinzu kam, daß er mit Gudrun geschlafen hatte. Oder? Und sie hatte den Part des Mannes innegehabt! Wahnsinn...
Tom schloß die Augen, als ihm erneut schwindlig wurde. Diesmal aber nicht, weil Adim die Kontrolle über den Körper zurückforderte,
sondern weil alles so verrückt war, daß sein Verstand sich immer noch dagegen sträubte - obwohl er durchaus schon Dinge erlebt hatte,
an denen die allermeisten Menschen verzweifelt wären.
Der junge Mann neben ihm, der zwar Meron hieß, in dem Tom aber doch Gudrun sah, regte sich nicht. Er lag neben dem :Mädchen, das
er eben noch mit Hingabe und Ausdauer geliebt hatte, als sei er...
Alarmiert richtete sich Tom auf und beugte sich zu Meron hinüber. Nicht auszudenken, wenn die Erschöpfung ihn erneut und diesmal
endgültig - getötet hätte.
Toms Herz begann zu rasen.
Das schmerzhafte Pochen unter seinen mädchenhaft festen Brüsten ließ erst nach, als er sah, daß Meron - und damit Gudrun - zwar
flach, aber gleichmäßig atmete.
Tom berührte ihn an den Schultern und schüttelte ihn. Erst sanft, dann kräftiger. Und dabei rief er ihren Namen:
»Gudrun? Hörst du mich? Wach auf, Gudrun!«
Merons Augen begannen unruhig hinter den geschlossenen Lidern zu zucken.
Rapid Eye Movement...
Dann, blitzschnell, schlug der junge Mann die Augen auf. Seine Lippen bewegten sich und formten ein hingehauchtes Wort: »Tom.«
Nicht fragend, nicht zögernd. Auf genau die Weise, wie Gudrun ihn stets angesprochen hatte.
Ericson konnte nicht in Worte fassen, was das Besondere daran war. Genaugenommen konnte es eine solche Besonderheit
nicht einmal geben. Nur drei Buchstaben - wie sollte jemand einen Namen dieser Kürze besonders betonen und aussprechen?
Trotzdem war es so. Aus Merons Mund sprach Gudrun, und obwohl seine Augen nicht die mindeste Ahnlichkeit mit katzenhaft grüner
Iris hatten, fühlte Tom eindeutig, daß sie ihn ansah.
»Tom?« erklang es erneut, diesmal fragend und noch mehr zweifelnd.
Er lächelte und nickte. Nach wie vor vibrierte jede Saite in ihm, und wenn es ihm möglich gewesen wäre, sie jetzt, in diesem
Augenblick, in ihrem richtigen Körper in die Arme zu schließen... »Ich bin es, Gudrun.«
»Aber... «
Er wußte, welche Frage ihr auf der fremden Zunge lag. Weil er selbst unaufhörlich die Antwort gesucht hatte.
»Ich weiß nicht, was genau geschehen ist«, sagte er, »vor allem nicht, wohin es uns verschlagen hat. Aber wir werden es herausfinden.
Du und ich, miteinander.«
Meron richtete sich auf die Ellbogen auf und blickte an seinem nackten Körper herunter.
»Oh«, entfuhr es Gudrun dennoch. »O mein Gott!«
Tom grinste schief und berührte vorsichtig mit beiden Händen seine Brüste. »Was soll ich erst sagen?« seufzte er.
»Süß«, meinte Gudrun und brachte ein ansatzweise verwegenes Lächeln zustande.
»Macho«, schnaubte Tom. »Laß dir ja nicht einfallen, mich nur als Lustobjekt zu sehen.«
Irgendwie tat die Flachserei gut. Sie half über die Ungewißheit und den Berg unbeantworteter Fragen hinweg. Vorerst wenigstens.
Gudrun wurde als erste wieder ernst und fragte: »Tom, wo sind wir? Was ist passiert?«
»Woran erinnerst du dich?« stellte Tom Ericson die Gegenfrage.
Gudrun sah an ihm vorbei ins Nichts. Sie dachte nach und versuchte angestrengt, sich zu erinnern.
»Brasilien«, sagte sie dann. »Ruinen, die bei Straßenbauarbeiten entdeckt wurden...«
Tom nickte bedächtig. »Ja, genau. Und dann...«
»Die Bundeslade!« entfuhr es Gudrun fast heftig. »Diese Gravur in der Wand, das muß die Bundeslade gewesen sein!«
Ihre Hand griff unbewußt zum Hals, doch die Finger fanden den Anhänger nicht, der die Bundeslade darstellte. Wie auch es war weder
ihre Hand noch ihr Hals, und infolgedessen trug sie die Kette mit dem einmaligen Schmuckstück nicht.
»Aber... wie sind wir hierher gekommen? Und wo ist dieses Hier?« fragte sie halblaut, wie im Selbstgespräch. »Vergangenheit«, meinte
Tom knapp. »Es gibt keine andere Möglichkeit.«
Gudrun nickte. »Du hast recht, natürlich. Trotzdem beantwortet das unsere Fragen nicht...«
»Mich interessiert eigentlich nur eines: Wie kommen wir wieder zurück?«
»Auf dem umgekehrten Weg, auf dem wir...«
Tom Ericson funkelte die Anthropologin wütend an.
»Da war die defekte Anlage zur zeitlosen Ortsversetzung. Vielleicht...« Gudrun stockte, und Merons Gesicht wurde schlagartig bleich
wie eine frisch gekalkte Wand.
»Rede ruhig weiter!« forderte Tom. »Du willst sagen, daß wir nicht körperlich in unserer Gegenwart versetzt wurden, sondern statt
dessen in die Vergangenheit, liegt an einer Fehlfunktion. So wie dieser Biologe Matjörn vor dem Bus verschwand, ohne daß der
Vorgang von etwas Anderem als der Sprengung verursacht worden sein kann.«
»Vielleicht wurde Matjörn auch in diese Zeit versetzt. Sein Körper...«
»...war mumifiziert.« Tom Ericson ließ eine wenig freundliche Teststellung aus dem Mund des jungen Mädchens folgen. »Das Risiko,
daß es uns ebenso erwischt hat, müssen wir eingehen.«
„Warum suchen wir dann nicht nach der Anlage? Sie könnte heute schon hier irgendwo existieren. Ich bin mir sogar sicher, daß es so
ist.«
» Und die Zeichnung der Bundeslade zeigt uns den Weg. Aber ich will wissen, warum ausgerechnet die Bundeslade? Der Kasten an sich
könnte jede mögliche Bedeutung haben. Aber der Dekkel mit den beiden Engelsgestalten und ihren weit ausgebreiteten Flügeln, die sich
in der Mitte berührten, war unverkennbar.
Wer immer dieses Bild in den Fels geritzt hat, muß die Bundeslade gekannt haben. Gab es demzufolge eine Verbindung zwischen dem
heutigen Nahen Osten und Brasilien?«
Meron grinste schräg.
»Vielleicht mit einem Raumschiff?«
Das aus dem Mund eines bis auf den Lendenschurz nackten Indianers zu hören, der womöglich schon lange Zeit vor Christi Geburt
gelebt hatte, klang mehr als nur befremdlich. Wenn Tom nicht genau gewußt hätte, daß es Gudrun war, die diese wahnwitzige
Behauptung so gelassen aussprach...
»Aber das ist nicht unser einziges Problem«, fügte sie bissig hinzu. »Vergiß das nicht.«
Tom hielt betroffen inne. »O ja, natürlich.« Er berührte fast zaghaft seine nackte Brust - die Brüste einer jungen Frau - und lachte kurz
und trocken auf. »Weißt du, ich glaubte immer, wenn ich eine Frau wäre, würde ich den ganzen Tag meine Brüste streicheln. «
»Und?« »Macht irgendwie doch keinen Spaß.« » Idiot. «
»Idiotin, bitte!« protestierte Tom. »So viel Zeit muß sein.« »Also«, kam Gudrun auf den Punkt zurück, »irgendeine Erklärung, wieso es
uns ausgerechnet in diese fremde Epoche verschlagen hat?«
Tom schüttelte den Kopf. »Nicht aus dem Stand jedenfalls: Aber...« Er sah Gudrun an. »Hast du auch das Gefühl, als würdest du nur...
na ja, nur mit halber Kraft denken? Als sei dein Bewußtsein eingeschränkt?«
Gudrun schien in sich zu lauschen, wie um eine Antwort auf Toms Frage zu finden. Dann nickte sie langsam.
»Meron ist hier, das habe ich eigentlich schon lange festgestellt.«
»Ich meine etwas anderes«, wehrte der Archäologe ab. »Und das wäre?«
»Die Antworten, die wir suchen - liegen in uns selbst. Auf einer anderen Bewußtseinsebene vielleicht oder tief verborgen.« »Und das
heißt?«
Tom lächelte, und es war nicht das Lächeln des Mädchens, in dessen Leib er steckte, sondern Tom Ericsons ganz eigenes verwegenes
und zugleich jungenhaftes Grinsen.
»Das heißt«, begann er fast feierlich, »daß wir das tun müssen, was wir schon seit Jahren tun - und einigermaßen können. Wenn auch
diesmal in anderer Form und auf ganz neuem Terrain.«
»Du meinst...« Gudrun verstummte zweifelnd.
Tom nickte. »Genau. Wir müssen wühlen, buddeln. Dieses andere Wissen in uns ausgraben!«
10. Kapitel Eine viermotorige Propellermaschine der Thai Airways brachte Valerie am nächsten Vormittag nach Chiang Mai im sanft bergigen
Norden Thailands. Die Provinzhauptstadt brachte das Kunststück fertig, sich den Charme eines verschlafenen Nestes weitestgehend
behalten zu haben und gleichzeitig eines der Hauptziele des internationalen Rucksacktourismus zu sein. Zeitweise fielen gleichzeitig
Zehntausende auf diese Art Reisende aus aller Herren Länder ein. Die Stadt verkraftete es auf beeindruckend asiatisch-gelassene Weise.
Vielleicht deshalb, weil man sich hier im Schnittpunkt etlicher uralter Handelswege befand und seit jeher darauf eingestellt war, fremde
Reisende - in erster Linie Händler - aufzunehmen. Auf den Märkten herrschte noch heute ein kunterbuntes Gemisch aller möglichen
Sprachen. Allein in der näheren Umgebung von Chiang Mai wurden von den Bergstämmen noch Aberdutzende verschiedener Sprachen
gesprochen.
Für all diesen Facetten einheimischen Lebens hatte Valerie wenig Aufmerksamkeit übrig. Sie traf ihren Kontaktmann in der Nähe des
Flughafens. Es handelte sich um einen verschwiegenen Einheimischen mit einem vernarbtem Gesicht und einem dünnen Oberlippenbart.
Von Anfang an beschränkte er sich nur auf die notwendigsten Worte und schien einzig daran interessiert zu sein, den Auftrag zu
erledigen. Es machte ihn Valerie von Anfang an sympathisch. Er schien ein Mann zu sein, auf den man sich verlassen konnte. Warum
hätte Goldstein ihr auch einen Laien vermitteln sollen?
Der Mann - sein Name war Kung Lao - führte sie zu einer kleinen, einmotorigen Propellermaschine, die ihre besten Tage schon lange
hinter sich hatte. Ein Tourist hätte sich ihr wahrscheinlich nie anvertraut. Aber Valerie verließ sich darauf, daß Dung Lao wußte, was er
tat. Er machte keineswegs den Eindruck eines Selbstmörders.
Bald waren sie in der Luft, und der Flug ging weiter in Richtung Norden.
Wo immer es möglich war, folgte der Pilot den langgezogenen Tälern der sanft geschwungenen Gebirgslandschaft. Soweit das' Auge
reichte, breitete sich unter ihnen das grüne Dickicht des Dschungels aus.
Nein, das war nicht ganz richtig, stellte Valerie fest, als sie nur ein paar Täler weiter waren. Es gab auch weitläufige Gebiete, die fast
vollständig abgeholzt oder durch Brandrodung zerstört waren. Sie wußte, daß dies für Thailand ein beständig ernster werdendes
Problem darstellte. Während der Regenzeiten konnten die immensen Wassermengen nicht mehr gespeichert werden, und gigantische
reißende Ströme und Schlammlawinen ergossen sich ins Tiefland. Und diese bedrohten die vielen Staudämme, die teilweise nur durch
die kompromißlose Durchleitung der Fluten gerettet werden konnten. Es war nur eine Frage der Zeit, wann der erste von ihnen unter
dem Ansturm endgültig bersten würde. Die Uhr tickte ständig lauter.
Valerie schaute aus dem Fenster. Es war nicht zu erkennen, wann sie die Grenze nach Burma überflogen. Es gab keine Grenzposten,
keine Befestigungen, und auch Ortschaften waren nicht zu sehen. Nur endloser Dschungel oder gerodete Flächen. Valerie war nicht
allzu verwundert darüber. Der Pilot hatte seine Route sicherlich möglichst über unbewohntes Gebiet gewählt. Wenn sie hier mit seiner
Maschine abstürzten, konnte es Jahrzehnte dauern, ehe jemand sie fand.
So unschuldig und unberührt die Bergwelt unter ihnen aussah - es handelte sich um ein äußerst gefährliches Gebiet. Denn dieses
Dreiländereck zwischen Thailand im Süden, China im Norden, und Burma im Westen bildete das berühmte Goldene Dreieck, das für
seine Rauschgiftproduktion berüchtigt war. Schätzungen zufolge stammte die Hälfte des Heroins und der Amphetamine auf dem
gesamten Weltmarkt aus dieser Gegend. Bis hierher reichte keiner der offiziellen Arme der jeweiligen Regierungen, und der
undurchdringlich erscheinende Dschungel machte klar, warum dem so war. Statt dessen tummelten sich hier die verschiedensten
bewaffneten Milizenbanden, die sich allesamt ein Stück von dem lukrativen Drogenkuchen abzuschneiden versuchten. Vor zwei, drei
Jahrzehnten hatte das noch genauso für die nordthailändischen Gebiete um Chiang Mai und Chiang Rai gegolten, doch dort hatte man
mittlerweile den Tourismus als die
sicherere Einkommensquelle entdeckt.
Es war schon später Nachmittag, als endlich irgendwo unter ihnen eine holprige, kleine Piste in Sicht kam, die der Pilot ansteuerte. Es
war zu sehen, daß in der Nähe eine unbefestigte Straße verlief. Für hiesige Verhältnisse handelte es sich um einen supermodernen
Highway.
Holpernd und bockend setzte die Maschine auf. Niemand schien die Landung zu bemerken. Wenig später rollten sie aus. Der Pilot
deutete zur Straße. »Wenn Sie ihr in dieser Richtung
Folgen, sind Sie in einer halben Stunde in Kengtong.« Valerie nickte.
»Ich hole Sie wieder ab, wenn ich das Signal bekomme.« Und wie in einem Anfall von Redseligkeit fügte er hinzu: »Und vergessen Sie
nicht: Sie haben nur einen Versuch, und wenn ich irgend... «
»...wenn Sie irgendwelchen Ärger am Boden entdecken, hauen Sie gleich wieder ab«, ergänzte sie. »Ich weiß.«
»Gut«, sagte er, als wäre damit alles geklärt.
Er wünschte ihr kein Glück, als sie austieg. Und er hatte auch keinen Abschiedsgruß für sie übrig. Statt dessen schlug er einfach die Tür
zu, wendete und rollte wieder auf die Piste hinaus.
Nur Sekunden später war die Maschine aufgestiegen und wurde zu einem kleinen Punkt, der summend und brummend in der Ferne
verschwand.
Valerie schaute sich ein wenig verloren um und scheuchte mit einer Handbewegung die Fliegen und Moskitos davon, die sich offenbar
davon überzeugen wollten, wer sie da so überraschend besuchen gekommen war.
Sie schnallte sich den kleinen Rucksack um, den sie sich am Morgen noch in Bangkok gekauft hatte. Mit ihm wirkte sie als
Alleinreisende in dieser Gegend wohl überzeugender als mit einer lächerlichen Reisetasche. Dann begab sie sich zur Straße und begann
ihre Wanderung. Wie hatte der Pilot gesagt - eine halbe Stunde, dann war sie in Kengtong?
Hoffentlich hatte er recht! Schon nach fünf Minuten war sie schweißüberströmt, und von dichten Mückenschwärmen eingehüllt. Dabei
hatte die Dämmerung noch nicht einmal eingesetzt.
Valerie horchte auf, als sie hinter sich das Knattern eines alten LKWS hörte, der sich über die holprige Strecke quälte. Sie bliebe stehen
und winkte freudig dem Fahrer zu, dem fast die Augerl aus den Höhlen fielen, als er Valerie mitten im Dschungel entdeckte.
Mit einer Vollbremsung kam der Wagen zum Stehen.
Valerie hatte Glück. Auf Englisch konnten sie sich verständegen, und er willigte ein, sie nach Kengtong mitzunehmen. Dabei starrte er
sie aus den Augemvinkeln kaum verhohlen an.
Er stellte es sofort ein, als Valerie wie zufällig erwähnte, daß sie' sich hier mit ihrem Mann treffen wollte, der ebenfalls Weltenbummler
war. Das Wort »Mann« wirkte. Sie war verheiratet und damit tabu, jedenfalls für einen ehrenhaften Mann wie ihn. Hätte sie statt dessen
von einem imaginären Freund gesprochen, hätte es nicht funktioniert. Für eine Partnerschaft auf dieser Basis fehl-i te den Einheimischen
jegliches Verständnis. Entweder man war verheiratet oder zu haben.
Während des Gesprächs lernte Valerie den Mann als jemanden kennen, der für seinen Boß in Kengtong Fracht fuhr, während er
insgeheim davon träumte, sich mit einem kleinen Restaurant oder einer Herberge selbstständig zu machen. Er hoffte, daß hierher bald
ebenso viele Touristen kamen wie in den Norden Thailands.
Valerie schwieg. Was hätte sie dazu auch sagen sollen? Daß sie bei der derzeit rigiden einreise- und touristenfeindlichen Politik der
burmesischen Militärregierung so schnell keine Chance dazu sah?
Sie horchte auf, als er davon sprach, daß seine Schwester das bereits geschafft hatte. »Wie bitte? Ihre Schwester hat ein Restaurant in
Kengtong?«
»Nicht gerade ein Restaurant. Aber essen kann man dort sehr gut. Und sie hat eine kleine Herberge.«
»Das ist genau das, was ich suche«, meinte Valerie.
