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I,
Hermeneutische Positionen (; ScWeiennacher - Dilthey - Heidegger - Gadamer
Mit Beiträgen von Heinrich Anz, Hendrik Biros, Günter Figal und Horst Turk
Herausgegeben und eingeleitet von Hendrik BiTUs
VANDENHOECK & RUPRECHT IN GöTllNGEN •
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8ayerlsche Staolsbl~llolh.k
MOnchen
C1P-Kurt.tile{ou!nohme der Deutschen Bibliothek HtrmtntlPhänomenologie< und >Dialektik< Henneneutik zum alternativen >kontinentalen< Theoriekonzept zur Analytischen Philosophie in deren verschiedensten Spielarten avanciert. In Richard Rortys globalem Gegenentwurf Philosophy and the Mirroro!Nalftre (1980) sind unter dem verheißungsvollen Etikett der >Hermeneutik( denn auch so verschiedenanige Philosophen wie Wittgenstein, Heidegger und (als einziger Nicht~Europäer) Dewey, aber auch Sartre, Gadamer und Derrida versammelt.:
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Hat so der Terminus ,Hermeneutik( in seiner aktuellen Verwendung eine überaus diffuse Aura - changierend zwischen dem Hautgout des historisch Abgetanen und der Verheißung neuer Horizonte -, so besteht gegenwärtig auch alles andere als Einigkeit über das Feld der Hermeneutik: ist sie ein .universaler Aspekt der Philosophiec;J eine Schulrichtung der Philosophie neben anderen oder auch eine philosophische Teildisziplin (vergleichbar der Ethik oder Ästhetik); die methodologische Grundlegung der Geisteswissenschaften überhaupt, wie im besonderen der Textwissenschaften; bloße PTOpädeutik oder auch Appendix der Philologie; oder schließlich bloß ein antiquiertes Paradigma der literaturtheorie, die endlich dabei ist, den .sicheren Gang einer Wissenschaftc einzuschlagen, und gut daran täte, diesem trüben Bodensatz ihrer Konstitutionsphase keine Beachtung mehr zu schenken? läßt sich darüber schwerlich ein Konsens herstellen, so wäre es gerade in Anknüpfung an die letztgenannte pejorative Wendung durchaus denkbar, eine Begriffsbestimmung der >Hermeneutike im Blick auf ihre Verwendung als .polemischer Terminus der z~itgenö~ sischen Philosophiec 4 (unter Einschluß der Sozial- und Geisteswissenschaften) zu versuchen. Wagt man einmal einen groben überblick über die oft ganz heterogenen Diskussionskontexte, so fungiert Hermeneutik in ihnen als GegenbegriJfzuStmkturalismus und Psychoanalyse (Ricaur), Diskursanalyse und >Archäologit! (Foucault), zur Ideologiekritik (speziell der >Kritischen Theorie(), zur Analytischen Philosophie en bloc, zur positivistischen Wissensc1uJftstheorie und ihrem methodologischen Monismus (von Wright), schließlich zu jeglicher systematischen Fundomentalphilosophie und Erkenntnistheorie (Rorty). Ob sich auch nur als eine Art kleinsten gemeinsamen enners zwischen diesen höchst disparaten Begriffsoppositionen so etwas wie eine >Kembedeutunge von >Hermeneutike finden läßt, muß zumindest als fraglich erscheinen. Dabei darf die wörtliche Bedeutung dieses Terminus und seine Begriffsgeschichte als inzwischen weithin unstrinig und gut überschaubar gelten: Abgeleitet von dem Verb t(X.I'l"EUElV mit dem Bedeutungsspeklrum >aussagen, verkünden, auslegen, dolmetschen( (die Herleitung von Hermes, dem Göttetboten, ist eine spätantike Pseudo-Etymologie), meint Hermeneutik (im Sinne einer tQIlTJVEUtlx1'l "ttxvll) ursprünglich ganz schlicht die >Kunst der Auslegungniederes Verstehen< völlig dem ,hö-
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heren Verstehen< von Lebensäußerungen unterordnet und dieses mit der Programmformel »Hineinversetzen, Nachbilden, Nacherleben« umschreibt. 11 Doch mit dieser Erweiterung der Hermeneutik über den von Schleiermacher gezogenen Rahmen der menschlichen Rede hinaus auf sämtliche Lebensäußerungen wird nicht nur jede Differenz zwischen den Gegenständen des Verstehens (einer Rede oder einer Person, einem historischen Ereignis oder einem Kunstwerk) nivelliert, sondern indem Dilthey die Dimension der Sprache überspringt und auf jegliche Bedeutungstheorie verzichtet, bleibt seine hermeneutische Grundlegung am Ende in wiederhohen vergeblichen Anläufen stecken- weit entfernt von einer systematischen Regelgebung, ja auch nur von einem konsistenten Begriff des Verstehens. Eine denkbare Konsequenz aus diesem Scheitern hätte der Versuch einer Rückgewinnung und Ausarbeitung der ursprünglichen Schleiennacherschen Fragedimension sein können. Heidegger hat in Sein lind Zeit den entgegengesetzten Weg eingeschlagen, indem er (abweichend von der gesamten henneneutischen Tradition) lVerstehen( nicht mehr als in~ividuelle Handlung in Abhebung von anderen faßte, sondern rein ontologisch als Wesensbestimmung endlichen Daseins überhaupt, und indem er unter »Henneneutik .. die »Aufdeckung /iles Sinnes des Seins und der Grundstrukturen des Daseins.. verstand, der gegenüber die Methodologie der historischen Geisteswissenschaften (und erst recht die philologische Hermeneutik, über die Heidegger kein Wort verliert) »nur abgeleiteterweise lHermeneutik( genannt werden kann ... 18 Gleichwohl laboriert er hier an ähnlichen Problemen wie schon Dilthey: Der BegriU des lVerstehens< verliert jede konkrete Bestimmtheit, wie sie zur Fundierung einer (im Heideggerschen Sinne) labgeleiteten Hermeneutik( erforderlich wäre. Und dank der nicht-sprachlichen Fassung des Verstehens tritt die Sprache lediglich als» Vorgriff« (d. h. als die jeweils gewählte Begrifflichkeit) der Auslegung in den Blick dieser »Hermeneutik der Faktizität",'Klassiker< der Hermeneutik angesehen werden wie auf anderen Gebieten Cicero, Vergil, Raffael oder Palladio, so auch nicht im Sinne einer ori· ginären Gründerfigur, wie beispielsweise Kopernikus, Galilei, New· ton, Darwin und Einstein als _Klassiker der Naturwissenschaften« bezeichnet werden. Denn gerade so wirkungsmächtige Ideen der Schleiermacherschen Hermeneutik, wie etwa die Programmformel vom Verstehen als Nachkonstruieren (HK 83 (93] u. ö.) oder das Postulat, den Autor besser zu verstehen als er selbst (HK 87 (94] u. ö.), lassen sich auf Friedrich Schlegel (wenn nicht noch weiter) zurückführen; ja es war auch nicht Schleiermacher, sondern Friedrich Ast, durch den die Ideen einer genetischen Interpretation und einer Wechselimplika· lion von Ganzem und Einzelnem aus der romantischen Kunstkritik in die Disziplin der Hermeneutik verpflanzt worden sind. Daher auch das ernüchternde Resümee: _mit Schleiermacher beginnt, ideenge~ schichtlieh gesehen, nichts Neuese. 8 Schließlich kann sich die Apostrophierung Schleiermachers als eines >Klassikers< der Hermeneutik aber auch nicht auf seine Epochenzugehörigkeit beziehen. 1m Gegenteil: von Dilthey als _der Ästhetiker der Romantik« gewürdigt,'" fungiert Schleiermacher in Gadamers Wahrheit und Methode zu Recht als Exponent der >romantischen Hermeneutikklassischen Zeitallen abgesetzt und als Ausgangspunkt der modernen, in Nietzsche und Freud kulminierenden Disziplinen der Interpretation behandelt. II Ist also die Schleiermachersche Hermeneutik vielleicht gerade in dem Sinne >klassisch< zu nennen, daß sie- weder irreduzibel originell in der Substanz noch auch wirklich vollendet in der Durchführungzum Paradigma einer bis heute lebendigen Tradition geworden ist? Zumindest käme dies mit Schleiermachers Verständnis des >Klassischen< überein, daß nämlich _die Klassicität [...] nicht originell zu sein brauchte (HL l8f. [83]): _Das klassische aber muß nicht vorüberge· ~end sein sondern die folgenden Productionen bestimmen« (HK 79
[83]). Für diese fortwirkende Produktivität spricht nun allein schon die innerhalb der hermeneutischen Diskussion von F. Lücke, A. Böckh und 16
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W. Dilthey bis hin zu E. Beni, E. D. Hirsch, P. Szondi und M. Frank nicht abreißende positive Bezugnahme auf Schleiermacher, der gegenüber die Berufung auf seine unmittelbaren Vorgänger oder Nachfolger allenfalls den Versuch einer Akzentverschiebung darstellt. 12 Ober solche expliziten Anknüpfungen hinaus zeugt es aber von der ungebrochenen Wirkungsmächtigkeit der Schleiermacherschen Hermeneutik bis in unsere Tage, daß ihre Substanz- womöglich ohne bewußten Rückgriff-als etwas durchaus Aktuelles reproduziert zu werden vermag: etwa wenn der Hermeneutik von Habermas der »Doppelcharakler eines VerfahrenSe: zugesprochen wird, »das ingrammatischell Zusammenhängen zugleich den empirischen Gehall von individuierten Lebensverhältnissen erschließte:, da jede »einzelne Lebensäußerung [...] gleichzeitig in einen individuellen Lebenszusammenhang eingebettet und in einer intersubjektiv geltenden Sprache buchstabierte: sei. I ) Denn diese Wesensbestimmung ist ohne weiteres rücküberset2.bar in die Begrifflichkeit der Schleiermachersehen Hermeneutik; geht man aber weiter zurück zu Schleiermachers unmittelbaren Vorgängern F. A. Wolf und F. Ast oder gar zur älteren protestantischen Hermeneutik, so sind zwar Reaktualisierungen einzelner Theoreme (z. B. von J. M. Chladen.ius' Theorie des »Sehe-Puncktse( 14) möglich, als ganze gehören jene Hermeneutiken indes einer unwiderruflich vergangenen Diskursformation an. 15 Schleiermacher selbst haue hinsichtlich seiner Hermeneutik durchaus das Bewußtsein eines prinzipiellen Neuansat2.es. Denn ihr lKeimentschluß< war ja gerade aus dem völligen Ungenügen der vorliegenden theologischen und philologischen Hermeneutiken für die Grundlegung seiner ersten exegetischen Vorlesungen (Halle 1805) erwachsen, indem er in jenen l;:war lDeinen Schaz von lehrreichen Beobachtungen und Nachweisen. und »von einzelnen aus jenen Beobachtungen der Meister zusammengetragene[n] Regeln. fand - »aber es fehlte ihnen selbst die rechte Begründung weil die allgemeinen Principien nirgends aufgestellt waren und ich mußte also meinen eigenen Weg einschlagen. (HK 123f. [309f.]). Die offenkundige Ungerechtigkeit dieses (auch von Dilthey wiederholten 16) Urteils über die Aufklärungshermeneutik einmal dahingestellt, zeigen Schleiermachers damals zu Papier gebrachte lAphorismen( Zur Hermeneutik (HK 29-50), wie er im kritischen Durchgang durch J. A. Emestis und S. F. N. Morus' Hermeneutiken des Neuen Testaments 17 seinen nie 17
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vollendeten )eigenen Wege zur Hermeneutik als einer »Kunstlehreo: gefunden hat, die »von der einfachen Thatsache des Verstehens aus· gehend aus der Naturder Sprache und aus den Grundbedingungen de~ Verhältnisses zwischen dem Redenden und Vernehmenden ihre Regeln in geschlossenem Zusammenhang entwikkelt« (H K 156 [346]).'~ Gleich der erste )Aphorismus( markien einen scharfen Schnitt gegenüber der überkommenen Hermeneutik, indem Schleiermachel ihre AufgabensteIlung - unter Verzicht auf die traditionelle »subtilitas explicandi« (IAuslegung() und erst recht auf die »subtilitas applicandi« ()Anwendung() 19 - nunmehr allein auf die »subtilitas inlelligendi« (~Verstehen,) beschränkt (HK 31); die Ausklammerung der juristischen Hermeneutik (H K 126 u. 159) ist nur eine logische Folge aus dieser Neubestimmung der Hermeneutik als einer »philologischen Disziplin«.:W Diese programmatische Einengung auf eine »Kunst des Verstehens« (HK 75 [75]) bedeutet aber zugleich eine wesentliche Vereinheitlichung und Ausdehnung des Feldes der Hermeneutik: denn sie beseitigt nicht allein die Schranken zwischen den Spezialhermeneutiken der christlichen Theologie und der Klassischen Philologie und erweitert ihren Bereich gleichermaßen auf die orientalische wie die )romantische( Literatur (HK 126f. (312]), sondern diese Neubestimmung macht darüber hinaus auch alle nicht-literarischen Redeäußerungen - seien es Zeitungsartikel und -inserate, sei es das »gemeine Gespräch« - zum möglichen Gegenstand der Auslegungskunsl (HK-J29f. (314]).
