JOSÉ
ORTEGA
Y
GASSET
VERGANGENHEIT UND ZUKUNFT IM HEUTIGEN MENSCHEN
DEUTSCHE VERLAGS-ANSTALT STUTTGART
Übersetzt...
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JOSÉ
ORTEGA
Y
GASSET
VERGANGENHEIT UND ZUKUNFT IM HEUTIGEN MENSCHEN
DEUTSCHE VERLAGS-ANSTALT STUTTGART
Übersetzt von
WALTER MÖNCH GERHARD LEPIORZ KARL AUGUST HORST
1955 Alle deutschen Rechte bei der Deutschen Verlags-Anstalt GmbH., Stuttgart.
INHALT
Vergangenheit und Zukunft im heutigen Menschen....................................................................7 Stücke aus einer „Geburt der Philosophie“................45 Über das Denken......................................................109
VERGANGENHEIT UND ZUKUNFT IM HEUTIGEN MENSCHEN
Es handelt sich, wie mir scheint, bei diesen Vorträgen1 darum, ein wenig Licht auf die Struktur des heutigen Menschen fallen zu lassen. Aber wenn das Problem so gestellt wird, ist es unlösbar; denn der heutige Mensch existiert eigentlich gar nicht, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil es den Menschen, isoliert betrachtet, nicht gibt und weil das zeitbestimmende Attribut „heute“ nicht genügt, dem Menschen eine Realität zu verleihen. Der Mensch ist eine Abstraktion, zweifellos eine bequeme. Heute werde ich noch häufiger den Begriff Mensch gebrauchen, ohne indessen unter dieser Bezeichnung jene eigentliche Realität zu verstehen, die wir zu sehen uns bemühen; vielmehr fasse ich den Begriff als eine Art Lupe, die uns das Sehen erleichtern soll. Der Mensch ist, wie schon Montaigne so genial sagte, eine „flutende und mannigfaltige“ Wirklichkeit. Nicht in dem Sinne, daß er sich wie alle Dinge in der Welt verändert, vielmehr ist er Veränderung, substantielle Veränderung. Der Ausdruck ist verwirrend, er ist paradox, aber unvermeidlich, wenn wir auf den Bahnen der überlieferten Terminologie bleiben. Den Begriff Substanz erfand Aristoteles, um zu behaupten und deutlich zu machen, daß die Veränderungen der Dinge nur an der Oberfläche sich vollzögen, während das Ding als solches unverändert, ewig sich selbst identisch bleibe. Aber für den Menschen trifft das nicht zu.
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Rencontres Internationales de Genève, September 1951 — Der Autor hielt diesen Vortrag in französischer Sprache. 9
Für die Bedürfnisse der geistigen Technik, das heißt für die Art und Weise, wie ich vorzugehen habe, um eine Realität richtig ins Auge zu fassen, muß als wichtigster Punkt vorangestellt werden, daß im Menschen und im Menschlichen nichts, absolut nichts von Veränderungen frei ist; ich gehe sogar so weit zu sagen, daß, wenn sich irgend etwas im Menschen mit einem festen und unveränderlichen Charakter darstellte, man daraus folgern könnte, daß eben gerade das einem Bereich zugehört, der im Menschen das Nicht-Menschliche wäre. Wenn das physische System des Menschen heute noch so ist, wie es vor 20 000 Jahren war, als die Künstler der Altamira-Höhlen ihre Bisons malten, so würde das bedeuten, daß die körperlichen Elemente gerade nicht das spezifisch Menschliche im Menschen sind. Das ist der Anthropoid in ihm. Seine Menschlichkeit hingegen besitzt kein festes und ein für allemal fixiertes Wesen. Deswegen sind die Naturwissenschaften im Laufe der zweihundertjährigen Versuche so vollständig mit ihrem Studium des Menschen gescheitert. Offensichtlich suchen die Naturwissenschaften, die physikalischen Wissenschaften oder die ihnen verwandten im menschlichen Wesen das, was sie auch in den andern Wesen suchen, nämlich ihre „Natur“. Was durch alle Veränderungen hindurch mit sich selbst identisch bleibt, ist das unumstößliche Prinzip der Variationen. In der zeitgenössischen Wissenschaft ist dieses unveränderliche Prinzip jeder physischen Realität zu einem solchen Grade der Verfeinerung gelangt, daß es sich auf das „Gesetz“ reduziert. Das Gesetz, das Naturgesetz, drückt gleichzeitig das aus, was bleibt, und das, was die Veränderungen definiert.
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Nachdem der Positivismus — absichtlich oder unabsichtlich — die alte und vornehme Idee der Natur (so wie sie von Aristoteles formuliert und von den Stoikern hernach wieder aufgenommen worden war) zerstört hatte, fand er keine andere Lösung, als wenigstens ihr Trugbild zu bewahren: das Postulat der Unveränderlichkeit der Naturgesetze. Das ist das einzige Überbleibsel dieser antiken Konzeption. Nun aber hat der Mensch keine Natur: Nichts in ihm ist unveränderlich. Statt Natur hat er Geschichte. Die Geschichte ist aber die einer Wirklichkeit eigentümliche Seinsart, und die Substanz dieser Wirklichkeit ist eben die Veränderlichkeit, infolgedessen das Gegenteil jeder Substanz. Der Mensch hat keine Substanz. Was ist da zu machen? Das ist sein Elend und sein Glanz. Da er an keinen festen und unveränderlichen Bestand — an keine „Natur“ — gebunden ist, hat er die Möglichkeit, zu werden oder wenigstens zu versuchen, das zu werden, was er will. Aus diesem Grunde, und nicht aus Zufall, ist der Mensch frei. Er ist frei, weil er eben kein einmal gegebenes und beharrendes Wesen besitzt; deswegen kann er keine andere Lösung für sich finden, als auf die Suche nach seinem eigenen Wesen zu gehen. Und dann noch dieses: Was er in einer greifbar nahen oder entfernteren Zukunft sein will, muß er wählen und darüber selbst entscheiden. So ist also der Mensch frei . . . und zwangsläufig frei. Er ist nicht frei, es nicht zu sein. Er würde sonst beim Vorwärtsgehen gelähmt sein, da niemand für ihn über die einzuschlagende Richtung entscheiden kann. Gewiß ist der Mensch nur allzuhäufig ein Esel, aber nie ist er der Esel Buridans.
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Da der Mensch keine „Natur“, kein festes Wesen hat, kann weder er noch irgend etwas in ihm unbeweglich sein. Er besteht aus reiner Beweglichkeit, Behendigkeit. Er kann heute dieses oder jenes sein oder tun, weil er zuvor irgendwie dieses oder jenes gewesen ist oder getan hat, um morgen ein Drittes zu sein oder zu tun. Alles in ihm kommt von etwas und geht auf etwas hin. Er ist immer unterwegs, in via, wie die Theologen des Mittelalters sagten, ohne sich über das, was sie damit sagten, allzuviel Rechenschaft abzulegen. Wenn wir einen Menschen oder eine Epoche betrachten, werden wir zunächst (außer in den Momenten melodramatischer Temposteigerung wie den großen geschichtlichen Krisen) den Eindruck von etwas Beständigem und Festem haben. Aber es handelt sich dabei zum großen Teil um eine optische Täuschung. Sobald wir diese verhältnismäßig bewegliche Lebensform einmal von ihrer Wirklichkeit und von innen her betrachten, dann offenbart sie sich als etwas, das von einer anderen vorgängigen Form herkommt und zu einer anderen zukünftigen Form hinstrebt. Um sie in ihrer Wahrheit zu verstehen, wird es notwendig sein, daß unsere Pupille sie in der sie konstituierenden Bewegung und auf ihrem Werdegang begleitet; infolgedessen muß es eine geschichtliche Betrachtung vermeiden, sich beim historischen Faktum aufzuhalten, es festzulegen, zu paralysieren, zu petrifizieren; es darf nicht die eigene Unbeweglichkeit hineinprojiziert werden. Im Gegenteil muß der Blick des Historikers unermüdlich wie ein Hund, der uns begleitet, mittrotten, muß bei der Betrachtung des Faktums bald vorwärts, bald rückwärts schweifen, weil das Faktum erst
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mit seinem Hervortreten aus der Vergangenheit und mit seinem Fortgang in die Zukunft seine innere Authentizität, seine wirkliche Realität offenbart, — ganz so, wie es eben in der Wirklichkeit jeweils erlebt worden war. Wie weit nun zeitlich zurückzuschreiten oder vorzugehen wäre, um eine Situation oder einen Menschen zu beleuchten, wird für jeden Fall besonders zu bestimmen sein. Die Philosophen des 18. Jahrhunderts, die sich für Gegner des Aristoteles und der Scholastiker hielten, waren trotz ihres aufrührerischen Ungestüms Leibeigene auf der Scholle des Aristotelismus. Sie glaubten an einen Menschen, der stets sich selbst identisch sei, so seltsam kostümiert er auch in der bunten Mannigfaltigkeit seiner historischen Theaterauftritte erscheinen mochte. Sie glaubten an die „menschliche Natur“, mit anderen Worten, sie glaubten, daß der Mensch eine natura, eine Physis besitze, was Aristoteles als die Substanz dessen, was sich bewegt und was sich ändert, betrachtete. Die Physis, die natura, sie ist die besondere Form, in welcher die Substanz die Veränderung annimmt. Aber ich wiederhole: der Mensch hat keine physis, keine natura, wie die Tiere, Pflanzen, Mineralien eine haben können. Folgendes muß hier gesagt werden: Dilthey war es, der als erster den Irrtum erkannte oder vielmehr aufdeckte, das 18. Jahrhundert als antihistorische Epoche anzusprechen. Ganz im Gegenteil haben gerade die Menschen dieses Jahrhunderts nacheinander die Elemente der Optik des Geschichtlichen offenkundig gemacht. Ihnen ist es zu verdanken, wenn unser Denken
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von den vorgefaßten Begriffen, welche die Erkenntnis der geschichtlichen Wirklichkeit versperrten, befreit wurde, so daß nunmehr die Wirklichkeit nackt und greifbar vor unsern Augen steht. Aber dasselbe Jahrhundert, das Schritt für Schritt die Komponenten dieser neuen Sehweise — nämlich der geschichtlichen Optik — entdeckte, vermochte weder zu einer Synthese jener Elemente noch zu einer Anwendung der neuen Art seiner Sicht zu gelangen; es kam nicht dazu, sich bei der Betrachtung ganz einfach dem geschichtlichen Gegenstand als solchem hinzugeben. Es wurde daran durch etwas verhindert, was tatsächlich den einzigen Teil Wahrheit in dem summarischen Urteil über seinen Antihistorismus ausmacht: Das 18. Jahrhundert trat nämlich mit seiner Überzeugung, daß der Mensch letztlich doch eine „Natur“, eine fest umrissene, dauerhafte, unwandelbare Seinsart besitze, ganz in die Fußtapfen seines Lehrmeisters, des 17. Jahrhunderts. Der Mensch sei in seinem tiefsten Wesen „vernünftig“, und sofern er vernünftig denke, fühle und wolle, gehöre er keiner Zeit und keinem Orte an. Zeit und Ort könnten die Vernunft des Menschen nur verschleiern, versperren und sein ihm eigentümliches Vernunftwesen den Augen verbergen. Es gebe eine Naturreligion, das heißt eine rationale, bei allen historischen Formveränderungen mit sich selbst identische Religion. Es gebe auch ein Naturrecht und eine auf das Wesen gerichtete Kunst sowie eine einzige und unveränderliche Wissenschaft. Es gebe weiterhin nur eine wahre Politik, nämlich diejenige, welche die konstituierende Nationalversammlung allen Völkern und allen Zeiten diktieren werde. All das kommt der Be-
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hauptung gleich, die wahrhafte „menschliche Natur“ sei nicht geschichtlich, die historischen Formen seien eigentlich nur Deformationen des Menschen. Dieser Rest 17. Jahrhundert hebt schließlich das geschichtliche Bewußtsein in dem Geist selbst seiner eigenen Entdecker auf und bewirkt, daß diese Denker, anstatt bei den menschlichen Wandlungen zu verweilen, über diese sichtbaren Wirklichkeiten voreilig hinweggehen, um in einem Jenseitsbezirk den substantiellen und unwandelbaren Menschen zu suchen. Die historische Form — ich wiederhole es — wird zwar gesehen, aber gleichzeitig aufgehoben, weil sie nur als eine Deformation des Menschlichen betrachtet wird. Aber wenn die menschliche Realität wandelbar ist — und ich betone das Wort „Realität“ —, wenn der wirkliche Mensch immer verschieden und anders ist, so folgt daraus nicht, daß wir etwa außerstande seien, mit hinreichender Allgemeingültigkeit darüber zu sprechen. Die Physik rückt den Realitäten des Weltalls hartnäckig und exakt zu Leibe. Ihre Aussagen über die Dinge, über die konkreten Gegenstände stellen die sogenannten „physikalischen Gesetze“ dar. Nun ist das Gesetz eine Gleichung. Aber vergegenwärtigen wir uns die elementare Beobachtung, daß eine Gleichung an sich nichts Konkretes besagt, eben deswegen, weil sie uns den Universalschlüssel für jede konkrete Realität zu geben behauptet. In einer Gleichung gibt es einige Zahlen, aber diese sind gerade ihre am wenigsten wichtigen Elemente. Das Wichtigste sind die Buchstaben, die sie enthält: x y z. In dem arithmetischen Kalkül, der von der Gleichung dargestellt werden soll, sind diese Buchstäben, was die Ma-
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thematiker die „Leerstellen“ nennen; diese werden in jedem einzelnen Falle mit den genauen Zahlen, welche uns die Erfahrungen liefern, ausgefüllt. Dann, und erst dann, wenn die Gleichung keine einfache Formel, keine Aufforderung mehr ist, ihre Leerstellen mit den passenden Zahlen auszufüllen, hört die Gleichung auf, eine algebraische und abstrakte Sache zu sein, um sich in eine strenge Definition einer Wirklichkeit zu verwandeln. All das aber ist, so wiederhole ich, nur eine ganz elementare Beobachtung. Wenden wir sie auf unsere Betrachtung an, ich meine nicht auf die Realität des Weltalls, sondern auf die des Menschen, und wir stehen vor folgender Situation: Wenn ich sage, der Mensch ist immer anders und verschieden, dann hat es den Anschein, als machte ich mich eines Widersinns schuldig, weil ich auf das Konto des Menschen eine allgemeine Behauptung gesetzt habe, deren Inhalt in der Versicherung besteht, daß man auf das Konto des realen Menschen gerade keine allgemeinen Behauptungen übertragen dürfe. Es scheint, daß wir uns verrannt haben, und das ruft mir das bekannte Bonmot in Erinnerung, daß nämlich, generell gesprochen, die Generäle keine generellen Ideen haben. Bleiben wir für einen Augenblick hier stehen! Nach dieser These, der allerabstraktesten, derzufolge der Mensch immer sich wandelnd, verschieden, anders ist, haben wir zum Beispiel auch noch diese: Der Mensch, insofern er menschliches Leben ist, lebt immer (unmöglich, noch mehr zu verallgemeinern) von und aus gewissen bestimmten Glaubenssätzen. Wir ahnen wohl, welcher Begriff es sein kann, der solchen generellen Thesen über den Men-
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schen zugehört, ist doch der Sinn dieser Worte eine Aufforderung, bei jedem konkreten und realen Menschen, den wir verstehen wollen, zu untersuchen, welches genau die Glaubenssätze sind, von denen er lebt. Und so sehen wir, daß unsere allgemeinen Thesen nichts mehr und nichts weniger bedeuten als Gleichungen mit jenen „Leerstellen“, die wir in jedem einzelnen Falle mit den entsprechenden genauen Elementen auszufüllen haben. Es liegt also darin kein Widersinn, so wenig wie in den Gesetzen, das heißt in den Gleichungen der Physik. Der Begriff Mensch umfaßt also ein ganzes System von Gleichungen, die unter dem Titel „Theorie des menschlichen Lebens“ zusammengefaßt werden könnten. Da nun jede Theorie offenbar allgemein ist, so ist der Mensch, um den es sich handelt, nicht eigentlich eine Realität, vielmehr ist er nur der rein formale Ausdruck von Dimensionen und Gehalten, aus denen jedes reale menschliche Leben sich zusammensetzt und die uns in jedem einzelnen Falle ermöglichen, seine konkrete Struktur mit Genauigkeit zu bestimmen. Wenn wir jetzt ein wenig ernsthafter das uns anläßlich dieser „Begegnungen“ vorgeschlagene Problem in Angriff nehmen wollen, bleibt uns kein anderer Weg, keine andere Methode als die folgende: auszugehen von einer allgemeinen Theorie des Lebens, deren natürlichste Bezeichnung eigentlich „Biologie“ sein sollte, wenn Lamarck sie nicht erfunden und auf etwas angewendet hätte, was in Wirklichkeit „Zoologie“ genannt werden müßte (er konnte kein Griechisch und wußte nicht, daß „bios“ nicht, wie „zoé“, das organische Leben, sondern die Verhaltungsweise des lebendigen Wesens bezeichnet — wir
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könnten sagen: die Biographie) —; wir werden also, wie gesagt, von einer allgemeinen Theorie des menschlichen Lebens, die uns durch die abstrakte Struktur jeder individuellen menschlichen Existenz dargeboten wird, auszugehen haben, alsdann die „Leerstellen“ ausfüllen, die Gleichungen konkretisieren, um schließlich zu der einzigen vollen und authentischen Wirklichkeit vorzustoßen, das heißt der Wirklichkeit „dieser Männer hier“ und „dieser Frauen hier“, mit andern Worten aller jener Personen, die sich im Augenblick hier befinden. Wohlverstanden: Jede Person ist immer und zugleich individuelles und kollektives Leben. Jeder von uns ist zu einem großen Teil durch die Kollektivität, in der er geboren ist und sein Leben lebt, konstituiert; durch sie ist ihm seine Form eingeprägt. Im Verfolg einer solchen progressiven Konkretisierung verliert der abstrakte Begriff Mensch seinen GleichungsCharakter und verwandelt sich in eine bestimmte Realität, Diese letzte Bestimmtheit, welche das Wesen einer Person in Begriffe von noch immer genereller Art umsetzt, heißt „Biographie“. Sie ist nach meiner Meinung die höchste literarische Gattung, aber es gibt noch keine Beispiele dafür. Das soll Ihnen zeigen, daß ich weder mit Aristoteles noch den Scholastikern übereinstimme, auch nicht mit der philosophischen Tradition im allgemeinen; denn sie alle haben nach dem Individuum ineffabile gerufen. Ich aber glaube wenig, ich glaube fast nicht an die Unaussprechbarkeiten. Über einen stupiden Gegenstand, wie zum Beispiel ein Ikosaeder, kann man mit wenig Worten vieles sagen. So ist es auch mit dem Atom. Vor einiger Zeit plauderte
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ich mit dem genialsten der heutigen Physiker (ich meine nicht Einstein); ich sprach bei dieser Gelegenheit von meinem Verdacht, daß die Materie eigentlich eine ziemlich dumme Realität sein müsse, um sich von den Physikern so leicht einfangen zu lassen. Hingegen ist eine Person doch eine weit kompliziertere Sache und von reicherem Inhalt als das Atom oder das Ikosaeder, weil sie nämlich wesentlich realer ist. Deswegen muß man, wenn es sich um eine menschliche Realität handelt, wie immer sie auch sei, viel weiter ausholen und braucht mehr Worte. Nun wäre es mein Ideal, wenn ich von jedem von Ihnen sprechen könnte. Aber das ist mir selbstverständlich unmöglich, erstens, weil ich zu fast niemandem von Ihnen persönliche Beziehungen habe, und zweitens, weil ein solches Unterfangen selbst in dem Falle, daß ich Sie kennen würde, eine endlose Geschichte wäre. Jede geschichtliche Erkenntnis ist in Wirklichkeit eine endlose Geschichte. Wenn auch die Möglichkeit, über jeden von Ihnen zu sprechen, in Anbetracht der sachlichen und zeitlichen Schwierigkeiten praktisch ausgeschlossen ist, so braucht sie trotzdem keineswegs utopisch zu sein. Es würde genügen, wenn jeder von Ihnen eine Frage beantwortete, die wie alles, was über den Menschen ausgesagt wird, zugleich allgemein und individuell ist, eine Frage, die ich Ihnen jetzt kurzerhand stellen werde. Da ich diese Frage an Sie richte, ohne eine Antwort von Ihnen zu fordern, so bleibt sie zwar nutzlos, aseptisch, löst sich sozusagen in der Atmosphäre auf, verliert aber auch dadurch ihre Impertinenz, die sie sonst haben könnte.
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Die Frage ist folgende: „Warum sind Sie in diesem Augenblick hier?“ Die Sache ist ernster, als sie auf den ersten Blick aussieht. Sie sind ja nicht hier, weil Sie wie eine Kanonenkugel hierher geschleudert wurden, oder wie ein Himmelskörper, der unerbittlich in jedem Augenblick gezwungen ist, einen bestimmten Punkt seiner, Bahn einzunehmen; nein, jeder von Ihnen ist in diesem Augenblick hier, weil er hierhergekommen ist, anders gesagt, weil er sich selbst hierherversetzt hat kraft eines freien Entschlusses, der vor einigen Wochen oder Minuten gefaßt worden ist — nämlich des Entschlusses, gerade diese Stunde Ihres Lebens auf so ausschließliche und problematische Weise auszufüllen, das heißt den Vortrag eines kleinen spanischen Herrn mit dem Kopf eines alten Toreros anzuhören. Sie sehen, die Sache ist also ernster, als es zunächst den Anschein hatte. Denn die Stunden Ihres Lebens sind gezählt; sie sind gar nicht so zahllos, und jede von ihnen ist unersetzbar. Wenn also der Gebrauch dieser Stunde sich als ungerechtfertigt erweisen sollte, indem er gar keinen oder nur wenig Sinn im Ablauf Ihrer Lebensbahn hat, dann würde das bedeuten, daß Sie diesen unwiderbringlichen Moment Ihres Lebens erdrosselt, daß Sie ihn gemordet haben, daß Sie einen partiellen, fraktionären Selbstmord begangen haben. Das ist eine indiskutable Tatsache. Aber was am klarsten die Bedeutung der Frage hervorkehren würde, wären Ihre Antworten; denn in ihnen würden Sie mir die Beweggründe offenbaren, die Sie dazu getrieben haben, gerade einen solchen Gebrauch Ihrer Lebensstunden, nämlich mich anzuhören, jeder
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anderen beliebigen und möglichen Verwendung vorzuziehen. Die Aussage jedes einzelnen von Ihnen über seine Beweggründe würde uns allen hinreichend klar Ihre ganze Vergangenheit (wohlverstanden die persönliche wie die kollektive) enthüllen, und ebenso den Aspekt, den die Zukunft in Ihren Augen annimmt; und so würden wir erfahren, wer jeder von Ihnen in seiner unerbittlichen Wahrheit ist. Und sollte jemand versichern, er sei aus keinem besonderen Grunde hierhergekommen, nicht einmal aus Interesse daran, einen Vortrag mehr zu hören — wimmelt es doch in unserer heutigen Gesellschaft von Vorträgen gleich Infusorien —, sondern er sei einfach deswegen hier, weil „man“ eben hinginge, so würde uns auch dieser Besucher, ebenso wie die andern, durch seinen Beweggrund das Geheimnis seines persönlichen Wesens ausliefern: er gehörte nämlich dann zu einer der gängigsten und bekanntesten Spezies der Menschen, auf die das spanische Sprichwort gemünzt ist: „Donde va Vicente, donde va la gente“ —Vinzenz geht dorthin, wohin die Leute gehen. Es gibt also kein Entweichen. Auf diesem winzigen Punkte Ihrer Entscheidung stoßen nun, etwa wie die beiden Hälften eines Doppelkegels, Ihre ganze Vergangenheit und all das, was in diesem Augenblick für Sie die Zukunft bedeutet, zusammen: jene zwei großen schicksalhaften Dimensionen, aus denen unser Leben besteht. So ist das Leben in jedem seiner Augenblicke eine Gleichung zwischen Vergangenheit und Zukunft — wieder eine allgemeine These, die sich aus der Theorie des Lebens ergibt. Aber diese wird uns weniger abstrus anmuten als die vorhergehenden; sie wird uns bewegen,
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wird uns erschüttern; denn jetzt sind wir in der Lage, mit aller Schärfe und in aller Tiefe die Struktur jedes menschlichen Wesens und natürlich auch jeder Menschheitsepoche zu erfassen. Der Versuch, diese Gleichung zu bestimmen, das heißt zu erkennen, was für den Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt Vergangenheit, was Zukunft ist, dieser Versuch ermöglicht es uns, ihn in seiner innersten Realität zu ergreifen. Und zwar aus folgendem Grunde: Das Leben ist eine Operation, die sich in vorwärtsstrebender Richtung vollzieht. Wir leben ganz ursprünglich auf die Zukunft hin, sind auf sie geworfen. Nun ist aber die Zukunft ihrem Wesen nach von äußerster Problematik, wir können keinen Fuß in ihr fassen, sie hat keine festen Konturen, kein klar umrissenes Profil. Wie sollte es anders sein, da sie noch nicht ist? Die Zukunft steht immer im Plural; sie besteht aus dem, was alles sich ereignen könnte. Und es kann sich eine Fülle sehr verschiedener, sogar sich widersprechender Dinge ereignen. Daraus ergibt sich der paradoxe, aber für unser Leben wesentliche Tatbestand, daß dem Menschen für seine Orientierung in der Zukunft nur die Möglichkeit offensteht, sich darüber Rechenschaft zu geben, was er in der Vergangenheit gewesen ist; denn die Konturen der Vergangenheit sind unzweideutig, fest und unbeweglich. Weil Leben heißt: sich auf die Zukunft geworfen fühlen, so läßt uns diese wie eine undurchdringliche Wand zurückschnellen; wir fallen in die Vergangenheit zurück, klammern uns an ihr fest, bohren uns mit den Hacken in sie ein, um dann mit ihr von ihr her zur Zukunft zurückzukehren und sie zu realisieren. Die Vergangenheit ist das einzige Arsenal, das uns die
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Mittel liefert, unsere Zukunft zu gestalten. Nicht ohne Grund erinnern wir uns. Ich habe oft betont, daß nichts von dem, was wir im Leben machen, ohne Grund geschieht. Wir erinnern uns der Vergangenheit, weil wir die Zukunft erwarten; wir erinnern uns im Hinblick auf die Zukunft. Hier liegen die Ursprünge der Geschichtlichkeit. Der Mensch macht Geschichte, weil er gegenüber der Zukunft, die nicht in seiner Macht ist, feststellt, daß alles, was er wirklich besitzt, seine Vergangenheit ist. Das ist die einzige Sache, deren er habhaft werden kann; es ist der zerbrechliche Kahn, auf dem er sich nach der Zukunft einschifft. Und dieser Rückprall von der Zukunft auf die Vergangenheit vollzieht sich bei den Menschen in jedem Augenblick anläßlich der ernstesten wie der trivialsten Dinge. Wenn Sie sich in wenigen Minuten am Ende dieses Vertrages vor einer Zukunft befinden, die darin besteht, diesen Saal zu verlassen, dann werden Sie sehen, wie in Ihnen die Erinnerung an die Tür, durch die Sie hereingekommen sind, wieder auftaucht. Sie rühren hier an den Grund, dessentwegen wir unsere Vergangenheit nicht immer gegenwärtig haben; wir sehen sie nur in dem Maße und je nach der Wahl, zu der uns unsere Zukunft auffordert, oder besser gesagt, zwingt. Wir stehen also vor dem überraschenden Paradox: Der Ausschnitt, in dessen Begrenzung wir die Vergangenheit sehen, ist wesentlich bestimmt durch den Aspekt, unter dem uns die Zukunft erscheint, oder mathematisch gesprochen, unsere Vergangenheit ist eine Funktion unserer Zukunft, da die Zukunft etwas ist, das noch nicht existiert, das
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vielmehr in einem Aggregat von Bedrohungen, Befürchtungen und Hoffnungen besteht. Jedes menschliche Leben ist eine Gleichung, deren Terme Zukunft und Vergangenheit sind. Wenn man also wahrhaft einen Menschen verstehen will, muß man ihn in eine Gleichung bringen, das heißt präzisieren, welches seine Haltung vor der Zukunft und vor der Vergangenheit ist. y = Vergangenheit ist eine Funktion von x = Zukunft. Ich denke, daß es nun deutlich geworden ist, warum die Gleichung Vergangenheit-Zukunft es uns bei jedem menschlichen Wesen gestattet, auf die radikalste Art und Weise seine wirkliche Konstitution zu erfassen. Nicht einfach deswegen hat der Mensch eine Vergangenheit, weil er einen Gedächtnismechanismus besitzt und der Erinnerung fähig ist. Es war immer ein Irrtum, den Menschen nach seinen Gaben, seinen Fähigkeiten zu definieren. Wir alle kennen Menschen, die für bestimmte Tätigkeiten sehr begabt sind — für Poesie, Mathematik, Geschäfte —, und trotzdem üben sie diese Tätigkeiten nicht aus, weil ihr Leben einer andern Sache gewidmet ist, zum Beispiel der politischen Leidenschaft, dem Sport oder einfach dem Vergnügen. Umgekehrt täuscht sich Aristoteles sehr, wenn er die Tatsache, daß des Menschen Beschäftigung in der Erkenntnis und in der Hervorbringung der Wissenschaften besteht, durch den einfachen Grund erklären will, daß der Mensch gewisse sogenannte geistige Aktivitäten besitzt, die diese Leistung, nämlich Erkennen, hervorzubringen geeignet sind. Er täuscht sich sehr; erstens, weil die meisten Menschen diese geistigen Kräfte in genügender Dosis besitzen und es sich darum noch keineswegs angelegen sein lassen,
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Erkenntnisse zu erwerben; alsdann, weil es radikal falsch ist, daß der Mensch die Fähigkeit besitze, überhaupt an das heranzureichen, „wofür das schöne Wort Erkenntnis unsere große Verheißung ist“. Alles, was ihm bisher in dieser Richtung zu erreichen vergönnt war, sind vage, dehnbare Annäherungen. Und trotz allem bemüht sich der Mensch hartnäckig, dem Universum sein erregendes Geheimnis zu entlocken. Nein, nicht deswegen, weil er die Fähigkeit der Erinnerung besitzt, hat der Mensch eine Vergangenheit; er hat im Gegenteil sein Gedächtnis entwickelt und geschult, weil er der Vergangenheit bedurfte, um sich in dem Dschungel fragwürdiger Möglichkeiten, wie sie die Zukunft mit sich bringt, überhaupt zurechtzufinden. Das steht im Leben des Menschen immer an erster Stelle. Alles übrige ist nur Reaktion vor dem Aspekt unserer Zukunft. Das geht so weit, daß, wie ich eben gesagt habe, der Aspekt, unter dem uns unsere Zukunft in jedem Augenblick erscheint, auch unsere Vergangenheit in korrelativem Aspekt sichtbar werden läßt. Die Vergangenheit halten wir fest. Sie ist unser Besitz, unsere Schatzkammer. In ihr haben sich die Erfahrungen der Menschheit angehäuft, kapitalisiert. Wie Sie dank den Arbeiten Köhlers wissen, fehlt es den höher entwickelten Tieren nicht eigentlich an dem, was wir Intelligenz nennen, aber die Tiere haben nur sehr wenig Erinnerungen, weil eben ihre Zukunft für sie nicht problematisch genug ist, oder, anders gesagt, weil sie kaum eine Zukunft haben. Diese Dürftigkeit an Erinnerungen, an Bildern, entzieht ihrem Intellekt den hinreichenden Rohstoff, der zur Übung und zum Weben eines kom-
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plexen Ideengespinstes notwendig wäre. Der Mensch ist demgegenüber ein Kapitalist des Gedächtnisses, und es ist recht belustigend, daß der Marxismus durch eine Theorie des menschlichen Lebens konstituiert ist, die unter allen, welche der meinigen vorausgehen, gerade der Geschichte die fundamentale Rolle zuerkennt. Die Geschichte, das ist der Kapitalismus der Reminiszenz . . . So können wir nunmehr den Menschen als ein Wesen definieren, dessen primäre und entscheidende Realität darin besteht, sich mit seiner Zukunft zu beschäftigen. Diese vorweggreifende Beschäftigung mit dem, was noch nicht ist, sich aber von einem Augenblick zum andern zu sein anschickt, ist die Vorbeschäftigung, und das ist vor allem und überhaupt das Leben des Menschen: préoccupation, Sorge, wie mein Freund Heidegger dreizehn Jahre nach mir1 sagte. Die Zukunft ist das noch unbestimmte Etwas, das noch nicht weiß, was es sein wird, obwohl der Mensch immer in dieser Richtung wahrscheinliche, aber vage Erwartungen hegt. Wenn die Vergangenheit ist, was wir besitzen, was wir festhalten, so ist die Zukunft laut Definition die unzugängliche Sache, das, was niemals in unserer Macht ist. Deswegen tadelte Victor Hugo das zu starke Selbstvertrauen des großen Napoleon (jenes Ungestüm, das stets das Charakteristikum aller Abenteurer, als welche die Diktatoren seit Cornelius Sulla nun einmal angesprochen werden können, gewesen ist); er attackierte es, indem er ausrief: Non, l’avenir n’est à personne, Sire, l’avenir n’est qu'à Dieu.
