Gisela Steins (Hrsg.) Handbuch Psychologie und Geschlechterforschung
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Handbuch Psychologie und ...
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Gisela Steins (Hrsg.) Handbuch Psychologie und Geschlechterforschung
Gisela Steins (Hrsg.)
Handbuch Psychologie und Geschlechterforschung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Kea S. Brahms VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Umschlaggrafik: Alexandra Gerdemann Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16391-8
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 1. Einführung in „Psychologie und Geschlechterforschung“ Gisela Steins
9 11
(Historische Anfänge der Geschlechterforschung, theoretisches Spannungsfeld, Auswahl der Beiträge, Inhalt und Gebrauch des Buches)
Teil I Mädchen und Jungen, Frauen und Männer: Unterschiede versus Gemeinsamkeiten – Grundlagen 2. Sozialpsychologie Sozialpsychologie und Geschlecht: Die Entstehung von Geschlechtsunterschieden aus der Sicht der Selbstpsychologie Bettina Hannover
27
(Konstruktion von Geschlecht im sozialen Kontext, Geschlechtsrollenstereotype, Salienz von Geschlecht)
3. Emotionspsychologie Emotionen der Geschlechter: Ein fühlbarer Unterschied? Ljubica Lozo
43
(Rationaler Mann – emotionale Frau? – Das Erleben von Emotionen, Ausdruck von Emotionen)
4. Motivationspsychologie Gendering motivation: Geschlechterdifferenz im Wechselspiel von Nature und Nurture Marlies Pinnow
55
(Motiv nach Anschluss und Intimität, Leistungs- und Machtmotiv, Epigenetik, Anpassungsprozesse)
5. Neuropsychologie Kognitive Geschlechtsunterschiede Marco Hirnstein und Markus Hausmann (Geschlechtsunterschiede in verschiedenen kognitiven Fähigkeiten: Existenz, Erklärung, Konsequenzen für die Gesellschaft)
69
6
Inhaltsverzeichnis
6. Kognitive Neurowissenschaften Gehirn zwischen Sex und Gender – Frauen und Männer aus neurowissenschaftlicher Perspektive Kirsten Jordan
87
(Biologische Determiniertheit von Geschlechterdifferenzen, Rolle der sozialen und Umweltfaktoren, Sexualhormone und Gehirn während der perinatalen Phase, hirnanatomische Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen erwachsenen Frauen und Männern)
7. Allgemeine Psychologie I Sollten geschlechtsspezifische Unterschiede in der Allgemeinen Psychologie berücksichtigt werden? Hilde Haider & Ewelina D. Malberg
105
(Menschliche Informationsverarbeitungsprozesse, Gedächtnis und Männer und Frauen, Bezug zur neurophysiologischen Forschung)
Teil II Mädchen und Jungen, Frauen und Männer: Entwicklungsverläufe 8. Entwicklungspsychologie Körper und Geschlecht im Jugendalter: Schlaglichter auf eine Entwicklungsaufgabe für beide Geschlechter Annette Boeger
133
(Entwicklung des Körperbildes, weibliche und männliche Vorstellungen vom Körper, Körperbild im Jugendalter)
9. Entwicklungspsychologie, Kulturwissenschaften, Biopsychologie Evolutionäre Grundlagen geschlechtstypischen Verhaltens Doris Bischof-Köhler
153
(Anlagebedingte Grundlage von Verhalten, Zusammenspiel von anlagebedingten Neigungen und soziokulturellen Einflüssen)
Teil III Mädchen und Jungen, Frauen und Männer: Ein Blick in verschiedene Lebenswelten? 10. Pädagogische Psychologie Pädagogische Psychologie und Geschlechterforschung Barbara Moschner
175
(Jungen als Verlierer des Bildungssystems? – Mädchen als Verliererinnen des Bildungssystems?)
11. Gesundheitspsychologie Genderforschung in der Gesundheitspsychologie Monika Sieverding (Sind Frauen kränker als Männer? Was macht Frauen krank? Warum sterben Männer früher? Geschlechtsunterschiede in Morbidität und Mortalität)
189
Inhaltsverzeichnis 12. Verkehrspsychologie Verkehrspsychologische Gender-Forschung Maria Limbourg und Karl Reiter
7 203
(Verhalten sich Männer riskanter im Straßenverkehr als Frauen? Statistiken zu Unfallhäufigkeit, Todesfolge im Straßenverkehr, Erklärungsmodelle)
13. Medienpsychologie Gender und Games – Medienpsychologische Gender-Forschung am Beispiel Video- und Computerspiele Sabine Trepte und Leonard Reinecke
229
(Was spielen Mädchen am Computer und was Jungen? Nutzung des Computers aus Gednerperspektive, Erklärungsmodelle)
14. Forensische Psychologie Die Analyse anonymer Schreiben unter Berücksichtigung von Gender-Aspekten Henriette Haas
249
(Geschlecht als ein Merkmal der Urheberschaft eines anonymen Textes, Sprachanalyse, Profiling)
15. Sportsoziologie Hat Führung ein Geschlecht? – Karrieren und Barrieren in ehrenamtlichen Entscheidungsgremien des organisierten Sports Sabine Radtke
271
(Geschlechterverteilung in ehrenamtlichen Führungspositionen des Sports, Ursachenanalyse, Entwicklung von Maßnahmen zur Erhöhung des Frauenanteils in den Führungspositionen von Sportverbänden)
16. Politische Psychologie Frau sein – eine Herausforderung? – Gender Mainstream und Politische Psychologie Petia Genkova
289
(Geschlechterrollen und Geschlechtervorurteile, Geschlechterstereotypen, besondere Berücksichtigung von Wohlbefindenskonzepten)
Teil IV Das Fach Psychologie aus einer Genderperspektive: Kritik und Reflexion 17. Friedenspsychologie Krieg und Frieden – feministische Perspektiven der Friedenspsychologie Miriam Schroer (Verankerung der Kategorie Geschlecht im friedenspsychologischen Gegenstandsbereich, Eckpunkte für die Erforschung von Krieg und Frieden, Darstellung zentraler Diskussionslinien feministischer Friedenspsychologie)
305
8
Inhaltsverzeichnis
18. Arbeits- und Organisationspsychologie Von „Frauen in Führungspositionen“ zu „doing gender at work“? Konzeptionalisierungen von Geschlecht in der deutschsprachigen Arbeits- und Organisationspsychologie Julia C. Nentwich & Martina Stangel-Meseke
327
(Wie Geschlecht als Untersuchungskategorie in einzelne Forschungsarbeiten der deutschsprachigen Arbeits- und Organisationspsychologie Eingang gefunden hat)
19. Differentielle Psychologie Geschlecht und Gender in (einer Kritik) der Differentiellen Psychologie Katharina Rothe
351
(Skizzierung klassischer differentialpsychologischer Ansätze, Psychoanalyse als Theorie und Methode zur Lösung von konzeptuellen Problemen der Genderforschung psychoanalytisch orientierte Geschlechterforschung)
20. Kritische Psychologie Dark Continent. Über das Unbewusste von Sexismus und Rassismus Martina Tißberger
371
(Gender als ein Merkmal der Differenz zwischen Subjekten Verschränkung mit anderen Merkmalen: Ethnizität, Klasse oder ‚Rasse’, Analyse am Beispiel der Psychoanalyse)
21. Überdisziplinäre Reflexion Die Beteiligung von Frauen an der Entwicklung der wissenschaftlichen Psychologie – ein historischer Rückblick Elfriede Billmann-Mahecha
395
(Akteurinnen der wissenschaftlichen Psychologie, aktuelle Lage von Frauen in den Wissenschaften in Deutschland, Frauen seit der Etablierung der Psychologie als eigenständige Disziplin, inhaltlicher Beitrag von Frauen zur Entwicklung der wissenschaftlichen Psychologie)
22. Nicht sexistischer Sprachgebrauch Nicht sexistischer Sprachgebrauch: die stochastische Genuswahl Norbert Nothbaum & Gisela Steins
409
(Möglichkeiten des Sprachgebrauchs in Hinblick auf die Wahl des Genus, Die stochastische Geschlechterwahl)
Ausblick
417
Literaturempfehlungen
419
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
421
Vorwort
Obwohl sowohl Frauen als auch Männer der Spezies Mensch angehören und sich im Vergleich zu einer beliebigen anderen Spezies mehr ähneln als unterscheiden, entzünden Spekulationen, Beobachtungen und Erfahrungen über und mit Männern und Frauen immer wieder die menschliche Phantasie dahingehend, dass Frauen und Männer als verschiedenartige Individuen wahrgenommen werden. Die Psychologie als Wissenschaft hat interessante Erkenntnisse aus den unterschiedlichsten Disziplinen zu dieser Frage und damit zusammenhängenden Themen zusammengetragen. Das Ziel dieses Bandes ist es, diese Erkenntnisse vorzustellen. Herausgekommen sind vielschichtige Ergebnisse. Erstens zeigt sich der Facettenreichtum der Psychologie als Wissenschaft und wie phantasievoll und sorgfältig methodisches Wissen zur Erforschung der Geschlechter eingesetzt wird. Allein die in diesem Band versammelte Methodenvielfalt ist die Lektüre wert. Zweitens wird deutlich, wie komplex Geschlechterforschung betrieben werden muss, damit sie zu wirklich überzeugenden Ergebnissen führen kann. Drittens wird ersichtlich, wie außerordentlich nützlich die psychologische Geschlechterforschung ist, denn mit ihr wird der Blick auf die Menschen differenzierter, Risikogruppen können erkannt und besonders behandelt werden, komplexe Phänomene werden verständlich, Lösungen für Probleme können generiert werden. Ich bin sicher, dass die Leserinnen und Leser des Bandes von der Lektüre profitieren werden und sich ihr Blick auf menschliches Erleben und Verhalten differenzieren und schärfen wird. An einem solchen Band wirken viele Hände mit. Ich danke vor allem unserer Lektorin Kea Brahms für ihre wertvolle Anregung und Unterstützung und den hier versammelten Autorinnen und Autoren für ihre interessanten Beiträge und professionelle Kooperation. Den Leserinnen und Lesern wünsche ich nicht nur viel Vergnügen bei der Lektüre, sondern vor allem viele Anregungen und Erkenntnisse. Herbst 2009
Gisela Steins
1. Einführung in „Psychologie und Geschlechterforschung“ Gisela Steins
Psychologie ist die Wissenschaft vom Erleben und Verhalten des Menschen. Aus einer Vielzahl von Perspektiven, die sich als Fachdisziplinen entwickelt haben, werden die Erlebensund Verhaltensausschnitte eines Individuums beschrieben, untersucht und erklärt. Obwohl die Psychologie eine vergleichsweise junge Wissenschaft ist, hat sie besonders in den westlichen Gesellschaften einen starken Einfluss auf das Fühlen, Denken und Verhalten der Menschen ausgeübt. Ihren Erkenntnissen ist es zu verdanken, dass in vielen Lebensbereichen Menschen eine Sprache und ein Bewusstsein für psychologische Zustände zur Hand haben. Die Psychologie gilt als eine Disziplin, in der eine Vielzahl von Phänomenen untersucht wird, die relevant für menschliches Erleben und Verhalten sind. Die Geschlechterforschung ist durch politische und geisteswissenschaftliche Einflüsse der letzten fünfzig Jahre ein relevantes Forschungsgebiet in der Psychologie geworden. Es ist jedoch unklar, ob Geschlechterforschung in der Psychologie ein eigenständiges Forschungsgebiet darstellen kann. In Lehrwerken zur Geschichte und Systematik der Psychologie spielt sie keine Rolle. Da es bei der Geschlechterforschung nicht um eine übergeordnete Sichtweise geht, sondern um die Betrachtung eines grundlegenden Phänomens aus vielen unterschiedlichen Perspektiven, ist auch nicht zu erwarten, dass sich das Gebiet in einer nennenswerten Anzahl von Professuren für Psychologie und Geschlechterforschung institutionalisieren wird. Psychologie wird nach wie vor weitgehend durch ihre Disziplinen strukturiert, nicht durch ihre spezifischen Forschungsgegenstände. Es gibt einige substanzielle Handbücher zur Geschlechterforschung. Es ist jedoch ausgesprochen selten, dass in ihnen die Perspektive einer psychologischen Disziplin zu Wort kommt, die zur aktuellen Systematik der Psychologie gehört. Kommen in diesen Handbüchern Psychologen und Psychologinnen zu Wort, vertreten sie wahrscheinlich eine psychoanalytische Perspektive (zum Beispiel in Löw & Mathes, 2005 oder in Becker & Kortendiek, 2008). Eine in der allgemeinen Geschlechterforschung sehr bekannte Psychologin ist Carol Gilligan, eine Schülerin des psychoanalytisch orientierten Entwicklungspsychologen Erik Erickson und Lawrence Kohlbergs. Sie bildet jedoch eine Ausnahme. Aus allen deutschsprachigen Handbüchern zur Geschlechterforschung geht hervor, dass Geschlechterforschung zum großen Teil immer noch von den beiden historischen Anfängen bestimmt wird, nämlich der feministischen Frauenforschung und der sozialkonstruktivistischen Perspektive. Diese beiden Metaperspektiven bedingen, dass in der Geschlechterforschung interdisziplinär gearbeitet wird. Deswegen tummeln sich unter dem Dach dieser Handbücher sehr viele unterschiedliche Sichtweisen, die durch diese beiden
G. Steins (Hrsg.), Handbuch Psychologie und Geschlechterforschung DOI 10.1007/978-3-531-92180-8_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010
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Gisela Steins
Metatheorien vereinigt werden. Interessant ist, dass die Perspektiven in der Regel aus den geisteswissenschaftlichen, kultur- und sprachwissenschaftlichen Disziplinen kommen, allen voran die Soziologie. Deutlich unterrepräsentiert, wenn überhaupt vorhanden, sind Auseinandersetzungen aus naturwissenschaftlicher Sicht. Die Psychologie als ein Zwitterwesen zwischen Geistes- und Naturwissenschaften vereinigt als Fach extrem unterschiedliche Perspektiven auf die Bedeutung der Variable „Geschlecht“ als Kategorie. Das Ziel dieses Buches ist es, diese unterschiedlichen Ansätze darzustellen und auch den Menschen bekannt zu machen, die sich hier nicht als Experten und Expertinnen fühlen. Außerdem hoffen wir, dass Fragen aufgeworfen werden, die wiederum die disziplinübergreifende Geschlechterforschung anregen können. Ich werde zunächst den historischen Hintergrund der Geschlechterforschung skizzieren. Danach gehe ich auf das theoretische Spannungsfeld ein, in welchem sich die Beiträge in diesem Band bewegen werden. Zum Schluss gebe ich einen kurzen Überblick über die Inhalte des Buches.
Historischer Hintergrund der Geschlechterforschung Zwei Metaperspektiven haben entscheidend zur Geschlechterforschung, speziell auch in der Psychologie, beigetragen, nämlich die feministische Perspektive und der soziale Konstruktivismus. Die feministische Perspektive Die feministische Position an sich gibt es nicht. Wie bei jeder Metaperspektive lassen sich auch hier radikalere von relativierenden Sichtweisen unterscheiden. Im Kern beinhalten alle feministischen Sichtweisen die kritische Reflexion der Gesellschaft, also auch wissenschaftliche Erkenntnisse, aus der Perspektive herrschender Machtverhältnisse. Aus dieser Perspektive wurden in den Siebzigern Methoden und Einstellungen aufgedeckt, die das Vorgehen vieler Forscher als androzentrisch bezeichneten. Innerhalb der sich so entwickelnden, feministischen Psychologie wurden sowohl die personelle Besetzung der Forschungslandschaft als auch ihre Arbeitsbedingungen kritisch analysiert. Wie auch in anderen Fachkulturen wurde auf die geringe Präsenz von Frauen in der Forschung und die geringe Rezeption der wissenschaftlichen Beiträge von Frauen hingewiesen. Das Ergebnis dieser Analyse ist nach wie vor aktuell. Auch heute wird viel diskutiert über die (Unter)Repräsentation von Frauen in prestigeträchtigen Berufen. Der psychologische Erkenntnisbestand und die Methoden der Erkenntnisgewinnung waren ebenfalls ein aktuelles Thema, das aus feministischer Sicht lebhaft kritisiert wurde. Der Mensch als Objekt, erfasst durch objektivierende, quantitative Methoden wurde kritisch dem Menschen als Subjekt mit einer eigenständigen, individuellen Perspektive gegenüber gestellt. Betrachtet man aus heutiger Sicht diese Debatte, entsteht der Eindruck, das es eine „männliche“ und eine „weibliche“ Psychologie gab, die auf den ersten Blick fast klischeehaft anmutet. Hinter dieser Debatte verbirgt sich eine methodische Diskussion, bei der immer noch nicht ein breiter Konsens gefunden wurde. Psychologie wurde auch deswegen als androzentrisch beschrieben, weil viele Forschungserkenntnisse ausschließlich durch die Datengewinnung bei männlichen Ver-
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suchsteilnehmern gewonnen wurden. Da liegt die Frage nahe, ob solche Ergebnisse valide und generalisierbar sind. In der kritischen Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Psychologie wurden verschiedene Forderungen laut, so zum Beispiel nach Methoden, die der Subjektivität des Individuums mehr gerecht werden, nach einem konstruktivistischen Zugang zur Wissensgenerierung und nach einer feministischen Erkenntnislehre. Durch alle diese Forderungen wurden traditionelle Forschungsrichtungen differenziert. Für eine Person, welche nicht die Entwicklungen der Geschlechterforschung hautnah verfolgt hat, sieht die feministisch beeinflusste Sprache der Geschlechterforschung aus wie ein komplizierter Fachjargon. Erschwerend kommt hinzu, dass die Bedeutung der verwendeten Begriffe auch zeitlichen Wandlungen unterliegt, viel schnelleren Wandlungen, als es durchschnittlich in anderen Forschungsfeldern der Fall ist. Einige wichtige Begriffe werden hier kurz vorgestellt. Aus der Bedeutung der Begriffe geht hervor, dass feministische Geschlechterforschung mit politischen Haltungen verwoben ist und politische Handlungen aus ihr abgeleitet worden sind, die beispielsweise aus der öffentlichen Stellenpolitik nicht mehr wegzudenken sind. Die seit den 1980ziger Jahren getroffene Unterscheidung zwischen Sex und Gender ist die bekannteste Begriffsbildung in der feministischen Geschlechterforschung. Man kann diese Unterscheidung inhaltlich bereits bei de Beauvoir nachlesen (1951). Zunächst verwies Sex auf das biologische Geschlecht einer Person, Gender bezog sich auf die sozialen Folgen des biologischen Geschlechts. Ein Mensch wird als Mädchen oder Junge geboren und das biologische Geschlecht hat systematische Konsequenzen für die Gestaltung der individuellen Biographie. Mittlerweile wird diese Trennung jedoch als verzerrend kritisiert und vorgeschlagen, verschiedene beeinflussende Faktoren als zusammen auftretend aufzufassen, denn auch die Definition des biologischen Geschlechts wird durch soziale, kulturelle und historische Faktoren determiniert. Nach dieser kritischen Perspektive bedeutet Gender ein gewandeltes Verständnis von Geschlecht. Die Inhalte dieses Verständnisses unterliegen wiederum einer Vielzahl von Einflüssen. Durch doing gender verinnerlicht jeder Mensch vor seinem zeithistorischen Hintergrund diese Inhalte und trägt so zum Transport des jeweiligen Verständnisses von Geschlecht in die Alltagswelt bei. Die Beschäftigung mit Gender nennt sich Gender Perspektive. Beide Geschlechter werden betrachtet und in ihrer Differenz zueinander wahrgenommen. Aus dieser Perspektive ergaben und ergeben sich bestimmte Forderungen, die mit bestimmten Begriffen transportiert werden. Gender Mainstreaming bedeutet die Herstellung von Chancengleichheit für beide Geschlechter. Eine Voraussetzung für das Gelingen von Gender Mainstreaming ist die Fähigkeit von Menschen Gender-Aspekte zu erkennen und zu berücksichtigen, also GenderKompetenz zu besitzen. Ein Anwendungsaspekt von Gender Mainstreaming ist z.B. das Gender Budgeting, welches eine geschlechtergerechte Budgetierung des öffentlichen Haushalts anstrebt. Sozialer Konstruktivismus Der soziale Konstruktivismus als zweite Metatheorie spielt nicht nur für die wissenschaftliche Theoriebildung in der Psychologie eine Rolle, sondern ist eine Metatheorie, die eine kritische Instanz für Naturwissenschaften und andere Disziplinen geworden ist (Berger & Luck-
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Gisela Steins
mann, 1998; Gergen & Davis, 1997). Diese „postmoderne“ Denkschule stellt in ihrem radikalen Ansatz die von uns als real empfundene Wirklichkeit in Frage. Sie postuliert, dass bereits unsere Wahrnehmung auf sozialen Konventionen beruht und unentwegten Täuschungen ausgesetzt ist. Durch unseren kulturellen, wirtschaftlichen, historischen, sozialen, gesellschaftlichen und politischen Kontext werden unsere Wahrnehmungen geleitet, so dass wir die Wirklichkeit, wie sie ist, nicht erkennen können. Radikale Vertreter-/innen behaupten, dass es grundsätzlich keine Wirklichkeit gibt, da diese immer konstruiert ist. Auch Wissenschaftler-/innen unterliegen in ihrer Forschungstätigkeit diesen Prozessen. Wissenschaftliche Theorien sind nach dieser Auffassung deswegen einflussreich und langlebig, weil die Vertreter-/innen dieser Theorien ein gutes Verhandlungsgeschick besitzen und ihre wissenschaftliche Gemeinde von der Güte der Theorie überzeugen können. Theorien sind also nicht wegen ihrer wahren Aussagen einflussreich, sondern weil bestimmte Gruppendynamiken angestoßen werden, die durch Machtverhältnisse beeinflusst werden. Ändern sich der Zeitgeist oder die ökonomischen Verhältnisse einer Gesellschaft, dann werden andere Theorien und andere Konventionen aktuell. Unser ganzes Leben beruht auf impliziten Normen eines stillschweigenden Einverständnisses, die gesellschaftlichen Konventionen zu akzeptieren und zu leben. Man kann sich letztendlich nur selber immer wieder kritisch reflektieren, um zu sehen, in welchem Kontext man zu bestimmten Erkenntnissen kommt. Die Entstehung dieser Erkenntnisse ist jedoch nie kontextfrei, auch nicht die Kritik der Erkenntnisse. Es ist evident, dass der soziale Konstruktivismus gerade zur Geschlechterforschung kritische Anregungen gab und gibt. Die hier beschriebenen zentralen Annahmen für das Thema Geschlecht bedeuten, dass auch Geschlechtsidentität als eine konstruierte Entität zu verstehen ist. Menschen werden zwar mit einem biologischen Geschlecht geboren, jedoch erwerben sie durch historische, kulturelle und soziale Einflüsse ein soziales Geschlecht, welches lebenslange Folgen hat. Das soziale Geschlecht enthält von einer Gesellschaft entwickelte tradierte soziale Konventionen, denen das Individuum während der primären und sekundären Sozialisation ausgesetzt wird, die es internalisiert und befolgt. Sozialer Konstruktivismus beschäftigt sich nicht mit den biologischen Gegebenheiten des Individuums, sondern stellt die sozialen Prozesse in den Vordergrund, die das Erleben und Verhalten des Menschen formen. In diesem Sinne stellt der soziale Konstruktivismus ein soziales und kulturelles Paradigma dar. Sozialer Konstruktivismus ist keine primäre psychologische Theorie, sondern hat seine Wurzeln vor allem in der Soziologie, wurde von der Philosophie aufgegriffen und ist in die anderen Disziplinen gewandert. Historisch spielt er eine große Rolle für die Entwicklung der Geschlechterforschung, auch in der Psychologie. Befruchtet hat er auch die feministische Theorienbildung, für die der Gedanke der sozialen Konstruktion der herrschenden Machtverhältnisse entscheidend ist. Beeinflusst haben beide Richtungen – genau wie in anderen Disziplinen – die Wissensgenerierung in der Psychologie. In Bezug auf Geschlechterforschung wurde das bisherige Wissen der Psychologie vermehrt unter genderbezogenen Aspekten in Frage gestellt und als gesichert befundene Ergebnisse wurden unter dem Aspekt des Geschlechts zu differenzieren versucht. Im Folgenden wird das theoretische Spannungsfeld in der Psychologie, abseits von disziplinübergreifenden Metatheorien, beleuchtet. Hier finden wir genuin psychologische Annahmen über die Ursachen differenzieller Erlebens- und Verhaltensmuster.