Dabei läßt es Schleiermacher keineswegs mit einer bloßen Antithese zur Aufklärungshermeneutik bewenden, in der er ja durchaus einen »Schaz von lehrreichen Beobachtungen« und daraus »zusammengetragenern) Regeln« erblickt - freilich nur in Form eines »Aggregat[sJ von Observationen« und daher keiner S1.rengeren wissenschaftlichen Forderung genügend (HK 75 (75), 124 [309f.] u. ö.). Besonders seine Darstellung der »Kanones« der »grammatischen Auslegung« (HK 86-103, HL 41-142 (101-165]) erscheint unter diesem Blickwinkel im wesentlichen als der Versuch einer methodischen Rekonstruktion jener Auslegungsregeln, wie sie sich bei seinen Vorgängern gesammelt finden, etwa unter den Rubriken: )Von der Bedeutung und dem Sinn der Wöner und Redensanen
G. F. Meiers Versuch ejneral/gemeinen Auslegungskunst fixien damit Positionen, die von der Aufklärungshermeneutik über mehr als ein halbes Jahrhundert nicht in Frage gestellt werden sollten; und mag man auch in seiner aArchitektonik und Symmetrie« (mit Dilthey) anur blinde Fenster, durch die niemand sehen kann«:J erblicken, so ist dieser schmale Vorläufer der von Schleiermacher geforderten aallgemeinen Hermeneutikc (HK 55, 76(75), 123 u. ö.) doch die bündig· ste Widerlegung jenes Klischees von der vorschleiermacherschcn Hermeneutik als eines bloßen Aggregats von Regeln, das einer Begründung durch allgemeine Prinzipien ermangelte." Dagegen zeigt sich die historische Janusköpfigkeit von Meiers Versuch auf geradezu krude Weise in dessen abschließender apraclischer Auslegungskunst« (§§ 249-271): Denn von der aheilige(n) oder theologische(n]_, der ajuristische(n]c und der asittlichen Auslegungskunstc (§§ 251-253) über die aAuslegung der hieroglyphischen Zeichenc, a Wapenc und aMünzenc (§§ 266-268) sowie die asittJiche Physiognomiec und aTraumdeutereyc (§ 269) bis hin zur aemblematische(nJ Ausle· gungskunstc (§ 271) werden hier unterschiedslos alle erdenklichen Gebiete aufgezählt, in denen die _Regeln der allgemeinen Auslegungskunstc angewendet werden können (§ 249); wobei die amantische Auslegungskunstc (z. B. aAstrologie«, aTraumdeuterey_, aAugurium«, aWahrsagung au( den Namen (und] Zahlenc (Versuch
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§§ 256-265]) ohne auch nur eine Andeutung von Kritik den weitaus breitesten Raum einnimmt. Doch nicht genug, daß dieser wahrhaft )barocke< Katalog von Spezialhenneneutiken keine Nachfolge unter den Henneneutikern des 18. lahrhundens gefunden hat:' so hat auch Meiers Idee einer _Auslegungskunst im weilern Verstandee als einer allgemeinen _Wissen_ schaft der Regeln. durch deren Beobachtung die Bedeutungen aus ihren Zeichen können erkannt werdene (V~nuch § I), in der weiteren Entwicklung der Aufklärungshenneneutik keine nennenswerte Rolle zu spielen vermocht, so daß noch Schleiermachers philologischer Lehrmeister F. A. Wolf als Desideral notierte: Bis jelzt haben wir über die allgemeine Henneneulik wenig Befriedigendes. Diese philosophische Disciplin beschäftigl sieh im Allgemeinen mit der Erklärung \Ion Zeichen. Henneneutica generalis est disciplina signorum explicanckr rum. Alle Arten von Zeichen kommen bei dieser in Betrachtung, sogar die Himmelszeichen, auf die der Augur achtet. 4 •
Schleiennaeher jedenfalls hat eine solche _Hermeneulica generaIise irp Sinne einer )allgemeinen Semiotik( nie als seirae Aufgabe belrachlet; bestimmt er doch - darin ganz in der Tradition der protestantischen Auf1c.lärungshermeneutik - die Hermeneutik als _die Kunst, die Rede eines andem, vornehmlich die schriftliche, richtig zu verstehene (HL 3 [71]), und rechnet es ausdrücklich zu den _bestimmten Grenzen der Hermeneutike, daß sie es _immer nur mit dem in der Sprache producirten zu Ihun haben kanne (HK 152 (342]). Mit dieser programmatischen Begrenzung der Hermeneutik auf den Bereich der sprachlichen Zeichen wird nun aber endgültig der traditionellen Auslegung nach dem mehrfachen Schriftsinn der Boden entzogen - wie ja schon 1. A. Emesli belont hatte: Ipse ille rypicus smsus. quem vocam, proprie non eSI sensus, quem in arie vocarnus. Esl enirn non verborum. sed rerurn. Quas Deus voluil esse signa rerurn futurarum. Nec in co quaerendo opus esl inlerprelis cura et ingenio. 4 '
Mag dies auch als eine .gewisse Verarmunge für die Hermeneutik erscheinen,4! so ist diese Be~hränkung auf einen einzigen Schriftsinn doch zugleich durch eine wachsende Differenzierung der AuslegUIIgsmelhodell begleitet, die über den Text hinaus zunehmend auch dessen Autor und seine Intentionen ins Spiel bringl und die schließlich in die Schleiermachersche Entgegensetzung von _grammatischere und _psychologischer Interprelatione mündet. 23
In ihrer Friihphase hatte sich die Aufklärungshermeneutik noch eindeutig auf das ,vollkommene Verstehen( eines gegebenen Textes als solchen, nicht aber der Meinungen und Absichten seines Verfassers gerichtet. So betont J. M. Chladenius in seiner Einlei/ung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften (1742): Weil die Menschen nicht alles übersehen können. so können ihre Wone. Reden und Sdtrifften etwas bedeuten. was sie selbst nicht willens ge....·cscn zu reden oder zu sdtrdben: und folglich kan man, indem man ihre Schrifften zu versle· hen suchl. Dinge, und zwar mit Grunddabey gedencken. die denen Verfassern nichl in Sinn kommen sind. Es kan auch gegenseitig geschehen. daß ein Mensch sich einbildet, seine Meynung so vorgetragen zu haben, daß man ihn vollkommen verslehen müsse, und in seinen Worten ist doch wol nichl alles anzulreffen. was seinen Sinn vollkommen zu vernehmen uns in Sland selzte. Daher iSI bey alten Reden und Schrifften zweyertey, den Sinn des Verfassers, oder den Verfasser vollkommen verstehen. und die Rede oder Schrirft an sich betrachlct. vollkommen verstehen. 4 '
Wenn überhaupt, so sei es allenfalls bei der >Anwendung( (in Chladenius' Tenninologie: dem »minelbaren Verstande) erforderlich, auch auf die Absicht des Verfassers zu sehen. so Dagegen heißt es bald darauf in Meiers Versuch einer al/gemeinen AuslegungskufUt: »Wenn man die Rede eines Autors auslegt, so sagt man, daß man den Aulor selbst auslegee (§ 110). Und dies ist nicht etwa eine laxe metonymische Redeweise, sondern eine logische Konsequenz aus Meiers Fundierung der »Auslegungskunste durch den Vorstellungsbegriff, derzufolge der »Sinn einer Redee nichts anderes ist als eben »diejenige Reihe mit einander verknüpfter Vorstellungen, welche der Autor durch die Rede bezeichnen wille (ebd. § 112). Demgemäß ist es hier lediglich der »buchstäbliche Sinll, oder Ver· stand, (sensus IitteriC)e, der »aus den einzeln Worten, Redensarten und Wortfiigungen [...] ohne Beziehung auf.den Autore erkannt werden kann (ebd. §§ 114 u. 142), während der volle »unmittelbare Sinn. oder der Wortverstand der Rede, (sensus litteralis)« geradezu mit der »WiUens~einung oder Begierde des Autorse zusammenfällt (ebd. §§ 116 u. 162). Dieser Dualismus bestimmt - wenn nicht terminologisch, so doch der Sache nach s , - die gesamte spätere Aufklärungshermeneutik, repräsentierl vor allem durch die konkurrierenden Schulrichlungen der 'grammatischen Interpretation< Ernestis und der >historischen Interpretation< Semlers:
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Die grammatische Interpretation (...] untersucht die BedeulUng einzelner Wone und ganzer Redensarten und Sätze; die historische Interpretation untersucht näher, was und wie viel ein Verfasser bey seinen Werken gedacht, welche Begriffe er genau damit verbunden und gewollt hat, daß andere die nämlichen Begriffe damit verbinden sollen. 51
Tatsächlich sind in der so konzipierten »historischen Interpretation« bereits entscheidende Momente der Schleiermacherschen ltps~· chologischen Auslegung« vorweggenommen: die Einbeziehung der ltgesamte[n] Beschaffenheit des Urhebers einer Rede« in die hermeneutischen Untersuchungen,53 die Frage nach den lt Vorstellungen [...] seiner ersten Leser« als weiteres Spezifikationskriterium der Auslegung,54 ja selbst die methodische Maxime: Man vergesse ganz die Begriffe seiner Zeit. die An, die Gegenstände sich vorzustellen, ihre Ursachen zu erklären, und die ganze Art zu denken, die wir haben. und versetze sich ganz in das Zeitalter, in welchem der zu erklärende Schrihsteller lebte. und mache sich mit seiner Vorstellungs- und Denkungsart, Begriffen. Unheilen recht vertraut."
Freilich bleibt es im Rahmen der Aufklärungshermeneutik ausgeschlossen, daß grammatische und historische Interpretation in einen echten Gegensatz treten könnten; etwa wenn K. A. G. Keil, als einer ihrer letzten bedeutenden Theoretiker,.betont: Diese grammatische Erklärung ist indeß von der (...] historischen Interpretation (... 1keinesweges verschieden, und kann daher auf keine Weise von ihr getrennt, oder ihr entgegengesetzt werden, vielmehr sind beyde auf das genaucste mit einander verbunden. Die historische kann und darf nie eine andere, als grammatische seyn; dagegen soll und muß aber auch die grammatische immer eine historische seyn. S6
Mochte dies aus einer Schleiermacherschen Perspektive wie eine bloße Beschwörung erscheinen, so beruhte diese Harmonisierung doch auf prinzipiellen Gründen. War es nämlich die für die Aufklärung charakteristische Engführung von Sprach- und VorsteUungstheorie, die zur Proklamation der Autorintention als Verstehensnorm und damit zur Ausdifferenzierung von grammatischer und historischer Interpretation geführt hatte, so wurde zugleich deren vollständige Kommensurabilität durch die Dominanz des Vorstellungsbegriffs in beiden Interpretationstypen garantien, indem sowohl der vom Autor intendierte lt Verstand einer Redet: wie auch die davon unabhängigen ltBedeutungen der Wone« gleichermaßen als >Vorstellungen< begriffen wurden. 57
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Diese Harmonisierung beider Interpretationsgesichtspunkte - des auf die rein sprachliche Seite und des auf den Verfasser und seine Intentionen gerichleten - wurde gege~ Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend durch Entwicklungen außerhalbdereigentlichen hermeneutischen Schultradition erschültert: einerseits durch das wachsende Eigengewicht beider Seiten der Auslegung im Rahmen der Herdersehen Sprach- und Literaturtheorie, andererseils durch die im Zuge der Enlfallung der idealislischen Philosophie erfolgte Enlthronung des Vorstellungsbegriffs als fragloser Vcrmiulungsinstanz. Und wenn Schleiermachers Auseinandersetzung mit der Aufklärungshermeneutik von vornherein nicht nur auf ihre methodische Rekonstruktion, sondern mindestens ebenso sehr auf ihre prinzipielle überwindung hinauslief, so beruhte dies in hohem Maße auf seiner frühen und entscheidenden Prägung durch eben jene, den Horizonl des Aufklärungsdenkens Iranszendierenden Geistesströmungen. Einerseits hatte die sprachliche Auslegung lileraTischer Werke schon beim frühen Herder eine ganz neue Dimension hinzugewonnen; denn seiner überzeugung nach ist die Sprache nicht nur als mehr oder minder neutrales »Werkzeug« anzusehen, sondern auch als »Behält· niß«, ja darüber hinaus als prägende »Form« der Literatur und Wissenschaft, die »der ganzen Menschlichen Erkenntniß Schranken und Umriß (...) giebt«58: In diesem Gesichtspunkt wie groß wird die Sprache! Eitlt! Schatzkammer Menschlicher Gedanken, wo jeder aur seine An etwas beitrug! eint Summe der Würksamkeil aller Menschlichen Seelen. ",
Wenn Herder so an der aufklärerischen Sprachauffassung krilisiert, daß sie offenbar »nichts als Wortelymologien und Namenregislcr kenne« (Fragmente 22),60 und er staU dessen das Sludium der Sprachen vornehmlich auf den »große[nJ Gedankenvolle[n] Raum, den sie einschließen« (ebd. 13), gerichtet wissen will, so ist damit der entscheidende Schrill getan zu der von Schleiermacher proklamierten Verwandlung der »grammatischen Interpretation« aus einer bloßen Aneinanderreihung von (sei es aus Lexika, sei es aus dem unmittelbaren Kontexi und ParallelSIelIen gewonnenen) Worterklärungen in ein »Verstehen aus der TOIalität der Sprache« (HK 77 [78]) - gelreu der Herderschen Devise: Die Lineratur wuchs in der Sprache, und die Sprache in der Litteratur: unglücklich ist die Hand, die beide zerreißen. triiglich das Auge. das eins ohne das andere sehen will. (Fragmt'nte 19)
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Aber auch die andere Seite der Schleiermacherschen Hermeneutik, die aus der überkommenen lIhistorischen lnterpretation« hervorgegangene lIpsychologische Auslegung« sprachlicher Äußerungen lIaus dem ganzen Leben«, d. h. 1I31s Lebensmoment des Redenden in der Bedingtheit aller seiner Lebensmomente« (HL 13(78)), ist noch weil über die Ansätze der Aufkläru.ngshermeneutik hinaus bereits bei Herder vorgebildet. Und zwar finden sich in zwei Absätzen der Schrift Vom Erkennen IIl1d Empfinden der menschlichen Seele wie in einer Nußschale alle entscheidenden Grundgedanken versammelt: die Programmformel, .man soUte jedes Buch als den Abdruck einer lebendigen Menschenseele betrachten können«; die Anweisung, lImehr im Geist des Urhebers, als im Buch zu lesen«, denn lIdas Leben eines Autors ist der beste Commentar seiner Schriften«; schließlich die Versicherung, daß lIdies lebendige Lesen, diese Divination in die Seele des Urhebers das einzige Lesen und das tiefste Mittel der Bildung« sei lIeine Art Begeisterung, Vertraulichkeit und Freundschaft, (...J die eigentlich das, was man Lieblingsschrlftste//er nennt, bezeichnet,.61 Dennoch ist die Schl~iermachersche Hermeneutik durch eine prinzipielle Differenz von diesen weitreichenden Antizipationen unterschieden. Denn nicht anders als in der Aufklärungshermeneutik, wird das Verhältnis zwischen der auf die Sprache und der auf den Autor und sein Leben gerichteten Seite der lnterpretation auch bei Herder nirgends zu einem Problem; freilich ist es hier der Begriff des >LebensVorstellung( -zu einer erheblichen Vertiefung und Dynamisierung beider Seiten der Auslegung beiträgt,62 so unübersehbar sind doch (gerade im Vergleich zur Schleiermachersehen Hermeneutik) die durch seine Dominanz bedingten Einengungen des hermeneutischen Untersuchungsfeldes: lndem nämlich das literarische Werk einzig als unmittelbarer lIAbdruck einer lebendigen Menschenseele« verstanden werden solJ,6J müssen Fragen seiner bewußten Komposition wie überhaupt der literarischen Technik innerhalb einer so getaßten autorbezogenen Interpretation weitgehend außer Betracht bleiben; bei Schleiermacher dagegen bildet diese lItechnische Seite, neben der lIrein psychologischen« einen gleichberechtigten Hauptteil der lIpsychologischen Auslegung« als ganzer (vgl. HL 149ft. [179ft)). Was aber die sprachbezogene Seite der Auslegung angeht, so hai Herde[S Betonung der Lebensbezüge der Sprache eine
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ausgesprochen anti-formale Stoßrichtung - gemäß seiner frühen Parole: »Weg also Grammatiken und Grammaükcr.e 64 Denn seiner Oberzeugung nach muß» je ursprünglicher die Sprache [ist}, desto weniger Grammatik in ihr seyn, und die älteste ist blos das {...} Wörterbuch der Natur!e 65 Tritt demnach bei Herder (kaum anders als in der Aufklärungshermeneutik) der morphologisch-syntaktische Aspekt der Sprache fast gänzlich hinter dem lexikalischen zurück - »wer wird blas bei der dürren Form der Sprache stehen bleiben, da das Materielle, was sie enthält, der Kern ist?e (Fragmente 13) -, so entspricht es dagegen der seit .Beginn des 19. Jahrhunderts zunehmenden Hinwendung zur »grammatischen Strukture als primärer Schicht der Sprachen," daß bei Schleiermacher innerhalb der .grammatischen Auslegunge das »formelle Element« der Sprache völlig gleichberechtigt neben dem .materiellene behandelt wird (H K 92 (117]). Mit der Fortführung jener Herdersehen Impulse bei gleichzeitiger Aufhebung ihrer formfeindlichen Restriktionen mußte sich nun freilich die Frage nach dem Verhältnis von sprach- und autorbezogener Interpretation in bis dahin ungeahnter Schärfe stellen. Denn es war ja gerade die Orientierung am Begriff des >LebensVorstellung< aber hatte eben in der Konstitutionsphase der Schleiermachersehen Hermeneutik seine philosophische Schlüsselstellung und damit auch seine frühere Geltung als fraglose Vermittlungsinstanz zwischen beiden konträren AuslegungsrichtuDgen endgültig eingebüßt. 67 Seit dem Beginn der neuzeitUchen Philosophie zunehmend im Schwange, war der Begriff der repraeselltatio (>Vorstellungetwas Darstellen, Vertreten, Ausdrücken< verstanden," gewann die· serTerminus in wachsendem Maße eine subjektiv-psychologische Be· deutung, ja im Laufe des 18. Jahrhunderts trat die obligatorische Ob· jektrelation der >V~)fStellungen< zunehmend hinter ihrer selbstreOexi· ven Beziehung auf das Subjekt des Vorstellens lurück. 69 Diese begriffsgeschichtliche Entwicklung kulminierte in Kants Behandlung der »Vorstellung überhaupt (repraesentatio)« als allgemeinsten Gat-
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IUngsbegriffs der theoretischen Philosophie,70 woraufhin sein Schüler K. L. Reinhold in dem VerSIIch einer "elletl Theorie des menschlichen Vorste/lungsvermögens (1789) und besonders der Neuen Darstellung der Hallptmometlteder E/ememarphilosophie (1790)71 den Begriff der Vorstellung sogar als oberstes Deduktionsprinzip der gesamten Philo· sophie proklamierte. 72 So bestechend freilich die Reinholdsche Theorie in formaler Hinsicht als systematische Rekonstruktion der Kantschen Philosophie er· scheinen mochte, so kollidierte sie doch gleich mit zwei ihrer zentralen Lehrstücke: dem Primat der reinen praktischen über die spekulative Vernunft und der Behandlung des Ich (und nicht etwa der Norstel· lun~() als höchsten Punkt der Transzendentalphilosophie. 73 Die ~. struktion des Begriffs der Norstellung< als möglichen Grundprinzips der Philosophie ließ denn auch nicht lange auf sich warten, ja sie bil· dete eines der wichtigsten Motive der Fichteschen Wissenschafts/ehre und damit des romantischen Philosophierens überhaupt. Denn indem Fichte seit seiner Aenesidemus·Rezension (1793)74 und den Eignen Meditllliotlen über E/emetltarPhilosophie (1793/94)'5 die bei Rein· hold überspielte Frage nach dem Subjekt der Vorstellungen zum Deduktionsprinzip erhob und den Begriff der Vorstellung durch den des Handeins ()SetzensconieclurapsychologischeErlebnisausdrucks< bei Dilthey, ja bei Heidegger zu einer fundamentalonlologisehen _Hermeneutik der Faktizitätc;129 schließlich zur philosophischen Universalisierung des Verstehensbegriffs durch Dilthey, Heidegger und Gadamer. Mag Schleiermachers Hermeneutik auch in aJl diesen Fragen als inzwischen mehroder minder >überholte erscheinen: in ihrer bislang unerreichten spannungsvollen Verbindung von philosophischer Grundlegung, systematischer Struktunerung und materialer Durchdringung des gesamten Feldes der philologischen Hermeneutik und in ihrem exemplarischen Charakter für alle seitherigen 1ntegrationsversuche dieser Disziplin wird man sie - trotz ihrer offensichtlichen Unvollkommenheiten - nichl anders als >klassische nennen können.