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Meditaciones del Quijote, 1914. 26
Selbst in den Epochen, wo die Zukunft sich uns unter einem verhältnismäßig klaren Aspekt vorstellt und wo sie in ihren großen Linien, hinsichtlich der Menschheit im allgemeinen, prästabiliert erscheint, bleibt unsere persönliche Zukunft immer zufällig, ungewiß. Deswegen ist unser Leben in seiner Zukunftsdimension wesentlich und unwiderruflich ungewiß; daraus folgt, daß, wenn wir nicht unter dem Chloroform erweichender Frömmelei leben wollen, wir die Pflicht haben, uns hartnäckig im Kontakt mit dem Untergrund von Unsicherheit zu halten, auf dem sich nun einmal unser Leben aufbaut. Darum habe ich für meinen persönlichen Gebrauch die wunderbare Devise jenes burgundischen Ritters aus dem 15. Jahrhundert zur meinigen gemacht: „Rien ne m'est sûr que la chose incertaine“ — „Nur das Unsichere ist mir sicher“ — „Sólo es segura la inseguridad“. Das ist die treffend ausgewählte Devise eines tapferen Ritters, der ständig mitten im Kampf lebte, was ja die Unsicherheit par excellence ist. Tatsächlich ist die entscheidende Kraft im Herzen dieser fragwürdigen Zukunft eine erhabene und schreckliche Macht, eine unpersönliche, irrationale Macht von tragischer Unempfindsamkeit; aber sie regiert unsere persönlichen Schicksale. Diese erhabene Macht ist der Zufall. In letzter Instanz hängt alles, was unser individuelles Leben ausmacht — und das konstituiert vor allem unser Leben — vom Zufall ab. Deswegen erblickten die Primitiven, die, wie die braven Engländer in ihrer ihnen eigenen spezifisch britischen Pedanterie sagen, noch nicht wie wir sophisticated waren — ich sage die Primitiven, die hinsichtlich der entscheidenden Aspekte ihres Lebens
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durch die Wissenschaften, welche die Zukunft vorauszusagen behaupten und sie tatsächlich partiell, aber unter ihrem allgemeinen, nicht ihrem je persönlichen Aspekt voraussagen, weder zerstreut noch verblendet waren —, diese Primitiven, sage ich, erschauten in dem Zufall ihren ersten Gott, einen grausamen Gott ohne Seele, blind, einen Gott ohne Gesicht, den man vergeblich durch Gebete hätte bewegen oder sich durch Opfer hätte gefügig machen können. Vor diesem schrecklichen und irrationalen Gott gab es keine andere Lösung, so dachten die Primitiven, als sich einer anderen irrationalen und automatisch wirkenden Macht zu bedienen, um sich ihn gefügig zu machen: der Magie. Die Magie ist die einzige Formel, die eine Beziehung mit dem Zufall, dem schrecklichen Gott ohne Gesicht, gestattet. Und wir alle bewahren aus sehr verständlichen Gründen Reste dieser magischen Lebenskonzeption, die es uns ehemals ermöglichte, der Zukunft entgegenzutreten. Das ist der Aberglaube. Wir haben alle etwas davon. Worin besteht er? Was kann die Form des magischen Logos sein (denn es handelt sich um einen Logos, um eine Denkart, die nicht weniger respektabel ist als die, welche die Griechen erfanden und so nannten)? Das sind Fragen, die zu erhellen ich heute nicht die Zeit habe. Bei uns lebt, wie ich angedeutet habe, der Aberglaube nur im Zustand von Residuen weiter. An seiner Stelle besitzen wir eine andere, nicht weniger irrationale Kraft, die uns bei unserm dauernden Aufprall auf unser zufallsbestimmtes Schicksal zum Parieren dient. Diese Kraft ist die Hoffnung, diese wunderbare menschliche Emanation,
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die so vollkommen des Grundes und Fundamentes entbehrt, die in so herrlicher Weise willkürlich ist, daß wir sie beständig beim Würfelspiel der vor uns liegenden Tatsache sekretieren. Alles, was ich Ihnen gesagt habe, gibt der Frage unseres Vortrages ihre zugleich ernste und präzise Bedeutung: „Wie sieht der heutige Mensch Vergangenheit und Zukunft? Was bedeuten für ihn diese beiden wesentlichen und miteinander verbundenen Elemente jeder menschlichen Existenz?“ Um das, was uns heute bezüglich der Vergangenheit und Zukunft begegnet, ein wenig deutlicher zu begreifen, soll es uns genügen, unsere Situation mit derjenigen zu vergleichen, die der westliche Mensch des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts erlebte, jener Mensch des fin de siècle, der, in einen Gehrock gesteckt, seinen Kopf mit der imposanten Architektur eines Zylinders krönte, einen steifen Kragen und ein gestärktes Oberhemd trug. Dieser Mensch, mochte er nun Rationalist und Freidenker sein oder als Christ dieses oder jenes Bekenntnis haben, glaubte eisern an die Idee des Fortschritts; eine Idee, die von einer der verehrungswürdigsten und genialsten Persönlichkeiten erfunden wurde, die von jedem guten Europäer, der sein Europa gründlich kennt, nur mit stärkster Bewegung betrachtet werden kann: Ich spreche von Turgot. Es ist wohl möglich, daß der kulminierende Moment der europäischen Seele bis zu diesem Zeitpunkt die kurze Spanne gewesen ist, die ich mit eben jenem Namen bezeichnen möchte; dieser Name hat für alle echten Mitglieder der europäischen Familie etwas tief Erregendes; er taucht von Zeit zu Zeit in französischen
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Briefen und Memoiren der darauffolgenden Epoche auf, welche so mild wie die Morgendämmerung und zugleich so leuchtend wie der hohe Mittag strahlt, „jene Zeit, da Herr von Turgot an der Sorbonne war“. Die Idee, daß der Mensch den Weg der Zukunft in unvermeidlichem Fortschreiten begeht, wie ein Gestirn seine Bahn beschreibt, wurde von seinem Schüler Condorcet entwickelt. Aber der Marquis von Condorcet wurde am 8. Juli 1793 von dem Ex-Franziskaner Francois Chabot, einer vollendeten Canaille und einem großen Dummkopf, als verdächtig denunziert. Er wurde wegen Konspiration gegen die „Einheit und Unteilbarkeit der Republik“ verurteilt. Chabot und seine Hintermänner, die Condorcet zum Gefängnis verurteilten, wo er neun Monate später starb, waren die ewigen Dummköpfe der Politik; sie wußten weder, was die Republik, noch was Einheit und Unteilbarkeit waren. Als Condorcet erfuhr, daß er denunziert worden war, versteckte er sich in dem Hause von Frau Vernet und schrieb dort in der Verborgenheit seine „Ebauche d'un tableau historique des progrès de l’esprit humain“. Dieses Buch wurde das Evangelium eines neuen Glaubens, des Glaubens an den Fortschritt. Die Fortschrittsidee war schon von dem großen Turgot, Condorcets Lehrer, im Jahre 1750 streng formuliert worden. Von dieser großen Idee haben zwei Jahrhunderte gelebt. Ihr zufolge sei der Fortschritt der Menschheit unausweichlich, er führe zu immer befriedigenderen und vollkommeneren Lebensformen. Noch nie hatte sich ein so bedeutender Teil der Menschheit — das ganze Abendland — in einem so sicheren Gefühl gegenüber der Zukunft gewiegt. Die Fortschrittsidee ist wie
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die „Assekuranz“ eine philosophische Versicherungsgesellschaft. In diesem Glauben ist auch noch meine Generation aufgewachsen. Da die Fortschrittsidee sich mehr und mehr im Laufe des 19. Jahrhunderts in ihrer Richtigkeit zu bestätigen schien, ist es verständlich, daß dieser Glaube in den Seelen kräftig Wurzeln geschlagen hat. Der Glaube, anders gesagt die absolute, unmittelbare Überzeugung, ist immer blind. Glaube ist keine Idee, sondern ein undiskutiertes und undiskutierbares Bekenntnis. Jeder Glaube, der diesen Namen verdient, ist ein Köhler-Glaube. Dieser kompakte Glaube hat zur Folge, daß sich in eben jener Epoche die Zukunft dem Menschen unter ihrem unproblematischsten Aspekt darstellte. So verlor das Leben damals jede dramatische Spannung. Das einzige beunruhigende Phänomen, das indessen noch als durchaus unbedrohlich empfunden wurde, war der Fortschritt der Arbeiterbewegung. Aber zu jener Zeit war dieses furchterregende Phänomen, das sich zu einer historischen Katastrophe auswirken sollte, lediglich ein akademisches Thema, jedenfalls in den meisten Fällen. Man nannte es „die soziale Frage“ und diskutierte lange und in aller Ruhe darüber, ob sie überhaupt bestehe, ob sie eine wirtschaftliche oder moralische, eine pädagogische oder eine Frage der Gewalt sei. Die Zukunft stellte sich diesen Europäern wie eine Kurve mit leichten Auszackungen dar, die aber nichts anderes als die kleinen Probleme der Zeit waren. Da es sich dabei um geringfügige, keineswegs wesentliche Probleme handelte, so fand der Mensch des fin de siècle, wenn er seinen Blick zur Vergangenheit kehrte, eine Fülle von Vorlagen, die ihm
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zur Lösung der Probleme genügen mußten. Daher die Süffisance dieser Menschen, das Reizvolle, das für sie in der Betrachtung der Vergangenheit lag. Wie köstlich war es, sich auf eine Welt stützen zu können, die so reich an Seinsweisen und mustergültigen Lebensformen der Menschen war! Der Mensch fühlte sich als Erbe eines ungeheuren Reichtums an Lebensmodellen. Man glaubte noch an den vorbildlichen Wert Griechenlands und Roms. Die athenische Demokratie, die zwei Generationen früher von dem Bankier Grote wiederentdeckt worden war, stellte für sie das Muster einer Demokratie dar, weil die Menschen an die Demokratie glaubten, wie man an die Jungfrau von Lourdes glaubt. Sie waren nicht einmal in der Lage, sich darüber Rechenschaft abzulegen, daß die athenische Demokratie nichts mit den modernen Demokratien des Abendlandes zu tun hatte. Man glaubte an die philosophische Tradition, an Platon, an Aristoteles, an Descartes. Wer eine Philosophie brauchte, fand im Hinterladen wohlerhaltene und glänzende Beispiele und Muster aller Art. Man brauchte nur zuzugreifen, und schon waren der Neukantianismus, der Neo-Fichteanismus und der Neuthomismus zur Hand. Das gleiche galt für die Künste, die Literatur und die Wissenschaften. Die Physik war die Physik, die einzige, vollkommene, unangreifbare Physik Galileis und Newtons. Die Mathematik war das unvergängliche Wunder der vollkommenen und unveränderlichen Wahrheit, usw. Dasselbe sehen wir, wenn wir noch ein Jahrhundert zurückgehen und die Situation eines Goethe gegenüber der Vergangenheit und Zukunft diagnostisch beleuchten. Nur wird für Goethe, der ein großer Neuerer war, die
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Definition ein wenig komplizierter sein. Goethe war seltsamerweise für die Zukunft blind, oder, mit andern Worten gesagt, die Zukunft bestand eigentlich kaum für ihn. Nicht einmal die große Französische Revolution verursachte ihm Unruhe. Freilich war das keineswegs eine Ausnahme in seiner Generation. Die Möglichkeit ihrer zukünftigen Erschütterungen rührte das Leben der damaligen Menschen nicht auf, was beweist — und man könnte den Beweis im einzelnen erbringen —, daß die berühmte Revolution hinsichtlich ihrer Prinzipien keine peripeteia, keine Peripetie im griechischen Sinne des Wortes darstellte, das heißt, daß sie keine wirkliche Umwälzung des Lebens, keine authentische Revolution war. Die politische und soziale Umformung, die sie mit sich brachte, ließ die einmal aufgestellten Überzeugungen unangetastet, ebenso die Tiefenstrukturen des Lebens, die Moral, die Anatomie der Gesellschaft, jene Werte, die man als Zivilisation bezeichnete. Hinter dem politischen Melodrama, unter der unermüdlichen Guillotine blieb der Untergrund intakt. Die Prinzipien der sogenannten europäischen Zivilisation waren nach wie vor in voller Kraft, schienen mehr als je unvergänglich. Wir haben also hier einen Fall vor uns, der dem vorhergehenden ähnlich ist, und wir können die Beobachtung in den Rang eines historischen „Gesetzes“ erheben — das Wort „Gesetz“ in Anführungsstrichen — und folgendes sagen: In dem Maße, wie die Zukunft an Problematik verliert, findet der Mensch seine Stütze in einer Vergangenheit, die an gültigen Werten, musterhaften Vorsätzen und Modellen reicher ist. Der Mensch fühlt sich vor der Zukunft verhältnismäßig ruhig, weil er sich
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als Erbe einer prächtigen Vergangenheit fühlt. Und ein solcher hervorragender Erbe war Goethe — der Erbe der gesamten abendländischen Vergangenheit, die mit Homer und Praxiteles beginnt, um bis zu Spinoza und Cuvier zu gelangen. So verstehen wir die Devise, die Goethe uns gibt: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen!“ Seltsam, nicht wahr? Er interessiert sich nicht weiter für die Zukunft; er sieht sie als Aufgabe so wenig, daß er uns vielmehr empfiehlt, uns unserer Vergangenheit zu bemächtigen. Das erinnert mich an die Schlacht zwischen Spaniern und Portugiesen im 17. Jahrhundert, in deren Verlauf das vor den Portugiesen fliehende spanische Heer sich entschloß, sein eigenes Feldlager im Sturm zu nehmen. Wie ich Ihnen schon in Erinnerung rief, ist die Fortschrittsidee im Jahre 1750 aufgekommen, das heißt ein Jahr nach Goethes Geburt. Die Idee gehörte also seiner Zeit an; Goethe mußte sie viel tiefer in sich tragen als die Menschen meiner Generation. Und er hat immer mit dieser Überzeugung gelebt, ohne je am Horizont der Zukunft das Gespenst möglicher Katastrophen auftauchen zu sehen. Indessen hat es doch in seiner Zeit verhältnismäßig ebenso große Katastrophen gegeben, wie wir sie heute erleben; aber dank diesem Fonds an Sicherheit, den der Glaube an den Fortschritt garantierte, hatten diese Ereignisse für ihn nur oberflächlichen Wert. Goethe war davon überzeugt, daß unter der von Stürmen bewegten Oberfläche des Meeres die Ruhe in seinen Tiefen weiterherrschte. Aber wenn er einmal sich nicht so ganz einfach dem Leben nur hingab, wenn er sich im Anblick seiner Überzeugungen auf sich selbst
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besann und nachzudenken begann, dann widersetzte auch er sich der Fortschrittsidee, ohne übrigens viel zu wissen, warum und wieso. Die Fortschrittsidee ist vielleicht die erste große Vision des Menschlichen als Geschichtlichkeit, als Prozeß, als konstitutive Veränderung. Sie ist die Morgendämmerung des „historischen Sinns“. Aber wie ich schon sagte, war Goethe vor der Geschichte blind, und die Blindheit zeigt uns, bis zu welchem Grade er an das 18. Jahrhundert, dem er ja in seiner ersten Lebenshälfte ganz und gar zugehört, gebunden war. Goethe widersetzt sich dem Naturgesetz des Fortschritts, insofern dieses nach Turgot, Price, Priestley, Comte ein konstitutives Gesetz der Geschichte ist — und das nicht etwa, weil er in dem geschichtlichen Werdegang eine andere, authentischere Physiognomie entdeckt, sondern weil es ihm wie einem Descartes und den reinen Rationalisten widerstrebt, im menschlichen Leben überhaupt einen Prozeß zu sehen. Ganz im Gegenteil bemüht er sich, es als etwas zu betrachten, was im wesentlichen unveränderlich bleibt. Goethe sieht also im Menschlichen nicht allein eine unveränderliche „Natur“, die gleichsam ewig, der Zeit nicht unterworfen wäre, er sieht sie vorzüglich transsubstantialisiert. Hier rühren wir an den Ursprung seiner hellenistischen Manie. Ich habe nicht die Zeit, näher auf diesen berühmten, von seinen Zeitgenossen so lächerlich behandelten Hellenismus Goethes einzugehen. Aber wir haben seinen eigentlichen Ursprung freigelegt. Die Griechen strebten danach, alles zum Beispiel zu erheben, alles zum Paradigma zu machen, und vergaßen dabei, daß die Hauptfunktion der platonischen Ideen die ist, Modelle zu sein, beispielhafte Ursachen —
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und die Griechen bedienten sich ihrer wie eines Gewandes, um das Menschliche zu bekleiden und es als Beispielhaftigkeit zu begreifen. Aber die Sache ist die, daß Griechenland darüber selbst Modell wurde, und mit ihm die Renaissance. Es gab Modelle, Formen der Vergangenheit, die Goethe wie so vielen seiner Zeitgenossen halfen, die Zukunft aufs Korn zu nehmen. Die Tatsache, daß die Zukunft damals ein Minimum an Unsicherheit und Gefahren bot, ermöglichte es ihnen, haufenweise Beispiele aus der Vergangenheit zu schöpfen. Aber stellen Sie sich einmal die umgekehrte Lebenssituation vor, daß nämlich die Zukunft eine mehr als problematische Physiognomie darbietet, daß sie wie eine unendliche Gefahr erscheint, kurz, daß das Leben im extremen Sinne „ZuKünftigkeit“ ist. Unbekannte Probleme, wie es sie bis heute in solcher Breite und Tiefe nicht gegeben hat, tauchen am Horizont gleich bedrohlichen, noch nie dagewesenen Konstellationen auf. Dinge, die als unumstößlich galten und die für den Menschen gleichsam eine terra ferma waren, auf der seine Füße festen Boden hatten, geraten plötzlich ins Schwanken oder erweisen sich als Irrtümer, Utopien oder fromme Wunsche. Und noch einmal wendet der Mensch dann seine ganze Aufmerksamkeit rückwärts und schaut in die Vergangenheit, um dort Waffen, Instrumente, Verhaltungsweisen zu suchen, mit denen er den Kampf um eine mehr als problematische Zukunft aufnehmen kann. Und was findet er schließlich auf diesem geräumigen Speicher der Vergangenheit? In Wirklichkeit sind die Probleme, die an die Struktur der Lebenskräfte rühren, an das, was
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man die „Prinzipien der Zivilisation“ nennt, so radikal neu, daß nichts von dem, was in der Vergangenheit getan und erlebt worden ist, uns bei unsern Versuchen, die Probleme zu lösen, nützlich sein kann. Nichts von dem, was uns die Geschichte offenbart, kann für eine so seltsam profilierte Zukunft irgendwelchen Wert haben. Unmöglich, in der Vergangenheit gültige Muster zu finden. Die Zukunft mit ihrer kolossalen Last problematischer Elemente wird die Vergangenheit als Vorbildlichkeit auslöschen. Der Mensch bekommt wohl das Erbe der Vergangenheit, aber er wird es nicht antreten wollen; es wird, wie die römischen Juristen es nannten, eine Erbschaft inadita, sine cretione sein. Nein, dieser Mensch kann sich nicht im Sinne Goethes als Erbe fühlen. Er ist im Gegenteil ein Enterbter, hinter dem keine wirksame Vergangenheit mehr steht. Seine Vergangenheit projiziert sich nicht hinreichend auf die Zukunft, weil diese keine Konsonanz mit ihr hat. Sie ist eine nutzlose Vergangenheit, die er weder achten noch bewundern kann. Die Vergangenheit ist so etwas wie ein Kometenschweif, wodurch die Stabilität gesichert wird. Daher die radikale Haltlosigkeit unserer Zeit. So also ist die Situation des gegenwärtigen Menschen. Der abendländische Mensch, der so alt ist und seine Vergangenheit eingebüßt hat, sieht sich plötzlich in einen Primitiven verwandelt, im guten wie im schlechten Sinne des Wortes. So sieht's mit uns aus! Die Leute, die uns alle Tage mit rührender Bigotterie in den Ohren liegen, man müsse die abendländische Zivilisation retten, kommen mir in ihrem Eifer wie Ausstopfer von Mumien vor. Die abendländische Zivilisation
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ist tot; sie ist eines schönen und ehrenvollen Todes gestorben. Sie ist von selbst erloschen, nicht von ihren Feinden getötet; sie selbst war die Kraft, die ihre eigenen Prinzipien erdrosselte; sie holte alles heraus, was „sie im Bauche hatten“, und bewies dadurch, daß diese Prinzipien eben keine waren. So bedeutet dieser Tod nicht ein Verschwinden. Wie der Prévôt von Paris beim Tode des Königs, so wollen wir rufen: „Die abendländische Zivilisation ist tot, es lebe eine neue abendländische Zivilisation!“ Mag die alte sich selbst überleben! Jetzt wäre der Augenblick gekommen, deutlich herauszuarbeiten, bis zu welchem Punkt diese berühmten Prinzipien überholt sind. Dafür fehlt mir freilich die Zeit. Aber lassen Sie mich Ihnen wenigstens dieses sagen: Selbst wenn ich die Zeit hätte, meinen Gedanken freien Lauf zu lassen, so würde das doch zu nichts führen; es wäre ein eitles Unterfangen, nacheinander jene großen Bezirke des Lebens zu durchmessen, in deren Verkettung eine Zivilisation besteht, um schließlich doch nur nachzuweisen, daß alle diese Prinzipien heute bankrott gemacht haben. Glücklicherweise besitzt jede Zivilisation eine organische Struktur; ihre verschiedenen Funktionen, ihre Teile und infolgedessen ihre Prinzipien stützen sich wechselseitig und bilden eine Hierarchie. Wir können nunmehr unsere etwas eilfertige Anspielung auf die grundlegende Funktion unserer Zivilisation — grundlegend wenigstens im charakteristischen Sinne des Wortes — schärfer umreißen. In keiner Zivilisation hat die Wissenschaft eine so konstituierende Rolle gespielt wie in der Zivilisation des Abendlandes. Außer der griechischen hat keine Zivilisation jene Dimensionen gekannt, die wir mit
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„Wissenschaft“ bezeichnen; aber nicht einmal in Griechenland selbst, wo sie konzipiert wurde, konnte sie zum fundamentalen, treibenden Element der hellenischen Zivilisation werden, oder sagen wir es mit energischeren Worten: Griechenland hat niemals von der Wissenschaft her gelebt. Bis zum Ende der historischen Existenz Griechenlands glaubten einige auserwählte Köpfe des Landes — aber sie waren nicht zahlreich —, daß das Charakteristikum der hellenischen Völker gegenüber anderen Zivilisationen die sogenannte „Kultur“ — paideia — sei. Das war kurz bevor Griechenland als normative historische Figur von der Bühne verschwand. Aber diese paideia, die de facto und nicht allein als desideratum gar kein konstitutives Organ des allgemeinen Lebens der hellenischen Volker ist, diese paideia besteht überdies nicht in der wissenschaftlichen, vielmehr in der rhetorischen Beschäftigung. Einige noch kleinere Gruppen —die Ultras der philosophischen Synthese, voran die platonische Akademie — hielten an dem Ideal fest, daß die Basis der Kultur selbst Wissenschaft sei. Aber man braucht nur den großen Förderer der Idee der Paideia, Isokrates, zu lesen, um zu sehen, daß im griechischen Sinne die Wissenschaft niemals dahin gelangt ist, wirklich eine fundierende Realität der griechischen „Kultur“, noch weniger der Zivilisation zu werden. Die Tatsache, daß uns die Wissenschaft derartig interessiert, hat eine optische Täuschung hervorgerufen, derzufolge wir immer vermutet haben — und damit unterlief uns offenbar ein Fehler —, daß sie auch die Griechen in derselben Breite und Tiefe interessiert hat. Erst als es mit Hellas aus war, als es sich selbst überlebt hatte, als es ein trauriges, halb mumifiziertes
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Volk geworden war, ein Volk, das von seinen Professoren leben wollte, um Ausländer ins Land zu ziehen, erst dann wurde Athen, dieser ewige Rebell, der Feind der Denker, eine Art Vichy der Philosophie und der andern mathemata. Nicht weniger willkürlich und falsch wäre es, die abendländische Zivilisation formell als christlich zu bezeichnen. Das Christentum ist kein ausschließliches Prinzip unserer Zivilisation, sondern es wirkt auch in anderen Zivilisationen, und außerdem haben die Abendländer nicht ausschließlich vom Glauben an Gott gelebt, sondern auch noch von einem andern Glauben, der sie in einer radikal andersartigen und vom religiösen Glauben unabhängigen Weise geformt hat, nämlich von dem Glauben an die Wissenschaft und die Vernunft. Das Trivium und Quadrivium verrieten gleich mit ihrem Erscheinen ihre Herkunft vom Kultus der Vernunft. Aber die Wissenschaften bilden eine Hierarchie, sie tragen sich gegenseitig, indem sie sich aufeinander stützen. Die beiden Grundwissenschaften sind die Physik und die Logik. Wenn irgendein ernster Vorfall die Prinzipien dieser Wissenschaften affiziert, so ist klar, daß dadurch auch die abendländische Zivilisation in Mitleidenschaft gezogen wird. Der Ernst der Situation weist im Augenblick noch kein melodramatisches Gepräge auf, das jedermann sichtbar wäre; so ahnt ja auch der Laie, wenn er einen Blutstropfen im Mikroskop beobachtet, noch nicht die vorhandenen Anzeichen einer ernsten Krankheit; wer aber eine Diagnose stellen kann, für den ist die gegenwärtige Lage der Physik und der Logik ohne Zweifel das Symptom einer Krise unserer Zivilisation, die noch
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viel tiefer greift als alle militärischen oder politischen Katastrophen. Denn diese beiden Wissenschaften waren gleichsam der Geldschrank, in dem der abendländische Mensch das Goldkapital aufbewahrte, mit dem er vertrauensvoll in die Zukunft blicken konnte. Vor einigen Wochen sprach ich mit dem größten Physiker unserer Zeit; ich bekundete ihm meine Bewunderung, daß er sich mit so großem Mut dazu entschlossen hatte, das „Prinzip der Indetermination“ zu formulieren. Dieses Prinzip ist zweifellos ein physikalisches Prinzip, und als solches drückt es eine fundamentale Tatsache in der Ordnung der sogenannten „materiellen“ Phänomene aus. Wenn es jedoch weiter nichts anderes wäre, würde es sich lediglich um einen normalen Fortschritt der physikalischen Wissenschaften handeln, lediglich um eine neue Wahrheit, die zu den bereits erworbenen hinzukommen würde. Aber dieses Prinzip kehrt sich zugleich gegen den ganzen Körper der Physik und zerstört ihn, nicht etwa wie eine neue physikalische Theorie die vorangehende weniger strenge ablöst, sondern es verwandelt grundsätzlich die Physiognomie der Physik selbst, was die Erkenntnis betrifft. Die unausgesprochene Grundlage der physikalischen Erkenntnis war, daß der Forscher sich darauf beschränkte, ein Phänomen zu beobachten und es in genauen Formeln zu definieren. Aber im Indeterminationsprinzip liegt der Gedanke enthalten, daß der Forscher, indem er das Phänomen beobachtet, es zugleich auch herstellt, daß Beobachtung Produktion ist. Und das ist vollständig unvereinbar mit dem dreitausend Jahre alten Ideal der „wissenschaftlichen Erkenntnis“. Insofern hat die Physik, was die Erkenntnis betrifft, so
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wie sie im traditionellen Sinne dieses Wortes gegeben ist, zu existieren aufgehört. Ob etwas Wunderbareres als ihre vergangene und traditionelle Gestalt emporkommen wird, das wissen wir noch nicht; aber was wir jetzt erleben, ist ganz einfach die Verflüchtigung der Physik. „Aber wenn Ihre Entdeckung so schwerwiegend ist“, fügte ich anläßlich unserer Unterredung hinzu, „dann ist das, was der Logik, dem fundamentalen Unterbau unserer Zivilisation, passiert, noch um einiges ernster“. Der Physiker schaute mich groß an und wunderte sich wohl, daß ich über die jüngsten rigorosen Formulierungen dieser Gedanken, die in Anbetracht ihres höchst abstrusen Charakters bislang fast noch Geheimnis geblieben waren, auf dem laufenden erschien. Dann fragte er mich: „Haben Sie dabei das Theorem von Gödel im Auge?“ —„Natürlich. Eben auf dieses Theorem beziehe ich mich; was in der Logik seit vielen Jahren vorgefühlt wurde, dem gibt es einen scharf umrissenen Ausdruck.“ Gödels Theorem bedeutet, daß es streng genommen keine Logik gebe, daß das, was man so nannte, nur eine Utopie war, daß man an eine Logik glaubte, weil diese seit Aristoteles ein Desideratum, ein einfaches Programm war. Seit Russell, Whitehead einerseits und Hilbert andererseits hat man in den letzten fünfzig Jahren versucht, die Logik zu realisieren, und man hat gesehen, daß es unmöglich war, weil die Logik eigentlich gar nicht besteht. Nun ja, die Logik signifizierte eben nur das „eigentlich“. . . Unsere Zivilisation weiß, daß ihre Prinzipien bankrott sind — inhaltlos geworden —, und deswegen zweifelt sie an sich selbst. Nun scheint es nicht, daß irgendeine Zivi-
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lisation restlos zugrunde geht und an einer Zweifelsattacke stirbt. Ich meine vielmehr, daß die Zivilisationen aus dem gegenteiligen Grunde untergehen, nämlich an Versteinerung und Verkalkung ihrer Glaubensüberzeugungen. Alles das will deutlich besagen, daß die Form, die bislang von unserer Zivilisation — oder genauer gesagt von den Abendländern — in Ehren gehalten wurde, erschöpft und versiegt ist, aber daß eben dadurch unsere Zivilisation sich getrieben und gezwungen sieht, radikal neue Formen zu erfinden. Wir sind zu einem Punkt gelangt, wo unser einziges Heilmittel nur darin besteht, zu erfinden und auf allen Gebieten zu erfinden. Man könnte sich keine herrlichere Aufgabe denken. „Erfindet!“ so heißt die Parole. Also gut, ihr jungen Leute, auf denn!
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STÜCKE AUS EINER „GEBURT DER PHILOSOPHIE“
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In seiner Schrift über „Das Wesen der Philosophie“ versucht Dilthey den Begriff der Philosophie festzulegen. Dazu bedient er sich des Vergleiches, der Verbindung und des Gegensatzes von Philosophie und Religion und Dichtung, wobei letztere als Literatur im weiteren Sinne zu verstehen ist. Wenn wir diesen wundervollen Aufsatz lesen, überrascht uns vor allem eines, und zwar erscheinen Religion, Philosophie und Literatur, diese vitalen Funktionen des Verstandes, als permanente Möglichkeiten des Menschen. Dies überrascht uns gerade bei Dilthey, der uns doch viel radikaler als seine Vorgänger — Hegel, Comte — die Geschichtlichkeit als Wesenszug des menschlichen Seins lehrt. Die Geschichtlichkeit scheint es mit sich zu bringen, daß alles eigentlich Menschliche eines schönen Tages entsteht und dann wieder vergeht. Nichts eigentlich Menschliches kann, wenn es etwas Wirkliches, also Konkretes ist, von Dauer sein. Damit ist nicht gesagt, daß es im Menschen nicht etwas Konstantes gebe. Sonst könnten wir vom Menschen, vom menschlichen Leben, vom menschlichen Sein, gar nicht reden. Das heißt, daß der Mensch durch all seine Veränderungen hindurch eine unveränderliche Struktur hat. Aber diese Struktur ist nicht wirklich, weil sie nicht konkret, sondern abstrakt ist. Sie besteht aus einem System abstrakter Momente, die als solche in jedem Fall und Augenblick mit wechselnden Bestimmungen integriert werden wol-
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len, damit die Abstraktion Wirklichkeit werde. Wenn wir sagen, daß der Mensch immer von gewissen Glaubensgewißheiten aus lebt, so sprechen wir eine Wahrheit aus, die ein Theorem ist in bezug auf die Theorie des Lebens, aber diese Wahrheit erklärt nichts, das wirklich wäre, sondern zeigt vielmehr ihre eigene Unwirklichkeit, da sie die Glaubensgewißheit, von der sie jeweils lebt, unbestimmt läßt; sie ist, wie eine algebraische Formel, die dauernde Aufforderung an uns, ihre „leere Stelle“ auszufüllen. So betrachtet bekommen die Ausdrücke „Religion“, „Philosophie“ und „Dichtung“ einen zweideutigen Sinn, weil man nicht weiß, ob man damit Abstraktionen bezeichnen will oder wirkliche Formen, die das Leben angenommen hat. Und tatsächlich steht der ganze Aufsatz Diltheys in einem semantischen Zwielicht, weil jene Ausdrücke dauernd von ihrer abstrakten Bedeutung zur konkreten übergehen und umgekehrt. Diese Unklarheit der Terminologie wurde gefördert durch eine allgemeine Schwäche, unter der die sogenannten „Geisteswissenschaften“ leiden und die darin besteht, daß ihr Wortschatz ungemein kümmerlich ist. Ich habe schon einmal auf den Nachteil hingewiesen, der daraus entsteht, daß man mit ein und demselben Wort „Dichtung“ das bezeichnet, was Homer, und das, was Verlaine hervorgebracht hat. Dasselbe geschieht mit Wörtern wie „Philosophie“ und „Religion“. Es ist offensichtlich, daß man diesen Wörtern eine so schwache, so formale Bedeutung geben kann, daß sie ganz Verschiedenes und sogar Entgegengesetztes umfassen. Grundsätzlich wäre gegen dieses Verfahren nichts einzuwenden, wenn wir nicht sofort
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dasselbe Wort zur Bezeichnung von ganz konkreten Formen menschlicher Beschäftigung verwendet fänden. Diesem Problem kommt heute eine gewisse unmittelbare Bedeutung für die Philosophie zu, weil das abendländische Denken — und zwar das beste — angefangen hat, unter diesem Namen Formen anzunehmen, die als „Philosophie“ zu bezeichnen äußerst fraglich ist. Ohne daß ich jetzt eine förmliche Meinung über diese Angelegenheit ausdrücken will, möchte ich doch die Möglichkeit andeuten, daß das, was wir uns jetzt unter der herkömmlichen Bezeichnung „Philosophie“ zu tun anschikken, nicht eine neue Philosophie ist, sondern überhaupt etwas Neues, etwas anderes als jede Philosophie. Wenn Dilthey nämlich genau sagen will, was er unter Philosophie versteht, sieht er sich gezwungen, eine Art zu beschreiben, sich der geistigen Mechanismen zu bedienen, die in der Menschheit nicht permanent vorhanden war, sondern die eines schönen Tages in Griechenland entstanden und die zwar auf uns überkommen ist, aber ohne daß wir eine Gewißheit hätten, daß sie auch fürderhin bestehen wird. Damit wollen wir aber keinen Anspruch erheben, daß wir das Problem gelöst hätten, ob Philosophie, Religion und Dichtung permanente Möglichkeiten des Menschen sind oder nicht. Im Gegenteil — wir haben nur die Frage mit einer gewissen Dringlichkeit aufgeworfen. Bevor wir in systematische Erwägungen eintreten, müssen wir uns vor Augen halten, in welcher Stellung sich wohl die ersten Philosophen gegenüber der Religion befanden. Der Augenblick des griechischen Lebens, in
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dem die Philosophie in Erscheinung trat, hat für unsere Frage ein ganz besonderes Gewicht. Wenn die Philosophie dann einmal da ist, ist die Situation nicht mehr so beispielhaft. Der Mensch steht dann zwei Formen innerer Beschäftigung gegenüber — der Religion und der Philosophie —, die er nicht erst schaffen muß, sondern einfach wählen kann, und diese Wahl kann unter den verschiedensten Gleichungen vor sich gehen. Bei der Entwicklung unseres Problems führt dies zu der Notwendigkeit festzustellen, ob diese Religion und diese Philosophie, die ineinander verwickelt sind, sensu stricto Religion und sensu stricto Philosophie sind. Aber jene ersten Denker fanden keine Philosophie vor, die sie lockte und einlud, sie mit ihrer Religion zu verbinden, sondern sie empfanden die tiefe Notwendigkeit von etwas noch nicht Bestehendem, was zu dem wurde, was schließlich die seltsame Bezeichnung Philosophie erhielt. Was suchten sie denn? Warum suchten sie es? Hat es einen Sinn anzunehmen, daß sie, wenn sie in der traditionellen Religion zu Hause waren, sich bemüht hätten, etwas zu finden, das ebenso umfassend wie diese, aber so ganz verschiedenen Inhalts war? Um diese Fragen zu beantworten, bleibt uns nichts anderes übrig, als uns in die Fragmente zu versetzen, die wir noch von jenen ersten Denkern besitzen, um von ihrem Gesichtspunkt aus den Horizont zu erforschen, der sich ihren Verfassern bot. Im Denken eines Denkers wirken immer ein Untergrund, ein Grund und ein Gegner mit. Der Untergrund, den die tiefen Schichten geistiger Traditionen bilden, die in der menschlichen Gemeinschaft bewahrt werden, wird
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gewöhnlich vom Denker ignoriert. Er wirkt in ihm, ist ihm aber nicht präsent. Der Grund ist neueren Ursprungs: es sind die grundsätzlichen Annahmen, deren sich der Denker bewußt ist und die er schon vorfindet. Auf diesem Grund nimmt er Stellung, und von hier aus denkt er seine eigenen Ideen. Schließlich ist jedes Denken ein „Denken gegen“, ob es sich nun im Worte äußert oder nicht. Unser schöpferisches Denken bildet sich immer im Gegensatz zu einem anderen Denken, das uns vorliegt und das uns irrig, fehlerhaft zu sein scheint, ein Denken, das überwunden sein will. Es ist das, was ich den „Gegner“ nenne, die feindliche Felswand, die sich auf unserem eigenen Grund erhebt, also auch von diesem ausgeht, und im Gegensatz zu der wir das Bild unserer eigenen Lehre entdekken. Parmenides und Heraklit dürften um das Jahr 520 v. Chr. geboren sein. Sie beginnen also um das Jahr 500 zu denken1. Auf welchem geistigen Grund befanden sie sich? Welchen geistigen Strömungen, welcher allgemeinen Denkrichtung fühlten sich ihre jungen Köpfe verbunden? In welchen anderen zeitgenössischen Tendenzen sahen sie das Profil des Gegners? Im Werke des Parmenides erscheint kein Eigenname, der uns zu orientieren vermöchte. Er „zitiert“ weder Freund noch Feind. Und das ist kein Zufall. Parmenides gestaltet seine Ideen in der Form eines feierlichen Ge-
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Die Verschiedenheit der Auffassungen bezüglich der chronologischen Beziehung der beiden Leben interessiert hier nicht. Das Entscheidende – und Überraschende – für uns ist, dass die Werke der beiden Philosophen zur gleichen Zeit, etwa um 475, entstanden sind. 51
dichts1, das der literarischen Gattung angehört, die für jene Zeit bezeichnend ist: das theologisch-kosmogonische Gedicht der orphischen Mystiker. Diese Gattung ist, da mystisch, pathetisch im Ton und verlangt eine nicht alltägliche, mythische Ausdrucksweise. Obwohl das Gedicht in der ersten Person abgefaßt ist, ist diese Person doch abstrakt — ein Jüngling — κου̃ρος; — den, man weiß nicht warum, einige junge Göttinnen beschirmen, vage weibliche Gottheiten; vielleicht sind es die Musen oder die Horen, denn er nennt sie „Töchter der Sonne“. Diese Unklarheit der Linien, diese Zartheit und Geisterhaftigkeit des mythologischen Bildwerks, das Parmenides entfaltet, erweist ohne weiteres und ohne jeden Zweifel, daß Parmenides ganz klar und bewußt eine „archaisierende Gattung“ wählt, um seine Aussage zu machen. Mit anderen Worten: Parmenides bedient sich des mythologischmystischen Gedichts, ohne noch daran zu glauben, als eines reinen Ausdrucksmittels, kurz: als Vokabular. Die längst abgestorbenen Glaubensgewißheiten leben, in bloße Wörter verwandelt, noch lange weiter. Die Mythologie ist, wenn sie tot ist, von einer schrecklichen Hartnäckigkeit. Solange eine Glaubensgewißheit, die nicht die unsrige ist, in anderen lebendig ist, nehmen wir sie ernst und kämpfen mit ihr, zumindest sorgen wir dafür, daß man unsere Ausdrucksweise nicht mit der jener anderen verwechselt, die daran glauben. Aber wenn
1 Es erscheint mir höchst unwahrscheinlich, daß das Gedicht einen Titel hatte, und vollends, daß dieser Titel „Über die Natur“ gelautet habe, wie Sextus Empiricus, wohl etwas konventionell, behauptet. Viel wahrscheinlicher ist, daß das Gedicht, wenn überhaupt, Aletheia benannt war.