Er sah sie dankbar an. »Meine Schwester wird sich freuen, wenn ich ihr einen neuen Gast bringe. Das Schicksal meint es heute wirklich
gut mit mir! «
Jetzt, da er sie sozusagen im Kreis seiner Familie begrüßt hat te, stellte er sich vor. Seine Name war Ratschamanka Chaiyaphum.
Valerie konnte sich gerade mal den ersten Teil merken. Auch sie nannte ihren Namen und beschloß auszuprobieren, ob das Schicksal
auch für sie eine kleine Portion Glück übrig hatte. »Außerdem bin ich auf der Suche nach einem Engländer namens Geoffrey
Barnington. Er ist ein... sagen wir, ein alter Bekannter von mir. Ich habe gehört, daß er sich in den letzten Jahren irgendwo hier
aufgehalten haben soll, und würde ihn gerne wiedersehen. Sie haben nicht zufällig etwas von ihm gehört?«
»Barnington?« Der Fahrer riß die Augen auf. »Aber ja! Lord Barnington! Der Schattenfänger! Wie könnte ich mich nicht an ihn
erinnern? Jeder hier in der Gegend kennt ihn.«
Valerie hatte Mühe, sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen. Das Schicksal schien es sogar überaus gut mit ihr zu meinen.
Barnington zu finden, schien einfacher zu sein, als erwartet.
»Wieso Lord Barnington?«
»Oh.« Der Fahrer grinste. »Er ist Engländer, wissen Sie?«
O ja, dachte Valerie, das erklärte einiges. Hier betrachtete man so ziemlich jeden Engländer als Lord. Ganz besonders, wenn er so
aussah, wie sie Barnington in Erinnerung hatte. Aber wieviel Jahre war das schon her?
»Was bedeutet Schattenfänger?«
»Wissen Sie, da gibt es bei uns so ein Sprichwort. Ein Schattenfänger ist jemand, der den Schatten riesiger Tiere nachjagt - in der
Hoffnung, irgendwann einen davon zu erlegen. Aber er vergißt, daß seine Familie Schatten nicht essen kann, selbst wenn er je einen
davon finden würde.«
Das schien Valerie eine durchaus treffende Beschreibung von Barnington zu sein. »Und? Hat er die Schatten gefunden, nach denen er
gesucht hat?«
Der Fahrer sah Valerie an und schüttelte den Kopf, als hätte sie ihn nicht richtig verstanden. »Natürlich nicht. Das ist doch nur ein
Sprichwort! «
»Wo kann ich ihn finden? Ich würde ihm gerne... mal hallo sagen. Ich meine, wo ich zufällig schon mal hier bin.«
»Das weiß niemand.«
»Wieso nicht?« wunderte sie sich. »Ich denke, ihn kennt jeder hier.«
»Ja. Aber seit ein paar Wochen ist er verschwunden. Niemand hat ihn seitdem mehr gesehen.« » Verschwunden? «
»Ja, einfach weg.«
Aha, wie präzise! dachte sie.
»Viele denken, er hat sich einfach aus dem Staub gemacht«, redete er weiter. »Weil er überall Schulden hatte und die Rechnungen nicht
mehr bezahlen konnte. Andere sagen, er hätte seine Schatten gefunden, aber sie wären zu groß gewesen und hät ten ihn gefressen. Und
wiederum andere sagen, er wäre wahnsinnig geworden und irre im Dschungel umher.«
Valerie sah den Fahrer an. »Und? Was denken Sie?«
Er hob die Schultern. »Ich denke, daß das alles nur Gerüchte sind. Es gibt viele Möglichkeiten, wie hierzulande Menschen
verschwinden. Ganz besonders, wenn sie Ausländer sind und Schulden haben.«
»Klingt nicht, als täte es Ihnen leid, wenn ihm etwas geschehen wäre.«
»Oh nein. Das verstehen Sie falsch. Der Schattenfänger war durchaus ein Segen für die Region. In den Jahren seiner Ausgrabungen hat
er fast hundert Menschen beschäftigt. Und das über Jahre hinweg. Einige dieser Familien wären sonst verhungert, wissen Sie?«
Valerie nickte verstehend.
»Aber vor einem halben Jahr sind andere Leute hergekommen«, erzählte er. „Ebenfalls aus England. Und mit vielen technischen
Apparaten! Sie haben mehrere Wochen Versuche angestellt - da, wo Barnington gearbeitet hat. Und als sie wieder gegangen sind, war er
nur noch ein Schatten seiner selbst. Man erzählt sich, er sei damals gedrängt worden, ebenfalls zu gehen. Aber das tat er nicht. Statt
dessen machte er weiter, als wäre nichts geschehen. Dabei hat jeder in seinem Gesicht deutlich lesen können, daß er längst gescheitert
war. Nur er selbst hat es nicht wahrhaben wollen.«
Das deckte sich mit dem, was Valerie von Goldstein gehört hatte. »Und dann?« ` »Es kam, wie es kommen mußte. Statt mit Geld
bezahlte er die
Helfer wochenlang mit Versprechungen. Irgendwann konnte er selbst diese Rechnungen nicht mehr begleichen, und man ließ
ihn im Stich. Die Ausgrabungsstätte verwaiste. Niemand wollte mehr etwas für ihn tun. Und dann, vor einigen Wochen, verschwand er
irgendwann spurlos.«
»Ein Racheakt? Wegen nicht bezahlter Rechnungen?«
Er machte eine vage Handbewegung. »Es ist alles möglich.« »Aber Sie glauben nicht daran?«
»Nein. Dazu haben die Leute hier zuviel Respekt vor ihm. Selbst wenn er seine Schatten nicht gefangen hat, so glauben viele doch, daß
er mit ihnen im Bunde steht.« Er hielt kurz inne, als überlege er, ob er das verraten sollte. »Besonders seit den Nächten des Krokodils. «
Valerie blickte ihn forschend an. »Die Nächte des Krokodils? Was bedeutet das?«
Er druckste etwas herum. »Das wird Ihnen jeder sagen können, der hier lebt. Vor allem diejenigen, die unmittelbar an der
Ausgrabungsstelle gearbeitet haben. Sie hat es am schlimmsten erwischt. «
»Was hat sie erwischt?«
Wieder zögerte er. »Schreckliche Träume. Es fing bei allen in derselben Nacht an, und es dauerte Wochen, bis es wieder vorbei war.
Manche sollen selbst heute noch, ein Jahr später, darunter leiden! «
»Was für Träume waren das?«
»Erschreckene Träume. Über... über aufrecht gehende Krokodile, die die Welt unterjochten und jeden auffraßen.« Er erschauderte.
In Valeries heulten die Alarmsirenen auf. Aufrecht gehende Krokodile, die die Welt unterjochen wollten.., In den letzten zwei Jahren
waren sie und die anderen Mitarbeiter von A.I.M. auf die Spur von echsenhaften Wesen gestoßen, die das gleiche gewollt hatten! Sollte
Barnington etwa...
Sie blickte den Fahrer eindringlich an. »Haben Sie auch solche Träume gehabt?«
Sein Zusammenzucken bewies ihr, daß sie genau ins Schwarze getroffen hatte. Er nickte zaghaft. Nur reden mochte er nicht darüber.
Überhaupt schien er sich zu fragen, ob er dieser unbekannten Fremden nicht längst zuviel verraten hatte. Was ging dieses Zeugs eine
Rucksacktouristin wie sie an - selbst wenn sie den Schattenfänger kennen mochte?
»Nur noch eines«, bat sie. »Wann war das?«
»Vor ziemlich genau einem Jahr«, antwortete er zögerlich. Wieder heulten Alarmsirenen in Valeries Schädel auf. Es mochte Zufall sein,
aber genau das war der Zeitpunkt gewesen, zu dem die Abenteuer einst das Tor nach Atlantis geöffnet hatten. Es war ein mysteriöser
Durchgang gewesen, den sie in Bolivien gefunden hatten - und der Tom Ericson geradewegs in eine uralte atlantische Station versetzt
hatte. Leider war diese im Anschluß darauf zerstört worden, aber sie hatten erlebt, daß diese Zerstörung rätselhafte Auswirkungen in
vielen archäologischen Fundstätten rund um die Welt bewirkt hatte - vor allem solchen, die aus den Anfängen der menschlichen
Zivilisation stammten.
Valeries Gedanken rasten. Hatte Barnington es hier womöglich mit einer solchen Fundstelle zu tun gehabt?
Sie dämpfte ihre Erwartungen. Alles, was sie bislang gehört hatte, waren die wenig fachkundigen Auskünfte eines LKW Fahrers.
Sie hätte ihn gerne noch weiter befragt, aber erstens wirkte er nicht mehr willig, viel zu erzählen, und zweitens hatten sie Kengtong
erreicht. Es war ein typisches Provinznest dieser Breiten. Zwischen zehn- und zwanzigtausend Einwohner hatten sich :' hier in ihren
zumeist einfachen Hütten angesiedelt. Strom gab es nur in Häusern, die über einen eigenen Generator verfügten.
Der Fahrer setzte sie vor der Herberge seiner Schwester ab und preiste dieser den neuen Gast in den leuchtendsten Farben an. Valerie
war regelrecht erstaunt, welch positiven Eindruck sie bei ihm hinterlassen hatte. Aber sie wußte es richtig zu werten. Seinen
Erzählungen über Barnington war vermutlich ähnlich zu trauen.
Die Schwester zeigte Valerie das beste Zimmer, das sie in ihrer Herberge anzubieten hatte. Kein warmes Wasser, kaltes nur
tröpfchenweise aus dem Hahn und keinerlei Ventilator geschweige denn eine Klimaanlage. Dafür war das Moskitonetz über dem Bett in
gutem Zustand. Auch das Bett selbst. Und das war in dieser Gegend doch schon mal was! Das Gekrabbel am Boden störte Valerie nicht
sehr. Es war normal in den Tropen und auch in Ordnung, solange sich das Getier an die Regel hielt uns den Boden und dir das Bett. Das
Dutzend kleiner grüner Geckos, die mit ihren Saugnapfpfoten an den Wänden und der Decke klebten, würden schon dafür sorgen, daß
sich die Insekten nicht zuviel herausnahmen. Denn sie waren ihre Lieblingsspeise.
Valerie nickte der Wirtin zu. Gebucht!
Zum Essen ging sie in den Restaurantbereich, sofern man die beiden schmuddeligen Tische mit den Baststühlen ringsherum als solchen
bezeichnen konnte. Nach dem Flug hatte sie Hunger. Das Essen schmeckte vorzüglich. Natürlich hielt Valerie sich bei ihrer Auswahl
der Speisen an die hier für Abendländer zwingende Regel: Schäl es, koch es, oder laß es! Wer dagegen verstieß, spürte es alsbald in
seinen Gedärmen.
Valerie spürte nichts von alledem. Nachdem sie aufgegessen hatte, erkundigte sie sich bei den anderen Gästen nach Barnington. Sie
hatten sie schon neugierig betrachtet und nichts gegen ein kleines Gespräch einzuwenden.
Ja, hieß es allerorten. Zu kennen schien ihn jeder, und ebenso schien jeder noch irgendwie Geld von ihm zu bekommen. Aber niemand
wußte, wo er abgeblieben war. Als Valerie nebenbei die Wächte des Krokodils ansprach, erntete sie nur betretenes, peinliches
Schweigen. Es verriet ihr zwar, daß sie in eine Art Wespennest gestochen hatte - aber weiter half es ihr auch nicht weiter. Doch das war
nach nur ein paar Stunden hier auch nicht zu erwarten gewesen.
Anschließend begab sie sich zu dem kleinen Postamt - das einzige, das es in Kengtong gab, und das in einer Holzhütte untergebracht
war. Einzig von hier war man mit der Außenwelt verbunden. Und von hier aus hatte Barnington seine Nachricht losgeschickt.
Hinter dem Tresen hockten träge zwei uniformierte Beamte, die sich anscheinend nicht entscheiden konnten, ob sie nun schlafen oder
einfach nur dasitzen sollten. Selbst als Valerie hereinkam, erntete sie nur zweimal ein müdes Heben der Augenlider und einen kurzen
Blick. Dann beschäftigten sich die beiden mit der für sie so entscheidenden Frage weiter.
Ein paar kleine Banknoten machten sie etwas aufmerksamer. Nach hartnäckigem Nachfragen erfuhr Valerie, daß Barnington die
Nachricht nicht selbst aufgegeben hatte. Nein, es war jemand anders in seinem Namen gekommen und hatte die Nachricht': abgeschickt.
Barnington selbst war schon länger nirgendwo mehr aufgetaucht.
Noch ein paar Geldscheine wechselten ihre Besitzer. Doch viel konnten die Beamten über denjenigen, der die Botschaft aufgegeben
hatte, nicht sagen. Es wäre ein Mann gewesen. Ein Einheimischer. Jemand, den man noch nie zuvor hier gesehen hatte. Und hinterher
auch nicht.
Die Informationen dämpften Valeries Hoffnung, Barnington schnell zu finden, rapide. Wenn der Code read nicht von ihm stamm te...
Trotzdem, Barnington mußte dahinterstecken. Er würde den Code nicht einfach so weitergeben. Schon gar nicht nach all den Jahren.
Offenbar sahen die beiden Postboten ihr ihren Kummer an und sprachen ihr Mut zu. Wenn sie Barnington suchte, würde sie ihn schon
finden. Sie solle die Hoffnung nur nicht aufgeben. Der Lord sei ein netter Mann! Jeder wäre froh, ihn heil und gesund wiederzusehen.
Valerie war regelrecht über die Anteilnahme überrascht.
Ach ja, fügten die beiden hinzu, und wenn sie ihn finden sollte, so möchte sie ihn doch bitte daran erinnern, daß er ihnen noch Geld
schulde.
Valerie seufzte. Von daher wehte der Wind also.
»Noch eine Frage. Wo liegt diese Ausgrabungsstätte? Und wie komme ich dorthin?«
»Eine Stunde von Kengtong entfernt«, lautete die Antwort. »In nördlicher Richtung.«
»Ja«, ergänzte der zweite Beamte. »Irgend jemand wird Sie sicherlich hinfahren, wenn Sie ihm ein bißchen Geld geben.« »Aber heute
hat das keinen Sinn mehr. Alles dunkel. Kein Licht.«
Genauso sah es zunehmend in der Barnington-Angelegenheit aus. Valerie bedankte sich und verließ das Postamt wieder.
Die beiden hatten recht. Es war zu spät, sich noch zu der Ausgrabungsstätte bringen zu lassen und dort bei Dunkelheit umherzustolpern.
Nein, Morgen war auch noch ein Tag. Und wenn sie früh genug aufstand, würde sie eine Menge erreichen können.
Sie ging noch ein paar Schritte durch die abendlichen Gassen mit ihren vielen Garküchen und den unterschiedlichsten Gerüchen und
Geräuschen. Von überall wurde sie interessiert gemustert, aber niemand behelligte sie.
Schließlich kehrte sie in die Herberge zurück.
Maria fing sie am Eingang ab. »Hallo, Frau Besucherin«, rief sie aufgeregt. »Es ist eine Nachricht für sie gekommen.«
Sie reichte Valerie einen Briefumschlag, in dem sich ein kleiner, härterer Gegenstand befand. Valerie Gideon, stand darauf. Das war
alles.
»Wer hat den hier abgegeben?« fragte Valerie mißtrauisch. Maria schüttelte ratlos den Kopf. »Ich weiß nicht. Es muß jemand
hereingekommen sein und ihn dort hingelegt haben.a Sie deutete auf den Holztisch, der als Rezeption diente. »Ich hatte drüben in der
Küche zu tun und ihn erst entdeckt, als ich mit allem fertig war.«
Valerie riß den Umschlag auf. Darin befanden sich ein handbeschriebener Zettel und eine reichlich zerkratzte Taschenuhr. Sie kannte
diese Uhr. Sie gehörte Barnington. Es war eine
Schrulle von ihm, sie zu tragen. Valerie hätte eigentlich gedacht, er hätte sich so etwas mit dem Alterwerden längst abgewöhnt, aber
anscheinend hatte er sie beibehalten. Nur jetzt hatte er sich davon getrennt. Ob er darauf spekulierte, daß sie wußte, was sie für ihn
bedeutete?
Sie drehte die Uhr und sah auf die Rückseite. WGB, war dort eingraviert. Wenn sie sich richtig erinnerte, stand das für William Gregory
Barnington, Geoffreys Großvater. Diese Uhr war ein Familienerbstück.
Valerie entfaltete den Zettel.
Danke, daß du gekommen bist, stand dort in englischer Schrift und mit zittrigen Buchstbaben geschrieben. Treffen uns morgen abend 21.
00 Uhr beim Rangerhaus. Tauseud Dank. Geoffrey. Valerie legte die Stirn in Falten. Und das war alles? Das war wohl etwas knapp. Hatte Geoffrey es nicht nötig, ihr mehr zu schreiben?
Oder hatte ihn jemand gezwungen? Oder stammte die Nachricht womöglich gar nicht von ihm? Wie aber war der Verfasser dann an den
Code read gekommen und an die Taschenuhr? Das alles gefiel ihr ganz und gar nicht. Die Sache stank zum Himmel.
»Rangerhaus?« fragte sie Maria. »Wo ist das?«
»Irgendwo nicht weit von Kengtong, mitten im Dschungel. Aber wo genau...«
Wie der Zufall es wollte, trat in diesem Moment Ratschamanka ~' durch die Tür. Er hatte sein Tagewerk beendet und schaute of fenbar
spontan zu einem Besuch bei seiner Schwester vorbei vielleicht nur um sich zu erkundigen, wie ihr denn der Gast ge-' fiel, den er ihr
verschafft hatte.
Er wußte, wo das Rangerhaus lag. »Eine knappe halbe Stunde von hier entfernt. Wenn man den Wagen nimmt. Zu Fuß...«
»Es führt eine Straße dorthin? Ich dachte, das Haus läge mitten im Dschungel.«
»Die Straße führt in der Nähe vorbei. Und dann ist es noch ein Kilometer zu Fuß.«
Valerie überlegte. »Was ist dieses Rangerhaus eigentlich?« U »Eine ehemalige Rangerstation zur Wildbeobachtung«, erklärte `` er.
»Vorfahren gab es Pläne für ein Naturschutzgebiet hier. Aber daraus wurde nichts. Seitdem steht die Hütte leer und verkommt.« ~"
»Könnte sich dort jemand länger verstecken?« »Sie denken an Lord Barnington?«
Valerie nickte.