Anmerkungen I Wilhelm Dihhey, Leben Schleiennachers, Bd. 2: Schleiennachers System als Philosophie und Theologie, hrsg. v. M. Redeker. Göttingen 1966 ('" Ge· sammelte Schriften, Bd. 14/1.2), S. 32. 2 Fr{iedrich] D[aniel] E{mst] Schleiennacher, Hermeneutik, nach den Handschriften neu hrsg. u. eingel. v. H. Kimmerle, Heidelberg 21974 ("" Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, philos.·histor. Kl.. Jg. 1959, Abh. 2), S. 121-156 (künftig zitiert als HK; slau S. 73--105 u.
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106-110 hat die 1. Aufl., Heidelberg 1959, die abweichende Paginierung: S. 77-109 u. 72-76); vgl. auch die leicht zugängliche und mit einer ausführlichen Einleitung versehene Taschenbuchausgabe: F. D. E. Schleiennacher, Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers, hrsg. u. eingel. v. M. Frank, Frankfurt/M. 1917, dort S. 309-347 (wo immer möglich, Seitenzahlen dieser Ausgabe künftig in eckigen Klammem hinzugefügt). 3 Friedrich Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, hrsg. v. H. Scholz, (Repr. der Ausg. Leipzig 1910), Dannstadt ~ 1917, S. 52-55 (1. Aufl. 1811: §§ 23-32; 2. Auf!. 1830, §§ 132-140). 4 F. Schleiermacher, Platons Werke, Th. 1-3.1 (mehr nicht erschienen}, Berlin 1804-1828. 5 Friedrich Schleiermacher, Herakleitos der dunkle, von Ephesos. dargestellt aus den Trümmern seines Werkes und den Zeugnissen der Alten, in: ders., Sämmtliche Werke. I. Abth.: Zur Theologie, Bd. 1-13 rBd. 9 u. 10 nicht erschienen]; U. Abth.: Predigten, Bd. 1-10; III. Abth.: Zur Philosophie, Bd. 1-9, Berlin 1835--1864, hier In. Abth., Bd. 2, S. 1-146 (künftig zitiert als
S.w.). 6 Friedrich Schleiermacher, Ueber den sogenannten ersten Brief des Paulos an den Timotheos. Ein kritisches Sendschreiben an J. C. Gaß (S. W. I, 2, 221-320); ders., Ueber die Schriften des Lukas, ein kritischer Versuch (ebd. S. V-XVI u. 1-220); ders., Ueber Kolosser I, 15--20 (ebd. S. 321-360); im übrigen bilden seine umfangreichen exegetischen Vorlesungen über das Neue Testament einen HauplIeil des unveröffentlichten Schleiennacher-Nachlasses im Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin. 7 Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament, aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen hrsg. v. F. Lücke, Berlin 1838 (= S. w. 1,7) (künftig zitiert als HL); wiederabgedruckt in der Ausgabe von Manfred Frank (s. o. Anm. 2), S. 69-237. 8 Peter Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik, hrsg. v. J. Bollack u. H. Stierlin, Frankfurt/M. 1975 (= Studienausg. der Vorlesungen, Bd. 5), S. 135; für detaillierte Nachweise vgL Hendrik Birus, Hermeneutische Wende? Anmerkungen zur Schleiermacher-Interpretation, in: Euphorion 74 (1980), S. 213-222, bes. S. 219 (f. 9 Dilthey. Leben Schleiermachers, Bd. 2, S. 443. 10 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen ·1975, S. 162-185. tl Vgl. Michel Foucault, Qie Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, (Les mots et les choscs. Une archeologie des scienees humaines, Paris 1966, übs. v. U. Köppen), Frankfurt/M. 1971, S. 111 (Originalausg. S. 89 - künftig in eckigen Klammem). 12 Etwa die Rückdatierung der lhermeneutischen Wendel auf Friedrich Schlegel (vgl. Josef Körner [Hg.], Friedrich Schlegels .Philosophie der Philologie., in: Logos 17 (1928), S. 1-72, u. Hermann Patsch, Friedrich Schlegels • Philosophie der Philologie. und Schleiermachers frühe Entwürfe zur Herme-
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neutik. Zur Frühgeschichte der romantischen Hermeneutik, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 63 I I966J, S. 434--472, bes. S. 464 f.) oder auf Friedrich Ast (vgl. Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik, S. 152, u. Tzvetan Todorov, Thoories du symbole. Paris 1977, S. 216 ff.); andererseits die Herausstellung von August Böckhs innovatorischer Bedeutung (vgl. Ingrid Strohschneider-Kohrs, Textauslegung und hermeneutischer Zirkel. Zur Innovation des Interpretationsbegriffes von August Boeckh, in: HeUmut Flashar/Karlfried Gründer/Axel Horstmann [Hgg.], Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhunden. Zur Geschichte und Methodologie der Geisteswissenschaften, Göttingen 1979, S. 84-102, u. andere, ebd. S. 323-331, bes. S. 324). 13 Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse. Mit einem neuen Nachwon, Frankfun1M. 11973, S. 218 f. 14 Vgl. Johann Martin Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften, Ein!. v. L. Geldsetzer,(Repr. der Ausg. Leipzig 1742), Düsseldorf 1969, S. l87ff. (§§ 309ff.); als Vorform der historischen Methodik behandelt bei Joachim Wach, Das Verstehen. Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Theorie im 19. Jahrhunden, Bd. 1-3, Tübingen 1926-1933, hier Bd. 3, S. 23-32, bes. S. 27 f., u. bei Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik, S. 79--86; kritisch dazu Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 171. 15 Zum Begriff der ,Diskursformation' vgl. Michel Foucault, Archäologie des Wissens, (L'archeologie du savoir, Paris 1969, übs. v. U. Köppen), Frankfurt/Mo 1973, S. 48--60 (Originalausg. S. 44-54), sowie Foucaults - noch eindeutig semiotisch orientierte - »Reponse au Cercle d'epistemologiee, in: Cahiers pour l'Analyse 9 (1968), S. 9-40, bes. S. 21-29. 16 Vgl. Wilhelm Dilthey, Die Entstehung der Hermeneutik, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 5, Stuttgart/Göuingen '1974, S. 317-338, bes. S. 320 u. 326 f.; vgl. aber dagegen die ungleich differenziertere Darstellung in Diltheys früher >Preisschrifl( über die Schleiermachersehe Hermeneutik im Vergleich zur älteren protestantischen Hermeneutik, z. B. den Abschnitt über S. J. Baumganens hermeneutisches System, in: Dillhey, Leben Schleiermachers, Bd. 2, S. 595-787, hier S. 622ff. 17 lolannes] Augustus Ernesti, Institutio Interpretis Novi Testamenti, Leipzig 1761 (u. ö.); Sam[uel] Frid[ericus] NathanlaelJ Morus, Super Hermeneutica Novi Testamenti Acroases Academicae, hrsg. v. H. C. A. Eichstaedt, Bd. 1. 2, Leipzig 1797 u. 1802; vgl. hierzu im einzelnen die Nachweise in HK 169 ff. Ferner bezieht sich Schleiermacher ausdrücklich (HK 123) auf die auf F. A. Wolfs Vorlesungen basierende »Encyclopaedia philologicae Georg Gustav Fülleboms (hrsg. v. D. 1. S. Kaulfuss, Vratislaviae [d. i. Breslau, nicht Bratislava, wie Heinz Kimmerle in HK 175 angibt) :11805). 18 Vgl. hierzu auch die .Einleitunge zu Schleiermachers HermeneutikVorlesung (HK 75-86 (75-98]) sowie - als komprimierteste Formulierung dieses Programms - die §§ 132f. der 2. Aun. von Schleiermachers »Kurzer Darstellung des theologischen Studiumse (S. 53). 19 Entsprechend die scharfe Gegenüberstellung von .Auslegunge und .Nuzanwendunge in der 2. Akademierede (HK 155 [345]); vgl. hierzu Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 173 u. 290-295.
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20 Schleiennacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums, S. 54 (§ 28 der I. Aun.); entsprechend auch HL 3e. (71 f.] u. HK 126. 21 Karl Wilhelm Ferdinand Solger an Ludwig Tieck, I. I. 1819, in: Tieck and Solger, The Complete Correspondence, hrsg. v. P. Matenko, New York, Berlin 1933, S. 507; als zugleich »polemisch und assimilierend.. wird Schleiermachers Verhältnis zur Aufklärungshenneneutik auch von Dilthey charakterisiert (Leben Schleiermachers, Bd. 2, S. 685). 22 Vgl. hierzu Henri du Lubacs Monumentalwerk: Exeg~ mMievale. Les quatre sens de I'ecriture, Bd. I1t .2, IU1.2, Paris 1959. 1961, 1964, u. Friedrich Ohly, Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter, in: den., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Dannstadt 1977, S. 1-31. bes. S. 13 ff. 23 In seinem Kapitel über die »Fragwürdigkeit der romantischen Henneneutikc hat Gadamer diese Verschiebung im wesentlichen Schleiermacher zugeschrieben (vgl. Wahrheit und Methode, S. 162-185, hier S. 174 ff.); Szondi steht weitgehend im Bann dieser Interpretation und stellt Schleiermacher lediglich F. Ast zur Seite (vgl. Einführung in die literarische Hermeneutik, S. 143 u. 157). 24 Darin deckt sich die- von FOUC8Ult bewußt ausgeklammene- Bibelexegese mit der Zeichen- und Sprachtheorie des 18. Jahrhunderts (vgl. FouC8ult, Ordnung der Dinge, bes. T. I, Kap. 3 u. 4, sowie seine »Introduetion .. zu: (Antoine] Arnauld/[Claude] Lancelot, Grammaire generale et raisonnee, Rcpr. Paris 1969, S. I-XXVII). 25 Hugo de S. Victore, Excerptionum Allegoricarum libri XXIV, in: J[acques]-P[aul] Migne (Hg.), Patrologi:;t: Cursus Completus, Sero Lat., Bd. 1-217. Paris 1844-1864, hier Bd. 177, Sp. 191-284, bes. Sp. 205 B (künftig zitiert als PL); vgl. schon Augustins »Oe Doctrina Christiana Libri IV.. (I, i-ii [1-2)), in: Aure1ius Augustinus, Opera, T. lVII, (hrsg. V. J. Martin), Tumhout 1962 (= Corpus Christianorum, Sero Lat., Bd. 22), S. 6 f: Hierzu und turn Folgenden vgl. Ohly, Vom geistigen Sinn des Wortes, S. 3ff., u. Hennig Brinkmann, Mittelalterliche Hermeneutik, Dannstadt 1980, bes. S. 21 ff. 26 Vgl. Apparatus anonymi cujusdam scholastici, ad vulgarem Rabani AIlegoriarum editionem, in: J[oannes) B[aptista] Pitra (Hg.), Spicilegium Solesmense (... 1, Bd. 3, (Repr. der Ausg. Paris 1855), Graz 1963, S. 436-445, hier S. 436f.; einen allgemeinen überblick gibt Gerhard Ebelings Artikel »Hermeneutik.. , in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, hrsg. V. K. Galling (u. a.], Bd. 3, Tübingen 31959, Sp. 242-262, bes. Sp. 249[, 27 Vgl. Karl Holl, Luthers Bedeutung für den Fortschritt der Auslegungskunst, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. I, Tübingen J 1923, S. 544-582, bes. S. 55 1 ff. u. 578; ferner Gerhard Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung. Eine Untersuchung zu Luthen Hermeneutik, München 1942, U. ders., Die Anfange von Luthers Hermeneutik, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 48 (1951), S. 172-230, bes. S. 175f. 28 Martin Luther, Werke. Kritische Gesamtausgabe, [2. Ab!.:] Tischreden, Bd. 1-6, Weimar 1912-1921, hier Bd. 5, S. 45, Nr. 5285; in einer anderen Tischrede bezeichnet Luther die Auslegung nach dem vierfachen Schriftsinn geradezu als »lmpietasc (ebd. Bd. 2, S. 315, Nr. 2083 A). Nicht minder dra-
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stisch charakterisiert er dieses Verfahren an anderen Stellen als Produkt des ,Müßiggangs< und der ,Geistesschwäche< (De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium (1520], in: Luther, Werke. Kritische Gesammtausgabe, (I. Abt.), [bisher:] Bd. I-58, Weimar 1883ff., hier Bd. 6, S. 484-573, bes. S. 567), als ,Possen< (nuga~) (Enarrationes epistolarum et evangeliorum, quas postillas vocant (1521]. in: ebd. Bd. 7, S. 458--537, hier S. 533), als ,Sophisterei< (Predigten 1524, in: ebd. Bd. 15, S. 527) und lIwechsern nasene (Predigten 1538, in: ebd. Bd. 46, S. 465). 29 ,Denn eine Rede, die nicht einen einzigen und einfachen Sinn hat, lehrt nichts Bestimmtes.< - Vgl. den Abschnitt liDe quatuor sensibus saCTarum lite· rarume in Philipp Melanchthons lIElementorum Rhetoriees libri duoe, in: den., Opera quae supersunt omnia, hrsg. v. C. G. Bretschneider, Bd. 13, Halle 1846 (: Corpus Reformatorum, Bd. 13), Sp. 417-506, hier Sp. 466ff. 30 Georg Friedrich Meier, Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst, (Repr. der Ausg. Halle 1757), Einl. v. L. Geldsetzer, Düsseldorf 1965 (künftig zitiert als Versuch mit durchlaufender Paragraphenzählung). 31 Gerade vor dem Hintergrund der minelalterlichen Exegese kann schwerlich davon die Rede sein, daß G. F. Meier in einem >vielleicht verhängnisvollen Schritt< den Bereich der Hermeneutik auf die Gesamtheit der Zeichen überhaupt ausgeweitet habe; so Lutz Geldseuer in: ebd., Einleitung S. XVI. 32 Denn: lIVOceS ex humana, res ex divina institutione significante (Hugo de S. Victore, Speculum in Mysteriis Ecclesiz. in: PL 177, Sp. 335-380, hier Sp. 375). Oder an anderer Stelle bei Hugo von SI. Vielor: lIPhilosophus [sc. Aristoteles] in aliis scripturis solam vocum novit significationem; sed in sacra pagina excellentior valde est rerum significatio quam vocum: quia hanc usus constituit, iIlam natura dictavit. Hzc hominum vox est, illa Dei ad homines. Significatio vocum est ex placito hominum: significatio rerum naturalis est, et ex operatione Creatons volentis quasdam res per alias significari.e (Oe Scripturis et scriptori. bus sacris prznotatiunculz, in: PL 175, Sp. 1-28, hier Sp. 20f.) 33 liEst etiam longe multiplicior significatio rerum quam vocum. Nam paucz voces plus quam duas aut tres significationes habent; res autem quzlibet tarn multiplex potest esse in significatione aliarum rerum, quot in se proprietates visibiles aut invisibiles habet communes aliis rebus.e (Hugo von St. Victor, Oe Scripturis, Sp. 21.) Entsprechend heißt es in Hugos von St. Vietor lIExcerptiones Allegoricze: 11 Voces non plus quam duas aut tres habent significationes. Res autem tot possunt habere significationes; quot habent proprietatese (PL 177, Sp. 205). 34 So betont S. J. Baumganen zwar: 11 Die Fruchtbarkeit des Verstandes widerspricht (... ] der Einheit und Einigkeit desselben gantz und gar nichte und: lIDie möglichste Fruchtbarkeit ist nicht mit einer Vervielfältigung zu verwechseine (Siegmund Jacob Baumgarten, Ausführlicher Vonrag der Biblischen Hermencutic (1752], hrsg. v. J. Ch. Bertram, HaUe 1769, S. 42 f.) - doch auch er nennt kein einziges klares Kriterium für die Unterscheidung beider. Vgi. hierzu auch Peter Rusterholz, Semiotik und Hermeneutik, in: Ulrich Nassen (Hg.), Texthermeneutik. Aktualität, Geschichte, Kritik, Paderbom [usw.) 1979, S. 37-57, hier S. 40f.