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wir eine Glaubensgewißheit schon für mumifiziert und der Vergangenheit angehörig halten, dann wird sie für uns zur einfachen und harmlosen „Redensart“. So sprechen wir ruhig vom Orient, das heißt, von einer Gegend, wo die Dinge entstehen oder geboren werden, obwohl niemand mehr glaubt, daß es einen Ort im kosmischen Raum gibt, dessen besondere Eigenart Geburten sind. Parmenides spricht zu uns nicht nur von jenen göttlichen Jungfrauen, sondern von einer gewaltigen Göttin, die ihm die Wahrheit zeigen will, und von einem Wagen mit den „schnellsten Pferden“ — zweifellos sind sie beflügelt —, der ihn, von den genannten Mädchen gelenkt, wie einen Amadis auf dem „vielgepriesenen Weg“, auf der „berühmten Straße“, die der „wissenden Kreatur“ das ganze Universum zu durchlaufen gestattet, bis zu den Toren des Himmels führt. All das ist eine feierliche Aufmachung, die Parmenides aus den alten Truhen hervorholt und die ihm als Verkleidung dient, gerade weil es für ihn Verkleidung ist. Wir müssen uns jetzt nur erklären, warum dieser Mensch, um seine Aussage zu machen, eine Verkleidung braucht, das heißt, warum er es für angebracht hält, eine religiöse, mythologische Redeweise zu ersinnen und seine Gedanken im pathetischen Tone einer Enthüllung, einer Apokalypse aus dem Munde einer Göttin auf uns niederdonnern zu lassen. Hätten wir nicht dummerweise die „Rhetorik und Poetik“ so vernachlässigt, die sich mit den genera dicendi befaßten, mit der Art, wie man die Dinge sagen kann, die wir sagen wollen, dann wäre es für uns nicht schwer zu verstehen, warum Parmenides ganz ernsthaft — bei Parmenides ist alles furchtbar ernst — darauf verzichtet, in didaktischer
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Prosa zu reden, warum er es vermeidet, einfach von sich aus zu sprechen, und warum er all seine Beredsamkeit auf vage religiöse Personen und Figuren überträgt. Es ist eine stilistische Notwendigkeit. Es ist keine Laune. Stil ist die Umformung der gewöhnlichen Sprache aus besonderen Gründen, die den Sprechenden leiten. Und der häufigste Grund der Stilisierung ist die Ergriffenheit. Sie manipuliert die laue und farblose Alltagssprache so lange, bis sie glühend, geschmeidig, blank und lebendig wird. Parmenides wird uns also nicht bloß seine Entdeckungen mitteilen, vielmehr hatten ihn diese — wie wir sehen werden, ganz mit Recht — in solches Staunen und in eine übergroße Erregung versetzt, daß sie für ihn einen mystischen Wert erhielten. Wenn man glaubt, es gebe im Menschen geschlossene Abteile, wird man nichts vom Menschen verstehen. Es wäre naiv zu glauben, weil die Wissenschaft kalte Wissenschaft, eisige Wahrheit ist, habe ihre Entdekkung keinen mystischen Charakter und sei nicht glühend, begeisternd und leidenschaftlich. Und trotzdem war, ist es und wird es unvermeidlich und glücklicherweise immer so sein: Jede „wissenschaftliche“ Entdeckung, das heißt, jede Wahrheit versetzt uns plötzlich in die unmittelbare Vision einer Welt, die wir bis dahin nicht kannten und mit der wir deshalb nicht rechneten. Auf einmal, als werde ein Schleier von unseren Augen genommen, wird sie uns auf wunderbare Weise offenbar — und wir sind „Sehende“; noch mehr, es scheint, als seien wir unserer gewöhnlichen, „bürgerlichen“ und gar nicht mystischen Welt durch eine seltsame Macht entrückt in eine andere, und wir geraten in Ekstase. Es ist gleichgültig, was unsere vorherigen Überzeugungen hin-
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sichtlich des Wirklichen und des Göttlichen, des Vulgären und des Magischen sind: die Situation, die mystische Erfahrung wird sich stets mit denselben Wesenszügen wiederholen. Der Mensch, der am radikalsten die „reine Vernunft“, den „reinen Rationalismus“ entdeckt, den Rationalismus, der die Religion erdrosseln wird — Descartes —, hatte, als er in jungen Jahren plötzlich die Entdeckung der Methode (der „mathesis universalis“) macht, eine ekstatische Vision, die er immer als etwas ansah, an dem er selbst kaum teilhatte, als göttliches Geschenk und transzendente Offenbarung. Zutiefst erregt von dieser besonderen, einmaligen Ergriffenheit des „Entdeckers“, die unendliche Demut ist, schreibt er in seinen intimen Aufzeichnungen: „X novembris 1619, cum plenus forem Enthousiasmo, et mirabilis scientiae fundamenta reperirem.“ Parmenides empfindet das, was ihm bei diesem Entdecken zuteil geworden ist, als eine gewissermaßen transzendente Tatsache, und das veranlaßt ihn ganz natürlich, ein religiöses Vokabular und religiöses Bildwerk zu verwenden, um sowohl seine Idee als seine Ergriffenheit auszudrücken. Und zwar gerade, weil er nicht fürchtet, seine Leser könnten seine mythologischen Ausdrücke in ihrer unmittelbaren Bedeutung auffassen. So zeigt uns Parmenides’ Stil nicht nur, daß er selbst nicht an die Götter glaubte, sondern daß auch in den sozialen Gruppen, an die er sich wandte, der religiöse Glaube nicht mehr lebendig war. Für einen einwandfreien Rationalisten wie Parmenides ist es etwas Außerordentliches, Erwärmendes, wenn er von Göttern, von einer Fahrt in den Himmel spricht und wenig kontrollierbare Bilder gebraucht, aber
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es tut seinem Bedürfnis, die gefühlte Ergriffenheit auszudrücken, Genüge. Dagegen würde einem, der wahrhaft an die Götter glaubt, Parmenides’ Dichtung blaß, lau und steif allegorisch erscheinen. Achtzig Jahre zuvor hatte Anaximander die Prosa erfunden und hatte in ihr die Darstellung seiner Physik niedergelegt. Diese Urprosa hatte sich noch nicht zur „literarischen Gattung“ konsolidieren können, weil sie ihrer selbst noch nicht sicher war, nämlich daß sie Prosa und nur Prosa war. Wenn man es am wenigsten erwartet, weht über der „positivistischen“ Aussage Anaximanders ein fast mythologischer Sturm der Erregung, der die prosaische Sprache aufwühlt und mit visionären Blitzen erfüllt. Parmenides hatte also keine Wahl. Das erklärt, warum er den ganzen alten Apparat des deus ex machina hervorholt. Heraklit dagegen zitiert Namen. Und zwar macht er nicht viel Umstände. Homer und Archilochos sollen geprügelt werden (fr. 42). Den Meister Hesiod schilt er einen Dummkopf, weil er nicht einmal weiß, was Nacht und Tag sind (fr. 57), Pythagoras nennt er einen Komödianten (fr. 129, aber zweifelhaft) und wirft ihm, ebenso wie Hesiod, Xenophanes und Hekataios vor, daß sie unter einem Sammelsurium von Ideen ihre Ignoranz in dem verbergen, was allein wissenswert ist (fr. 40). Er läßt überhaupt nur Thales gelten, von dem er sagt: „Er war der erste Astronom.“ Daß in diesem Fragment eine Beschimpfung fehlt, zeigt uns, daß seine Haltung gegenüber Thales und dem, was er darstellt, positiv war. Zu bemerken ist, daß alle namentlich Zitierten schon tot waren. Es fehlen die Namen von Zeitgenossen. Man vergesse nicht, daß die bedeutendste und charakteristischste
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geistige Produktion des 6. Jahrhunderts aus der Gegend kommt, zu der Ephesus gehört, von der jonischen Küste und den benachbarten Inseln. Im Gegensatz zu Parmenides spricht Heraklit von seiner eigenen und unübertragbaren Person aus. Seine Sentenzen, über die sich schon so viele die Köpfe zerbrochen haben und die so berühmt „rätselhaft“ erscheinen, brechen blendend wie Blitze aus einem gewaltigen und ganz individuellen Ich hervor, aus diesem konkreten einmaligen Menschen Heraklit, der aus der Familie der Kodriden geboren ist, die die Stadt gegründet haben, und der selbst von „königlichem“ Range war, in der höchsten Bedeutung, die dieses Wort je gehabt hat, in der des „geweihten“ Mannes, der allein zu „weihen“ imstande ist, da er in seinem Blut die unveräußerliche göttliche Erbschaft des „Charisma“ trägt. Heraklit verzichtet zugunsten seines Bruders auf die Ausübung dieser religiösen Königswürde, denn selbst diese hindert ihn daran, das absolute Individuum zu sein, dieser ganz einmalige Heraklit, als der er sich fühlt. Wenn wir, bevor wir darlegen, was diese unermeßliche Persönlichkeit gesagt hat, ein wenig innehalten — wie es sich gebührt —, um die Art zu prüfen, wie er es gesagt hat, das formale Bild seiner Aussage, so finden wir folgendes: Auch Parmenides stammt aus vornehmer Familie und besitzt dieses überwältigende Selbstvertrauen, das jene ersten Denker beflügelte und das von dem Bewußtsein seines Seins und seines Denkens — seines aristokratischen Erbes und der Ursprünglichkeit seiner Gedanken — doppelt genährt wurde. Wo er auftritt, flößt er Achtung ein. Noch bei Platon klingt die Erinnerung an diese Achtbar-
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keit auf. Aber letzten Endes wandelt er unter den Menschen, disputiert mit ihnen — seine Schule führt die „Diskussion“ als Lebensform ein, die Dialektik —, bemüht sich, sie zu überzeugen, er lehrt nicht nur, sondern belehrt. Parmenides hat keine Distanz. Darum muß er seine Aussage distanzieren und seine Lehre von dem wahren Mund der wahrhaftigen Göttin aussprechen lassen. Heraklit dagegen, der „König“, fühlt sich einzigartig und ist von vornherein unabänderlich distanziert. So ist sein Leben materiell ein Rückzug. Er zieht sich, wie ich sagte, aus dem öffentlichen Leben zurück und verzichtet auf sein heiliges Amt. Er empfindet eine vernichtende Verachtung gegenüber der Masse seiner Mitbürger und betrachtet sie als heilsunfähig, da sie nicht die grundlegende Tugend eines Menschen haben, die darin besteht, daß man fähig ist, etwas Überlegenes anzuerkennen1. Heraklit zieht sich also von der Agora in den einsamen Tempel der Artemis zurück. Das genügt ihm aber auch noch nicht, und so flüchtet er in ein wildes Gebirge, wie sich das Eisen und der Diamant im Inneren der Erde verbergen. Selten wird ein Mensch eine so unbeschränkte Überzeugung von seiner Überlegenheit über die anderen gehabt haben. Wir werden noch sehen, aus welchem umgekehrten Grunde; wir werden noch sehen, aus welch absoluter Demut sich dieser absolute Hochmut herleitet und nährt. Wenn Heraklit noch an die Götter glaubte, würde er glauben, er sei ein Gott. Deshalb überträgt er seine Aussage auch nicht einem würdigeren Munde. Er
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Ein schrecklicher Fehler bei denen, die, wie es bei den Menschen vorkommt, nur eine elende Herde sind, die einen Hirten braucht (vgl. fr. 11). 58
braucht der Distanz, die er schon ist, nicht eine neue stilistische Distanz hinzuzufügen. Seine Lehre erklärt uns, warum er sich als Gott fühlt — wie sich, seiner Auffassung nach, jeder Mensch zu fühlen das Recht hätte, wenn er nicht so dumm wäre, wie er gewöhnlich ist. Man muß sich weiter vergegenwärtigen, daß in Jonien, wo das neue Denken, das „moderne“ Leben aufkam, die Dinge weiter fortgeschritten sind als am andern Ende der griechischen Welt, in Großgriechenland und Sizilien. Die Entfernung von der Mythologie ist noch größer, und die Prosa, die einfache didaktische Äußerung, ohne Melodramatik und ohne Bildwerk, hat sich gefestigt. Vierzig Jahre zuvor hatte, nicht weit von Ephesus, Hekataios seine Geographie- und Geschichtsbücher in reiner didaktischer Prosa geschrieben, einer so prosaischen und unmittelbaren Prosa, wie es die irgendeines deutschen Handbuchs unserer Zeit sein kann. Jedoch eignet sich diese Prosa nicht ganz, um dieses so seltsame und transzendente Denken darzulegen, das die Philosophie ist. Deshalb kann Heraklit nicht ein Buch in fortlaufendem Text schreiben. Er wird sein Denken in Form von Funken wiedergeben, in kurzen Sätzen, die, weil sie jeweils alles auf einmal sagen sollen, wie geballte Ladungen der Beredsamkeit sind, eine Art dogmatisches Dynamit. Daher seine berühmte „Dunkelheit“. Der Stil Heraklits besteht also darin, daß er von seiner ganz individuellen Person aus in Form von zündenden Sätzen spricht, wie sie in einer scharfsinnigen, geist- und funkensprühenden Unterhaltung aufblitzen können. Es sind „Sprüche“, aber immerhin findet sich in ihnen eine Färbung, in der sich zeigt, daß sich Heraklit
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von einem genus dicendi beeinflussen ließ, das damals ganz an der Tagesordnung war und das religiösen, transzendenten Anklang hat. Und zwar sind es die Orakelsprüche und die Sprüche der Sibylle. Er selbst gibt uns in zwei erhalten gebliebenen Fragmenten zu verstehen, warum er die Literaturgattung gewählt hat, die seine Sprüche sind. Auf Grund seiner Überzeugung, daß es in dem Menschen, der denkt, was man denken muß, die universale Vernunft ist, die denkt, und nicht der private Scharfsinn, wird der passende Ausdruck so etwas sein wie die Orakelsprüche und der Hauch der Sibylle. „Die Sibylle, die mit rasendem Munde Ungelachtes und Ungeschminktes und Ungesalbtes ausruft, dringt durch Jahrtausende mit ihrer Stimme, da der Gott sie treibt“ (fr. 93). „Der Herr, dessen das Orakel zu Delphi ist, erklärt nicht und verbirgt nicht, sondern deutet an“ (fr. 94). Es sei darauf hingewiesen, daß hier, an der ehrwürdigen schöpferischen Schwelle der Philosophie, das „Andeuten“ als die der Philosophie eigene Aussageweise vorgeschlagen wird. Man vergesse aber nicht, daß diese beiden Sprüche Heraklits von einem Manne herrühren, welcher der überlieferten Religion, den „Mysterien“, den Kulten gegenüber radikal feindlich eingestellt ist1. Doch auch er hatte seine Erkenntnisse als Offenbarungen erlebt, und die mystische Rückwirkung dieser Erfahrung fand ihren natürlichen Ausdruck nur in Sätzen, in denen eine quasireligiöse Ergriffenheit durchschauert.
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Vgl. die Fragmente 5, 14 und 15. 60
Es war wohl kaum möglich, auf solche Beobachtungen über Parmenides’ und Heraklits Stil zu verzichten, denn nur so können wir uns eine deutliche Vorstellung von der Tonart machen, die allen ihren Sentenzen zugrunde liegt. Bald werden wir auf ein genaues Beispiel dafür stoßen. Das richtige Verständnis des jeweiligen Stiles ist in diesem Falle von grundlegender Bedeutung; denn da uns von ihrem Werke nur ein paar Splitter überkommen sind und wir von jener ganzen Zeit über nur recht spärliche Zeugnisse verfügen, können wir nicht von dem absehen, was uns, ohne Absicht der Verfasser, die nackte Tatsache ihres Stiles verrät. Und wirklich: wenn wir gewahr werden, daß für sie die Mythologie zum bloßen Vokabular und modus dicendi herabgesunken war, dann erkennen wir mit größerer Evidenz, als wenn sie es uns selbst wörtlich erklärten, daß die Mythologie, die überlieferte Religion und alles, was dazugehört, für sie schon vergangen und abgetan war, etwas, das schon jenseits ihres Weltbilds lag. Die heftigen Angriffe Heraklits, die auf den Götterkult — auf die Götterbilder — gerichtet sind, wenden sich an die Volksschichten, in denen jener archaische Glaube noch fortlebt. Aber sowohl er wie Parmenides bekämpfen mehr die neuen Formen der „Religion“, die nicht die überlieferten sind, die nicht mehr die rein mythologischen sind und die, wie wir gleich sehen werden, zur selben Zeit aufkamen wie die neue Denkart, in der sich Parmenides und Heraklit bewegen: die orphische Theologie und die dionysischen „Mysterien“. Die Mythologie, die überlieferte Religion der griechischen Polis ist für diese beiden Denker schon Untergrund. Sie bekümmert sie nicht, sie ha-
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ben sie nicht im Auge, sondern sie ist für sie nur ein alter, mechanischer, zur Gewohnheit gewordener Sprachgebrauch, wie alle anderen, aus denen jede Sprache besteht. Deshalb kommt es Heraklit nicht darauf an, wenn es der Satz erfordert, die Erinnyen auftreten zu lassen, und noch weniger, von Dike zu reden. Dagegen wird er in aller Form aussprechen, daß die Gläubigen der veralteten Religion „keine Ahnung davon haben, was Götter und Heroen in Wahrheit sind“ (fr. 5). Den Grund, auf dem sie aufbauen, bildet die geistige Tendenz, die ein Jahrhundert zuvor in ganz Griechenland aufgetaucht war, vor allem in der reinsten und deutlichsten Form dieser Tendenz, wie sie zum erstenmal in Thales von Milet in Erscheinung tritt. Kurz, eben das, was man die jonische Naturlehre genannt hat. Heraklit zitiert nur Bias und Thales ohne anschließende Beleidigung, und was er von diesem sagt, ist einfach, daß er der erste Astronom war. Heraklit schätzt also die Denkweise, die Thales aufbringt, aber er gibt zu erkennen, daß, im Vergleich zu seinem eigenen Wissen, das des Thales und seiner Nachfolger ein spezielles Wissen, daß es nur Astronomie ist. Um das wohl zu verstehen und den tatsächlichen Grund und Boden, auf dem diese beiden ProtoPhilosophen stehen, vollständig, das heißt ausreichend, zu erkennen, muß man daran erinnern, daß Thales um 584 wirkte. Wir müssen uns also die tiefe Wandlung des griechischen Lebens um 600 klarmachen, die in rascher Ausdehnung und schneller Entwicklung bis zum Jahre 500 führt, dem Zeitpunkt, zu dem diese beiden ProtoPhilosophen mit ihrem Denken einsetzen. Wir leben jeweils nicht nur in einer räumlichen Land-
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schaft, sondern auch in einer zeitlichen Landschaft, die ebenfalls drei Dimensionen hat, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Lassen wir zunächst einmal diese letzte weg. Ein gewisser Horizont der Vergangenheit, der bis zu der Gegenwart reicht, in der wir sind, existiert für uns, macht einen Teil der Struktur unseres Lebens aus und ist ein Organ dieses Lebens. Wie jede Landschaft, so hat auch die Vergangenheit, soweit sie uns sichtbar ist, eine Perspektive, näherliegende und fernerliegende Flächen. Eine jede dieser Flächen zeitlicher Entfernung wirkt in unserem Dasein verschieden. Wenn man einen Menschen recht verstehen will, muß man sich mit einiger Genauigkeit die chronologische Topographie seines Horizontes vorstellen. An Hand der Namen, die Heraklit zitiert, vermögen wir mit ausreichender Klarheit die Perspektive zu rekonstruieren, in der sich ihm die geistigen Tatsachen der griechischen Vergangenheit bis auf seine Zeit herab darstellen. Und mit einer leichten Abänderung — weil die Kolonien des Westens nicht ganz so „weit“ waren wie die des Ostens — gilt das Bild auch für Parmenides. In einem Fragment (fr. 42) nennt Heraklit Homer und Archilochos zusammen. In einem andern, und zwar in dieser Reihenfolge, Hesiod, Pythagoras, Xenophanes und Hekataios (fr. 40). Man beachte, daß die Reihenfolge, in der diese Namen angeführt sind, genau der geschichtlichen Chronologie entspricht. Heraklit schreibt seine Blitze um 475. Hekataios, der Heraklit am nächsten ist, war gestorben, als dieser etwa 20 Jahre alt war. Xenophanes war einige Jahre älter als Hekataios, und Pythagoras muß um 572 geboren sein. Es sind also drei
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Männer, die „da waren“, als Heraklit auf die Welt kam. Hinter ihnen erhebt sich in einer Ferne, die schon nicht mehr greifbar ist, vollkommen der Vergangenheit angehörig, Hesiod, der seine Theogonie um das Jahr 700 verfaßte. Fünfzig Jahre vor ihm ist Homer, und fünfzig Jahre nach ihm Archilochos. Sie sind also anderthalb, zwei und zweieinhalb Jahrhunderte von dem jungen Heraklit getrennt (500). Für die zeitliche Optik des Griechen vor Aristoteles sind anderthalb Jahrhunderte keine genaue Zeit mehr, sondern ein nicht mehr zu überschauendes Hindernis und reines „Altertum“. Deshalb sind Homer und Hesiod nicht weiter und nicht näher als Archilochos. Das Fragment 40 ist nämlich wie ein Diptychon: auf der einen Seite Hesiod, auf der andern Pythagoras, Xenophanes und Hekataios zusammen. In Fragment 42 wird Homer mit Archilochos zusammen genannt. Hesiod stellt das Bindeglied zwischen den beiden Namenreihen dar: den absolut „Alten“ und den absolut „Modernen“. Das sind die beiden großen Begriffe der Vergangenheit für Heraklit. Dieser nominativen Vergangenheit, die uns, wenn auch verkürzt, in diesen Fragmenten entgegentritt, fügen wir nun die unpersönliche hinzu, die wir in den anderen giftsprühenden Fragmenten zuvor festgestellt hatten, also die religiöse Vergangenheit. Auch diese scheint uns in zwei perspektivische Begriffe geteilt: es gibt ein religiöses „Altertum“, das mit der für das Religiöse charakteristischen Hartnäckigkeit im Volke weiterlebt. Das ist die homerische und vorhomerische mythologische Tradition, die uralten Volksgötter und die Götter der Stadt. Es gibt aber außerdem eine „moderne“ Vergan-
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genheit des Religiösen, die damals in den mittleren sozialen Gruppen im Kurs ist: die dionysischen und orphischen Mysterien. Und zwar beginnen beide, die griechische Welt um 600 zu überfluten1. Die Orphik im besonderen fand ihren Höhepunkt um 550 in einer Form, die für Griechenland etwas vollkommen Neues war: der Theologie. Die mythologische Religion war immer unmittelbar gewesen. Sie gab auch nicht den Anlaß, diese zweite Form der Religion zu schaffen, die in der Reflexion über die erste besteht und die die Theologie ist. Die Mythologie ist ihrer Natur nach naiv, und die Theologie ist alles andere als Naivität. Um 550 verfaßt Pherekydes von Syros seine Theologie, der andere unter den legendären Namen Epimenides und Onomaklitos vorausgegangen waren und folgten. Man muß sich vor Augen halten, daß die Orphik und ihre Theologien eine geistige Tatsache von größter Bedeutung in der öffentlichen Meinung in Griechenland sind, als Parmenides oder Heraklit anfangen zu denken, und daß Pherekydes ein Zeitgenosse Anaximanders ist und der Generation unmittelbar vor Pythagoras angehört. Nun wird aber diese ganze große Masse geistiger Vergangenheit, „alt“ und „modern“, persönlich und unpersönlich, bei Heraklit und Parmenides abgelehnt. Sie sind gegen all das, aber ihre Opposition zerfällt in zwei Stufen: gegenüber der überlieferten Religion, gegenüber
1 Der Dionysoskult hat eine dunkle Vorgeschichte. Man weiß nicht wann noch wie dieser thrazische Gott sich an den ganz voneinander getrennt gelegenen Punkten der hellenischen Welt niederließ. Tatsache ist aber, daß er erst um 600 eine geschichtlich wirksame Kraft wurde.