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Das theoretische Spannungsfeld Erworben oder angeboren? Anlage oder Umwelt? Diese beiden Pole bilden zweifellos die beiden Extreme des Spannungsfeldes, in dem sich psychologische Erklärungsansätze zu unterschiedlichen Phänomenen bewegen. Auch Theorien zu Geschlechterunterschieden befinden sich üblicherweise in diesem Spannungsfeld. Im Folgenden wird ein Überblick über die gängigsten theoretischen Ansätze in Hinblick auf die Geschlechterforschung in der Psychologie gegeben. Dabei beziehe ich mich wesentlich auf die von Stainton Rogers und Stainton Rogers (2001) präsentierte Landschaft von Paradigmen zur Erforschung der Variable Geschlecht. Biologische Paradigmen Innerhalb dieses Paradigmas wird davon ausgegangen, dass biologische Prozesse und Gegebenheiten einen systematischen Effekt auf das menschliche Verhalten und Erleben ausüben. Innerhalb der Geschlechterforschung versucht man geschlechtsspezifische Unterschiede durch die systematische Betrachtung biologischer Unterschiede zu beschreiben und zu erklären. Dabei kann sich das Augenmerk auf unterschiedliche Aspekte der biologischen Grundlagen richten, so auf
evolutionäre Prozesse, welche den Menschen als Spezies betreffen und universelle Prozesse betreffen sollten, die Ebene der Gene, welche die genetische Basis eines Individuums ausmachen wie sein Geschlecht und als unveränderlich angesehen werden, physiologische Prozesse, insbesondere biochemische Prozesse wie das Zusammenspiel der Hormone, welche Effekte auf das menschliche Erleben und Verhalten haben und morphologische Gegebenheiten, also unterschiedliche Körperbeschaffenheiten, wie beispielsweise die differenzielle Ausbildung von Geschlechtsmerkmalen oder Gehirnstrukturen.
Ein biologisches Paradigma, das die psychologische Geschlechterforschung besonders stark beeinflußt hat, wurde in den sechziger Jahren von Dawkins geprägt (Dawkins, 1989). In seinen Ausführungen entwirft Dawkins ein soziobiologisches Modell der Geschlechter. Er beginnt mit der Prämisse, dass jedes Individuum das Ziel verfolgt, seinen individuellen Genpool zu maximieren. Gesteuert wird das Individuum unbewusst von seinem egoistischen Gen, welches nur dieses eine Ziel kennt – unabhängig von jeder Moral und anderen sozialen Konventionen. Daraus ergeben sich unterschiedliche Verhaltensweisen für Frauen und Männer in Bezug auf Methoden der Partnerwahl, des Verhaltens den eigenen Kindern und Eltern sowie dem Partner gegenüber. Da Männer sehr viel mehr Nachwuchs produzieren können als Frauen und dabei weniger als Frauen bei der Entstehung des Nachwuchses investieren müssen, liegt es im Sinne des egoistischen Gens nahe, dass Männer weniger als Frauen zu monogamem Verhalten neigen. Für beide Geschlechter lohnt es sich, vor der Zeugung des Nachwuchses sicher zu gehen, dass der jeweils andere Partner treu ist. Frauen legen hierbei großen Wert auf die emotionale Treue des Partners, da sie ihn als Versorger
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sehen. Männer legen besonderen Wert auf die sexuelle Treue der Frau, da sie keinen fremden Nachwuchs unterstützen wollen. Aus dem Blickwinkel der soziobiologischen Forschung wurde eine Vielzahl unterstützender Beobachtungen zusammengetragen. So kann universell beobachtet werden, dass die meisten Frauen einen älteren Partner bevorzugen, der sich schon als erfolgreich hervor getan hat. Das umgekehrte Muster ist eher seltener zu beobachten. Auch wird darauf hingewiesen, dass Männer sexuelle Treue höher schätzen als Frauen und umgekehrt Frauen emotionale Treue wichtiger finden. Dennoch war auch schon Dawkins klar, dass man mit dieser Theorie nur eine begrenzte Auswahl von Verhaltensweisen, auch geschlechtsspezifischer Verhaltensweisen, erklären kann. Deswegen führte er schon in seiner ersten Publikation die Variable der Meme ein. Meme sind von der Gesellschaft tradierte Skripte, Regeln, Ideen, welche unser egoistisches Gen überlagern können. Die Memetik, die vor allem in der Philosophie elaboriert wurde (Blackmore, 1999; Dennett, 1995), hat jedoch in der Psychologie bislang nicht eine auffallend starke Rezeption erhalten. In der Psychologie wird in der Regel auf den biologischen Teil von Dawkins ursprünglicher Theorie Bezug genommen. Auch ist es dieser Teil von Dawkins Theorie, der in der psychologischen Populärwissenschaft eine besonders starke Resonanz gefunden hat. Soziale und kulturelle Paradigmen Ein zentraler Prozess sozialer und kultureller Paradigmen ist die Internalisierung von Normen und Werten. Wie ein Individuum dazu kommt, die Normen und Werte seiner Bezugsgruppe zu verinnerlichen und sich danach zu verhalten, kann auf unterschiedlichen Ebenen der Betrachtung beschrieben werden. Aus anthropologischer Sicht spielt die Kultur eine entscheidende Rolle, die durch geschlechtsspezifische Riten und Regeln den Geschlechtern differenzielle Wege vorgibt. Die wirtschaftlichen Lebenszusammenhänge gewinnen aus soziologischer Sicht an Bedeutung. Die Kernfamilie mit ihren streng aufgeteilten Funktionen des männlichen Geldverdieners und der weiblichen Versorgerin stellt eine Kernthese der marxistischen Theorie dar, die in der Soziologie fest verankert ist. Aus psychologischer Sicht findet Internalisierung im Prozess der Sozialisation statt. Kinder erwerben durch die Agenten der Sozialisation (Familie, Schule, andere relevante Bezugspersonen und Bezugsgruppen) das Wissen über die Normen, Werte und Regeln, nach denen sie sich formen, denken, fühlen und verhalten sollen und sozialisieren sich aufgrund eines allgemein menschlichen Bedürfnisses nach Zugehörigkeit dann selber. Eine einflussreiche Theorie in der Psychologie stellt die sozial-kognitive Theorie Banduras dar (Bandura, 1986). Bandura brach mit dem positivistischen Paradigma des Behaviorismus und stellte innere Lernvorgänge in den Mittelpunkt des Interesses, nämlich das Lernen durch Beobachtung, insbesondere durch die Beobachtung von Modellen. Durch das Beobachten der erwachsenen Bezugspersonen lernen Kinder deren Verhaltensrepertoire kennen und üben es durch ihre Spiele ein. Da sich Kinder besonders stark mit Modellen des gleichen Geschlechts identifizieren, betrachten sie auch eher geschlechtsgleiche Bezugspersonen als Modell und trachten danach, das als geschlechtsangemessen identifizierte Verhalten zu zeigen. Sie werden auch von ihrer Umwelt für diese „richtigen“ geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen verstärkt.
1. Einführung in „Psychologie und Geschlechterforschung“
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Auch für diese Erklärung sind zahlreiche bestätigende Befunde zusammengetragen worden. Beobachtungsstudien zeigen, dass Mädchen stärker als Jungen von ihren Müttern zu Dialogen aufgefordert werden, in denen sie über Emotionen reden. In der Sohn-VaterInteraktion können dreimal so häufig wie in der Vater-Tochter-Interaktion wilde und ausgelassene Interaktionen berichtet werden. Mädchen werden behüteter als Jungen erzogen und erfahren so mehr Kontrolle über den Internalisierungsprozess. Jungen können früher und ausgeprägter explorieren als Mädchen, erfahren aber durch häufig geringere Kontrolle weniger Internalisierungsdruck. Auch zeigt ein Blick in die Spielwelten von Jungen und Mädchen, dass sie von ihren Eltern ermuntert werden, geschlechtsspezifische Spiele zu spielen und diese dann bereits im Kindergartenalter auch selber einfordern (siehe für einen Überblick Maccoby, 2000 und Steins, 2008). Interaktionistische Paradigmen Interaktionistische Paradigmen durchziehen die Geschichte der Psychologie und alle ihre Disziplinen. Es gibt immer wieder Versuche, sowohl biologische als auch soziale Einflüsse in Wechselwirkung miteinander in ein konsistentes Beschreibungs- und Erklärungsmodell zu überführen. Bekannte Versuche stellen Piagets kognitive Entwicklungstheorie und Freuds Psychoanalyse dar. Interaktionistischen Paradigmen liegt die Annahme zugrunde, dass die Entwicklung bestimmter Fähigkeiten und Erkenntnisse genetisch programmiert ist und deren Ausgestaltung von der Umwelt moderiert wird. Ein gutes experimentelles Beispiel, wie interaktionistische Paradigmen empirisch umgesetzt werden können, ist die Untersuchung von Dabbs und Morris (1990). Dabbs und Morris untersuchten den Testosteronwert von 4462 ehemaligen Soldaten und unterzogen diese zusätzlich einer ausführlichen Befragung. Sie fanden, nicht überraschend vom Blickwinkel eines biologischen Paradigmas, dass die Männer, die zu den 10% mit dem höchsten Testosteronspiegel gehörten, häufiger als die anderen von Ärger und Schwierigkeiten mit ihren Sozialisationsinstanzen (Eltern, Lehrpersonen, Klassenkameraden) berichteten. Ebenfalls wiesen sie einen höheren Drogenmissbrauch auf und berichteten von einer höheren Zahl sexueller Partnerinnen. Auch fanden sich in dieser Gruppe häufiger Hinweise auf delinquentes Verhalten. Diese aus biologischer Sicht klaren Daten wurden durch die Zugehörigkeit der Männer zu bestimmten sozioökonomischen Gruppen differenziert. Männer mit einem höheren Einkommen und einem höheren Bildungsniveau wiesen signifikant weniger wahrscheinlich einen hohen Testosteronspiegel auf als Männer mit einem sozioökonomisch niedrigeren Status und einem geringeren Bildungsniveau. Nur in der letzten Gruppe gab es eine Verbindung zwischen den auffallenden antisozialen Verhaltensweisen und einem hohen Testosteronspiegel. Das Ergebnis von Dabbs und Morris kann unterschiedlich interpretiert werden. Die Autoren selber kommen zu dem Schluss, dass Männer mit höherem Status und höherem Bildungsniveau besser mit antisozialen Impulsen umgehen können als Männer mit niedrigerem Status und Bildungsniveau. Andere Autoren entgegnen dem jedoch, dass Männer mit höherem Einkommen und höherem Bildungsniveau möglicherweise nicht so häufig in Situationen kommen, die antisoziale Verhaltensweisen wahrscheinlich machen wie die Männer der Vergleichsgruppe (Brannon, 1996).
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Interaktionistische Paradigmen machen den Blick auf einen Forschungsgegenstand insgesamt komplexer. Häufig sind die Daten jedoch so kompliziert, dass sie das Bedürfnis nach Klarheit nicht befriedigen können.
Zum vorliegenden Buch: Auswahl, Inhalt und Gebrauch Auswahl Das hier knapp umrissene Spannungsfeld, zusammen mit den skizzierten Metatheorien, wird im folgenden in den einzelnen Beiträgen aus den Disziplinen der Psychologie erkennbar werden. Bewusst wurden Forscherinnen und Forscher zu einem Beitrag eingeladen, die nicht nur durch ihre Disziplinen sehr unterschiedliche Perspektiven auf die Geschlechterforschung aufweisen, sondern die auch in dem theoretischen Spannungsfeld unterschiedliche Positionen vertreten. Bemerkenswert ist das methodische Spektrum der Herangehensweisen an das Thema. Qualitative wie quantitative Methoden finden ihre Verwendung. Bei der Auswahl der Autoren und Autorinnen wurde darauf geachtet, die Disziplinen der Psychologie breit zu vertreten. Auch wenn dieser Band eine Vielzahl von Disziplinen der Psychologie darstellt, misslang der Versuch u.a. einen Autor oder eine Autorin als Vertreter oder Vertreterin der Klinischen Psychologie zu gewinnen. In der folgenden Überblickstabelle (Tabelle 1) sind die Disziplinen aufgelistet, aus deren Perspektive im folgenden Band das Thema der Geschlechterforschung behandelt wird. Die jeweiligen Kurzbeschreibungen sollen dem Leser und der Leserin ein kurzes Bild davon vermitteln, mit welchen Hauptthemen sich Forscherinnen und Forscher innerhalb dieser Disziplinen beschäftigen. Sie können jedoch nicht eine umfassende Darstellung der Disziplin liefern und bilden keine allgemeingültigen Definitionen ab. Auch ist es aus der Perspektive des Buches heraus interessant zu beobachten, dass nur ein einziger Beitrag von zwei Forschern geleistet wird, und nur drei weitere Beiträge von Männern als Coautoren. Trotz des Bemühens, in diesem Band eine ungefähre Gleichverteilung der Beiträge auf Forscher und Forscherinnen zu erzielen, scheiterte dieser Versuch – aus welchen Gründen auch immer.
1. Einführung in „Psychologie und Geschlechterforschung“ Tabelle 1:
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Überblick über die in diesem Band vertretenen Disziplinen der Psychologie
Disziplin Sozialpsychologie
Emotionspsychologie Motivationspsychologie
Neuropsychologie Kognitive Neurowissenschaften Entwicklungspsychologie
Allgemeine Psychologie I Pädagogische Psychologie Gesundheitspsychologie
Verkehrspsychologie
Medienpsychologie
Forensische Psychologie Sportsoziologie Politische Psychologie
Friedenspsychologie Arbeits- und Organisationspsychologie Differentielle Psychologie Subjektwissenschaftliche Psychologie
Skizzierung der Disziplin Beschreibung und Erklärung der Interaktionen zwischen Individuen und der Ursachen und Wirkungen dieser Interaktionen (nach Herkner, 2001) Beschreibung und Erklärung von Emotionen: Entstehung, Entwicklung, Wirkung, Kontextabhängigkeit Beschreibung der für den Menschen charakteristischen Handlungsklassen, Beweggründe von Handlungen, Bedingungen und Wirkungen von Handlungen Beschreibung und Erklärung menschlichen Erlebens und Verhaltens mit neurophysiologischen Prozessen Aufdecken von Zusammenhängen zwischen Erkenntnissen der Neuropsychologie und kognitiven Vorgängen Veränderungen und Nicht-Veränderungen, die auf der Zeitdimension Lebensalter registriert werden (nach Oerter & Montada, 2002) Beschäftigung mit den grundlegenden Prinzipien menschlichen Erlebens und Verhaltens Grundlagenwissenschaft für die Lösung pädagogischer Probleme Entwicklung psychologisch begründeter Modelle und Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und ihre Qualität zu überprüfen (nach Selbstdefinition der Fachgruppe) Erforschung der Wechselbeziehungen zwischen Verkehrssystemen und menschlichem Erleben und Verhalten mit dem Ziel, die Mensch-Verkehrssystem-Interaktion zu optimieren und Unfälle zu vermeiden (nach Limbourg & Reiter, Kap. 12 in diesem Band) Erforschung des menschlichen Erlebens und Verhaltens im Kontext der Mediennutzung (nach Trepte und Reinecke, Kap. 13 in diesem Band) Anwendung psychologischer Erkenntnisse auf Fragen des juristischen und forensischen Systems Erforschung der im Sport relevanten Strukturen und Prozesse angewandte Sozialpsychologie mit spezifischen Schwerpunkten, die die gesellschaftlichen Normen, Regeln und Prozesse wiedergeben; Veränderung der sozialen Normen und Prozesse zur Verbesserung der Lebensqualität der Menschen (nach Genkova, Kap. 16 in diesem Band) Anwendung psychologischer Erkenntnisse auf die Themen Krieg und Frieden (nach Schroer, Kap. 17 in diesem Band) Erforschung des Erlebens und Verhaltens von Personen in Organisationen in Bezug auf ihre Arbeit Beschäftigung mit den Unterschieden zwischen Personen und Gemeinsamkeiten von Personen im Erleben und Verhalten Kritische Auseinandersetzung mit psychologischen Erkenntnissen unter besonderer Berücksichtung des Menschen als Subjekt
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Inhalt Die Autorinnen und Autoren des Bandes wählten unterschiedliche Ebenen der Betrachtung. Die meisten Beiträge beschäftigen sich auf der Basis empirisch gewonnener Daten mit den Differenzen und Gemeinsamkeiten verschiedener Entwicklungsverläufe, Fähigkeiten, Bewusstseinsinhalte und Verhaltensweisen der Geschlechter und ziehen hierzu differenzierte Erklärungsmodelle heran. Einige Autorinnen haben eine Metaperspektive gewählt und analysieren ihr Fach oder die Psychologie als Wissenschaft aus dem Blickwinkel der Geschlechterforschung bzw. ihres Standes und ihrer Akzeptanz. So entstehen verschiedene Teile des Buches. Teil I Mädchen und Jungen, Frauen und Männer – Unterschiede versus Gemeinsamkeiten: Grundlagen; Teil II Mädchen und Jungen, Frauen und Männer: Entwicklungsverläufe; Teil III Mädchen und Jungen, Frauen und Männer: Ein Blick in verschiedene Lebenswelten?; und Teil IV Das Fach Psychologie aus Genderperspektive: Kritik und Reflexion. Das Buch wird beendet mit dem Vorschlag einer praktischen Lösung des nicht sexistischen Sprachgebrauchs und einem kurzen Ausblick.