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35 Vgl. z. B. den »Apparatus anonymi cujusdam scholastici, ad vulgarem Rabani Allegoriarum editionemc, S. 437; allgemein hierzu (mit besonderem Bezug auf die Renaissance) das Kapitel »Die vier Ähnlichkeitenc in: Foucault, Ordnung der Dinge, S. 46-56 (32~0). 36 Vgl. hierzu besonders Erlch Auerbach, Figura, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, Bem/München 1967, S. 55--92, hes. S. 65-74, u. ders., Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, BemlMünchen '1977, S. 74ft. u. 186((.; sowie das Kapitel»Niedergang des Symbolismusc in: Johan Huizinga, Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden, hrsg. u. übs. v. K. Köster, Stuttgart 111975, S. 285-303, bes. S. 287ft. 37 Vgl. Foucault, Ordnung der Dinge, S. 83 Cf. (65 Cf.). 38 Antoine Arnauld, Die Logik oder die Kunst des Denkens, (La Logique ou L'Art de penser [... J, übs. v. Ch. Axelos), Darmstadt 1972, S. 4. 39 Vgl. Amauld, Logik, S. 41 u. 43 (I, 4); hierzu Foucaults »Introduction« zu: Amauld/Lancelot, Grammaire generale, S. XVII f., u. ders., Ordnung der Dinge, S. 98f. [78f.]. 40 Zur Opposition von ,Icon< und ,Inde:t< vgl. Olarles Sanden; Peirce, Col· lected Papers, Bd. 2, hrsg. v. Ch. Hartshome u. P. Weiss, Cambridge, Mass. 11960, Nr. 2.274-306; im Anschluß daran Roman Jakobson, Quest for the Es· senre of Language, in: ders., Selected Writings 11: Word and Language, Den Haag/Paris 1971, S. 345--359, bes. S. 346ft., sowie ders., Visual and Auditory Signs (ebd. S. 334-337) u. Language in Relation to Other Communication Systems (ebd. S. 697-708, bes. S. 7oof.). 41 Vgl. Foucault, Ordnung der Dinge, S. IOHf. [82ff.). 42 Zur E1iminierung der Ähnlichkeit als fundamentaler Erfahrung und zur gleichzeitigen Universalisierung des Akts der Vergleichung in der Philosophie der Aufklärung vgl. Foucault, Ordnung der Dinge, S. 84ft. [66ft.]. 43 Dilthey, Entstehung der Hermeneutik, S. 326. 44 Allerdings ist dieses Schleiermachersehe Deutungsmuster schon durch Diltheys frühe ,Preisschrift< entschieden in Frage gestellt worden, die gerade auf den Systemcharakter der vorschleiermacherschen Hermeneuliken abhebt - vgl. bes. die Kapitel »Älteste Systeme der Hermeneutik: Flacius, Franz und Glassiusc (Leben Schleiermachers, Bd. 2, S. 597ft) und »Systeme des Obergangs: Sozinianer, Arminianer, Pietisten, Orristian Wolff, Baumgarten« (ebd. S. 612ft); etwa rühmt es Dilthey hier als das Hauptverdienst S. J. Baumgartens, »daß er von der allgemeinen Hermeneutik aus das logische Gewebe der hermeneutischen Regelgebung ins feinste und einzelnste durchgesponnen hat« (ebd. S. 624). 45 Schwerlich wird »die modeme Ausdruckskunde (...] hier in die Schule gehen mögen«, wie dies von Wach nahegelegt wird (Das Verstehen, Bd. I, S.
17). 46 Fr(iedrich] Auglust] Wolf, Vorlesungen über die Altenhumswissenschaft, Bd. I: Vorlesung über die Encyc10pädie der Altenhumswissenschaft, hrsg. v. J. D. Gürtler, Leipzig 1831, S. 292, ähnlich auch S. 24. Zur wissenschaftsgeschichtlichen Stellung Wolfs vgJ. Manfred Fuhrmann, Friedrich Au-
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gust Wolf. Zur 200. Wiederkehr seines Geburtstages am 15. Februar 1959, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 33 (1959), S. 187-236. 47 ,Jener sogenannte sensus rypicus selbst ist eigentlich nicht das, was wir in unserer Kunst als ,Sinn< bezeichnen. Er ist nämlich kein Sinn, der den Wönern zukommt, sondern den Dingen, die Gott zum Zeichen zukünftiger Dinge bestimmt hat. Und für die Suche nach diesem brauchen Mühe und Talent des Interpreten nicht angewendet zu werden.< (Io[annes] Augustus Ernesti, lnstitutio Interpretis Novi Testamenti, Leipzig 11765, S. 10.) 48 So Peter Szondi. Schleiermachers Hermeneutik heute, in: ders., Schriften H, hrsg. v. J. Bollack (u. a.], Red. W. Fietkau, Frankfurt/M. 1978, S. 106--130, hier S. 108. 49 Chladenius, Einleitung, S. 87 (§ 156). 50 Ebd. S. 528fL (§§ 683ff.). 51 Während bei Baumgarten (abweichend von G. F. Meier) der llsensus litterae« - als ,sensus proprius< im Gegensatz zum >sensus improprius, figuratus, symbolicus' - lediglich eine >species comprehensa, des llsensus Iitteralisc darstellt (5. J. Baumgarten, Ausführlicher Vortrag der Biblischen Hermeneutic, S. 44 ff.), wendet sich Ernesti überhaupt gegen die terminologische Differenzie- . rung zwischen llsensus literalis« und llsensus literae« (Institutio Interpretis Novi Testamenti, S. 7). Dagegen hat sich seit Baumgarten die Unterscheidung zwischen der konventionell festgelegten llsignificatio« (>Bedeutung,) einzelner Wörter und Wonverbindungen und andererseits dem vom Autor intendierten .sensus« (>Verstand, Sinn,) weithin durchsetzen können (vgl. Baumganen, Ausführlicher Vortrag, S. 17f., 22, 30f. u. 78; Morus, Super Hermeneutica Novi Testamenti, S. 27f. u. 54f., u. Eichstädts Zusätze, ebd. S. 56ff.; Georg Lorenz Bauer, Entwurf einer Hermeneutik des Alten und Neuen Testaments, Leipzig 1799, S. I u. I1 f.); vg!. hierzu noch Schleiermacher, HK 86f. [101). 52 Bauer, Entwurf einer Hermeneutik des Alten und Neuen Testaments, S. 96, vg!. auch ebd. S. 20. - Im übrigen bezieht sich die Bezeichnung »grammatische Interpretation« nicht etwa auf lGrammatik!ittera, Buchstabe< und meint nichts anderes als >buchstäbliche Interpretation< (vg!. Emesti, Institutio Interpretis Novi Testamenti, S. 7). 53 Baumganen, Ausführlicher Vortrag der biblischen Hermeneutic, S·. 158; vgl. entsprechend Schleiermacher, HK 76(77] u. 132 (318]. 54 Karl August Gottlieb Keil, Lehrbuch der Hermeneutik des neuen Testamentes nach Grundsätzen der grammatisch-historischen [nterpretation, Leipzig 1810.5.98--110: Kap. 6: II Von der richtigen Bestimmung und Erläuterung des jedesmaligen Inhaltes einer Stelle, nach den Vorstellungen des zu erklärenden Schriftstellers und seiner ersten Leser«; vgl. entsprechend Schleiermacher, Einleitung ins neue Testament.s. W. 1,8, S. 7f., sowie HK 32, 84 (94J u. 159. 55 Bauer, Entwurf einer Hermeneutik des Alten und Neuen Testaments, S. 100 f.; vgl. entsprechend Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums, S. 55 (I. AuO.: § 32; 2. AuO.: § 140), u. bes. HK 32. 56 Keil, Lehrbuch der Hermeneutik des neuen Teslamentes, S. 9.
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57 Besonders deutlich Baumganen, Ausführlicher Vonrag der Biblischen Hermeneutic, S. 17f., 22 u. 187. 58 Ueber die neuere Deutsche üneratur. Fragmente. Erste Sammlung, zweite völlig umgearbeitete Ausgabe (künftig zitiert als FrQgm~nte), in: (Jo-hann Gottfried) Herder, Sämmtliche Werke, hrsg. v. B. Suphan, Bd. 1-33, Berlin 1877-1913, hier Bd. 2, S. 1-108, bes. S. 8 u. 17. 59 Abhandlung über den Ursprung der Sprache, in: Herder, Sämmtliche Werke, Bd. 5, S. 1-147, hier S. 136. 60 Dies gegen Johann David Michaelis' ,. Beantwortung der Frage von dem Einfluß der Meinungen in die Sprache und der Sprache in die Meinungen" (Berlin 1760), der auch Hamann "philosophische Myopie und philologische MarklSchreyerey" attestiert hatte (Kreuzzüge des Philologen. I: Versuch über eine akademische Frage. Vom Aristobulus, in: Johann Georg Hamann, Sämtliche Werke, hist.-krit. Ausg. v. J. Nadler, Bd. 2, Wien 1950, S. 119-126, hier S. 123). 61 Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume, in: Herder, Sämmtliche Werke, Bd. 8, S. 165-333, hier S. 2081.; vgl. hierzu besonders die beiden Akademiereden Schleiermachers (bes. HK 131 [316], 133 [318f.], 135 (321), 138 [325)". 148ff. [336ff.)). 62 VgJ. hierzu Foucault, Ordnung der Dinge, S. 261 [222J, sowie ders., Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärzl1ichen Blicks, (Naissance de la clinique. Une archeologie du regard medical, Paris 21972, übs. v. W. Seiuer), München 1973, bes. S. 11,221., 104 u. 149. 63 Herder, Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele, S. 208. 64 Journal meiner Reise im Jahr 1769, in: Herder, Sämmtliche Werke, Gd. 4, S. 343-461, hier S. 452. 65 Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 82 f. - Auf einer ähnlich organologischen Basis wie Herder wird dagegen Dopp zu der entgegengesetzten Behauptung kommen: ,.dass die grammatischen Formen und der gesammte Organismus der Sprachen das Eru:ugniss ihrer frühesten Lebens-Periode sind, wo sie, bei voller Jugendkraft, gleichsam wie Blumen und Früchte aus jungem Stamm hervorsprossten." (Franz Bopp [Rez.], Jacob Grimm: Deutsche Grammatik. 2. Aufl., in: Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik (1827), Sp. 251-303, hier Sp. 251.) 66 So programmatisch Friedrich Schlegel, Ober die Sprache und Weisheit der [ndier. Ein Beitrag zur Begründung der Altertumskunde (1808), bes. Kap. 3 u. 4, in: ders., Studien zur Philosophie und Theologie, hrsg. v. E. Behler u. U. Struc-Oppenberg, Paderborn [usw.jI975 (= Kril. Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 8), S. 105-433, hier S. 137-165. - Anknüpfend an F. Schlegel und F. Dopp fordert dann auch Humboldt (ganz im Gegensatz zu Herder): ,.Die grammatischen (Untersuchungen] jeder einzelnen Sprache sollten aber überhaupt den etymologischen immer vorangehn, da man in den wahren Wonbau erst mit Hülfe der Grammatik eindringt, und erst durch die Einsicht in den ganzen Sprachorganismus die Laut- und Gedankengeltung der Wörter (...] kennen lernt." (Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues § 23, in: Wilhelm von Humboldt, Gesammelte Schriften, hrsg. v. A. Leitzmann [u. a.],
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ßd. 6, Berlin 1907, S. 111-303, hier S. 139.) Vgl. hierzu Foucault, Ordnung der Dinge, bes. S. 343ff. (292ff.) u. 362ff. (J10t.). 67 Foucault hai diesen Prozeß als das lende des klassischen DenkenS( beschrieben (...gl. ebd. S. 261 ff. [222ft)). 68 Vgl. hierzu Paul Köhler, Der Begriff der Repräsenlation bei Leibniz. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichle seines Systems, Bem 1913, bes. T. I, u. Dielridl Mahnke, Leibnizens Synthese von Uni...ersalmathematik und Indivi· dualmelaphysik, in: Jahrbuch für Phiiosophie und phänomenok>gische For· schung 7 (1925), S. 30~12. bes. S. 518-525 u. 589ff.- Diese nicht·mentale BedeulUng wird sogar noch in der .EncyclopMie. als einzige Erklärung des Verbs r~prb~nt~r angegeben: .REPRJ:sENTER, v. act. (Gramm.) c'est rendre present par une action, par une image, & c. Cette glace r~prb~m~ lide· lemenlles objelS (...); ce phtnomene est r~prb~me fortement dans celle descriplion [...). Les rois reprbemem Dieu sur la terre.• (Encyc1opedie, ou Dictionnaire raisonnt des Sciences, des Arts et des Metiers, hrsg..... Diderot u. d'Alembert, Bd. 14, NeufchAtcl (vielm. Paris) 1765, S. 147.) 69 Die explizite Renexi...ierung des r~praes~mQr~ zumsibi r~prQes~mare läßt sich besonders bei Leibniz und Wolff beobachten; vgl. etwa Goufried Wilhelm Leibniz, Oe principio ratiocinandi fundamentali (aus der Hs. zit. bei Köhler, Begriff der Repräsentation, S. 154), u. Christian Wolff. Psychologia rationalis, Frankfurt/M., Leipzig 2)740, S. 40 u. Ö. (§§ 62ft.). - Dagegen gibt Foucault keinerlei stichhaltigen Beleg für seine (eher hegelianisierende denn lklassi· sch~) These einer der R~priis~ntQtioneigenen Kraft,sich selbst zu repräsentie· ren - welche .Faltung der Repräsentation in sich selbst. sich eTSl gegen Ende des 18. Jahrhundens zu so etwas wie .dem Menschen. als Thema der Anthropologie materialisiert habe (vgl. Foucaull, Ordnung der Dinge, bes. S. 98f. [78f.), 106 [85), 114 [92) u. 373f. (319f.)). Im Gegensati dazu betont FoucaullS (hier allerdings ...erschwiegener) Hauptgewährsmann Heidegger wohl zu Recht die unmittelbare Verschränkung des seit Descartes erfolgenden Heraufkommens der repraesentatio als .Vor·stellung. und des ...orstellenden Menschen als der .Szene, in der das Seiende fortan sich "'OTSleUen, präsentieren, d. h. Bild sein muß. (...gl. Martin Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, in: ders., Holzwege, (hrsg..... F.·W. von Herrmann), Frankfurt/M. 1977 (= Gesamtausgabe, t. Abi., Bd. 51, S. 75-113, bes. S. 91ff. u. 109 r., sowie ders., Nietzsche, Bd. 2, Pfullingen 1959, S. 153ft.. 432, 449f. u. 464ff.). 70 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. 2. Aufl. 1787, Berlin 1911 (- Gesammelte Schriften, Akad.·Ausg., I. Ablh .• Bd. 3), S. 249 (Originalpag.