»Glaube ich nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Es gibt kein Wasser dort. Der Brunnen ist schon lange eingestürzt. Und zu essen auch nur
das, was der Urwald hergibt. Das ist nichts. Schon gar nicht für den Lord. Er ist nicht dafür geschaffen, längere Zeit so zu überleben.«
Das deckte sich mit Valeries Ansicht. Wieder dachte sie ein paar Momente nach, dann hatte sie ihren Entschluß gefaßt. »Können Sie
mich zu der Hütte hinausfahren?« fragte sie. Sie hatte nicht vor, bis morgen zu warten. Das Gefühl, daB die Nachricht eine Falle war,
vvar zu übermächtig. Lieber sah sie sich heute schon einmal dort um. Dann hatte sie das Uberraschungsmoment auf ihrer Seite. Und
selbst wenn sie Barnington dort nicht fand, konnte sie sich zumindest schon ein Bild der Örtlichkeiten machen.
Ratschamanka machte große Augen. »Jetzt? Aber... es ist schon dunkel! «
»Trotzdem«, beharrte Valerie. »Geht es oder nicht? Natürlich bezahle ich dafür.«
»Hm«, überlegte Ratschamanka laut. »Ich könnte mir den LKW vom Boß ausleihen. Ich habe eh die Schlüssel, und er ist weg. Er würde
also gar nichts merken.«
»Heißt das, ja?« Er nickte.
Valerie lächelte freudig. »Gut, ich hole nur noch etwas aus dem Zimmer, dann können wir aufbrechen.«
Eine Stunde später hatten sie die ehemalige Rangerstation erreicht. Insbesondere die letzten Meter legten sie mit der entsprechenden
Vorsicht zurück. Valerie hatte keine Lust, auf ihr Kommen aufmerksam zu machen, falls sich dort jemand aufhielt.
Im Dunkeln tasteten sie sich durch den Dschungel voran, von unzähligen nächtlichen Tierstimmen umgeben. Gerade zu dieser Zeit war
der Dschungel manchmal so laut, daß man manchmal das Verlangen hatte, ganz laut »Ruhe! « zu brüllen, damit man wenigstens ein
paar Momente Stille bekam.
Zum Glück schien der Mond, und das wenige Licht, das den Boden erreichte, reichte für eine grobe Orientierung aus, wenn sich die
Augen erst einmal daran gewöhnt hatten. Sehr viel war trotzdem nicht zu erkennen, aber es verhinderte wenigstens, daß man gegen
einen Baum lief oder auf ein größeres Tier trat.
Valerie hatte das Gefühl, als befände sich irgend jemand in der Umgebung. Aufjeden Fall sträubten sich ihre Nackenhärchen in dem
Gefühl der Gefahr, Sie hielt ihre kleine Pistole schußbereit in der Hand. Mit ihrem relativ kleinen Kaliber .22 handelte es sich nicht
gerade um eine Elefantenbüchse, aber Valerie konnte entsprechend gut damit umgehen und wußte, wohin sie zu zielen hatten. Jedenfalls
soweit es Menschen betraf. Ob sie damit jedoch ein angreifendes Tier aufhalten konnte, und dann noch bei der Dunkelheit?
Dann befand sich die zerfallene Hütte vor ihnen. Der Schimmelgeruch des Holzes wehte deutlich in ihre Nasen. Noch immer war
niemand zu sehen. Und so blieb es auch, als sie den Eingang erreicht hatten. Valerie wagte es endlich, die mitgebrachte Taschenlampe
zu benutzen. Ihre Nackenhärchen hatten sich wieder gelegt.
Der Lichtstrahl zerschnitt die Nacht blendend grell, Valerie`; ließ ihn durchs Innere der Hütte wandern. Nichts. Niemand. Nur ein paar
Eidechsen und eine kleine grüne Schlange flüchteten' vor dem Lichtkegel.
»Wie ich es Ihnen gesagt habe«, flüsterte Ratschamanka. »Die Station ist leer. Keiner hier.«
Valerie nickte. Und es sah auch nicht so aus, als hätte die Hüt te in letzter Zeit irgend jemanden beherbergt. Nirgendwo gab es
entsprechende Spuren. Sie seufzte. Die ganze Anschleicherei' hätten sie sich sparen können. Immerhin aber hatte sie mitbekommen,
welches Talent Ratschamanka hatte, sich bei Nacht im V Dschungel zu bewegen.
»Ich war mal Freiheitskämpfer«, erklärte er auf ihre Nachfrage hin. Er sprach es aus, als würde es alles sagen, und irgendwie tat es das
auch. Valerie konnte erahnen, wie gut er im Dschungelkampf geschult sein mußte. »Und nun? Was haben Sie jetzt vor?«
Valerie hob die Schultern. »Was schon? Zurück in die Stadt! Aber morgen früh werde ich wiederkommen. Und dann werde ich hier in
der Nähe darauf warten, was sich bis morgen abend zehn Uhr tut.«
»Einen ganzen Tag hier draußen im Urwald?« wunderte er sich. »Und das ganz allein?«
Valerie nickte grimmig. »Ja,«
»Dafür, daß sie Lord Barnington nur hallo sagen wollen«, wunderte Ratschamanka sich, »ist das aber ein ziemlicher Aufwand, finden
Sie nicht?«
Valerie sah ihn an. »Er ist so etwas wie ein Freund. Und ich will' ihm helfen.«
Ratschamanka kam nicht mehr dazu zu antworten, sondern zuckte zusammen und griff sich an den Oberarm.
»Verdammt! « »Was ist?«
»Ich glaub', irgend etwas hat mich gestochen. Oder gebissen.« Er zog etwas hervor und sah verblüfft darauf.
Valerie erkannte es sofort. Ein Giftpfeil, wie er mit einem Blasrohr verschossen wurde! Sofort schwenkte sie sowohl ihre Pistole wvie
auch die Taschenlampe herum. Doch überall wanderte der Lichtkegel nur über ein undurchdringliches, grünes Dickicht, ohne ein Ziel zu
erfassen.
Valerie fluchte in Gedanken. Es war doch eine Falle gewesen! »Los! « Sie stieß Ratschamanka an. »Weg hier! Zurück zum Wagen. «
Im selben Moment zuckte auch sie zusammen und zog sich einen Pfeil aus dem Hals.
Aus! zuckte es durch ihren Kopf.
Aber sie hatte nicht vor, so einfach aufzugeben. Diesmal hatte sie eine ungefähre Ahnung, woher der Schuß gekommen war. Rasch
richtete sie ihre Pistole dorthin und feuerte in paar Schüsse ab.
Ganz kurz vermeinte sie zu hören, wie eine der Kugeln auf einen Körper aus Fleisch und Blut traf, aber das war auch schon alles.
Es dauerte nur Sekunden, bis das Gift zu wirken begann. Ratschamanka sank bereits zu Boden, und Valerie folgte ihm nur wenige
Augenblicke später.
Während sich dunkle Schleier über ihren Geist legten, dachte sie noch kurz daran, daß sie Geoffrey Barnington wohl keine besonders
gute Hilfe hatte sein können. Dann verlor sie endgültig das Bewußtsein.
11. Kapitel .Südamerika, vor sehr langer Zeit Was die Götter ihm schenkten, hatte seinen Preis. Tolos bezahlte ihn in Schmerz. Seine längst nicht mehr menschlichen Schreie hallten
durch das unterirdische Reich ewiger Nacht, splitterten an unsichtbaren Wänden und stürmten wieder auf ihn ein, verzerrt und wie aus
hundert Kehlen.
Tolos' Körper hatte sich grundlegend verändert, aber noch immer schien kein Ende abzusehen. Wenn er inzwischen auch zu wissen
glaubte, welche Gestalt er letztendlich annehmen würde.
Er hatte Bildnisse der Götter entdeckt. Verglich er diese im Spiegel mit seiner Verwandlung, gab es für ihn kaum einen Zweifel daran,
daB die Götter ihn neu schufen. Nach ihrem Abbild.
Seine Haut hatte nichts mehr gemein mit der eines Menschen, war erst ledern, dann schuppig geworden, und nun wurden diese
Schuppen fester und stärker, wie die Panzerung eines Kaimans. Und sein Gesicht: die Lippen schmal und verhornt, die Nase
zurückgebildet...
Das Antlitz eines Gottes!
Irgendwann war es vorbei. Für dieses Mal. Der Schmerz verebbte, ohne wirklich zu vergehen, und Tolos zog sich wieder zurück in
geheime Winkel seines neuen Ichs. Dort blieb er, bereit, mit einer Macht zuzuschlagen, die kein Mensch sein eigen nannte.
Nur sein Wissensdurst war noch der alte, und ebenso seine Begeisterung für die Kraft, die ihm geschenkt worden war, dieses neue und
aridere Dasein, das ihn über die Azachen erheben würde.
Inzwischen ahnte Tolos, weshalb gerade ihm dieses Geschenk der Götter zukam - weil er es gewagt hatte, den alten Gesetzen und damit
den Göttern selbst die Stirn au bieten, indem er den goldenen Vogel verfolgte.
Hatten sie das Tabu nur aufgestellt und als Legende getarnt, um einen Mann zu finden, der mutig war, alle Regeln zu brechen?
Diesem Mann - ihm, Tolos - hatten sie Großes vorherbestimmt. Sie machten ihn zu einem der ihren, indem sie ihn mit einem
heiligen Wasser in Berührung brachten. Auch Braam hatte seine Arme in die schillernde Flüssigkeit getaucht - aber erst später Gesicht
und Oberkörper damit gewaschen.
Dennoch blieb Tolos von Rastlosigkeit erfüllt. Er streifte von neuem durch die Welt unter der Stadt der Toten, deren Grenzen er noch
nicht gefunden hatte. Sie barg viele Geheimnisse, aber mit jedem Rätsel erkannte er mehr vom Wesen der Götter und ihren Absichten.
Eines Azachen Geist allein hätte dieses Wissen nie zu fassen vermocht. Mit jeder neuen Erkenntnis, die Tolos gewann, schien sein
Horizont sich zu erweitern und bereit zu werden für noch mehr und noch größere Dinge.
Heute wurde seine unaufhörliche Suche einmal mehr belohnt, in einem Bereich des Labyrinths, in dem er nie zuvor gewesen.,war.
Nach anfänglichen Mißerfolgen, die ihn nur noch mehr anspornten, gelang es ihm, ein schweres Steintor zu öffnen. Weite Räume lagen
dahinter, Säle, die schier ineinander übergriffen, aber was ihn in besonderem Maß faszinierte, war die langgestreckte Platte aus
geschliffenem Kristall. Allein schon die sieben Säulen aus funkelndem Silber zeigten die besondere Bedeutung, die diesem Fund
beikam. In der Abgeschiedenheit des Saales verbreiteten sie aus sich selbst heraus ein unheimliches, kaltes Leuchten.
Ein sinnverwirrendes Muster von Linien und Zeichen bedeck te die Platte. Tolos glaubte, viele Zeichen schon von den Schriften an den
Wänden zu kennen, doch sie veränderten sich. Unaufhörlich. Als würden sie im Inneren des Kristalls entstehen, sich langsam nach oben
bewegen und dann auseinanderfließen wie das Wasser einer sprudelnden Quelle. Ohne zu zögern streckte Tolos die Arme aus. Ein
eigenwilliges Prickeln durchströmte ihn, als seine Klauen die Platte berührten und er versuchte, einige der bekannten Zeichen
nachzuziehen. Geisterflammen zuckten auf, huschten von seinen Fingern aus quer über den polierten Kristall und vereinten sich nach
der Dauer weniger Atemzüge zu wogendem Nebel. Ein kugelförmiges Gebilde entstand.
Fasziniert verfolgte Tolos, wie der Nebel Gestalt anzunehmen begann. Dichtes, üppiges Buschwerk wucherte plötzlich in der Kugel.
Kein Buschwerk. Das waren die höchsten Wipfel des Regenwsaldes, aus einer Perspektive gesehen, die noch weit über den Bäumen lag.
Tolos stockte der Atem.
Jetzt, in diesem Moment, redeten die Götter zu ihm. Niemand sonst sah den Wald mit diesen Augen, höher im Blau des Himmels, als
ein Vogel flog.
Tolos' Klauen tasteten nach anderen Zeichen.
Der Wald kam näher. Eine düstere rotbraune Narbe durchzog ihn, endlos, von einem Ende zum anderen, als wäre die Welt geteilt
worden.
Diese Narbe verzweigte sich. Sie erinnerte an einen Pfad, der immer und immer wieder von Tausenden Azachen begangen wurde und
auf dem die Füße bald den letzten Halm zertreten hatten. Nackte, unbelebte Erde war es, auf der nichts wuchs.
Tolos begann sich zu fragen, warum die Götter ihm dieses Bild zeigten.
Ein Tier lief den Pfad entlang. Es schien schnell zu sein wie ein Jaguar, doch in seiner Größe mit nichts Bekanntem zu vergleichen.
Tolos hatte nie etwas Ahnliches gesehen - und er war überzeugt davon, daß das auf jeden Azachen zutraf. Am ehesten verglich er dieses
Wesen mit einer Schildkröte, denn es schleppte einen seltsamen Panzer mit sich herum.
Hatte das Tier ihn bemerkt? Es hielt inne.
Fast wäre Tolos zurückgeschreckt, als die Kreatur Menschen ausspuckte, aber dann beugte er sich trotz seines scharfen Blicks weit über
die Nebelkugel, um zu beobachten, was jene Menschen taten. Er verstand nichts davon. Sie waren auch keine Azachen. Überhaupt
trugen sie seltsame Gewänder.
In diesem Augenblick erschloß sich Tolos die größte aller bisherigen Erkenntnisse. Daß es ihm nämlich nicht nur bestimmt wear,
Azachuan zu regieren - die Götter wollten noch weit mehr von ihm...
Sie waren im Begriff, ihm eine neue und fremde Welt zu schenken. Warum sonst hätten sie ihm diese Bilder zeigen sollen?
Das Tier nahm die fremden Menschen wieder in sich auf. Nein; einer von ihnen floh aus dem offenen Maul, er trug einen Stock` bei
sich, hob diesen Stock ans Gesicht, und dann brachen Flammen und Rauch daraus hervor.
Im gleichen Augenblick verflüchtigte sich die Nebelkugel, Obwohl Tolos' Klauen die Schriftzeichen erneut berührten, entstand sie nicht
wieder.
Valeen spürte, daß etwas in der Luft lag. Eine Spannung, wie er sie nie zuvor erfahren hatte. Vergleichbar am ehesten der Ahnung eines
nahenden Unwetters. Aber trotzdem ganz anders; gewaltiger und von einer Größe, der gegenüber er sich sonderbar machtlos und
geradezu winzig fühlte.
Zum wiederholten Mal ging ihm durch den Sinn, daß der Titel des Volkvaters nicht mehr war als eben nur ein Amt. Aller Tradition und
Legende zum Trotz blieb er ein Mensch, nicht weniger verletzlich als andere und keineswegs machtvoller, in keiner Hinsicht stärker als
das Volk, das zu ihm aufsah.
Und ganz gewiß nicht unfehlbar.
Es mochte ein Fehler gewesen sein, wie er von Anfang an auf das neue Leben seiner Tochter und Merons reagiert hatte. Hätte er, statt
zu zögern, nicht alles daran setzen müssen, das Geheimnis zu ergründen - mit allen Mitteln und um jeden Preis?
Seine Gedanken gelangten wieder an jenen Punkt, von dem aus sie ihren Lauf begonnen hatten - er war nur menschlich. Valeen gestand
sich ein, daß er deshalb kein Bedauern empfand, es war so, und es würde immer so bleiben.
Indes durfte er den Dingen nicht einfach ihren Lauf lassen. Schon in Adims Interesse, auch wenn sie selbst das womöglich anders sah.
Er hatte seine Tochter mit Meron allein gelassen, der behauptete, Gott Ruun in sich zu tragen. Valeen hoffte darauf, daß Meron und
Adim ihre Geheimnisse besprachen, und Adim früher oder , später ihrem Vater ihr Herz öffnen würde.
Nachdenklich löste er sich aus dem Schatten des Wandelganges, von dem aus sein Blick weit über Azachuan reichte. In dem Moment
bemerkte er, daß er nicht mehr allein war. Ein Gefühl
der Bedrohung wurde spürbar, für das er keine Erklärung wußte. Takin verneigte sich leicht, weit weniger demutsvoll als Hohe
Räte es sonst bei Begegnungen mit dem Volkvater taten. Abgesehen davon bewies die Tatsache, daß Takin die Räume Valeens
unaufgefordert betreten hatte, daß manches nicht so war wie vorher.
Takin war auch nicht allein gekommen. Vier Räte begleiteten ihn, darunter Eem, der Alteste. Dennoch richtete Takin das Wort an
Valeen. Auch dies war völlig unüblich.
»Volkvater, der Hohe Rat schickt uns.«
»Tut er das?« gab Valeen keineswegs mehr überrascht zurück. »Zu welchem Zweck?«
»Es gilt Dinge zu besprechen, die...«
»...die nur ich zu entscheiden habe«, fiel der Volkvater dem Rat ins Wort. Natürlich ahnte er die wahren Gründe.
»Eben darüber denkt der Hohe Rat anders«, sagte Takin mit dünnem Lächeln.
Valeen schnaubte verächtlich. »Dann muß der Hohe Rat umdenken.«
»Einzig das Wohl des Volkes liegt uns am Herzen. In seinem Sinne haben wir zu denken und zu handeln.«
»Wollt ihr behaupten, daß ich genau dies nicht tue?« fragte Valeen.
Takin nickte. »Dieser Eindruck entsteht sowohl im Hohen Rat als auch beim Volk.«
»Ich weiß sehr wohl, was ich zu tun haben, behauptete der Volkvater. »Zu gegebener Zeit wird jeder erfahren, was es zu wissen gibt.«
In einer fast bedauernden Geste schüttelte Takin den Kopf. »Die Zeit ist längst gekommen. Viel zu lange herrscht die Ungewißheit. «
Valeen versuchte aufbrausend und energisch zu klingen, aber es gelang ihm nur leidlich. Er wandte sich an Eem: »Sag mir, was dieser
Auftritt bedeuten soll! Und sag es mir ins Gesicht, daß du mein Tun nicht gutheißt! «
Der Alte schien sich seine Antwort mit Bedacht zurechtzulegen, doch Takin kam ihm zuvor.