Skizzierung der Inhalte der Teile des Buches Teil I Mädchen und Jungen, Frauen und Männer: Unterschiede versus Gemeinsamkeiten – Grundlagen Teil I beginnt mit einem Beitrag aus sozialpsychologischer Perspektive von Bettina Hannover (Kapitel 2). Die Autorin vermittelt einen umfassenden Einblick in die Wirkung von Geschlechtsrollenstereotypen und kulturellen Normen auf das Selbstkonzept weiblicher und männlicher Personen. Unser Selbst, das unser Denken, Fühlen und Handeln steuert, wird anhand dieser Stereotype und Normen ausgebildet und resultiert in stabilen Differenzen zwischen den Geschlechtern. Diese Unterschiede machen eine Konstruktion von Geschlecht in der sozialen Interaktion wahrscheinlich. Der Leser und die Leserin erhalten eine sehr gute Vorstellung davon, wie auf der Ebene der persönlichen Informationsverarbeitung soziale Effekte entstehen und bekommt nebenbei eine Einführung in die kognitiven Mechanismen der Verhaltenssteuerung. Diesem Beitrag schließt sich ein emotionspsychologischer Beitrag von Ljubica Lozo an (Kapitel 3), in welchem dem Klischee „emotionale Frau“ und „rationaler Mann“ nachgegangen wird. Die Wirklichkeit sieht komplexer aus und auch hier ist es erstaunlich zu sehen, zu welchen differenzierenden Erkenntnissen wir kommen müssen, wenn Forschung präzise und sorgfältig durchgeführt wird und selbstkritisch weiterentwickelt wird. Aus der Perspektive der Allgemeinen Psychlogie II, speziell aus der Motivationspsychologie beschäftigt sich Marlies Pinnow (Kapitel 4) mit den unterschiedlichen Motiven aus Genderperspektive und bettet die Befunde in interaktionistische Modelle ein. Dem schließt sich in dem neuropsychologischen Beitrag von Marcus Hirnstein und Markus Hausmann die Frage an, ob Larry Summers recht hatte, als er behauptete, Frauen seien natürlicherweise in bestimmten kognitiven Fähigkeiten benachteiligt und deswegen in prestigeträchtigen Berufen unterrepräsentiert. Das räumliche Vorstellungsvermögen der Geschlechter ist hier ein Thema, über das differenziert und detailliert aufgrund aktueller Un-
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tersuchungen aufgeklärt wird (Kapitel 5). In eine ähnliche Richtung zielt der Beitrag aus den kognitiven Neurowissenschaften von Kirsten Jordan (Kapitel 6). Der Leser und die Leserin erfahren hier detaillierte Zusammenhänge zwischen Gehirnprozessen und Umwelt. Der erste Teil wird abgeschlossen mit einem Beitrag von Hilde Haider und Ewelina Malberg (Kapitel 7), die von der zentralen Annahme ausgehen, dass menschliche Informationsverarbeitungsprozesse auf der Basis einheitlicher Mechanismen funktionieren und dies anhand einiger Beispiele aus der kognitionspsychologischen Experimentalforschung aufzeigen werden. Die Autorinnen gehen dann am Beispiel gedächtnispsychologischer Befunde auf geschlechtsspezifische Unterschiede ein und spannen dabei den Bogen zur neurophysiologischen Forschung. Diese Beiträge wurden bewusst an den Anfang gestellt, weil sie unverzichtbare theoretische Konzepte der psychologischen Grundlagenforschung einführen und bereits das Hauptziel des Buches vorgeben, nämlich eine differenzierte Perspektive der Geschlechterforschung in der Psychologie zu skizzieren. Teil II Mädchen und Jungen, Frauen und Männer: Entwicklungsverläufe Die Beiträge von Annette Boeger (Entwicklungspsychologie; Kapitel 8) und Doris BischofKöhler (aus einer interdisziplinären Perspektive: Entwicklungspsychologie, Kulturwissenschaft, Biopsychologie; Kapitel 9) befassen sich mit den geschlechtsspezifischen Differenzen bestimmter Entwicklungsprozesse und ihrer beeinflussenden Faktoren. Annette Boeger greift ein besonders wichtiges Thema des Jugendalters auf, nämlich die geschlechtsspezifischen Differenzen im Umgang mit und der Einstellung zum eigenen Körper. Der Leser und die Leserin erhalten einen sehr direkten und lebendigen Einblick in das Erleben von Körperlichkeit aus der Perspektive eines Jungen bzw. eines Mädchens und bekommen ein Verständnis für die beeinflussenden Faktoren. Doris Bischof-Köhler thematisiert besonders die evolutionären Grundlagen geschlechtstypischen Verhaltens und weist auf den schwierigen Diskurs zwischen Natur und Kultur hin. Sie geht auf wesentliche Entwicklungsunterschiede zwischen den Geschlechtern ein und versucht diese aus evolutionärer Perspektive zu erklären. Teil III Mädchen und Jungen, Frauen und Männer: Ein Blick in verschiedene Lebenswelten? In diesem Teil finden sich angewandte Disziplinen der Psychologie. Aus verschiedenen disziplinären Perspektiven werden wichtige Bereiche unseres Lebens beleuchtet. Der Beitrag von Barbara Moschner (Kapitel 10) widmet sich demjenigen Bereich unseres Lebens, in dem sich vermeintlich alle auskennen, der Schule. Sie geht aus der Perspektive einer pädagogischen Psychologin auf die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen hinsichtlich Bildung, Lernen und Schule ein und thematisiert kritisch die Bedeutung dieser Unterschiede. Die drei nächsten Beiträge stammen aus sehr unterschiedlichen Disziplinen – dennoch ist ein gemeinsames Thema zu erkennen, das schon bei Barbara Moschner anklingt, nämlich die Identifizierung einer männlichen Risikogruppe, die aus gesundheitspsychologischer Perspektive (Monika Sieverding, Kapitel 11), aus verkehrpsychologischer Perspektive (Maria Limbourg und Karl Reiter, Kapitel 12) und aus medienpsychologischer Perspektive (Sabine Trepte und Leonard Reineke, Kapitel 13) differenziert beschrieben wird. Die Verhal-
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tensweisen der Geschlechter in diesen drei wichtigen Bereichen des Alltags werden dem Leser und der Leserin eindringlich nahe gebracht und es werden interessante Erklärungsmodelle aufgeführt, die den Blick für diese Bereiche schärfen. Danach führt Henrietta Haas in die Sprachanalyse aus der Perspektive der forensischen Psychologie ein (Kapitel 14). Es ist spannend zu erfahren, wie ein anonymes Schreiben auseinander genommen wird und wie systematisch der Sprachgebrauch Hinweise auf die Geschlechtsidentität des oder der Schreibenden geben können. Im luftleeren Raum entsteht so plötzlich das Profil einer Person, die als Mann oder als Frau zu erkennen ist. Danach folgt eine sportsoziologische Analyse von Führung von Sabine Radtke (Kapitel 15). Die Auswahl eines Beitrages aus der Sportsoziologie ist gleichzeitig auch ein Ausflug in ein der Sozialpsychologie besonders nahe stehendes Fach: die Soziologie. Mit Hilfe qualitativer Analyseverfahren und Methoden werden die Hintergründe der sich hinter Sport befindenden Hierarchien aufgedeckt und systematisch dargestellt. In Kapitel 16 setzt sich Petia Genkova mit der Politischen Psychologie auseinander und stellt hierbei interessante Befunde vor, die auch den vorherigen sportsoziologischen Beitrag interessant ergänzen. Nach der Lektüre des zweiten Teils dieses Buches sollten Leserinnen und Leser einen Überblick über einen großen Teil der aktuellen Forschung der psychologischen Geschlechterforschung gewonnen haben, sowohl über deren grundlegende Erkenntnisse, als auch angewandten Kontexte. Teil III, ist als Frage formuliert. Der Leser und die Leserin erhaltet ausreichend detaillierte Befunde, um selbst beurteilen zu können, ob von weiblichen oder männlichen Lebenswelten die Rede sein kann oder ob mit dieser Formulierung nicht bereits Prämissen geschaffen werden, die in dieser Formulierung der realen Grundlage entbehren. Teil IV Das Fach Psychologie aus Genderperspektive: Kritik und Reflexion Mit Teil IV betritt die Leserschaft eine Metaebene des Themas Psychologie und Geschlechterforschung. Drei verschiedene Disziplinen werden kritisch zu ihrem Verhältnis zur Geschlechterforschung dargestellt und kritisch wie konstruktiv diskutiert. Miriam Schroer beschreibt detailliert die Bedeutung der Begriffe Geschlecht und Gender für die Friedenspsychologie (Kapitel 17). Julia Nentwich und Martina Stangel-Meseke sehen in der Geschlechterforschung einen anregenden Beitrag zur Neukonzeptualisierung der Arbeits- und Organisationspsychologie und stellen das Geschlecht als zentrales gesellschaftliches Organisations- und Herrschaftsprinzip in Frage (Kapitel 18). Katharina Rothe setzt sich kritisch mit der Differentiellen Psychologie als Fach auseinander und bemängelt die wenig erfolgte Auseinandersetzung mit modernen Konzepten am Beispiel der Genderforschung (Kapitel 19). Aus Sicht der subjektwissenschaftlichen Psychologie bringt Martina Tißberger, ähnlich wie Katharina Rothe, auch einen psychoanalytischen Blickwinkel ein (Kapitel 20). Das Fach Psychologie als Wissenschaft wird von Elfriede Billmann-Mahecha schließlich unter dem Gesichtspunkt zentraler Fragen des Themas Geschlecht analysiert. Der Leser und die Leserin lernen zentrale Figuren der historischen Psychologie kennen und können sich einen fundierten Eindruck über den aktuellen Zustand des Faches aus der Perspektive des doing gender bilden (Kapitel 21).
1. Einführung in „Psychologie und Geschlechterforschung“
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Der letzte Beitrag von Norbert Nothbaum und der Herausgeberin (Kapitel 22) verfolgt das Anliegen, eine praktische Lösung für eine geschlechtergerechte Sprache vorzustellen – als eine nutzenorientierte Anwendung psychologischer Erkenntnisse. Das Buch schließt mit einem Ausblick und einigen Empfehlungen für eine vertiefende Lektüre zum Thema Psychologie und Geschlechterforschung. Gebrauch Wie jeder Sammelband kann auch in diesem die Reihenfolge des Lesens nach Interessenschwerpunkt und Vorkenntnissen selbst bestimmt werden. Für Leser und Leserinnen mit nur wenigen Vorkenntnissen im Fach Psychologie empfehle ich den Teil I als Einstieg und hierfür auch eine chronologische Reihenfolge, denn hier werden die grundlegenden Prozesse des Erlebens und Verhaltens von Menschen dargestellt.
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Teil I Mädchen und Jungen, Frauen und Männer: Unterschiede versus Gemeinsamkeiten – Grundlagen
2. Sozialpsychologie Sozialpsychologie und Geschlecht: Die Entstehung von Geschlechtsunterschieden aus der Sicht der Selbstpsychologie Bettina Hannover
Das Verständnis von Geschlecht in der Sozialpsychologie Geschlecht wird in sozialpsychologischer Perspektive nicht in erster Linie als ein stabiles Merkmal der Person betrachtet, sondern vielmehr hinsichtlich der Frage, wie es im sozialen Kontext konstruiert wird. Im Zentrum steht somit die Untersuchung von Situationsfaktoren, in Abhängigkeit von denen das Geschlecht von Personen relevant wird oder aber nicht. Ausgangspunkt ist dabei die Annahme, dass alle Menschen Geschlechtsrollenstereotype kennen und in ihrem Gedächtnis repräsentiert haben und dass diese Stereotype, wenn sie durch die Situation aktiviert werden, sich auf die soziale Interaktion auswirken (vgl. Deaux & LaFrance, 1998). Als Beispiel mag eine Sportstunde dienen, in der ein Kind über einen Bock springen soll. Ob das Geschlecht des Kindes Einfluss auf das Interaktionsgeschehen nimmt oder nicht, ist davon abhängig, a) ob die Lehrperson die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind erfolgreich ist, in Abhängigkeit seines Geschlechts für unterschiedlich hoch hält oder nicht (d.h. von den Geschlechterstereotypen der Lehrperson), b) ob das Kind einen Zusammenhang zwischen seinem Geschlecht und der Wahrscheinlichkeit, dass es über den Bock springen kann, vermutet oder nicht (d.h. von der durch Geschlechtsrollenstereotypen geprägten Geschlechtsidentität des Kindes) und c) von der Salienz von Geschlecht in der konkreten Situation. So ist Geschlecht als soziale Kategorie beispielsweise psychologisch stärker betont, wenn das Kind hinsichtlich seines Geschlechts in der Gruppe in der Minderheit ist oder wenn das Bockspringen als Wettkampf zwischen zwei Gruppen von Kindern, Mädchen versus Jungen, organisiert ist. Geschlechterstereotypen sind sozial geteilte Annahmen darüber, wie sich männliche und weibliche Personen voneinander unterscheiden (deskriptiv) oder unterscheiden sollten (präskriptiv) (z.B. Deaux & Kite, 1993). Deskriptive und präskriptive Geschlechtsrollenstereotype stimmen über Kulturen hinweg dahingehend überein, dass weibliche Personen fürsorglich und emotional expressiv sind bzw. sein sollten, männliche Personen hingegen dominant und autonom in ihrem Verhalten (z.B. Williams, Satterwhite & Best, 1999). Ist Geschlecht in einer konkreten Interaktionssituation psychologisch hervorgehoben, so werden die Geschlechtsrollenstereotype der Beteiligten aktiviert. In der Folge schreiben sie a) sich selbst und b) anderen in Abhängigkeit ihres Geschlechts, deskriptiv und präskriptiv unterschiedliche Personeigenschaften, Interessen und Aktivitäten oder Aufgaben, Fähig-
G. Steins (Hrsg.), Handbuch Psychologie und Geschlechterforschung DOI 10.1007/978-3-531-92180-8_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010
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keiten, Rollen und emotionale Dispositionen zu. Diese Zuschreibungen finden ihren Niederschlag in unterschiedlichen Erwartungen und Verhaltensweisen. In unserem Beispiel traut die Lehrperson dem weiblichen Kind möglicherweise weniger zu, den Bock erfolgreich überwinden zu können, was sich in einer stärkeren Hilfestellung oder darin niederschlagen kann, dass die Lehrperson eine niedrigere Position des Bocks einstellt. Oder aber die Tatsache, dass das Kind das einzige Mädchen in der Gruppe ist, kann seine Aufmerksamkeit auf seine Geschlechtszugehörigkeit und damit auf das Stereotyp über die geringere sportliche Kompetenz von Mädchen richten. Im Ergebnis sinkt die Erfolgszuversicht des Kindes und damit die Wahrscheinlichkeit, dass es die sportliche Aufgabe erfolgreich meistern wird. Sind Personen solchen aktivierenden Kontextfaktoren immer wieder ausgesetzt, so können sich entsprechende stabile Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Personen entwickeln. Wie unsere Beispiele zeigen, wirken sich Geschlechtsrollenstereotype in sozialen Situationen gleichermaßen auf die Wahrnehmung anderer Personen, wie auch auf die Wahrnehmung der eigenen Person aus. In diesem Aufsatz soll genauer der Frage nachgegangen werden, welche Rolle der Wahrnehmung der eigenen Person, also dem Selbst, bei der Konstruktion von Geschlecht zukommt. Dazu werden zwei Fragen zu beantworten sein. Zum ersten soll analysiert werden, wie sich das Selbst geschlechtstypisiert ausprägt. Hier wird zu beschreiben sein, aufgrund welcher Einflussfaktoren männliche und weibliche Personen typischerweise ein unterschiedliches Bild von der eigenen Person – d.h. ein unterschiedliches Selbst – entwickeln. Zum zweiten werden wir fragen, auf welche Weise das geschlechtstypisierte Selbst dazu beiträgt, dass Geschlecht im sozialen Kontext konstruiert wird. Hier wird es darum gehen zu zeigen, wie sich das geschlechtstypisierte Selbst im Denken, Fühlen und Handeln von Personen niederschlägt.
Wie sich das Selbst geschlechtstypisiert ausprägt Das Selbst bezeichnet die Sicht, die das Individuum auf die eigene Person hat, d.h. die Gesamtheit der kognitiven Konzepte oder des Wissens, die bzw. das eine Person im Laufe ihres Lebens über sich selbst erwirbt (Markus, 1977). Selbstwissen kann auf persönliche Eigenschaften und Gruppenzugehörigkeiten (z.B. „Ich bin ehrgeizig“, „Ich bin Johannes Schwester“), auf die eigene Biographie (z.B. „Ich habe als Kind gerne gemalt“) oder auf Ziele für die Zukunft (z.B. „Ich möchte Ärztin werden“) bezogen sein. Es enthält beschreibende (z.B. „Ich bin rothaarig“) und bewertende Aspekte (z.B. „Ich mag meine roten Haare“). Ein Teilaspekt des menschlichen Selbst ist auf das Wissen über die eigene Geschlechtszugehörigkeit bezogen (im Folgenden: Geschlechtsidentität). Kinder machen sehr früh die Erfahrung, dass die soziale Kategorie Geschlecht von zentraler Bedeutung für das Verständnis der Umwelt ist, in der sie leben. Entsprechend sind sie schon im Alter von zwei Jahren beginnend sehr daran interessiert herauszufinden, was es bedeutet, ein Mädchen bzw. ein Junge zu sein. Sie eignen sich dazu aktiv Geschlechtsrollenstereotype an, indem sie vorzugsweise Vertreter ihrer eigenen Geschlechtsgruppe beobachten und als Interaktionspartner wählen, indem sie all jene Informationen positiv bewerten, die die Verschiedenheit der Geschlechter zu bestätigen scheinen und indem sie sich vorzugsweise mit Objekten und
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Aktivitäten beschäftigen, die gemäß Geschlechtsrollenstereotypen zu ihrem eigenen biologischen Geschlecht „passen“ (für einen Überblick siehe Ruble, Martin & Berenbaum, 2006). Interessanterweise erwerben Kinder rudimentäre Geschlechtsrollenstereotype ontogenetisch betrachtet schon bevor sie von sich selbst sagen können, ob sie ein Mädchen oder ein Junge sind, ein Entwicklungsstand, der erst im Alter zwischen zwei und drei Jahren erreicht wird (z.B. Fagot & Leinbach, 1985). Es scheint, dass der Erwerb von Geschlechtsrollenstereotypen Voraussetzung für die Herausbildung der Geschlechtsidentität ist.
Wie das geschlechtstypisierte Selbst zur Konstruktion von Geschlecht beiträgt Als Ergebnis des Einflusses von Geschlechtsrollenstereotypen entstehen relativ stabile Unterschiede im Selbst zwischen männlichen und weiblichen Personen. Im Folgenden wird für verschiedene Aspekte des Selbst (Geschlechtsidentität, Selbstkonstruktion, Fähigkeitsselbstkonzept, Selbstwert) jeweils dargestellt, welche systematischen Geschlechtsunterschiede beschrieben wurden und auf welche Weise diese Unterschiede – vermittelt über das durch das Selbst gesteuerte Denken, Fühlen und Handeln der Person – zur Konstruktion von Geschlecht im sozialen Kontext beitragen können. Geschlechtsunterschiede in der Geschlechtsidentität In Übereinstimmung mit Geschlechtsrollenstereotypen beschreiben sich Jungen und Männer, zu einer Selbstbeschreibung aufgefordert, wahrscheinlicher mit instrumentellen und autonomen Eigenschaften, Mädchen und Frauen hingegen eher als expressiv und mit anderen verbunden (z.B. Altstötter-Gleich, 2004). Menschen, die ihrer Geschlechtsidentität eine hohe Bedeutsamkeit für die Definition der eigenen Person beimessen, entwickeln ein Selbstschema für Geschlecht (Markus, Crane, Bernstein & Siladi, 1982). Sandra Bem (1981) bezeichnet Personen, die sich selbst entweder vor allem mit maskulinen oder aber vor allem mit femininen Eigenschaften beschreiben, als schematisch (sex-typed), hingegen Personen, die sich mit beiden Arten von Eigenschaften gleichermaßen stark oder gleichermaßen wenig beschreiben als aschematisch (androgynous). Selbstschemata (wie andere kognitive Schemata auch) erleichtern die Informationsverarbeitung, weil die Person auf ihrer Grundlage Erwartungen über neu eintreffende Informationen ausgebildet hat und bei deren Interpretation auf diese bereits bestehenden Konzepte zurückgreifen kann. Dies bedeutet, ein Schema geht mit automatischer Verarbeitung einher. Mitglieder von Gruppen, die von ihrem Status oder ihrer Anzahl her unterlegen sind, definieren die eigene Person stärker durch ihre Zugehörigkeit zu dieser Gruppe, als Mitglieder der entsprechenden Majoritätsgruppen dies tun (z.B. Simon & Hamilton, 1994). Dies erklärt, warum Mädchen und Frauen wahrscheinlicher ein Selbstschema für Geschlecht entwickeln als Jungen und Männer (Hurtig & Pichevin, 1990; Lorenzi-Cioldi, 1991).