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der „Dichtung“ (Homer, Archilochos) ist die Haltung Heraklits recht summarisch. Er bekämpft sie nicht ernsthaft, weil er weiß, daß für die aufgeweckteren Leute seiner Zeit nichts mehr davon als Glaubensgewißheit existierte. Es lebt nur noch im „Volk“ weiter. Dagegen nimmt er gegenüber dem „Modernen“ eine Boxerstellung ein. Der Beweis für dieses verschiedene Verhalten ist offensichtlich und überwältigend. Er liegt in der Tatsache, daß gegen die Götter und den Bilderkult und gegen Homer und Archilochos nur einzelne Sätze gerichtet sind, die einigen wenigen Fragmenten entnommen sind, daß der Kampf gegen die „Modernen“ dagegen seine ganze Lehre darstellt. Dieser Unterschied wird bestätigt, wenn wir Parmenides betrachten. Da dieser keine Namen zitiert, fehlen in seinem Werk gelegentliche Angriffe. Deshalb findet man bei Parmenides überhaupt kein Zeichen des Kampfes mit dem „Alten“. Thales muß, wie wir sehen werden, die noch herrschende Mythologie überwinden und stellt sich ihr ironisch gegenüber, Parmenides nicht: er läßt sie unberührt. Dagegen ist seine Lehre wie die Heraklits nach Wesen und Form ein Angriff auf das „Moderne“. Man muß die gelegentlichen und überflüssigen Angriffe, in denen man mit einem Feind zu kämpfen vorgibt, den man schon tot weiß, von den wesentlichen Angriffen unterscheiden, aus denen eine Lehre besteht. Xenophanes ist uns ein Beispiel und ein Beweis dafür, daß das ganze griechische „Altertum“ in wenigen Jahren überwunden worden war und nicht einmal als Gegner zum Horizont des Aktuellen gehörte. Xenophanes muß um 565 geboren sein, also ein halbes Jahrhundert vor Heraklit und Parmenides. Die Spuren,
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die uns noch von seinen Gedichten geblieben sind, zeigen uns sein erbittertes Ringen mit den Göttern und mit Homer. Das heißt, sie waren noch da, als er lebte. Sie sind seine Gegner. Ein halbes Jahrhundert später hat sich die Sachlage geändert. Die Götter und Homer stehen für die aufgeweckte Minderheit nicht mehr zur Debatte. Sie sind hinter dem Horizont verschwunden. Der neue Gegner wird gebildet einerseits von neuen Formen der Religion, welche die ungeteilte Herrschaft der alten Mythologie und den Homerismus ersetzen, andrerseits von neuen Formen nichtreligiöser und sogar antireligiöser Art, kurz, von „wissenschaftlichen“ Formen, die aber jenen beiden Männern von Grund auf unzureichend erscheinen. Wenn man nicht sorgfältig und gut unterscheidet, auf welchem Plan die einzelnen Dinge für den Denker liegen, der in den letzten zwanzig Jahren des 6. Jahrhunderts geboren ist, wird man nicht mit letzter Klarheit die Bedeutung des so überraschenden geistigen Kampfes einsehen, zu dessen Verständnis uns die Textstücke des Parmenides und des Heraklit einladen. Nun haben wir aber bis jetzt in den Texten dieser beiden Männer nur eine negative Vergangenheit gefunden. Erscheint ihnen denn von dem, was die Vergangenheit auf geistigem Gebiet geschaffen hatte, nichts, gar nichts gut? Zweifellos sind es zwei Giganten der Unzufriedenheit und zwei fabelhafte Heroen der Verachtung. Das Gedicht des Parmenides ist, ungeachtet seiner Feierlichkeit und Förmlichkeit, mit Schmähungen gespickt, und Heraklit bringt kaum eine Zeile fertig, ohne daß er ausfällig wird. Warum beide von so grimmiger Art sind, wird später kommen. Es genüge hier festzustellen, daß
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es Leute sind, die keinem Kompromiß zugänglich sind und deren Denken mit einem Radikalismus vorgeht, wie es etwas Ähnliches noch nicht gegeben hat. Und doch fehlt es bei Heraklit nicht an Anzeichen einer positiven Vergangenheit. Wir sahen, daß er Bias von Priene und Thales von Milet lobend erwähnt. Es sind zwei der „sieben Weisen“1. Thales hat immer als der ältere von beiden gegolten, als der Flügelmann in der Reihe. Ohne jetzt festlegen zu wollen, worin das „Wissen“ dieser „Weisen“ besteht, wollen wir nur zwei Seiten davon vorwegnehmen. Erstens: die „Weisheit“ der sieben Weisen ist das erste säkularisierte Wissen, das nach Gegenstand und Methode vollkommen verschieden ist von der früheren religiös-poetischen Tradition. Zweitens: es ist ein Wissen, das ausdrücklich von Individuen zu kommen scheint. Alles, was vorher „Weisheit“ sein wollte, trug einen unpersönlichen Charakter. Der Mensch spielte nur die Rolle eines Substrats für die Äußerung eines Wissens, zu dem er nicht von sich aus gelangt zu sein vorgab. Dagegen ist es ein wesentliches Attribut bei der Weisheit der „sieben Weisen“, daß sie von einem bestimmten hervorragenden Individuum stammt. Aus Gründen, die wir alsbald sehen werden, ist hier der Weise, der die Weisheit garantiert, und nicht umgekehrt; er ist der Baum, der die Frucht empfiehlt. Aber auch wenn wir jetzt nicht gleich beginnen zu erforschen, was diese „Weisheit“ ist, so erkennen wir
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Bekanntlich gab es Aufzählungen von „Weisen“, doch unterschieden sie sich in der Zahl, und auch nur einige Namen sind identisch. Die Beschränkung auf die Zahl „sieben“ erscheint zum erstenmal bei Platon. 68
doch aus der einfachen Lektüre der Namen, die sie vertreten, daß es zwei Schichten der Weisheit gibt. Da ist zunächst die „Weisheit“, die allen gemeinsam ist, aber dann gibt es noch andere, speziellere Formen geistigen Schaffens, deren Bahnbrecher oder Hauptvertreter einige von ihnen sind. In der Tat ist Thales nicht nur einer der sieben Weisen, sondern er ist, wie Heraklit selbst sagt, der „erste Astronom“, das heißt, der Bahnbrecher der jonischen „physikalischen Physiologie“, der erste Vertreter „wissenschaftlichen“ Denkens, den es auf unserem Planeten gegeben hat. Periander ist der erste Tyrann. Die „Tyrannis“ ist eine Erfindung, die gleichzeitig ist mit der „Wissenschaft“. Solon war der Gesetzgeber von Athen. Denn ebenfalls um 600 erfindet man diese Form geistigen Schaffens, die die Gesetzgebung darstellt, die von einem Individuum ausgeht, und damit die literarische Gattung des „Gesetzeschreibens“1. Nun ist aber das einzige in dieser menschlichen Welt, das Heraklit, abgesehen von der Vernunft, für schätzenswert hält, eben das Gesetz, genauer, das vom Menschen geschmiedete Gesetz. So ist also die „positive Vergangenheit“ Heraklits nicht unbedeutend, denn die jonische Physiologie und ihre Ableitungen, Tyrannis und Gesetzgebung, stellen zwei Drittel der „Modernität“ dar, die das Geistesleben der Griechen zwischen 600 und 500 aufzuweisen hat. Wenn wir jetzt die Bilanz ziehen, stellen wir fest, daß der Grund, auf dem Parmenides und Heraklit standen, von einem seltsamen Knäuel geistiger Initiativen gebil-
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Es ist bekannt, daß Platon die geschriebenen Gesetze ironisch gern als literarische Gattung betrachtet. 69
det wurde, die plötzlich, wie eine Eruption, die Kruste des „traditionellen“ griechischen Lebens um das Jahr 600 durchbrachen. Aus diesem Knäuel lassen sich die folgenden Themen entwickeln: dionysische Mysterien, Orphik, Proto-Geographie und Proto-Historie, jonische Physik, Arithmetik, pythagoreische Mystik und Ethik, Tyrannis und Gesetzgebung. Ein Teil dieses Grundes türmt sich vor Parmenides und Heraklit als der Gegner auf, denn unser Gegner ist immer unser Zeitgenosse, das heißt, Pflanze desselben Bodens und etwas, mit dem wir nicht wenig gemeinsam haben. Mit dem, was uns vollkommen fremd ist, kämpfen wir nicht. Aber mit all dieser Suche haben wir nicht mehr erreicht als ein Inventar menschlicher Formen von heterogenem Aspekt. Jetzt müssen wir versuchen, sie zu verstehen, und wir verstehen sie erst dann, wenn wir ihre gemeinsame Wurzel finden und damit den Schlüssel, der uns die Gleichheit der Inspiration entdecken läßt, die sich unter ihrer offensichtlichen Verschiedenheit und ihrem Auseinanderstreben birgt. Sie alle erleben ihr erstes Aufblühen in den ersten zwanzig Jahren des 6. Jahrhunderts. Die Proto-Philosophie ist die Frucht, die dieser Frühling genau hundert Jahre später zeitigte, zwischen 500 und 470. Damit ist nun alles vorbereitet, so daß wir die historiologische Operation versuchen können: die Rekonstruktion der Entstehung. Man versteht eine Epoche, indem man von einer oder verschiedenen — sehr wenigen — Grundtatsachen ausgeht, die gleichsam ihren Kern bilden. Was Griechenland zwischen 600 und 500 war, hat seine Wurzel in dieser
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bestimmten Tatsache: daß die hellenische Kolonisation, die ja nach allen vier Himmelsrichtungen ging, um das Jahr 650 ihre äußersten Grenzen erreicht. Die lebendige Flut der Ausdehnung des griechischen Volks ist an ihrem Höhepunkt angelangt1. Unmittelbar darauf — und die Tatsache würde eine umfassendere Betrachtung verdienen — beginnt die koloniale Peripherie auf das kontinentale und metropolitane Griechenland zu wirken. Vorausgegangen war, ein Jahrhundert vorher, Homer, der schon ein typisches Kolonialprodukt ist. Die griechische Kultur, wenn wir das so nennen, was dann unsere „Klassik“ ausmacht, beginnt mit einem großen Vorsprung in den Kolonien. Vor allem Wissenschaft und Philosophie waren in ihrem Ursprung ein koloniales Abenteuer. Nach zwei Jahrhunderten erst bekommt Athen seinen ersten einheimischen Philosophen, deren es nie viele haben wird. Immer wenn man von Philosophie gesprochen hat, denkt man zuerst an Athen. In Wahrheit ist es gerade fast umgekehrt, und man müßte sich einmal fragen, ob Athen nicht eher ein Hindernis für die Philosophie war, denn seine hartnäckige reaktionäre Haltung, die seiner demokratischen Einstellung entspricht, war die Ursache der pathologischen Entwicklung, die das griechische Denken nahm, und ließ es nicht zu seiner eigentlichen Reife kommen. Aber schon dieses letztere — zu vermuten, daß das griechische Denken angekränkelt und seine Entwicklung deshalb anomal sei — ist etwas, das nicht nur den Schwärmern des Hellenentums wie eine Blasphemie klingt, sondern überhaupt all
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Die Ausweitung infolge der Feldzüge Alexanders war mehr eine Sache des Staats als des Volks. 71
denen, die glauben, man könne mit geschichtlichen Tatsachen als solchen nichts anderes anfangen als sie aufschreiben. Das ist historischer Positivismus. Ich glaube aber, daß die Geschichte ein überreiches Repertorium von möglichen Operationen ist, die wir an den Tatsachen vornehmen müssen und die gerade dann erst beginnen, wenn die Tatsache schon aufgezeichnet ist. Geschichte, sagte ich, ist nicht nur, die Vergangenheit erzählen, sondern sie verstehen, aber jetzt füge ich hinzu, sie verstehen muß auch heißen, sie kritisieren, und infolgedessen sich begeistern, sich ängstigen und sich darüber erzürnen, sie beanstanden, loben, verbessern, ergänzen und darüber lachen. Nein, es ist keine Redensart: die Geschichte ist, ernstlich, als Ganzes eine Lebensform, an der der geschichtsschreibende Mensch ganz teilnimmt, wenn er wahrhaft Mensch ist — also, mit seinem Verstand, aber auch mit der ganzen Meute seiner vorzüglichsten Leidenschaften, cum ira et Studio. Die Philosophie ist eine Frucht unter anderen, die in Griechenland reift, als die Völker in die „Epoche der Freiheit“ eintreten. Es ist ein Irrtum, der die gewaltige Sache trivialisiert und herabgemindert hat, das Wort „Freiheit“ so zu verstehen, daß man es in erster Linie oder ausschließlich auf das Recht und die Politik bezieht, als seien sie die Wurzel, aus der die Form menschlichen Lebens emporwächst, die wir Freiheit nennen. Denn darum geht es in Wahrheit. Die Freiheit ist die Gestalt, die das gesamte Leben des Menschen annimmt, wenn seine verschiedenen Komponenten den Punkt in ihrer Entwicklung erreichen, an dem sich zwischen ihnen eine bestimmte dynamische
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Gleichung ergibt. Um eine klare Vorstellung davon zu haben, was „Freiheit“ ist, muß man mit einiger Genauigkeit die Formel dieser Gleichung definiert oder gefunden haben. Wahrscheinlich durchläuft jede Zivilisation oder jedes curriculum vitae einer Gesamtheit von verwandten Völkern diese Form des Lebens, die die Freiheit ist. Es ist eine leuchtende und kurze Epoche, die sich wie ein Mittag zwischen dem Morgen der Archaik und dem abendlichen Niedergang, der Versteinerung und Nekrose seines Alters auftut. Die entscheidenden Epochen einer Zivilisation lassen sich als Veränderungen der Grundbeziehung zwischen den beiden großen Komponenten des menschlichen Lebens bestimmen und unterscheiden, nämlich den Bedürfnissen des Menschen und seinen Möglichkeiten. In der archaischen oder frühesten Epoche hat der Mensch den Eindruck, daß der Kreis seiner Möglichkeiten kaum den seiner Bedürfnisse überschreitet. Was der Mensch in seinem Leben tun kann, fällt seiner Empfindung nach fast genau mit dem zusammen, was er tun muß. Der Spielraum, der ihm bleibt, ist sehr gering, oder anders ausgedrückt: der Mensch hat noch sehr wenig zu tun. Das Leben stellt sich ihm nicht unter dem Charakter des „Reichtums“ dar. Dazu ist zu bemerken: wie es ein Irrtum war, die Idee der Freiheit der Politik und dem Recht zuzuordnen, so ist es auch falsch, wenn man den Ausdruck „Reichtum“ in erster Linie dem Wirtschaftlichen zuweist. In beiden Fällen ist die wahre Beziehung, daß die juridische Freiheit und der wirtschaftliche Reichtum, wenn auch sehr wichtige und bezeich-
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nende, so doch nur zwei Auswirkungen oder Äußerungen der allgemeinen Freiheit und des Lebensreichtums sind. Reichtum in wirtschaftlichem Sinn bedeutet doch, daß der Mensch über viele Möglichkeiten zu besitzen und zu erwerben verfügt, oder konkret, daß er viele Dinge haben, kaufen und verkaufen kann. Das Viel und das Wenig ist zu verstehen im Hinblick auf das subjektive Bewußtsein, das der Mensch hinsichtlich seiner Bedürfnisse hat. Verallgemeinert man diesen Begriff auf alle anderen Ordnungen der menschlichen Existenz, die nicht wirtschaftlicher Art sind, so ergibt sich folgendes: bis zu einem gewissen Zeitpunkt haben die Menschen eines Kulturkreises, einer bestimmten Völkergemeinschaft den Eindruck, daß ihnen in ihrem Leben kaum mehr Möglichkeiten zur Verfügung stehen als gerade die unbedingt von den Bedürfnissen erforderten. Leben heißt da, sich an das halten, was es gibt, und Gott sei Dank, daß man das Nötige zum Leben hat! Ein bißchen Essen, ein bißchen Wissen, ein bißchen Vergnügen. Leben ist Armut. Der Mensch lebt, indem er das einfache Repertorium von intellektuellen, technischen, zeremoniellen, festlichen, politischen Verhaltensmöglichkeiten praktiziert, wie sie die Tradition mühsam geschaffen und angehäuft hat. Bei dieser Lebensgleichung ist das Individuum nie in der Lage, auswählen zu können: das würde nämlich voraussetzen, daß der Kreis der Möglichkeiten wesentlich größer wäre als der der Bedürfnisse1.
1 Man verstehe recht, was das heißt. Tatsächlich ist der Mensch, auch bei dieser Lebensgleichung, gelegentlich in der Lage zu wählen, aber das kommt so selten vor, daß er es nicht bemerkt und es nicht als eine besondere Funktion seines Lebens ansieht. Damit man eine Art des Lebens gewahr werde, genügt es nicht, daß sie bereitwillig dasteht, sondern sie muß sich häufig genug zeigen, um eine Masse zu bilden und aufzufallen.
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Allmählich werden die Beziehungen zwischen den Völkern, die dieses geschichtliche Gebilde ausmachen, zahlreicher, und auch der Umgang, die Kenntnis und der Handel mit der Peripherie dieses Gebildes, also mit dem „Ausland“, nimmt zu. Eine Erweiterung des Lebens, die zunächst räumlich ist, tritt ein. Man lebt in einer größeren Welt. Damit beginnt die Entwicklung von Handel und Gewerbe; man entdeckt Bergwerke an fernen Küsten1. Es kommt wirtschaftlicher Reichtum auf. Gleichzeitig entstehen neue Techniken, neue Künste, neue Vergnügen im Überfluß. Der Mensch macht die Erfahrung, daß das Leben nicht nur in dem besteht, was da ist, sondern daß es neue Wirklichkeiten schafft, aus sich herausholt, daß das Leben also nicht nur durch seine Bedürfnisse definiert ist, sondern daß es dazu noch aus überquellenden Möglichkeiten besteht, die jene überfluten. Das Wort hat sich uns ungewollt aufgedrängt: das Leben ist Überfluß, ein Begriff, der das hyperbolische Verhältnis zwischen den Möglichkeiten und den Bedürfnissen ausdrückt. Es gibt mehr Dinge, man kann mehr tun als nötig ist. Es beginnt die Üppigkeit oder der Luxus. Ipso facto bemerkt der Mensch, daß Leben ein
1 Überraschend ist die „Regelmäßigkeit“, wir könnten auch sagen Monotonie der Geschichte. Phönizien und Karthago lösen ihre Epoche der Pleonexie durch die Entdeckung der Gruben in Spanien aus, Griechenland durch die der Gruben des Pontus, Europa mit der Entdeckung der Grube an der afrikanischen Küste durch die Portugiesen, die noch heute Elmina heißt (= die Grube).
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ganz anderes Problem ist, als es in der archaischen Epoche war. Damals war es ein Sichhalten an das, was es gibt . . . Gott sei Dank! Resignation, demütige Dankbarkeit Gott gegenüber, wenn er das unbedingt Notwendige gibt. Aber jetzt ist das Problem fast umgekehrt: man muß wählen unter vielen Möglichkeiten. Sinnbild des Lebens wird das Füllhorn. Man muß auslesen. Das Grundgefühl, aus dem heraus man existiert, ist das Gegenteil der Resignation, denn Leben heißt nun, daß einem Dinge überflüssig sind. Es beginnt das Grundgefühl der Anspruchsfülle, des existentiellen Übergewichts, des „Humanismus“. Aus der Erkenntnis, daß neue Dinge erfunden worden sind, wird eine Funktion, und der Mensch macht sich planmäßig daran, zu erfinden. Neues Leben schaffen wird eine normale Lebensfunktion — etwas, was in der archaischen Epoche niemand begriffen hätte. Es beginnen die Revolutionen. Hand in Hand damit geht, daß der Mensch nicht mehr ganz der Tradition verschrieben ist, wie groß auch der Teil seines Lebens sei, der noch von ihr beeinflußt ist. Er muß nun selbst, ob er will oder nicht, unter den überschüssigen Möglichkeiten wählen. Vergessen wir unter diesen nicht die intellektuellen! Da die Völker sich aufsuchen, da sie reisen und sich ins Exotische versenken, hat man verschiedene Arten kennengelernt, die Dinge zu sehen, modi rei considerandae. Statt an ein einziges und fragloses Repertorium von Meinungen — das ist die Tradition — gebunden zu sein, steht der Mensch vor einer großen Auswahl und ist gezwungen, von sich aus die Ansicht auszuwählen, die ihm am meisten einleuchtet. Die Möglichkeit und die sich daraus er-
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gebende Notwendigkeit, die Auffassung zu wählen, die man von etwas hat, ist das Erlebnis, auf dem das beruht, was wir „Vernunft“ nennen. Und zwar so, daß wir, ohne daß es vielleicht der Leser bemerkt hat, diese Situation mit denselben Worten beschreiben konnten, mit denen einst Aristoteles die Wissenschaft definierte: „Die Wissenschaft ist die überzeugendste Mutmaßung.“ Sieht man damit klar, was „Lebensreichtum“ bedeutet? Die Existenz des Menschen und die Welt, in der sie verläuft, sind gewaltig angewachsen, haben sich über und über mit Inhalten angefüllt. Zum erstenmal in dieser Zivilisation fühlt der Mensch, daß das Leben die Mühe lohnt, gelebt zu werden. Das bringt aber einen Wandel in der Haltung gegenüber der Religion mit sich. Die Religion ist immer Transzendenz, auch im Falle einer sehr wenig transzendenten wie der griechischen. Die Götter sind ultra- oder überweltliche Mächte. Bei dem armen Leben bedarf der Mensch Gottes in dem Maße, wie er aus Gott lebt. Jede Handlung, jeder Augenblick seiner Existenz ist auf die Gottheit bezogen, mit ihr verbunden. Selbst die Geräte, mit denen er lebt, sind so unbeholfen, so wenig wirksam an sich und als bloße Sachen so weltlich, daß der Mensch wenig Vertrauen in ihre Hilfe hat und nur der Kraft vertraut, die ihnen der Gott mittels eines magischen Ritus einflößt. Das heißt, daß sich das Leben selbst und diese armselige Welt kaum zwischen den Menschen und Gott einschaltet. Aber wenn das Leben anschwillt und die Welt sich bereichert, so schiebt sich das Weltliche mit wachsendem Gewicht zwischen den Menschen und Gott und trennt sie. Man bejaht diese Welt und das Leben in ihr als etwas an sich Wertvolles.
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Irreligiosität ist das Ergebnis. Wie die obengenannten Gründe den Menschen von der Tradition loslösen, so bringt ihn diese Beschäftigung mit dem weltlichen Leben von der Religion ab. Das führt letzten Endes dazu, daß bei dem reichen Leben der Mensch nirgends mehr Wurzeln hat, daß er in der Luft hängt. Er schwebt im luftigen Element seiner wachsenden Möglichkeiten. Das ist die unvermeidliche Folge: die Stellung und die Sicherheit, die für die Existenz des Menschen lebensnotwendig sind, werden ihm nicht mehr ohne weiteres und ohne eigenes Dazutun dadurch gegeben, daß er von Geburt an mit der unbestrittenen Tradition verhaftet ist, sondern der Mensch selbst muß sich mit vollem Bewußtsein eine Grundlage schaffen, einen festen Boden, auf den er sich stützen kann. Es bleibt ihm also nichts anderes übrig, als sich mit dem flüssigen, ätherischen Material, das die Möglichkeiten sind, selbst eine Welt und ein Leben aufzubauen. Das heißt aber, das einfache Existieren zu „rationalisieren“, statt spontan, auf gut Glück und ohne viel Umstände zu existieren. Als ich weiter oben sagte, in den „Epochen der Freiheit“ lebe der Mensch aus einem Gefühl des nie zu befriedigenden Lebensanspruchs und des existentiellen Übergewichts heraus, so war darin nicht das Attribut der Sicherheit enthalten. Das menschliche Leben ist immer Unsicherheit; sie ist in jeder Lebensgleichung enthalten, wenn sie auch in jeder ein verschiedenes Gesicht annimmt. Die Unsicherheit des Reichen ist eine andere als die des Armen. So ist die Unsicherheit des „freien“ und übermächtigen Menschen recht seltsam: vor lauter Vieltunkönnen weiß er nicht, was er tun soll, er hat den
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Eindruck, daß er sich in bloßen Möglichkeiten verliert und verflüchtigt. Ein konkretes Beispiel dieses Gefühls des Sichverlierens und des Schiffbruches im Überfluß (schon das Wort „Über-fluß“ bewahrt das lebendige Bild eines Flusses, der uns überschwemmt und mitreißt)1 ergibt sich in der Ordnung des Denkens, das heißt, der Meinungen, die für diese Epochen recht bezeichnend ist: es ist der Zweifel. Der Zweifel ist nicht einfach ein Nichtglauben. Wer gar keine Meinung über eine Angelegenheit hat, weiß nichts, aber er zweifelt nicht. Der Zweifel setzt voraus, daß uns mehrere positive Meinungen vorliegen, von denen es jede verdienen würde, geglaubt zu werden, aber die gerade deshalb wechselseitig ihre Überzeugungskraft paralysieren. Der Mensch steht zwischen den verschiedenen Meinungen, ohne eine davon unter den Füßen zu haben, die ihn hielte — deshalb schlüpft er zwischen den vielen möglichen „Wissen“ durch und fällt, fällt in ein unsolides, flüssiges Element . . . fällt in ein Meer von Zweifeln. Der Zweifel ist das Schwanken des Urteils, das heißt, ein verzweifeltes Umsichschlagen in den Wellen. Deshalb ist der Zweifel ein „Geisteszustand“, der kein Zustand ist, der nicht beständig ist. Der Mensch kann nicht darin verweilen. Er muß heraus aus dem Zweifel, und dazu sucht er ein Mittel. Das Mittel, das uns aus dem Zweifel heraushilft und uns in die feste Überzeugung versetzt, ist die Methode. Jede Methode ist die Reaktion auf einen Zweifel. Jeder Zweifel ist die Forderung nach einer Methode. Die beiden Dinge mit der größten Einfachheit vereinigt
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Vgl. span. ab-undancia (Anm. d. Übersetzers). 79
zu haben, ist das wunderbare Beispiel geistiger Klarheit und Eleganz, das uns Descartes gab, als er den „methodischen Zweifel“ erfand. Welchen Sinn kann der Satz des Thales haben: „Alles ist voll von Göttern“ ? Da in jeder Aussage einer einem andern etwas sagt, hat der Sinn eines Textes zwei Dimensionen. Die eine besteht in dem, was der Text zu sagen scheint. Die andere besteht in der Tatsache, daß ein bestimmter Mensch das, was er sagt, einem bestimmten anderen Menschen oder einer Menschengruppe sagt. Erst die Vereinigung der beiden Dimensionen gibt dem Text einen konkreten Sinn. Versuchen wir, Thales’ Worte im rein wörtlichen Sinne zu verstehen. Das würde bedeuten, daß es ebenso viele Götter wie Dinge und Ereignisse gibt, und daraus ergäbe sich, daß man zwischen Dingen und Göttern nicht unterscheiden dürfte oder, noch genauer, daß es keine Dinge gibt, sondern nur Götter. Die Götter und die Dinge können sich nicht gegenseitig durchdringen, und wenn alles voll von Göttern ist, so muß es von Dingen leer sein. Es ist also nicht möglich, daß Thales hier das Wort Götter in seiner normalen und direkten Bedeutung gebraucht — der Bedeutung, die es in der religiösen Tradition innehat —, sondern in einer indirekten, neuen Bedeutung. Das primäre Attribut der Götter, die Götter sensu recto sind, war es, das Außergewöhnliche gegenüber dem Gewöhnlichen darzustellen, die privilegierte und ungewohnte Wirklichkeit gegenüber der alltäglichen und gewohnten. In gewissen Punkten und in gewissen Momen-
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ten der Wirklichkeit wirkte der Gott im Gegensatz zu der übrigen Wirklichkeit, wo der Gott nicht erschien. Die älteste Einteilung, die der Menschengeist getroffen hat, ist die zwischen dem Heiligen und dem Profanen. Es schien auf der Welt gewisse außergewöhnliche, sozusagen aristokratische Tatsachen zu geben, in denen der Gott wirkte und erschien. Welchen Sinn kann diese Demokratisierung, diese Universalisierung des Göttlichen haben, wie sie uns der Satz des Thales vorzuschlagen scheint? Offenbar doch, daß die Götter nicht mehr so selten und außergewöhnlich sind, sondern allgegenwärtig und alltäglich werden, das heißt, daß bei Thales das, was er Götter nennt, sein primäres Attribut verloren hat, daß sie aufgehört haben, Götter im eigentlichen Sinn zu sein, und daß sie sich in bloße Dinge verwandelt haben, oder besser gesagt, in etwas, das jedem innewohnt und das Prinzip seiner Wirklichkeit und seiner Verhaltensweise ist. Die Götter sind zu Ursachen erniedrigt worden. Die Äußerung eines geometrischen Lehrsatzes ist die Aussage, die sich an keinen bestimmten Menschen wendet, sondern an den Menschen im allgemeinen, an das „vernünftige Wesen“, von dem Kant mit solcher Begeisterung spricht. Diese Unbestimmtheit des Gesprächspartners äußert sich darin, daß das in dem Lehrsatz Gesagte sich nicht auf eine mehr oder weniger abweichende Meinung bezieht, der gegenüber sein Inhalt sich behaupten wollte. Deshalb erweckt der Lehrsatz auch nie den Eindruck, als sei er ein Stück eines Dialogs. Nun hat aber der Satz des Thales im wesentlichen dialoghaften Charakter. Er berichtigt und verbessert eine zuvor bestehende Meinung, genau gesagt die „öffentliche Meinung“ oder all-
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gemeine Doxa, wonach nur einigen privilegierten Erscheinungen Götter innewohnen. Nach der Form der Äußerung gehört der Satz des Thales zu dem Stile der Sprüche der sieben Weisen. Diese waren ein Dialog mit der öffentlichen Meinung oder mit den übrigen Weisen. Χαλεπὸν ἐσθλὸν ἔμμεναι, sagt Pittakos, und Solon antwortet: Χαλεπὰ τὰ καλά1. In seinem ausgezeichneten Aufsatz „Der Glaube an die olympischen Götter“ (in „Das neue Bild der Antike“, Bd. I, 1942) sagt Bruno Snell, „daß der Gedanke, die Götter könnten vielleicht nicht existieren, überhaupt erst um die Mitte des 5. Jahrhunderts hat geäußert werden können“ (S. 113). Die Formulierung ist vorsichtig und deshalb unklar. Sie enthält nämlich die Annahme, daß zwischen dem 6. Jahrhundert und jenem Zeitpunkt der Atheismus unter den Griechen Fortschritte gemacht, sich verbreitet und verschärft hätte. Nach Snell ist Protagoras der erste, der klar und deutlich die Existenz der Götter leugnet. In Wahrheit sagt Protagoras nur, man könne nicht wissen, ob es Götter gebe oder nicht, und welches ihre Formen seien, wenn es sie gebe, eine These, die viel von ihrer Kühnheit verliert, wenn man bedenkt, daß sie zu dem Gesamtbild seines skeptischen Relativismus gehört. Aber stellen denn diese Worte des Protagoras eine effektivere Leugnung der Götter dar als die Heraklits und die des Xenophanes? Letzten Endes setzt Protagoras an die Stelle der Götter keine andere Wirklichkeit, während Xenophanes und Heraklit das Pantheon räumen und statt von der Vielheit der Götter, die das
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Wilamowitz, „Sappho und Simonides“, 174. 82
Wesen der griechischen Religion ausmacht, von einem Gott sprechen, dessen erstes Attribut es ist, der einzige zu sein. Dasselbe hatte schon Anaximander getan, der natürlich als Atheist angesehen wurde. Der Gott, der am Ende einer Überlegung erscheint, ist natürlich nicht ein Gott der Religion, sondern ein theoretisches Prinzip. Der Mensch, der es entdeckt, muß sich zuvor vom religiösen Glauben losgemacht haben, und als er sich in einer Welt verloren sah, deren traditionelle Fundamente weggerissen worden waren, muß er das Bedürfnis empfunden haben, in freier Wahl und Überlegung ein neues Fundament zu suchen. Diese freie Wahl der Prinzipien ist es, was man „Rationalität“ genannt hat. Wenn man dieser freien Wahl der Prinzipien den Namen Philosophie gibt, so erscheint es nicht zweifelhaft, daß die Erschaffung der Philosophie eine Epoche des Atheismus voraussetzt. Im Laufe des 6. Jahrhunderts hörte für gewisse Gruppen unter den Kolonialgriechen die Religion auf, eine Form möglichen Lebens zu sein, und deshalb mußten sie gegenüber dem Dasein eine Haltung erfinden, die von der religiösen verschieden und ihr entgegengesetzt war. Nirgends äußert sich diese gegensätzliche Stellung deutlicher als in dem Brauch, mit dem Namen „Gott“ Wesenheiten zu benennen, deren Attribute die „Volksgötter“, die die Religion der Griechen darstellten, unmöglich machten. Wie Cicero uns überliefert, sagte Antisthenes in seiner Naturlehre: Populares deos multos, naturalem unum esse (De natura deorum I, XIII). Seit ältester Zeit ist das Wort „Gott“ in Griechenland von einer großen semantischen Beweglichkeit. Plutarch
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sagt in seiner Abhandlung „Wie der junge Mensch das Lesen der Dichter aufzunehmen hat“: „Man muß wissen und darf nie vergessen, daß die Wörter Zeus, Zin, bei den Dichtern — er bezieht sich dabei auf Homer — manchmal den Gott selbst, manchmal aber auch das Glück und oft auch das Schicksal bedeuten“ (§ 6). Ähnlich zeigt sich Cicero im ersten Buche von De natura deorum ganz offenbar überrascht darüber, daß die Philosophen die Wörter θεός, θετός, δαίμων usw. auf die verschiedensten Dinge anwenden, sie also widersprüchlich gebrauchen. So findet er bei Aristoteles, daß Gott Geist ist, aber zugleich die Gestirne, die in unaufhörlicher Bewegung kreisen. Wenn wir den Timaios lesen, fällt uns die wiederholte Berichtigung auf, zu der sich Platon genötig sieht, wenn er in diesem Dialog von den „Göttern“ spricht. Zuerst versteht er das Wort in seiner vollen religiösen Bedeutung, aber alsbald bemerkt er, daß dann der Satz keinen Sinn hat, weil diese Götter nichts anderes sind als die Sterne und die Erde als Gestirn. Dies nötigt ihn, sich zu korrigieren und den Begriff „Götter“ als physischen Begriff aufzufassen. Man beachte den klaren Unterschied und die Komik dieser doppelten Bedeutung, wenn er unterscheidet zwischen „den sich drehenden und kugelförmigen Göttern und jenen, die erscheinen, wann es ihnen beliebt“1. Daraus ergibt sich, daß diese Wörter kaum noch einen gewissen Wirklichkeitscharakter bezeichneten — denn dieser müßte bestimmt sein und würde keine Widersprüchlichkeit dulden —, sondern daß sie sich in Titel ontologischen Adels
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Tim. 40D-41A. 84
verwandelt hatten, die man an die verschiedensten Wesen verleihen konnte. Burnet glaubt, daß dieser zweideutige Gebrauch des Ausdrucks Gott durch die Philosophen — wie man in den Wolken von Aristophanes sehen kann — der Grund der heftigen Reaktion gegen sie war, die sich in der öffentlichen Meinung in Athen bemerkbar machte. Aber noch stärker als in irgendeinem Satz, in dem die Existenz der Götter der Religion ganz offen geleugnet wird, tritt der Atheismus der jonischen Naturlehre in der Denkweise zutage, die ihr zugrunde liegt. Diese Denkweise stellte die vollkommene Umkehrung des mythischen Logos dar, in dem die Götter auftauchen. Die menschliche Wirklichkeit, die „übliche Welt“ ist durch eine beschränkte, zufällige und zufallsbedingte Potentialität charakterisiert. Diese Erfahrung menschlichen Unvermögens — die das Leben selbst ist — erzeugt einen geistigen Rückstoß und zwingt aus „dialektischer Notwendigkeit“ dazu, eine andere, gegensätzlich charakterisierte Wirklichkeit zu denken: eine Wirklichkeit unbeschränkter, selbstsicherer, nicht zufallsgebundener Potentialität. Diese Wirklichkeit ist „das Göttliche“, die geheimnisvolle und heilige Materie, aus der man besondere, einzigartige Mächte und Götter schnitzt, von den Augenblicksgöttern bis zu dem Gott mit ausgeprägter Biographie. Um die menschliche Wirklichkeit zu „erklären“ oder zu begründen, die die gegenwärtige Wirklichkeit ist, ersann also der mythische Logos eine andere, frühere Wirklichkeit — in einem absoluten Vorher oder einer Vorzeit, die eben deshalb da war, weil in ihr das möglich war,
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was in der menschlichen Gegenwart unmöglich ist. Das jonische Denken — nicht nur bei den „Physiologen“, sondern ebenso bei Hekataios — versucht umgekehrt, das Vorher — den Ursprung der Dinge, die Physis — zu erklären, indem es diese nach dem Gesetz der Erfahrung unseres Lebens konstruiert. Es ist also die Gegenwart, welche die Vergangenheit erklärt, die, so erklärt, zu einem effektiven Vorher wird, zu einer Vergangenheit, die mit der Gegenwart zusammenhängt und mit ihr verbunden ist, in ihr fortdauert und ihr so als dauerndes Fundament dient. So entsteht bei Hekataios die historische Theorie als geistige Konstruktion der Vergangenheit mittels der Gegenwart. Die traditionelle Auffassung wird für ungültig erklärt, als Schwindel gebrandmarkt, und im Gegensatz dazu erscheint die neue Auffassung als die feststehende, das heißt, die wahre. Es scheint also für die Wahrheit wesentlich zu sein, daß sie sich über einem Grund von Irrtümern erhebt, die als solche erkannt sind. Die Einführung einer Denkweise, die so radikal die traditionelle umkehrt und aus der Welt eine im wesentlichen profane Wirklichkeit macht, erscheint nicht möglich, wenn wir uns jene ersten Denker nicht frei von religiösem Glauben vorstellen, und das in höchstem Maße. Die Tatsache, daß bei den jonischen Physiologen nicht ein einziger Text auftaucht, in dem den traditionellen Göttern die geringste Rolle zugewiesen wird, müßte eine viel größere Überraschung hervorrufen, als sie gewöhnlich zum Ausdruck gebracht wird. Deshalb darf man jenen Satz des Thales nicht in dem Sinne auslegen, daß seine allgegenwärtigen Götter „göttlichen“ Charak-
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ter hätten, sondern ganz im Gegenteil. Der Satz ist leicht ironisch und eher ein Euphemismus. Es ist auch wichtig, die radikale Verschiedenheit des Stils der jonischen Physiologen von dem der Denker, welche die Philosophie begründeten — Heraklit, Parmenides, Xenophanes —, zu beachten. Jene legen gleichmütig ihre Auffassungen dar, während diese sich erzürnt gegen die Menge wenden und ihre Vorgänger namentlich oder generell mit Schmähungen überhäufen. Die Sache ist so offensichtlich, daß man sich nur wundern muß, daß noch keine Studie darüber erschienen ist. Warum beginnt die Philosophie mit Schmähungen? Zwischen den Joniern und Heraklit ist viel Zeit vergangen. Der Tod des Anaximenes, des letzten der Jonier, dürfte in die Zeit der Geburt Heraklits fallen. Das heißt, daß sich im Laufe des 5. Jahrhunderts ein neuer Menschentyp gebildet hatte: der „Denker“. Dieses Wort ist unbestimmt, aber das ist gut so, denn auch die Wirklichkeit, die es bezeichnet, war unbestimmt. Was der „Denker“ eigentlich sei, wird erst ein Jahrhundert später in der platonischen Akademie festgelegt. Die Generation Heraklits und Parmenides’ findet diese neue Menschengestalt von typischem Charakter und als Beruf schon vor, wenn auch von einem etwas unklaren Schimmer umgeben. Die ersten, die diese Beschäftigung — die Theorie — ausgeübt hatten, konnten sich selbst noch nicht als Denker sehen, so wenig wie sich Julius Caesar als Caesar sehen konnte. Ihre Tätigkeit war das konkrete Tun eines Individuums. Es mußte erst eine ganze Reihe von Individuen diese Tätigkeit ausüben, bis sie ihren individuellen Charakter verlor und zum Typus wurde, einen Menschentyp formte und so etwas wie
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einen Beruf oder ein Amt. Daher der veränderte Stil. Heraklit spricht trotz seiner hypertrophischen Individualität wie ein Magistrat des Denkens. Wohlverstanden, sie wenden sich noch nicht ans Volk, das von diesem neuen Menschentyp noch gar nichts gehört hatte. Sie sprechen zu einer Minderheit, zu kleinen Gruppen, die den eigenartigen geistigen Erzeugnissen der Zeit ihre Aufmerksamkeit schenken — die Homer und Hesiod kommentieren, die sich über die orphischen Theologien unterrichten, die aber zuletzt doch den traditionellen Auffassungen verhaftet bleiben. Diese Gruppen stellen für Heraklit und Parmenides die Menge dar, und gegen sie entladen die beiden einen großen Teil ihrer Schmähungen. Die Beschimpfung der Menge ist gewissermaßen die dem „Denker“ eigene Tonart, denn seine Mission, seine berufliche Aufgabe ist es, „eigene“ Ideen zu besitzen, die der Doxa oder öffentlichen Meinung entgegengesetzt sind. Um mit dieser übereinzustimmen, war dieses neue Amt nicht notwendig. Daher rührt bei Heraklit und Parmenides das ganz klare Bewußtsein, daß ihre Auffassung, da sie im Gegensatz zur Doxa dachten, dem Wesen nach paradox sei. Dieser paradoxe Wesenszug hat sich im Verlaufe der ganzen philosophischen Entwicklung erhalten. Ähnlich wird Amos, der erste hebräische „Denker“, der ein Zeitgenosse von Thales ist, darauf hinweisen, daß Gott, als er ihn in seinen Beruf einsetzt, ihm den Auftrag gibt: „Prophezeie gegen dein Volk1. “ Jeder Prophet ist Prophet gegen und ebenso jeder „Denker“. An der Stelle seiner Schriften, da Platon
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Amos 7, 15. 88
konkreter von jenen ersten „Denkern“ spricht, unterstreicht er ganz ausdrücklich die paradoxe und daher abstruse Form ihres Denkens, als er sagt: „Sie gehen über uns hinweg und verachten allzusehr die einfachen Menschen, und ohne sich zu kümmern, ob wir ihnen folgen können oder nicht, macht jeder von ihnen einfach seine Aussage1.“ Aber wenn zu Beginn des 5. Jahrhunderts der „Denker“ sich schon seiner Eigenschaft als solcher bewußt ist und weiß, daß er eine wichtige menschliche Tätigkeit ausübt, der eine bestimmte Mission übertragen ist und die ein Amt darstellt, so hat sich seine berufliche Physiognomie noch nicht genügend befestigt, so daß das Volk, das echte Volk, sie gewahr werden und ihr gegenüber eine Haltung einnehmen könnte. Daher die unvergleichliche Freiheit, der sich die jonischen Physiologen ebenso wie die ersten Philosophen erfreuen. Der „Denker“ ist noch keine soziale Figur. Die Sozialisierung des „Denkers“ findet im Laufe des 5. Jahrhunderts statt. Aber bei der Behandlung dieses Themas macht sich sehr stark die Entstellung bemerkbar, welche die Geschichte Griechenlands infolge der Mangelhaftigkeit unserer Information erfährt. Es verhält sich ja so, daß wir zwar über Athen sehr viele, aber über die übrigen Städte nur sehr wenige Nachrichten haben. Selbst von Sparta wissen wir, trotz seiner historischen Bedeutung, nicht genug, um uns seinen Alltag vorstellen zu können. Aber auf Sparta könnten wir noch verzichten, wenn es, wie jetzt, darum geht, sich klarzumachen, wie
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Soph. 243 A. 89
es sich mit den ersten Philosophen verhielt. Nicht verzichten können wir auf die anderen Städte, denn dort und nicht in Athen wurden die „Denker“ in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts geboren, und dort lebten sie. Dort und nicht in Athen bildete sich dieser neue Menschentyp heraus. Wie war das Verhältnis zwischen ihm und der Stadt, wo er wohnte? Davon können wir uns kein Bild machen. Wir haben nur einigen Grund zu vermuten, daß es recht verschieden war von dem Bild, wie es vom 4. Jahrhundert an das Verhältnis des „Denkers“ zu Athen bot. Anders läßt sich bei aller Spärlichkeit unserer Daten die Tatsache nicht erklären, daß der größte Teil dieser Daten uns den Philosophen zeigt, wie er von einer Stadt in die andere zieht oder in politische Kämpfe eingreift. Ganz im Gegensatz dazu steht die Tatsache, daß ab 400 die Philosophen überwiegend in Athen verweilen. So entziehen sich also 60 Jahre unserem Blick, und zwar gerade die Zeit, in der sich die soziale Figur des „Denkers“ herausbildete. Diese Dunkelheit erklärt sich dadurch, daß Athen, die einzige durch das Licht der Berichterstattung begünstigte Stadt, im Verhältnis zur Peripherie der griechischen Welt und in bezug auf das „Denken“ zeitlich im Rückstand ist. Seit anderthalb Jahrhunderten brachte das „Denken“ neue Lehren hervor, und noch hatten die Athener die Erfahrung des „Denkers“ nicht gemacht. Dazu mußte erst Perikles mit dem Snobismus des guten Aristokraten um das Jahr 460 Anaxagoras kommen lassen. Kurze Zeit darauf, um 440, hellt sich unsere Sicht schon vollkommen auf, und vor uns erscheint der „Denker“ als soziale Figur, das heißt, als
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ein neuer Menschentyp, den der Demos sieht und anerkennt. Damit ist noch nicht gesagt, daß diese Sicht richtig war. Das konnte sie nicht sein. Es war eine überaus enttäuschende Erfahrung, die damals einem „Volk“ wie dem Athens beschieden war, das, tief reaktionär, den traditionellen Glaubensgewißheiten fest verschrieben war. Da der „geistige“ Rückstand, in dem es sich befand, mit seinem politischen Triumph über Griechenland und mit dem plötzlichen und märchenhaften Anwachsen seines Reichtums zusammenfiel, so kam es, daß alles, was im übrigen Hellas in anderthalb Jahrhunderten herangereift war, auf einmal über die Plätze und Säulenhallen Athens hereinbrach. Zum erstenmal werden plötzlich dem Publikum von Athen, neben der traditionellen Dichtung und Mythologie, neue Geisteserzeugnisse in gewaltigem Überfluß und vor allem in bunter Vielfalt geboten. Da sind die Sophisten, die aus dem Osten kommen, die stilisierte Reden halten, die ihre „Gedankenschätze“ auskramen (Aristophanes), die die neue jonische, pythagoreische, eleatische Wissenschaft erklären, die — ein großartiges Schauspiel — aus ihren Kisten die Modelle der geometrischen Körper, der aus Ringen zusammengesetzten Kugeln hervorholen, die die Eklipsen durch ganz einfache Tatsachen ohne jedes Geheimnis erklären. Inzwischen erzählt der „Sophist“ Herodot exotische Geschichten, beschreibt andere Länder und andere Völker und was sich bei ihnen zugetragen hat und was den Griechen bei ihnen geschehen ist. Eine Lawine von Para-doxa geht über Athen nieder. Man hört die fürchterliche Blasphemie, die Gestirne seien keine Götter, sondern glühende Metallkugeln, zum Bei-
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spiel die Sonne, von der Anaxagoras sagt, sie sei größer als der Peloponnes1. Hier sehen wir zum erstenmal, wie der „Denker“ dem Volke gegenübersteht. Es war unvermeidlich, daß sich die Leute in jenem Chaos von Neuheiten nicht zurechtfanden und die verschiedenen Formen der Betätigung, die sie repräsentierten, nicht auseinanderhalten konnten. Selbst auserlesene Gruppen wie die der Dichter vermochten nicht klar zu sehen, worum es sich in jedem Falle handelte. Die soziale Figur des „Denkers“ erscheint in dieser ersten Stunde, wie es nicht anders sein kann, mit einem unklaren Profil. Nur so läßt sich die extravagante Physiognomie erklären, die Aristophanes in den „Wolken“ Sokrates zuweist. Selten haben die Philologen bei einem Problem so wenig Scharfsinn bewiesen wie hier. Bei einer Lösung darf man nicht von der Annahme ausgehen, Aristophanes wisse wohl, wer und was Sokrates sei, aber die komische Muse zwinge ihn, das, was er vor sich habe, zu entstellen. Es ist rührend zu sehen, was für eine Mühe sich die Philologen machen, um den Dichter wegen dieser Einstellung zu entschuldigen, als ob es einen Sinn hätte, zu erwarten, daß uns in den Wolken überhaupt ein Bild des Philosophen gegeben werden könnte, das mit der Wirklichkeit übereinstimmte. In diesem Fall erübrigt es sich, von einer besonderen Entstellung zu reden, denn diese versteht sich von selbst. Jede Entstellung läßt erkennen, in welcher Richtung sie vor sich ging und wie die Ausgangsform war, die sie übertreibt und verwirrt. In den Wolken läßt sich mit vollkommener
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Siehe Wilamowitz, „Platon“, I 65 ff. 92
Klarheit feststellen, welches diese Form war, und man merkt, daß es nicht die des Individuums Sokrates war, sondern eine verworrene Figur, nämlich das Bild, das sich damals Aristophanes und die meisten Athener von dem „Denker“ machten. Man beachte, daß der hervorspringendste Zug dieser Karikatur gerade am wenigsten mit dem tatsächlichen Sokrates zu tun hat, nämlich die Beschäftigung mit der „Meteorologie“, mit den Dingen, die in der Höhe erscheinen. Daß ein gewisser Menschentyp zur sozialen Figur wird und daß die Gesellschaft auf ihn reagiert, ist ein und dasselbe. In der Tat: kaum kommt der erste Philosoph — Anaxagoras — nach Athen, so beginnt gleich das Volk mit einem Gefühl der Besorgnis zu reagieren, wie es bis dahin unbekannt war. Die Griechen besitzen in ihrer Sprache ein Wort, um die menschlichen Verhaltensweisen zu bezeichnen, die in ihnen diese Besorgnis erweckten: sie nannten sie περιττός. Aristoteles berichtet uns ausdrücklich, daß die Menge Männer wie Anaxagoras und Thales tadelte, weil sie sich mit περιττά befaßten1. Das Wort ist nicht leicht zu übersetzen, weil sich in ihm so viele Bedeutungen widerspiegeln. Einerseits bedeutet es außerordentliche Handlung oder Leistung und hat lobenden Charakter, aber andrerseits bedeutet es ein übertriebenes, vermessenes, ungehöriges Benehmen, besonders in religiösem Sinn, also etwas Frevelhaftes. Pedro Simón Abril, ein spanischer Humanist des 16. Jahrhunderts, übersetzt in seiner Version der Ethik περιττά in diesem Zusammenhang mit lo que es demasiado saber
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Eth. Nic. 1141, 6, 3. 93
(das Zuvielwissen). Das scheint mir die zutreffendste Übersetzung1. Sobald das Volk die Figur des „Denkers“ gewahr wird, ändert sich dessen Situation von Grund auf, da die allgemeine Reaktion ihm gegenüber negativ ist und ihm nichts anderes übrigbleibt, als bei seinem Wirken mit gewissen Verteidigungsmaßnahmen zu rechnen. Im athenischen Volk war die religiöse Haltung recht lebendig geblieben, und dazu gehört auch die Überzeugung, daß es auf der Welt Geheimnisse gibt, die der Mensch unbedingt respektieren muß, denn sie zu wissen ist ein Vorrecht der Götter. Sie zu erforschen versuchen und nicht an die Götter glauben, war für den normalen Athener ein und dasselbe. Was am Himmel vor sich geht, ist göttlich, und folglich mußte die „Meteorologie“, die in das Geheimnis seines Ursprungs, seiner Beschaffenheit und seines Verhaltens einzudringen sucht, eine blasphemische Beschäftigung sein. Der Zorn des Demos konnte nicht lange auf sich warten lassen. Im letzten Drittel des 5. Jahrhunderts wurden die drei Philosophen, die in Athen besonders hervorgetreten waren — Anaxagoras, Protagoras und Sokrates —, entweder vertrieben oder, wie letzterer, „liquidiert“. In der Reaktion des athenischen Volkes sehen wir die makroskopische Bestätigung des Atheismus, welcher der neuen Tätigkeit, wie sie die Jonier aufgebracht hatten, zugrunde lag. In diesem ersten Augenblick erscheinen uns also beide Lebensformen als gegensätzlich und unvereinbar.