»Der Hohe Rat spricht und handelt als Ganzes. Das ist seine Aufgabe-und um dieser Aufgabe nachzukommen, sind wir hier.« »Dann
wagt ihr also...«, fing Valeen an, doch Takin unterbrach ihn schroff.
»Wir sind hier, um Antworten auf Fragen zu finden, die Ihr uns beharrlich verweigert.«
»Und ich nehme an, daß ihr willens seid, nötigenfalls Gewalt anzuwenden?« warf Valeen mit beißendem Spott ein.
»So ist es.«
Takin klatschte in die Hände. Hinter ihm wurde die Tür auf gestoßen. Ein halbes Dutzend Bewaffneter trat ein.
»Das wirst du büßen, Takin«, sagte Valeen ruhig. »Wohl kaum.«
»Die Götter...«
»Die Götter«, fiel Takin ein, »haben bereits entschieden.« Er lächelte verschlagen.
»Wenigstens das solltest du mir glauben, Valeen. «
Tom Ericson und Gudrun Heber hatten schon Unglaubliches' erlebt, das sie selbst vor wenigen Jahren noch als unmöglich bezeichnet
hätten. Sie kannten Geheimnisse, die besser verborgen blieben, und mit ihrem Wissen hätten sie an den Säulen der Geschichtsschreibung
rütteln können.
Eine der merkwürdigsten Erfahrungen jedoch machten sie jetzt. Verglichen mit anderen Erlebnissen war sie, nach außen zumindest,
eher unspektakulär. Sie wühlten in fremden Erinnerungen und partizipierten am Wissen zweier Toter.
Mittlerweile wußten sie, wer das Mädchen Adim und ihr Freund Meron gewesen waren. Welchem Volk sie angehörten und welche
Götter sie verehrt hatten. Auch die Legende vom goldenen Vogel kannten sie.
Was beide nicht in Erfahrung gebracht hatten, war die Zeit, in der die Azachen lebten. Das Volk kannte keine Zeitrechnung; die
Vergleiche ermöglicht hätte.
Eines jedoch kristallisierte sich heraus: Die Azachen waren ein' im 20. Jahrhundert vergessenes Volk. Es gab keine archäologischeu
Funde, die ihnen zuzuordnen gewesen wären. Aber vermutlich hatte der Regenwald alles überwuchert. Es war diese Erkenntnis, die
Tom Ericson am meisten in ihren Bann zog. Gudrun und er waren über eine nicht einzuschätzende Distanz in der Zeit
zurückgeschleudert worden. Und noch hatten sie keine Vorstellung davon, wie es möglich sein könnte, den bizarren Vorgang
umzukehren. Damals, während seiner Traumzeitreise, hatte er auf die Hilfe des Aborigines vertrauen können, aber diesmal?
Er hatte nicht die Absicht gehabt, jetzt schon eine Familie zu gründen, schon gar nicht tausend, zweitausend oder mehr Jahre in der
Vergangenheit. Obwohl: Die Vorstellung war verlockend, mit dem Wissen der Neuzeit eine führende Position aufzubauen. Er konnte
Technik und Wissenschaft schneller voranbringen, konnte Galileo Galilei und James Watt vorwegnehmen. Oder Madame Curie und wie
die großen Geister alle hießen.
Er konnte die Indianer anleiten, Segelschiffe zu bauen und den Atlantik zu überqueren. Von Amerika aus in die Neue Welt, ostwärts -
ein verlockender Gedanke. Die Geschichtsschreibung, vsie Gudrun und er sie kannten, würde kopfstehen. Nicht ein Cristoforo Colombo
würde Amerika entdecken, sondern ein Thomas Ericson Spanien, Frankreich oder England.
Oder die Passage vorbei an Gibraltar ins Mittelmeer. Und weiter. Die Stämme Manasse, Ephraim oder Benjamin kennenlernen. Oder
das Reich Davids mit den Neuerwerbungen Edom, Moab und Ammon. Je nachdem, in welches Jahrhundert das Schicksal ihn
verschlagen hatte. Vielleicht zurück ins Palästina zur Zeit Jesu: Galiläa, und südlich davon, unter der Herrschaft s°on Pontius Pilatus:
Samaria, Judäa und Idumäa.
Jesus Christus persönlich begegnen. Mit ihm durch das Land ziehen und Wunder wirken. Einer seiner Jünger?
Gewagte Überlegungen waren das. Und noch etwas schoß ihn durch den Sinn: »Thomas!« hatten die Kreuzritter einst triumphiert, als er
ihnen seinen Namen genannt hatte. »Ihr seid der Apostel Thomas, derjenige der zwölf Jünger, der da einst...«
Mit einer unwilligen Handbewegung versuchte er, alle diesbezüglichen Gedanken wegzuwischen, bevor sie ihm den Verstand raubten.
Aber was war Zeit wirklich? Und was Realität? Wenn er den Azachen zu erklären versuchte, daß eines Tages Menschen zum
Mond fliegen würden...
Zum Glück bewies Gudrun eine profanere Einstellung zu den Dingen, beinahe schon phlegmatisch. Jäh holte sie ihn aus seinen
hochfliegenden Träumen - oder waren es doch eher Alpträume? - in die nicht minder alptraumhafte Szenerie von Azachuän zurück.
Obwohl: Leben ließ es sich bestimmt in dieser Zeit und diesem Land.
»Scheinbar stirbt mit dem Tod eines Menschen also doch nicht alles in ihm«, sagte Gudrun. »Irgend etwas funktioniert noch - sein
Geist, seine Seele oder wie immer wir es nennen sollen.«
»Raoul war tot«, sagte Ericson schroff.
»Wer? «
»Der Kreuzritter.«
»Er starb in der Schlacht. Wir wurden hingerichtet.«
»Das waren nicht wir«, ächzte Tom Ericson. »Zum Glück für uns. «
»Trotzdem«, beharrte die Anthropologin. »Es scheint das alte Spiel von Macht und Intrigen zu sein. Adim und Meron wurden
angeklagt... «
»...für etwas, was sie nicht getan haben«, vollendete Ericson. »Mich interessiert, von wem.«
»Fragst du das - oder Meron?«
»Vielleicht beide. Was weiß ich.« Tom hob die Schultern und ließ sie ruckartig wieder sinken. Das leichte Nachfedern von Adims
Brüsten ignorierte er inzwischen.
»Ich konnte nicht erkennen, wer uns niederschlug, als wir den toten Vogel fanden. Du?«
Gudrun schüttelte Merons Kopf. »Nein. Stellt sich die Frage, wer es uns sagen kann.«
»Müssen wir das überhaupt wissen? « wandte Tom ein. »Ich glaube nicht, daß es damit zu tun hat, ob und wie wir von hier
wegkommen. «
»Das mag sein. Andererseits sollten wir herauszufinden versuchen, ob unsere Anwesenheit in dieser Zeit Veränderungen bewirkt. «
»Wahrscheinlich geschieht das bereits«, meinte Tom. Er verschwieg seine Überlegungen von eben, gezielt die Geschichte zu
beeinflussen. Wer ethisch verantwortlich handelte, konnte eine Welt schaffen, die besser sein würde als die Erde, die er kannte. Beine
Kriege, keine Unterdrückung aus wirtschaftlichen Interessen... Verdammt, er würde sich abgewöhnen müssen, auf seine Weise Gott
spielen zu wollen. So reizvoll es ihm auch erschien, die möglichen Folgen daraus würden unabsehbar sein. »Wir sind zwei Tote, die von
den Göttern zu neuem Leben erweckt wurden«, fügte er rasch hinzu. »Egal, wie die Azachen dazu stehen, so etwas ist nicht an der
Tagesordnung. Ich erinnere mich an einen ähnlichen Vorfall...«
Gudrun kniff die Brauen zusammen und starrte ihn fragend an.
„Jesus Christus«, sagte Tom Ericson betont. »Er starb am Kreuz - für uns. Und nach drei Tagen ist er auferstanden und seinen ,Jüngern
erschienen.«
»Das ist kein Vergleich«, protestierte Gudrun.
»Wirklich nicht? Ich bin Christ, aber ich bin auch Archäologe. Und als solcher unablässig auf der Suche nach der Wahrheit.« Ein
spöttisches Grinsen huschte über Merons Züge. Tatsächlich war es Gudruns Grinsen.
»Ich kenne dich, Tom Ericson. Du überlegst doch jetzt schon, wie du es anstellen kannst, Cleopatra den Rücken einzuseifen. Oder wägst
du deine Bezüge als Dozent in Yale gegen den Reichtum der Königin von Saba ab? Mitgiftjäger! Ich für meinen Teil will einfach nur
zurück.«
»Schadensbegrenzung also.« Tom lachte hell auf. »Weg hier, und so schnell wie möglich?«
»In etwa, ja. Die Frage ist nur: wie? «
Tom hob die Schultern. »Diskutieren bringt uns nicht weiter. :W dererseits können wir nicht einfach losmarschieren...«
»Wir brauchen Hilfe«, sagte Gudrun.
Tom schnippte mit den Fingern. »Das ist naheliegend.« »Was? «
Ericson grinste. »Vielleicht zahlt es sich doch aus, die Tochter eines angesehenen Vaters zu sein.«
Mit Hilfe von Adims Wissen fand sich Tom Ericson im Palast ziemlich gut zurecht. Davon abgesehen hatte er sich zuvor schon ein Bild
der Räumlichkeiten machen können.
Er wies Gudrun auf Details in der Baustruktur, Malereien und Wandinschriften hin. Einige Zeichnungen stellten Szenen aus der
Geschichte der Azachen dar. Tom wünschte, er hätte Zeit gehabt; die Schriften eingehender zu studieren. Möglich gewesen wäre es ihm;
schließlich wußte Adim die Bilder zu lesen.
»Stellenweise fühle ich mich an die Kultur der Azteken erinnert«, sagte er.
»Vielleicht waren die Azachen Vorfahren der Azteken oder zumindest um drei Ecken herum mit ihnen verwandt«, meinte Gudrun.
»Ich wüßte gerne, was wirklich dahinter steckt.« »Deshalb sind wir nicht hier.«
»Ich weiß.« Tom winkte ab. »Aber warum nicht das eine mit dem anderen verbinden? Dann war unser Ausflug in die Vergangenheit
nicht ganz umsonst.«
»Erstens«, begann Gudrun, »sollten wir wirklich vorsichtig sein und nichts verändern...«
»Das habe ich nicht vor«, verteidigte Tom seinen Forscherdrang. »Ich möchte mich nur umsehen.«
Gudrun ließ sich nicht beirren. »Zweitens«, fuhr sie fort, »wissen wir überhaupt nicht, ob wir von unserem Ausflug, wie du es nennst,
überhaupt zurückkehren werden. Vielleicht ist dies hier' die Endstation.«
»Mal bitte nicht den Teufel an die Wand! « »Abergläubisch?«
»Muß ich dich daran erinnern, wie viel wir schon erlebt haben, was jeder Schulweisheit widerspricht?«
Tom Ericson deutete in einen Quergang, der in eine weite Säulenhalle mündete. Am jenseitigen Ende führte eine breite Treppe empor
zur nächsthöheren Ebene. Dort lag der Zugang zu den Privatgemächern Valeens.
»Hältst du es wirklich für eine gute Idee, deinen Vater einzuweihen?« fragte Gudrun, während sie Seite an Seite die Stufen hochtiefen.
»Hast du eine bessere?«
»Das nicht. Ich stelle es mir nur nicht ganz einfach vor, einem Menschen dieser Zeit zu erklären, was wir erlebt haben.«
»Ich glaube, daß manche alten Völker aufgeschlossener waren als die Menschen der Neuzeit. Immerhin waren sie vorbehaltlos bereit, an
das Wirken von Göttern und dergleichen zu glauben. Möglicherweise wird Valeen unsere Geschichte gar nicht so unglaublich finden.«
»Dein Wort in Gottes Ohr«, murmelte Gudrun.
»In die Ohren der Götter«, verbesserte Tom. »Die Azachen haben genug davon.«
Der Zugang zu Valeens Gemächern war unbewacht. Ungehindert konnten Tom und Gudrun eintreten. Gleich darauf hörten sie
Stimmen.
Valeen hatte Besuch. Fünf Hohe Räte standen ihm gegenüber, dazu eine Gruppe bewaffneter Gardisten. Eine fast greifbare Erregung lag
in der Luft.
»Oh«, entfuhr es Tom. »Falls wir die Versammlung stören...« Einer der Räte - sie kannten seinen Namen, Takin - wandte sich schon zu
ihnen um. Die anderen folgten seiner Blickrichtung.
»Das tut ihr nicht, ganz und gar nicht«, versicherte Takin. »Wir hätten euch ohnedies aufgesucht.«
»Weshalb?« fragte Tom. Er spürte Adims Präsenz stärker als zuvor und ließ sie gewähren.
»Weil wir wissen wollen, weshalb ihr von den Toten zurückgekehrt seid«, erwiderte Takin. Zugleich gab er den Bewaffneten einen
Wink. Zwei der Männer gingen daraufhin auf Tom und Gudrun zu.
Doch auf halbem Wege blieben sie stehen - weil ein anderer von hinten zu dem jungen Paar trat.
Ein Schreckenslaut entfuhr Tom, als sich ein rauher Arm um seinen Hals legte. Der Arm war von winzigen Schuppen überzogen.
Nadelspitze Krallen preßten sich gegen Toms Kehle, bereit, zuzustoßen, sollte er auch nur eine unbedachte Bewegung machen.
Tom hatte sich gut genug in der Gewalt, um eine solche Unachtsamkeit nicht zu begehen.
Gradrun war einen Schritt zur Seite gewichen und hatte sich umgedreht. Mit Merons Augen erkannte sie den anderen, der Tom im Griff
hielt.
»Braam?« Der Ton in ihrer Stimme war zweifelnd und fragend, der Ausdruck ihrer Augen verstört bis entsetzt.
Auch die Hohen Räte, außer Takin, wirkten plötzlich beunruhigt. Sie raunten einander leise zu, ohne Braam aus dem Blick zu lassen.
Tom hörte ein heiseres Lachen an seinem Ohr. Dann sprach Braam mit schwerer Zunge, als stünde er unter Drogen oder als sei er
gerade aus tiefstem Schlaf erwacht.
»Ja, ich bin es - und doch bin ich es nicht. Ich bin nicht mehr der, den ihr kanntet. Den alten Braam, diesen feigen Schwächling, gibt es
nicht mehr!«
»Was ist passiert?« fragte Meron. Er schien im Moment präsenter als Gudrun.
Braam lachte häßlich.
»Wer weiß, vielleicht findest du es noch heraus«, sagte er rauh: »Möglich, daß auch du einen Platz hast im großen Plan - genau wie
deine kleine Freundin hier!« Er verstärkte den Druck seines geschuppten Armes. Tom wurde nach hinten gezerrt. Einen Augenblick
lang spielte er mit dem Gedanken, Braam anzugreifen, indem er ihm den Ellbogen unter die Rippen rammte. Aber er ließ es. Zum einen
saß Braams Klaue unverändert an seinem Hals, zum anderen wußte er nicht, ob Adims Kräfte genügen würden, einen Kampf mit Braam
siegreich zu bestehen.
Takin meldete sich zu Wort. »Braam, ich dachte... wir hatten eine Vereinbarung...« Braam stieß einen unwirschen Laut aus. »Tu, was dir geheißen wird, sonst nichts!« »Aber...«
»Kümmere dich um Valeen«, fiel Braam dem Rat ins Wort. »Und sorge dafür, daß auch Meron keinen Schaden anrichten kann, bis wir entschieden haben, was mit ihm geschehen soll.« Einer der Räte, Eem, mischte sich ein. »Takin, ich verlange eine Erklärung! Was soll das? Welches Spiel treibst du mit uns, und was hat dieses... «, er sah in Braams Richtung, voller Widerwillen und Abscheu, »...dieses Tier damit zu schaffen?« Braam fauchte vor Wut. Er versetzte Tom einen derben Stoß, der ihn taumeln und stürzen ließ, setzte über ihn hinweg und sprang mit zwei, drei Sätzen in Richtung des Ratsältesten. Eine blitzschnelle Bewegung. Blut spritzte. Eem schrie gurgelnd auf. Dann ging er zu Boden, die Hand gegen seine Kehle gepreßt. Sein
Röcheln erstickte.
Aus brennenden Augen starrte Braam in die Runde. Nicht einmal die Bewaffneten wagten, ihre Lanzen gegen ihn zu richten. Es war
unübersehbar, daß Braam eine körperliche Verwandlung durchmachte. Seine Physiognomie wirkte verschoben und entstellt, und sein
Arm hatte sich schon vollständig verändert. Tom Ericson sah so etwas nicht zum ersten Mal. Er warf Gudrun einen Blick zu und las in
ihrem Gesicht das gleiche Erkennen. Die Anthropologin nannte es sogar beim Namen, atemlos und erschrocken.
» Kar... «
Tom nickte, ohne etwas zu sagen. Der gleiche Gedanke war ihm eben durch den Kopf gegangen. Es war die Erinnerung an Professor
Richard Dean Karney, den das Schicksal ereilt hatte.
Der Professor hatte die Hinterlassenschaft einer uralten Hochkultur entdeckt - und sich an eben diesem Erbe infiziert. In der Folge vvar
sein Körper mutiert, hatte sich mehr und mehr in den einer Echse verwandelt. Schließlich hatte sich Karney nur noch Rar genannt, und
sein Ziel war nicht weniger als die Weltherrschaft gewesen.
Kar war Vergangenheit. Doch die Dinge, an denen er gerührt hatte, schienen präsent wie ehedem. Und sie existierten offenbar auch in
dieser Zeit.
Braam war mit der infizierenden Flüssigkeit in Berührung gekommen. Und wer außer ihm?
Der goldene Vogel!
Adims Erinnerung ließ keinen anderen Schluß zu. Aber wie hing das alles zusammen?
Braam übernahm wieder das Wort.
»'Takin! Kümmere dich um Valeen und Meron.«
Der Hohe Rat senkte ergeben das Haupt.
Braam wandte sich Tom zu. »Ich werde mich der schönen Adim annehmen...«
Valeen wollte aufbegehren und seiner Tochter zur Hilfe eilen, aber zwei Bewaffnete hielten ihn zurück.
Braam faßte nach der Hand des Mädchens und zog es hoch. Toms Gedanken überschlugen sich. Er spürte Adims Angst, und auch sein
eigener Impuls war, sich zur Wehr zu setzen. Trotzdem unterließ er es.