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Auswirkung der Geschlechtsidentität auf das Denken, Fühlen und Handeln der Person Die inhaltliche Ausprägung der Geschlechtsidentität wirkt sich auf das Verhalten der Person aus. So konnten beispielsweise Athenstaedt, Haas und Schwab (2004) belegen, dass mit steigender Zugänglichkeit (gemessen über Latenzzeiten bei der Selbstbeschreibung) maskulinen Selbstwissens und mit sinkender Zugänglichkeit femininen Selbstwissens die in einer Gruppe in Anspruch genommene Redezeit stieg. Athenstaedt, Mikula und Bredt (2009) konnten das Freizeitverhalten Jugendlicher aus ihrer Geschlechtsidentität vorhersagen: Unabhängig vom biologischen Geschlecht der Befragten begünstigte hohe Femininität der Geschlechtsidentität Aktivitäten wie sich mit Freunden treffen/Telefonieren oder Lesen/ Malen; hohe Maskulinität hingegen sportliche Aktivitäten. Neben der inhaltlichen Ausprägung der Geschlechtsidentität ist für die Konstruktion von Geschlecht im sozialen Kontext auch bedeutsam, ob die Person ein Selbstschema für Geschlecht hat oder nicht. Geschlechtsschematische Personen verarbeiten stärker stereotypoder erwartungsbasiert als Personen ohne ein Selbstschema für Geschlecht. Genauer konnten Bem und Mitarbeiter/innen (z.B. Andersen & Bem, 1981; Frable & Bem, 1985) zeigen, dass die hohe Bereitschaft geschlechtsschematischer Personen, Informationen auf einer Geschlechtsrollendimension zu kategorisieren, dazu führt, dass sie sich stärker selbst gemäß ihres Geschlechts stereotypisieren (d.h., das Ingroup-Stereotyp über Geschlecht zur Beschreibung der eigenen Person heranziehen), die jeweils andere Geschlechtsgruppe als stärker homogen wahrnehmen und auf diese Weise zur Aufrechterhaltung von Geschlechtsrollenstereotypen beitragen. Zusammengefasst wird Geschlecht im sozialen Kontext umso wahrscheinlicher konstruiert, je stärker die Geschlechtsidentität der Beteiligten geschlechtstypisiert ausgeprägt und je stärker schematisch sie ist. Geschlechtsunterschiede in der Selbstkonstruktion Außer durch Geschlechtsrollenstereotype wird die Entwicklung des Selbst noch durch eine andere Art von Normen geschlechtsabhängig unterschiedlich geprägt. Cross und Madson (1997) haben postuliert, dass gegenüber männlichen und weiblichen Personen unterschiedliche Imperative existieren, auf welche Weise sie ihr Selbst konstruieren sollen. Dabei nehmen sie auf eine von Markus und Kitayama (1991) eingeführte Unterscheidung Bezug: In der independenten Selbstkonstruktion wird das Individuum vor allem als getrennt und verschieden von anderen Menschen gesehen; typische Elemente des Selbstwissens sind somit die Person als Individuum auszeichnende Merkmale (z.B. „ich bin humorvoll“, „ich liebe Verdi“). In der interdependenten Selbstkonstruktion werden demgegenüber bevorzugt enge Beziehungen oder Gemeinsamkeiten mit anderen in die Definition der eigenen Person einbezogen; entsprechend dominieren im Selbstwissen Beschreibungen eigener Rollen und Gruppenzugehörigkeiten (z.B. „ich bin die Patentante von Hester“, „ich engagiere mich in der Kirche“). Cross und Madson (1997) zufolge sind Jungen und Männer wahrscheinlicher Independenz-Einflüssen, Mädchen und Frauen hingegen Interdependenz-Einflüssen ausgesetzt. Beispiele sind, dass Mädchen mehr als Jungen dazu angehalten werden, soziale Verantwortung zu übernehmen, z.B. sich um kleinere Geschwister zu kümmern (z.B. Maudlin &
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Meeks, 1990), dass Mädchen eher als Jungen für expressiven Ausdruck (z.B. Emotionsausdruck, z.B. Brody, 2000) dem Spielen eines Musikinstruments (Fredricks, Simpkins & Eccles, 2005) verstärkt werden und auch dafür, dass sie an sie gerichteten Erwartungen entsprechen – z.B. sich nett und ansprechend zurechtzumachen (Klomsten, Skaalvik & Espnes, 2004). Im Unterschied dazu werden Jungen eher als Mädchen dazu ermuntert, in herausgehobenen Rollen zu agieren – z.B. werden sie von ihren Eltern häufiger für Begabtenklassen angemeldet (Stumpf & Schneider, 2009) und erhalten häufiger die Möglichkeit, an einer privaten Universität zu studieren (32 998 der 54 390 Studierenden an privaten Universitäten in Deutschland im WS 2007/2008 waren männlich; Statistisches Bundesamt 2009). Weiter werden sie eher darin unterstützt, ihre eigenen Interessen zu identifizieren und zu verfolgen – z.B. sich in der Schule auf das eigene „Lieblingsfach“ zu konzentrieren (Denissen, Zarrett & Eccles, 2007) oder sich sportlich zu betätigen (Fredricks et al., 2005). Im Ergebnis entwickeln männliche Personen wahrscheinlicher eine independente Selbstkonstruktion und weibliche Personen eine interdependente (Cross, Bacon & Morris, 2000; Guimond, Chatard, Martinot, Crisp & Redersdorff, 2006; Kashima et al., 2004). Guimond et al. (2006) haben gezeigt, dass die Einflüsse von Independenz- versus Interdependenz-Normen auf das Selbst über Geschlechtsrollenstereotype vermittelt zustande kommen. Ihre Versuchsteilnehmer beschrieben sich selbst, die typische Frau und den typischen Mann auf interdependenten (z.B. family oriented, caring) und independenten (z.B: coarse, selfish) Trait-Adjektiven. Der Zusammenhang zwischen Geschlecht und Interdependenz der Selbstkonstruktion verschwand vollständig, wenn das Stereotyp über die eigene Geschlechtsgruppe mit in die Regressionsanalyse einbezogen wurde. Dies bedeutet, die stärkere Interdependenz in der Selbstkonstruktion von Frauen geht darauf zurück, dass Männer und Frauen die typische Frau für stärker interdependent halten als den typischen Mann. Die Ergebnisse für die Independenz der Selbstkonstruktion waren ähnlich, allerdings verschwand hier der Zusammenhang zwischen Geschlecht und Selbstkonstruktion nicht vollständig, wenn die Ingroup-Geschlechtsrollenstereotype der Befragten einbezogen wurden. Auswirkung der Selbstkonstruktion auf das Denken, Fühlen und Handeln der Person Independenz- und Interdependenz-Normen tragen zur Konstruktion von Geschlecht bei, weil ein independentes Selbst eine andere Art der Informationsverarbeitung (Hannover & Kühnen, 2002) und damit anderes Denken, Fühlen und Handeln begünstigt als ein interdependentes Selbst (für einen Überblick siehe Hannover & Kühnen, 2009). Entsprechend zeigen sich zahlreiche analoge Unterschiede zwischen Mitgliedern von Independenzkulturen (z.B. USA, Nordeuropa) versus Interdependenzkulturen (z.B. Japan, Lateinamerika; Markus & Kitayama, 1991) auf der einen Seite und männlichen versus weiblichen Personen auf der anderen Seite. Beispiele sind a) die stärkere Feldabhängigkeit der Wahrnehmung (Kulturvergleich: Kühnen, Hannover, Roeder, Schubert, Shah, Upmeyer & Zakaria, 2001; Geschlechtervergleich: für einen Überblick siehe Voyer, Voyer & Bryden, 1995), b) der geringere personale Selbstwert – bei gleich stark ausgeprägtem kollektiven Selbstwert (Kultur: z.B. Kitayama, Markus & Lieberman, 1995; Geschlecht: personal: z.B. Gentile, Grabe, Dolan-Pascoe, Twenge & Wells, 2009; kollektiv: Foels & Tomcho, 2005), c) die geringeren selbstwertdienlichen Voreingenommenheiten (Kultur: z.B. Brown, 2003; Geschlecht: z.B. Ehrlinger &
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Dunning, 2003), d) eine stärker indirekte Kommunikation (Kultur: z.B. Gudykunst, TingToomey & Chua, 1988; Geschlecht: z.B. LaFrance, Hecht & Paluck, 2003) und e) das stärkere Verfolgen von sozial verantwortlichen Zielen versus selbstbezogenen Zielen (Kultur: van Horen, Pöhlmann, Koeppen & Hannover, 2008; Geschlecht: z.B. Chen & Welland, 2002). Geschlechtsunterschiede im Fähigkeitsselbstkonzept Das Fähigkeitsselbstkonzept meint den Ausschnitt aus dem Selbst, der auf die Wahrnehmung eigener Fähigkeiten oder Kompetenzen bezogen ist (z.B. „Ich bin nicht gut in Mathe“; „Ich bin sehr sportlich“). In Übereinstimmung mit Geschlechtsrollenstereotypen zeigen Menschen in solchen Bereichen besonders starke Fähigkeitsselbstkonzepte, die gemäß Geschlechtsrollenstereotypen zu ihrem biologischen Geschlecht „passen“ und weniger starke Selbstkonzepte in Bereichen, die mit dem jeweils anderen Geschlecht assoziiert werden. So geben bereits in den Anfangsjahren der Grundschule Mädchen ein höheres Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten im schriftsprachlichen Bereich an, während Jungen sich gegenüber Aufgaben aus dem Mathematik-Unterricht erfolgszuversichtlicher zeigen (LOGIK- und SCHOLASTIK-Studien; z.B. Weinert & Schneider, 1999). Am Ende der Grundschulzeit, zu der Mädchen den Jungen in ihrer Lesekompetenz deutlich überlegen sind (PIRLS-Studien; Mullis, Martin, Kennedy & Foy, 2007), geben Schülerinnen in manchen Studien ein entsprechend positiveres lesebezogenes Selbstkonzept an (z.B. Bos et al., 2004; Valtin & Wagner, 2002; Wilgenbusch & Merrell, 1999), in anderen Studien hingegen nicht (z.B. Faber, 2003; Mielke, Goy & Pietsch, 2006; Polocek, Greb & Lipowsky, 2008). Für das mathematikbezogene Selbstkonzept fanden Wilgenbusch und Merrell (1999) in einer Metaanalyse für Primarstufenschüler/innen (Klassen 1 bis 6) bei Jungen ein positiveres mathematikbezogenes Selbstkonzept als bei Mädchen (d=.25). Ähnlich fanden Polocek et al. (2008) schon bei Jungen aus ersten Schulklassen eine deutlich positivere Selbsteinschätzung der eigenen Kompetenz im Rechnen als bei den Mädchen (d=.52). Die Geschlechtsunterschiede im Selbstkonzept stabilisieren sich über die Schulzeit hinweg: Sie wurden in zahlreichen Studien auch beim Vergleich älterer Mädchen und Jungen gefunden (z.B. PISA-Studien: Baumert et al., 2001; Prenzel et al., 2004; Prenzel et al., 2007). Relativ wenige Studien liegen für den vorschulischen Bereich vor. Dies mag der Tatsache geschuldet sein, dass unklar ist, ob Kinder in diesem Alter (in dem sie sich typischerweise optimistisch überhöht beurteilen) bereits zwischen verschiedenen, domänenspezifischen akademischen Selbstkonzepten unterscheiden können (z.B. Marsh, Ellis & Craven, 2002). Dass Kinder bereits vor Eintritt in die Schule differenzieren, legen die Ergebnisse einer Studie von Wolter und Hannover (2008) nahe. Bei fünfjährigen Kindergartenkindern fanden sie moderate Korrelationen zwischen verbalem und mathematischem Selbstkonzept (Mädchen: r=.42*, Jungen: Jungen r=.54**) und dass die Mädchen signifikant höhere schriftsprachliche Vorläuferkompetenzen, aber kein positiveres verbales Selbstkonzept hatten als die Jungen. Neben den Interaktionen zwischen Geschlecht und fachlicher Domäne, auf die das Fähigkeitsselbstkonzept bezogen ist, zeigen sich systematische Zusammenhänge zwischen Geschlecht und Fähigkeitsselbstkonzept dahingehend, dass Mädchen/Frauen sich im Mittel bescheidener einschätzen als Jungen/Männer. So findet die Tatsache, dass Mädchen inzwi-
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schen in verschiedenen Ländern bessere Schulnoten und höhere Schulabschlüsse erreichen als Jungen (z.B. Blossfeld, Bos, Hannover, Lenzen, Müller-Böling, Prenzel & Wößmann, 2009; Pomerantz & Altermatt, 2002; Shettle et al., 2007; Statistisches Bundesamt, 2008) keinen Niederschlag in einem entsprechend höheren akademischen Fähigkeitsselbstkonzept (z.B. Guimond, Chatard, Martinot, Crisp & Redersdorff, 2006; Stetsenko, Little, Gordeeva, Grasshof & Oettingen, 2000). Unklar ist allerdings, inwiefern dies mit der Tatsache zusammenhängt, dass der Vorsprung der Mädchen in Noten und Abschlüssen keine Entsprechung in standardisierten Leistungstests findet (z.B. Blossfeld et al., 2009; Duckworth & Seligman, 2006). Zusammengefasst stimmen die Unterschiede in domänenspezifischen Fähigkeitsselbstkonzepten zwischen Mädchen und Jungen mit dem überein, wie sich die Geschlechter gemäß Geschlechtsrollenstereotypen voneinander unterscheiden. Weiter schätzen Mädchen/ Frauen sich insgesamt bescheidener ein als Jungen/Männer. Möglicherweise ist diese Tendenz auf die stärkeren Interdependenz-Normen zurückzuführen, denen sich weibliche Personen ausgesetzt sehen: Die Verbundenheit mit anderen kann durch eine bescheidene Selbstpräsentation betont werden. Beschreibt eine Person ihre Fähigkeiten eher als mittelmäßig oder durchschnittlich, so bringt sie damit zum Ausdruck, dass sie sich als ähnlich wie andere sieht. Independenz, d.h. Unabhängigkeit von anderen, kann im Unterschied dazu am besten dadurch signalisiert werden, dass man die eigene Person als besser als andere oder als besonders beschreibt. Weitere Einflussfaktoren auf die Ausprägung von Fähigkeitsselbstkonzepten sind soziale Vergleichsprozesse (Marsh, 1986). Das Fähigkeitsselbstkonzept ist um so geringer ausgeprägt, je relativ besser die Leistungen relevanter Vergleichspersonen in der betreffenden Domäne sind (also z.B. die anderen Kinder in der Klasse; sog. big-fish-little-pont-effect). Geschlechtsunterschiede im Fähigkeitsselbstkonzept können somit auch damit erklärt werden, dass statusunterlegene Gruppen sich typischerweise mit statushöheren vergleichen, nicht aber umgekehrt (z.B. Fiske & Berdahl, 2007; Lorenzi-Cioldi, 1991): Möglicherweise vergleichen Mädchen ihre Leistungen sowohl mit weiblichen als auch männlichen Mitschülern, Jungen hingegen nur innerhalb ihrer eigenen Geschlechtsgruppe. Damit könnte erklärt werden, warum Mädchen zwar, entsprechend ihrer relativ zu den Jungen geringeren Kompetenz, ihre Fähigkeiten in der Mathematik als geringer einschätzen, umgekehrt aber die Jungen kein geringeres Leseselbstkonzept oder kein geringeres generelles akademischen Fähigkeitsselbstkonzept haben als die Mädchen, obwohl sie ihren Mitschülerinnen hier unterlegen sind. Auswirkung des Fähigkeitsselbstkonzepts auf das Denken, Fühlen und Handeln der Person Fähigkeitsselbstkonzepte stellen neben Intelligenz und Vorwissen die bedeutsamsten Prädiktoren für Leistungen dar. Insofern kann angenommen werden, dass die geschlechtsdifferenzierten Fähigkeitsselbstkonzepte zur Konstruktion von Geschlecht beitragen, nämlich zur Entwicklung von Geschlechtsunterschieden in tatsächlichen Fähigkeiten. Wie bereits angeführt verfügen Mädchen am Ende der Grundschulzeit über eine signifikant höhere Lesekompetenz als Jungen (z.B. IGLU, 2006: Gesamtskala Lesen Mädchen 551 Punkte, Kompetenzstufe IV; Jungen: 544 Punkte, Kompetenzstufe III; Bos et al., 2007). Um-
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gekehrt sind die Jungen am Ende der Primarstufenzeit den Mädchen in den Naturwissenschaften (IGLU-E, 2001: 15 Punkte) und in der Mathematik (IGLU-E, 2001: 24 Punkte) überlegen (Bos, Lankes, Prenzel, Schwippert, Valtin & Walther, 2004). Diese Leistungsdifferenzen zwischen den Geschlechtern verstärken sich über die Sekundarstufen I und II hinweg (z.B. PISA, 2000 (Lesen), PISA 2003 (Mathematik), und PISA 2006 (Naturwissenschaften); Baumert et al., 2001; Prenzel et al., 2004; Prenzel et al., 2007). Zusammengefasst fallen die Geschlechtsunterschiede in Fähigkeiten in Übereinstimmung mit Geschlechtsrollenstereotypen aus. Die Frage, ob Geschlechtsunterschiede im Fähigkeitsselbstkonzept zeitlich vor Unterschieden in Fähigkeiten auftreten (also wesentlich durch Geschlechtsrollenstereotype bedingt sind) oder aber umgekehrt Geschlechtsunterschiede in Fähigkeiten unterschiedliche Fähigkeitsselbstkonzepte nach sich ziehen, ist allerdings nur schwer zu beantworten, da Selbstkonzept und Leistung wechselseitig aufeinander einwirken. Zusammenfassend spricht die Empirie für reziproke Effekte (z.B. Guay, Marsh & Boivin, 2003), wobei die Wirkung von Leistung auf das Fähigkeitsselbstkonzept vergleichsweise stärker ist (Trautwein, Lüdtke, Köller & Baumert, 2006). Nichtsdestotrotz ist auch der Wirkzusammenhang vom Fähigkeitsselbstkonzept auf die Leistung nicht vernachlässigbar. So fanden beispielsweise Eccles und Mitarbeiter/innen in ihrem umfangreichen Forschungsprogramm, dass Fähigkeitsselbstkonzepte (z.B. „Für wie gut halte ich mich in Physik?“) ein wesentlicher Prädiktor für leistungsbezogene Wahlen sind („Wähle ich Physik als Leistungskurs?“), die ihrerseits einen maßgeblichen Einfluss auf die weitere Kompetenzentwicklung haben (z.B. Eccles & Wigfield, 2002), und zwar insbesondere in Schulsystemen (wie dem deutschen), in denen leistungsunabhängige Neigungswahlen von Fächern möglich sind (Nagy, Garrett, Trautwein, Cortina, Baumert & Eccles, 2008). Weiter fanden Eccles und Mitarbeiter/innen, dass Fähigkeitsselbstkonzepte nicht nur durch persönliche Erfahrungen in Leistungssituationen geprägt werden, sondern wesentlich auch von den Geschlechtsrollenstereotypen relevanter Bezugspersonen beeinflusst sind: Eltern und Lehrer/innen haben Annahmen darüber, welche Fähigkeiten ein Kind hat. Eccles und Mitarbeiter/innen konnten zeigen, dass Mädchen und Jungen in ihren Fähigkeiten in geschlechtskonnotierten Domänen (z.B. Englisch oder Mathematik) in Übereinstimmung mit Geschlechterstereotypen systematisch über- bzw. unterschätzt werden (z.B. Frome & Eccles, 1998), dass die Bezugspersonen entsprechend geschlechtsdifferenzierte Lernumgebungen bereitstellen (z.B. Jacobs, Davis-Kean, Bleeker, Eccles & Malanchuk, 2005) und dass sich ihre Einschätzungen in den Fähigkeitsselbstkonzepten der Mädchen und Jungen niederschlagen (z.B. Frome & Eccles, 1998). Auch die Tatsache, dass Geschlechtsunterschiede in Fähigkeitsselbstkonzepten typischerweise größer ausfallen als tatsächliche Fähigkeitsunterschiede, spricht dafür, dass Geschlechtsrollenstereotype – vermittelt über Fähigkeitsselbstkonzepte – Einfluss auf die Leistungsentwicklung nehmen. So zeigte sich beispielsweise in der PISA-2006-Studie, dass der Unterschied in der naturwissenschaftlichen Kompetenz zwischen deutschen Mädchen und Jungen eine Effektstärke von nur d=.07 (Gesamtskala Naturwissenschaften) hatte, hingegen der Unterschied im naturwissenschaftsbezogenen Fähigkeitsselbstkonzept eine Effektstärke von d=.38. Auch in Ländern, in denen PISA-2006 keine Leistungsunterschiede
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zwischen den Geschlechtern in den Naturwissenschaften fand, berichteten die Jungen signifikant positivere Selbstkonzepte als die Mädchen (Prenzel et al., 2007). Die geschlechtsabhängig unterschiedlich ausgeprägten domänenspezifischen Fähigkeitsselbstkonzepte beeinflussen weitergehend auch die Interessenentwicklung, z.B. sichtbar in geschlechtstypisierten Fach- und Berufswahlen, die in Übereinstimmung mit Geschlechtsrollenstereotypen und Independenz-Interdependenz-Normen ausfallen: Frauen präferieren soziale Fachrichtungen und Berufe, in denen sie anderen helfen (z.B. Lehrerin, Sozialarbeiterin) und/oder in einer abhängigen Position tätig sind (z.B. medizinische Hilfsberufe, Dienstleistungsberufe), wohingegen Männer Berufe wählen, in denen sie sich durch das Erreichen hoher Positionen in einer sozialen Hierarchie und durch ein hohes Einkommen weitestmöglich unabhängig von anderen machen können (z.B. Blossfeld et al., 2009). Die bescheidenere Fähigkeitseinschätzung von Mädchen und Frauen ist in der Vergangenheit vor allem als ein Faktor beschrieben worden, der sie gegenüber Jungen und Männern ins Hintertreffen geraten lässt. Die aktuelle Entwicklung, nach der Mädchen im Bildungswesen erfolgreicher sind als Jungen (z.B. Statistisches Bundesamt, 2008), lässt jedoch vermuten, dass eine bescheidene Selbsteinschätzung sich durchaus auch günstig auswirken kann. So konnten beispielsweise Duckworth und Seligman (2006) zeigen, dass die besseren Benotungen von Mädchen darauf zurückzuführen sind, dass Schülerinnen stärker selbstdiszipliniert lernen als Schüler, also z.B. selbstreguliert langfristige schulische Ziele verfolgen und auch dann aktiv zum Gelingen des Unterrichts beitragen, wenn sie sich durch das Thema wenig angesprochen fühlen. Vielleicht ist auch die Tatsache, dass Jungen typischerweise ihre Interessen auf einige wenige Inhaltsdomänen konzentrieren, Mädchen hingegen sich in einem breiteren Spektrum von Fächern engagieren (Denissen et al., 2007) darauf zurückzuführen, dass Jungen sich für stärker begabt halten und deshalb meinen, der Anforderung, in allen Fächern mitzuarbeiten und sich anzustrengen, nicht nachkommen zu müssen. Geschlechtsunterschiede im globalen und domänenspezifischen Selbstwert Im Selbst repräsentiertes Wissen (z.B. „ich bin in Buenos Aires geboren“) schließt affektive Komponenten ein (z.B. „ich bin stolz darauf, in Buenos Aires geboren zu sein“); d.h. positive bzw. negative Bewertungen der einzelnen deklarativen Selbstaspekte. Die Gesamtheit dieser domänenspezifischen Selbstwerte bildet den globalen Selbstwert der Person. Verschiedene Meta-Analysen fanden mit kleinen bis mittleren Effektstärken, dass Mädchen und Frauen über die gesamte Lebensspanne hinweg (abgesehen von über 80jährigen) einen geringeren globalen Selbstwert angeben als Jungen und Männer (z.B. Kling, Hyde, Showers & Buswell, 1999; Major, Barr, Zubek & Babey, 1999; Twenge & Campbell, 2001). In einer Meta-Analyse von Gentile, Grabe, Dolan-Pascoe, Twenge und Wells (2009), in die 115 Studien und über 32 000 Probanden eingingen, wurden spezifische Selbstwerte in 10 verschiedenen Domänen analysiert. Dabei wurden zwei alternative Hypothesen verfolgt. Die erste Hypothese besagt, dass der Selbstwert die Sichtweisen reflektiert, die andere Personen oder die Umwelt auf das Individuum haben (reflected appraisals model). Demnach sollten Geschlechtsunterschiede im Selbstwert in all jenen Domänen sichtbar werden, in denen unterschiedliche gesellschaftliche Standards für die Bewertung männlicher und weiblicher Personen herangezogen werden. Die zweite Hypothese besagt, dass Menschen ihren Selbst-
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wert auf dem basieren, was sie selbst geleistet haben (competencies model). Demnach sollten Geschlechtsunterschiede im Selbstwert in den Domänen auftreten, in denen männliche und weibliche Personen tatsächlich Unterschiedliches erreichen. Gentile et al. (2009) fanden stark variierende Geschlechtsunterschiede in Abhängigkeit von der inhaltlichen Selbstwert-Domäne. Männliche Personen erzielten höhere Werte in dem auf ihre körperliche Erscheinung bezogenen Selbstwert (d=.35), im sportlich-athletischen Selbstwert (d=.41), im personalen Selbstwert (ähnlich einer globalen Selbstwertmessung; d=.28) und im auf die eigene Zufriedenheit bezogenen Selbstwert (d=.33). Weibliche Personen hatten einen höheren Selbstwert lediglich bezogen auf ihr eigenes Benehmen (behavioral conduct; d=.17) und ihre moralisch-ethische Integrität (d=.38). Keine Geschlechtsunterschiede zeigten sich im akademischen Selbstwert (d=.04), im auf soziale Akzeptanz (d=.04), auf Familie (d=-.02) und auf die eigene Affektivität (d=.11) bezogenen Selbstwert. Zusammengefasst sprechen die Befunde eher für das reflected appraisals model als für das competencies model: „If people evaluated their abilities based on objective competence, males would score higher on athletic self-esteem, females would score higher on academic, social acceptance, behavioral conduct, and moral-ethical self-esteem, and there would be no gender differences in the other domains. However, one of the largest gender differences was in physical appearance, a domain where competencies predicted no differences or even a female advantage but reflected appraisals correctly predicted a considerable male advantage“ (Gentile et al., S. 41). Auswirkungen des Selbstwerts auf das Denken, Fühlen und Handeln der Person Die Verwendung affektiv bedeutsamen Selbstwissens geht mit dem Erleben positiver bzw. negativer Affekte einher. Denn mit seiner Aktivierung werden nicht nur die relevanten semantischen Inhalte zugänglicher, sondern auch die entsprechenden Affekte ausgelöst (schema-triggered affect). Dies ist der Grund dafür, warum sich der Selbstwert auf das Erleben der Person auswirkt: Ihre Befindlichkeit ist eine Funktion des Affektes, der mit dem gegenwärtig aktivierten Selbstwissen verbunden ist (z.B. Heatherton & Polivy, 1991; Linville, 1987). Der Zugriff auf bestimmtes Selbstwissen kann auch deshalb affektive Konsequenzen haben, weil es Repräsentationen personaler Ziele beinhaltet. Higgins (1987) unterscheidet zwischen kognitiven Repräsentationen des aktuellen, des idealen und des Soll-Selbst. Diskrepanzen zwischen dem aktuellen und dem idealen Selbst signalisieren, dass keine positiven Konsequenzen erwartbar sind und rufen deshalb Enttäuschung und Niedergeschlagenheit hervor. Demgegenüber lösen Diskrepanzen zwischen dem aktuellen und dem SollSelbst agitierte Emotionen wie Schuld, Angst oder Bedrohtheit hervor. Die oben beschriebenen Geschlechtsunterschiede im Selbstwert tragen somit zur Konstruktion von Geschlecht im sozialen Kontext bei, weil Mädchen und Frauen wahrscheinlicher negative selbstbezogene Affekte erleben. Besonders deutlich ist dieser Geschlechtsunterschied in Hinblick auf das Erleben der eigenen äußeren Erscheinung. Die Bewertung des eigenen Aussehens ist für den globalen Selbstwert weiblicher Personen stärker prädiktiv als für den männlicher Personen (z.B. Polce-Lynch, Myers, Kliewer & Kilmartin, 2001). Gleichzeitig erleben Mädchen und Frauen wahrscheinlicher Diskrepanzen zwischen ihrem IdealSelbst und ihrem aktuellen Selbst, insbesondere bedingt durch das (u.a. von den Medien
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transportierte) nur von wenigen erreichte Schlankheitsideal (z.B. Sanderson, Wallier, Stockdale & Yopyk, 2008; Tiggemann, Polivy & Hargreaves, 2009). In Übereinstimmung mit diesen Annahmen sinkt der Selbstwert weiblicher Personen gegenüber dem von männlichen während der Adoleszenz ab, d.h. in einer Zeit, in der Mädchen die weibliche Körperform entwickeln (Harter, 1998; Kling et al., 1999). Auch Diskrepanzen zwischen Soll-Selbst und aktuellem Selbst in Hinblick auf die eigene Körperlichkeit haben negative Auswirkungen auf die Befindlichkeit von Mädchen und Frauen. So nehmen sie an, dass andere Männer und Frauen eine viel schlankere weibliche Statur präferieren würden, als dies tatsächlich der Fall ist (Forbes, Adams-Curtis, Rade & Jaberg, 2001; Park, Yun, McSweeney & Gunther, 2007) und dass andere Mädchen/Frauen viel stärker als sie selbst auf eine schlanke Linie achten würden (Sanderson et al., 2008). Möglicherweise ist auch die stärkere Unzufriedenheit von Mädchen und Frauen mit ihrer physischen Erscheinung auf ihr interdependentes Selbst zurückzuführen: In dem Streben, anderen zu gefallen, werden besonders hohe Standards an das eigene Aussehen gestellt.