S.376). 71 In: Karl Leonhard Reinhold, Beytrige zur Berichtigung bisheriger Miß· verständnisse der Philosophen, Bd. 1, Jena 1790. S. 165-254. - Die scharfsin· nige Kritik desAenesidemus (d. i. GonIob Ernst Schulze, $chopenhauers philosophischer Lehrmeister) an Reinholds .Neuer Darstellung .... (vgl. Aenesidemus oder über die Fundamente der ...on dem Herrn Professor Reinhold in Jena geliefenen Elementarphilosophie [t 792), hrsg..... A. Lieben, Berlin 191 I, bes. S. 41 ff.) war der unmittelbare Anlaß für die Konzeplion ...on Fichtes. Wis· senschafulehre•. 72 Eine kantianische Darslellung dieser Ditrerenz zwischen >abstT1lhiertem
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Gattungsbegriff. und lDeduklionsprinzipc findet sich bei Karl Heinrich Heydenreich, Encyclopädische Einleitung in das Studium der Philosophie nach den Bedürfnissen unsers Zeitalters, Leipzig 1793. bes. S. 89 ff. u. 115 f., u. ders.. Originalideen über die interessantesten Gegenstände der Philosophie, drinen u. letzten Bandes erste Abtheilung [mehr nicht erschienen], l...t:ipzig 1796, S. 46(. u. SOff. 73 Vgl.lmmanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: Wirklichkeit< individuellen geschichtlichen Lebens zurückgeht und aus dem Prozeß seiner Selbsterschließung und Selbstgesraltung die Kategorien wissenschaftlicher >Nachkonstruktion< gewinnt. Und die Wirkungsgeschichte Diltheys bezeugt, daß der Rückgang in den aller Wissenschaft vorausliegenden Lebensvollzug, in das >Erlebengeschichtlichen Lebens< zu erschließen vermochte und vermag, wie kritisch sie auch zu sehen sind. l l Dariiber hinaus enthäh Dihheys Rückgang in die >Wirklichkeit< individuellen geschichtli· ehen Lebens und die Frage seiner wissenschaftlichen Erfassung einen permanenten Einspruch gegen allen Szientismus, der sich bereits in Diltheys eigener >szientistischen< Hermeneutik der lndividualität zur Geltung bringt - paradox genug: in deren Schwierigkeiten und deren Scheitern.• Die Hartnäckigkeit des Individuums«, die Goethe Beweis für die Existenz der Entelechie war, I~ wendet sich gegen den Theoretiker einer hermeneutischen Wissenschaft selbst. Die Darstellung von Diltheys hermeneutischer Position sieht sich vor eine besondere Schwierigkeit gestellt; sie liegt in dem .Protei· schen«, das Hofmannsthai an derGestalt Diltheys fasziniert hat: udaß Dilthey seinen ursprünglichen wissenschaftstheoretischen Ansatz in sich fonlaufend verändernden systematischen und historischen Richtungen verfolgt und daß seine schriftstellerische Darstellung deshalbzwischen in ihrer Terminologie wechselnden, umständlichen Distinktionsversuchen und der halbpoetischen Sprache geschichtlicher Darstellung schwankend - nicht die abgeschlossene Gestalt eines philosophischen Werkes erreicht. .übermenschlich angefangen, unmöglich zu vollenden«,I" - solche Bewunderung ließe sich sinnvoll wohl nur in einer entwicklungsgeschichtlichen Darstellung des Diltheyschen
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Denkens einlösen, die zugleich Diltheys überwältigend umfangreiche hermeneutische Praxis im Felde historischer und literarischer Charakteristik mit einbezöge. Das kann eine Analyse von Diltheys hermeneutischer Position nicht leisten; ihr kann als Leitfaden Diltheys eigene Frage nach dem Verständnis geschichtlicher Individualität dienen, die sie an Dilthey selber richtet: ob Diltheys Theorie des Ausdrucksverstehens das in jedem Verstehen )mitgehende( Verständnis von Individualität so aufzuklären vermag, daß sie die Individualität nicbt zum Verschwinden bringt. Noch voll und bewußt im Banne der klassisch-romantischen Kunstperiode stehend, rückt für Dilthey das Studium der Individualität 'S ins Zentrum seiner philosophiscben Beschäftigung mit der geschichtlichen Welt und seiner erkenntnistheoretischen Versuche, »die Natur und die Bedingung des geschichtlichen Bewußtseins zu untersuchen«. 16 Dilthey nennt dies historisch-erkenntnistheoretische Unternehmen, das sein gesamtes mannigfaltiges und schwer überschaubares Oeuvre bestimmt, eine »Kritik der historischen Vernunft« 11 und bezeichnet damit die Absicht, der erkenntnistheoretischen Begründung der Naturwissenschaften in Kants Kritik der reinen Vermmft seinerseits eine entsprechende Grundlegung der Geisteswissenschaften an die Seite zu stellen 18 - eine Rechtfertigung also aller» Wissenschaften des handelnden Menschen«J9 und der »geschichtlich-geseUschaftliehen Wirklichkeit«.20 Angesichts der GeschichtJichkeit des Bewußtseins kann diese Grundlegung nicht mehr auf ein transzendentales Subj~kt zurückgehen, sondern nur auf die geschichtsbildende Kraft empiriscber Individuen. Das »bedeutende Individuum« gilt Dilthey nicht nur als der »Grund körper der Geschichte« und .in gewissem Verstande [als] die größte Realität derselben«; 21 bereits in der alltäglichen Lebenspraxis ist das Verständnis fremder Individualität für die Orientierung sinnvollen Handeins und Redens unumgänglich vorausgesetzt,22 und nur im Verhältnis zu ihm wird die eigene Individualität erfahrbar. 2) Das ursprüngliche praktische Interesse an der fremden und eigenen Individualität wird durch das nicht minder ursprüngliche Interesse verstärkt, im Verständnis des Individuellen die Grenzen der ·Indi....idualität zu erweitern, ja noch mehr: ihre Schranken in den offenen Spielraum nachvollziehbarer Lebensmöglichkeiten zu übersteigen. 2• Das Verständnis des Individuellen versetzt »in Freiheit«.25 Fast überschwenglich charakterisiert Dilthey das Interesse am Individuellen, das zugleich auf dessen Aufhebungzielt: »Das Geheimnis der Per61
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son reizt um seiner selbst willen zu immer neuen und tieferen Versu· ehen des Yerstehens. Und in solchem Verstehen öffnet sich das Reich der Individuen«16 - ein Reich »der unenneßlichen Fülle singulärer Gestaltungen«;, in dem )sich die Menschheit auslebtbegrenzten( intellektuellen Leistung des Rede-Verstehens wird ein elementarer und umfassender Vorgang alltäglicher vorwissenschaftlicher Lebenspraxis, dessen Klärung gleichwohl die Rechtfertigung einer besonderen wissenschaftlichen Erkenntnisweise und ihres Wahrheitssinnes erbringen soll. Dieses Legitimationsverfahren, das Wissenschaft als einen lediglich methodisch radikalisierten und ausdrücklich geübten Vorgang alltäglicher Lebenspraxis begründet, verbindet sich fortan auch mit dem Titel )Hermeneutik< und verleiht ihm seine spezifische Wirksamkeit. Zum Paradigma der Diltheyschen Hermeneutik gehört über die Widersprüchlichkeit der Frage nach dem Individualverstehen und der vorwissenschaftlich-praktischen Legitimation von Wissenschaft hinaus eine weitere, systematisch entscheidende Merkwürdigkeit: Dilthey selbst vollzieht die IWende< in eine )hermeneutische Philosophie< nicht,JJ das hermeneutische Problem selbst wird gänzlich unhermeneutisch behandelt. Damit ist gemeint, daß die »Analysis des Verstehens« nicht vom Verstehen seinen Ausgang nimmt und primär gar nicht danach fragt, was es heißt, Sinn oder Bedeutung zu verstehen, sondern daß die Analysis der Entstehung von IBedeulSamkeih, der Hervorbringung von Ausdruck nachgeht undlVerstehen< nur als einen im Verhältnis zur ursprünglichen Konstitution von Ausdruck abgeleiteten Modus zum Thema macht. Die Grundlegung geht nur scheinbar auf die ursprüngliche Erfahrung des Verstehens zurück; tatsächlich überspringt sie das Verstehen, indem sie, aus dem vorherrschenden Interesse an der Individualität heraus, der Genesis von Individualität als eines gelebten Bedeutungszusammenhanges, als einer sich im jeweiligen Lebensverlauf herausbildenden Ausdrucksgestalt nachfragt. Deshalb kommt Dilthey nicht zu einem geklärten und konsistenten Begriff von Verstehen - auch nicht in seiner ausgebreiteten hermeneutischen Praxis, die, der systematischen Vorzeichnung folgend, ge-
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netisch verfährt. Als Beleg dafür sei nur der berühmte Essay Goethe und die dichterische Phantasie genannt.3~ Das derart in sich widersprüchliche Paradigma einer Hermeneutik der Individualität gehört einer bestimmten geschichtlichen Lage zu; und Dilthey ist sich dessen voll bewußt gewesen, so sehr, daß er die systematische Klärung des hermeneutischen Problems immer zugleich auch als historische betreibt. Die lAnalysis des Verstehen$< schließt für ihn die Aufarbeitung der Geschichte der Hermeneutik ein, deren ge· lehrter Historiograph Dihhey deshalb ist;35 nicht anders verlangt di, »Analysis des geschichtlichen Bewußtseins«J6 die umfassende Dar stellung der Geschichte der europäischen Philosophie und Kullur al einer Selbstentfaltung des geschichtlichen Bewußtseins. 37 Was als ein, Schwäche des philosophischen Gedankens erscheinen muß: der fortgesetzte übergang in eminent gebildete geschichtliche Darstellungen, trägt der Geschichtlichkeit der Grundlegungsarbeit und des hermeneutischen Problems Rechnung. Freilich enthält der Rückgang in die Geschichte ein ungelöstes systematisches Problem: Sofern der Rückgang immer auf die eigene Posilion hinführt und sich in ihr vollendet, die Geschichtlichkeit des Geschichtlichen also immer in einen Expli· kations- und Entwicklungsgang aufgehoben wird, läßt er das Ge· schichtliche nicht )zu sich selber kommenphilosophischer BesinnungBesinnung< wird die Zugehörigkeit der philosophischen Reflexion zur Lebenspraxis ineins mit ihrem Verfahren auch terminologisch angegeben. In der >philosophischen Besinnung< soll die »Selbstbesinnung des Lebens« lediglich methodisch radikalisiert,55 soll das vorwissenschaftliche Nachdenken über sich selbst und die bestimmende Bedeutung des eigenen Lebens in ein »zusammenfassende[s] Bewußtsein«.56 gebracht werden: »In der Selbst besinnung, welche den ganzen unverstümmelten Befund seelischen Lebens umfaßt, hat sie ihre Grundlage« ..5? Das kaum verdeckte polemische Pathos dieser Bestimmung philosophi· scher Reflexion richtet sich gegen den Rückgang in die transzenden· tale Subjektivität als den Grund gegenständlicher Erkenntnis und Geltung. In ihr ist das Seelenleben nicht bloß unvollständig, sondern auch entstellt. »ln den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konstruierten, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit«,,58 lautet Diltheys lebensphilosophische Kritik in der Vorrede zu seiner Einfeilllng in die Geisteswissenschaften. Statt in den Selbslbezug des transzendentalen Subjekts hat die Grundlegung in den »realen Lebensprozeß«.59 geschichtlicher Individuen zurückzugehen. Die reflexive Bewegung des Rückgangs und seine erkenntnistheoretische Absicht bedeuten aber, daß die empirische Korrektur transzendentaler Konstruktion nur scheinbar ist. Der Sache nach ist Diltheys Fragestellung immer noch eine transzendentale. Das bringt sich darin zur Geltung, daß die Grundlegungsdimension nicht in der Hermeneutik, sondern in der Psychologie erreicht wird, die in der >inneren Wahrnehmung< ihren zur >äußeren Wahrnehmung< komplementären Grundbegriff hat. 60 Es macht dabei wohl einen sachlichen, nicht aber einen systematischen Unterschied, daß Dilthey die zugrundezulegende Psychologie in Opposition zur >erklärenden< naturwissenschaftlichen Psychologie seiner Zeit als eine >beschreibende< konzipiert. Seine deskriptive Psychologie verfahrt im Entwurf eines dynamischen Strukturmodells des individu· ellen Seelenlebens nicht minder konstruktiv. Der Ausgang von der
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>Selbstbesinnung< hätte eine >hermeneutische Wendung< möglich gemacht und zu einer Klärung des im individueUen Lebensverlaur vollzogenen Selbstverständnisses führen können. Da Dilthey aber das methodische Problem nicht erörtert, wie der übergang von der vorwissenschaftlichen Selbstbesinnung in die erkenntnislheoretisch orientierte philosophische ReOexion vor sich geht, so behält die Psychologie durchgehend die Stellung erkenntnistheoretischer Grundlegung. In ihr verschwindet auch der als ursprünglich und unaufhebbar behauptete Praxisbezug )philosophischer Besinnunginneren WahrnehmungErlebnissesinnebeschreibenden Psychologie< -, daß sich das Leben immer als ein vorgängiger Zusammenhang, als eine dynamische Einheit erschlossen ist. Die deskriptive Psychologie kann das »Seelenleben« deshalb nicht aus einfachen, durch Abstraktion gewonnenen Elementen >erkIäreß(,6J sondern muß seinen ursprüpglich gegebenen »erlebten Zusammenhang«64 )zergliedern( und >beschreiben(. Von der nicht weiter auOösbaren, letzten Gegebenheit des »Inne-Sein[s]« aus 6S entraltet sie das individuelle »Seelenleben« in den unterschiedlichen Aspekten der beweglichen bewuBtseinsmäBigen Einheit, in die es sich zusammenschließt. Ihr kommt dabei zugute, daß sie dem individuellen
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Leben nicht, wie der Natur, als schlechthin Fremdem gegenübersteht. In der deskriptiven Entfaltung tritt es vielmehr :tvon innen, als Realität und als ein lebendiger Zusammenhang originalitere auf. 66 Solche Explikation des Lebens :taus ihm selbste geschieht in den :tKategorien des Lebense,61 mit deren Ausarbeitung die Grundlegung konkret geleistet werden soll und mit deren Bestimmung Dilthey auch einen eigenständigen Beitrag zu einer Selbstbewußtseinstheorie gibt, die Selbstbewußtsein als einen an seiner Einheit und Gestalt interessierten LebensvoUzug denkt. Indem das Verstehen dabei eine zentrale Rolle spielt, ist Dilthey ebenfalls für die folgende philosophische Hermeneutik paradigmatisch geworden. Mit dem Terminus >Kategorien des Lebens< ist die Intention der Diltheyschen Grundlegung jedoch nicht voll wiedergegeben. Kant hatte >Kategorien< als »reine Verstandesbegriffee bestimmt, :tdie apriori auf Objecte gehene,68 ohne die also kein Gegenstand gedacht werden kann. Die Kategorien des Lebens aber sollen bei Dilthey nicht :tArten der Auffassunge von Gegenständlichem sein, sondern Weisen, wie individuelles Leben selber >da istc 69 Für sie gilt, daß sie :tnicht apriori auf das Leben als ein ihm Fremdes angewandt werden, sondern daß sie im Wesen des Lebens selber liegene. 'o Die Kategorien des Lebens sind nicht sekundäre :tArten der Formung, sondern die strukturellen Formen des Lebens selbst in seinem zeitlichen Verlauf kommen in ihnen zum Ausdrucke. '1 Als solche im individuellen Lebensvollzug erscheinende strukturelle Formen der Selbstkonstitution und Selbstexpljkation 12 nennt Dilthey die Lebenskategorien auch »realee. 13 Um ihren veränderten ontologischen Status deutlicher anzuzeigen, bezeichnet M. Heidegger sie dann als :t Existenzialiene. 14 Sie stehen zudem in einer spezifischen Zweideutigkeit: Die Kategorien des Lebens haben als )reale Kategoriengenerative Grammatikc individuellen Lebens, nach deren Regeln sein Strukturund Bedeutungszusammenhang erzeugt und verstanden wird. Die semantische Komponente f,Hlt dabei freilich aus, was um so merkwürdiger erscheint, als die Kategorie der )Bedeutung( ihrer sachlichen und systematischen Funktion nach die zentrale Lebenskategorie ist und, wie Dilthey sich vorsichtig genug ausdrückt, »offenbar einen beson· ders nahen Zusammenhang zum Verstehene hat. 77 Als Kategorie be· zeichnet >Bedeutung( eine bestimmte »strukturelle Forme, einen bestimmten .»Gesichtspunkte des Wechselverhältnisses von Teil und Ganzem innerhalb der Einheitsbildung individuellen Lebens," deo Wirkungsbezug der >Bedeutsamkeit( (relevance); jeder Anklang an den lingwstisch-semiologischen Bedeutungsbegriff (meaning) ist zunächst femzuhalten. Statt von >Bedeutung( kann Dilthey auch von )Kraft( sprechen. 19 Das Gleiche gilt von den anderen Lebenskategorien )Wert(, >Zweckt, >Entwicklung( und lGestaltErlebnisAusdruck( und >Verstehen( artikulierenden - Bewegung individueller Selbsterfassung nun doch inhaltlich gefaßt werden: >Bedeutung( als Aspekt struktureller Einheit wird mit >Bedeutung( als Korrelat des Ausdruck.verstehensgleichgesetzt. Will man das nicht einfach als eine undurchschaute Äquivokation abtun, die bedauerlicherweise zum Fehlen einer Bedeutungstheorie führt SI und die zudem die Unvereinbarkeit des genetischen und des hermeneutischen Ansatzes geschickt verdeckt, dann ergibt sich für die hermeneutische Theorie Diltheys, daß es in ihr gar nicht um ein Verstehen von Sinn geht, das wie auch immer auf SprachJichkeit bezogen wäfe, sondern