Was immer mit Braam geschehen sein mochte - es konnte eine Chance sein. Die Chance, herauszufinden, wie sie hierher gelangt waren
- und womöglich bot sich in der Folge ein Ausweg aus dieser Situation.
Wenn Tom im Laufe der Zeit eines gelernt hatte, dann war es, seinem Instinkt zu vertrauen.
Ungeachtet der Ungewißheit und der Gefahr ließ er sich von Braam abführen und wehrte sich nur zum Schein.
Im Hinausgehen warf er Gudrun einen raschen Blick zu. Sie nickte knapp, von zwei Bewaffneten bedroht.
Immer noch verstanden sie einander ohne Worte. Das war ein gutes Gefühl. Gerade in dieser mißlichen Lage. Takin führte seine
Gefangenen immer tiefer in die Gewölbe des Palastes, während Braam mit Adim einen anderen Weg genommen hatte. Schon die
Tatsache, daß ihnen auf dem Weg in die Tiefe niemand begegnete, daß nicht einmal Laute zu hören waren, die auf die Nähe anderer
Menschen schließen ließen, sprach Bände.
Niemand redete. Nur das Geräusch ihrer Schritte hallte von den Mauern wider.
Gudrun versuchte, sich einen Reim auf die Geschehnisse zu machen. Meron kannte Braam und Takin. Natürlich. Dennoch entsprachen
beide nicht mehr dem Bild, das Meron von ihnen hatte; am wenigsten Braam, der sich äußerlich erschreckend ver- ändert hatte. Er
mutierte zu einem echsenhaften Wesen, genau wie damals (in der Zukunft! verbesserte sich die Anthropologin sofort) Professor Karney.
Das hieß, daß auch Braam mit jener genetisch verändernden Flüssigkeit in Berührung gekommen sein mußte.
Die Frage stellte sich, wo. Und war allein Braam davon betroffen, oder... Ein schrecklicher Gedanke, den sie besser nicht zu Ende
führte. Braam war stets mit Tolos zusammen gewesen, einem jungen Mann in ihrem - Merons, Adims und Braams - Alter. Die beiden
waren geradezu unzertrennlich gewesen.
Wo befand sich Tolos? War er ebenfalls infiziert worden? Zeigte sich die Veränderung bei ihm in stärkerem Maße, und hielt er sich
deshalb versteckt? Was hatten die beiden vor, und welche Rolle spielte Takin, der es offensichtlich darauf anlegte, einen V-Iachtwechsel
in Azachuan zu vollziehen?
Gudruns Gedanken griffen wie Zahnräder ineinander, einer setzte den nächsten in Gang. Dennoch würde alles haltlose Theorie bleiben,
bis sie konkrete Fakten vorweisen konnte.
Weder Braam noch Tolos würde ihr momentan Antworten liefern, blieb also nur, sich an den zu wenden, der greifbar war. »Takin! «
Der Hohe Rat wandte den Blick über die Schulter, aber wem er auch nicht stehenblieb, verlangsamte er immerhin seinen Schritt.
Sekundenlang war Gudrun irritiert. Hatte sich das asketische Gesicht Takins ebenfalls verändert? Seine Haut wirkte gerötet, vereinzelte
Pusteln zeigten sich.
Gudruns Verdacht wuchs. Fast verblüfft stellte sie fest, wie scharf ihre Sinne wieder funktionierten. Nachdem sie in den vergangenen Tagen kaum sie selbst gewesen war und viel Zeit in quälender Apathie verbracht hatte, fühlte sie sich inzwischen auf eine Art wach und aufmerksam, die sie nie zuvor erfahren hatte.
Die Erklärung lag im Grunde auf der Hand - sie vvar nicht allein in diesem Körper. Meron mochte zwar getötet worden sein, aber ein
Teil von ihm - seine Seele oder etwas, für das es keinen Namen gab - befand sich noch in seinem Körper und lebte; zumindest war es
nicht auf dem Stein des Urteils gestorben.
Vier Augen sehen mehr als zwei - die alte Binsenweisheit schoß Gudrun durch den Sinn und gewann angesichts der irritierenden
Situation eine völlig neue Bedeutung. Die Anthropologin verfügte nicht nur über Merons Augen, sondern darüber hinaus auch über
seine übrigen Sinne. Ihr gesamtes Wahrnehmungsvermögen hatte sich verbessert.
Absurd, dachte sie. Das ist Wahnsinn! Zugleich fand sie es verlockend, eine ungeheure Herausforderung.
»Was willst du?«
Takins unwirsche Worte rissen sie aus ihren Überlegungen. Sie hatte den Hohen Rat ungewollt wie abwesend angestarrt.
»Was hat Braam dir versprochen?« stieß sie hervor.
Takin lachte dumpf. »Du verkennst die Tatsachen, Meron. Ich bin es, der Antworten erwartet.«
»Achja?« »Auf die Frage zum Beispiel, wieso du lebst. Und weshalb du frevlerisch behauptest, Ruun sei in dich gefahren. Wenn dem so
wäre, könntest du nicht unwissend sein.«
Ruun... Gott Ruun.
Wie es zu diesem Mißverständnis kommen konnte, wußte Gudrun inzwischen. Die Ahnlichkeit zwischen ihrem Namen und dem eines
azachischen Gottes war allzu offensichtlich.
Aber sie würde den Teufel tun, diesen Irrtum aufzuklären, solange sie daraus irgendwie noch Nutzen ziehen konnte. Solche Trümpfe
waren dazu da, sie im richtigen Moment auszuspielen.
Fieberhaft suchte sie nach einer Möglichkeit, das Blatt zu ihren und Toms Gunsten zu wenden. Und wie immer: Das Einfache lag so
nahe, daß man schlicht Gefahr lief, es zu übersehen.
»Wer sagt dir, daß ich unwissend bin?« herrschte sie Takin an. »Was mit Braam geschah, ist kein Einzelfall. An ihm siehst du, welches
Schicksal dich erwartet.«
Mit einer eher unbewußten Handbewegung fuhr sich der Hohe Rat übers Kinn. Er kratzte sich.
»Du wirst dich verändern wie Braam«, versetzte Gudrun Heber gezielt. »Du wirst deine Menschhchkeit verlieren und zum Tier
werden.«
Takin lachte häßlich. »Zum Tier - welch blühender Unsinn. Wir sind die ersten einer neuen Rasse.«
»Du glaubst ihm?« Gudrun legte Mitleid und Spott in ihren Tonfall.
»Braam besitzt die Saat der Götter! « ereiferte sich der Rat. »Er brachte sie zu mir und...«
»Zu wem noch?« hakte Gudrun nach, als Takin nicht weitersprach.
»Einer Schar von Auserwählten.« »Die deinen Aufstand unterstützen?«
»Aufstand?« Takin winkte verächtlich ab. »Eine neue Zeit der Götter wird anbrechen.«
»Wenn es so bestimmt wäre, wüßte ich davon,« Gudrun forcierte den Hohn in ihrer Stimme und bedachte Takin mit einem herben
Lächeln.
»Dann sage du mir den Wunsch der Schöpfer«, ächzte der Hohe Rat.
Gudrun antwortete nicht sofort. Als Ruun hatte sie über den Dingen zu stehen. Sie bemühte sich sogar, Verachtung in ihre Stimme zu
legen.
»Braam und... «, sie wagte den Schuß ins Blaue, »...Totos haben an Dinge gerührt, die ihnen nicht bestimmt sind. Die keinem Menschen
bestimmt sind!«
Zumindest die Erwähnung von Tolos schien Takin zu irritieren. Und dazu beizutragen, daß er anfing zu glauben, was Meron - vielmehr
Ruun durch Merons Mund - zu sagen hatte.
»Ein unverzeihlicher Frevel, Takin. Die beiden reißen dich und alle, die ihnen Gehör und Glauben schenken, mit ins Verderben.«
Gudrun konnte fast sehen, wie es hinter Takins Stirn arbeitete.
Zweifel keimten in ihm. Er gab den Bewaffneten ein Zeichen anzuhalten.
»Nenne mir einen gewichtigen Grund, weshalb ich dir glauben sollte!« forderte er rauh, Meron nun ganz zugewandt.
»Das mußt du nicht«, sagte Gudrun. »Nur, wenn du den Rest deines Lebens nicht als Tier zubringen willst, solltest du darüber
nachdenken. «
Er schüttelte den Kopf.
»Die Verwandlung wird furchtbar sein. Schmerzhaft, qualvoll.« Gudrun schaute den Azachen herausfordernd und lauernd in einem an.
»Spürst du es noch nicht?«
Takin schluckte. Unbehaglich fuhr er sich wieder mit der Hand durchs Gesicht. Seine Haut war stärker gerötet als zuvor. Er sah
aus, als sei er mit Nesseln in Berührung gekommen.
»Anfangs ist es nicht mehr als ein Jucken und Brennen«, bohrte Gudrun ungerührt weiter. »Dann spürst du es in dir, als würde dein Leib
sich bewegen, als zerrten unsichtbare Fäuste an Fleisch und Knochen.«
Takins Blick wurde starr. Aus großen Augen stierte er Meron an. Seine Gesichtshaut nahm eine ungesunde, aschfarbene Tönung an. Er
wollte etwas sagen, setzte zwei-, dreimal an, brachte aber kein verständliches Wort hervor.
Der Kandidat hat schon mal fünf Punkte, dachte Gudrun und bemühte sich, das zufriedene Glitzern in ihren Augen zu verbergen.
»Kannst du in mich sehen?« preßte Takin endlich hervor. »Das ist nicht nötig«, erklärte Gudrun knapp. »Ich weiß es eben. Das muß dir
genügen, und...«
Die Ereignisse nahmen eine überraschende Wende.
Gudrun hatte fast vergessen, daß Valeen ebenfalls von den Bewaffneten abgeführt wurde. Aus den Augenwinkeln heraus registrierte sie
eine blitzschnelle Bewegung, ein Huschen nur.
Der Volkvater der Azachen hatte die Gunst des Augenblicks genutzt und einem Gardisten den Speer aus den Händen gerissen. In
derselben fließenden Bewegung hatte er der daneben stehenden Wache den Schaft der Waffe in die Magengrube gerammt und im
Zurückziehen die geschliffene Spitze in den Oberarm des ersten gebohrt. Ein zweiter heftiger Ruck, und die Spitze löste sich wieder aus
dem Fleisch des Mannes, der mit einem Schmerzenslaut nach hinten taumelte.
All dies dauerte kaum drei Sekunden.
Die beiden anderen Gardisten reagierten nahezu synchron und wirbelten ihre langschäftigen Waffen herum. Daß sie es zögernd taten
und nicht mit letzter Konsequenz, lag zweifellos daran, daß sie in Valeen immer noch den Volkvater sahen und damit einen
Abkömmling der Götter.
Holz krachte auf Holz, schrammte daran entlang. Valeen hatte seinen erbeuteten Speer inzwischen mit beiden Händen gepackt und
abwehrend hochgerissen. Eine Metallspitze verfehlte :,
seine Schulter um nicht einmal zwei Handbreit, krachte klirrend gegen die Mauer und schrammte kreischend daran entlang.
Während Valeen noch verbissen versuchte, dem Angreifer die Waffe aus der Hand zu Nebeln - ein schwieriges Unterfangen, weil er
dazu besser eine Hand von seinem eigenen Speer gelöst hätte - traf ihn ein schmerzhafter Hieb an der Hüfte.
Der Volkvater taumelte. Instinktiv rammte er das Ende seines Speerschaftes auf den Boden, um einen weiteren Hieb abzublokken, doch
damit gab er dem ersten Angreifer Gelegenheit zu einer neuen Attacke.
Gudrun versetzte einem der Gardisten einen kräftigen Tritt, der ihn taumeln ließ. Dem instinktiv gegen sie geführten Speerstoß entging
sie mit einer blitzschnellen Drehung zur Seite und indem sie beide Arme hochriß.
Es war eine einzige fließende Bewegung, in der sie zupackte, ihre Hände um das Holz verkrampfte und gleichzeitig die Drehung weiter
ausführte. Ihr Widersacher reagierte zu langsam, um sich der Hebelwirkung zu widersetzen, die ihm den Schaft aus den Händen riß.
Und im gleichen Atemzug war Meron herum und stieß ihm die Waffe in die Seite.
»Meron, hinter dir!« rief der Volkvater warnend.
Während Valeen gleichzeitig von den beiden noch kampffähigen Gardisten bedrängt wurde, versuchte Takin, den Sohn des Schmiedes
zu überwältigen. Mit einem Aufschrei warf er sich von hinten auf Meron, umklammerte mit dem linken Arm seinen Leib und hinderte
ihn so daran, die Waffe gegen ihn einzusetzen. Seine Rechte krallte sich um Merons Kehle, zerrte seinen Kopf langsam in die Höhe, daß
Gudrun schon glaubte, die Wirbel knirschen zu hören.
Vergeblich versuchte sie, dem unnachgiebigen Griff des Hohen Rates zu entkommen. Nur drei Schritte vor ihr lag die Waffe eines
Gardisten am Boden - unerreichbar!
Während sie, nach Atem ringend und mit langsam aus den Höhlen quellenden Augen den Speer anstarrte, als könnte sie ihn allein kraft
ihres Wunsches bewegen, hörte sie hinter sich ein abrupt verstummendes Gurgeln.
Valeen? Sie verdoppelte ihre Bemühungen. Verdammt, sie war keine schwache Frau sondern ein junger Mann in den besten Jahren. Aus
den Augenwinkeln heraus sah sie gerade noch den letzten Gardisten zusammenbrechen, die Arme vor einer tiefen Brustwunde
verkrampft.
Valeen mußte die Kraft eines Berserkers entwickelt haben. Trotzdem kam er zu spät. Sechs, sieben Meter trennten ihn bereits von
Takin, der Meron mit sich zerrte.
»Bleib, wo du bist, Valeen! « Die Stimme des Hohen Rates klang dumpf und knarrend. »Ich töte ihn, sobald du nur versuchst, mir zu
folgen.« Ein heiseres, geckerndes Lachen begleitete die Drohung. »Ich glaube nicht, daß Meron ein zweites Mal von den Toten
zurückkehren wird. Und deiner Tochter wird es ebenso ergehen.«
Mit einer knappen, kraftvollen Bewegung schleuderte Valeen seine Waffe. Gudrun glaubte, ihr Herz müsse stehenbleiben, als sie den
Speer auf sich zufliegen sah. Sekundenbruchteile nur dann ein halb ersticktes Gurgeln.
Sie stürzte, fiel, vom eigenen Schwung getragen, vornüber und schlug schwer auf. Ein dumpfer Schmerz tobte durch ihren Körper,
dennoch gelang es ihr, sich rasch seitlich abzurollen.
Erst in dem Moment sah sie, daß der vom Volkvater geschleuderte Speer zwischen Takins Rippen eingedrungen war.
Die Augen des Hohen Rates wurden groß und rund. Ein keuchender Laut drang über seine Lippen, dann sickerten dünne Blutfäden aus
den Mundwinkeln.
Valeen setzte nach. Als Takin sich den Speer selbst aus der Brust reißen wollte, hinderte er ihn daran und drängte ihn gegen die Wand,
wie um die Waffe noch tiefer in die Wunde zu treiben.
»Nicht!« keuchte Gudrun. »Töte ihn nicht!«
»Sein Verrat ist nur mit dem Tod zu sühnen«, stieß Valeen knirschend hervor. »Du bist nur der Sohn eines Schmieds...« Gudrun
schluckte. »Das sehen die Götter anders«, sagte sie leise.
Zu ihrer eigenen Überraschung ließ Valeen den Speer los. Er wirkte überrascht und betroffen zugleich, als er seine blutver schmierten
Hände hob.
»Tun sie das?« fragte er zögernd.
Gudrun hatte Mühe zu nicken. Es fiel ihr schwer, die anmal3ende Rolle, die sie sich aufgebürdet hatte, weiterzuspielen. Es war ohnedies
zu spät, Takins Tod noch zu verhindern. Der Speer mußte seine Lungen zerrissen haben. Der Hohe Rat konnte kaum noch atmen, sein
Gesicht war eine Maske des Schmerzes. Er litt Höllenqualen.
Valeens nochmaliges Zustoßen wäre wohl nur ein Akt der Gnade gewesen. Dennoch hätte Gudrun es nicht fertiggebracht, tatenlos
zuzusehen.
Den Schmerz in ihren Gliedern ignorierend, raffte sie sich auf und stützte den tödlich Verwundeten, während er langsam an der Wand
entlang zu Boden sank, weil die Beine ihn nicht mehr trugen. Sie versuchte sogar, ihm in eine halbwegs erträgliche sitzende Position zu
helfen.
»Wozu die Mühe, Ruun?« krächzte Takin. »Ich spüre, daß ich sterben werde.« Schwarzes, geronnen wirkendes Blut quoll über seine
Lippen.
Gudrun sah ihn nur stumm an. Aber Valeen beugte sich herab und herrschte den Hohen Rat an: »Sprich, Verräter. Nutze deinen letzten
Atem zur Sühne - wo bringt Braam meine Tochter hin?«
Genau die Frage brannte auch Gudrun auf der Seele.
Takin lachte rasselnd. »Und damit wird mir meine Schuld in den Augen der Götter vergeben?«
Valeen warf Gudrun einen Blick zu, auffordernd und fragend. Sie fühlte sich unbehaglich, fast schäbig, dennoch antwortete sie im Sinne
des Volkvaters.
»Es könnte helfen, deine Schuld zu tilgen. Auf keinen Fall aber wird es zu deinem Schaden sein.«
Takin nickte. Es fiel ihm bereits merklich schwer. Seine Hände tasteten wieder nach dem Speer.
»Braam sagte...«, er hustete, rang nach Luft, und Gudrun fürchtete schon, daß er mit in dem Tod nehmen würde, was ihm auf der Zunge
lag.
Sekunden vergingen, qualvoll für Takin wie auch für Valeen und Gudrun.
»Stadt...«, brachte der Rat dann hervor. »Stadt?« echote Gudrun.
Takin starrte sie matt an. »Du weißt es doch nicht?« keuchte er. »Du hast mich belogen, du bist nicht...« Erneut verkrampfte er sich in
einem Hustenanfall. Sein Gewand war mittlerweile schwarz von Blut.
»Rede!« Valeen packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn.
Mit seinem allerletzten Atemzug spie Takin die Antwort aus. Wortlos erhob sich Valeen dann und ging davon, stieg achtlos über die
Leichen der Gardisten hinweg.