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Lasson übersetzt schlecht, da die Stelle in Verbindung mit 1177, 6, 33 verstanden werden muß. 94
Diese neue und schwierige Situation des „Denkers“ im Hinblick auf die Öffentlichkeit gab den Anlaß zu der Bezeichnung „Philosophie“, die so seltsam, so gekünstelt und so wenig eindrucksvoll ist. Es ist nämlich interessant zu beobachten, wie die „Denker“ schon sehr früh anfingen, sich Gedanken zu machen, wie sie sich und ihre Beschäftigung nennen sollten. Platon zeigt uns Protagoras, wie sich dieser eineinhalb Seiten lang mit diesem Thema befaßt. Dort sehen wir, daß das Wort „Sophist“ schon sehr alt war und für Dichter, Musiker und Seher gebraucht wurde; da es aber in Mißkredit gefallen war und die Feindseligkeit der Leute erweckte, bemühte man sich, es zu vermeiden und durch andere Wörter zu ersetzen. Platon will uns glauben machen, dies gelte nur für das Wort „Sophist“, so wie er es verstand, aber für die Leute bedeutete es die unklare Gesamtheit all derer, die dieselben Ansichten vertraten. Das Wichtige für uns ist, daß Platon uns hier die Situation des „Denkers“ angesichts der öffentlichen Meinung als gefährlich darstellt. Der „Denker“ muß die Tätigkeit, der er sich widmet, verheimlichen und vermeiden, daß sie schon durch die Bezeichnung geoffenbart wird. So ist er genötigt, es mit Tarnungen und Vorsichtsmaßnahmen zu versuchen — πρόσχημα ποιεῖσθαι καὶ προκαλύπτεοθαι. . . εὐλάβειαν. . .1 Wiederholt spielt Platon auf die Feindseligkeit an, welcher der Philosoph in seiner sozialen Umgebung begegnet, und noch am Ende seines Lebens, in den Gesetzen — 821 A — hält er es für notwendig, dagegen zu protestieren, daß die wissenschaftlichen Forschungen,
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Prot. 316d, 317b. 95
besonders aber die astronomischen und philosophischen, als gottlos angesehen werden — οὐχ ὃσιον. Diese Einstellung der Öffentlichkeit den Wissenschaften gegenüber war so hartnäckig, daß sich noch Alexander von Aphrodisias förmlich damit befaßt, daß man die σοφοί als περιττοὑς1. Es ist seltsam, daß man in jener ersten Epoche des „Denkens“ denen, die sich damit befaßten, nie den Namen σοφοί gab und daß diese ihn für sich selbst auch nicht in Anspruch nahmen. Das Wort ist uralt. Es hat eine indogermanische Wurzel, und das lateinische sapiens entspricht ihm ganz genau. Bei den primitiveren Völkern gibt es homologe Ausdrücke, die das Amt bezeichnen, das wohl das älteste in der Menschheit war, und zwar war dies der Mann, meist hohen Alters, der die Speisen zu kosten hatte, um zu entscheiden, welche für den Stamm gut und welche schädlich waren, der also vor allem die Pflanzen kostete und sich darin geübt hatte, den Geschmack — sapor — zu unterscheiden. Die Pflanzen haben einen Geschmack, sapor, dank ihres Saftes sind sie schmackhaft, sapientes. Vom Objekt geht die Bedeutung des Wortes auf das Subjekt über: „im Geschmack erfahrener“ Kenner — der sapiens, der σοφός. Das mußte auch die ursprüngliche Bedeutung von Sisyphos sein. Aber diese Bedeutung erweiterte sich, bis sie alle Dimensionen des menschlichen Lebens umfaßte, unter anderem alles Technische, sie bezog sich aber immer auf eine Art des Wissens, die nicht theoretisch war, denn das gab es noch nicht. Der „Kenner“ weiß über gewisse Dinge Be-
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Comm. in Arist. 529 (982 b 29, 983, a. 2). 96
scheid, nicht weil er allgemeine Ideen (Theorie) darüber hat, sondern weil er in einem beständigen konkreten Umgang mit ihnen lebt, sie zugleich in ihrer Einmaligkeit und ihrer unerschöpflichen Vielfalt und Besonderheit gegenwärtig hat. So der „Kenner“ von Porzellan oder von „Altertümern“. Es ist ein empirisches Wissen, das kaum übertragbar ist. Nun ist aber von all diesen Dingen, in denen man ein Kenner sein kann, das wichtigste das menschliche Leben selbst, sowohl das persönliche wie das kollektive. Den Inhalt dieses Wissens von der Struktur des menschlichen Lebens und seinen Wechselfällen nannte man sapientia, Weisheit, und das ist es, was man in den „Büchern der Weisheit“ findet. So nimmt das alte Wort σοφός bald einen genaueren Sinn an, indem es die sieben Weisen bezeichnet, die sämtlich Staatsmänner waren. Das beste Beispiel dafür, was ihre Weisheit war, sind die Elegien Solons. Man vergleiche einmal, was uns diese geben, mit den Fragmenten der „Physiologen“ oder der ProtoPhilosophen Parmenides und Heraklit. Solon befaßt sich nur mit dem menschlichen Leben und stellt keine Theorien auf. Seine Lehre von den sieben Lebensaltern ist ein Ausfluß seiner Lebenserfahrung. Die Idee der sieben Weisen, ihre Aussprüche und ihre Legende wurden in Griechenland so volkstümlich, daß das Wort σοφός nicht mehr geeignet war, die neuen „Denker“ zu bezeichnen. Man mußte es mit einem neueren Wort versuchen, das weniger gewichtig und bescheidener in seiner Bedeutung war: σοφιστής. Während σοφός direkt den Menschen in seiner Person als Weisen benennt, bezeichnet σοφιστής den Menschen auf Grund
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seiner Beschäftigung mit der Dichtkunst, der Musik, der Kunst des Wahrsagens usw. Da sich inzwischen die Arbeit der „Denker“, nicht nur der „Physiologen“ und Philosophen, sondern der Grammatiker, Rhetoriker, Reisenden usw. zu einem Wissensstoff verdichtet hatte, den zu erwerben eine Lehre und infolgedessen Unterricht erforderlich war, schien das Wort „Sophist“ sehr geeignet, um die neue Generation von Menschen zu bezeichnen, die um 450 von Berufs wegen eine neue Tätigkeit ausüben: das Lehramt der neuen Ideen. In dem Wort wird nicht präzisiert, um welche σοφία es sich handelte; die Bedeutung beruht auf der Tatsache der Beschäftigung mit dem Wissen und seiner Übermittlung. Aber dies fällt, wie wir schon gesagt haben, zeitlich damit zusammen, daß der „Denker“ zu einer sozialen Figur wird und daß die Gesellschaft feindlich auf ihn reagiert. So bekommt die neue Bezeichnung schnell einen abschätzigen Sinn und konnte sich nicht als Benennung des „Denkers“ halten. Damit sind wir am Beginn des 4. Jahrhunderts angelangt. Platon gründet seine Schule neben dem Gymnasium der Akademie. Eine Schule wofür? Zehn Jahre nach Sokrates’ Tod hatte sich die Stellung des „Denkers“ in der Öffentlichkeit ein wenig gebessert, weil schon zwei Generationen von Athenern — freilich nur gewisse Gruppen, die der Oberschicht angehörten — die neue Erziehung oder Paideia erhalten hatten. Trotzdem war die Feindseligkeit des Demos noch nicht verschwunden. Vielmehr hatten sich die „Denker“ daran gewöhnt, mit dieser Feindseligkeit zu rechnen. Sie wirken nicht mehr mit der vertrauensvollen Sorglosigkeit, wie sie für ihre Vor-
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gänger im 6. und in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts bezeichnend gewesen war. Der Stil des „Denkens“ beginnt sich jetzt zu verschleiern, er verliert an Unmittelbarkeit, deckt sich mehr oder weniger durch Vorbehalte, um den religiösen Glauben der Menge nicht zu reizen. Diese hatte auf die „Denker“ mit Verärgerung reagiert, nicht nur weil sie Atheisten waren, sondern weil sie in ihrem Auftreten anmaßend und unverschämt wirkten. Welchen Namen wird ein Mann wie Platon, der in der sokratischen Ironie erzogen worden war, für seine Tätigkeit und seine Botschaft wählen? Das Problem wurde noch komplizierter, weil der Augenblick gekommen war, um der Verwirrung entgegenzuwirken, in der sich die so verschiedenen geistigen Tätigkeiten dem Volk von Athen darboten. Dadurch wurde die Notwendigkeit noch dringlicher, sich mit einem Namen zu wappnen, der gegenüber der öffentlichen Meinung defensiv und gleichzeitig gegenüber den anderen Formen des „Denkens“ offensiv wirkte. Wir sprechen ja von dem Volke, das vielleicht mehr als jedes andere und mit größerer Genauigkeit die Worte erlebt hat. Seit etwas mehr als einem Jahrhundert gab es im Griechischen ein Wort, dessen Bedeutung äußerst vage und dabei vollkommen neutral war — das Wort philosophieren. Zunächst handelte es sich nur um ein Verb und ein Adjektiv. Zum erstenmal, glaube ich, erscheint das Adjektiv bei Heraklit, doch hat das Wort noch nicht die Bedeutung, die es ein Jahrhundert später erhält1. Noch
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Das Fragment ist eigenartig, weil darin gefordert wird, daß der „Philosoph“ viel wisse, während der Kampf Heraklits am häufigsten gegen die Vielwisserei geht. 99
in den letzten Jahren des 5. Jahrhunderts wird es von Thukydides an feierlicher Stelle gebraucht und Perikles in den Mund gelegt. Es steht dort in Verbindung mit einem anderen vagen Wort φιλοκαλεῖν, und diese Verbindung dauert lange an. Beide Verben schließen die Bedeutung einer beruflichen Tätigkeit aus. Vielmehr bezeichnen sie die zwanglose Art, sich mit den Künsten, mit der Dichtung, mit den Ideen zu befassen, wie es bei einigen „Schöngeistern“ in Athen um 450 aufgekommen war, und eine ähnliche Bedeutung mußten die Wörter auch bei ihrer Entstehung, die nicht weit zurücklag, gehabt haben. Die mit φιλο- zusammengesetzten Wörter sind im Griechischen sehr zahlreich. Wenn wir sie in einem historischen Wörterbuch nachschlagen, so fällt auf, daß die meisten davon im letzten Drittel des 5. und im ersten Drittel des 4. Jahrhunderts gebildet wurden. Selten läßt sich eine bestimmte morphologische Tendenz in einer Sprache so klar als Modeerscheinung feststellen. Denn es handelt sich hier nicht um volkstümliche Wörter, sondern fast alle erweisen ihre „vornehme“ Herkunft. Wir dürfen aber unsere Einstellung zu diesen Composita nicht mit derjenigen identifizieren, die bei den Griechen üblich war, die sie bildeten und gewöhnlich gebrauchten. Für das Griechische ist die Tendenz, zusammengesetzte Wörter zu gebrauchen, charakteristisch. Aber diese Tendenz bringt ein entgegengesetztes und zugleich ergänzendes Phänomen mit sich: das Volk, das viele Composita gebraucht, sieht gewöhnlich nicht mehr die Zusammensetzung, sondern die Einheit, in der die Bestandteile verschwinden. Dies ist ganz deutlich, wenn man das Deut-
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sche, das so sehr zu Wortzusammensetzungen neigt, mit den romanischen Sprachen vergleicht. Wir Romanen hören im zusammengesetzten Wort gerade die Einzelteile. Aber bei den Wörtern, die mit φιλο- beginnen, handelt es sich auch im Rahmen der Composita um etwas ganz Besonderes, denn wenn auch φιλο- ein fast vollständiges Wort ist, so wurde es schließlich infolge des allzu häufigen Gebrauchs doch nahezu so etwas wie eine Vorsilbe. Die Bedeutung der „Zuneigung“, des „Gefallens“ fiel fast vollkommen weg, und es blieb nur der Wert des Häufigen, Dauernden übrig, um die Veranlagung oder Neigung auszudrücken, kurz etwas Ähnliches wie die lateinischen Endungen -osus und -bundus1. All dies bezieht sich auf das Verb philosophieren und sein Adjektiv, deren Existenz um das Jahr 500 datiert werden kann. Nach diesen Präliminarien wollen wir nun sehen, wie das Substantiv „Philosophie“ auftaucht, denn darauf kommt es uns an. Wer sich all die positiven und negativen Daten, die in Frage kommen, vor Augen hält, wird zugeben, daß es nicht allzu gewagt ist, die Erscheinung des Wortes „Philosophie“ als eines neuen, gefälligen Ausdrucks, dessen sich die Gruppen der „Gebildeten“ um Perikles bedienen, in die Zeit um 440 zu legen. Zwanzig Jahre vorher war Anaxagoras nach Athen gekommen, wo damals die neue Gattung des „Denkers“ noch unbekannt war. Sowohl dies wie das zurückgezogene Leben, das man Anaxagoras
Einen interessanten Hinweis auf die Zusammensetzungen mit filofinden wir bei Rieth, Grundbegriffe der stoischen Ethik (S. 24, 28, 29). 1
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zuschreibt, waren die Ursache, daß die Auswirkungen seiner Anwesenheit in der Stadt erst so spät sich geltend machten oder wenigstens sichtbar wurden. In diesen Jahren gelang es ihm nicht, mehr als einen Schüler zu gewinnen, Archelaos, den ersten athenischen Philosophen, dessen Schüler dann Sokrates wurde. Inzwischen war aber die Generation, die fünfzehn Jahre nach Perikles geboren war, von den neuen Ideen infiziert worden und war begeistert von den Lebensformen, welche die „Denker“ der hellenischen Peripherie eingeführt hatten. So kommt es, daß Männer wie Zenon und vielleicht Parmenides, Prodikos und Protagoras Athen aufsuchen und, wenn auch nur vorübergehend, in den geistig verfeinerten Kreisen auftreten. In diesem Milieu wurde sicher schon das Wort „Philosophie“ gebraucht, um die Beschäftigung mit all den neuen Disziplinen, von der Naturphilosophie bis zur Rhetorik, zu bezeichnen. Die Medizin befand sich daneben in einer besonderen Lage. Jedes Wort einer Sprache ist ein Brauch, der sich innerhalb eines Teils der Gesellschaft herausbildet, um sich dann auf die Gesamtheit auszudehnen. Wenn es sich um eine sehr spezialisierte soziale Gruppe handelt, so ergibt es sich, daß einige der Wörter, die in ihr gebraucht werden, sich von Wörtern der normalen Sprache in Termini verwandeln. Die Sprache ist etwas ganz anderes als eine Terminologie. Der Terminus ist ein Wort, dessen Bedeutung durch eine vorhergehende Definition festgelegt ist und das man nur versteht, wenn man diese kennt. Deshalb ist seine Bedeutung präzis. Das Wort der gewöhnlichen Sprache dagegen übermittelt uns seine Bedeutung ohne vorherige Definition. Deshalb ist es immer
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unpräzis. Das Wort „Philosophie“ entsteht nun nicht als Terminus, sondern als ganz normales Wort der Gemeinsprache, und auch als solches hat es noch ein überaus schwankendes Profil. Seine Verwandlung in einen Terminus kann die Geschichte des geistigen Lebens in Athen während des folgenden Halbjahrhunderts symbolisieren. Diese Verwandlung findet bei Platon statt. Sein ganzes Werk ist die mutige Bemühung, dem Wort „Philosophie“ einen fest umrissenen Sinn zu geben. Aber die Tatsache, daß er schon in seinen ersten Schriften von diesem Wort so eingenommen scheint, also noch bevor er selbst die genaue Idee von einer Disziplin hatte, auf die er später das Wort bezog, beweist, daß er seine Vorliebe für dieses Wort von Sokrates geerbt hatte. Bei Sokrates wurde die Notwendigkeit, eine Bezeichnung zu finden, die seine Tätigkeit schützen sollte, zu einer Frage, die immer dringlicher wurde und sich immer mehr zuspitzte. Er war der erste Bürger Athens, der sich in aller Öffentlichkeit mit den neuen Ideen befaßte, sei es, um sie darzulegen, sei es, um sie zu kritisieren. Nachdem Anaxagoras und Protagoras vertrieben worden waren, mußte er sich durchaus im klaren sein, daß seine Tätigkeit recht gefährlich war. Andererseits war ihm mehr als allen andern daran gelegen, sich in der Meinung der Leute von den Naturalisten und den Rhetorikern zu differenzieren. Es mußte ihm zuwider sein, wenn er hörte, daß man ihn wie jene als Sophisten bezeichnete. Sogar nach fünfzig Jahren nennt ihn noch Isokrates so. War nicht „Philosophie“ das ideale Wort für seine Lage? Es war eine angenehme, unklar profilierte Bezeichnung, die nichts Verletzendes an sich hatte und den
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Wunsch zu erkennen gab, nicht anmaßend zu erscheinen. Aber gerade für seine Botschaft konnte man diesem Wort neue Bedeutung geben, indem man einfach die Zusammensetzung auflöste, das heißt, indem man seine Etymologie unterstrich. Wer in einer Sprache für etwas Neues eine Bezeichnung sucht, wird immer den Vokabeln auf eine anomale Weise gegenüberstehen, und diese werden dann sich selbst entfremdet, gewissermaßen als wären sie Wörter einer fremden Sprache. Wenn wir sie von diesem anomalen Gesichtswinkel aus betrachten, dann tritt — wir alle haben eine solche Erfahrung gemacht — die Etymologie aus dem Wort heraus, als ob ein Skelett aus seinem Körper heraustrete. Nun war die Botschaft des Sokrates über die Maßen paradox, denn gegenüber all dem Wissen, mit dem man sich damals in Athen brüstete, war das Wissen, das er zu besitzen vorgab, ein „Wissen, daß man nicht weiß“, eine docta ignorantia. Es ist die förmliche Ablehnung, sich als σοφός anzusehen und noch weniger als Lehrer des Wissens oder Sophist. Gerade weil sein Wissen negativ ist, erfüllt es ihn mit Sehnsucht nach dem, was ihm ermangelt. Bei der Zergliederung des Wortes mußte Sokrates sehen, daß dies der genaueste Ausdruck dessen war, als was er angesehen werden wollte: als ein sich um das Wissen Mühender, ein das Wissen Ersehnender. Damit war nichts Positives getan, um zu klären, welcher Art die σοφία des Philosophen war, aber es umriß mit großer Genauigkeit seine persönliche Haltung. In dieser zergliederten Form war das Wort nicht mehr ein Wort der gewöhnlichen Sprache. Seine Etymologie definierte es einwandfrei und verlieh ihm den hieratischen Charakter und
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die Asepsis, die den „Terminus“ vom „Wort“ unterscheiden. Schließlich war diese Art „Taschenspielerei“ mit der üblichen Bezeichnung „Philosophie“ auch nur ein Werk der Ironie. Zweifellos gewann damit das Wort, das wie so viele andere Zusammensetzungen mit φιλο- schon manieriert war, noch an Manieriertheit. Aber Ironie ist nun einmal Manier. Die sokratischen Schulen sind alle manieriert und nur nach verschiedenen Richtungen orientiert. Die manchmal recht starke Manieriertheit Platons ist noch nicht genügend beachtet worden; sie ist schuld daran, daß man Platon nie als „attischen“ Schriftsteller ansieht. Der „Asianismus“, den man ihm immer vorgeworfen hat, ist nichts anderes als Manieriertheit. Deshalb kann es auch nicht überraschen, daß er vielleicht der Autor ist, der am meisten Composita mit φιλο- gebraucht. Es sind an die sechzig! Diese Entwicklung läßt uns mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit erkennen, daß die erlauchte Disziplin ihren Namen hauptsächlich aus Gründen der Verteidigung erhielt und als Vorsichtsmaßnahme, die der „Denker“ treffen mußte gegenüber der Reizbarkeit seiner Mitbürger, die noch der religiösen Haltung verhaftet waren. Bei Sokrates konnte die etymologische Bedeutung des Worts noch das negative Wissen widerspiegeln, das er lehren wollte, aber bei Platon verliert es völlig jeden Zusammenhang mit dem Gehalt, den man ihm zuschreiben will. Der beste Beweis dafür ist der Streit zwischen Isokrates und Platon um dieses Wort, das die ganz verschiedene Tätigkeit bezeichnen soll, der sich jeder widmete. Der Kampf um diesen Namen beweist zweierlei: erstens, daß das Wort damals große Anziehungskraft besaß, zweitens, daß seine
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Bedeutung in der Sprache völlig vage war, das heißt, daß das Wort kaum etwas sagte. Sein Sinn bestand vielmehr darin, nichts Präzises zu sagen; das einzig Präzise daran war seine ausweichende Bedeutung. Ganz anders wäre der Name der philosophischen Tätigkeit gewesen, wenn er nicht mit Rücksicht auf die soziale Umgebung des „Denkers“ gewählt worden wäre, sondern wenn dieser in voller Freiheit ein Wort gesucht hätte, das so genau wie möglich ausdrückte, was in ihm vorging, wenn er philosophierte — also ein Name, den er sich aus seinem Innern heraus gegeben hätte. In der Tat deuten gewisse Anzeichen darauf hin, daß es einige Zeit lang den Anschein hatte, als wolle sich das Wort ἀλήθεια als Name der Philosophie einbürgern. Nicht nur hieß, Platon zufolge, das grundlegende Buch des Protagoras so, noch interessanter ist es, bei Aristoteles ein gewisses Unbehagen hinsichtlich des Wortes „Philosophie“ festzustellen, das ihn veranlaßt, das, was seiner Ansicht nach die eigentliche Philosophie ausmacht, als „erste Philosophie“ zu bezeichnen. Denn wenn er aufs genaueste die Denkweise unterscheiden will, die zu der Wissenschaft der Prinzipien führt, das heißt, zu der prototypischen Wissenschaft, und wenn es ihm darauf ankommt, sie von den anderen Denkweisen zu trennen, die man in Griechenland pflegte — Dichtung, orphische Kosmogonie und Theologie, „Physiologie“ —, so weist er auf die Reihe der φιλοσοφάστες περὶ τῆς ἀλήθειας hin, derjenigen, die über die Wahrheit philosophiert haben1. Diese Version, welche die übliche ist, hat keinen Sinn. Wahrheit bedeutet hier
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Met. 3. 983 b 3. Er wiederholt es in 993 a 30. 106
nicht irgendeine Wahrheit, sondern eine Art grundlegender und felsenfester Wahrheit, zu der man nur mittels einer gewissen Denkweise oder Methode gelangen kann. Wahrheit in diesem Sinn bedeutet gleichzeitig das Ergebnis der Forschung und die geistige Art, es zu erreichen. Das war etwas, das man in der alten Zeit nicht kannte. Es war erst vor wenigen Generationen aufgekommen, und daher spricht er auch in seinem Protreptikos ausführlicher von der „Wissenschaft — φρόνησις — dieser Wahrheit, die Anaxagoras und Parmenides eingeführt haben“1. Wiederholt bedeutet in den aristotelischen Schriften περὶ τῆς ἀλήθειας förmlich den Namen einer Wissenschaft, und zwar der Philosophie im engsten Sinn. Obwohl die Wahrheit für Aristoteles im Urteil ruht, so ist dieses Ruhen doch nur als Behausung aufzufassen, denn die Wahrheit ist nicht ursprünglich die Wahrheit eines Urteils, sondern die Wahrheit der Wesen selbst oder die Wesen in ihrer Wahrheit. Die Wesen an sich erscheinen nicht in ihrer Wahrheit, was natürlich nicht zwangsläufig bedeutet, daß ihre Erscheinungsweise der Irrtum sei. Sie ist einfach nicht „wahrhaft“. Die Wahrheit der Wesen ist an sich verborgen und muß enthüllt, entdeckt werden. Ebenso verhielt es sich bei den Göttern, nur enthüllten sich diese nach eigenem Gutdünken, und man konnte die Echtheit ihres Erscheinens nicht nachprüfen. Die Philosophie dagegen erwies sich als das methodische Verfahren, um die Enthüllung zu erreichen — die ἀλήθεια. Wenn man von einem Erlebnis sprechen will, so war diese methodische Enthüllung das Grund-
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fr. 52. 107
erlebnis der ersten Philosophen, und ἀλήθεια war daher der Name, der im Hinblick auf ihr persönliches Innerstes ihrer Tätigkeit entsprach. Nun müssen auch wir eine radikale Scheidung zwischen der Philosophie und dem, was keine ist, vornehmen, um sehen zu können, wie sie entstand, wobei sie sich nicht nur von der Religion, sondern auch von den anderen Denkweisen unterschied. Das heißt, wir müssen uns in die Stunde zurückversetzen, da Parmenides von etwas überaus Seltsamem zu sprechen begann, das er das Seiende nannte. Wie und warum kam es zu einem so überraschenden Abenteuer? Man spricht allzuleicht davon, daß die Philosophie die Frage nach dem Sein sei. Als ob es das natürlichste Ding der Welt sei, nach einer so fremdartigen Persönlichkeit zu fragen. Wir müssen diese Frage anfassen, noch ein wenig bevor sie vom Sein spricht. Es ist nicht möglich, daß es das Sein war, was die Menschen, die den Glauben an die Götter verloren hatten und die sich nicht mit der φύσις begnügten, zu suchen begannen. Vielleicht war das Sein etwas, was die ursprüngliche Frage noch gar nicht meinte. Vielleicht war das Sein schon Antwort. Wenn man sagt, die Philosophie sei eine Frage nach dem Sein, so ist damit gemeint, daß sie sich bemüht, die wesentlichen Attribute des Seins oder des Seienden zu entdecken. Aber damit ist gesagt, daß man das Sein schon vor sich hat. Wie konnte man es schon vor sich haben? Ist es nicht wahrscheinlicher, daß die Menschen, als sie das Fundament ihres Lebens verloren hatten, sich nach etwas fragten, das gewisse Attribute haben mußte, die schon vorher da waren — eben solche, die das Suchen rechtfertigten?