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um das _Wiederfinden« vorgängig existierender psychischer Struktu· ren,1l die in den Lebenskategorien so thematisiert werden, daß sie in der hermeneutischen Theorie universalisierbiu sind. u Es ist die Posi· tion eines konsequenten _ontologischen Strukturalismus«," die sich hier abzeichnet. Der Ursprung der Strukturbestimmungen liegt in der Polarität des temporalen und des teleologischen Charakters individuellen Lebens. Im _Leben ist als erste kategoriale Bestimmung desselben, grundlegend für alle andern, die Zeitlichkeit enthahen«.85 Grundlegend ist >Zeit< nicht bloß deshalb, weH sie in ihrer DimensionaLität die Gliede· rung der Lebenskategorien vorzeichnet;" sie ist es vor allem durch ihren Charakter der _Korruptibilität«,'l des :.rastlosen Fortrükken(s)«," der _überwunden wird durch einen Zusammenhang, der das zeitlich voneinander Getrennte in eine innere Verbindung setzt«. 19 lm _Schmerz über die Endlichkeit (liegt] die Tendenz seiner Aufhebung, Streben nach Realisation und Objektivierung«,. eine Tendenz, die Dilthey im limmanent teleologischen( Charakter indivi· duellen Lebens zu fassen meint." Leben hat kein außerhalb seiner auffindbares Telos, von dem her es seine _Gebrechlichkeit«'2 aufheben und sich zu einer sicheren Ord· nung bestimmen könnte. Gleichwohl ist es in sich selbst teleologisch, d. h. auf ein Ziel hin geordnet, das es >Von innen her< aus sich selbst und für sich selbst zu erreichen sucht. Wenn :.die in ihm bestehende Zweckmäßigkeit (...] nicht einen ihr durch die Natur oder Gott vorge· schriebenen Zweck« realisiert, es überhaupt kein :.bestimmtes Ziel (erwirkt]«, sondern _nur Zielstrebigkeit [enthält]«,93 dann bedeutet der .Charakter immanenterTeleologie«,94 daß das Leben sich in eine Ordnung bringt, in der es gegen seine Hinfalligkeit seine Zielstrebigkeit als solche zu bewahren sucht. _Sofern der Lebenszusammenhang dies vollzieht, bezeichnen wir ihn als Kraft.c 95 Nicht >Zeite, sondern >Krafte wäre also die eigentliche Ursprungskategorie der Strukturbestimmungen, die dementsprechend als _Energiebegriffe« aufzufassen wären. 96 Was lediglich wie eine Akzentverschiebung in der Charakterisierung des Lebens aussieht, hat ontologische Bedeutung. Ist die Ur· sprungskategorie lKraft(, so gilt Umberto Ecos Kritik des _ontologi· sehen Strukturalistenc, daß er die Kultur untersuche, _um sie in NaJura Narurata zu übersetzen, in deren lnnerstem er die (ein für allemal einzige) Nalura NaJurans anwesend und wirkend erkenntc. 97 Ist die
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Ursprungskategorie )Zeitobjektiven Gei-
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stesc das einzelne Phänomen seine Bedeutung innerhalb eines Bedeu· tungssystems. Die Formen des )objektiven Geistes< reichen »von dem Stil des Lebens, den Formen des Verkehrs zum Zusammenhang der Zwecke, den die Gesellschaft sich gebildet hat, zu Siue, Recht, Staat, Religion, Kunst, Wissenschaft und Philosophie«. 112 Neben eine Hermeneutik der Individualität tritt, so könnte es scheinen, eine Art allgemeiner Semiotik der )geistigen Weltbjektiven Geistes< aus· driicklich aus der spekulativen Bewegung des )absoluten Geistesc herausnimmt, wird die Allgemeinheit der )geistigen Weltobjektiven Geistes< selbst nicht vor, sondern exemplifiziert nur einen Verweisungscharakter. Der im Ausdrucksverstehen vollzogenen Aufhebung des Individuellen in den Lebensprozeß entspricht die Individualisierung des AJIgemeinen im nicht-spekulativen Begriff des X>bjektiven Geisteshöhere Verstehen< (Nacherleben) ein »intellektueller Prozeß von höchster Anstrengung« 181 und nicht >Nachempfinden< ist, bleibt es in den dargestellten Aporien des Ausdrucksverstehens befangen. Dilthey beruft sich für die psychologische Konzeption des Verstehens auf Schleiermacher, den er lediglich zu radikalisieren meint,'82 wenn er Schleiermachers unaufhebbare Duplizität von grammatischer und psychologischer Interpretation in der Unterscheidung von elementarem und höherem Verstehen aufnimmt, erweitert und einseitig zugunsten der psychologischen Interpretation verschiebt. Die Berufung beruht auf einem deutlichen Mißverständnis und macht die entscheidende Aporie von Diltheys hermeneutischer Position sichtbar: Die Balance zwischen grammatischer und psychologischer Interpretation kann nicht einfach verschoben werden. ohne daß der Aspekt der Vermittlung verloren geht. In der grammatischen Interpretation ist die Sprache als die »objektive Totalität«, 183 innerhalb deren individuelle Rede anhebt, in einer Weise festgehalten, die sie bei Dihhey als bloßes Ausdrucksmittel verliert; auch für die psychologische Interpretation ist die Berufung auf Schleiermacher zweifelhaft: es geht diesem hier gar nicht um )Nacherleben< fremden Seelenlebens, sondern um die Einsicht in den ltProzeß der Gedankenerzeugung (...) (im] Verhältnis zum Wesen des Denkens selbst«. 184 Darum zielt die Schleiermachersche Hermeneutik auch nicht auf das Verständnis der Indivi· dualität, sondern auf die Bewegung der Vermittlung von Einzelnem und Allgemeinem durch die Individualität. 18S Die Notwendigkeit sol· eher Vermittlung ergibt sich für Dilthey im Grunde nicht; und selbst dort, wo sie in der )zweifachen Relation< des Ausdrucks in den Blick kommt, wird sie nicht zur Aufgabe, weil das Individuelle und das All· gemeine in der vorgängigen Einheit des Lebens stehen. Der Herme· neutik der Individualität als einer Theorie des Entstehens von Aus· druck entgleitet das, was ihr Interesse ausmacht, die Individualität, und es entgleitet ihr zugleich deren )MediumAufgabe, Bismarck zu verslehen, (ebd. S. 142 f.). 182 Ges. Sehr. V ,So 329. Vgl. zum Folgenden Wilhclm Anz, Idealismus und Nachidealismus, in: Die Kirche in ihrer Geschichle. Ein Handbuch, hrsg. v. B. Moeller, Bd. 4, Ug. P, Göttingen 1975, S. 99-212, hier 201 f. 183 F(riedrieh) D[aniel] E(msl] Schleiennacher, Ober den Begriff der Henneneutik mil Bezug auf F. A. Wolfs AndeUiungen und ASIS lehrbuch, in: ders., Henneneutik und Krilik. Mil einem Anhang sprachphilosophischer Texte Sehleiermaehers, hrsg. u. eingel. v. M. Frank, Frankfurt/M. 1977, S. 309--346, hier S. 336. 184 Ebd. S. 328; vgl. ebd. S. 324. 185 Vgl. hierzu Manfred Frank, Das individuelle Allgemeine. TexlSlruklurierung und -inlerprelalion nach Schleiennacher, Frankfurt/M. 1977, bes. S. 156ft. u. 294ff. 186 Hofmannslhal, Wilhelm Dilthey, S. 55 f.
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GONTER FIGAL
Selbstverstehen in instabiler Freiheit Die hermeneutische Position Martin Heideggers
Wohl kaum ein Autor hat zur Hermeneutik so extreme Positionen vertreten wie Martin Heidegger. War das Hauptwerk Sein und Zeit noch dem Programm gewidmet, im Rahmen einer .Hermencutik der Faktizität« lVerstehen< als »die ursprüngliche Vollzugsform des Da- _ seins« I zu erweisen, wird in den späten Texten der Aufsatzsammlung Unterwegs zur Sprache sogar das Recht einer Hermeneutik poetischer Texte bestritten und an die Stelle des lVerslchens< das lentsprechende Verhalten< zur Sprache in ihrer Wesensbestimmtheit gesetzt. Wer die Philosophie Heideggers verstehen will, muß diese Wandlung erklären und nach der Plausibilität ihrer Gründe fragen. Ist die philosophische Entwicklung Heideggers in ihrer Abkehr von der Henneneutik zwingend? Aber nicht nur wenn man sich entschließt, diese Frage zu bejahen, liegt der Gedanke nahe, daß auch bereitsSein und Zeil nicht ohne Schwierigkeiten eine hermeneutische Theorie genannt werden kann. Zwar bezeichnet Heidegger die >Phänomenologie des Daseins< als _Hermeneutik in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes, wonach es das Geschäft der Auslegung bezeichnet«.2 Aber Heidegger blendet hier - bewußt - ab. daß es dem Geschäft der Auslegung seit jeher wesentlich um den Sinn der Rede ging. So definiert Schleiermacher Hermeneutik als .die Kunst. die Rede eines anderen, vornehmlich die schriftliche, richtig zu verstehen«.3 Heidegger hingegen beschäftigt sich in Sein und Zeil mit Rede und Sprache eher am Rande und geht weder auf die konkreten Ausprägungen des Verstehens noch auf das Verfahren der Auslegung von Rede im einzelnen ein. Dies steht in einem bemerkenswerten Kontrast zu der Bedeutung, die Heidegger für die Etablierung der Hermeneutik als einer philosophischen Tradition gehabt hat. Denn nicht nur hat er als erster auf die philosophische Bedeutung Wilhelm Dihheys hingewiesen und konnte deshalb mit Recht sagen: .ich habe mich schon [...] mit Dihhey [...]
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auseinandergesetzt., _als es noch unanständig war, ihn ineinem philosophischen Seminar zu nennen.;4 ebenso ist die programmatisch als >philosophische Hermeneutik< auftretende Philosophie Hans·Georg Gadamers ohne Heideggers Einfluß undenkbar. Heidegger, so wird man folgern müssen, ist für die mit Schleiermacher beginnende Tradition philosophischer Hermeneutik einerseits zentral und andererseits ihr gegenüber exzentrisch. Seine Exzentrizität jedoch fordert gerade dazu heraus, ihn gemeinsam mit Schleiennacher, Dilthey und Gadamer zu diskutieren. Allen genannten Autoren ist es gemeinsam, daß sie den Terminus _Hermeneutik. polemisch verwenden. Während Schleiermacher sich gegen den spekulativen Idealismus - vor allem denjenigen Hegels-wendet, ist es die empirische Psychologie des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts, die Dilthey in der Ausarbeitung seiner zentralen Begriffe zu überwinden versucht; und Gadamer versteht sein Buch Wahrheit und Me/hode als Gegenentwurfzu dem Versuch, eine Grundlegung der Geisteswissenschaften in der wissenschaftstheoretischen Klärung methodischer Probleme zu gewinnen. Ebenso ist Heideggers _Hermeneutik der Faktizität. polemisch an den Erkenntnistheorien des Neukantianismus und Husserlsorientiert, und darüber hinaus gehört bereits zur Intention von Sei" und Zeit die - Destruktion der Geschichte der Ontologie. (SZ 39; GA 26, 197), einer Formation des Denkens also, die Heidegger später _die abendländische Metaphysik- nennen wird und aus der für ihn auch die Grundzüge der Neuzeit faßbar werden. Aber selbst wenn Heidegger den polemischen Grundzug der Hermeneutik teilt, so sperrt sich doch sein Denken gegen die Integration in diese, denn seine polemische Verwendung des Begriffs .Hermeneutik. richtet sich implizit auch gegen das Programm philosophischer Hermeneutikselbst. Deshalb ist es ein- freilich produktives- Mißverständnis, Heideggers Ansatz in einer ausgearbeiteten Theorie sprachlichen Verstehens einlösen zu wollen. Die Hermeneutik Gadamers und die sprachanalytische Philosophie Ernst Tugendhats lassen sich als Versuche verstehen, von Heidegger aus zu einer ausgearbeiteten Theorie des Verstehens und der Bedeutung zu gelangen. Gadamer geht der Frage nach, _wie die Hermeneutik, von den ontologischen Hemmungen des Objektivitätsbegrifis der Wissenschaft einmal gefreit, der Geschichtlichkeit des Verstehens gerecht zu werden vermöchte.,' und entwickelt auf der Grundlage der überzeugung, daß _Verstehen (... ] der ursprüngliche Seinscharakter des menschlichen
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Lebens selber«6 ist, eine henneneutische Theorie des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins. Demgegenüber (ragt Tugendhat, was es überhaupt h,eißt, einen sprachlichen Ausdruck zu verstehen, und überführt damit die Hermeneutik in fonnale Semantik. Diese bietet für Tugendhat auch eine Möglichkeit, Heideggers Kritik an der traditioneUen Orientierung der Ontologie am Vorhandenen, am angeschauten Gegenstand, aufzunehmen und neu, wie Tugendhat glaubt: überzeugungskräftiger zu fonnulieren. 7 Gadamer und Tugendhat folgen Heidegger darin, daß sie seinen Gedanken eines Zusammenhangs von Verstehen und Selbstverstehen aufnehmen, aber sie unterscheiden sich von ihm darin, daß sie einen Begriff des Selbstverstehens aus einer Theorie sprachlichen Verstehens gewinnen wollen. Während Gadamer zeigen wiU, daß der Verstehende _von der überlieferung erreicht und aufgerufen ist«' und sich also selbst versteht, bildet eine Theorie des vernünftigen, sich sprachlich ausweisenden Handeins den Fluchtpunkt der Tugendhatschen Konzeption. Sich selbst zu verstehen heißt für ihn vor allem, dem Anspruch kritischer Argumentation nicht auszuweichen;9 indem ~ie formale Semantik die Wahrheitsbedingungen sprachlicher Ausdrücke klärt, kann sie zugleich sprachanalytische Grundlegung der Ethik sein. Wenn Gadamer und Tugendhat gemeinsam davon ausgehen, daß nur im Zusammenhang sprachlichen Verstehens gezeigt werden kann, was es heißt, sich selbst zu verstehen, behaupten sie implizit, Heideggers Daseinsanalyse sei gerade in ihrem Zentrum unvollständig geblieben. Dementgegen möchte ich im folgenden versuchen zu zeigen, daß (i) Heidegger den Titel der _Hermeneutik« nicht im Sinne einer spezifischen Theorie sprachlichen Verstehens und der Bedeutung verwendet, wenngleich die Konzeption von Sein und Zeit eine solche Theorie nicht prinzipiell ausschließt, und daß (ii) Heideggers Verzicht auf den Titel der _Hermeneutik« in seinen späteren Schriften bereits in der Konzeption von Sein und Zeit angelegt ist. Heidegger gibt bereits in seinem Hauptwerk dem für die Hermeneutik zentralen Begriff des _Verstehens« eine anrihermeneutische Wendung. Mit _Verstehen« bezeichnet erden Grundzugnicht notwendig sprachlicher Praxis, und wenn er versucht, die Struktur und die Grenzen von Praxis herauszuarbeiten, so nimmt er dabei auf Momente Bezug, die keine internen Bedingungen des Verstehens sind. Damit bindet er jede mögliche Theorie des Verstehens in eine Theorie der menschlichen Freiheit ein,
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deren traditionelle Bezugspunkte die Freiheitstheorien Schellings und Kierkegaards sind und nicht die Hermeneutiken SchJeiermachers und Diltheys. Für seine Theorie menschlicher Freiheit nimmt Heidegger seinerseits den Titel »Hermeneutik« in Anspruch. »In dieser Herme· neutik«, so sagt er, »ist dann, sofern sie die Geschichtlichkeit des Daseins ontologisch ausarbeitet [... 1, das verwurzelt, was nur abgeleile· terweise >Hermeneutik! genannt werden kann: die Methodologie der historischen Geisteswissenschaften« (5Z 38). Und, so wird man ergänzen müssen, die sei es hermeneutische, sei es sprachanalytische Theorie des Verstehens und der Bedeutung. Unklar ist allerdings, in welch'em Verhältnis die Hermeneutik des Daseins zur abgeleiteten Hermeneutik genau steht; ob es als Fundierungsverhältnis aufgefaßt werd~n kann, wird erst noch zu klären sein. Was macht nun die phänomenologische Hermeneutik des Daseins aus, und inwiefern unterscheidet sie sich so von jeder spezifischen... Hermeneutik, daß diese als abgeleitet bezeichnet werden kann? In ei· ner ersten Skizze läßt sich diese Frage mit einem Hinweis auf das thematische Feld der Daseinshermeneutik beantworten: in ihr geht es nicht nur um das Verstehen des Bestimmten und Bestimmbaren, son· dem wesentlich um die Darstellung von Verstehen im Horizont des Unbestimmten und Unbestimmbaren. Diese Darstellung nimmt ihren Ausgangspunkt in einer Analyse menschlicher Praxis. Von ihr aus soll, wie Heidegger sagt, durch das EQllllveüuv der Phänomenologie »dem zum Dasein selbst gehörigen Seinsverständnisder eigentliche Sinn von Sein und die Grundstrukturen seines eigenen Seins kundgegeben werden« (SZ 37). Das Verstehen von Sein gründet jedoch, wie Heidegger an anderer Stelle im Anschluß an den platonischen Sokrates formuliert, :tim Entwurf eines tnExuva ti']o:; ouo(ao:;«, 10 in dem also, was nicht nur über» jede mögliche Bestimmtheit eines Seienden« (SZ 38), sondern auch über das Sein und die Seinsstruktur hinausreicht. Folgt man dem Gang von Sein und Zeit, so wird man »ausgehend von der Hermeneutik des Daseins« (SZ 38) fragen müssen, wie das btEXEt.Va 'tTio:; ou0(0.0:; (>jenseits des Seienden in seiner Wesensbestimmtheit() gefaßI und bestimmt werden kann. Um dies zu klären, empfiehlt es sich zunächst, der Frage nachzugehen, wie Heidegger »Dasein« und das Seinsverständnis des Daseins begreift. Der § 9 von Sein und Zeit, der das Thema der Analytik des Daseins bestimmt, beginnt mit den Sätzen:
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Das Seiende, dessen Analyse zur Aufgabe steht, sind wir je selbst. Qas Sein dieses Seienden ist je meines. Im Sein dieses Seienden verhält sich dieses selbst zu seinem Sein. Als Seiendes dieses Seins ist es seinem eigenen Sein überantwortet. Das Sein ist es, darum es diesem Seienden je selbst geht. (SZ 4 t f.)