Ein Schauer lief Gudrun den Rücken hinab. Die Kaltblütigkeit des Volkvaters erschreckte sie. Doch zugleich brachte sie auch
Verständnis für Valeen auf, der in diesem Augenblick weniger Herrscher seines Volkes war als je zuvor - seine Sorge galt Adim, seiner
einzigen Tochter.
Gudrun teilte dieses Gefühl.
Zum einen, weil auch Meron so empfand.
Zum anderen wuchs in ihr selbst die Angst - um Tom Ericson. Sie waren oft unterschiedlicher Meinung gewesen, manchmal wie Hund
und Katze zueinander, aber seine Nähe bedeutete ihr mehr, als sie sich bisher eingestanden hatte.
Der Marsch durch den Dschungel schien kein Ende zu nehmen, und Braam kannte keine Müdigkeit. Daß Adim längst erste Anzeichen
von Erschöpfung zeigte, interessierte ihn nicht.
Etliche Male hatte Tom Ericson versucht, Braam in ein Gespräch zu verwickeln. Doch der Azache hatte entweder gar nicht oder nur
einsilbig geantwortet und nur darauf verwiesen, daß Adim alles erfahren würde, was es zu wissen gab. Sobald sie das Ziel erreicht
hatten. Tom wußte inzwischen aus Adims Erinnerungen, daß sie sich dem Ort näherten, den die Azachen als Stadt der Toten
bezeichneten. Er hatte ebenso eine optische Vorstellung von dieser Stadt und wußte, welchem Zweck sie diente.
Als sich unvermittelt das Grün des Dschungels öffnete und den Blick freigab wie auf eine gewaltige Bühne, verschlug es ihm dennoch
den Atem. Unwillkürlich blieb der Archäologe stehen, als sei er gegen eine unsichtbare Barriere gelaufen.
Der Anblick war gewaltig. Beängstigend. Erhebend. Unheimlich. Majestätisch.
Tom fühlte einen Widerstreit der Gefühle in sich. Ihn, den Forscher und Abenteurer, faszinierte die Stadt der Toten vom ersten
Augenblick; Adim, die von Kindesbeinen an nur Ehrfurcht und Angst für diesen Ort gekannt hatte, schüchterte das Bild ein.
Etwas Vergleichbares hatte Ericson nie gesehen. Zweifellos handelte es sich um das Zeugnis einer überaus hochstehenden Kultur. Daß
ihre Ruinen bis in die Moderne hinein nicht entdeckt worden waren, mochte daran liegen, daß der Dschungel längst alles überwuchert
hatte. Oder weil etwas geschehen war, das quasi über Nacht - oder zumindest binnen kurzer Zeit - alle Spuren getilgt hatte.
Warum hatte er nur das verdammt unangenehme Gefühl, daß der Untergang dieser Kultur unmittelbar bevorstand?
Eine Art irrealer Trauer überkam ihn, ein bedrückendes, niederschmetterndes Gefühl, als sei ihm unvermittelt eine Zentnerlast
aufgebürdet worden.
Ein Schuldgefühl? Welch aberwitziger Gedanke.
Braam versetzte ihm einen Stoß zwischen die Schulterblätter, und Tom war fast dankbar dafür, daß er auf den Boden der Tatsachen
zurückgeholt wurde.
»Weiter!« krächzte Braam, und Adim/Ericson setzte sich gehorsam in Bewegung.
Er hatte nicht vor, bis zum bitteren Ende in Braams Nähe zu bleiben. Jetzt, so nahe am Ziel, wollte Tom die erste Gelegenheit nutzen,
um sich abzusetzen. Um das Terrain auf eigene Faust zu erkunden. Und natürlich mußte er Gudrun wiederfinden.
Aber damit war es noch längst nicht getan. Das Problem war, die Zeit zurückzudrehen. Andererseits waren Gudrun und er von den
Ereignissen gleichsam überrollt worden. Vielleicht mußten sie nur zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort sein...
Den Ort glaubte Tom Ericson zu kennen. Die Anlage zur zeitlosen Ortsversetzung, die in beschädigtem Zustand am Rande der neu
entstehenden Dschungelpiste wartete. Wie es sie in Kars schwarzer Pyramide gegeben hatte. Das Aussehen der Totenstadt machte ihm
Hoffnung, zwischen den Steinmauern fündig zu werden. Andererseits war ihm klar, wie trügerisch und brüchig diese Hoffnung war. Sie
stellte nichts anderes als einen Strohhalm dar, der ihm Halt gab. Für wie lange?
Braam hastete weiter. »Wohin?« fragte Ericson.
Der Azache wies mit ausgestrecktem Arm in die Höhe. Dort oben befand sich etwas, das an einen Vulkankrater erinnerte. Die Bauten
waren abgesackt, ein gähnender Schlund führte in unbekannte Tiefe.
Sollte all das hier in Jahrhunderten oder Jahrtausenden vom Erdboden getilgt sein? Uberdauerte außer einem unterirdischen Labyrinth
von Höhlen und Gängen nur die Anlage einer unbekannten Technik die Zeit?
Aber selbst wenn er die Anlage aasfindig machte, wie sollte er sie dazu bringen, Gudrun und ihn in das beginnende 21. Jahrhundert
zurückzutransferieren?
Irgendwie hatte er plötzlich den Eindruck, daß die Totenstadt, die sich wie ein schwarzer Berg vor ihm auftürmte, stellvertretend für die
ungelösten Probleme stand, die seiner harrten...
Der Aufstieg zu der klaffenden Öffnung erwies sich als mühsam. Der Weg führte über steile Treppen und Rampen, und bisweilen mußte
Tom das Klettergeschick einer Gemse an den Tag legen.
Schließlich hatten sie es geschafft. Braam deutete in die Tiefe. »Du zuerst«, sagte er.
Tom nickte und machte Anstalten, über den Rand hinabzusteigen. Er trat etwas vor, gelangte dabei dichter an Braam heran - und
schaffte es, den anderen zu überraschen.
Jäh ergriff er den Azachen am Arm, zerrte ihn ruckartig vorwärts und stellte ihm zugleich ein Bein. Braam kippte vornüber. Er ruderte
mit den Armen, suchte nach Halt, fand aber keinen. Mit einem gellenden Aufschrei verschwand er in der finsteren Tiefe.
Ericsons Triumph währte nur wenige Sekunden. Dann schlug er in eisigen Schrecken um. Rückwärts gehend prallte er gegen eine
Gestalt, die lautlos wie ein Geist hinter ihm erschienen war.
Tom kannte den anderen nicht, aber Adim erkannte ihn - obwohl er sich auf entsetzliche Weise verändert hatte!
Der Schädel war haarlos, die Haut schuppig. Kalte Schlangenaugen starrten den Archäologen an, Mund- und Nasenpartie waren
vorgewölbt...
Tom Ericson glaubte für einen Moment fast, Kar vor sich stehen zu haben, während Adim den Namen ihres Gegenübers flüsterte.
»Tolos...« Das Echsenwesen nickte. Und antwortete. Mit dem häßlichen Zischen einer Schlange...
Valeen war ein erstaunlicher Mann. Er schien völlig verändert. Diesen Eindruck hatte Gudrun, und ihr Gefühl rührte natürlich von
jenem Bild her, das Meron von Valeen hatte. Ein Bild, das kaum mehr mit der Wirklichkeit übereinstimmte.
Valeen war nicht mehr die Lichtgestalt, die von den Azachen als Abkömmling der Götter betrachtet und verehrt wurde. Er war
inzwischen nichts anderes mehr als ein Mensch aus Fleisch und Blut, ein Mann, der bereit war zu kämpfen, ein Vater, den die Sorge um
seine Tochter auffraß. Zugleich schürte diese Sorge rasenden Zorn in ihm. Wehe dem, auf den sich dieser Zorn entlud. Valeen lief
voran. Er hastete gleichsam durch den Dschungel, der Totenstadt zu. Meron war ein kräftiger junger Mann gewesen, und so bereitete es
Gudrun kaum Mühe, mit dem Tempo mitzuhalten.
Nach dem Tod Takins und der Wächter hatten sie wenig miteinander gesprochen. Zwar hatte Gudrun versucht, Valeen zu erklären, wer
sie wirklich war, doch er hatte es n-ficht verstanden. Oder nicht verstehen wollen. Im Endeffekt war sie doch ein Gott für ihn. Wie sollte
sie auch erklären, daß sie nur eine Seele war und aus der Zukunft stammte - aus einer zukünftigen Zeit, in der das Volk der Azachen
schon lange nicht mehr existierte und in der Götter wie Valeen sie kannte, längst ihren Einfluß verloren hatten?
»Du bist Gott Ruun«, hatte Valeen gesagt, »für mich bist du das! Und wenn Ruun nicht selbst von dir Besitz ergriffen hat, so ist doch
wenigstens etwas von ihm in dir - etwas von seiner göttlichen Kraft. Und davon springt ein Teil auf mich über. Das ist es, was ich
glaube.«
Gudrun hatte sich danach jede weitere Äußerung diesbezüglich verkniffen.
Im Endeffekt war Valeens Entschlossenheit ihr Nutzen. Mit ihm hatte sie einen Mann auf ihrer Seite, dessen Hilfe sie dringend brauchte.
»Ich weiß nicht, womit und mit wem wir es zu tun habem", hatte Valeen erklärt, »aber wenn hier Kräfte am Wirken sind, die denen der
Götter nicht nachstehen, werde ich ihnen mit geeigneter Waffe entgegentreten.«
Mit diesen Worten hatte er den merkwürdigen Dolch der Götter an sich genommen, ehe sie den Palast und danach die Stadt
klammheimlich verlassen hatten.
Gudrun kannte die Waffe - Meron war damit hingerichtet worden. Doch im Gegensatz zu den Azachen sah sie den Dolch mit anderen
Augen.
Vermutlich handelte es sich um eine Art Laser. Genau konnte sie es nicht feststellen. Doch ihr war klar, daß nicht die Azachen diesen
Dolch hergestellt haben konnten. Es mochte durchaus sein, daß er von Göttern hinterlassen worden war - wobei der Begriff Götter
dehnbar und Auslegungssacbe war.
Sie erreichten die Stadt der Toten.
»Was ist hier geschehen?« entfuhr es Valeen entgeistert. Gudrun wußte, was ihn so erschütterte. Sie empfand ein ähnliches Gefühl der
Fassungslosigkeit, wenn auch schwächer. Tief in ihr wollte Meron nicht glauben, was er sah.
Die Stadt der Toten war zu einem Teil eingestürzt und glich jetzt mehr einer Ruine als jenem erhabenen Bild, das Meron ihr vermittelt
hatte.
Doch Valeen hielt sich nicht lange auf. Er stürmte weiter, und Gudrun folgte ihm durch die verwinkelten Gassen der Stadt bis hinauf an
den Rand des Kraters.
»Und nun?« fragte Gudrun, schwer atmend und schweißüberströmt.
Valeen deutete in den Schlund hinab.
»Ich bin sicher, daß wir dort unten finden werden, wonach wir suchen. «
Gudrun nickte. Sie teilte seine Überzeugung.
Der Abstieg war gefährlich, schwierig und mühselig. Geröll löste sich unter ihren Händen und Füßen und polterte in die Tiefe. Mehr als
einmal glitten beide aus, verloren den Halt und rutsch
ten die steile Kraterwand ein Stück weit hinab, ehe sie sich wieder fangen konnten.
Schließlich aber langten sie doch relativ unversehrt unten an. Tolos gab sich wie der Hausherr einer feudalen Residenz, der einen Gast
durch sein Zuhause führte. Oder mehr noch wie ein König, der stolz sein Reich präsentierte.
In der Tat war es ein unterirdisches Reich, durch das er Tom geleitete. Scheinbar grenzenlos im Dunkeln, und jeder Schritt offenbarte
Neues.
»Ich bedauere, daß ich dich tötete, Adim...«
Es war schwer, ihn zu verstehen. Tolos' Verwandlung war so weit fortgeschritten, daß er kaum noch Worte zu produzieren imstande
war. Zischelnde, krächzende Laute entrangen sich seinem mißgestalteten Mund.
»...aber ich danke den Göttern, daß sie dir ein zweites Leben schenkten! «
Die Mutation beschränkte sich nicht allein auf seinen Körper. Auch sein Geist wurde in Mitleidenschaft gezogen. Tolos war
unzweifelhaft dem Irrsinn anheimgefallen - und das mochte noch gewaltig untertrieben sein.
Vorübergehend hatte Tom mit dem Gedanken gespielt, Tolos anzugreifen. Doch er wäre dem echsenartigen Azachen weit unterlegen
gewesen, Er durfte nicht übersehen, daß Adim nur von zierlicher Statur war und Tolos sie fast um Haupteslänge überragte. Zum anderen
mochte Tolos' Führung durch dieses finstere Labyrinth, in dem es nur vereinzelte Inseln der Helligkeit gab, durchaus Vorteile haben.
Aufmerksam sah Tom Ericson sich um. Jedem Detail widmete er seine Aufmerksamkeit, während er quasi nur mit einem Ohr auf das
hörte, was Tolos von sich gab; dabei handelte es sich ohnehin größtenteils um wirres Geschwätz.
Immer wieder drängte sich die Erinnerung an Kars schwarze Pyramide auf einer der Phoenix-Inseln in den Vordergrund, obwohl Tom
sicher war, daß er sich hier und jetzt nicht im Inneren einer solchen Pyramide befand. Aber Teile seiner Umgebung erinnerten daran.
Als hätte jemand versucht, eine Pyramide nach
zubauen; oder vielleicht waren Teile eines Originals hierher, in dieses womöglich natürliche Höhlenlabyrinth geschafft worden von
wem und aus welchem Grund auch immer.
Genährt wurde sein Verdacht noch durch das Beleuchtungssystem. Kars Pyramide war durch ein ausgeklügeltes Spiegelsystem erhellt
worden. Hier hatte jemand offenbar versucht, diese Konstruktion zu kopieren, ohne jedoch nur annähernd die Perfektion des Originals
zu erreichen.
All diese Betrachtungen nährten in ihm die Hoffnung, daß sich hier irgendwo tatsächlich die Anlage zur zeitlosen Ortsversetzung
befand. Immer vorausgesetzt, daß der Sprung in die Vergangenheit nicht auch den Raum überwunden hatte. Aber dagegen sprach der
dichte Regenwald.
Ericsons Überlegungen gerieten ins Stocken. Die Erinnerung an die genauen Umstände ihrer Zeitreise schien seltsam verschwommen,
nicht richtig greifbar; der Grund mochte sein, daß nicht genug Zeit gewesen war, um sie wirklich zu verinnerlichen.
Aber auch dieser Gedanke bereitete ihm Mühe. Was im Moment nicht weiter wichtig war.
»Du und ich, Adim«, fuhr Tolos heiser fort, »sind auserwählt.« Die Tatsache, daß Braam abgestürzt und vielleicht zu Tode gekommen
war, schien ihn nicht zu belasten; er schien sich ihrer nicht einmal gewahr zu sein.
»Auserwählt?« wiederholte Tom, in erster Linie, um Tolos zum Weitersprechen zu animieren, bevor er wieder von etwas ganz anderem
anfing.
Der Echsenhafte nickte. » Wozu? «
»Ein neues Volk zu gründen! « Tolos' Worte hallten durch den weiten Felsendom, den sie gerade betreten hatten.
»Ein neues Volk...?« echote Tom.
»Ich werde der Vater dieses Volkes sein - und du seine Mutter, Adim! «
Tolos faßte Tom an der Hand. Der Archäologe schauderte unter der Berührung der schuppigen Klaue, ließ sich aber führen, als Tolos
weiter in das Rund der gewaltigen Höhle hineinschritt.
»Ich habe die Wahrheit erkannt«, sagte Tolos. »Ich weiß, was zu tun ist, um den Wunsch der Götter zu erfüllen.«
Sie näherten sich einem Bereich des Domes, der im Dunkeln lag, Am Rand dieser Zone blieben sie stehen. Tolos legte seine Hand auf
Adims Schulter.
»Ehe wir Nachkommen zeugen können, mußt du mir gleichen!«
Alles in Tom Ericson rebellierte. Dennoch reagierte er zu langsam.
Tolos versetzte Adim einen Stoß in den Rücken, der sie vornüber taumeln ließ. Tom schrie gellend auf, rang um sein Gleichgewicht,
doch jäh verschwand der Boden unter seinen Füßen. Er stürzte ins Dunkel - und fiel in einen klebrigfeuchten Sumpf. Die schleimige
Substanz umschloß ihn, drang ihm in Mund und Nase, und er wußte, worum es sich dabei handelte.
Und Kar hatte nur über einen Bruchteil dessen verfügt und war verwandelt worden...
Eine kalte Hand schien sich um sein Herz zu schließen, Dieses Zeug hatte Tolos zu dem gemacht, was er jetzt war -ein Ungeheuer.
»Braam! « Valeen stieß den Namen wie eine Verwünschung hervor. Seine Faust krampfte sich um den Griff des Dolches. Gudrun
konnte das Knacken seiner Fingerknöchel hören.
Braam war wie aus dem Boden gewachsen vor ihnen aufgetaucht. Er sah übel aus - verdreckt, zerschunden und blutend, und zumindest
sein linker Arm schien mehrfach gebrochen zu sein.
Wankend stand er da - ein Ungeheuer, das ihnen den Weg streitig machte.
»Wo ist Adim?«
Valeen trat einen Schritt auf sein Gegenüber zu. Seine rechte Hand schoß vor und schloß sich um Braams Kehle.
»Laß ihn reden«, sagte Gudrun rasch.
»Weg«, krächzte Braam. »Sie hat mich herabgestoßen.« Er verdrehte die Augen nach oben.
»Wo ist sie hin?«
Valeen schüttelte Braam regelrecht durch und brachte die leuchtende Klinge so nah an sein Gesicht, daß der andere die
Augen zukniff.
»Bei Tolos...«, stieß er mühsam hervor.
Ein Schrei hallte in dem Moment durch die Finsternis. »Adim! «
Valeen stieß Braam von sich. Der stürzte und schlug schwer mit dem Kopf gegen einen Felsen.
Valeen lief los. Unmöglich zu sagen, ob er wirklich gehört hatte, woher der Schrei gekommen war. Vielleicht ließ er sich nur von
seinem Gefühl leiten.