Ausblick Geschlechtsrollenstereotype und Independenz-Interdependenz-Normen tragen dazu bei, dass sich das Selbst weiblicher und männlicher Personen unterschiedlich ausprägt. Weil das Selbst das Denken, Fühlen und Handeln der Person steuert, entstehen stabile Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Diese machen es wahrscheinlich, dass in der sozialen Interaktion Geschlecht konstruiert wird: In dem Maße, wie die an einer Interaktion Beteiligten geschlechtstypisierte Erwartungen anderen gegenüber haben und sich selbst geschlechtstypisiert verhalten, sorgen sie dafür, dass die soziale Interaktion zu einer Aufrechterhaltung – und nicht zu einem Abbau – von Geschlechtsrollenstereotypen beiträgt. Dieses sich selbst stabilisierende System kann am ehesten durch eine Gestaltung sozialer Situationen unterbrochen werden, in denen Geschlecht „irrelevant“ ist. Situationsfaktoren, die zur Aktivierung von Geschlechtsrollenstereotypen beitragen sind dabei a) gemischtgeschlechtliche (im Unterschied zu getrenntgeschlechtlichen) Gruppenkonstellationen, b) soziale Vergleiche zwischen den Geschlechtern, c) geschlechtstypisierte Aktivitäten und d) die Betonung von Aspekten physischer Attraktivität (Hannover, 2000). Weil sozialpsychologische Theorien Geschlecht stets in seiner situationalen Bedingtheit und somit geschlechtstypisiertes Verhalten als flexibel, kontextabhängig und multikausal verursacht betrachten, sind sie in besonderem Maße geeignet, die subtilen Mechanismen aufzuklären, aufgrund derer Geschlecht – auch ohne bewusstes Zutun der Beteiligten – in sozialen Situationen konstruiert oder auch nicht konstruiert wird.
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Bettina Hannover
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3. Emotionspsychologie Emotionen der Geschlechter: Ein fühlbarer Unterschied? Ljubica Lozo
Stellen Sie sich vor, es gäbe eine Zeitschrift mit dem Titel Emotion. Was glauben Sie? Handelt es sich um eine Zeitschrift für Frauen oder Männer? Ertappt? Das Magazin „Emotion. Das andere Frauenmagazin“ gibt es in der Tat, und es ist, wie der Titel verrät, ein Frauenmagazin. Es ist nur eines der vielen Alltagsbeispiele, das aufzeigt, wie fest miteinander verwoben die Konzepte Weiblichkeit und Emotionalität in unserer Gesellschaft erscheinen. Die Frage: „Unterscheiden sich Frauen von Männern im Erleben und im Ausdruck von Emotionen?“, erscheint damit beantwortet. Frauen kennen sich mit Gefühlen aus, Männer glänzen auf anderen Gebieten, so die allgegenwärtige Auffassung. Ein Blick auf die empirische Forschung zum Thema Emotion und Geschlecht liefert ein komplexeres Bild. Er legt zweierlei nah, eine schier unübersehbare Fülle an Befunden, die Geschlechterunterschiede demonstrieren und gleichzeitig allerdings auch eine auffällige Inkonsistenz der Befundlage. Dominierte das Untersuchungsfeld anfangs noch die vereinfachende Frage „Welches Geschlecht ist das emotionalere?“, bricht die neuere Forschung mit diesem traditionellen, auf Unterschiede fokussierten, traitbasierten Ansatz. Sie versucht der Komplexität des Untersuchungsgegenstandes durch Berücksichtigung einer Vielzahl von Faktoren wie etwa biologischen, persönlichkeitsbezogenen, sozialen, kognitiven und kulturellen Variablen, die als potentielle Mediatoren und Moderatoren das Zusammenspiel von Geschlecht und Emotion mitbestimmen, gerecht zu werden. Die Emotionsforschung im Allgemeinen und die der Geschlechterunterschiede von Emotionen im Besonderen ringt seit ihren Anfängen mit dem Problem, dass es weder eine allgemein akzeptierte Auffassung davon gibt, was eine Emotion ist, noch wie ein objektives Maß zur Emotionserfassung beschaffen sein soll. Einigkeit besteht aber darin, dass Emotion ein multidimensionales Konstrukt ist und mehrere Komponenten aufweist: subjektives Erleben, Emotionsausdruck und zielgerichtetes Handeln als Verhaltenskomponenten und schließlich die physiologische Komponente (Frijda, 1986; Scherer, 1984). Der vorliegende Beitrag legt den Schwerpunkt auf subjektives Erleben von Emotionen und den Emotionsausdruck (Veränderungen der Mimik, Gestik, Stimme und Haltung), da das Gros der Studien zu Geschlechterunterschieden Emotionalität über diese beiden Komponenten operationalisiert. Wenn wir behaupten, das eine Geschlecht sei emotionaler als das andere, was bedeutet das konkret? Welche Komponente der Emotion ist damit gemeint? Das subjektive Erleben oder Veränderungen der Mimik? Das intensivere und häufigere Erleben aller möglichen Emotionen oder bestimmter einzelner Emotionen wie Wut oder Trauer? Oder wird die
G. Steins (Hrsg.), Handbuch Psychologie und Geschlechterforschung DOI 10.1007/978-3-531-92180-8_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010
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Stärke des Emotionsausdrucks mit Emotionalität gleichgesetzt? Unmittelbar daran schließt auch die Frage nach der Methode der Emotionserfassung: Sollen Selbstbericht, nonverbale Maße oder physiologische Indikatoren eingesetzt werden? Freilich haben auch die Befragten ihre Vorstellungen davon, was mit Emotionalität gemeint ist: Ist Emotionalität ein Zeichen der Kompetenz im Sinne einer emotionalen Intelligenz? Oder ist es ein Zustand der Schwäche, der Verwirrung und Orientierungslosigkeit stiftet, und uns unfähig werden lässt, zu rationalen Entscheidungen und Handeln zu gelangen? Die lange Reihe der Fragen kann mit einer von Niedenthal, Krauth-Gruber und Ric (2006) aufgeworfenen Fragen beendet werden: Mit einem Augenzwinkern fragen sich die Autoren, wie es dazu kommt, dass Geschlechter vergleichende Studien die männliche Emotionalität häufig als Vergleichausgangspunkt annehmen, mit der sie dann die Emotionalität der Frauen vergleichen? Der erste Abschnitt des Beitrags setzt sich mit den bestehenden Stereotypen zum Verhältnis Geschlechter und Emotion auseinander und speziell mit der Frage: Was glaubt der Laie, wie sich Frauen und Männer hinsichtlich ihrer Emotionen unterscheiden (sollen)? Auf die Befunde der Stereotypenforschung knüpft eine Übersicht zu erforschten Geschlechterunterschieden im Erleben und im Ausdruck von Emotionen an. Darauf aufbauend wird diskutiert, inwiefern die gefundenen Unterschiede der Realität entsprechen oder zumindest teilweise durch die Art der eingesetzten Erfassungsmethode eher stereotype Vorstellungen widerspiegeln.
Stereotype, Mythen und Legenden: Von der Emotionalität der Frau und der Rationalität des Mannes Die Dichotomie von Emotionalität und Rationalität ging in unserer Kultur fast immer Hand in Hand mit einer anderen pointierten begrifflichen Unterscheidung einher: die der Feminität und Maskulinität. Der Inbegriff der Weiblichkeit ist aufs Engste mit dem Konzept der Emotionalität verflochten. Frauen sind diejenigen, von denen wir glauben, dass sie über die beinah exklusive Fähigkeit verfügen, Gefühle intensiv zu erleben und ihnen entsprechenden Ausdruck zu verleihen, die eigenen Gefühle anderen Personen erfolgreich zu kommunizieren und wiederum eine starke Anteilnahme an den Gefühlen anderer zu zeigen. Kurzum, Frauen lassen sich von ihren Gefühlen leiten, Männer dagegen geben ihren Gefühlsimpulsen nicht nach. Wir nehmen sie als prädisponiert wahr, sich der Rationalität zu verschreiben und somit stets handlungsfähig zu sein. Als vernunftgeleitete Handelnde müssen sie Herr ihrer Gefühle sein, diese kontrollieren und gegebenenfalls unterdrücken. Diese stereotypen Geschlechterbilder bezüglich der Emotionalität spiegeln einerseits die gesellschaftlich gegebenen Meinungen und Überzeugungen, wie sich Frauen und Männer unterscheiden (sollen) und andererseits die Funktionen der sozialen Rollen der Geschlechter wider. So ist eine ausgeprägte Emotionalität funktional für die Frauen als Trägerinnen der fürsorglichen, auf Beziehungserhalt ausgerichteten Rolle (Theorie der sozialen Rolle, Eagly, 1987). Dem Mann hingegen ist es als nüchterndem Entscheidenden vorbehalten, das wirtschaftliche Auskommen der Familie sicherzustellen.
3. Emotionspsychologie
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Stereotype zum Erleben und Ausdruck der allgemeinen Emotionalität der Geschlechter Das Stereotyp, Frauen seien im Allgemeinen emotionaler als Männer, ist zwar besonders in der westlichen Kultur ausgeprägt (Fischer & Mansted, 2000), lässt sich aber auch in anderen Kulturen finden (Timmers, Fischer & Manstead, 2003). So ist bei beiden Geschlechtern häufig die Überzeugung vorhanden, dass Frauen im Vergleich zu Männern Emotionen intensiver erleben (Robinson & Johnson, 1997; Shields 1987) und ihren Gefühlen stärker Ausdruck etwa durch Lächeln, Lachen oder Weinen verleihen (Fabes & Martin, 1991; Grossman & Wood, 1993). Die auf Emotionsausdruck bezogenen Stereotype sind dabei besonders stabil (Plant, Hyde, Keltner & Devine, 2000). Zudem sollen Frauen im Stande sein, emotionsrelevante nonverbale Hinweisreize besser einzuschätzen und die Emotionen anderer Personen akkurater wahrzunehmen (Briton & Hall, 1995). Die Emotionalität der Frau wird ferner als ein stabiles Persönlichkeitsmerkmal und die Emotionalität des Mannes als eine situativ bedingte und somit zufällige Reaktion wahrgenommen (Shields, 2002). Stereotype zum Erleben und Ausdruck von spezifischen Emotionen Wird weniger global nach Emotionalität der Geschlechter gefragt und mehr nach einzelnen spezifischen Emotionen differenziert, fallen die Befunde weniger robust und eindeutig aus. Freude, Angst, Trauer, Überraschung, Scham, Verlegenheit und Schuld sind zwar Gefühle, von denen wir glauben, dass sie Frauen in aller Regel besonders intensiv erleben. Intensiveres Erleben von Ärger, Stolz und Verachtung aber schreiben wir dann doch eher den Männern zu (Fabes & Martin, 1991; Hess, Sénecal, Kirouac, Herrera, Philippot & Kleck, 2000; Plant et al., 2000). Genauer betrachtet, wird Frauen das Erleben von Emotionen zugeschrieben, die sich vor dem Hintergrund sozialer Beziehungen abspielen. Die Emotionen sind dabei entweder selbstbezogen und negativ (z.B. Scham, Verlegenheit) oder auf andere bezogen und positiv (z.B. Sympathie, Dankbarkeit). Männer dagegen, so die Überzeugung, erleben mehr positive selbstbezogene Emotionen wie z.B. Stolz und Zufriedenheit mit sich selbst und negative, auf andere bezogene Emotionen wie z.B. Ärger und Feindseligkeit, wobei nicht die sozialen Beziehungen, sondern die eigene Person im Vordergrund steht (Feldman Barrett & Morganstein, 1996; Johnson & Shulman, 1988; Robinson, Johnson & Shields, 1998; Shields, 1991). Ein vergleichbares Befundmuster findet sich auf der Ebene des Ausdrucks von Emotionen. Eine Ausnahme von der bereits geschilderten Überzeugung, Männer seien im Ganzen weniger expressiv, bildet der Ausdruck sogenannter Macht betonender und Dominanz demonstrierender Emotionen wie Ärger, Verachtung, Ekel und Stolz. Von Frauen glauben wir, dass sie mehr lächeln, lachen und vor allem Scham, Angst und Trauer stärker ausdrücken, Emotionen also, die Unterwerfung, Verletzbarkeit und Machtlosigkeit signalisieren (Briton & Hall, 1995; Brody & Hall, 1993; Fischer & Mansted, 2000; Grossman & Wood, 1993; Timmers et al., 1993). Eine wichtige Variable, die erheblich unsere Vorstellung mitbestimmt, wie sich Frauen und Männer emotional verhalten (sollen), stellt der soziale Kontext dar. Stärkeren Emotionsausdruck von Frauen erwarten wir in Situationen, in denen zwischenmenschliche Beziehungen dominieren. Liegt das Augenmerk dagegen in einer Situation auf dem Leistungsgedan-
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ken und gilt es, selbstständiges und eigenverantwortliches Handeln zu zeigen, so verbinden wir hier starken Emotionsausdruck mit Maskulinität (Brody, 1997; Kelly & Hutson-Comeaux, 1999). Diese Unterscheidung lässt sich beispielhaft anhand einer Studie von Stoppard und Gunn Grunchy (1993) illustrieren. Die Arbeit demonstriert die Kontextabhängigkeit des Stolzausdrucks der Geschlechter. Die Versuchsteilnehmer sollten angeben, inwiefern die in Szenarien beschriebene Zielperson eher ein Mann oder eine Frau ist. Drückte die Zielperson Stolz über eigene Leistungen und Erfolg aus, glaubten die einschätzenden Versuchspersonen eher einen Man vor sich zu haben. Die Einschätzung, die Zielperson sei eine Frau, war wahrscheinlicher, wenn die Zielperson Stolz über Erfolge anderer Personen äußerte. Bereits Vorschulkinder verfügen über stereotypes Wissen hinsichtlich emotionaler Darstellungsregel und ihrer Bindung an das jeweilige Geschlecht. Gefragt danach, ob dargestellte Welpengesichter eher weiblich oder männlich sind, geben Kinder an, traurig, fröhlich oder ängstlich dreinblickende Welpengesichter seien weiblich und die ärgerlich blickenden Welpengesichter seien männlich (Birnbaum, 1983; Birnbaum, Nosanchuck & Croll, 1980). Dieser Überblick macht zusammenfassend deutlich, dass es offenbar fest etablierte Stereotype dazu gibt, wie sich Frauen und Männer in ihrem emotionalen Erleben und Verhalten unterscheiden. Beruhen nun diese kulturell begründeten Überzeugungssysteme auf einer realitätsnahen Basis? Lässt sich ein vergleichbares Befundmuster finden, wenn Frauen und Männer selbst über ihr Erleben und Ausdruck von Gefühlen berichten?