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ÜBER DAS DENKEN, SEINE THËURGIE UND SEINE DEMIURGIE
KRISIS DES INTELLEKTUELLEN UND KRISIS DER INTELLIGENZ
Reden wir ein wenig über das Denken, zumal es von allem, was es in der Welt gibt, heute wohl am wenigsten an der Mode ist. Aus der Mode zu kommen, ist nur für reine Modeerscheinungen ein Unglück, nicht aber für eine gediegene, wesenhafte und überdauernde Realität, deren Übergangenwerden durch die Mode nichts Bedrückendes an sich hat. Sieht es doch so aus, als hätte diese Realität in ihrer Glanzzeit, da alles sie umschmeichelte, in Selbstentfremdung gelebt und kehre erst heute, da man ihr überall die kalte Schulter zeigt, zu sich selbst zurück, um in geläuterter Form sie selbst zu sein, ebenso, oder in noch höherem Maße als in jener anderen Sternenstunde, der Stunde ihres Aufgangs, als sie nur verborgenes und unbekanntes Keimen war, als die anderen noch nicht um ihr Dasein wußten, als sie, unbehelligt von wesensfremden Versuchungen, einzig an ihr Selbstdasein hingegeben war. Dieser Gedanke kommt mir nicht erst heute. Es ist dies vielmehr ein Thema, das auf den verschlungenen Pfaden meines gesamten Werkes häufig auftritt. Die gegenwärtige Situation des Denkens ist von mir nicht nur unzählige Male so erwartet, sondern angekündigt worden. Programmatischen Ausdruck gab ich ihr in dem Essay „Reform der Intelligenz“, der in La Nación, Buenos Aires, im Jahr 19231 erschien. Dort heißt es:
1 Man lese in diesem Essay die Gründe nach, aus denen ich den Intellektuellen vorschlug, sie sollten sich — wie ich an anderer Stelle gesagt habe — „in den Hintergrund der sozialen Landschaft und — wenn nötig — in die Katakomben zurückziehen“.
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„Eine solche Situation nötigt die Intelligenz, sich von ihrer gesellschaftlichen Gipfelstellung zurückzuziehen und bei sich selbst Einkehr zu halten. Dieser Rückzug kann nur langsam, Schritt für Schritt erfolgen. In allzu viele Dinge hat sich der Intellekt eingemischt, als daß er plötzlich ausscheiden könnte. Über die neue Richtung jedoch kann kein Zweifel bestehen. Es muß dahin kommen, daß die intellektuellen Minderheiten aus ihrem Werk jedes politische oder humanitäre ,Pathos‘ entfernen, daß sie darauf verzichten, von der Massengesellschaft ernst genommen zu werden, weil Ernsthaftigkeit am ehesten zur Pathetik verführt. Anders gesagt: das Geistige muß aufhören, eine öffentliche Angelegenheit zu sein; es muß wieder zu jener privaten Übung werden, mit der sich Personen befassen, die eine spontane Wahlverwandtschaft dazu hinführt. Wie köstlich für den Geist, sich all der schweren Ämter ledig zu fühlen, die er leichtfertigerweise auf sich genommen hat! Wie köstlich für ihn, nicht mehr ernst genommen zu werden und frei, freier als je, seinen lauteren Pflichten obzuliegen. Nur so vermag er wieder zu sich selbst zu kommen, seitab aller Geschäftigkeit, ohne sich zu vorschnellen Lösungen gedrängt zu fühlen, und kann den Problemen gemäß ihrem eigenen elastischen Radius genügend Spielraum überlassen. Wie gern wird er allen den Vortritt gönnen: dem Krieger, dem Priester, dem Industriekapitän, dem Fußballspieler . . ., und von Zeit zu Zeit eine großartige Idee auf sie abfeuern, eine genau zutreffende, wohlausgereifte, lichtvolle Idee.
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Aber diese Aufforderung an den Intellektuellen, sich schrittweise zurückzuziehen, in berechneten Etappen und ohne Preisgabe, nicht mehr teilzunehmen an jenem Dienst am Leben, womit das kollektive Leben gemeint ist: sie ist gleichbedeutend mit der Aufforderung, daß der Intellektuelle für sich bleibe, ohne die anderen, daß er in absoluter Einsamkeit lebe. Wenn er dies tut, wenn er einsam für sich bleibt, nimmt das Geistige auf einmal eine ganz andere Beschaffenheit an. Die Aufmerksamkeit der anderen verleitet uns dazu, daß wir für sie denken, und da ihre Vielköpfigkeit — das Kollektiv — von keinem anderen Leben beseelt ist als dem seiner nach außen gewandten Interessen, wird das Geistige in seinem Dienst zu einem Werkzeug der Nützlichkeit, in jenem üblen Sinne, den ich oben angedeutet habe. Gegenüber diesem Servilismus der Intelligenz im Dienste des falschen Lebens hat ihr rechter Gebrauch bereits bei den Griechen den von keiner Nützlichkeit bestimmten Charakter reiner Schau angenommen. Wenn aber der Mensch allein bleibt, entdeckt er, wie das Geistige für ihn wirksam wird, wie es sich in den Dienst seines einsamen Lebens stellt, das zwar ein Leben ohne äußere Interessen ist, aber bis zum Rande erfüllt mit innerlichen Interessen, so daß es stets Gefahr läuft, Schiffbruch zu erleiden. Dann wird er gewahr, daß die ,reine Schau‘, der interesselose Gebrauch des Intellekts, eine optische Täuschung war, daß der reine Geist auch praktisch und technisch ist — technisch nämlich aus jenem echten Leben und für jenes echte Leben, das der Heilige Johannes vom Kreuz ,die tönende Einsamkeit des Lebens‘ nennt.“ Als die vorangehenden Worte geschrieben wurden,
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genossen die Intellektuellen noch eine außerordentliche soziale Vormachtstellung, ja in gewisser Hinsicht die größte, die sie je in der Geschichte innegehabt haben. Es braucht nicht geschildert zu werden, wie sie sich in der Folgezeit, von einigen Ausnahmen abgesehen, genau entgegengesetzt verhielten, als ihnen damals vorgeschlagen wurde. Die Folge war, daß sie in zunehmendem Maße an Geistigkeit einbüßten, mit dem Ergebnis, daß in diesen letzten Jahren die Zahl der Männer, die wirklich etwas zu sagen haben, unglaublich zusammengeschrumpft ist. Nun scheint aber in der Geschichte eine prästabilierte Harmonie höchst sonderbarer Art zu walten, wonach Epochen, in denen die Politik die Freiheit des Denkens radikal beschneidet, mit Epochen zusammenfallen, in denen die Geistigen nichts oder nur sehr wenig über die menschlichen Dinge zu sagen haben. (So erklärt sich das vertrackte Phänomen der saecula obscura, jener finsteren Jahrhunderte, die sich plötzlich wie Schlünde von Undurchsichtigkeit vor dem Blick des Geschichtsbetrachters auftun: Epochen, von denen man kaum etwas weiß, nicht nur weil die politischen Konvulsionen den Schreibenden nicht die nötige Muße gelassen haben, sondern auch, weil diese keine lebendigen und klaren Gedanken zu Papier zu bringen hatten. Beispiel dafür ist das zehnte Jahrhundert in Europa. Die fünf Jahrhunderte, in denen das Römische Imperium bestand, stellen sich unserm Blick als ein eigenartiges Wechselspiel dar, wo auf einen Abschnitt relativer — doch nie übermäßiger — Helligkeit ein Abschnitt tiefster Dämmerung folgt.) Tatsache ist, daß das Denken aus der Mode ist. Innerhalb weniger Jahre hat sich das „intellektuelle Leben“ in
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der Gesellschaft von Grund auf gewandelt. Schon dies würde genügen, um zu einer Reflexion des Denkens über seine eigene Bestimmung aufzufordern. Aber nicht aus diesem Motiv bin ich auf die vorliegenden Anmerkungen gekommen, die Anmerkungen sind und nichts weiter. Daher auch ihr farblos dürrer Charakter. Mag es genügen, daß wir an ihrer Schwelle dieses Thema angedeutet haben, ohne im folgenden darauf zurückzukommen. Die gesellschaftliche Situation des Intellektuellen ist ein Oberflächen- und Randproblem, verglichen mit der intellektuellen Situation des Geistigen selbst. Denn innerhalb des Denkens, in seinem tiefsten Schoß, hat sich ein Umschwung vollzogen, dessen Umfang sich mit keinem anderen in der gesamten abendländischen Vergangenheit vergleichen läßt. Bei minimaler Einschätzung ließe er sich an der Anschauungskrise messen, die im fünfzehnten Jahrhundert einzutreten begann. Doch sobald wir an eine regelrechte Gegenüberstellung herangehen, erscheint uns die Ähnlichkeit nicht hinlänglich, weder quantitativ noch qualitativ. Die gegenwärtige Krise ist tiefer und jäher. Andrerseits ist sie der Qualität nach gewissermaßen die Umkehrung jener Krise, die wir in dem großen geistigen Drama, genannt „die Renaissance“, beobachten. Damals empfand das Denken, daß es von einem Weniger zu einem Mehr zu kommen galt. Es war eine Pubertätskrise mit all ihren psychischen Begleiterscheinungen. Man vergegenwärtige sich nur, mit welch trunkener Begeisterung Lorenzo Valla ausrief: „Ich habe die Menschen zweitausend neue Dinge gelehrt.“ Die Krise von heute steht darum noch nicht unter umgekehrtem Vorzeichen. Wie wir sehen werden, hieße es an einer schärferen Erfassung der
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Lage vorbeidenken, wollten wir sie in Bausch und Bogen als ein Mangelempfinden diagnostizieren, bei dem man sich von einem Mehr zu einem Weniger gelangen sieht. Vielleicht handelt es sich im Gegenteil darum, daß das Denken seiner eigenen Fülle innewerde. Aber die Fülle ist nicht, wie man törichterweise anzunehmen pflegt, die Jugend, sondern die Reife. Die Jugend in ihrem Übermaß hegt den Wahn von unendlich strömender Fülle, während die Reife, eben weil sie sich zur Ganzheit und bis an den Rand ihrer selbst gekommen weiß, auch ihre Grenzen entdeckt. Die Reife ist das Einzügeln unbesonnener und unverantwortlicher Jugendausbrüche. Freilich bedeutet dies in gewissem Sinne ein Sichzurückziehen und Abstreichen. Doch nicht aus Armut, im Gegenteil. Die Reife steht derart in Vollkraft, daß sie einen Teil ihrer selbst dazu verwenden kann, das übrige zusammenzuhalten und zu beherrschen. Was dies alles in Wirklichkeit bedeutet und ob es sich so verhält oder nicht, wird sich herausstellen, wenn wir den weiten Umweg zurückgelegt haben, den unser Thema erfordert. Hier kam es erst einmal darauf an zu zeigen, daß der innere Umschwung, in dem sich das Denken befindet, ungeheuer ist, so daß wir vorerst darauf verzichten müssen, ihm etwas Vergleichbares in der europäischen Vergangenheit an die Seite zu stellen, weshalb denn auch das oben Gesagte nicht als eine vorweggenommene Diagnose zu verstehen ist. Wir wissen, daß dem menschlichen Denken etwas Ungeheures widerfährt; wir wissen aber nicht, was ihm widerfährt, und wissen noch weniger, ob das, was ihm widerfährt, gut oder schlimm ist. Der Umschwung selber teilt sich in zwei Schichten. Die
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greifbarste und augenfälligste findet sich in den exakten Wissenschaften, wo man im Laufe der letzten Jahre von einer Grundlagenkrise gesprochen hat. Während der letzten drei Jahrhunderte abendländischer Geschichte fand das Denken seinen reinsten und nachhaltigsten Ausdruck in den drei Wissenschaften Physik, Mathematik und Logik. Aus ihrer gediegenen Standfestigkeit speiste sich der Glaube an die Vernunft, der während dieser ganzen Epoche die verborgene Lebensgrundlage des hochzivilisierten Menschen war. Unfehlbar muß die geringste Unsicherheit, die in diesen prototypischen Wissenschaften auftritt, eine Erschütterung und ein Gefühl der Gefährdung im gesamten Umkreis der Vernunft hervorrufen. Nun hat sich aber gezeigt, daß die außerordentliche Entfaltung dieser drei Disziplinen im Laufe der letzten dreißig Jahre in steigendem Maße von Beunruhigung begleitet gewesen ist. Der Physiker, der Mathematiker, der Logiker werden gewahr, daß sich plötzlich — zum erstenmal in der Geschichte dieser Wissenschaften — in den grundlegenden Prinzipien ihrer theoretischen Gebäude unauslotbare Abgründe der Problematik auftun. Diese Prinzipien waren der einzige feste Boden, auf den sich ihre geistigen Operationen stützten — und gerade sie, die am unerschütterlichsten schienen, nicht dieses oder jenes Teilglied ihrer theoretischen Organismen, zeigen die Bodenlosigkeit an. Mit all dem habe ich mich an einer vorgerückteren Stelle dieser Anmerkungen zu befassen. Aber unter dieser Schicht des Umschwungs gibt es eine andere, noch radikalere. Aus Gründen, die mit den Ursachen der inneren Krise jener Wissenschaften nichts zu
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tun haben, hat sich überdies in der Haltung des Menschen zum Denken, als reinem Denken, eine Krise herausgebildet. Um nichts Geringeres geht es. Als eine erste Beschreibung dieser ungeheuren Tatsache, auf die ich mich beziehe, mögen die Worte von Husserl aus dem Jahr 1929 dienen: „Die gegenwärtige Lage der europäischen Wissenschaften nötigt zu radikalen Besinnungen. Sie haben im Grunde den großen Glauben an sich selbst, an ihre absolute Bedeutung verloren. Der moderne Mensch von heute sieht nicht wie der ‚moderne‘ der Aufklärungsepoche in der Wissenschaft und der durch sie geformten neuen Kultur die Selbstobjektivierung der menschlichen Vernunft oder die universale Funktion, die die Menschheit sich geschaffen hat, um sich ein wahrhaft befriedigendes Leben, ein individuelles und soziales Leben aus praktischer Vernunft zu ermöglichen. Dieser große Glaube, dereinst der Ersatz für den religiösen Glauben, der Glaube, daß Wissenschaft zur Weisheit führe — zu einer wirklich rationalen Selbsterkenntnis, Welt- und Gotteserkenntnis, durch sie hindurch zu einem wie immer vollkommener zu gestaltenden, einem wahrhaft lebenswerten Leben in „Glück“, Zufriedenheit, Wohlfahrt usw. —, hat jedenfalls in weiten Kreisen seine Kraft verloren. Man lebt so überhaupt in einer unverständlich gewordenen Welt, in der man vergeblich nach dem Wozu, dem dereinst so zweifellosen, vom Verstand wie vom Willen anerkannten Sinn fragt1.“ Jeder, der sich darüber klar ist, was Husserl darstellt — als philosophische Erscheinung von nachhaltigstem Ein-
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Edmund Husserl, „Formale und transzendentale Logik“. 1928, S. 4-5. 118
fluß für ein ganzes Zeitalter —, wird diese Zeilen nur mit tiefer Bewegung lesen können. Erstens wegen der Katastrophe selbst, die er anmeldet, zweitens aber auch, weil Husserl als Denker die äußerste Form des Rationalismus darstellt, weil in ihm der letzte große Rationalist erscheint, der am Ausgangspunkt des ersten — des gewaltigen Descartes — wiedereinsetzen wollte, so daß sich bei ihm die Woge des Rationalismus überschlägt. Drittens, weil jeder, der mit Husserl vertraut ist, weiß, daß er nie etwas aussprach, was er nicht „sah“. Viertens, weil dies, soviel ich weiß, der einzige Abschnitt in seinem gesamten Werk ist, wo von einer Tatsache gesprochen wird, die den Bereich der Wissenschaften transzendiert, die die Wissenschaften überwächst und umfängt — kurz, um eine allgemein menschliche Tatsache. Fünftens und letztens, weil Husserl stets in der größten Zurückgezogenheit lebte, weil er nicht die Welt durchschnüffelte und auf Informationen aus war. Von welcher Durchschlagskraft muß demnach die Tatsache sein, die er so nüchtern beschreibt, daß sie bis in seine Zurückgezogenheit drang, daß sie sich vor ihm aufrichtete und er sie „sehen“ mußte. Trotzdem gilt es noch zweierlei hinzuzufügen. Dies das eine: Die radikale Besinnung, zu der sich Husserl in Anerkennung dieser Tatsache in dem zitierten Werk veranlaßt sah, erscheint mir keineswegs radikal. Das Warum findet sich an anderer Stelle1. Die zweite Bemerkung, die ich an die zitierten Worte von Husserl knüpfen muß, bezieht sich auf die Beschreibung selbst, die er von dem ungeheuren geistigen Umschwung, in dem wir uns befinden, liefert. Husserl
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Siehe den Anhang am Schluß dieses Aufsatzes. 119
kommt, wie gesagt, nicht auf das Thema zurück. Es ging ihm nur darum, es in möglichst knapper Form festzuhalten. Diesem Anlaß wird die Beschreibung gerecht, und das macht sie so erschütternd. Da aber diese furchteinflößende Tatsache in engstem Zusammenhang mit dem Thema dieser Untersuchung steht, müssen wir gleich zu Beginn den Punkt auf das i der Diagnose setzen, damit nicht ein Abirren des Lesers von der Fährte, das bei diesem ersten Schritt noch kaum merklich ist, im weiteren Verlauf in bare Fehlorientierung ausarte. Husserl sagt, die Wissenschaften haben den großen Glauben an sich selbst verloren, den sie früher hatten. Unmittelbar darauf sagt er es noch einmal und fügt hinzu, daß der heutige Mensch den großen Glauben an die Vernunft verloren hat, den der Mensch von gestern besaß. Zweimal also innerhalb weniger Zeilen wird von dem „großen Glauben“ gesprochen. Dieser unbestimmt quantitative Terminus ist auch ein Unikum im Vokabular des Autors, das sich sonst durch große Schärfe auszeichnet. Was ist es mit diesem „großen Glauben“? Gibt es etwa einen „kleinen Glauben“? Und worin sollte der Unterschied bestehen bei einem Ding, das nicht nach der Elle gemessen wird? Die Ungenauigkeit — das braucht kaum gesagt zu werden — ist wohlüberlegt. Jeder, der zu lesen versteht, wird bemerkt haben, daß der genaueste Autor zuweilen etwas ungenau sagt. Wir ertappen ihn dabei, daß er für einen Gedanken eine möglichst weite Umschreibung wählt, in der er sich wie der Klöppel in der Glocke nach freiem Belieben bewegen kann. Der Grund dafür ist klar. Aus irgendwelchen Motiven kann der Autor an der betreffenden Stelle seine Idee nicht hin-
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reichend entwickeln, um sie mit strikter Genauigkeit einsichtig zu machen. Anderseits will er sich nicht an der Exaktheit der Idee vergreifen. Im Hinblick darauf wählt er eine Formulierung, deren Kontur verschwommen ist, um sie eines Tages, ohne daß er sich widersprechen müßte, mit einem scharfen Profil zu versehen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Ausdruck „großer Glaube“, der so wenig zu Husserls geistigem Stil paßt. Hier ist die Probe darauf. Der Leser möge versuchen, an Hand des Textes zu entscheiden, ob Husserl in seinen Worten behauptet, der gegenwärtige Mensch habe den Glauben an die Vernunft gänzlich verloren, ob er versichert, die Wissenschaften setzten keinerlei Vertrauen mehr in sich selbst. Offenbar ist dies nicht der Inhalt seines Ausspruchs. Er sagt, die Welt ist problematisch geworden, weil sie den „großen Glauben“ verloren hat. Wenn nun das, was verlorenging, nicht nur der große Glaube, sondern auch der kleine Glaube wäre, wenn jederlei Glaube an die Vernunft als solche geschwunden wäre, so wäre die Welt auch nicht problematisch oder zumindest nicht aus diesem Grunde. Wenn etwas problematisch ist, dürfen wir von seinem Gegenteil nicht völlig überzeugt sein. Die „rationale“ Welt wäre für uns nicht problematisch, sobald wir zu der vollen Überzeugung gekommen wären, daß sich mit der Vernunft nichts Bedeutendes ausrichten lasse, daß wir auch ohne die Vernunft auskommen könnten. In diesem Falle würden wir fest an die unbedingte Irrationalität der Welt glauben, was so gut ein Glaube wäre wie irgendein anderer, in dem andere Epochen gelebt haben. Doch ist dies nicht unsere Situation. Es wäre falsch zu
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sagen, daß der Mensch den Glauben an die Vernunft verloren habe1. Der eigentliche Vorgang ist vielmehr, daß im 17. Jahrhundert die führenden Minderheiten in Europa der unbedingten Macht der Vernunftkräfte ein uneingeschränktes Vertrauen zu schenken begannen und sie als einziges und allumfassendes Werkzeug zur Lösung der Lebensprobleme ansahen. Dieses Vertrauen pflanzte sich im 18. Jahrhundert in immer weiteren Gesellschaftskreisen fort und gelangte im 19. Jahrhundert dazu, sich als herrschender Glaube der europäischen Massengesellschaft zu befestigen. Der Glaube an das Wissen hatte keine erkennbaren Grenzen, weder in seinem Charakter als Glauben noch in dem, was man vom Wissen erwartete. Angesichts dieser Lage schickte sich der Mensch an, von Ideen als solchen zu leben. Daher die beispiellose Produktion an wissenschaftlichen Arbeiten, Theorien, Lehren, kurzum Ideen. Doch eines guten Tages wurde offenkundig, daß Intelligenz und Vernunft zwar unzählige Probleme vornehmlich materieller Art immer vollkommener
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Keiner, der nur ein wenig gewitzt ist, wird jene Phrasen voller Verachtung über Vernunft und Intelligenz, die über sie bereits das Grabgeläute anstimmen und von denen die literarischen Ergüsse unserer Zeit wimmeln, für den wahrhaften Ausdruck dessen nehmen, was in Wirklichkeit dem Menschen widerfährt. Diese Phrasen richten sich selbst, weil entweder ihr Wortlaut oder der Zusammenhang, in dem sie stehen, zur Genüge dartut, wie nebelhaft die Begriffe ihrer Verfasser von Vernunft und Intelligenz sind. Ich erinnere mich, welchen Spaß es mir schon als Junge machte, bei Tolstoi wieder und wieder zu lesen: „Ich habe alle Philosophien durchstudiert und habe mich von ihrer Nichtigkeit überzeugt.“ Diese Stellen bei Tolstoi, was auch sonst ihr Verdienst sein mag, sind der eklatante Be122
zu lösen verstanden, daß aber ihre Bestrebungen, andere Probleme, vor allem sozialer und moralischer Natur, zu lösen, sämtlich gescheitert waren, unter ihnen gerade jene, die der Mensch als letzte und entscheidende empfindet. Zu diesem Bewußtsein des Scheiterns gelangt man nur, wenn viele Versuche fehlgeschlagen sind, die im vollsten Vertrauen unternommen wurden. Das Mißtrauen ist stets ein sehr vorgerücktes Kapitel in der Geschichte eines Vertrauens. Das Ergebnis ist jedenfalls, daß der Mensch in eine zweischneidige Lage gerät. Einerseits kann er nicht umhin, auch ferner an die Wirksamkeit der Intelligenz zu glauben, die Tag für Tag neue ungeheure Probleme löst. Er weiß, daß die Vernunft kein zum Verschwinden verurteiltes Trugbild ist, keine optische Täuschung, die aufgehoben werden kann und muß, sondern eine kompakte Realität, mit der gerechnet werden kann und muß. Anderseits vermag er nicht mehr, ihr eine Blankovollmacht ohne Begrenzung und Einschränkung auszustellen. Da aber vordem die Vernunft ihrer genauen Bestimmung nach eben das war, „woran man ohne Ein-
_____________________________ weis, daß der große Schriftsteller nie, auch nur von ferne, an irgendeine Philosophie herangekommen ist. Dagegen verdienen entschiedene Beachtung die großen Bewegungen positiven und — versteht sich — praktischen, nicht theoretischen Charakters, die sich in aller Welt bilden, um das menschliche Leben nach ausgesprochen irrationalen Prinzipien zu organisieren. Mögen diese Bewegungen ebensowenig ein klares Bewußtsein verraten, wie heutzutage die genaue Fragestellung zwischen Mensch und Vernunft lautet: als positiver Versuch stellen sie eine außerordentlich nützliche Erfahrung dar, die mit der Wiederentdeckung der Vernunft, einet von ihren Übertreibungen geheilten Vernunft, enden wird. 123
schränkung glauben konnte“, sieht er sich einem Glaubensobjekt gegenüber, das sich vor seinen Augen verwandelt hat, und unvermeidlich verwandelt sich rückwirkend auch die Art seines Glaubens. So meine ich denn, daß wir am Anfang dieser Untersuchung, allerdings nur in der vorläufigen Gestalt einer ersten Fühlungnahme, unser inneres Verhältnis der Vernunft, der Intelligenz gegenüber hinreichend darlegen, wenn wir sagen: der Mensch, verirrt in der selva selvaggia von Ideen, die er selbst hervorgebracht hat, weiß nicht, was er mit ihnen anfangen soll. Zwar glaubt er weiterhin, daß sie einen unentbehrlichen Zweck erfüllen, doch worin dieser Zweck besteht, weiß er nicht. Nur dessen ist er sicher, daß ihr Nutzen verschieden ist von dem, was man ihnen in den letzten drei Jahrhunderten zugeschrieben hat. Er fühlt voraus, daß die Vernunft im Handlungsgefüge, aus dem unser Leben besteht, an eine andere Stelle versetzt werden muß. Kurzum, daß sich die Intelligenz aus der großen Lösung von einst in das große Problem verwandelt hat. Deshalb ist es so dringend, daß wir über sie nachdenken und das Thema in seiner ganzen Breite aufgreifen, ohne an einer Einzelform intellektueller Tätigkeit — wie Wissenschaft oder Philosophie — hängenzubleiben. Diese heben sich nur als winzige Figuren — zugehörig ein paar Jahrhunderten und ein paar wenigen Landstrichen unseres Planeten — von dem riesenhaften Hintergrund ab, den die geistige Beschäftigung des Menschen im Laufe der Million Jahre des vermutlichen Bestehens unserer Gattung aufgerichtet hat1. In diesem
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Die jüngsten Theorien über die Eiszeit gestatten diese hypothetische Rechnung. 124
Sinne größtmöglicher Weite stellen wir die Frage: „Was ist das Denken?“ Aber bevor wir uns um eine Antwort bemühen, müssen wir zur Frage selbst Zugang finden, und dies nötigt uns zu einer Reihe schmerzhafter Zertrennungen und Zerreißungen von Begriffspaaren, die in unserer Tradition hartnäckig miteinander verkoppelt sind.
DIE DECKFORMEN DES DENKENS Wenn wir uns hier, wo wir es dingfest zu haben meinen, auf die Suche nach dem Denken machen, das heißt nach dem eigentlichen Denken als solchem, sehen wir uns umringt, verlockt und bedrängt von einem eng verschlungenen Riesenhaufen von Dingen, die sich uns als das Denken vorstellen, es aber in Wahrheit nicht sind. Das Abenteuer begegnet uns nicht nur in diesem besonderen Fall, sondern tritt beständig auf und liegt im Wesen der Sache. Wenn wir nach dem Sein oder der Wahrheit von etwas suchen, das heißt nach dem, was die Sache, um die es sich handelt, an sich selbst und ihrem Wesen nach ist, befinden wir uns zunächst immer ihren Deckformen, ihren Masken, gegenüber. Schon Heraklit hat das bemerkt: „Die Wirklichkeit liebt sich zu verstekken“1. Die Welt ist vorerst ein beständiger Karneval. Masken umgeben uns. Vor Bäumen sehen wir den Wald nicht, vor Laub sehen wir den Baum nicht, und so geht es fort. Das Sein, das Ding selbst ist seinem Wesen nach das Ver-
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Fr. 123. Φύσις κρύπτεσθαι φιλεῖ 125
borgene, das Verhüllte, es ist ein Meister der Verstellung. Das Verfahren, das dazu dient, es unter seinen Deckformen aufzuspüren, nennen wir: „Verifizieren“ oder „Bewähren“, noch reiner „Bewahrheiten“. Es soll das Verborgene offenbar machen, soll es seiner Schleier entkleiden, soll es ent-decken. Und dieses Entblößtsein einer Sache uns gegenüber ist ihre Wahrheit. Darum ist es Tautologie, wenn man von der „nackten Wahrheit“ redet1. Das Phänomen der Deckformen ist nicht weiter schwierig. Es besteht ganz einfach darin, daß das Sein einer Sache, oder, was dasselbe bedeutet, die Sache in ihrer „Selbstigkeit“ vermummt bleibt hinter dem, was mit der Sache zu tun hat, aber nicht sie selbst ist. Und wir auf unserer geistigen Wanderung zu der „Sache selbst“ fassen das, was „mit ihr zu tun hat“, zunächst so auf, als sei es die Sache selbst. Das ist das ewige Schauspiel der Heimkehr vom Ball in der Morgenfrühe mit der Larve vor dem Gesicht. Was mit einer Sache zu tun hat, kann mehr oder weniger mit ihr zu tun haben; zuweilen hat es viel mit ihr zu tun. Je mehr es zu tun hat, um so schlimmer; desto hartnäckiger nämlich wird die Sache verschanzt und desto länger werden wir in Verblüffung und Täuschung befangen bleiben. So bleibt uns auch das Denken verborgen unter der Unmasse von psychologischen Kenntnissen, die sich auf die geistigen Tätigkeiten beziehen. Auf die Frage „Was ist das Denken?“ antwortet man mit der Beschreibung der mechanischen Seelenabläufe, die in Funktion tre-
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Über all dies — das Sein als wesensmäßig Verborgenes, die Wahrheit als Entdeckung — siehe bereits meine „Meditaciones del Quijote“, 1914. 126
ten, sobald sich ein Mensch mit Denken abgibt. Es ist klar, daß diese Funktionen — Wahrnehmen, Vergleichen, Abstrahieren, Urteilen, Verallgemeinern, Folgern — Dinge sind, die mit dem Denken „zu tun haben“. Ohne sie könnte der Mensch jene Tätigkeit, die ich „Denken“ nenne, nicht ausüben. Das eigentliche Denken, nach dem wir fragen, ist eine Aufgabe, es ist ein menschliches Tun, und zwar ein vorsätzliches Tun — deshalb nenne ich es Tätigkeit —, nicht nur etwas, das im Menschen stattfindet wie Sehen, Erinnern, Vorstellen, Überlegen. Nun denn: alles Tun ist daran zu erkennen, daß es für etwas und zu etwas geschieht. Der dritte Bestandteil des Machens oder Tuns ist das, womit es gemacht wird: das Mittel oder Werkzeug1. Dieses Mittel kann ungeeignet sein; dann erreicht unser Vorsatz nicht sein Ziel: es ist ein ungeschicktes Tun, aber darum nicht weniger ein Tun als das fruchtbare. Nicht nur der moderne Psychologismus, sondern schon Aristoteles setzt, wie wir im folgenden sehen werden, das Denken gleich mit der bloßen Ausübung psychisch-geistiger Tätigkeiten, worin ein zwiefacher Irrtum liegt. Weil nämlich der Mensch, wenn er sich ans Denken begibt, sich nicht nur ans Wahrnehmen, Erinnern, Abstrahieren, Folgern begibt — dies sind rein mechanische Denkvorgänge —, sondern weil er alle diese Tätigkeiten mobilisiert, um zu einem Resultat zu gelangen. Dieser Endzweck, den er sich vorsetzt und den wir zu gegebener Zeit noch schärfer fassen wollen, definiert in strengerem Sinne das Denken als die Werkzeuge, die er bemüht, um
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Das Strukturschema allen Tuns oder Handelns ist demnach dieses: man tut etwas für etwas, zu etwas, mit etwas.