Wie auch immer, Gudrun folgte ihm. Sie glaubte ebenfalls zu wissen, wohin. Als würde sie von einem Magneten angezogen... ...oder
von ihrer Zeit, von ihrem Zuhause?
Die klebrige Substanz schien Tom Ericson festzuhalten wie mit tausend Händen. Schließlich war es Tolos, der ihm aus dem sumpfigen
Tümpel heraushalf und ihn zurück aus der dunklen Insel ins Zwielicht des Felsendoms führte.
Er strahlte Adim an, ließ seinen Blick an ihr herab und wieder hinauf wandern, nickte anerkennend und zufrieden.
»Sehr gut.«
»Scheiße! « fluchte Ericson fassungslos, zutiefst entsetzt und am ganzen Leibe zitternd vor Kälte, die nichts mit der Temperatur um ihn
her zu tun hatte. Diese Kälte wuchs in ihm -Angst, Panik vor einem Schicksal, das er nur zu gut kannte und keinesfalls teilen wollte.
Aber nicht zu wollen half wenig. Es war zu spät. Er war infiziert, und er glaubte zu spüren, wie der Keim bereits in ihm wirkte, wie er
seine physische Struktur veränderte. Das mochte allerdings purer Einbildung entspringen - noch jedenfalls...
Tolos nickte abermals und bekräftigte: »Ja, sehr gut. Wir sind bereit zu gehen.«
»Wohin?« »In unsere Welt.«
Tolos' Tonfall war aller Unverständlichkeit zum Trotz unverkennbar feierlich. Er wartete auch nicht, bis Adim weiter fragte, sondern
fuhr von sich aus fort: »Die Götter haben mir das Tor in eine Welt gewiesen, die nur uns gehören soll. Dort sollen wir uns ;
niederlassen und unser Volk begründen.«
Sein Maul verzog sich, und Tom nahm fast an, daß es ein Lächeln darstellte.
»Ich habe das Wirken der Götter erkannt, Adim. Ich weiß, wie sie Welten und neue Völker schaffen. Sie erwählen Männer und Frauen
und eröffnen ihnen Wege in andere Welten. So mehren sie ihre Schöpfung.«
Tom kam nicht umhin, eine gewisse Logik in diesen Mutmaßungen anzuerkennen. Sie mochten an sich haarsträubend sein,
aber sie waren durchaus nicht völlig haltlos. Wurden sie entsprechend interpretiert, konnte sich Tom durchaus einen Reim darauf
machen, der die eigenen Erkenntnisse deckte stützte.
Im Moment war dennoch für solche Uberlegungen keine Zeit. Es gab drängendere Fragen - zum Beispiel, was aus ihm selbst werden
würde, nun, da die mysteriöse Flüssigkeit ihn infiziert hatte. Wie lange würde es dauern, bis die Veränderung begann?
Seine Haut brannte, als sei er nackt in ein Brennesselfeld gefallen. Und es wurde schlimmer, beinahe mit jedem Herzschlag... »Dieses
Tor in eine andere Welt«, begann er an Tolos gewandt, »wo ist es?«
»Ich zeige es dir. Komm mit.«
Tolos verließ den Felsendom. Er ging durch Gänge, vorbei an anderen Felsenhallen und Kammern - und Tom spürte eine vage
Vertrautheit. Als sei er schon einmal hier gewesen, als habe er diese Umgebung schon einmal gesehen. Der Schluß lag nahe.
Auf diesem Wege hatten Gudrun und er die Anlage zur zeitlosen Ortsversetzung gefunden - Hunderte oder Tausende von Jahren in der
Zukunft!
Wenn er richtig lag mit seiner Annahme, mußte er irgendwo auch auf die stilisierte Wandzeichnung der Bundeslade stoßen. Aber er
wurde - in dieser Hinsicht zumindest - enttäuscht. Von der Wandzeichnung war nicht der Ansatz eines Strichs zu sehen, nirgendwo.
Obwohl sie plötzlich vor der mysteriösen Anlage standen Sie befand sich in einer geräumigen Kammer, die aber doch nur groß genug
war, um die silbernen Aggregatwalzen und die beidseitig geschliffene Kristallplatte auf ihren sieben Säulen zu
bergen. »Hier ist es!« frohlockte Tolos. »Das Tor, der Weg. Ich bin ihn schon gegangen...«
»Du bist...« echote Tom überrascht.
Tolos nickte. »Ich konnte die andere: Seite sehen. Jene Welt ist seltsam und fremd, nur der Wald erscheint vertraut - aber wir sind stark
genug, die Herausforderung anzunehmen und uns diese Welt untertan machen.«
Konnte das wirklich stimmen? fragte sich Tom. Hatte Tolos die Anlage tatsächlich schon benutzt, und war es ihm wirklich gelungen, in
eine andere Zeit zu reisen - und, vor allem, zurückzukehren?
Tom konnte die Probe aufs Exempel nicht wagen - er mußte erst Gudrun zu sich holen.
Also blieb ihm keine andere Möglichkeit als Flucht. Während Tolos bis an den Rand der Kristallplatte vortrat, blieb Tom zurück. Er
machte einen weiteren Schritt nach hinten, so unauffällig und lautlos wie möglich.
Tolos schien vom bloßen Anblick der Anlage fasziniert.
»Kein Azache hat je etwas in dieser Art gesehen«, stieß er hervor. »Ich habe alles erkannt in den Bildern und Schriften...«
Er drehte sich um, wollte Adim die Wandzeichnungen und Inschriften zeigen - und schrie auf vor Enttäuschung und Zorn, als er sah,
daß Adim sich bereits bis zum Ausgang der Kammer zurückgezogen hatte.
Zwei, drei gewaltige Sprünge brachten ihn in Toms Nähe. Mit vorgestreckten Klauen stürzte er sich auf das Mädchen.
Ericson duckte sich und wich zur Seite aus. Tolos verfehlte ihn. Gleichzeitig nutzte Tom den eigenen Schwung und hechtete in Richtung
der Kristallplatte. Seinen Sturz verwandelte er in eine Rolle. In der Bewegung griff er nach einem Stein, der auf dem Boden lag, dann
stand er am Rand der Kristallplatte, die Faust mit dem scharfkantigen Felsbrocken hoch erhoben.
»Bleib stehen!« rief er. »Komm keinen Schritt näher, oder ich zertrümmere dieses Ding mit dem Stein! «
Er wußte nicht, ob das überhaupt möglich war.
Aber Tolos wußte es auch nicht. Der Echsenhafte blieb stehen, leicht vorgebeugt, lauernd, zischelnd.
»Wage es nicht!« krächzte er. »Der Zorn der Götter wird dich treffen.«
»Laß mich gehen!« verlangte Tom.
»Warum?« röhrte Tolos. »Erkennst du denn nicht, was die Götter uns zu Füßen legen?
Tom wollte etwas erwidern, doch die Worte erstickten ihm im Hals.
Hinter Tolos war Bewegung entstanden. Aus dem Gang stürmte jemand in die Kammer. Ein greller Blitz flirrte durchs Dunkel, dann
stöhnte Tolos auf und brach in die Knie.
Valeen hatte ihn mit dem Dolch der Götter niedergestreckt, urrd schon holte er aus, um die Waffe zu werfen.
Erst fürchtete Tom, Adims Vater würde den Opferdolch aus irgendeinem Grund auf seine Tochter schleudern. Dann, als die Waffe die
Hand Valeens gerade verließ, wurde ihm klar, was das Ziel war.
»Neins« schrie er auf.
Die leuchtende Klinge sirrte heran. Sie würde Adim verfehlen - weil sie auf die Anlage gezielt war!
Töms Hoffnung zerbrach in diesem einen Moment.
Er reagierte ohne nachzudenken und warf sich zur Seite. In die Flugbahn des Dolches.
Die Klinge bohrte sich zum zweiten Mal in Adims Brust.
12. Kapitel Als die Betäubung nachließ, fand Valerie sich gefesselt im Innern einer stickig-heißen Bambushütte wieder. Die Hände waren hinter
ihrem Rücken um einen Pfahl gebunden, und andere Stricke hielten ihre Beine an den Knöcheln und kurz über den Knien zusammen.
Die Fesseln waren so eng, daß sich ihre Beine und Hände wie abgestorben anfühlten. Leise ächzend bewegte sie sich ein wenig, um das
Blut besser zirkulieren zu lassen.
Sie war nicht der einzige Gefangene in der Hütte. Auf der anderen Seite, ihr direkt gegenüber befand sich ein hagerer, schlaksiger
Mann, der auf dieselbe Weise gefesselt war.
Geoffrey Barnington!
Valerie verzog humorlos die Mundwinkel. Nein, helfen hatte sie ihm nicht können. Aber zumindest gefunden hatte sie ihn. Er war
bewußtlos. Sein Kinn war ihm auf die Brust gesunken,
und er atmete im Schlaf tief und schwer. Valerie war erschrocken, in welcher schlechten Verfassung er sich befand. Er war
ausgemergelt und dünn, seine Wangen eingefallen und das Haar verfilzt. Es schien, als befände er sich schon länger in Gefangenschaft.
Und die dunklen Schwellungen um seine Augenbrauen und das Kinn deuteten darauf hin, daß er nicht besonders gastfreundlich
behandelt worden war. Auch seine Kleidung war an vielen Stellen zerfetzt, und das eine Glas seiner dicken Brille wies einen
sternförmigen Sprung auf.
Aber abgesehen davon, konstatierte Valerie mit einem Funken Erleichterung, war er zumindest nicht ernsthaft verletzt. Er lebte, das war
sie Hauptsache.
Und sie lebte auch noch. Sie beschloß, ihn zu wecken.
»He, Geoffrey!« rief sie leise. »Kannst du mich hören?«
Sie brauchte drei Anläufe, ehe sich ihre Stimme in sein Bewvul3tsein vorarbeitete. Dann zuckte sein Kopf ruckartig in die Höhe. Er
brauchte einen Moment, um zu erfassen, wo er war, dann starrte er Valerie mit großen, glasigen Augen an.
»Valerie! O Gott!« stieß er kurzatmig und heiser hervor. »Ich dachte, ich hätte es nur geträumt. Aber du bist wirklich da! « »Ja«, meinte
sie nur. Was sollte sie zu derartigen Offensichtlichkeiten schon groß sagen?
»Verzeih mir! Ich wollte wachbleiben und warten, bis du wieder zu dir kommst, aber dann... dann.,. ich glaube, der Schlaf hat mich
einfach übermannt.«
»Kein Problem.«
Sein Blick wurde verzweifelt. »O Gott, Valerie, du mußt mir das verzeihen! Ich habe das nicht gewollt! Oh, wie kann ich das nur jemals
wieder gut machen? Ich weiß, du wirst mich verachten!«
»Wovon redest du überhaupt?«
»Na, davon, daß du jetzt hier bist! Daß du jetzt genauso in dieser beschissenen Hütte feststeckst wie ich, Entschuldige den Fehlgriff im
Tonfall, aber so sieht es nun einmal aus! »
Valerie war noch immer verwirrt. »Glaub mir, dein Tonfall ist das allerletzte, worüber du dir hier Sorgen machen mußt. Aber ich
verstehe deine Selbstzweifel nicht.«
»Valerie!« Seine Pupillen huschten nervös umher. »Siehst du denn nicht, wo du hier bist?«
»Geoffrey!« unterbrach sie seine Selbstanklagen. Als er sie ansah, holte sie tief Luft. »Ich habe dir damals gesagt, daß du mich jederzeit
über den Geheimdienst zu Hilfe rufen kannst. Als Gegenleistung für das, was du damals getan hast.«
»Aber... «
»Ich habe dir die Code read Möglichkeit gegeben und gesagt, wie du sie an den Mossad weitergeben kannst.«
»Ja, aber...«
Valerie ließ sich nicht beirren. »Und vor knapp einer Woche hast du sie benutzt und mich gerufen, um dir zu helfen. So, und nun bin ich
hier. Gut, das mit dem Helfen schieben wir einstweilen zurück, aber mir wird schon was einfallen. Weswegen machst du dir also
Vorwürfe?«
»Weil das alles meine Schuld ist! Ohne mich wärest du nicht hier und gefangen. «
»Also, erstens habe ich dir versprochen, dir zu helfen. Und zweitens bin ich nicht gefangen, weil man dich gezwungen hat, einen Brief
zu schreiben, oder wegen der Uhr, sondern weil ich nicht gut genug aufgepaßt habe. Aber dafür bin ich jetzt wenigstens bei dir. Wer
weiß, wie lange es sonst gedauert hätte, dich zu finden?«
Er sah sie kopfschüttelnd an. Ihre sachliche und zugleich optimistische Einschätzung ihrer Lage konnte er nicht teilen. Aber als er sie so
reden hörte, glomm etwas wie ein Hoffnungsschimmer in seinen glasigen Augen auf. Für sie schien das alles nicht weiter dramatisch zu
sein. Hatte das Pfeilgift die Nachwirkung, daß sie die Situation noch immer nicht richtig erfaßte?
»Genau daran bin ich ja schuld«, versuchte er zu erklären. »Nicht ich habe dir den Code read durchgegeben, sondern sie haben mich
gezwungen, es zu tun! Sie wollten, daß ich dich herbeirufe.«
In der Tat - das überraschte Valerie. Sie versuchte, all die Fragen zu sortieren, die in ihr aufstiegen.
„Woher wußten sie von Code read?« fragte sie.
»Äh, ich habe es verraten. Aber nur wegen der Folter. Du weißt, das ist nichts, dem ich gewachsen bin. «
»Man hat dich gefoltert?« Sie sah gar keine Spuren davon an ihm. Bis auf die Prellungen. Meinte er etwa das das mit Folter? »Nun...
nicht direkt«, schränkte er ein und senkte verlegen
den Blick. »Aber sie haben damit gedroht, es zu tun. Und da ich dann ohnehin alles gesagt hätte, dachte ich... dachte ich...« Er brach
beschämt ab. »Also habe ich ihnen den Code gegeben und gesagt, wie sie ihn einsetzen können.«
»Nur weil sie dir Folter angedroht haben?«
»Valerie! Das ist kein Spaß hier. Du ahnst nicht, zu was der Anführer fähig ist. Von ein paar Tagen habe ich gesehen, wie er einen
seiner Männer eigenhändig genüßlich zu Tode stranguliert hat. Und das nur, weil er gegen irgendeine Anweisung verstoßen hat. Dieser
Mann ist wahnsinnig.«
»Was kannst du über ihn erzählen?«
»Nicht viel. Sein Name ist Xian Cheng, und die Leute gehorchen ihm aufs Wort.«
Der Name sagte Valerie nichts. Es mochte sein, daß sie ihn schon einmal gehört hatte, aber solche kurzen Namen waren auch
wehverbreitet.
»Und was sind das für Leute?« fragte sie.
»Ich weiß es nicht genau. Irgendeine Miliz. Vielleicht zwei Dutzend Leute. Sie scheinen alle nicht von hier zu sein. Vor ein paar
Wochen sind sie aufgetaucht und haben sich in Kengtong nach mir erkundigt. Ich habe mir nichts Böses gedacht und wollte wissen,
warum. Doch als ich mich mit ihnen traf, nahmen sie mich sofort gefangen und schleppten mich hierher. LJnd hier sitze ich seitdem.
Das einzige, was sie von mir wollten, war, daß ich dich herlocke.«
»Weißt du, warum?«
Er hob matt die Schultern. »Ich denke, es geht um Rache. Man will sich an dir rächen. Oder besser: an uns beiden. Vermutlich hat man
mich allein deshalb solange leben lassen. «
»Hm.« »Ich kann mir vorstellen, daß es irgend etwas mit unserer Geschichte danmals in Kambodscha zu tun hat. Es war das einzige
Mal, daß wir etwas miteinander zu tun hatten.a
Valerie nickte nachdenklich. Denselben Gedanken hatte sie auch gehabt. Aber wie ließ sich der Name Xian Gheng in diesen
Zusammenhang einordnen?
Sie beschloß, dieses Problem auf später zu verschieben: Irgendwie hatte sich ihr Blickwinkel geändert. Bislang hatte sie gedacht, sie
müsse Geoffrey aus einer Gefahr befreien, um ihr Versprechen einzulösen. Daß er nach wie vor ihre Hilfe brauchte, daran hatte sich
nichts geändert. Nur jetzt schien es so, als sei niemand anderes als sie dafür verantwortlich, daß er überhaupt in diese Lage gekommen
war. Aufmerksam blickte sie sich in der Hütte um. Es gab ein kleines Fenster mit ein paar Bambusstreben davor, die aussahen wie ein
Gitter. Und auf Geoffreys Seite eine 'Tür, die nach draußen führte.
»Was hast du vor?« fragte er.
»Was schon? Irgendeinen Fluchtplan schmieden.«
»Einen Fluchtplan?« Er machte ein Gesicht, als hätte er einen guten Witz gehört. »Was meinst du, wieviele ich schon geschmiedet
habe? Ich habe mich mit nichts anderem beschäftigt. Aber glaub mir, hier gibt es kein Herauskommen.«
»Abwarten«, meinte Valerie. »Ich bin nicht du.«
Es mochte ein wenig arrogant klingen, aber es entsprach den Tatsachen.
Sie kam nicht zu mehr, denn vor der Tür wurde es plötzlich laut. Ein kurzer Wortwechsel, wobei einer Befehle erteilte und zwei andere
gehorchten.
Sekunden später ging die Tür auf, und ein kleiner, gedrungener Asiat betrat die Hütte. Er hatte eine graue uniformähnliche Jacke an, und
sein Haar glänzte weiß. Er strahlte absolute Autorität aus.
»Das ist er!« raunte Geoffrey Barnington überflüssigerweise. Valerie wäre auch alleine daraufgekommen. Sie sah zu dem Mann empor.
Am meisten verwirrte sie, daß sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Wer war er?
Als er sie anblickte, erkannte sie in seinen Augen ein unerbittliches Feuer. Und die Nahrung dieses Feuers war - Haß! Abgrundtiefer
Haß.