Geschlechterunterschiede im Erleben und im Ausdruck von Emotionen: Steckt ein Körnchen Wahrheit in den Stereotypen? Viele Studien, die der Frage nach dem Geschlechterunterschied im Erleben und Ausdruck von Emotionen nachgehen, scheinen auf den ersten Blick herrschende stereotype Annahmen zu bestätigen. Unterschiede im subjektiven Erleben von Emotionen Vorab ist festzustellen, dass bei der Klärung dieser Frage hauptsächlich Selbstberichtmaße verwendet wurden. Die nicht unproblematischen Folgen dieser methodischen Ausrichtung werden später noch diskutiert. So schätzen sich Frauen auf der Skala der dispositonellen Affektintensität von Larsen und Diener (AIM; 1987) emotionaler ein als Männer. Das trifft sowohl auf positiven als auch negativen Affekt zu (Diener, Sandvik & Larsen, 1985; Fujita, Diener & Sandvik, 1991; Simon & Nath, 2004). Auch die Intensität ihrer sonstigen (situativ bedingten) emotionalen Erlebnisse schätzen Frauen höher ein als Männer (Hess et al., 2000; Tobin, Graziano, Vanman & Tassinary, 2000). Vergleichbar mit den Befunden zu stereotypen Überzeugungen ist der Befund zur Beurteilung der allgemeinen Emotionalität eindeutiger als wenn nach dem Erleben von einzelnen Emotionen gefragt wird. Auf den ersten Blick scheinen die Unterschiede im Erleben einzelner diskreter Emotionen den stereotypen Annahmen zu entsprechen. Im Vergleich zu Männern berichten Frauen intensiver und häufiger negative Emotionen wie Trauer, Angst, Empathie (Distress) und negative selbstbezogene Emotionen wie Verlegenheit, Schuld und Scham zu erleben. Ähnlich
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verhält es sich mit positiven Emotionen wie Freude und Liebe (Brebner, 2003; Brody, 1993; Ferguson & Crowley, 1997; Ferguson, & Eyre, 2000; Fischer & Manstead, 2000; Tangney, 1990; Stapley & Haviland, 1989). Männer berichten dagegen von mehr Stolz (Brebner, 2003). Eine Abweichung von der ansonsten scheinbar gegebenen Übereinstimmung von stereotypen Überzeugungen zu emotionalem Verhalten der Geschlechter stellen Ärger und Feindseligkeit dar. Hier scheint es keine nennenswerten oder zumindest eindeutigen Geschlechtsunterschiede zu geben (Nolen-Hoeksema & Rusting, 1999; Scherer, Wallbott & Summerfield, 1986). Unterschiede im Ausdruck von Emotionen Generell ist zu den Unterschiedsbefunden im Emotionsausdruck festzustellen, dass sie im Vergleich zu den gefundenen Unterschieden im Erleben im Durchschnitt größer sind (LaFrance & Banaji, 1992). Wenn Männer und Frauen gefragt werden, wie häufig und wie intensiv sie, unabhängig vom sozialen Kontext, ihren Gefühlen Ausdruck verleihen, geben Frauen auf beiden Dimensionen höhere Werte an (Kring & Gordon, 1998; Kring, Smith & Neal, 1994). Dabei handelt es sich um Selbstberichtsmaße, die global den dispositionellen Ausdruck zu erfassen suchen, ohne dabei zu berücksichtigen, wie der Ausdruck zu Stande kommt, ob durch Mimik, Stimme oder auf andere Weise. Wird nach dem Ausdruck von spezifischen Emotionen, unabhängig von einem spezifischen Kontext, gefragt, werden sowohl im Selbst- als auch Fremdbericht Verachtung, Einsamkeit, Stolz, Schuld und Vertrauen als diejenigen Emotionen aufgeführt, die von Männern häufiger und intensiver ausgedrückt werden als von Frauen (Brody, 1993, 1999). Der im Selbstbericht erfasste weibliche Emotionsausdruck stimmt mit den stereotypen Erwartungen überein. Frauen geben an, expressiver hinsichtlich der typischen femininen Emotionen wie Liebe, Angst, Trauer und Freude zu sein, was die Häufigkeit und Intensität des Auftretens anbelangt (Grossman & Wood, 1993). Wie bereits erwähnt, sind diese berichteten Unterschiede losgelöst vom sozialen Kontext. Der Kontext, in dem der Emotionsausdruck vorkommt aber auch die gewählte Komponente des Emotionsausdrucks bzw. der Ausdruckskanal (Stimme, Mimik, Haltung etc.), sind Faktoren, die die Geschlechtsunterschiede im Ausdruck vermitteln. Der Ausdruck von Ärger, als einer typisch männlich gesehenen Emotion, ist ein gutes Beispiel für die Auswirkung situativer Faktoren und der Operationalisierung des Ausdrucks auf die Beziehung von Emotion und Geschlecht. Eine Reihe von Studien belegt, wie komplex und alles andere als männlich dominiert der Zusammenhang zwischen Ärgerausdruck und Geschlecht ist. So ist die Unterscheidung bedeutsam, gegen wen der Ärger gerichtet wird. Der männliche Ärgerausdruck richtet sich eher gegen andere, gegen fremde Personen und gegen Personen, die sie als Ursache für ihren Ärger identifizieren (z.B. sich ärgern, dass der Arbeitskollege sein Getränk auf das eigene neue Hemd verschüttet). Frauen dagegen zeigen ihren Ärger eher gegenüber ihnen nahestehenden Personen (Timmers et al., 1998). Ferner variieren die Unterschiede im Emotionsausdruck beträchtlich in Abhängigkeit davon, ob etwa die Stimme, der Gesichtsausdruck, die physiologische Erregung oder das Verhalten als Ausdruckskanal gewählt werden (Brody & Hall, 1993). Wird Ärgerausdruck mit Aggression auf der Verhaltensebene gleichgesetzt, so ist der männliche Ärgerausdruck stärker. Tatsächlich aber verba-
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lisieren Frauen häufiger und länger ihren Ärger (Brody, 1993; Frost & Averill, 1982; Thomas, 1989). Sie drücken ebenfalls mehr Ärger in ihren (heterosexuellen) Beziehungen aus als Männer, indem sie mehr kritisieren und klärende Auseinandersetzungen suchen (Levenson, Carstensen & Gottmann, 1994). Die Beispiele zum Ausdruck von Ärger decken eine auffällige Inkonsistenz zum Selbstbericht auf, nach dem Frauen in aller Regel ja weniger Ärger fühlen und ausdrücken sollten. Die Diskrepanz ist vermutlich als Versuch der Befragten zu werten, der gesellschaftlichen Norm gerecht werden zu wollen. Schließlich sind Stereotype nicht allein als ein System von Meinungen und Überzeugungen zu betrachten, das beschreibt, was wir glauben, wie sich die Geschlechter im emotionalen Verhalten unterscheiden. Neben dem deskriptiven Gesichtspunkt gibt es auch einen präskriptiven Aspekt, der vorgibt, wie sich Männer und Frauen verhalten sollen und welche emotionalen Reaktionen als angemessen zu betrachten sind (vgl. Beitrag von Bettina Hannover). Ein weinender Mann oder eine verärgerte Frau brechen solche präskriptiven Normen und müssen mit gesellschaftlichen Sanktionen rechnen (Stoppard & Gunn Grunchy, 1993). Es gibt vergleichsweise wenige Studien, die Geschlechterunterschiede im objektiv erfassbaren Emotionsausdruck untersucht haben. Wurde die Muskelaktivität beim Gesichtsausdruck mittels EMG gemessen, konnte bei Frauen im Vergleich zu Männern eine erhöhte Muskelaktivität als Reaktion auf verschiedene emotionale Stimuli festgestellt werden (Bradley, Codispoti, Sabatinelli & Lang, 2001; Grossmann & Wood, 1993). Die Ergebnisse legen nahe, dass Frauen grundsätzlich leichter ihre Gefühle ausdrücken können, während Männer leichter Emotionsausdrücke auf eine Aufforderung hin unterdrücken können (Grossmann & Wood, 1993). Der Befund korrespondiert mit den berichteten und beobachteten geschlechterspezifischen Strategien der Emotionsregulation, die als eine Sammlung von kognitiven und verhaltensbasierten Strategien zur Beseitigung, Aufrechterhaltung und Veränderung von emotionalem Erleben und Ausdruck aufzufassen ist (Gross, 1998). Demnach tendieren Männer verglichen mit Frauen eher zu Regulationsstrategien, die auf Unterdrückung von Emotionen oder Beseitigung von Problemen abzielen und primär auf der Verhaltensebene sichtbar sind. Um ihre Emotionen zu regulieren, greifen sie zu ablenkenden und vermeidenden Aktivitäten wie Sport oder werden anderweitig aktiv. Frauen suchen soziale Unterstützung zwar auf, verharren aber regelrecht im negativen Affekt und geben sich ihm passiv hin, indem sie grübeln, auf ihre negativen Emotionen fokussieren und Schuldzuweisungen gegen sich selbst richten (Gross & John, 2003; Nolen-Hoeksema & Jackson, 2001; Thayer, Newman & McClain, 1994). Frauen und Männer unterscheiden sich sehr wohl in den verwendeten Strategien des Umgangs mit ihren Emotionen, was aber nicht zwingend heißt, dass sie sich im Erleben voneinander unterscheiden.
Wenn die Unterschiede geringer werden oder gar verschwinden… Die geschilderten Befunde zu Unterschieden im emotionalen Erleben und Ausdruck suggerieren, dass in dem gängigen Stereotyp, Frauen seien emotionaler als Männer, eher ein Brocken als ein Körnchen der Wahrheit steckt. Unter Forschern herrscht allerdings keine Einigkeit hinsichtlich der Frage, inwieweit die Geschlechterunterschiede im Erleben und Ausdruck von Emotionen tatsächlich empirisch belegt sind. Nicht wenige finden die Befundlage
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zu Unterschieden alles andere als eindeutig (Fischer et al., 2000; LaFrance & Banaji, 1992; Shields, 1991). LaFrance und Banaji (1992) zeigen in ihrer vielbeachteten Metaanalyse, wie der „klassische“ Unterschiedsbefund, Frauen seien emotionaler als Männer, vor allem durch die Art der eingesetzten Methode zur Datenerhebung bzw. des Emotionsmaßes herbeigeführt wird. Sie und andere Autoren identifizieren einige methodische Konstellationen, die das Auffinden von Unterschieden begünstigen. Demnach gibt es eine Diskrepanz in der Befundlage, je nachdem ob retrospektive Berichte oder „online“ Maße eingesetzt werden. Geschlechterunterschiede werden häufiger gefunden, wenn retrospektive Berichte als Datengrundlage dienen (recall bias). Wird die Emotion aus dem unmittelbaren Erleben erfasst, so sind keine oder nur geringe Unterschiede feststellbar (LaFrance & Banaji, 1992; Shields, 1991). Larson und Pleck (1999) statteten verheiratete Paare mit Pagern aus und baten sie, auf zufällige Aufforderungen hin ihre momentanen emotionalen Zustände festzuhalten. Männer und Frauen berichteten gleich häufig positive und negative Emotionen im Verlauf eines Tages zu erleben. LaFrance und Banaji (1992) führen ferner in ihrer Übersicht zwei weitere methodische Umstände an, die die Unterschiede akzentuieren oder aber geringer werden lassen. Zum einen rufen Aufforderungen zu globaler Selbsteinschätzung („Wie emotional sind Sie?“) Unterschiede eher hervor, als wenn eine Einschätzung bezüglich spezifischer Emotionen verlangt wird (Wie sehr ärgern Sie sich?). Feldman Barrett, Robin, Pietromonaco und Eyssell (1998) konnten in ihrer Studie die typischen Geschlechterunterschiede zeigen, wenn das emotionale Erleben mittels globaler retrospektiver Selbsteinschätzung erfasst wurde. Frauen gaben an, höhere Affektintensitäten und mehr Trauer, Angst und Freude zu erleben. Wurden die Männer und Frauen jedoch unmittelbar im Anschluss an eine dyadische soziale Interaktion nach der Einschätzung einzelner spezifischer Emotionen in der Interaktion gefragt, unterschieden sich die Angaben von Frauen nicht von denen der Männer. Zum anderen begünstigen direkte, explizite Maße im Gegensatz zu indirekten Maßen das Auffinden von Unterschieden. Welche psychologischen Prozesse vermitteln diese methodisch bedingte Variabilität der Ergebnisse? Vermutlich spielen etablierte Geschlechterstereotype eine entscheidende Rolle für die Erklärung der berichteten Methodenabhängikeit der Befunde. Grossmann und Wood (1993) befragten Frauen und Männer nach der Intensität und Häufigkeit, mit denen andere Männer und Frauen im Allgemeinen (stereotype Überzeugungen) aber auch sie persönlich (Selbstbeschreibung), typische feminine Gefühle wie Trauer, Liebe und Freude und typische maskuline Emotionen wie Ärger und Stolz erleben würden. Das Ausmaß der Akzeptanz der geschlechtsbezogenen stereotypen Überzeugungen stand in Beziehung zum berichteten Erleben und Ausdruck femininer und maskuliner Emotionen. Mit anderen Worten, je stärker z.B. die Frauen von Stereotypen überzeugt waren, dass Frauen generell mehr feminine Gefühle und Männer mehr Ärger und Stolz ausdrücken, umso mehr berichteten sie von eigenen erlebten Gefühlen wie Trauer, Liebe und Freude und umso weniger vom erlebten Ärger und Stolz. In einer Studie von Hess und Kollegen (2000) sollten negative autobiographische Emotionsepisoden erinnert werden. Im Einklang mit den gängigen Stereotypen erinnerten sich Männer an Situationen, in denen sie Ärger empfanden und Frauen eher an traurige Ereignisse und dies noch mit höherer Intensität. Dessen ungeachtet jedoch bewerteten beide gleich die erinnerten emotionsauslösenden Situationen (wahrgenommene Fairness der Ereignisse oder die Auswirkungen auf Selbstvertrauen). Das werten die Auto-
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ren als ein Indiz dafür, dass die gefundenen Unterschiede nicht das Ergebnis der unterschiedlichen Arten und Weisen sind, wie Frauen und Männer emotionsauslösende Ereignisse bewerten, sondern dass in dem Unterschied eher die gängigen Geschlechterstereotype abgebildet sind. Auch Robinson et al. (1998) finden, dass emotionales Erleben, im retrospektiven Selbstbericht geschildert, mehr geschlechtsstereotype Merkmale aufweist als das zum Zeitpunkt des tatsächlichen Erlebens der Fall war. Solche Befunde lassen vermuten, dass geschlechtsbezogene stereotype Überzeugungen als ein fester Bestandteil unseres Selbstkonzeptes sich auf selbstbeschreibenden dispositionellen und retrospektiven Maßen viel eher auswirken als auf Online-Maße. Ein gewichtiges Problem des Forschungsfeldes besteht daher darin, dass das Gros der Befunde auf Selbstberichtmaßen fußt (LaFrance & Banaji, 1992; Shields, 2001). Wie sich im Einzelnen unser Stereotypenwissen in der Beschreibung unseres emotionalen Erlebens und Verhaltens auswirkt, verdeutlichen Robinson und Clore (2002). Sie argumentieren, dass je mehr Zeit zwischen dem Auftreten einer Emotion und dem Abruf dieser Emotion vergeht, je schwächer die Detailerinnerung ausfällt und je mehr die konkrete Emotionsinformation fehlt, auf deren Basis ein Urteil gefällt werden kann, desto eher werden diese entstandenen Gedächtnis- und Informationslücken im anschließenden Selbstbericht mit dem erstbesten verfügbaren Wissen, in diesem Fall stereotypgeladenem Wissen, gefüllt. Werde ich als Frau nach einem zeitlich weit zurückliegenden Erleben einer Emotion global gefragt, so dass ich meine Antwort nicht mehr auf konkretem unmittelbarem Erleben basieren kann, rekonstruiere ich gedanklich frei nach dem Motto: Frauen sind von Natur aus ängstlich und liebevoll, ich bin eine Frau, also bin ich eher ängstlich und liebevoll in der Situation gewesen. Dieser Punkt kann eindrucksvoll anhand einer Studie von Robinson und Kollegen (1998) illustriert werden. Die Autoren begegneten mit ihrer eleganten Experimentalanordnung auch der oft geäußerten Kritik an den Übersichtsarbeiten von LaFrance und Banaji (1992) und Shields (2001), dass sie ihre Schlussfolgerungen zum Einfluss des Stereotypenwissens aus dem Vergleich diverser Studien, die unterschiedliche Datenerhebungsformate und verschiedene Stichproben haben, ziehen. Die entscheidende Frage, um die es ging, lautete also: Wie kann überprüft werden, ob in Abhängigkeit von der Versuchsanordnung das tatsächliche, konkret stattfindende emotionale Erleben und Verhalten erfasst wird oder aber unser Wissen zu geschlechterstereotypen emotionalen Verhalten? Die Vermutung ist, dass es im ersten Fall unwahrscheinlicher ist, Geschlechterunterschiede im emotionalem Erleben und Ausdruck zu finden. Speziell wurde also überprüft, wie sich die Zugänglichkeit und Verfügbarkeit von konkreter, spezifischer Emotionsinformation auf die Anwendung von Stereotypen auswirken, wenn es um die Beurteilung der eigenen und die der anderen Personen geht. In einem Wettbewerbsspiel traten zwei Paare gegeneinander an. Jedes Paar hatte einen Akteur, der sein eigenes emotionales Erleben einschätzte und einen Beobachter, der ebenfalls das emotionale Erleben des Akteurs einschätzte. Die Einschätzungsskala enthielt typische feminine Emotionen: negative, selbstbezogene Emotionen (z.B. Scham und Schuld) und positive, auf andere Personen bezogene Emotionen (z.B. Sympathie und Dankbarkeit). Auch typische maskuline Emotionen wie negative, auf andere bezogene Emotionen (z.B. Ärger und Feindseligkeit) und positive Emotionen mit Selbstbezug (z.B. Stolz und Selbstzufriedenheit) wurden eingeschätzt. In der Online Bedingung sollten die Akteure und Beobachter
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ihre Einschätzung unmittelbar im Anschluss an das stattgefundene Spiel abgeben. Die Versuchsteilnehmer in der Retrospektiven Bedingung urteilten eine Woche nach dem Spiel. In der Hypothetischen Bedingung erhielten die Teilnehmer lediglich eine Beschreibung des Spielverlaufs und sollten ihre vorgestellten Reaktionen beurteilen. Die Urteile des eigenen Erlebens von Frauen und Männern haben sich in der Online Bedingung, wie erwartet, nicht voneinander unterschieden, während in den anderen beiden Bedingungen Frauen mehr vom Erleben femininer und Männer mehr vom Erleben maskuliner Emotionen berichteten. Die zeitliche Verzögerung des Urteils und das Urteil einer nicht real erlebten Situation förderten in den beiden restlichen Bedingungen das Einsetzten vom Stereotypenwissen. Die Beobachter in der Online und Retrospektiven Bedingung hatten direkten Zugang zum konkreten emotionalen Ausdruck der Akteure. Sie haben im Ausdrucksverhalten von weiblichen und männlichen Spielern keine Unterschiede berichtet. Entsprechend konnte sich nur in der Hypothetischen Bedingung stereotypes Wissen bei der Beurteilung des emotionalen Erlebens der Akteure durchsetzen, da hier die „Beobachter“ nicht auf Grundlage ihrer Beobachtungen tatsächlicher Emotionsausdrücke, sondern vorgestellter Reaktionen urteilten. Befinden wir uns also in der Situation ohne konkreten und unmittelbar gegebenen erfahrungsbasierten Anhaltspunkt, Urteile über eigenes und das emotionale Erleben und Verhalten anderer fällen zu müssen, versuchen wir die fehlende Information zu kompensieren, indem wir zur nächsten heuristischen Hilfestellung – den situationsrelevanten Stereotypen – greifen. Robinson und Clore (2002) sehen einen weiteren Erklärungsansatz für den Befund, dass Frauen emotionaler zu sein scheinen als Männer, wenn globale und retrospektive Emotionsmaße eingesetzt werden. Global und retrospektiv berichtete Emotionen, so die Autoren, spiegeln teilweise eher die Erinnerungen an die Kontextdetails der Ereignisse wieder. Frauen enkodieren aber autobiographisch relevante emotionale Ereignisse detaillierter (Seidlitz & Diener, 1998). Das führt dazu, dass sie im Nachhinein von intensiveren Gefühlen auf globalen Skalen als Männer berichten, auch wenn das zum Zeitpunkt des emotionalen Erlebens nicht der Fall war. Der Befund, dass Frauen schneller und mehr Kindheitserinnerungen von emotionalen Ereignissen abrufen und erinnern können als Männer, steht mit der geschilderten Argumentation im Einklang (Davis, 1999). Die vorangestellten Ausführungen erlauben folgendes Fazit: Studien, die Unterschiede in der Emotionalität der Geschlechter feststellen, sind immer dann kritisch zu sehen, wenn durch ihre methodische Ausrichtung die Ergebnisse anfällig für eine Verfälschung durch Stereotype sein könnten. Das ist mit höherer Wahrscheinlichkeit dann der Fall, wenn retrospektive und nicht aktuelle Emotionseinschätzung gegeben ist, wenn nach globalem Affekt und nicht nach spezifischen einzelnen Emotionen gefragt wird und wenn Emotion in hypothetischen und nicht real stattfindenden Situationen eingeschätzt wird.
Abschließende Notizen Die bisherige Übersicht soll nicht zur Schlussfolgerung führen, dass es keine Unterschiede im emotionalen Erleben und Verhalten zwischen Frauen und Männern gibt. Vielmehr ging es darum aufzuzeigen, dass die berichteten Unterschiede nicht selten ein methodisches
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Artefakt sind und dass in Fällen, in denen keine oder nur geringfügige Unterschiede tatsächlich existieren, stereotypes Wissen diese Unterschiede produziert und verstärkt. Der Überblick legte dar, wie zum einen die Stereotype die Realität teilweise widerspiegeln, aber auch wie sie sie schaffen. Durch Stereotype zum emotionalen Verhalten der Geschlechter werden Erwartungen geweckt, welche das emotionale Erleben und Ausdruck von Männern und Frauen im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung beeinflussen. Auch aus diesem Grund sind sozio-kultureller Hintergrund und die Sozialisation mit ihren vorgeschriebenen Geschlechterrollen Faktoren, die auf diesem Forschungsgebiet verstärkt zu berücksichtigen sind. Ihr Wandel wirkt sich erheblich auf emotionales Erleben und Ausdruck bei den Geschlechtern aus. So ist in der westlichen Kultur eine Abschwächung der präskriptiven Normen, was und wie Geschlechter fühlen sollen, zu beobachten. Der Emotionsausdruck von Männern erfährt eine zunehmend größere Akzeptanz. Wenn Männer ihre Gefühle zeigen, wird dies als ein Zeichen der sozialen Kompetenz (und nicht Schwäche) beim Versuch den Anforderungen der sozialen und der Arbeitsumwelt gerecht zu werden, gewertet (Timmers et al., 2003). Abschließend lässt sich sagen: Sucht man Unterschiede, findet man Unterschiede. Liegt der Schwerpunkt auf dem Auffinden und der Erklärung von Unterschieden, werden die Gemeinsamkeiten ausgeblendet. Und diese überwiegen nach wie vor!