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diesen Zweck zu erreichen1. Einer der zwei Irrtümer, die sich in dieser Gleichsetzung verbergen, besteht also darin, daß man voraussetzt, die psychischen Mittel, auf die sich der Mensch bei seiner Denkaufgabe verläßt, seien geeignet und ausreichend, um dieses sein Tun zum Gelingen zu führen. Aber die immerwährende und schmerzliche Erfahrung lehrt genau das Gegenteil: daß der Endzweck, auf den hin der Mensch sich dem Denken widmet, niemals in genügendem Maße erreicht worden ist, daß es mithin unstatthaft ist, vorauszusetzen, der Mensch sei jemals, und zwar bis auf den heutigen Tag, in ausreichendem Maße begabt gewesen für das, worauf er mit seinem Denken abzielt. Und damit läßt sich schon auf dieser Vorstufe sehen, daß das Denken eine Aufgabe ist, an die sich der Mensch hingeben muß, auch wenn er an seiner Zulänglichkeit verzweifelt. Es geht hier um etwas Tragisches, wenn man dieses Wort verwenden will, das sich so großer Beliebtheit erfreut, aber so ist es. In der Geschichte gibt es immer eine Sorte von aufpasserischen Aasgeiern, die schleunigst herbeiflattern, wenn eine Form des Denkens, die Vernunft zum Beispiel, eine jener schweren Krisen durchleidet, an denen ihre unerbittliche Unzulänglichkeit offenbar wird. Aber kaum haben diese selben
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Man beachte außerdem, daß alle psychischen Funktionen, in denen das Denken bestehen soll, auch auf eigene Rechnung ohne unseren Willen, ja gegen unseren Willen tätig sind. Wahrnehmen, Vorstellen, Vergleichen und auch Überlegen werden beständig automatisch in uns ausgelöst. Folglich sind sie nicht unser Tun, sind sie keine menschliche Handlung. Der Unterschied zwischen Handlung und Mechanismus liegt im Dazwischentreten des Willens und damit des Plans, des Vorsatzes oder des Endzwecks 128
Geier das Aas mit ihren Schnäbeln abgeschält, so können sie nicht umhin, von vorne anzufangen und ihre angeregte Verdauung zu stören, indem sie sich daran machen, ihre alten Geiergedanken, ihre Leichenfresser-Philosophien wiederzukäuen. Wie der Geier und die Hyäne immer vom Aas kommen, so gibt es Denkweisen, die sich am Zusammenbrυch mästen, der in regelmäßigen Abständen das arme Menschengeschlecht heimsucht. Es ist also nicht möglich, sich über die Konsistenz des Denkens zu vergewissern, indem man einen Blick in das Geistesinnere wirft und psychologische Untersuchungen anstellt. Die Reihenfolge ist vielmehr umgekehrt: da wir eine vage und unbeständige Kenntnis davon haben, was das Denken ist, konnte die Psychologie gewisse psychische Phänomene als vorwiegend intellektuell einstufen1. Man nennt sie so, weil sie an der Aufgabe des Denkens beteiligt sind, nicht umgekehrt. Eine andere Deckform des authentischen Denkens ist die Logik. Bei ihr besteht die Verdeckung in einer Schematisierung. Die Logik setzt an die Stelle der unbegrenzten Morphologie des Denkens eine einzige seiner Formen: das logische Denken — das heißt das Denken, das mit bestimmten Kennzeichen ausgestattet wird: Selbstidentität, Vermeidung des Widerspruchs, Ausschluß eines Dritten zwischen dem Richtigen und dem Falschen. Alles Denken, das nicht diese Attribute aufweist, wird ein verfehltes Denken sein, das nicht zu dem zu werden vermag, was es seiner Anlage nach sein will, und das darum kein authentisches Denken ist. Unberechenbar ist die Macht
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Dies schmälert nicht im geringsten Bedeutung und Interesse der psychologischen Forschungen an sich. 129
des Verdeckens, die während zweier Jahrtausende dieser nahezu religiöse Imperativ der Logizität ausgeübt hat. Das ganze ungeheure geistige Panorama der Menschheit wurde von ihm in zwei Gebietsteile von sehr verschiedenem Umfang zerschnitten: auf der einen Seite die Welt des Logischen, die sehr geringen Raum einnahm; auf der ändern der negative Ausschnitt des Unlogischen, dem man keine Beachtung schenkte und mit dem man nichts anzufangen wußte. Das Logische wurde mit dem Rationalen gleichgesetzt, ja man machte aus Logik und Vernunft Synonyme. All das war unvermeidlich und war insofern gerechtfertigt, als man glaubte, es gebe in der Tat ein Denken, das vollkommen und rückhaltlos logisch sei. Der abendländische Mensch war überzeugt, in ihm ein Gebäude mit starken Gewölberippen zu besitzen, das mit dem verworrenen Wald aller übrigen Denkweisen kontrastierte. Nun kommen wir heute allmählich darauf, daß es ein solches logisches Denken nicht gibt. Solange die plumpe Theorie genügte, die sich seit dreiundzwanzig Jahrhunderten Logik nennt, konnte man in der obenerwähnten Illusion leben. Aber seit drei Generationen ist es mit der Logizität wie mit anderen großen Themen der Wissenschaft gegangen: man ist ihnen erst richtig auf den Leib gerückt. Und als man die Logik allen Ernstes logisch konstruieren wollte — in der Logistik, der symbolischen Logik und der mathematischen Logik —, stellte sich heraus, daß es nicht ging, entdeckte man zu seinem Schrekken, daß es einen im letzten und strengen Sinne identischen Begriff nicht gibt, daß es kein Urteil gibt, von dem man behaupten könnte, es sei ohne inneren Widerspruch, daß es Urteile gibt, die weder richtig noch falsch sind,
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daß es Wahrheiten gibt, deren Unbeweisbarkeit sich beweisen läßt, daß es mithin unlogische Wahrheiten gibt1. Ipso facto ändert sich die Perspektive vollständig. Das Logische, das von Unlogik durchdrungen ist, büßt sichtlich jene pathetische Distanz ein, in der es den anderen Formen des Denkens gegenüber beharrte. Jetzt stellt sich heraus, daß das logische Denken kein solches war — da es ein logisches Denken nicht gibt —, sondern nur die Idee eines vorgestellten Denkens, das heißt ein pures Ideal und eine Utopie, die sich selbst nicht kannte. Im Grunde eine Schöpfung Griechenlands, ist die Logik des Aristoteles ebenso unwirklich — und aus ähnlichen Gründen — wie Platons „Staat“. Darum auch treffen Faseleien wie die von Lévy-Bruhl nicht zu, daß unserem vorgeblich „logischen Denken“ das Denken der Primitiven als ein „prälogisches Denken“ gegenüberstehe, was schon immer ungeheuerlich erscheinen mußte. Wenn wir nachweisen können, daß das logische Denken viel unlogischer ist, als wir vermuteten, gehen uns die Augen dafür auf, daß das primitive Denken viel logischer ist, als man angenommen hatte. Damit verschwinden dann die absoluten Unterschiede zwischen einem Typ des Denkens und den anderen, die der Mensch im Laufe der Geschichte durchexerziert hat, und ein Verhältnis der Stetigkeit stellt sich zwischen ihnen her. Oder, was auf dasselbe hinausläuft: wird der Schirm des logi-
1 Von alldem wird in den folgenden Teilen dieser Studie die Rede sein. Über die letzte, weniger bekannte Frage — „that there must always be indemonstrable mathematical truths“ — siehe das Buch von William van Orman Quine „Mathematical Logic“. Norton, New York 1940.
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schen Denkens, das allein für das Denken repräsentativ sein soll, weggezogen, so erscheint dieses in seiner Eigentlichkeit, die notwendig in etwas anderem bestehen muß als einzig und allein in Identität, Widerspruchslosigkeit und ausgeschlossenem Dritten. Deshalb, so wiederhole ich: wenn das Denken letzten Endes nur im Beisein dieser drei Attribute bestände, müßten wir füglich gestehen, daß es das Denken nie gegeben hat. Und Tatsache ist, daß der Mensch auf die eine oder andere Weise, freiwillig oder unfreiwillig, schwungvoll oder schwunglos, immer gedacht hat.
HISTORISCHER CHARAKTER DER ERKENNTNIS Aber keine dieser beiden Masken, die den eigentlichen Charakter des Denkens verdeckt haben, ist die allerdichteste. Im einen wie im anderen Falle beantwortet man die Frage: Was ist das Denken?, indem man auf Dinge zeigt, die nicht den Anspruch erheben, konkretes und tatsächliches Denken zu sein. Die Psychologie konfrontiert uns mit den geistigen Tätigkeiten, das heißt mit der rein instrumentalen Möglichkeit des Denkens. Die Logik löst nur bestimmte formale Schemata des Denkens heraus, diejenigen nämlich, welche die vermeintlichen logischen Attribute aufweisen. Von größerer Wirksamkeit als in all diesen Fällen ist die verbergende Macht jenes Denkens, das dem Erkennen innewohnt, ja sie ist so groß, daß sich beide praktisch wie Synonyme zueinander verhalten. Nun ist das Erkennen in der Tat Denken, und zwar konkretes, wirkendes, voll ausgeübtes Denken. Weder die bloße in-
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tellektuelle Tätigkeit — von den Alten facultas genannt — noch die logischen Schemata sind in vollem Sinne Beispiele des Denkens. Das Erkennen hingegen ist eines. Der Irrtum besteht darin, zu glauben, daß auch die Umkehrung richtig sei, daß jedes Denken, ob zutreffend oder verfehlt, notwendig Erkennen sei. Aus eben diesem Grund ist es unbedingt erforderlich, daß wir die traditionelle Verknüpfung beider Termini lösen, wenn uns die große Frage, die wir stellen, wirklich aufs hohe Meer führen und uns zur Wurzel des Problems den Weg bahnen soll. Man nimmt an, der Mensch, der sich ans Denken begibt, habe dies stets mit dem gleichen Vorsatz getan: nämlich die Wahrheit der Dinge festzustellen. Da man diese Aufgabe „Erkennen“ nennt, sollte man dafürhalten, daß Denken und Erkennen dasselbe sind. Und sofern dies ohne formale Strenge gesagt wird, sofern man sich des leicht verschwommenen Wortgebrauchs bewußt bleibt, ist die Annahme nicht geradezu irrig. Der Irrtum entsteht, wenn man plötzlich und unachtsam diesen vagen Ausdruck: „die Wahrheit der Dinge feststellen“ im strengen Sinne gebraucht und dabei nicht in Betracht zieht, daß es dann falsch ist zu behaupten, der Mensch habe sich immer — mit mehr oder weniger Glück — vorgenommen, das Sein dessen, was ihn umgibt, zu entdecken. Es handelt sich also um einen Paralogismus, der uns zu einem doppelten Sinngebrauch des Wortes „Erkennen“ nötigt: einem losen und einem strengen. Dem Menschen war immer daran gelegen, zu wissen, woran er sich hinsichtlich der Welt und seiner selbst zu halten hätte. Wir werden noch sehen, warum ihm daran
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gelegen ist, und werden weiter sehen, daß dieses Angelegensein keine so natürliche Sache ist, wie gemeint wird. Wenn ihm das Wissen sagt, woran er sich im Hinblick auf etwas zu halten hat, fühlt er sich nicht zum Denken genötigt, sondern verbleibt in dem Denken oder in der Vorstellung, die er in bezug auf dieses Etwas angenommen hat. Die „Vorstellung, in der wir verbleiben“, ist das, was ich Glauben nenne1. Wenn ihn aber dieser Glaube enttäuscht, wenn er in ihm zu verbleiben aufhört, hat er keine Bleibe mehr und sieht sich gezwungen, etwas zu tun, um von neuem zu erfahren, woran er sich jenem Etwas gegenüber zu halten habe. Dieses Sichanschicken, etwas zu tun, ist Denken, weil Denken ist, was wir tun, um — sei jenes auch was es sei — aus dem Zweifel, in den wir verfallen sind, herauszukommen und wieder zur Gewißheit zu gelangen. Der Mensch, ob er will oder nicht, hat keinen anderen Ausweg: ,er muß sich um Vergewisserung bemühen. Dies unterscheidet ihn von den Tieren und von den Göttern. Aber dies sagt nicht, welcher Art das Verfahren ist, das der Mensch beim Denken anwendet. Diese Verfahrensarten können sehr verschieden sein. Es gibt nicht nur eine einzige, die der Mensch ein für allemal besitzt, die ihm „natürlich“ ist und die er deshalb schon immer mit mehr oder weniger Vollkommenheit in Übung gehabt hat. Sondern das einzige, was der Mensch immer hat, ist das Bedürfnis zu denken, weil er mehr oder minder stets in irgendeinem Zweifel befangen ist. Die Modi, dieser Notwendigkeit zu genügen — freilich
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Siehe mein Buch „Ideas y creencias“. Madrid 1942. Deutsch: „Ideen und Glaubensgewißheiten.“ Enthalten in Band IV der „Gesammelten Werke“. 134
nur mit der Absicht, ihr zu genügen; wir können sie die Techniken, Strategien oder Methoden des Denkens nennen —, sind im Prinzip zahlenmäßig unbegrenzt, aber kein Modus ist dem Menschen verliehen, keiner ist eine Gabe, die er schon in sich vorfindet. Weit entfernt davon: erst muß sie der Mensch er-finden, muß Geschicklichkeit in ihnen erwerben, muß sie auf die Probe der Erfahrung stellen, indem er ihre mögliche Fruchtbarkeit zu entwikkeln sucht, wobei er zu guter Letzt immer an ihre Grenzen stößt. Vielleicht gibt es keine größere Ungerechtigkeit, als der Natur des Menschen — „Natur“ ist der Umfang dessen, was uns verliehen ist und was wir „a nativitate“ besitzen — das ungeheure Repertoire geistiger Verfahrensweisen zuzuschreiben, das jenes arme Wesen, genannt „Mensch“, mit zäher Anstrengung hat zusammenbringen müssen, um sich selbst aus dem rätselhaften Brunnen zu ziehen, in den ihn das Dasein stürzte1. Eine, aber auch nur eine dieser Methoden ist das Erkennen im strikten Sinne. Es besteht in dem Versuch, das Geheimnis des Lebens zu lösen, indem man unter der Oberleitung der Begriffe, die durch Überlegung kombiniert werden, die geistige Mechanik formgerecht spielen läßt. Muß nicht überraschen, mit welcher Leichtfertigkeit und Ausdauer als evident angesehen wurde, daß der Mensch von jeher und für alle Zeit in der Verfassung sei, dieser genauen Form der Betätigung obzuliegen, sich mit diesem sehr speziellen Tun des Erkennens zu befassen?
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Siehe meinen Aufsatz: „Insichselbst-Versenkung und Selbstentfremdung.“ Enthalten in Band IV der „Gesammelten Werke“. 135
Schon das flüchtigste Nachdenken zeigt uns, daß gewisse Voraussetzungen erfüllt sein müssen, wenn man zu diesem Tun schreitet, und daß, nur wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, der Mensch imstande ist, sich dem Erkennen zu widmen. Voraussetzung nämlich sind die folgenden zwei Dinge: der Glauben, daß hinter dem anscheinenden Wirrwarr, hinter dem Chaos, das die Wirklichkeit zunächst für uns ist, eine bleibende, feste Figur sich verbirgt, von der alle ihre Spielarten abhängen, so daß wir nur sie zu entdecken brauchen, um zu wissen, woran wir uns hinsichtlich unserer Umgebung zu halten haben. Diese beständige feste Figur des Wirklichen ist, was wir seit den Griechen das Sein nennen. Erkennen ist Ermittlung des Seins der Dinge, das Sein in der strengen Bedeutung von „beständiger, fester Figur“ genommen. Die andere Voraussetzung, ohne die ein Sichabgeben mit dem Erkennen absurd wäre, ist der Glaube, daß dieses Sein der Dinge eine Beschaffenheit besitzt, die der von uns mit „Intelligenz“ bezeichneten menschlichen Gabe verwandt ist. Nur so hat es Sinn, zu hoffen, daß wir mit Hilfe ihrer Arbeit in das Wirkliche eindringen, ja sein verborgenes Sein entdecken. Stellen wir uns die Lage eines Menschen vor, der einen ersten Erkenntnisversuch unternimmt. Er weiß zum Beispiel nicht, woran er sich hinsichtlich des veränderlichen und willkürlichen Anscheins der Lichtphänomene zu halten hat. Unter solchen Umständen läßt er seinen geistigen Apparat spielen und begibt sich auf die Suche nach etwas, das ihn, wie er hofft, instand setzen soll, Gewißheit über das Licht zu erlangen. Suchen ist ein merkwürdiger Vorgang: wir begeben uns auf die Suche nach etwas, aber
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dieses Etwas, auf das wir ausgehen, haben wir gewissermaßen schon. Wer unter einer Menge verschieden gefärbter Glasperlen nach einer roten Perle sucht, geht bereits mit der Vorstellung von einer roten Perle auf die Suche; mithin nimmt er voraus, daß es eine rote Perle gibt, noch ehe er sie angetroffen hat, und darum sucht er sie. Ähnlich hat derjenige, der in bezug auf das Licht sein Erkenntnisvermögen anstrengt, vorweggenommen, daß es in den Lichtphänomenen oder gleichsam hinter ihnen etwas gibt, das erstens, wenn er es angetroffen hat, ihn hinsichtlich des Leuchtenden in einen Zustand der Ruhe, der Gewißheit versetzt; zweitens, daß dieses vorausgesetzte Etwas von solcher Art oder Beschaffenheit ist, daß es sich durch Nachdenken treffen und einfangen läßt. Anders hätte es keinen Sinn, mit der Vernunft danach zu suchen. Dieses Etwas ist das Wesen des Lichtes, ein beständiges und festes Verhalten des Leuchtenden, von dem seine unbegrenzten Spielarten ableitbar sind, die vorher in ihrer anscheinenden Unordnung und dichtverschlungenen Verworrenheit nicht zu bändigen waren. Die Beständigkeit und Festigkeit des Seins, das „Immer das sein, was es ist“, verleihen ihm den Charakter der Identität. Da dem Begriff derselbe Charakter eignet, verdanken das Sein und das Denken demselben Attribut ihre Begründung, und die begrifflichen Gesetze gelten ohne weiteres auch für das Sein. Wenn wir im Leuchtenden dieses unveränderliche und feste Etwas antreffen, setzen wir es als die Wahrheit des Lichtes, das heißt wir behaupten es in einer Propositio oder Thesis und sagen: Das Licht ist Ätherschwingung. So lautet das Resultat unserer Erkenntnisaufgabe.
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Beachten wir jedoch folgendes: wenn diese Behauptung oder Thesis das Resultat unseres Bemühens um Erkenntnis ist, so haben wir vorher und ohne dieses Bemühen, das heißt ohne zu erkennen, vorweggenommen, daß das Licht und die Dinge im allgemeinen ein Sein haben. Ohne diese Voraussetzung würde das Erkennen nicht ausgelöst und käme auch zu keiner Behauptung. Das Wort Voraussetzung darf jedoch nicht so verstanden werden, als wohne ihr geringere Überzeugungskraft inne als der Setzung: im Gegenteil. Wer sich mit Erkennen abgibt, unterstellt bereits oder setzt mit absoluter Überzeugung voraus, daß es ein Sein gibt, und geht deshalb auf die Suche, um zu sehen, ob es so oder so ist. Daraus aber ergibt sich, daß das Erkennen vor allem Anfang bereits eine vollkommen festgelegte Meinung über die Dinge ist: nämlich daß diese ein Sein haben. Und da diese Meinung jedem Beweis und jeder Überlegung vorausgeht, da sie die Voraussetzung von jederlei Überlegung und Beweis ist, läßt sich sagen, daß sie einfach ein Glaube ist, insofern durch nichts unterschieden vom religiösen Glauben. Erkennen ist also nicht beschlossen in der „Ausübung geistiger Tätigkeiten und dem Spiel seelischer Abläufe, die von der Wahrnehmung zur Abstraktion führen“, sondern es ist eine Beschäftigung oder ein Tun des Menschen, an das er nicht herangehen kann, ohne bereits zuvor des festen und prärationalen Glaubens zu sein, daß es ein Sein gibt. Gerät er in Zweifel, wie er sich zu dieser oder jener Sache oder zu den Dingen im allgemeinen verhalten soll, so geht er auf das zurück, woran er nicht zweifelt, was ihm nicht in Frage steht, was für ihn kein beiläufiger Ge-
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danke, sondern die Realität selbst ist: das verborgene Sein, das seiner unverrückbaren Überzeugung nach die Dinge haben. Nicht weil er im Besitz gewisser intellektueller Fähigkeiten ist, müht er sich um Erkenntnis, sondern weil er inmitten einer außerordentlich bestimmten Glaubensüberzeugung steht, die keine abstrakte Fähigkeit ist, Ideen zu bilden, sondern selber eine wirksame und konkrete Idee, ein geistiges „Produkt“, eine „Lehre“. Und da es keine angeborenen oder verliehenen Ideen gibt, so bezeichnet dieser Glaube „einen Zustand der Überzeugung, zu dem der Mensch gelangt ist“, nicht eine angeborene oder „natürliche“ Gabe, die eben darum als ein dauernder Bestandteil von ihm zu gelten hätte oder die, wie Aristoteles sagt, zu seiner Natur gehört. Wenn aber der Glaube, daß die zutage liegenden wirklichen Dinge ein geheimes Sein haben, eine geistige Situation darstellt, zu der der Mensch gelangt ist, so heißt das nichts anderes, als daß er zu ihr auf einem bestimmten Weg gelangt ist, auf dem einzigen Weg, der zu dieser Meinung und zu ihr allein führt, das heißt auf Grund einer Reihe von lebendigen Erfahrungen, Versuchen und Berichtigungen, die der Mensch nach und nach — sei es auf eigene Faust, sei es in Zusammenarbeit mit jenen vorangehenden Generationen — angestellt hat, in deren vom Kollektiv erhaltener Tradition er geboren und erzogen wurde — oder, noch landläufiger ausgedrückt: daß der Mensch zu dem Glauben an das Sein der Wirklichkeit genau so kam, wie er vorher zu anderen Glaubensüberzeugungen gekommen ist — beispielsweise dem Glauben an die Götter —, dessen Zerfall und Zusammenbruch ihm für diesen neuen Glauben die Augen öffnete.
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Diese Betrachtungsweise bringt einen völligen Wandel des überlieferten Erkenntnisbegriffs hervor. Aus einer angeborenen und darum unveräußerlichen und anhaltenden Fähigkeit des Menschen tritt das Erkennen in den Rang einer historischen Denkform, zu der das menschliche Leben auf Grund gewisser vorher erlittener Rückschläge gelangt ist. Dieser Wandel im Aspekt des Erkennens wurde durch nichts anderes erzielt als durch Beachtung jenes impliziten Glaubens, der dem Erkennen vorangeht und auf das Erkennen einwirkt. Wenn wir dies beachten, vermeiden wir den Paralogismus im Gebrauch des Wortes Erkennen, der darin besteht, daß wir einmal jede geistige Bemühung, der Rätselhaftigkeit unserer Existenz Herr zu werden, mit dem Namen Erkenntnis belegen und daß wir ein andermal, den Terminus in seinem präzisen Sinne gebrauchend, die Bewältigung eines vorausgesetzten Seins darunter verstehen, das in der Wirklichkeit verborgen ist und auf Grund seiner identischen Beschaffenheit von der Identität der Begriffe erfaßt werden kann. Es bedarf nur eines genauen Herausarbeitens dieser Züge des Erkennens, um seiner rein historischen Verfassung innezuwerden. Ja, mehr noch: sobald wir darangehen, werden wir gewahr, daß jenes Tun oder jene Beschäftigung, die das Streben nach Erkenntnis ausmacht, nur in gewissen Jahrhunderten Griechenlands den vollen Wortsinn erreicht hat. Nur in Griechenland gab sich der Mensch rückhaltlos dieser Obliegenheit hin, weil er nur dort und damals in dem fest eingewurzelten Glauben lebte, das Wirkliche sei erfülltes und reines Sein. Vor dem Hintergrund dieses Glaubens, der den griechischen Menschen mit der Absolutheit reiner Überzeugung um-
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gibt, bewegt sich der Geist der hellenischen Denker. Für die Griechen war Erkennen das endgültige Wissen. Deshalb war Erkennen für sie nicht gleichbedeutend mit unserer empirischen Wissenschaft. Die moderne Physik wäre ihnen als etwas ganz anderes erschienen, weil man in ihr nicht auf das „Sein selber“ ausgeht, sondern sich damit begnügt, die „Phänomene zu retten“, indem man eine subjektive, menschgebundene und nur in der Einbildung vorhandene Figur ausarbeitet, die uns im Meer der Erscheinungen eine Orientierung bietet, die aber nur annähernd ist und angesichts neuer beobachteter Phänomene ständigen Korrekturen ausgesetzt bleibt. Allein die Wissenschaft vom Unveränderlichen, die darum selber unveränderlich ist, heißt Erkenntnis. Also war sie in Griechenland nicht, wie bei uns, geistiges Handhaben der Realität, sondern deren Offenbarung: ἀλήθεια. Kein Wirken des Menschen geht dem Verständnis auf, wenn nicht zuvor dieser Untergrund von unbestrittenen Glaubensüberzeugungen analysiert wird, die stillschweigend hinter seinem Rücken tätig sind. So bleibt der Buddhismus unverständlich, wenn nicht beachtet wird, daß Buddha von der unbezweifelbaren Überzeugung ausgeht, das Individuum vergehe nicht, sondern bleibe gefangen in der ewigen Kette der Wiedergeburten. Dieser Glaube an die Unsterblichkeit, an ein unerbittliches Nichtsterbenkönnen erzeugt im Menschen Grauen, und der Buddhismus ist nichts weiter als die Technik eines transzendenten Selbstmordes, einer Verflüchtigung oder Auflösung des individuellen Seins, dieses schrecklich unvergänglichen Ich im Variochana, im allumfassenden und entpersönlichten Sein.
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An ein Beispiel nicht so inständigen, aber nicht minder wirksamen Glaubens sei mit folgendem erinnert: Kepler schildert uns, auf welchen geistigen Wegen — in welcher Gemütsverfassung — er zur Entdeckung seiner Gesetze kam. Und auf Grund dieser Tatsache wissen wir um seinen pythagoreischen Glauben, daß die Welt von mathematischen Relationen, dazu von sehr einfachen, regiert wird. (Dennoch versucht er es aus zufälligem Anlaß zuerst mit der Eiform, einer Kurve, die komplizierter ist als die Ellipse.) Ich verstehe nicht, warum man noch niemals der Frage auf den Leib gerückt ist, was für den Griechen die Wirklichkeit war, bevor sein Geist in greifbarer Weise auf sie einwirkte, um eine Philosophie auszuarbeiten. Jede durchdachte und in Worte gefaßte Philosophie bewegt sich im Dunstkreis einer Vor-Philosophie oder Überzeugung, die stumm bleibt, weil sie in vollgültiger Weise für das Individuum „die Wirklichkeit selbst“ ist. Erst wenn diese Vor-Philosophie, das heißt dieser radikale und undurchdachte Glaube, erhellt ist, treten die Grenzlinien der formulierten Philosophien deutlich hervor. So lebt der Grieche jener Epoche der Anfänge der Philosophie — in Jonien, auf Samos, in Elea — in der radikalen Überzeugung, daß hinter dem wandelbaren Anschein der Dinge, in den er wie jeder Mensch eingetaucht ist, eine unveränderliche Wirklichkeit besteht, aus deren Schoß nach strenger Ordnung die Wandlungen des Vordergrundes entspringen: es ist die Physis, die Natur. Diese Natur ist von jeher da. Der Grieche jener Zeit hat keinen Begriff des Nichts. Er geht bereits von einer fraglos ewigen Wirklichkeit aus, die sich selber begründet und von niemand eingesetzt zu
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werden brauchte. Diese Attribute der Ewigkeit und Unwandelbarkeit sind es, die er mit dem Wort Sein ausdrückt, wenn er es im vollen und eigentlichen Sinne gebraucht. Eine von fremdem Willen abhängige Welt wie die des Christen, die eines schöpferischen Aktes bedarf, um ins Sein zu treten, und die eben darum von ihrem eigenen früheren Nicht-Sein affiziert bleibt, hätte seinem Lebensgefühl einen Schrecken versetzt, ähnlich dem Schrecken des Christen, den man Gottes beraubt. Alle diese Zugeständnisse — das sei nicht vergessen — gehen dem Erkennen voran, sind reiner Glaube, in dem man sich ohne weiteres findet, und bestimmen a tergo den Denkenden, indem sie sein Verhalten und seine Tätigkeit lenken, die darin besteht, durch den anscheinenden Wirrwarr zur Identität und ewigen Ruhe durchzudringen. Deshalb ist in Griechenland der Name der Wahrheit: ἀλήθεια Entdeckung: Entfernung des Schleiers und Dickichts, das die nackte Schau des Seins verwehrt. Wir haben von Griechenland die Idee der Erkenntnis geerbt, doch wir haben nicht, zumindest nicht in genügender Reinheit, den Glauben an das Sein, die natura rerum, die ihm Rückhalt gibt, geerbt. Daher die beständige Unsicherheit, unter der im Abendland die Erkenntnistätigkeit gelitten hat. Wie kam der Grieche zu diesem Glauben an das Sein, zu diesem Glauben an die Natur? Es ist dies ein Problem ersten Ranges, das jedoch — so unwahrscheinlich es klingt — noch nie gestellt und in Angriff genommen worden ist. Im Gegenteil: da für den Griechen dieser Glaube nicht in Frage stand, war die Folgerung aus ihm ebensowenig ein Gegenstand der Frage: daß nämlich die Erkenntnis
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— das heißt das Erfassen des Seins — eine natürliche, dem Menschen angeborene Funktion darstelle. Wir sind bei dieser letzten Meinung geblieben, auch als ihr der Glaube, auf den sie sich gründet, amputiert wurde. Heute jedoch stellt sich uns auf eigene Faust das Problem: warum ist es der griechische Mensch, der in diesem „großen Glauben“ naturalistischer Prägung lebte, in diesem Glauben, daß es als Voraussetzung des Tuns, das — sensu strictissimo — die Erkenntnis ist, ein Sein der Dinge gibt? Der Perser, der Assyrer, der Hebräer waren nicht „Erkennende“, weil sie glaubten, die Wirklichkeit sei Gott. Gott, in der Eigenschaft eines wahren und echten Gottes, hat weder Sein noch beständige und feste Beschaffenheit: er ist reiner und absoluter Wille, unbegrenzte Selbstentscheidung. Wer nicht zu Einschränkungen und Kompromissen neigt oder Wasser in den Wein dieses unbedingten Glaubens gießt, sondern in Wahrheit der Überzeugung lebt, daß alles, was da ist, Gott ist und daß mithin alles andere, was es außerdem zu geben scheint, streng genommen nicht ist, sondern allein das, was dem unbändigen Willen Gottes entsprungen ist, der kann offenbar nicht glauben, daß die Dinge ein Sein, eine eigene Beschaffenheit haben, das heißt, daß sie nicht nur existieren, sondern daß sie existierend auf eine bestimmte Weise im Sein verankert sind. Nun denn: diesem im eigentlichen Sinne Gottgläubigen fällt es nicht bei, daß er mit seinem Intellekt den Dingen irgend etwas abzuringen, daß er in ihnen und an ihnen Sicherheit zu gewinnen vermöchte, sondern er weiß sich unerbittlich dem Willen Gottes als der einzigen und entscheidenden Realität verhaftet. Alles, was ihm widerfährt, ihm und den Seinen und sei-
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nem Volk, hängt ab vom göttlichen Willen, von den unerforschlichen und unausweichlichen Ratschlüssen Gottes. Wenn er über die Führung seines Lebens in schweren Zweifel gerät, wird auch er etwas tun — er wird nicht stille sitzen. Aber was wird er tun? Nachdenken? — das heißt: analysieren, vergleichen, folgern, beweisen, schließen? Nein! Das erste, was er in jedem Falle tun wird, ist beten. Er richtet an Gott die Bitte, daß er ihn erleuchte und ihn das Richtige lehre. Beten ist eine Form und Technik des Denkens. Für diesen Menschen gibt es keine andere Weise, das Richtige zu treffen, als Gott um die Offenbarung seiner Ratschlüsse anzuflehen und, wenn er so gnädig ist, ihm die Bitte zu gewähren, indem er ihn unter den anderen erwählt, diesen seine Beschlüsse unter Ausschaltung aller seiner eigenen Gedanken mitzuteilen, als ein Organ Gottes, als Mund des Allerhöchsten. Seine Aussage wird in nichts dem „Logos“ des Nachdenkenden gleichen, sie wird nicht in der Entdeckung des verborgenen Seins bestehen, das von jeher da war und für alle Zeiten da ist, sie wird nicht ἀλήθεια sein, sondern wird darin ihren Grund haben, daß er heute verkündet, was Gott gesagt hat, das morgen sei: seine Rede wird Voraussage sein von Gott her, wird Prophezeiung sein. Und da Gottes Wille unwidersprechlich ist, wird sein Voraussagen ein demütiges und unbedingtes Vertrauen in diese geheime göttliche Stimme sein, die frei und sicher zugleich, Entscheidung und Verheißung in einem ist; seine Aussage wird kein Logos der Wahrheit sein, sondern ein „Amen“ — das nicht wie der Logos der Wahrheit ein „A ist B“ bezeichnet —, sondern ein: „Es geschehe also“. Die Wirklichkeit dieses Menschen kennt kein indikatives
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Präsens: es ist, sondern nur ein Futurum: es wird sein. Die Dinge sind beständig im Werden; sie sind, was Gott in jedem Augenblick will. Amén, ᾿emunah ist das Wort, das für den Hebräer „Wahrheit“ bedeutet1. Der Kontrast zwischen der ἀλήθεια des Griechen und der ᾿emunah des Hebräers ist außerordentlich und erzeugt in uns einen Gedankenschock, der das Verständnis für den rein historischen Charakter als Wesensmerkmal des Erkennens fördert. Haben wir jedoch diesen Gegensatz einmal begriffen, so kann er dazu dienen, weniger ausgesprochene Unterschiede zu erläutern. Anderseits läßt er uns einen Blick von bisher nicht erreichter Einfühlung in andere Vergangenheitsformen des Denkens
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Siehe die Rektoratsrede von Hans Freiherr von Soden: „Was ist Wahrheit?“ 1927. Das Substantiv ᾿emunah — amén ist die Verbalform —, das im Hebräischen „Wahrheit“ heißt, ist der Grunddeutung nach „das Feste“, „das Sichere“, wird aber hauptsächlich auf Personen angewendet. Es ist die Zuverlässigkeit eines Freundes, die Festigkeit eines Versprechens. Damit ist zugleich eine Richtung auf die Zukunft gegeben: daß der Freund zuverlässig sein wird, daß ein Versprechen gehalten werden wird. Daher die Bedeutung des Substantivs ᾿emunah = Vertrauen. Daß das Wort von der Bedeutung „Vertrauen“ zur Bedeutung „Wahrheit“ kommt, zeigt deutlich, in welchem Maße beim Hebräer wie beim Assyrer und Perser das Gefühl bestand, nicht das Sein oder die Natur vor sich zu haben, sondern einen absoluten Willen, etwas, das sich jenseits allen Seins befand — ἐπεκεινά τῆς οὐσίας, sagt Platon — welches das Sein mediatisiert und annulliert. Zu beachten ist ferner, wie der äußerst künstliche Ausdruck, den Aristoteles verwenden muß, um das „Substantielle“ einer Sache zu bezeichnen, das heißt ihr eigentliches Sein, in jenem ausgefallenen Terminus besteht, der einen ganzen Satz bildet, aber als ein Wort verstanden sein 146
tun, die für den modernen Menschen immer unerreichbar geblieben sind, wie etwa das religiöse Denken, der Mythos, die Magie, die „Weisheit“ oder die „Lebenserfahrung“. Damit haben wir allerhand sehr Bedeutsames erreicht. Einmal wurde dem Erkennen der Charakter einer absoluten Realität, der der Mensch absolut verschrieben ist, genommen und in eine bloß historische Größe verwandelt. Das Erkennen ist kein „natürliches“ und überdies unumgängliches Vorgehen des Menschen, sondern eine rein historische „Lebensform“, auf die er angesichts gewisser Erfahrungen gekommen ist und die er angesichts anderer Erfahrungen aufgeben wird.