Und diese Charakteristika zusammenfassend, sagt Heidegger: • Das >Wesen< dieses Seienden liegt in seinem Zu-Sein« (5Z 42). Wenn mit dem Wesen bezeichnet ist, was das Dasein ist (essentia), so liegt in der Bestimmung des Wesens als Zu-sein zunächst, daß jedes Seiende von der Seinsart des Daseins dadurch, wie es sich zu seinem Sein verhält, also welche Möglichkeiten zu sein es wählt bzw. verwirft, bestimmt, was es ist. Sich zu seinem Sein als zu dem, was es je sein kann und sein will, zu verhalten ist charakteristisch für das Dasein in der Seinsbe· stimmung der Existenz. Mit .Existenz« bezeichnet Heidegger also das Sein des Daseins lediglich unter einem bestimmten Aspekt. Für die .mögliche[n] Weisen zu sein« (5Z 42) gilt nun, daß wir sie nurergreifen können, wenn wir mit ihnen bekannt sind; da aber jedes Seiende von der Seinsart des Daseins immer nur einen begrenzten Bereich von Handlungszielen, Haltungen und Verhaltensweisen kennt, kann Hei· degger sagen, daß wir unserem Sein überantwortet sind. Aber diese Formulierung impliziert noch mehr: daß wir uns zu unserem Sein verhalten können und inder Wahl zwischen möglichen Weisen zu sein frei im Sinne dt;r Freiwilligkeit sind, 11 besagt auch, daß wir uns zu unserem Sein nicht nicht verhalten können. Dies macht die Faktizität des Daseins aus, zu der wir uns existenziell verhalten müssen. Mit dem Gesag· ten ist auch zunächst die Bestimmung geklärt, derzufolge das Sein .je meines« ist: jeder ist dadurch charakterisiert, sich verhalten zu müs· sen, gleichgültig, ob er sich darüber Klarheit verschafft oder nicht; und dies kann ihm in Wahrheit niemand abnehmen, selbst wenn er ver· sucht, sich·von seinem Sich-Verhalten-müssen zu entlasten. Damit sind auch bereits die beiden grundlegenden Seinsmöglichkeiten des Daseins vorgezeichnet; mit den Worten Heideggers gesagt: weil Dasein je seine Möglichkeit ist, .kann dieses Seiende in seinem Sein sich selbst )wählenvertraut sein mit ",e Gemäß dieser auf den ersten Blick befremdlichen Bedeutung des »in« - Heidegger belegt sie mit der etymologischen Ableitung Jakob Grimms lJ - kann nur Seiendes von der Seinsart des Daseins in der Welt sein. Heidegger versteht diesen Gedanken als eine Radikalisierung der Husserischen Theorie der Intentionalität. 14 Er faßt die von Husserl aufgewiesene Struktur der Vernunft jedoch so, daß nun nicht mehr allein das Erkennen seine Bezogenheit auf Gegenstände impliziert und deshalb die erkenntnistheoretische Frage nach der Möglichkeit einer Relation zwischen Subjekt und Objekt hinfällig wird. Vielmehr hält Heidegger auch noch die von Husserl vorausgesetzte Gegebenheit der Gegenstände im Bewußtsein für ein cartesianisches Dogma, dem· gemäß das Bewußtsein selbst als res verstanden werden muß. Gerade weil Husserl davon ausging, daß die Evidenz der Gegebenheit von Gegenständen im Bewußtsein begründet sei, konnte er die Selbstgegebenheit des Bewußtseins analog der Gegebenheit von Gegenständen denken. Dabei ist es prinzipiell gleichgültig, daß die Gegenstände auch bei Husserl in einem» Welt« genannten Zusammenhang stehen. Der Ansatzpunkt für Heideggers Kritik ist nämlich, daß »Welt« bei Hus· serl als Korrelat der Subjektivität gedacht wird, das durch die transzendentale Reduktion in seiner Gegebenheit für die Subjektivität mit dieser zum Gegenstand der Reflexion werden kann. Das Konzept der Selbstgegebenheit als einer wenn auch ausge· zeichneten Subjekt-Objekt-Relation ist in den Augen Heideggers jedoch regressiv, weil es gerade keine Antwort auf die Frage-» nach dem Seinscharakter des Bewußtseins« (GA 20, 147) gibt. Heideggers AI-
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ternative zur Argumentation Husserls besteht nun darin, daß er so· wohl die )Selbstgegebenheit< des Bewußtseins als auch die Gegebenheit von Gegenständen einsichtig zu machen versucht, indem er beide auf den Seinscharakter des Daseins zurückführt. Dasein ist an ihm selbst so verfaßt, daß es sowohl von sich als auch von den Gegenständen immer nur im Zusammenhang mit anderen Seienden von der selben Seinsart und mit anderen Gegenständen weiß. Dieses Wissen ist in dem Sinne unhintergehbar, daß es seinerseits nicht noch einmal zum Gegenstand des Wissens gemacht werden kann. Das zu versuchen wäre gleichbedeutend mit einer Rückkehr in den HusserIschen Regreß, und deshalb ist es auch nur konsequent, wenn Heidegger die den Regreß artikulierende Rede vom Bewußtsein und vom Erkennen, das einen Gegenstand hat, überhaupt verwirft. An ihre Stelle treten bei Heidegger die Tennini »Erschlossenheit« und »Verstehen«. »Erschlossenheit« meint daher gerade nicht die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß Dasein Gegenstände auf Grund seiner eigenen Konsti· tutionsleistung haben kann, die für sich noch einmal in einer transzendentalen Reduktion aufklärbar wäre, SOndern das Begegnen von Gegenständen in der Weise, daß das Begegnen durch die Seinsart des Daseins geprägt ist. Während die transzendentalphilosophische Position Husserls immer noch die Kantische Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis zu beantworten suchte, die nach der LelZtbegründung von Erkenntnis und damit auch nach einem Maßstab ihrer Gewißheit fragt, setzt Heidegger den Möglichkeitscharakter des Daseins unhintergehbar an: Gegenstände können begegnen, weil das Dasein Möglichsein ist, und sie begegnen primär als Möglichkeiten des Daseins. lli Möglichkeit als Existenzial 16 ist, wie Heidegger sagt, »die ursprünglichste und letzte positive ontologische Bestimmtheit des Daseins« (5Z 143 C.). Nach der Gewißheit von ErkeDnlnis überhaupt zu fragen, ist nun unsinnig, weil Dasein in seinem Möglichsein von vornherein als weltlich gedacht wird. Die Frage nach der Gewißheit der Welt ist ihrerseits in der Subjekt-Objekt-Relation befangen und kommt nur zustande, indem dasjenige, dessen Gewißheit begründet werden soll, von dem, was die Gewißheit begründen soll, abgetrennt wird. Wenn jedoch der Gedanke einer von der res extensa abgetrennten res cogitans aufgegeben wird, muß auch unser Verhältnis zu den Gegenständen anders bestimmt werden. Deshalb ersetzt Heidegger den Ter!"inus »Erkennen« durch denjenigen des »Verstehens« und deutet das
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Erkennen lediglich als einen Sonderfall des Verstehens. Es wird sich zeigen, daß die Gewißheitsproblematik in diesem Zusammenhang nicht einfach eliminiert wird, sondern ebenfalls eine Umdeutung erfährt. Gegenstände kommen dem Dasein nicht primär )in den Blick(, san· dem sind ihm zuhanden. Indem wir mit den Dingen, die von Heideg· ger als Zuhandene .Zeug« genannt werden, umzugehen wissen, wis· sen wir, was das jeweilige Ding ist. Diese Auffassung des Wissens als eines praktischen Wissens impliziert die Pluralität von Zeug: Ein Zeug ,ist< strenggenommen nie. Zum Sein von Zeug gehön je immer ein Zeugganzes, darin es dieses Zeug sein kann, das es ist. Zeug ist wesenhaft >etwas, um zu ...Um-zuentsprechend< zu ihnen verhalten. Dieses »entsprechende Verhalten« ist allerdings kein alltägliches mehr: Je einsamer das Werk, festgestellt in die Gestalt, in sich steht, je reiner es alle Bezüge zu den Menschen zu lösen scheint, um so einfacher mit der Stoß. daß solches Werk ist, ins Offene, um so wesentlicher ist das Ungeheure aufgestoßen und das bislang geheuer Scheinende umgestoßen. Aber dieses viemiltige Stoßen hat nichts Gewaltsames: denn je reiner das Werk selbst in die durch es selbst eröffnete Offenheit des Seienden entrückt ist, um so einfacher rückt es uns in diese Offenheit ein und so zugleich aus dem Gewöhnlichen heraus. Dieser Verriickung folgen, heißt: die gewohnten Bezüge zur Welt und zur Erde verwandeln und fortan mit allem geläufigen Tun und Schätzen, Kennen und Blicken ansichhalten, um in der im Werk geschehenden Wahrheit zu verweilen. (UK 54174 r.)
Indem Heidegger die Erschlossenheit instabiler Freiheit zur Eröffnung des Wechselspiels von Welt und Erde transformiert, denkt er zwar noch die andere Einstellung zur Welt, die für das eigentliche Verstehen charakteristisch war; aber diese andere Einstellung betrifft nun nicht mehr das sich entwerfende, alltägliche In-der·Welt-sein, sondern das Werk rückt die Menschen in dem Sinne in die Welt ein, daß es ihrem geläufigen Tun und Schätzen - und damit der Alltäglichkeit Einhalt gebietet. Deshalb kann Heidegger auch sagen, daß das entsprechende Verhalten zum Werk »das Für· und Miteinandersein als das geschichtliche Ausstehen des Da-seins aus dem Bezug zur Unverborgenheit« »gründet« (UK 55/77 - Hervorh. von mir). Zu solcher Gründung, die dem Dasein gemäß der Konzeption von Sein und Zeit in seiner Abgründigkeit versagt blieb, ist das Werk fähig, weil es Dichtung ist. Unter »Dichtung« versteht Heidegger, wie er im dritten Vortrag der Abhandlung zeigt, nicht etwa einen speziellen Gebrauch der Sprache. Vielmehr ist alle Sprache ihrem Wesen nach Dichtung, und in einer von Heidegger nicht näher bestimmten Weise haben alle Künste am Dichtungscharakter der Sprache Anteil. Das dichterische Wesen der Sprache liegt in ihrem .Nennen«: Indem die Sprache erstmals das Seiende nennt, bringt solches Nennen das Seiende erst zum Wort und zum Erscheinen. Dieses Nennen ernennt das Seiende zu seinem Sein aus diesem. Solches Sagen ist ein Entwerfen des lichten, darin angesagt wird, als was das Seiende ins Offene kommt. Entwerfen ist das Auslösen eines Wurfes, als welcher die Unverborgenheit sich in das Seiende als solches schickt. (UK 61/84)
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Aus dieser Fassung von »Entwurfe sind die praktischen Implikationen, die Heidegger in Sein und Zeit veranJaßten, das Verstehen als Entwurfzu denken, zwar nicht getilgt, aber doch entscheidend modifiziert. Denn was in Sein und Zeit» Verstehene hieß, ist nun »entsprechendes Verhaltene geworden, d. h. ein Sprechen in der durch die Kunst eröffneten Offenheit. Der Mensch, so sagt der späte Heidegger, »spricht nur, indem er der Sprache entsprichte .32 Und der dichterische Entwurf des Werkes ist es, der zum Sprechen bringt, indem er Welt eröffnet. Mit diesem Gedanken hat Heidegger die Divergenz von existenziellem Entwerfen und existenzialer Interpretation scheinbar aufgelöst. Als Entwürfe geben die Kunstwerke den Menschen die Offenheit vor, in der sie sein können, und machen ihnen ausdrücklich, daß und wie sie sind. Damit, so könnte man denken, ist die Möglichkeit eigentlicher Praxis einsichtiger gemacht als im Rekurs auf die Erfahrung eigener InstabiJüät in der Angst. Denn während die Angst in ihrer Unverständlichkeit der existenzialen Interpretation als eines xa't'lYOQEiaßal bedurfte, sind die Kunstwerke övta, begegnende Seiende, zu denen wir uns verhalten können und die für das Dasein begründend sind, ohne letzter und unzeitlicher Grund im Sinne der Platonischen rÖEa 'tau ayaßoii zu sein. Wenn Heidegger demzufolge auch nach Sein und Zeit seiner Orientierung an menschlicher Praxis treu bleibt, so verändert sich doch damit, daß diese keine daseinsa"alytische Orientierung an alltäglicher Praxis mehr sein will, sein Selbstverständnis: statt von der Philosophie spricht er nun vom »Denkene, das »die Sprache in das einfache Sagen. 33 sammelt und sich in seinem bewußt hermetischen Verfahren der Poesie angleicht. Die Fragwürdigkeit dieses Verfahrens liegt jedoch darin, daß auch das späte Denken Heideggerssich noch im Rahmen der.ienigen Fragestellung bewegt, die durch die existenziale Interpretation exponiert und ausgearbeitet worden war. Nur dann nämlich, wenn man den Gedanken der instabilen Freiheit voraussetzt, läßt sich einsehen, weshalb wir den eröffnenden Entwürfen der Kunstwerke auch nicht entsprechen können. Daß Dasein sich in den Kunstwerken andererseits verstehen kann, setzt seine eigene Seinsstruktur und deren Zugänglichkeit fürdas Dasein selbst voraus: indem es den Kunstwerken entspricht, läßt Dasein sich einen Grund sein, dessen es nur in seiner Abgründigkeit bedarf. Auch nach Sei" und Zeit bleiben also fürdas Denken Heideggers die antihermeneutischen Momente der existenzialen Interpretation we-
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sentlich. Dies mag ihn dazu bewogen haben, nun auch die auslegende Darstellung alltäglichen Verstehens nicht mehr .Hermeneutik« zu nennen. Weil aber die Bestimmung, daß die Sprache selbst >hermeneutisch< ist, nichts mehr mit einer wie auch immer gefaßten begriffljehen Klärung sprachlichen Verstehens (etwa gar im Sinne einer >Kunstlehre() zu tun hat, ist Heideggers Verzicht auf den Titel .Hermeneutik. konsequent.