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3. Emotionspsychologie
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4. Motivationspsychologie Für Birgitt
Gendering motivation: Geschlechterdifferenz im Wechselspiel von Nature und Nurture Marlies Pinnow Wenn einer ein Schicksal hat, dann ist es ein Mann. Wenn einer ein Schicksal bekommt, dann ist es eine Frau. Elfriede Jelinek, Die Liebhaberinnen
Einführung Das Thema Psychologie und Gender führt in der Motivationspsychologie unmittelbar zur Frage nach Geschlechtsunterschieden, da die psychologische Forschung der menschlichen Motivation sich grundsätzlich nähert, indem sie Dispositionen bzw. Motive erforscht, die bei verschiedenen Menschen unterschiedlich ausgeprägt sind. Darüber hinaus werden Situationsfaktoren untersucht, die neben der interindividuellen Variabilität, intraindividuelle Variabilität bedingen. Die Logik dieses Vorgehens ist einfach: Ein Motiv, das bei allen Menschen gleichermaßen vorhanden ist, ist uninteressant, weil es keine Differenzierung ermöglicht. Diese Haltung wird in der Motivationspsychologie sofort deutlich, wenn Sie Studien suchen, die die Thematik Durst, ein sogenanntes biogenes Motiv, betreffen. Die Information, dass Sie zum Leben Flüssigkeit benötigen, bringt Ihnen keinen bzw. geringen Erkenntnisgewinn, da alle anderen Menschen auch dieses Bedürfnis haben. Im Gegensatz dazu bringt es Ihnen deutlich mehr, zu erfahren, dass Sie ein besonders leistungsmotivierter Mensch sind, weil Menschen sich in Bezug auf das Leistungsmotiv stark unterscheiden. Ihre individuelle Ausprägung des Leistungsmotivs wirkt sich auf Ihr Verhalten in Leistungssituationen und auf Ihre Ursachenzuschreibung von Erfolg und Misserfolg aus. Das Ziel von Motivationstheorien besteht also darin, die grundlegenden motivationalen Mechanismen zu beschreiben, in denen sich Menschen voneinander unterscheiden. Was das Verhältnis der Motivationspsychologie zur Thematik der Geschlechtsunterschiede betrifft, so kann nach meiner Auffassung konstatiert werden, dass die Motivationspsychologie, im Großen und Ganzen gesehen, der Geschlechterfrage explizit bisher kein großes Interesse entgegengebracht hat. Es gibt wahrscheinlich, abgesehen von der Variable Alter, keine häufiger verwendete demografische Variable als das biologische Geschlecht in der experimentellen Forschung der Motivationspsychologie. Nichtsdestotrotz gestaltet sich die gezielte Suche nach Studien, die sich dem Thema Geschlechtsunterschiede der Motivation widmen, anders als im Bereich der Kognition, eher mühselig. Jenseits dieser eher mageren Datenlage in der Beschreibung bestehender Differenzen drängt sich dabei aber immer unmittelbar die Frage nach der Ursache dieser Unterschiede auf, genauer gesagt, in welchen Maße diese durch biologisches oder kulturelles Erbe be-
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stimmt sind. An dieser Kontroverse beteiligt sich die Motivationspsychologie ebenfalls nur geringfügig, da die Person-Umwelt-Interaktion integraler Bestandteil allgemeiner Modelle der Motivation ist. Aus dieser Perspektive ist Motivation also sowohl biologischer, persönlicher, sozialer und gleichzeitig kultureller Natur und umfasst damit alle Vorgänge und Strukturen des psychischen Apparates, die an der Zielgenerierung und Zielausrichtung des Erlebens und Verhaltens beteiligt sind. Darüber hinaus ist eine generelle Annahme hierbei, dass Motivation und persönliche Ziele sich während der Sozialisation ontogenetisch langfristig entwickeln (2004). An dieser Entwicklung sind verschiedene Prozesse beteiligt, u.a. vermitteln Lernprozesse, durch welche Objekte Bedürfnisse befriedigt werden können (Schultz, 2007). Daneben sind Erziehung und Bildung von großer Bedeutung sowie Übertragungen und soziale Vergleiche mit Peers (Nurmi, 2004). Im folgenden Kapitel möchte ich mithilfe der in der Motivationspsychologie mittlerweile etablierten Differenzierung zwischen einem emotionsgeleiteten „impliziten“ Motivsystem (nicht bewusst) und einem kognitionsgeleiteten „explizitem“ Motivsystem (selbstattribuiert) einen Beitrag zur Entwicklung geschlechtstypischer Motivationsunterschiede und deren Determinanten leisten, um der Debatte biogen versus soziogen zumindest aus dieser Perspektive etwas den Boden zu entziehen (Bischof, 2008, siehe Kapitel 7 in diesem Band). Tabelle 1:
Merkmale impliziter und expliziter Motive (zusammengestellt aus Weinberger & McClelland, 1990, und Brunnstein & Meier, 2005 nach Langens & Schmalt, 2008)
Implizite Motive
Explizite Motive
Messung durch indirekte Verfahren (Thematischer Auffassungstest (TAT); Multi-Motiv-Gitter (MMG))
Messung durch direkte Verfahren (Fragebogen)
regulieren Verhalten durch die Antizipation von Affektwechseln
regulieren Verhalten durch das Streben nach Selbstkonsistenz und positivem Selbstwertgefühl
unbewusst
bewusst zugänglich
energetisieren Verhalten, richten die Aufmerksamkeit aus, fördern Lernprozesse
bedingen Wahlen zwischen kognitiv zu bewertenden Handlungsalternativen
sprechen vorwiegend auf Tätigkeitsanreize an
sprechen vorwiegend auf Ergebnisanreize an
äußern sich als Wünsche
äußern sich in gesetzten Zielen und als Pflichten
Frustration kann explizite Bedürfnisse hervorrufen
können implizite Motive kanalisieren
entwickeln sich vorsprachlich in der frühen Kindheit
entwickeln sich mit der Bildung des Selbstkonzepts im sozialen Kontext
4. Motivationspsychologie
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Die Suche nach den Unterschieden im Spannungsfeld von impliziten und expliziten Motiven Motive sind thematisch abgrenzbare Bewertungsdispositionen (Schneider & Schmalt, 2000). Sie sind selbst nicht im bewussten Erleben gegeben und sind daher nur in ihren indirekten Auswirkungen im Erleben und Verhalten messbar. Sie gelten als implizit, da sie introspektiv durch Selbstberichte nicht zugänglich sind. Ihr impliziter Status legt es nahe, sie als gemeinsame Basis der motivationalen Grundausstattung aller höher organisierten Primaten zu betrachten und damit auch eine vergleichende Perspektive menschlicher und nichtmenschlicher Primaten zu ermöglichen. Von der Annahme einer gemeinsamen motivationalen Basis, zumindest im Bereich der Primaten ausgehend, leitet sich ab, diese Motive als die wahren oder echten in manchen Kontexten auch als biogene Motive zu bezeichnen. Neben diesen impliziten Motiven gibt es spezifisch im Humanbereich motivationale Konstrukte, die grundsätzlich an Bewusstheit und Sprache gebunden sind und als motivationale SelbstKonzepte oder Selbst-Schemata bezeichnet werden. Solche bewussten Selbst-Konzepte sind funktional den Motiven vergleichbar, da sie auch Ziele generieren und verhaltensdirektiv wirken können (z.B. Baumeister, 1999; Epstein, 1983; Higgins, 1996; Markus & Kitayama, 1991). Vor allem McClelland und Mitarbeiter (McClelland, Koestner, & Weinberger, 1989; Weinberger & McClelland, 1990) haben diese Unterschiede im Konstruktstatus von Motiven aufgegriffen und in ein zusammenfassendes Modell integriert. Sie unterscheiden implizite und explizite Motive, die parallel arbeiten, aber unabhängig voneinander sein sollen (Spangler, 1992). Implizite Motive basieren auf genetischer Information und frühen vorsprachlichen Sozialisationserfahrungen, sie sind dem bewussten Erleben nicht zugänglich; explizite oder selbst zugeschriebene Motive basieren auf lebensgeschichtlich späteren sozialen Lernerfahrungen nach der Zeit des Spracherwerbs und sind im Bewusstsein repräsentiert. Das implizite Motivsystem ist eher um Motive als Affektdispositionen, d.h. kurzfristig und hedonistisch organisiert; das explizite System ist dagegen eher um kognitive, das Selbst betreffende Schemata organisiert und an das semantische Repräsentationssystem der Sprache gebunden. Die Informationsverarbeitung im ersten System erfolgt eher automatisch, im zweiten System dagegen eher kontrolliert und bewusst. Implizite Motive werden mit projektiven Verfahren, wie etwa dem Thematischen Auffassungs-Test (TAT) oder der GitterTechnik (Schmalt, 1999; Sokolowski, Schmalt, Langens, & Puca, 2000) gemessen und interagieren mit natürlichen Anreizen im Sinne der angeborenen Auslösemechanismen. Explizite Motive können in Selbstberichten (z.B. Fragebögen) erfasst werden und interagieren mit sozialen Anreizen, die lern- und kulturabhängig sind (siehe Tabelle 2.1; Sokolowski & Schmalt, 2006). Wenden wir uns nun auf der Grundlage dieser allgemeinen Differenzierung impliziter und expliziter Motive aus einer gendersensitiven Perspektive exemplarisch den thematisch abgrenzbaren Bewertungsdispositionen Anschluss, Leistung und Macht zu.
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Die erfolgreichen Drei: Anschluss, Leistung und Macht Anschluss- und Intimitätsmotivation Beziehungen zu knüpfen und aufrechtzuerhalten spielte in der Phylogenese des Menschen und anderer Säuger eine bedeutsame Rolle und hat in erheblichen Maß zu deren Fitness beigetragen (Silk, 2007). So zeichnet sich der Mensch im sozialen Miteinander sowohl durch individualisierte Bindungen an Partner, Nachkommen und Verwandte als auch durch ein sehr komplexes Zusammenleben in Gruppen aus. Beziehungen werden aus vielfachen Gründen, die auch außerhalb der Anschlussmotivation liegen eingegangen (z.B. Macht, Aggression). Die folgende Definition soll daher helfen, anschlussthematische Bezüge näher einzugrenzen: Mit Anschluss (Kontakt, Geselligkeit) ist eine Inhaltsklasse von sozialen Interaktionen gemeint, deren Ziel es ist, mit bisher fremden oder wenig bekannten Menschen Kontakt aufzunehmen und in einer Weise zu unterhalten, die beide Seiten als befriedigend, anregend und bereichernd erleben und die von Emotionen wie Sicherheit, Freude, Sympathie und Vertrauen begleitet werden. Die Anregung des Motivs findet in Situationen statt, in denen mit fremden oder wenig bekannten Personen Kontakt aufgenommen und interagiert werden kann (Sokolowski & Heckhausen, 2006). Abbildung 1:
Eine für die Motivdiagnostik verwendete TAT-Tafel
Quelle: (aus Smith, 1992, S. 635): Smith, C.P. (1992). /Motivation and Personality. Handbook of Thematic Content Analysis./ Cambridge: Cambridge University Press
In diesem Zusammenhang nimmt Baron-Cohen (2003) dispositionelle Unterschiede zwischen Frauen und Männern an und bezieht sich dabei auf entwicklungspsychologische Studien mit Neugeborenen, bei denen sich schon in dieser frühen Entwicklungsphase geschlechtsspezifische Unterschiede zeigen. So lässt sich bei weiblichen Neugeborenen mithil-
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fe einer Präferenzmethode die Bevorzugung einer aktiven, expressiven Person im Vergleich zu einem unbelebten Objekt beobachten, während männlichen Neugeborenen unbelebte Objekte präferieren. Aus diesen und ähnlichen Befunden leitete Baron-Cohen (2003) unterschiedliche Lerndispositionen der Geschlechter ab. Frauen sollen demnach vorrangig soziale Informationen verarbeiten, während Männer der unbelebten Natur und deren mechanistischen Interaktionen verstärkt Aufmerksamkeit schenken. Bisher konnten diese Befunde weder repliziert noch durch ältere Studien gestützt (Maccoby & Jacklin, 1974), so dass diese generelle Dichotomie aus dieser Sicht sehr fragwürdig erscheint. Abbildung 2:
Zwei Bilder aus dem MMG (nach Schmalt, Sokolowski & Langens, 1999)
Nähert man sich nun dieser Frage aus der motivationspsychologischen Perspektive, so sollten Studien, die implizite Motivmessungen verwenden, Hinweise auf frühe Unterschiede im Entwicklungsverlauf zwischen Männern und Frauen liefern können, explizite Anschlussmotivation dagegen selbstkonzeptgebundene späte Entwicklungen abbilden. Wie schon zuvor erwähnt, setzt man zur Messung des impliziten Anschlussmotivs indirekte Verfahren (TAT, MMG) ein. Entsprechende Bildvorlagen sind in Abbildung 1 und 2 dargestellt. Bei Einsatz des TAT werden die Probanden aufgefordert, dazu spontan Fantasiegeschichten als Reaktion auf mehrdeutige Bildvorlagen zu verfassen. Bei Einsatz des MMG sind die Personen instruiert, sich bestimmte Items in diesen mehrdeutigen Situationen zuzuschreiben bzw. auszuschließen. Schultheiss & Brunstein (2001) erhoben bei 428 Versuchspersonen, von denen 188 weiblich waren, sowohl mit dem TAT als auch mit dem deutschen Personality Research Form (PRF) als explizitem Verfahren, Motivprofile getrennt für Frauen und Männer. Dabei hatten Frauen ein signifikant höheres implizites Anschlussmotiv, während sich beim expliziten keine Geschlechtsunterschiede zeigten. Interessanterweise wiesen Frauen eine negative Korrelation des Anschlussmotivs mit dem Machtmotiv auf, während diese beiden Komponenten bei Männern unkorreliert waren. Hinsichtlich des impliziten Motivs stehen die Ergebnisse im Einklang mit anderen Studien aus amerikanischen Populationen (vgl. McAdams, Lester, Brand, McNamara, & Lensky, 1988; Pang & Schultheiss, 2005; Stewart & Chester, 1982). Was die expliziten Maße betrifft, sind die Befunde bisher noch sehr uneinheitlich: Während sich bei Schultheiss & Brunstein (2001) keine Unterschiede zeigten, beschreiben sich in anderen Studien Frauen explizit als anschlussmotivierter als Männer
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(Feingold, 1994). Zusammenfassend lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass die Messung des impliziten Anschlussmotivs konsistent ein höheres Anschlussmotiv bei Frauen im Vergleich zu Männern belegt, während explizite Messungen ein heterogenes Befundmuster liefern. Da die Entwicklung expliziter Motive direkt mit der geschlechtsspezifischen Entwicklung des Selbstkonzepts verbunden ist, weisen Studien aus diesem Bereich eine interessante Parallele zur geschlechtsspezifischen Motiventwicklung auf. Generell kommen Cross & Madson (1997) auf der Grundlage mehrerer Studien zu dem Schluss, dass Männer eher eine independente Selbstkonstruktion ausbilden, da in westlichen Kulturen von ihnen erwartet wird, dass sie unabhängig und autonom sind. Frauen hingegen entwickeln eine eher interdependente Selbstkonstruktion, da von ihnen eine stärkere Verbundenheit zu anderen erwartet wird. Auch hier können Geschlechtsunterschiede ebenfalls nicht durchgängig bestätigt werden (z.B. Gabriel & Gardner, 1999; Li, 2002). Vielmehr zeigt die jüngere Forschung ein sehr viel differenziertes Bild. Frauen fokussieren stärker auf intime und kooperative Beziehungen zu wenigen anderen Personen und verhalten sich so, dass diese Beziehungen aufrechterhalten werden. Dagegen ist für Männer eher Macht und Status wichtig und Beziehungen zu einer größeren Zahl von Personen. Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern scheinen also weniger darin zu bestehen, dass Männer keine Beziehungen zu anderen Personen eingehen, sondern vielmehr welche Zielsetzung damit verbunden ist (vgl. Gabriel & Gardner, 1999). Eine zentrale Funktion impliziter Motive besteht nun darin, den Organismus hinsichtlich motivrelevanter Stimuli zu sensibilisieren und entsprechend die Aufmerksamkeit automatisch auf solche Reize auszurichten. Daher stellt sich nun die Frage, ob sich entsprechend der gefundenen Motivunterschiede bei Männern und Frauen auch Differenzen in Bezug auf die Verarbeitung sozial relevanter Stimuli zeigen. Dazu liefert eine interessante fMRI Studie erste neurowissenschaftliche Hinweise, die die Gehirnaktivität bei Wahrnehmung emotionaler Vokalisationen von Säuglingen bei Frauen und Männern in Abhängigkeit von ihrem Elternstatus untersuchte (Seifritz et al., 2003). Zu diesem Zweck wurden den Probanden Säuglingslachen und -weinen während der Messung im Scanner präsentiert. Unabhängig vom Elternstatus und der emotionalen Valenz zeigte sich nur bei Frauen eine Deaktivierung des anterioren Cingulums (ACC), einer Region an der Innenseite des Stirnhirns, die immer dann in Erscheinung tritt, wenn das Gehirn Konflikte lösen muss. Die Aktivierung limbischer Areale wurde dagegen geschlechtsunabhängig durch den Elternstatus moduliert. Sowohl Frauen als auch Männer mit Elternstatus, zeigten eine stärkere Aktivierung beim Weinen, während diese Aktivierung bei kinderlosen Personen bei positiven Emotionen auftrat. Eine Studie von Sander (2007) zeigte ebenfalls unterschiedliche Aktivierungen der Amygdala und des ACC auf kindliche emotionale Laute für Männer und Frauen. Exemplarisch wurde hier auf die Verarbeitung kindlicher Vokalisation fokussiert. Grundsätzlich lässt sich eine Beteiligung des ACC an der geschlechtsspezifischer Prozessierung anderer sozialer Stimuli, wie Gesichter und sozialen Szenarien ebenfalls nachweisen (Proverbio, Zani, & Adorni, 2008). Neben der Erforschung der strukturellen Korrelate des Anschlussmotivs gewinnt zunehmend die Erforschung der endokrinen Grundlagen an Bedeutung. So erfährt aktuell das Hormon Oxytozin als „Hormon der Mutterliebe“ besondere Beachtung. Neben der Wirkung beim Aufbau einer Bindung zwischen Mutter und Neugeborenem scheint Oxytozin pha-
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sisch auch die Bindung in langfristigen Partnerschaften zu verstärken (Lim & Young, 2006) und tonisch erhöhte Oxytozinspiegel motivieren zum Kontakt mit anderen Menschen (Taylor, 2006; Turner, Altemus, Enos, Cooper, & McGuinness, 1999). Oxytocin wirkt stressund angstreduzierend. Die bisherigen Studien weisen Wirkungen von Oxytocin sowohl für Männer als auch für Frauen in verschiedenen bindungsrelevanten Kontexten nach. Ob Oxytocin eher einen sehr allgemeinen Mechanismus im Sinne eines geschlechtsunspezifischen „sozialen Thermostats“ nach Taylor & Gonzanga (2007) darstellt oder zur Erklärung geschlechtsdifferentieller Aspekte beitragen wird, sollte Ziel zukünftige Forschung sein. Methodisch findet dieser Aspekt bisher zu wenig Berücksichtigung, da Studien aus vielfachen Gründen meistens geschlechtshomotyp durchgeführt wurden. Zusammenfassend kann man schlussfolgern, dass Präferenzen für sozial relevante Stimuli sowohl geschlechts- als auch erfahrungsabhängig variieren. Dabei bleibt allerdings ungeklärt, ob die Geschlechtszugehörigkeit per se diese Präferenzen bedingt oder ob sie über die generell höhere Anschlussmotivation der Frauen vermittelt wird. Um diese Frage zu beantworten müssten in zukünftigen Studien beide Faktoren unabhängig Berücksichtigung finden. Leistung Jungen sind besser in Mathe, Mädchen besser beim Lesen und diese Leistungsunterschiede zwischen Jungen und Mädchen nehmen im Laufe der Schullaufbahn zu. So kurz zusammengefasst ein Ergebnis einer aktuelle OECD-Studie „Equally prepared for life? How 15 year-old boys and girls perform in school“ (OECD, 2009). Einmal mehr stützt ein aktueller Befund die These, dass Jungen dispositionell aufgrund verschiedener Faktoren talentierter und erfolgreicher in Mathematik und Naturwissenschaften sind als Mädchen (Browne, 2002; Geary, 1998; Kimura, 1999; Nowell & Hedges, 1998). Leistungsgüte ist zwar in erster Linie von den individuellen Fähigkeiten abhängig, jedoch trägt die Motivationsstärke nicht unwesentlich zur Gesamtleistung bei. Entsprechend formulierte Atkinson Leistungsgüte als Produkt von Fähigkeit und Effizienz, die wiederum als gemeinsame Funktion von Motivationsstärke und Aufgabenanforderung definiert war (Atkinson, 1974). Ein kognitiver Fähigkeitstest dürfte demzufolge nur dann „wahre“ Fähigkeitsunterschiede offenbaren, wenn alle Probanden die Testaufgabe mit der optimalen Motivation bearbeiten. Da Test- und Prüfungssituationen multithematische Anreize enthalten, von denen leistungsanregende, aber auch leistungshemmende Wirkungen (z.B. Stress, Angst) ausgehen, dürfte diese Annahme selten realistisch sein. Jenseits der biologisch-kognitiven Perspektive, die an anderer Stelle ausführlich diskutiert wird (Hausmann & Hirnstein, in diesem Band), stellt jede Art der Erfassung individueller Kompetenzen einen Leistungstest im motivationspsychologischen Sinne dar und wirft damit unmittelbar die Frage nach Geschlechtsunterschieden in der Leistungsmotivation und deren Auswirkungen auf kognitive Leistungen auf. Leistungsmotiviert i.e.S. ist ein Verhalten nur dann, wenn es „auf die Selbstbewertung eigener Tüchtigkeit zielt, und zwar in Auseinandersetzung mit einem Gütemaßstab, den es zu erreichen oder zu übertreffen gilt“ (Rheinberg, 2004). Menschen und andere höhere Lebewesen zeichnen sich durch eine lang anhaltende, durch Reifung und Lernen getriebene Entwicklung physischer und psychischer Funktionen
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aus. In diesem Zusammenhang sind Erfahrung und Übung eigener Verhaltensmöglichkeiten grundlegende Voraussetzung, um diese Funktionen zur vollen Ausprägung zu bringen. Lorenz (1969) hat hierfür den Begriff Selbstexploration geprägt und verschiedene Theoretiker nahmen als motivationale Basis des Spiels von Jungtieren und Kindern das Streben nach Kompetenzsteigerung an. Diese Kompetenzentwicklung sollte dann am besten gelingen, wenn die Aufgaben weder zu leicht (gelingen immer) noch zu schwer (gelingen nie) sind. Abbildung 3:
Geschlechtsdifferenzen in Mathematik und Lesen
Test score differences between girls and boys
70 60 Gender gap, math Gender gap, reading
50 40 30 20 10 0 -10 -20 TUR
KOR
ITA
USA
PRT
FRA
POL
NOR
SWE
ISL
In more gender-equal cultures, the math gender gap disappears and the reading gender gap becomes larger. (Top) Gender gaps in mathematics (light-gray) and reading (dark-gray) are calculated as the difference between the average girls’ score and the average boys’ score. A subset of countries is shown here (see SOM for complete data set and calculations) Quelle: Guiso, L., Monte, F., Sapienza, P.,& Zingales, L.(2008). Diversity. Culture, gender, and math./Science, 320,/ 1164-1165.