_____________________________ will: τὸ τὶ ἦν εἰναι „Das Sein, was es war“. Das Sein ist für den Griechen, wie oben gesagt, ein Präsens. Wenn man aber dieses Präsens preßt und ihm energisch zu Leibe geht, stellt es sich als Vergangenheit heraus. Es handelt sich hier um eine chronologische Optik, die auf Grund des griechischen Seinsbegriffes unvermeidlich ist. Die Wirklichkeit, die wir jetzt vor uns haben — im Präsens —, ist zum Teil ein Pseudo-Sein, nämlich zufällig. Dieses Pseudosein ist erst jetzt: es war vorher nicht; eine zeitliche Ursache, oder der Zufall hat es hervorgebracht. Aber dahinter steht auch jetzt — das heißt auch im Präsens — das wahrhafte Sein, die Substanz. Und diese ist es, die jetzt ist, weil sie schon vorher war; in einer unbegrenzten Vergangenheit, von jeher. Das wirkliche Sein hat das Wesen eines Vorher, eines πρότερον. Deshalb ist der Anfang — ἀρχή — Altertum. Die Wissenschaft vom Sein ist — Archäologie. Deshalb stolpert Aristoteles beträchtlich über das Problem vom Ursprung der Formen, das zu dem berühmten und weit ausgesponnenen Disput über den „Creationismus“ Anlaß gab zwischen dem sanften, schwerfälligen Zeller und dem nervösen, hitzköpfigen Brentano. 147
Zudem hört nur so das Erkennen auf, eine Utopie zu sein, und tritt als wirkliches Sein mit der ihm eigenen Konkretheit und Relativität ins Blickfeld. Da es seinen utopischen Charakter einbüßt und in seiner konkreten Wirklichkeit erscheint, können wir nun allen Ernstes an seine Geschichte herangehen — das heißt erklären, wie der Mensch zu ihm gekommen ist, warum er sich gerade auf diese Tätigkeit des Erkennens eingelassen hat, wieso in Griechenland diese Tätigkeit ihren vollen Sinn bekommen hat, das heißt wieso allein der Grieche wahrhaft und ohne Einschränkung an die Möglichkeit des Erkennens geglaubt hat. Ausgehend von dieser vollen und ganz reinen Form, die in Griechenland das Erkennen hatte, können wir in der nachfolgenden Geschichte bis auf unsere Tage die fortschreitende „Degradation“ der Idee (oder Tätigkeit) des Erkennens verfolgen. Wodurch automatisch die schwere Gegenwartskrise der Vernunft ihr abruptes Ansehen verliert, das sie als Ausbruch einer unerwarteten Katastrophe erscheinen läßt. Schließlich — und das ist das Wichtigste — erlaubt uns dies alles, die gegenwärtige Krise so zu behandeln, daß wir uns außerhalb ihrer stellen. Denn wenn Erkenntnis das ist, was der Mensch getan hat und immer tun muß, so deutet die Erkenntniskrise auf eine Krise des Menschen selbst hin. Wenn wir aber die Erkenntnis in eine rein historische Form des menschlichen Lebens umwandeln, erblicken wir vor ihrem Auftreten andere ebenso normale Verfahrensweisen des Menschen, womit er das Lebensrätsel angeht und den Zweifel überwindet, um zur Gewißheit zu gelangen, und nehmen nach ihr andere Möglichkeiten wahr. So gewinnen wir zum erstenmal
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eine Philosophie, die das Ende oder die Frist, die ihr gesetzt ist, ins Auge faßt und die Verhaltensweisen des Menschen, die an ihre Stelle treten werden, im voraus entwirft. Wer glaubt, der gegenwärtigen Situation der Intelligenz lasse sich mit einer minder radikalen Reform der überkommenen Anschauungen begegnen, krankt an einem Wahn. Es geht hier nicht um vage Probleme. Schon heute zum Beispiel läßt sich voraussagen, daß, sobald der Schlachtenlärm verstummt ist und die physikalische Wissenschaft als exemplarische Wissenschaft des Abendlandes sich wieder auf sich selbst besinnt, diesem Bemühen eine Theorie physikalischer Erkenntnis entspringen wird, in der dem Erkennen eine Aufgabe zufällt, die mit allem, was in der Vergangenheit so genannt wurde, kaum eine Ähnlichkeit aufweist. Derart und auf Grund der vorangehenden Ausgliederungen wird unser Blick frei für ein Denken, das nicht mehr an die Zuweisung einzelner Denkformen gebunden ist. Wir vermögen es in seinem untergründigen Wirken zu überraschen, wie es in der Vergangenheit Formen schafft und immer die gestrige durch die von morgen überwindet. Dieses Freisein von jeder Gestalt der Vergangenheit läßt uns auch — nicht ohne Schauder — ertasten, was noch nicht da ist: die keimende Zukunft des menschlichen Geistes. Die Charakterisierung der Erkenntnis als einer historischen Größe, wie sie in den vorangehenden Abschnitten ausgesprochen wurde, ist keineswegs schematisch. Sie soll nur als ein Paradigma gelten, mit dem an Hand des
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besonderen Falles, den die Erkenntnis darstellt, jene Methode allgemeiner Transzendenz weitergeführt wird, die seit Jahren unter dem Titel „historische Vernunft“ mein philosophisches Werk beherrscht. In der Tat geht es darum, die Beobachtung, daß die spezifisch menschliche Wirklichkeit — das Leben des Menschen — von historischer Beschaffenheit ist, bis zu ihren äußersten und radikalsten Konsequenzen zu verfolgen. Dies nötigt uns, alle Begriffe, die sich auf das menschliche Leben in seiner reinen Erscheinungsform beziehen, zu denaturalisieren und sie einer radikalen Historisierung zu unterziehen. Dies ist die einzige Weise, den „Historizismus“ mitsamt seinem Relativismus zu überwinden. Nichts, was der Mensch gewesen ist, ist oder sein wird, ist er ein für allemal gewesen, noch ist er es heute oder wird er es sein. Immer ist er eines Tages dazu gekommen, es zu sein, und eines anderen Tages wird er aufhören, es zu sein. Die Permanenz der Formen innerhalb des menschlichen Lebens ist eine optische Täuschung, hervorgerufen durch die Plumpheit der Begriffe, mit denen wir jene Formen denken; ihnen zufolge werden Begriffe, die nur in abstrakter Anwendung auf jene Formen gültig sind, so gebraucht, als seien sie konkret und stellten somit an sich selbst die eigentliche Wirklichkeit dar. So haben wir auch in dem Begriff Erkenntnis zwei grundverschiedene Bedeutungswerte entdeckt: der eine kommt ihr zu, wenn mit Erkennen jeder nicht näher bestimmte Versuch des Menschen gemeint ist, sich geistig auf seine Umwelt abzustimmen. Es ist dies ein abstrakter Begriff, der nur ein paar „Momente“ oder Bestandteile enthält: den Menschen in abstracto, eine nicht minder abstrakte Umwelt,
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die abstrakte Notwendigkeit einer wechselseitigen Abstimmung und das ebenso abstrakte Wissen um geistige Betätigung. Zweifellos hat jeder konkrete Mensch und hat darum von jeher der Mensch irgend etwas getan, wobei diese Bestandteile eine Rolle spielten, aber nie hat er irgend etwas allein mit diesen Bestandteilen getan. Er selber war nie „der“ Mensch, sondern „ein“ Mensch, der zu einer bestimmten Zeit geboren und darum durch eine bestimmte Tradition gebildet war, aus der sein ganzes Tun hervorging. Auch seine Umwelt war nicht irgendeine, sondern eine ganz bestimmte, die überdies ein System von Erleichterungen und Erschwerungen im Leben dieses Menschen darstellte, je nach der Tradition, in die er hineingeboren wurde (zum Beispiel sein Vorrat an Strebungen, das heißt seine Glücksvorstellung, und der Vorrat an Mitteln, sie ins Werk zu setzen). Schließlich ist auch der Intellekt keine feste Größe, sondern seine Wirklichkeit und Konkretheit — konkret ist immer und allein das Wirkliche — wandelt sich ständig im Lauf der Geschichte, je nach der Richtung, in die seine Tätigkeit gelenkt wird, und je nach der Ausbildung, die man ihm angedeihen läßt. Der primitive Mensch dachte weniger logisch als Hilbert und Poincaré, nicht weil sein Intellekt seiner Wesensbeschaffenheit nach unlogisch oder prälogisch war, sondern weil er nach Logizität nicht mit so klarem, ausdauerndem und besonnenem Willen strebte wie diese zwei Zeitgenossen, die in eine ununterbrochene Tradition des Logizismus hineingeboren wurden, wie sie seit sechsundzwanzig Jahrhunderten besteht. Also ist der abstrakte Begriff „Erkenntnis“ ein rein algebraischer Ausdruck, der, anstatt irgendeine Wirklich-
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keit zu repräsentieren, nach Besetzung seiner Buchstaben oder „Leerstellen“ mit konkreten Zahlen verlangt. Diese Zahlen bezeichnen Entfernungen, Größen, Häufigkeiten. Sobald wir die Leere der Abstraktionen mit konkreten Bestimmungen füllen, tritt die grundsätzliche Verschiedenheit der Handlungen zutage, die unter der gemeinsamen Bezeichnung Erkenntnis vermengt werden, und die Notwendigkeit stellt sich ein, diesen Terminus auf eine einzige von ihnen oder höchstens auf eine Reihe von solchen, die mehr Gemeinsamkeiten besitzen, einzuschränken. Dies wäre dann der konkrete Begriff: Erkenntnis. Das Wort Denken hingegen müssen wir freisetzen und ihm den formal abstrakten Begriff der geistigen Abstimmung des Menschen auf seine Umwelt als Bedeutung vorbehalten. Aber wenn wir es hierfür gelten lassen, sind wir uns darüber klar, daß wir es nur als algebraische Formel gebrauchen für ein Tun des Menschen, dessen wirkliche Faktoren chronologisch zu bestimmen sind. Das bedeutet freilich das Zugeständnis, daß jeder Begriff, der auf Repräsentierung irgendeiner menschlichen Wirklichkeit Ansprach erhebt, befristet ist oder, was dasselbe bedeutet, daß jedes Wissen, das sich auf das spezifisch menschliche Leben bezieht, Funktion der geschichtlichen Zeit ist. Folglich wäre das, was ich hier mit Bezug auf das Erkennen vorgetragen habe, auch hinsichtlich der Dichtung, des Rechtes, der Sprache, der Religion, der „Weisheit“ oder Lebenserfahrung usw. auszuführen. Gesänge, denen die Griechen des siebenten Jahrhunderts in den Versen Homers gelauscht haben, mit dem gleichen Namen Poesie belegen wie eine der Nuits von Musset, heißt die Dinge
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bewußt durcheinanderbringen. Ähnlicher Täuschung verfällt, wer das, woran der Römer des ersten Punischen Krieges in Verbindung mit seinen Göttern geglaubt, was er empfunden und getan hat, mit dem Christentum unter dem Wort „Religion“ begreift, oder auch, wer innerhalb des Christentums nicht die radikale Andersartigkeit im Christentum eines Augustinus und eines Newman bemerkt1. Wer den Menschen verstehen will, der eine Wirklichkeit in via, ein im tiefsten wanderndes Wesen ist, der muß alle Stubenhockerbegriffe über Bord werfen und in Begriffen denken lernen, die unablässig unterwegs sind2. Mobilis in mobile.
ANHANG Auf Grund von Zusammenhängen, die ich dem Leser hier vorenthalten muß, da sie ihn bei der gebotenen Kürze allzu abstrakt anmuten würden, trifft die Phänomenologie mit allen vorangehenden Philosophien in dem Charakter einer „voraussetzungslosen oder ungerechtfertigten Philosophie“ zusammen. Ich will diese Bezeich-
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Der Katholizismus verkörpert im Gegensatz zum Protestantismus das lebendige Bewußtsein von der historischen Dimension, die trotz ihrer Dauerhaftigkeit die Religion besitzt. 2 Vgl. meine Bücher Towards a Philosophy of History, New York, Norton, 1941; „Ideen und Glaubensgewißheiten“ (Ideas y creencias), enthalten in Bd. IV der „Gesammelten Werke“; „Geschichte als System“ (Historia como Sistema), enthalten in Bd. IV der „Gesammelten Werke“. 153
nungen nicht als Werturteil verstanden wissen; sie sind weder geringschätzig noch abwertend gemeint. In ihnen kommt schlechthin ein integrierender Bestandteil dieser Philosophien zum Ausdruck. Voraussetzungslos und ungerechtfertigt nenne ich jede Philosophie, welche die Motive, die zu ihr hin führen, außerhalb ihres Lehrgebäudes läßt, das heißt die nicht als einen konstituierenden Bestandteil der Philosophie all das in Betracht zieht, was den Menschen dazu veranlaßt hat, eben diese Philosophie zu schaffen. Wir werden im Verlauf dieser Studie sehen, wie die Philosophie jedesmal auf abrupte Art einzusetzen pflegt, nämlich in Form einer Reihe von Thesen über die Wirklichkeit oder die Prinzipien der Wahrheit, ohne daß philosophisch Kenntnis zu erlangen wäre, warum denn, absolut gesprochen, Thesen über die Wirklichkeit oder die Wahrheit vorgebracht werden müssen. Mögen uns diese Thesen logisch auch noch so zwingend oder, was dasselbe ist, wahrheitsgemäß erscheinen, so bleibt doch immer das Bedenken bestehen, ob oder inwieweit der Anspruch zwingend ist, derartige Thesen zu formulieren. Jede Tätigkeit des Menschen muß sich rechtfertigen lassen, nicht nur den anderen gegenüber, sondern auch in den Augen eben des Menschen, der sich mit ihr befaßt. Es geht nicht darum, daß er dies tun müßte, sondern daß er es tut, mag er sich Rechenschaft darüber geben oder nicht. Und wenn eine Beschäftigung, wie dies bei der Philosophie der Fall ist, den Anspruch erhebt, mit dem Weltganzen befaßt zu sein, ohne etwas Wesentliches draußen zu lassen, so kann sich die Rechtfertigung an keinem anderen Platz organisch ansiedeln als in dem philosophischen Lehrgebäude selbst als eines seiner konsti-
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tuierenden Glieder. Die Geometrie oder die Physik sind von dieser Verpflichtung entbunden, weil die Einzelwissenschaften voraussetzungslos aus Vorsatz sind, wenn ich diesen Ausdruck gebrauchen darf. Dies ist ihre Stärke und zugleich ihre Beschränkung. Indem sie ihr Thema scharf herausschneiden, tun sie — zumindest formell — Verzicht auf den übergreifenden oder angreiferischen Charakter. Wer sich nicht für sie interessiert, den lassen sie in Frieden. Ich rede von den Wissenschaften als solchen, nicht von den Männern der Wissenschaft1. Mit der Philosophie jedoch verhält es sich nicht so. In ihr ist von vornherein eine wesensmäßige Willensleidenschaft angelegt, die mit dem friedlichen Charakter einer Abklärung, zu der es seit ihrem ersten Auftreten in der Geschichte das Gremium der Philosophen gebracht zu haben scheint, in Gegensatz steht. Zwar werden stets Höflichkeit und Schönrednerei, über die der Philosoph verfügt, diesen Charakterzug zu verhehlen trachten, aber die Philosophie selbst, die aus keinerlei Erwägung heraus ihre Substanz deformieren oder von dem lassen kann, was sie nun einmal ist, verbirgt in ihrem Innersten schon sechsundzwanzig Jahrhunderte lang eine fortdauernde, unerschöpfliche Beleidigung. Daß es hienieden Philosophie gibt, heißt unumstößlich, daß unterdrückt oder lauttönend ein Schrei in der Welt ist, der da verkündet: „Das Lebewesen, das
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Allerdings verhielten sich zu Anfang des Jahrhunderts die Physiker und Naturwissenschaftler aggressiv und übten jenen Einfluß aus, den ich einmal vor langer Zeit den „Terror der Laboratorien“ genannt habe. Doch wurde bald danach diese Haltung aufgegeben; heute tritt sie nur noch hie und da, als lebender Überrest oder als Fossil, auf. 155
nicht philosophiert, ist ein ungeschliffener Klotz! Innerhalb unserer Weltsphäre ist alles, was nicht Philosophie ist, Schlafbefangenheit; Kennzeichen der Tierwelt ist ihr schlafbefangenes Dasein.“ Nicht ich, wohlgemerkt, sage das; vielleicht bringt meine philosophische Reform gerade am Punkt dieser schroffen Einstellung eine gewisse Korrektur an; gesagt hat es vielmehr die Tatsache „Philosophie“ als solche, in der es bis jetzt beschlossen lag. Von Beginn ihrer heroischen Epoche in Jonien und Magna Graecia, in Milet und Elea an waren die Philosophen bemüht, den bitteren Kern zu versüßen, indem sie die Beschimpfung in Honigworte kleideten. Sokrates sagt in der „Apologie“: „Ein Leben ohne Philosophie ist für den Menschen nicht lebenswert.“ Aristoteles sagt: „Alle übrigen Wissenschaften außer der Philosophie sind nötiger als diese; aber keine ist wichtiger.“ Läßt man die Euphemismen beiseite, so stößt man auf den beleidigenden Kern. Eine Beschäftigung wie die Philosophie, die in einer derart aggressiven Forderung besteht, bedarf unabdingbar der Rechtfertigung. Andernfalls würde sie sich in bloßer Anmaßung und hohler Aufschneiderei erschöpfen und wäre selber nicht mehr als eine Form der Schlafbefangenheit. Nur in dem Maße, wie der Mensch nicht anders kann als Philosophie treiben, in dem er nolens volens Philosoph ist, stellt sich das Vorhandensein von Philosophie oder Philosophen als erträglich dar. Und dies — noch einmal sei es gesagt — nicht aus Gründen des gesellschaftlichen Umgangs oder um sich des feindseligen Mitmenschen zu erwehren, sondern weil die Philosophie als solche der Rechtfertigung ihrer selbst entbehrt, wenn
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nicht ihre eigene Struktur das Organ ihrer Selbstrechtfertigung mit einschließt. Auch ist es nicht mit Betrachtungen getan, wie sie nach Art einer praeambula fidei oder eines Vorspruchs am Kopf philosophischer Abhandlungen stehen, so zum Beispiel im Ersten Buch der Metaphysik des Aristoteles. Denn in all dem wird deutlich, daß es — und zwar für den Schreiber selbst — hier noch nicht um Philosophie geht, sondern um eine unverbindliche Vorerklärung, um einen Henkel gewissermaßen, den er uns hinstreckt, damit wir die Philosophie daran packen. So ergeht es uns, wie wir gleich sehen werden, mit Aristoteles. Zwar liefert er uns eine Erklärung, warum man Philosophie treibe, aber diese Erklärung bleibt, wie man gewahr wird, am Tor zur Philosophie stehen, da sie keine Rückwirkung auf den Thesengehalt aristotelischer Philosophie hat und nicht in ihre systematische Lehrform eingeht. Die Rechtfertigung hingegen, die ich verlange, soll nur dann gegeben sein, wenn die Ideen, die das philosophische System als solches darstellen, von ihr als ihrem Grundsatz ableitbar sind. Oder, wenn ich von mir aus eine These aufstellen darf: Die Rechtfertigung der Philosophie ist ihr oberster Grundsatz. Alles, was den Menschen antreibt zu philosophieren, bildet als Lehre gefaßt einen Bestandteil der philosophischen Theorie selbst. Ich will mich hier mit einem geringeren Beispiel begnügen, behalte mir aber für eine andere Gelegenheit vor, mit einiger Ausführlichkeit ein anderes monumentales zu entwickeln1.
1 Das monumentale Beispiel, das ich meine, ist kein geringeres als der Discours de la Méthode. In meinen Vorlesungen an der Fakultät für Philosophie und Literatur, Buenos
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Zu Beginn seines philosophischen Essays erklärt Lokke: „Unsere Aufgabe in dieser Welt ist nicht, alle Dinge zu erkennen, sondern nur diejenigen, die unser Verhalten betreffen.“ Als philosophisch an diesem Ausspruch gilt für gewöhnlich das, was er an Einschränkendem, an Negativem hinsichtlich der Reduktion des Erkenntnisgebietes an sich trägt. Er zieht die Linie: „Was das Verhalten angeht“ und grenzt damit jene Erkenntnisthemen ein, die so genannt
_____________________________ Aires im Jahr 1940, habe ich die Frage, vor die uns dieses einzigartige Werk stellt, von Grund aus aufgerollt, eine Frage, die beschämenderweise nie auch nur angerührt worden ist. Der Discours, jene Schrift, mit der die Symphonie des modernen Denkens einsetzt, ist eine Autobiographie, in der uns der Verfasser berichtet, auf Grund welcher Erlebnisse er zur Entdeckung seiner Philosophie gelangt ist. Man hätte etwas mehr erstaunt sein dürfen darüber, daß eine ganze Epoche des menschlichen Denkens, und zwar nächst der hellenischen die glorreichste, mit persönlichen Lebenserinnerungen anhebt. Daß Descartes als einzig und allein philosophisch ein bestimmtes theoretisches Ergebnis ansieht, das seine lebendigen Erfahrungen gezeitigt haben, spricht nicht dawider, daß wir in aller Form die Frage nach dem Konnex zwischen Erlebnis und Theorie aufwerfen. Die Definition dieses Konnexes müßte dann gleichbedeutend sein mit dem Verstehen des absolut menschlichen Sachverhaltes, der im Text des Discours vorliegt. Wenn die Philologie das wäre, was sie eigentlich sein soll — nämlich die Wissenschaft vom Lesen —, hätte sie von sich aus, ohne sich im geringsten auf philosophische Erwägungen einzulassen, darauf kommen müssen, daß die anerkanntermaßen philosophischen Thesen über die Methode des Sinnes ermangeln, sofern man nicht ihren tatsächlichen Ursprung in Lebenserfahrungen erblickt, die sich in dem Menschen Descartes herangebildet haben, Erfahrungen, die keineswegs nur individuelle
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zu werden verdienen und über die nachzudenken — das heißt zu philosophieren — sinnvoll ist. Doch indem er dies tut, verfährt er ebenso wie eine Einzelwissenschaft, die sich mit der Angabe begnügt: „Meine Beschäftigung gilt einzig und allein den Raumverhältnissen: Geometrie“, oder „meine Beschäftigung gilt einzig und allein den direkt oder indirekt meßbaren Erscheinungen: Physik“. Mit dem Unterschied freilich, daß bei den Einzelwissenschaften diese Eingrenzung ziemlich genau ist und diese Genauigkeit als ein praktischer Ersatz die Stelle der Rechtfertigung vertritt. Wie wir im folgenden sehen werden, ist die Rechtfertigung der modernen Physik im Grunde ihre tech-
_____________________________ Anekdoten, sondern vielmehr ein gedrängter Abriß der gesamten abendländischen Geschichte sind. Aber daß ich dies hier ausspreche, nicht nur im Vorbeigehen, sondern geradezu im Vorbeirennen, entmutigt uns, weil Ausdrücke wie „gedrängter Abriß der gesamten abendländischen Geschichte“ nach einer verschwommenen Phrase klingen, während es sich in Wahrheit um äußerst konkrete Themen handelt, die durch jedes Wort im Discours, wofern man nur ein wenig nachbohrt, bloßzulegen und zu erhärten sind. Während mehrerer Jahre war ich in fortlaufenden Seminarkursen an der Universität Madrid mit der Ausarbeitung eines Kommentars zu dem berühmten Text des Descartes beschäftigt, eines Kommentars, der sich von den bereits vorhandenen von Grund aus unterscheiden sollte; übrigens ist deren Anzahl recht gering und zudem in der Auffassung naiv, wenn auch gelegentlich einer wie der von Gilson wegen der gelehrten Anhäufung von Daten Respekt verdient und einem tiefer pflügenden Kommentar einigen Nutzen gewähren kann. Meine Absicht, diese Arbeit auf dem Philosophischen Kongreß zur Dreihundertjahrfeier des cartesischen Werks vorzulegen, zerschlug sich infolge geschichtlicher Einwirkungen von nicht geringer Tragweite.
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nische Auswertung. Aus dieser Rechtfertigung hat die moderne Mathematik als ein integrierender Bestandteil der Physik Nutzen gezogen, die ältere Mathematik dagegen rechtfertigte sich mit ihrer metaphysischen Transzendenz. Man vergesse nicht, daß die gesamte ältere Mathematik unmittelbar oder mittelbar auf die pythagoreische Tradition zurückgeht. Wenn aber gesagt wird, daß Erkennen recht eigentlich die Tätigkeit sei, die sich ausschließlich mit dem, was unser Verhalten angeht, befasse, so erscheint uns dies als eine derart vage Angabe, daß sie uns für nichts steht und die Philosophie in eine üblere Lage versetzt, als irgendeine jener anderen Wissenschaften einnimmt. Man bedenke außerdem, daß Lokke sich darauf beschränkt zu versichern, unsere Aufgabe in dieser Welt sei nicht das Erkennen, daß er aber diese Behauptung nicht unterbaut, ja nicht einmal analysiert. Es ist eine „topische“ Behauptung in der strengen Bedeutung des Wortes, die seit Aristoteles dieser Begriff angenommen hat. Mithin eine Meinung, die weder im eigentlichen Sinne „Wahrheit“ ist noch die Ableitung von Wahrheiten zuläßt. Sie ist schlechtweg das, was der geläufigen Meinung entspricht, sie ist — öffentliche Meinung — endoxa. Nehmen wir aber einmal an, wir ließen diese Behauptung nicht,wie es bei Locke geschieht, im unverbindlichen Vorbereich der Philosophie stehen, sondern nähmen sie philosophisch ernst, das heißt verständen uns dazu, sie als erste philosophische Grundthese auszusprechen. Falls wir uns dazu verstehen, heißt das natürlich zugleich, daß wir sie beweisen, mag das Beweisverfahren, das sie erfordert oder zuläßt, dieser oder jener Art sein. Dadurch
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aber erhält der verschwommene Satz von Locke ipso facto starke Nachdrücklichkeit und läßt erkennen, daß das Philosophische das eigentlich Positive an ihm ist. Nun hatte aber für Locke der Satz de facto diese Bedeutung, da der Mensch Locke sich tatsächlich auf diese Meinung verließ, um von ihr ausgehend Philosophie zu treiben. Jedoch befangen in der Vorstellung von dem, was auf Grund der Tradition den Namen Philosophie führt, war er der Auffassung, es handle sich hier noch nicht um Philosophie, und formulierte deshalb seine Behauptung nicht als These; die Praxis aber als solche ist eine tätig angewandte These, die nichts weniger besagt als dies: das Erkennen ist nichts Substantielles an sich, sondern ist eine Funktion des menschlichen Lebens, welches seinerseits Aufgabe ist. Oder der Satz besagt, anders gefaßt: erstens, daß unser Dasein in dieser Welt Aufgabe ist, zweitens, daß diese Aufgabe ihrem Wesen nach nicht im Erkennen besteht, sondern im Sichverhalten, drittens, daß in dem Maße, wie das Sichverhalten Erkennen erforderlich macht, dieses eine unumgängliche Aufgabe ist. Somit haben wir drei philosophische Fundamentalsätze aufgestellt, die in Lockes Philosophie nirgends vorkommen, die jedoch auf sein Denken einwirkten und ihn beim Aufbau seiner Philosophie leiteten. Und diese „unbezeugte“ Philosophie, die im Vorbereich der offiziellen Philosophie von Locke verblieben ist, kann überdies als deren authentische Rechtfertigung gelten. Eine Unzahl weiterer Beispiele ließe sich anführen, aber das von mir gewählte empfiehlt sich nicht nur durch den Vorteil der Kürze, sondern erläutert fürs erste hinlänglich den Gedanken, den ich ausführen will.
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Zu völliger Deutlichkeit wird er ein paar Seiten weiter gelangen. Hätte Husserl, als er im Begriffe stand, Phänomenologie zu treiben — die für ihn der echte Ausdruck philosophischen Denkens ist —, im Fortgang seiner Gedanken innegehalten und, noch einmal zum Ausgangspunkt zurückkehrend, praktisch die Bahn überdacht, die sein Geist bis zu jenem Punkt zurückgelegt hatte, wo seiner Meinung nach bereits die formale Doktrin einsetzt, so hätte er bemerken müssen, daß seine Doktrin mit undoktrinären Motiven, aus denen sie hervorgeht und von denen sie abhängt, untrennbar verbunden ist. Der Mensch treibt Philosophie auf Grund bestimmter Notwendigkeiten oder Zweckmäßigkeiten, die der Theorie voranstehen oder ohne Theorie auskommen, das heißt auf Grund von Lebensinteressen. Diese sind nicht verschwommen, sondern stichhaltig und stellen die intellektuelle Tätigkeit, die sogenannte Vernunft, unter ganz bestimmte Bedingungen. Mit dem Absatz von Husserl, den ich zitiert habe, verhält es sich ebenso wie mit dem Satz von Locke. So wie bei diesem das Erkennen eine Lebensfunktion ist, so ist bei jenem die Vernunft „Funktion der Menschheit“, und die Menschheit ist die Geschlechterfolge von Menschen, die gelebt haben und leben. Aber diese Behauptung hat Husserl so wenig wie Locke philosophisch ernst genommen. Die Phänomenologie, die den Maximalausdruck der Vernunft anstrebt, ist grundsätzlich nicht Funktion des Lebens, sondern unabhängige Tätigkeit: Erkennen um des Erkennens willen. Die Analyse und Definition der Vernunft, die Husserl in seinem früheren Werk vollzogen
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hatte, gewährte der Menschheit, dem Leben und dem Funktionscharakter der Vernunft nirgends Einlaß und konnte dies auch gar nicht tun. Die Lebensfunktion als Wesensmerkmal der Vernunft blieb außerhalb des Kreises ihrer Betrachtung und ihrer Lehrform. Obwohl die Studie, der das oben angeführte Zitat entnommen ist, „Formale und transzendentale Logik“, eine radikale Besinnung über das, was Erkenntnis ist, ankündigt, erfüllt sie weder dieses Versprechen, noch wäre sie — glaube ich —, auch wenn sie zu ihm stände, in der Lage, mit genügendem Radikalismus zu verfahren. Dazu ist es bereits zu spät. Der Bereich absoluter Realität, der nach Husserls Bezeichnung die „reinen Erlebnisse“ sind, hat trotz seines vielversprechenden Namens mit dem Leben nichts zu tun; er ist, genau genommen, das Gegenteil von Leben. Die phänomenologische Haltung ist das strikte Gegenteil dessen, was ich „razón vital“ nenne. Husserl — und vor ihm die gesamte idealistische Philosophie, die in ihm ihren letzten Vertreter hat — geht von der Berufung auf eine Grundtatsache von größter Evidenz aus: nämlich daß die Wirklichkeit im „Bewußtsein von“ ihr bestehe. Zum Beispiel: im „Bewußtsein von“ (der wirklichen Welt), das wir haben und das vornehmlich von jener Art bewußter Akte, die wir als Wahrnehmungen bezeichnen, gebildet wird. Die tatsächliche Wirklichkeit dieser Welt ist nur relativ, nämlich relativ zu dem Weltbewußtsein, das wir haben. Wenn aber die Wirklichkeit von sich aus die Relativität ausschließt, so will man damit sagen, daß die Wirklichkeit der Welt, indem sie sich zum Bewußtsein von ihr relativ verhält, problematisch ist, hingegen absolut einzig mein Bewußt-
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sein von (der Wirklichkeit der Welt). Die Wirklichkeit meines Bewußtseins von etwas verhält sich relativ zu sich selbst, weil — nach Husserl und dem gesamten Idealismus — das Bewußtsein sich selber bewußt, oder anders gesagt, sich selber unmittelbar gegeben ist. Relativ zu sich selber sein ist aber gleichbedeutend mit Absolut-sein. Wohlan: wenn das Bewußtsein von. . . die absolute Wirklichkeit ist und, da sie es ist, diejenige, von der man in der Philosophie ausgehen muß, so kann es nur eine Wirklichkeit sein, in der das Subjekt, das Ich, innerhalb seiner selbst, seiner Akte und geistigen Zustände verharrt. Dieses Dasein aber, das innerhalb seiner selbst verharrt, ist das genaue Gegenteil dessen, was wir Leben nennen, welches gerade darin besteht, daß wir außerhalb unser selbst serienmäßig an das Andere ausgeliefert sind, mögen wir dieses Andere Welt oder Zuständlichkeit nennen. Vom Leben als der primären und absoluten Tatsache ausgehen, heißt zugleich anerkennen, daß das Bewußtsein von. . . eine bloße Idee ist, die mehr oder weniger gerechtfertigt und plausibel sein mag, immerhin aber nur eine Idee, die wir lebend und aus Motiven, die in diesem unserem Leben zuvor gegeben sind, entdecken oder erfinden. Die Lebensvernunft indessen geht von keiner Idee aus und ist darum auch kein Idealismus. Husserl ist bestrebt — und zwar namentlich in dem vorerwähnten Buch —, vermittels der Phänomenologie zu den Wurzeln (radikale Besinnung) der Erkenntnis vorzudringen. Er kann nicht umhin vorauszusetzen, daß diese Wurzeln nicht der Erkenntnis zugehörig, sondern der Theorie vorangehend oder — unbestimmt ausgedrückt —
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„vital“ sind. Weil ihm jedoch dies alles aufstößt, als er bereits im Begriffe ist, Phänomenologie zu treiben, und diese weder eine Begründung noch eine Rechtfertigung ihrer selbst geliefert hat, bleibt die ganze Betrachtung im Leeren hängen1.
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Ich muß mir an dieser Stelle genauere Ausführungen über die Unzulänglichkeit der transzendentalen Logik von Husserl versagen, in der er mit einer letzten und äußersten Anstrengung seine „genetische Phänomenologie“ entwickelt. Diese genetische Phänomenologie, die ihm zur Berührung mit der Wirklichkeit vor aller Theorie, das heißt mit dem „Leben“ verhelfen soll, kann auf die allgemeine Phänomenologie, von der sie nur ein Glied ist, keine Rückwirkung üben. Husserl ist gestorben, ohne daß er irgendeine konkrete Untersuchung aus dem Bereich der genetischen Phänomenologie veröffentlicht hätte. Er hat nur ein summarisches Programm aufgestellt. Es steht zu hoffen, daß Herr Finde, sein Schüler und wissenschaftlicher Testamentsverwalter, die Masse von Manuskripten veröffentlicht, die Husserl hinterlassen hat. Unter ihnen müssen sich einige dieser Untersuchungen befinden. Ich bin jedoch der Auffassung, daß sich trotz ihrer Nichtveröffentlichung ohne Schwierigkeit eine Untersuchung anstellen läßt, die haargenau bestimmt, bis zu welchem Punkt die genetische Phänomenologie angesichts des großen Problems der „Genesis der Vernunft“ gelangen kann und welches ihre wesenseigenen Beschränkungen sind. Bei Durchsicht dieser Korrekturen werde ich zufällig mit der Tatsache bekannt, daß Husserl im Jahr 1935 in Prag eine Reihe von Vorträgen gehalten hat unter dem Titel „Die Krise der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie“, deren Anfangsteil im ersten Band der Zeitschrift „Philosophia“, Belgrad 1936, erschienen ist. Auf diesen Seiten entwickelt der große Philosoph ein wenig ausführlicher den Gedankengehalt jener Worte, die ich auf den ersten Seiten dieses Aufsatzes zitiert habe. Demnach sollte man annehmen, 165
daß, was er dort vorgebracht hat, zu einer Berichtigung der im Hinblick auf Husserls intellektuellen Stil verwandten Bezeichnung „Unicum“ Veranlassung geben müßte. Doch besteht dafür kein Grund. Ich bezweifle nicht, daß der in der Zeitschrift „Philosophia“ veröffentlichte Text in Gesprächen mit Husserl vereinbart worden ist und daß Ideen aus seinen Manuskripten Verwendung gefunden haben, aber es ist sonnenklar, daß dieses Werk, das letzte, das zu Husserls Lebzeiten erschien, nicht von ihm selbst redigiert ist, sondern von Dr. Finde, dessen Stil — nicht nur was die Wortwahl, sondern auch was die Thematik betrifft — im gesamten Text hervorsticht. Nicht nur ist dieser Stil vom Stil Husserls grundsätzlich verschieden, sondern die Phänomenologie tut hier einen Sprung nach etwas, das sie von sich aus im Sprung nie hätte erreichen können. Für mich ist es überaus befriedigend, diesen Sprung der phänomenologischen Lehre mit anzusehen, denn er besteht in nichts Geringerem als einem Rekurs auf die historische Vernunft. Es verdient, angemerkt zu werden, daß, bevor diese Seiten von Husserl in „Philosophia“ erschienen und lange bevor ihre Fortsetzung — in der ausdrücklich auf die „Vernunft in der Geschichte“ zurückgegangen wird — in der „Revue Internationale de Philosophie“, Brüssel 1939, erschien, in England meine Studie über „Geschichte als System“ (1935) zur Veröffentlichung gelangt war. (Enthalten in Band IV der „Gesammelten Werke“.)
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