Anmerkungen 1 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tühingen ·1975. S. 245. 2 Manin Heidegger, Sein und Zeit, (hrsg. v. F.-W. von Herrmann), Frankfurt/Mo t 977 (: Gesamtausgabe, I. Abt:, Bd. 2), S. 37 (künftig zitiert als 52, und zwar um der leichteren Auffindbarkeit der Zitate willen mit den in der Gesamtausgabe beigegebenen Seitenzahlen der Originalausgabe). 3 F[riedrich] D{anicl] E[rnst] Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers, hrsg. U. eingel. v. M. Frank, Frankfurt/M. 1977, S.71. 4 Manin Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, (hrsg. v. K. Held), Frankfurt/M. 1978 ('" Gesamtausgabe. 2. Abt., Bd. 26), S. 178 (künftig zitien als GA 26). 5 Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 250. 6 Ebd. S. 246. 7 Ernst Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, Frankfurt/M. 1976, vor allem S. 13-124. 8 Gadamer, Wahrhei! und Methode, S. 359. 9 Ernst Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. SprachanaJytische Interpretationen, Frankfurt/M. 1979, vor allem S. 236 ff. Vgl. aber auch ders., Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, S. 497 ff., u. ders., Der Wahrheitsbegrirf bei Husscrl und Heidegger, Berlin 1970, S. 321 ff. IO Manin Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, (hrsg. v. F.-W. von Herrmann), Frankfurt/M. 1975 (= Gesamtausgabe, 2. Abt., Bd. 24), S. 402 (künftig zitiert als GA 24). II Wir sagen von jemandem, daß er freiwillig gehandell hat, wenn er auch anders hälle handeln können. Diese klassische Definition der Freiwilligkeit findet sich präzise dargestellt in: Gilben Ryle, Der Begriff des Geistes, (The Concept of Mind, übs. v. K. Baier), Stungan 1969, S. 78-106. 12 Die Auffassung der Welt als AJI des Seienden ist Heidegger zufolge erst für die neuzeitliche Metaphysik charakteristisch. In GA 26, 218ff. erläutert Heidegger seinen eigenen Weltbegriff im Kontext der antiken und christlichen Tradition.
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13 Vgl. S2 54; außerdem: Manin Heidegger, Prolegomena zur Geschidne des Zeitbegriffs, (hrsg. v. P. Jaeger), Frankfurt/M. 1979 (= Gesamtausgabe. 2. AbI.. Bd. 20), S. 213 (künftig zitien als GA 20). 14 Zur ausftihrlichen Kritik Heideggers an Husserl vgl. GA 20, 34-171, u. Tugendhat, Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, S. 262 ff.
15 Vgl. Tugendhat, Wahrheitsbegriffbei Husserl und Heidegger, S. 262ff. Tugendhat maeln hier gehend, daß Heidegger nicht etwa, wie Husserl meinte. aus der trans:zendenlalphilosophi:schen Problematik in ein naives Verständnis der Welt zurückfällt. sondern vielmehr den transzendentalphilosophisdlen AnsalZselbst radikalisien. Aber Heidegger .küml die transzendentale Reduk· tion. indem er die Sdbstgegebenheil des Daseins nicht mehr nach dem Muster einer Subjekt-Objekt-Relatioo denkt. Dadurch wird das die transzendentale Reduktion 'eitende Interesse an Unbezweifelbarkeit und Gewißheit unmöglich. Wenn man diesen AnsalZ noch .uans:zendentalphibsophisc:h< nennen will, muß man mindestens sagen, daß der Begriff der Transzendentalphibsophie hier eine andere Bedeutung hat als bei Husserl. Die Weise, in der Heidegger, wie ich unten zeigen werde, den Gedanken der Gewißheit aufnimmt, hält Tu· gendhat selbst für -analytisch wohl begrtlndetc. Vgl. Tugendhat, Selbstbe· wußtsein und Selbstbestimmung. S. 235. 16 Auf den Begriff des .Existenzialse gehe ich weiter unten ausführlicher em. n Von der .Venrautheitl her, wie ich sie dargestellt habe, ist auch die beriihmte Definilion der ,Welte,SZ 86, zu verstehen. Wenn Heidegger »Weite bestimmt als das »Worin des sichvc,.....risenden Versuhens als Woraufhin des Begegnen/arsens von Seiendem in der Seinsarr der Bewandtnise, so ist das • Worine im Sinne des .In-seinsc, also der Vertrautheit, mit gemeint. Es ist also nicht so, daß wir .in'" der Welt sind und dann mit ihr vertraut, sondern das Ver· trautsein macht gerade das In·sein aus. 18 In: SelbstbewuBtsein und Selbstbestimmung, S. In. weist Tugendhat auf den .eigentümlichen und sachwidrigen Egozentrismuse in dem Terminus .Dasein. hin und macht geltend, daß sich .oasein. in dieser Hinsicht von »Subjektivität. oder »Bewußtseine nicht grundsätzlich unterschiede. Als singulare tanturn habe .Oasein. eine andere Grammatik als .Mensch. oder .Person •. 'Tatsächlich kommt Heidegger immer wieder in Ausdrucksschwie· ripeiten. wenn er die Pluralität von .Seienden von der Seinsart des Daseins. im Blick hat. Sachlich scheint er mir jedoch durchweg von dieser Pluralität auszugehen. 19 Dies hat die Kritik an Heideggers Terminus der »Auslegung", vielfach übersehen. So schreibt Gerold Prauss: .Oiese Idee der >Vorprädikativen( Wahrnehmung indessen bleibt unverständlich. und zwar in doppelter Hinsicht. Nicht nur wird nicht verständlich, was jene Struktur des >etwas als etwas" die auch Heidegger der Wahrnehmung lassen muß, eigentlich anderes sein soll als die Grundstruktur der Prädikation. Es wird auch umgekehrt nicht verständlich, wie diese Grundstruktur der Prädikation bloß in der Äußerlichkeit einer Aussage bestehen soll.'" (Prauss, Erkennen und Handeln in Heideggers Sei" und :&iI, Freiburg und München 1977, S. 32.) Die argumentative VorausselZung
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von Prauss ist eine grundsätzliche Trennung des »etwas als etwas_ von der Aussage, die Heidegger in dieser Weise nicht vornimmt. 20 Mit diesem Gedanken steht Heidegger in der Tradition Wilhelm von Humboldts. So schreibt Humboklt: »Denn wenn wir gleich gewöhnt sind. von den Lauten zu den Wönern und von diesen zur Rede überzugehen. so ist im Gange der Natur die Rede das Erste und das Bestimmende.« (Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues § 26, in: Wllhelm von Humboldt. Gesammelte Schriften, hrsg. v. A. Leitzmann (u. 30.1, Bd. 6, Berlin 1907, S. 111-303, hier S. 142 f.) 21 Auf die Vieldeutigkeit des Heideggersdlcn Verstchensbegriffes weiSI auch Thgendhat hin: Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, S. 226. 22 Daraus folgert Heidegger konsequenterweise die Endlichkeit der Zeit· lichkeit; die Unendlichkeit der Zeit ist ein Privativum. Vgl. dazu GA 24,442. 23 So ist der Möglichkeitsbegriff hier gemeint. Den Tod eine Möglichkeit des Daseins zu nennen, heißt also nicht, dem Dasein eine propositionale Möglichkeit zuzusprechen, sondern eine logisch dispositionale. Man kann also nicht sagen: es kann sein, daß Seiendes von der Seinsan des Daseins stirbt, es kann aber auch nicht sein; sondern nur: solange es Dasein gibt, kann dieses sterben. wenn bestimmte Bedingungen eintreten. 24 Deshalb erscheint es mir auch unplausibel, das _Oaseinsverständnis_ von Sein und ZLil als »heroi5che.n Nihilismus_ zu bezeichnen; so Walter Schulz. Oberden philosophiegeschichtlichen Ort Martin Heideggers. in: 0110 Pöggeler (Hg.), Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines Werks, Köln 1969, S. 95-139, hier S. 115. 25 Platon, Politeia 509 b 7-10, in: Plato, Opera, hrsg. v. J. Burnet, Bd. 4, Oxford 1902; Obs. in: Platon, Sämtliche Werke, nach der übersetzung von F. Schieiermacher hrsg. v. W. F. Ouo, E. Grassi. G. Plamböck, Bd. 3, Hamburg 1958, S. 67-310, hier S. 221. Zum folgenden vgl. Politeia 507e-509c. 26 Vgl. dazu Hans-Georg Gadamer, Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles, Heidelberg 1978 (- SilZUngsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philos.·histor. KI., Jg. 1978. Abh. 3), S. 75. 27 Martin Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, in: ders., Wegmarken, (hrsg. v. F.·W. von Herrmann), FrankfunlM. 1976 (= Gesamtausgabe, I. Abt., Bd. 9). S. 203-238, hier S. 228 (künftig zitien aJs PLW). 28 Manin Heidegger, Was ist Metaphysik?, in: den., Wegrnarlr.en. S. 103-122, hier S. 122. 29 Manin Heidegger, Aus einem Gespräch von der Sprache, in: den., Unterwegs zur Sprache, Pfullingen '1979, S. 83-155. hier S. 121 (lcünflig zitiert als GS). 30 Manin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, in: den., Holzwege, (hrsg. v. F.-W. von Herrmann), Frankfurt/M. 1977 (- Gesamtausgabe, 1. Ab!., Bd. 5), S. 1-74 (künftig zitien als UK. unter Hinzufiigung der Seitenzahl der Reclamausgabe: Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, mit einer Eint. v. H.·G. Gadamer, Sluugan 1960). - Die Bezeichnung der Teile der Abhandlung als .Vonräge« stammt von Heidegger. 118
.]~~.
31 Zu Heideggers Wahtheitsbegriff vgl. Tugendhllt, Wahtheilsbegtiff bei Hussetl und Heidegget, S. 259-405. 32 Martin Heidegget, Die Sprache, in: ders., Unlerwegs zur Sprache, S. 9-33, hier S. 33. 33 Martin Heidegger, Brief über den Humanismus, in: ders., Wegmarken, S. 313--364, hier S. 364.
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Wahrheit oder Methode? H.-G. Gadamers »Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik«
.Der Sinn meiner Untersuchungen ist jedenfalls nicht, eine allgemeine Theorie der Interpretation und eine Differenziallehre ihrer Methoden zu geben, wie das E. Beui vorzüglich getan hate, erläutert Gadamer selbst den Doppeltitel seines Buches, »sondern das allen Verstehensweisen Gemeinsame aufzusuchen und zu zeigen, daß Verste· hen niemals ein subjektives Verhalten zu einem gegebenen )Gegenstande< ist, sondern zur Wirkungsgeschichte, und das heißt: zum Sein dessen gehört, was verstanden wird.e I Der Leser, der sich über Ansätze und Probleme einer »philosophischen Henneneutik_ orientieren wollte, sieht sich getäuscht: statt ihn in der Methode des Verstehens zu unterrichten, was der Titel immerhin auch versprach, unter· richtet ihn das Buch über die Wahrheit des Verstehens. Es gehört je· doch zu den Eigenheiten dieses Buches wie seiner Wirkung, daß sein Autor hält, was er nicht verspricht. Vergleicht man Zahl und Gewicht der Rezensionen sowie die Rolle, die das Buch in den Debatten der 60er und 70er Jahre spielte, so besteht kein Zweifel, daß der Text zu einem vieldiskutierten Werk der wissenschaftlichen Literatur gerade auf dem Feld wurde, das nach der Auskunft des Vorworts das unfruchtbarste ist: das der Methode. Nun wäre es sicher zu einfach, wenn man den Widerspruch dadurch erklären wollte, daß die Berufung auf die Wahrheit des Verstehens in diesem Buch selbst Methode hat. Nahegelegt wird diese Hypothese jedoch nicht nur durch eine Reihe methodischer Grundsätze, in denen der Leser seine eigene Erfahrung im Umgang mit Texten wiedererkennt, sondern auch dadurch, daß .die hier gestellte Frage (...] etwas aufdecken und bewußt machene will, .was die moderne Wissenschaft nicht so sehr begrenzt odcr einschränkt, als vielmehr ihr vorausliegt und sie zu ihrem Teile möglich macht_ (XVII). Seit DHthey ist es üb-
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lieh, den Gegensatz von Natur- und Geisteswissenschaften methodologisch, durch die Gegenüberstellung von »Erklären« und »Verste~ hen«, zu definieren - »Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir«:l -, wobei das Verstehen als Verfahrensmoment auf die Eigenart geisteswissenschaftlicher Gegenstände zurückbezogen wird: »So ist überall der Zusammenhang von Erleben, Ausdruck und Ver~ slehen das eigene Verfahren. durch das die Menschheil als geisteswissenschaftlicher Gegenstand für uns da ist.«l Wenn Gadamer den Gesichtspunkt des »Verfahrens« durch den Gesichtspunkt der »Zugehö~ rigkeit« ersetzt, daß nämlich das» Verstehen [...) zum Sein dessen ge~ hört, was verstanden wird«, so argumentiert er, wenn auch auf andere Weise als die Verfechler der »Einheitswissenschaft«.4 für eine Aufhebung der Dichotomie von Natur- und Geisteswissenschaften, wobei er sich sowohl auf Kant als auch auf Heidegger beziehe Als eine Theorie des Verstehens, die in das Feld der angewandlen Logik gehöre, hatte bereits F. Schleiermacher die .allgemeine Hermeneutik« konzipiert: .Der Philosoph an sich hat keine Neigung, diese Theorie aufzustellen, weil er selten verstehen will, selbst aber glaubt, notwendig verstanden zu werden.e s Gadamer greift diesen Ansatz auf, indem er die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Erkennens durch die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens ersetzt: • Wie ist Verstehen möglich?« (XVlI). Um die Universalität 6 des hermeneutischen Ansatzes zu demonstrieren, behauptet Gadamer - am Beispiel der _Kunsl« und der _Tradition des ästhetischen Humanis~ mus« (XVI) - eine Determination des Verstehens durch diezu verste~ hende _Sache« (360). Nicht die Methode garantiere die Einheit unse~ rer Erkenntnis, sondern das _wirkungsgeschichlliche Bewußtsein«. worunter er das .im Gang der Geschichte erwirkte und durch die Ge· schichte bestimmte Bewußtsein« verstehl, das zugleich .ein Bewußtsein dieses Erwirkt- und Bestimmtseinse ist (XXH.). Mit der historisch-philologischen Hermeneutik Schleiennaehers und Diltheys bleibt Gadamer dadurch verbunden, daß er einerseits an einer Auffassung der Sprache als _Gespräche, andererseits an einem _methodischen Vorzuge der schriftlichen überlieferung fest hält. D. h. aber, gerade indem er diese Frage offenläßt, basiert seine Argumentation in letzter Instanz auf einer Spielart des _hermeneutischen Zirkels«: der Wechselimplikation von .Textsinn« und »Sache«.' die in der Rekonstruktion des .überlieferungsgeschehens« ausgeführt wird. Die Gadamer-Rezeption der 60er und 70er Jahre hai entweder die 121
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