»Endlich! « stieß er in bestem Englisch und mit einem Ausdruck größter Zufriedenheit hervor. Er rieb sich die Hände. »Wie lange habe
ich auf diesen Augenblick gewartet! Endlich habe ich euch! «
Es bestätigte Geoffreys Vermutung. Es ging ihm um sie beide. »Was haben Sie mit uns vor?« rief der Engländer verzweifelt. »Jetzt, da
Valerie endlich hier ist?«
Xian Cheng drehte sich zu ihm um, ein diabolisches Lächeln auf den Lippen. »Was ich mit euch vorhabe? Ganz einfach. Ich werde euch
umbringen. Genüßlich und ganz langsam. Irh werdet lange zu leiden haben. Und ich werde jeden Augenblick davon genießen. Jeden
einzelnen eurer Schreie. Es wird mir die Genugtuung geben, auf die ich fast zehn Jahre gewartet habe. Wie oft habe ich diesen Tag und
diese Stunde herbeigesehnt! Allein das ließ mich leben! «
Valerie sah zu ihm hoch. Geoffrey hatte auch darin recht gehabt: Dieser Mann war wahnsinnig. Und entschlossen, sein Ziel auf jeden
Fall in die Tat umzusetzen.
»Aber das werdet ihr nicht vorstehen! « fauchte er sie an. »Was versteht ihr schon von Ehre!«
Valerie war der Meinung, davon eine ganze Menge zu verstehen.
»Wenn wir schon sterben müssen«, sagte sie. Es war das erste Mal, daß sie ihre Stimme erhob. »Dürfen wir dann wenigstens erfahren,
warum?«
Er ruckte zu ihr herum und starrte sie eindringlich an.
»Mit allem Respekt«, formulierte sie vorsichtig. »Ich kenne Sie nicht. «
»Du hättest mich aber besser kennen sollen«, zischte er. Der Mann schien wie unter Drogen zu stehen, und seine Droge war... Rache!
»Denn dann hättest du gewußt, daß ich der Alptraum bin, der dich irgendwann einholen wird.«
Blabla, dachte Valerie.
Er beruhigte sich etwas, als er sah, daß er so keinen Eindruck auf sie machen konnte. Aber er wirkte nicht enttäuscht. Im Gregenteil, er
war sich gewiß, daß er noch seinen Spaß haben würde. Seinen Mordsspaß! »Du willst also wissen, warum?«
Valerie verzichtete auf eine Antwort. Hatte sie das nicht klar und deutlich gesagt?
»Ja, mein Gott!« rief Geoffrey Barnington. »Erzählen Sie es uns. Wenigstens das sind Sie uns schuldig.«
Seine Verzweiflung schien Xian Cheng zu gefallen. Er verzog die Mundwinkel und hielt ein paar Sekunden inne. »Also gut, warum
nicht? Wo soll ich beginnen? Für den Geheimdienst der jeweiligen Herrscher zu arbeiten, hat in meiner Familie eine äußerst lange
'Tradition. Mein Vater es getan, und sein Vater auch und dessen Vater.« Er hob seine Stimme. »Aber noch nie zuvor ist es geschehen,
daß jemand aus meiner Familie unehrenhaft aus dem Dienst entlassen wurde. Eine solche Schande ist unserer Familie noch nie
widerfahren.«
Valerie konnte nicht sagen, daß ihr das gefiel, aber sie konnte es verstehen: Er hatte sein Gesicht verloren! Es war das Schlimmste, was
einem ehrenhaften Asiaten passieren konnte.
»Eigentlich hätte ich mit dieser Schande nicht weiterleben dürfen«, erzählte er weiter und holte tief Luft. Er ballte die Hände zu Fäusten.
»Aber ich habe es getan. Der Rache zuliebe. Denn ich wußte, daß einst der Tag dafür kommen würde. Und nur meine Rache würde
diese Schuld tilgen können.«
»Sie waren also beim Geheimdienst?« entlockte Valerie der langen Rede ihren kurzen Sinn.
»Ja«, bestätigte er. »Das war ich. Bis vor einigen Jahren ein paar Gefangene aus geheimen Lagern in Kambodscha befreit wurden und
ich meinen Stuhl habe räumen müssen. Zufällig war ich derjenige, der für die Lager zuständig war.« »Tut mir leid«, log Valerie.
»Es hat mich unendlich viel Mühe gekostet herauszufinden, wer damals für die Befreiung verantwortlich war. Und es freut mich, daß
wir uns endlich persönlich gegenüberstehen. Leider nur noch bis morgen. Denn den Abend des Tages werdet ihr bereits nicht mehr
erleben.« Er hob die Schultern und schränkte ein: »Obwohl, wenn ihr lange durchhaltet...«
Barnington machte eine verzweifelte Leidensmiene. Valerie hingegen vermochte es nicht zu schrecken. Sie hatte den Tod so oft vor
Augen gehabt, daß sie es sich längst abgewöhnt hatte, sich darüber übermäßige Gedanken zu machen oder gar Angst zu empfinden. Es
war ohnehin verschwendete Zeit und Gedankenkraft, die man besser dazu einsetzen konnte, an einer Lösung zu arbeiten.
Und noch war nicht der nächste Morgen - geschweige denn der Abend. Bis dahin würde noch viel Zeit vergehen. Sie wußte das.
Barnington offensichtlich nicht. Obwohl er sich in seiner Gefangenschaft an vieles gewöhnt haben mußte, war ihm seine Todesangst
anzusehen. Etwas zu befürchten, wie er es in den letzten Wochen getan hatte, war etwas anderes, als zu wissen, daß es morgen
geschehen würde.
Xian Cheng wollte sich bereits zum Gehen wenden, als Valerie ihn zurückhielt.
»Moment!« meinte sie. »Wieso sind Sie überhaupt davon ausgegangen, daß Sie uns auf diese Weise kriegen? Und dann uns beide? Sie
konnten doch nicht wissen, daß er mich herbeirufen kann? «
Xian Cheng lächelte auf asiatisch-hintergründige Weise. »Aber ich wußte es«, sagte er. »Das Schicksal selbst wollte, daß ich meine
Rache nehme. Und es hat sich mir weit offenbart und die Sicherheit gegeben, daß mein Tag kommen würde. Nur deshalb habe ich
weitergelebt.«
Valerie runzelte die Stirn. Eine wirklich überzeugend Erklärung war das nicht.
Xian Cheng beschloß, sie nicht unwissend sterben zu lassen. »Ich werde euch das Geheimnis anvertrauen, denn ein solches ist es. Und
es ruht hier!« Er legte seine rechte Hand auf sein Herz. »SeitJahren trage ich es an dieser Stelle bei mir.«
Er zog aus seiner dort befindlichen Brusttasche einen kleinen vergilbten Zettel hervor, den er zum Schutz in mehrere Lagen anderes
Papier eingeschlagen hatte.
»Meine Familie hatte mich nach der Schmach meiner Entlassung verstoßen«, erklärte Xian Cheng weiter. »Aber Monate später kam
eine meiner Tanten zu Besuch bei mir vorbei. Eigentlich hätte sie es gar nicht tun dürfen, aber sie hat es getan. Dabei überreichte sie mir
dieses kleine Stück Papier hier. Und es sollte von da an mein Leben bestimmen.«
Auf Valeries Gesicht stand ein großes Fragezeichen geschrieben. Barnington schien es nicht anders zu gehen.
»Sie sagte, daß sie es vor vielen, vielen Jahren, als sie noch ein kleines Kind gewesen war, unter mysteriösen Umständen erhalten hat.
Ein Fremder ist in ihrem Zimmer aufgetaucht und hat es ihr gegeben. Ein Mann mit seltsam starrem Gesicht, der schwarz gekleidet
gewesen sein soll. Und er sagte ihr, sie solle es gut auf bewahren. Es sei nicht für sie bestimmt, sondern für einen ihrer Neffen. Einen
würde es treffen, er würde in Ungnade zu fallen. Und dem solle sie es dann geben. Er würde schon wissen, was er damit anzufangen
hätte.« Xian Cheng machte eine kurze Pause. »Ja, und so gab sie mir das Papier dann.«
Geoffrey Barnington schüttelte den Kopf. »Was hat dieser Familienkram mit uns zu tun?«
Valerie saß schweigend und erstarrt da. Die Erwähnung eines schwarzgekleideten Mannes mit starrem Gewicht weckte Assoziationen in
ihr. Die Abenteurer waren diesen rätselhaften »Männern in Schwarz« zuletzt mehrfach begegnet. Sie arbeiteten für eine unbekannte
Macht namens Cahuna.
Aber sie spürte, daß das längst noch nicht das ganze Geheimnis war. Und sie sollte recht behalten.
»Diese vier Zeilen haben mir gesagt, daß es einen Sinn hinter all dem gibt:« Er hielt ihnen den Zettel hin.
Keiner von ihnen konnte ihn lesen. Er war in thailändischen Schriftzeichen beschrieben.
»Was steht dort?«
Er ließ sich herab, es ihnen zu übersetzen, und sprach mit feierlicher Stimme:
»Wenn der goldene VogeI vor deinen Augen stirbt, ist es an der Zeit, nach Kengtonk zu gehen. Dort wird sich deine Dache einmal erfüllen. Mit dem Fund des schwarzen Schlüssels. « Valerie saß wie erstarrt da. Sie kannte diese Form von Botschaften. Das Orakel von Delphi pflegte sie zu benutzen. Die Abenteurer
waren diesem rätselhaften Artefakt begegnet und hatte seine unglaublichen Fähigkeiten kennengelernt. Es schien ein nahezu
unbegrenztes Wissen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu besitzen. Aber es äußerte sich stets nur auf diese mysteriöse Art
und Weise. Inzwischen befand es sich seit einem Jahr in Tibet, und keiner der A.I.M.-Mitarbeiter wußte genau, wo.
Valerie hätte nie gedacht, daß es auf diese Art und Weise in Erscheinung treten würde. Und dann noch in einer Form, die sich gegen sie
zu wenden schien. Aber was war bei einem rätselhaften Orakel schon sicher?
»Jahrelang habe ich auf den Moment gewartet, der hier beschrieben ist«, endete Xian Cheng. »Ich habe meine Männer gesammelt und
gewartet. Bis es dann vor drei Wochen soweit war. Ich saß im Garten, als plötzlich ein großer Vogel wie ein Paradiesvogel zu mir
herunterstieg und sich ganz in meiner Nähe niederließ. Sein Gefieder war ganz golden, und ich weiß noch, wie es in der untergehenden
Sonne geglänzt hat. So golden habe ich noch niemals zuvor etwas glänzen sehen. Der Vogel blickte mich direkt an, als wolle er mir
etwas mitteilen - und dann... «
»Dann starb er«, tippte Valerie.
»Ganz recht. Er fiel zu Boden und war im selben Augenblick tot. Da wußte ich, daß es an der Zeit war, nach Kengtong zu gehen. Und
hier fand ich dann ihn.« Er deutete auf Barnington. »Und ich wußte, daß er einen Weg kennt, auch dich hierher zu holen. Und nun seid
ihr hier.«
Feierlich faltete er den Zettel wieder zusammen, wickelte ihn ein und verstaute ihn in der Brusttasche.
»Wißt ihr nun, warum ich nie einen Zweifel daran gehabt habe, daB ich meine Rache bekommen würde? Ich weiß bis heute nicht, von
wem diese Botschaft stammt, aber ich wußte immer, daß sie sich eines Tages erfüllen würde. Dank ihm«, er deutete auf Barnington,
»habe ich sogar den schwarzen Schlüssel gefunden.
Alles hat sich bewahrheitet.«
In Valeries Kopf rasten die Gedanken. Wieso um alles in der Welt arbeitete das Orakel gegen sie?
»Und nun wünsche ich euch noch eine erholsame Nacht«, verbschiedete sich Xian Cheng. »Ruht euch gut aus, ihr werdet alle Kräfte
brauchen.«
»Halt«, hielt Valerie ihn abermals zurück. »Was denn noch? Ich habe alles gesagt.«
»Sie haben gesagt, was sie mit uns tun werden. Gut, das ist eine Sache. Aber was ist mit Ratschamanka? Er hat mit der Sache nichts zu
tun. Lassen Sie wenigstens ihn gehen. Wo ist er überhaupt?«
Xian Cheng und Barnington sahen Valerie fragend an. »Wer?« fragten sie wie aus einem Mund.
»Der, der mit mir an der Hütte war. Sie haben ihn ebenfalls betäubt. Er hat mit der ganzen Sache nichts zu tun. Lassen Sie wenigstens
ihn gehen.«
Um die Mundwinkel Xian Ghengs zuckte es. »Tut mir leid, das ist leider nicht mehr möglich.«
Valerie fühlte Unbehagen in sich aufsteigen. »Sie haben ihn doch nicht umgebracht?«
Er ließ sich mit der Antwort etwas Zeit. Schön, daß er endlich eine Reaktion von ihr sah. Und er freute sich darauf, morgen noch sehr
viel mehr davon zu sehen zu bekommen.
»Nein«, beschied er dann. »Umbringen werde ich nur euch. Ihn haben meine Männer erst gar nicht mitgenommen. Er interessiert mich
nicht. Er dürfte jetzt längst wieder aufgewacht und nach Kengtong zurückgekehrt sein.«
Wenigstens das beruhigte Valerie ein wenig. Xian Cheng verließ die Hütte und schärfte den beiden Wachposten draußen vor der Tür
ein, besonders wachsam zu sein und die Fesseln der Gefangenen jede Stunde zu überprüfen. Die beiden Wachen bestätigten
geflissentlich und machte es ein erstes Mal gleich jetzt.
Die Untersuchung fiel zu ihrer Zufriedenheit aus. Dann schloß sich die Tür wieder, und Valerie war mit dem Briten allein.
»Ist der nicht total durchgeknallt?« meinte Barnington. »Hast du nur ein Wort von seiner Familiengeschichte verstanden? Das ist der
größte Unsinn, den ich je im Leben gehört habe.«
Valerie sah das etwas anders, aber jetzt war nicht der Zeitpunkt,
sich darüber mit Barnington auseinanderzusetzen.
»Was hat er mit dem schwarzen Schlüssel gemeint?« fragte sie. Er hob die Schultern. »Keine Ahnung. Woher soll ich das wissen? Er
hat doch nur wirres Zeug geredet! Das einzige, was ich klar und deutlich verstanden habe, ist, daß er uns umbringen will.« In seinen
Augen glomm Hysterie auf. »Und zwar langsam und qualvoll. Hast du das nicht gehört? Und da interessierst du dich ausgerechnet
für...«
»Ganz ruhig«, raunte Valerie.
»Ruhig?« Er verdrehte die Augen. »Du hast gut reden.« »Vertrau mir! Ich lasse mir schon etwas einfallen.« Sie beugte den Oberkörper
etwas vor und begann die Arme binter dem Rücken zu bewegen. Es sah aus, als versuche sie, ihre Arme irgendwie freizubekommen.
»Und jetzt konzentrier dich! Was kann er mit dem schwarzen Schlüssel gemeint haben?«
Barnington hatte sich wieder ein wenig beruhigt. »Wie gesagt, nicht die geringste Ahnung.« Barnington stockte. »Außer ...« »Ja?«
»Es ist kein Schlüssel, aber eine kleine Pyramide. Aus einem seltsamen schwarzen Material. Wirkt wie Metall, ist aber nicht so schwer.
Ich habe so etwas noch nie zuvor gesehen.«
»Sprich weiter!« forderte sie und bewegte weiter die Hände hinter dem Rücken.
»Das Stück ist vielleicht zwanzig Zentimeter groß. Ich habe es in der Nacht, bevor Xian Cheng mich gekidnapt hat, in der
Ausgrabungsstätte gefunden. Aber ob das der Schlüssel ist, von dem in dem Papier die Rede ist- nimmst du das ernst?«
»So ernst wie unsere Lage. Wo ist die kleine Pyramide jetzt?« »Xian Gheng hat sie. Wahrscheinlich in der Hütte, die er als sein
persönliches Büro benutzt.« Er sah Valerie unglücklich an. »Wieso interessierst du dich so sehr dafür: Wäre es nicht besser, sich
Gedanken zu machen, wie wie hier freikommen können?«
Valerie sah ihn an und lächelte. »Tust du mir einen Gefallen? Red die nächsten Minuten einfach weiter. Meinetwegen jammere oder
erzähl mir einen vom Pferd! Hauptsache, die Wachen hören, daß wir uns unterhalten. Schaffst du das?«
»Ja, aber... warum?«
»Frag nicht, tu's einfach!«
Greoffrey Barnington überlegte einen Moment. »Gut, dann erzähle ich dir, wie ich nach Burma zu diesem Projekt gekommen bin.«
Valerie hob die Schultern. Was auch immer.
Als er begann, sah sie ihn abermals lächelnd an und zog die Hände nach vorne. Die Fesseln waren gelöst.
Simsalabim, formulierte ihr Mund lautlos.
Geoffrey sah sie vollkommen entgeistert an. Sie machte ihm mit einer schnellen Geste klar, daß er weiterreden sollte.
Sie durchtrennte auch die Stricke um ihre Beine mit dem kleinen Messer, das plötzlich in ihren Händen aufgetaucht war. Dann kroch sie
zu Geoffrey der erzählte, als ginge es um sein Leben.
»Und dann die Paßkontrollen, ich kann dir sagen... Das ist das komplette Chaos in diesem Land...«
Sie befreite auch ihn von seinen Fesseln und bedeutete ihm, vorerst sitzenzubleiben. Es würde einige Zeit dauern, ehe wieder Leben in
die halb abgestorbenen Gliedmaßen kam. Doch die Muße konnten sie sich nehmen. Die Wachen würden erst in einer knappen Stunde
wieder hereinschauen. Und bis dahin gedachte Valerie nicht mehr hier zu sein.
Sie brachte ihren Mund dicht ans Geoffreys Ohr und zeigte ihm ihr kleines, biegsames Plastikmesser.
»Was meinst du, wie oft mir das schon nützlich war?« flüsterte sie erklärend, während er weiterredete. »Kaum einer kommt auf die
Idee, hinten im Gürtel danach zu suchen.«
Seine Augen fragten: Und jetzt-? »Schritt für Schritt.«
Sie ging zum Fenster und starrte hinaus. Draußen war niemand zu sehen. Im Lager herrschte nach dem Besuch des Kommandanten bei
ihnen wieder Ruhe. Um so besser, dachte sie.
Mit dem Messer löste sie die Bambussperren vor dem Fenster. Noch ein paar kurze Lockerungen, dann nickte sie Geoffrey zu. Er
erwiderte das Nicken. Ja, er würde weiterreden.
Elegant glitt Valerie durch das Fenster nach draußen. Geoffrey sah ihr ängstlich nach. »...und dann erst die ganzen Formalitäten! «
redete er laut. »Von jedem Formular braucht man mindestens vier Abschriften und...«
Er vermeinte hinter sich vom Eingang her so er