Welche Maßstäbe bei der Bewertung von Ge- bzw. Misslingen herangezogen werden, ist alters- und geschlechtsabhängig. Ein individuell-autonomer Maßstab liegt vor, wenn die Bewertung von Erfolg bzw. Misserfolg in der Sache selbst begründet ist (Thorndike & Gates, 1930). Im menschlichen Leistungshandeln tritt darüber hinaus durch die Erfahrungen und den Vergleich mit Gleichaltrigen und Spielkameraden ein sozialer Gütemaßstab hinzu, der sich auf verschiedene Aspekte des Selbst beziehen kann (Alter, Geschlecht etc.). Ob eine Leistung zu einem Erfolgs- bzw. einen Misserfolgserlebnis führt, hängt also mit dem eigenen Anspruchsniveau zusammen und nicht mit der objektiven Schwierigkeit beim Lösen von Aufgaben (Hoppe, 1930). Dieses individuelle Anspruchsniveau wird nach Festinger (1942) oft durch sozial relevante Gruppen geformt. Je konkreter diese sozial relevante Gruppe in Erscheinung tritt, desto stärker wird das individuelle Anspruchsniveau von der Gruppennorm beeinflusst. Sucht man nach Unterschieden im Leistungsmotiv bei Frauen und Männern so finden Studien hinsichtlich des impliziten Leistungsmotivs -gemessen mithilfe des TAT keine
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Geschlechtsunterschiede (Schultheiss & Brunstein, 2001). Sowohl für Männer als auch für Frauen korreliert das Leistungsmotiv positiv mit dem Machtmotiv und weist für beide Geschlechter eine nahezu Null-Korrelation mit dem expliziten Leitungsmotivmaßen auf. Die Annahme von Vertretern der Sozialisationshypothese, dass Frauen geringer hinsichtlich Hoffnung auf Erfolg (HE) sozialisiert werden als Männer, findet bei Anwendung expliziter Messverfahren einige empirische Unterstützung (Fried-Buchalter, 1997; Macdonald & Hyde, 1980). Darüber hinaus fanden Severiens and ten Dam (1998) im Rahmen einer Meta-Analyse von Untersuchungen zur Studienwahl bei Studierenden heraus, dass weibliche Studierende generell höhere Werte in Furcht vor Misserfolg (FM) haben als ihre männlichen Kommilitonen. Das explizite Leistungsmotiv als eine relativ stabile Persönlichkeitseigenschaft, die angibt, wie wichtig es einer Person ist, sich mit Gütemaßstäben auseinander zu setzen, positive Selbstbewertung zu erlangen, ihre Tüchtigkeit unter Beweis zu stellen (HE) bzw. negative leistungsbezogene Selbstbewertung zu vermeiden (FM), zeigt damit eine geschlechtsspezifische Komposition antizipierter Affekte in Leistungssituationen. Darüber hinaus belegen Studien, dass Jungen sich selbstgefälliger und in der Selbstbewertung autonomer verhalten als Mädchen (Wigfield, Eccles, & Pintrich, 1996). Die stärkere Interdependenz in der Selbstkonstruktion und Selbstbewertung von Frauen könnte zu einer stärkeren Vulnerabilität für soziale Einflüsse und Geschlechtsstereotypen in Leistungskontexten führen und entsprechend die Leistung modulieren (Halpern, Wai, & Saw, 2005). So zeigt eine aktuelle Analyse der Pisa-Daten, dass in Ländern in denen eine Kultur der Geschlechtergleichstellung herrscht, die Unterschiede in mathematischen Fähigkeiten zwischen Mädchen und Jungen nahezu verschwinden, während die Überlegenheit der Mädchen in der Lesekompetenz erhalten bleibt (Guiso, Monte, Sapienza, & Zingales, 2008). Macht In seinem Buch „Die männliche Herrschaft“ stellt der französische Soziologe Pierre Bourdieu (2005) die Frage, warum Formen männlicher Herrschaft bis in die heutige Zeit bestehen konnten, und warum in verschiedenen Kulturen vergleichbare Herrschaftsformen zu finden sind. Dabei widmet er seine Analyse gezielt den Praktiken, mit denen erreicht wird, dass die weiblichen „Beherrschten“ diese Herrschaft annehmen, verinnerlichen und sogar unterstützen. Die Verinnerlichung gesellschaftlicher Herrschaftsstrukturen führt seiner Meinung nach zu einer immer wiederkehrenden Verfestigung der Geschlechterrollen. In diesem Prozess misst er allen Bildungseinrichtungen als Sozialisationsinstanzen besondere Bedeutung zu, indem sie bei vorhandenen sozialen Ungleichstrukturen die entsprechenden, stabilisierenden Denk- und Handlungsmuster vermitteln und verfestigen. Wie sehen nun die Verhaltensweisen aus, die an einer Herausbildung einer Dominanzhierarchie beteiligt sind, und wie sind sie motiviert? Bezogen auf die männliche Dominanz stellt sich die Frage, was diese monopolare Komplementarität von Dominanz und Submission im gesellschaftlichen Miteinander von Männern und Frauen bedingt. Ausgangspunkt meiner Betrachtung werden wie bisher die impliziten und expliziten Motivdispositionen von Frauen und Männern sein, von denen ich annehme, dass sie analog zu Jahresringen, Informationen zur Epigenese von Motivunterschieden liefern. Auch hier leisten abermals die Studien der Arbeitsgruppe von Schultheiss (Pang & Schultheiss, 2005; Schultheiss &
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Brunstein, 2001) einen wesentlichen Beitrag. So wiesen Frauen und Männer sowohl bei einer deutschen als auch U.S. amerikanischen Population keinerlei Unterschiede in der Ausprägung des impliziten, projektiv erhobenen Machtmotivs auf. Im Kulturvergleich der amerikanischen und deutschen Stichprobe fiel allerdings auf, dass die Machtmotivation bei deutschen Studierenden insgesamt stärker ausgeprägt war als bei amerikanischen. Darüber hinaus fand sich spezifisch bei Frauen eine negative Korrelation der Macht- und Anschlussmotivation, während beide Dispositionen bei Männern nicht korrelierten. Bei expliziten Maßen zeigen Frauen dagegen generell geringere Ausprägungen in Dominanz und Durchsetzungsfähigkeit (Feingold, 1994). Folgt man Bischof (2008) so haben sich evolutionär zwei Strategien zur Bildung von Hierarchien im sozialen Miteinander entwickelt, zum einen Ausüben von Macht im Sinne von Stärke und zum anderen Einwerbung von Geltung im Sinne von Leistung. Die Geltungshierarchie bildet nach Bischof-Köhler (2006) die Basis der Demokratie. Auf die Frage, warum sich Formen männlicher Herrschaft trotz gleicher Ausprägung des Machtmotivs bei beiden Geschlechtern durchsetzen, gibt Bischof-Köhler (2006, S. 288) folgende Antwort: Während Männer beide Spielarten des Rangverhaltens einsetzen können, überwiegen im weiblichen Gruppenverhalten die Muster der Geltungshierarchie, weil die Dispositionen für die Ausbildung einer Dominanzhierarchie fehlen oder zu schwach ausgeprägt sind. Aus einem Übersichtsreferat von Eagly und Johnson (1990) mit dem Thema „Geschlecht und Führungsstil“ geht hervor, dass Männer hierarchische Strukturen mit Statusunterschieden ausgesprochen schätzen, währen Frauen egalitäre Strukturen vorziehen.
Bei gleicher impliziter Machtdisposition von Männern und Frauen, sich in der Ausbildung von Hierarchien zu engagieren, scheint also die explizit selbstzugeschriebene Machtmotivation die geschlechtsspezifischen Strategiepräferenzen und die ontogenetischen Anpassungsprozesse wiederzuspiegeln. Abbildung 4:
Alltägliche Motivationskonflikte
(Abdruck erfolgt mit Genehmigung von R. Alf)
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Ausblick Im Jahr 2008 durften wir in Deutschland den 90. Geburtstag des Frauenwahlrechts feiern. Dieses natürlich für alle Frauen, vor allem aber für diejenigen, die dafür gekämpft haben, sehr erfreuliche Ereignis macht deutlich, dass wir in der Menschheitsgeschichte auf eine lange Tradition der Geschlechterdiskriminierung zu Ungunsten der Frauen zurückblicken und diese auch weiterhin besteht. Vor diesem Hintergrund ist Psychologie und Gender ein besonders sensibles Thema. Die Motivationspsychologie hat bisher nur am Rande diese Thematik aufgegriffen und überlässt damit biologisch oder sozial-orientierten Theorien nahezu vollständig das Feld. Dabei bietet die thematische Fokussierung der Motivationspsychologie auf die Person-Umwelt-Interaktion ein erhebliches Potenzial, um Chancengleichheitsbemühungen im Sinne einer motivgesteuerten Umweltanpassung (siehe Abb. 4) auf eine empirisch orientierte Forschungsgrundlage zu stellen. Den Motiven als angeborenen konservativen Entwicklungspotentialen stehen kulturspezifische Entwicklungsangebote gegenüber, die im Laufe der Ontogenese eine individuelle Vielfalt und Variabilität ermöglichen, um zukünftige Herausforderungen zu meistern.
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5. Neuropsychologie Kognitive Geschlechtsunterschiede Marco Hirnstein und Markus Hausmann
Einführung Larry Summers war 2005 als Redner auf einer Konferenz über Wissenschaft und Technik in Massachussetts eingeladen und löste ein politisches und gesellschaftliches Erdbeben aus. Der damalige Präsident der Universität Harvard behauptete, angeborene Unterschiede zwischen Männern und Frauen in bestimmten kognitiven Fähigkeiten seien unter anderem ein Grund dafür, warum es weniger Frauen in wissenschaftlichen Spitzenpositionen gebe. Einige Teilnehmer verließen daraufhin entrüstet den Saal und eine weltweite, hitzig geführte Debatte entbrannte. Aber Summers, den diese Rede letzten Endes seinen Job kostete, hatte nicht einfach bloß behauptet, dass Frauen schlechter in bestimmten kognitiven Fähigkeiten seien, er hatte sich dabei auf wissenschaftliche Untersuchungen berufen. Hat Summers die wissenschaftlichen Befunde falsch interpretiert oder gibt es tatsächlich eine biologische Basis für kognitive Geschlechtsunterschiede? Sind Frauen „von Natur aus“ für bestimmte Berufe weniger geeignet? Dieses Buchkapitel versucht einen Überblick über den aktuellen Stand der biopsychologischen Forschung über Geschlechtsunterschiede in verschiedenen kognitiven Fähigkeiten zu liefern. Dabei sollen die Fragen beantwortet werden, in welchen kognitiven Bereichen Geschlechtsunterschiede existieren, welche biologischen, psychologischen und sozialen Erklärungsmodelle es für diese Geschlechtsunterschiede gibt und schließlich welche Konsequenzen daraus für unsere Gesellschaft erwachsen.
Geschlechtsunterschiede im Gehirn Da unser Gehirn kognitive Prozesse verarbeitet, wären biologisch begründete Geschlechtsunterschiede in kognitiven Fähigkeiten nur dann möglich, wenn es auch Geschlechtsunterschiede im Gehirn gibt. Tatsächlich ist das menschliche Gehirn sexuell dimorph, d.h. die Gehirne von Männern und Frauen sind unterschiedlich. Allgemein sind männliche Gehirne ca. 100g schwerer als weibliche Gehirne, auch wenn man die unterschiedliche Körpergröße von Männern und Frauen berücksichtigt (Ankney, 1992). Weitere anatomische Unterschiede finden sich beispielsweise im Neocortex, der neuronalen Basis aller höheren kognitiven Funktionen und bewusster Wahrnehmung. Während Männer durchschnittlich über ca. 22,8 Milliarden Neuronen in dieser Hirnstruktur verfügen, besitzen Frauen ca. 19,3 Milliarden Neuronen G. Steins (Hrsg.), Handbuch Psychologie und Geschlechterforschung DOI 10.1007/978-3-531-92180-8_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010
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(Pakkenberg & Gundersen, 1997). Schaut man sich spezifische Strukturen im Neocortex an, zeigen sich Geschlechtsdimorphismen unter anderem im präfrontalen Kortex, dem neuronalen Substrat für Arbeitsgedächtnis und Entscheidungsfindung im Stirnlappen. Diese Region hat eine relativ hohe Rezeptordichte an Sexualhormonen, besonders bei Frauen (Bixo et al., 1995). So geht im präfrontalen Kortex laut Kernspinuntersuchungen ein Anstieg von Östradiol bei pubertierenden Mädchen mit einer Verringerung von grauer Substanz (vorwiegend Nervenzellkerne) einher, während bei pubertierenden Jungen weder Östradiol- noch Testosteronspiegel einen Effekt auf die graue Substanz haben (Peper et al., 2009). Viel diskutiert werden Geschlechtsunterschiede im Corpus callosum, dem größten Nervenfasertrakt, das die linke und rechte Gehirnhälfte miteinander verbindet. Allerdings gibt es hier widersprüchliche Befunde ohne eindeutigen Trend. Einige Studien deuten darauf hin, dass das weibliche Corpus callosum größer ist und über mehr Fasern verfügt, andere Studien finden keine Geschlechtseffekte (zur Übersicht: Driesen & Raz, 1995). Auch auf subkortikaler Ebene existieren eine Reihe von Geschlechtsdimorphismen. Diese umfassen unter anderem eine größere Amygdala (Emotionsverarbeitung und Gedächtnis) bei Männern, einen größeren Hippocampus (Lernen und Gedächtnis) bei Frauen und größere Gebiete im Hypothalamus (Regulation von Körpertemperatur, Hunger, Müdigkeit, Sexualität) bei Männern (Güntürkün & Hausmann, 2007; Cahill, 2006). Neben anatomischen Dimorphismen gibt es aber auch funktionelle Geschlechtsunterschiede. Zum Beispiel sind viele Funktionen wie die Verarbeitung von Sprache, Raumkognition oder Gesichtern lateralisiert, d.h. entweder die linke (Sprache) oder die rechte Gehirnhälfte (Raumkognition, Gesichterverarbeitung) ist an diesen Funktionen primär beteiligt. Die Neurowissenschaft geht davon aus, dass diese funktionellen Hirnasymmetrien bei Männern stärker ausgeprägt sind als bei Frauen (McGlone, 1980; Halpern, 2000). Frauen scheinen also ein funktionell symmetrischeres Gehirn zu haben. Das Vorhandensein von hirnstrukturellen und funktionellen Geschlechtsunterschieden bedeutet zwar, dass es prinzipiell Geschlechtsunterschiede in kognitiven Fähigkeiten geben kann, aber nicht, dass es sie auch zwangsläufig geben muss. Einige der Sexualdimorphismen sind gar nicht oder bestenfalls indirekt an der Verarbeitung höherer kognitiver Funktionen beteiligt, wie z.B. die Amygdala oder der Hypothalamus. Umgekehrt lassen sich Unterschiede in Hirnbereichen, die relevant sind für kognitive Fähigkeiten, noch lange nicht eins zu eins auf kognitive Geschlechtsunterschiede im kognitiven Verhalten übertragen. Eine höhere Anzahl von Neuronen im Neocortex bei Männern beispielsweise, lässt nicht zwangsläufig darauf schließen, dass Männer intelligenter sind als Frauen. Nichtsdestotrotz machen es die zahlreichen zerebralen Geschlechtsdimorphismen wahrscheinlich, dass kognitive Geschlechtsunterschiede existieren. Ob sie sich aber tatsächlich im Verhalten manifestieren, wurde durch eine Reihe verschiedener Verhaltensexperimente untersucht.
Allgemeine Intelligenz Eine Vielzahl von Studien hat sich darauf konzentriert Männer und Frauen bezüglich ihrer allgemeinen Intelligenz zu vergleichen. Das Problem hierbei ist jedoch, dass Intelligenztests in der Regel so konstruiert werden, dass keine Geschlechtseffekte auftreten. Trotzdem behauptet der Psychologe Richard Lynn (1994), dass Männer im Durchschnitt 4 IQ-Punkte
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besser in den beiden gängigsten Intelligenztests abschneiden als Frauen. Darüber hinaus behauptete Lynn, dass dieser Unterschied sich aus dem (relativ schwachen) Zusammenhang zwischen Hirngröße und IQ-Punkten (siehe z.B. Willerman et al., 1991) und der Hirngrößendifferenz von Männern und Frauen (ca. 100cm³) ergibt. Obwohl Lynn die 4 IQ-Punkte Differenz zum Beispiel für den Wechsler-Intelligenz Test (Lynn, 1994) und die Progressive Matrizen (Irwing & Lynn, 2005) zeigt, wurden für andere Intelligenztests keinerlei Geschlechtsunterschiede oder sogar Vorteile für Frauen beobachtet (Mackintosh, 1998). Dieser Kritikpunkt illustriert das Kernproblem bei der Erforschung von Geschlechtsunterschieden in allgemeiner Intelligenz. Allgemeine Intelligenz ist ein psychologisches Konstrukt, das auf viele verschiedene Arten operationalisiert wurde. Der Wechsler-Intelligenztest beispielsweise besteht aus verschiedenen Untertests, die unterschiedliche kognitive Fähigkeiten messen. Da diese kognitiven Fähigkeiten zum Teil unterschiedlich geschlechtssensitiv sind, kann die Auswahl der kognitiven Untertests maßgeblich darüber entscheiden ob und wie stark Geschlechtsunterschiede in manchen Intelligenztests ausfallen.
Spezifische, kognitive Fähigkeiten Die Abbildungen 1 und 2 fassen exemplarisch zusammen, in welchen kognitiven Fähigkeiten Männer bzw. Frauen im Durchschnitt bessere Ergebnisse erzielen. Es wird deutlich, dass Abbildung 1:
Die funktionellen Domänen der Männer
(a) Mentaler Rotationstest (Peters et al., 1995). Es sollen die zwei Vergleichsfiguren markiert werden, die die Originalfigur in rotierter Position abbilden. Richtige Antworten sind A und C. (b) Test zur räumlichen Visualisierung. Probanden müssen entscheiden, welcher Würfel der Faltvorlage nicht entspricht. Richtige Antwort ist B. (c) Water-Level Test. Probanden müssen die physikalisch korrekte Alternative nennen. Richtige Antwort ist A. (Aus Hausmann, 2007; mit freundlicher Genehmingung durch Springer Medizin Verlag).
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Marco Hirnstein und Markus Hausmann
sich männliche Vorteile vorwiegend bei spezifischen räumlichen Aufgaben zeigen, wohingegen Frauen z.B. besser in Aufgaben zur verbalen Kreativität oder in der Wahrnehmungsgeschwindigkeit abschneiden. Raumkognition Raumkognition selbst ist wiederum ein Sammelbegriff für eine Reihe verschiedener Fähigkeiten und Funktionen. Männer übertreffen Frauen dabei typischerweise in vier Kategorien, der räumlichen Wahnehmung, der räumlichen Visualisierung, mentaler Rotation und räumlich-zeitlichen Fähigkeiten. Umgekehrt erzielen Frauen bessere Ergebnisse als Männer im Ortsgedächtnis für Objekte. Räumliche Wahrnehmung: Räumliche Wahrnehmung bezieht sich auf die Fähigkeit räumliche Beziehungen zwischen Objekten und dem eigenen Körper herzustellen und dabei andere Informationen zu ignorieren. Ein Beispiel ist der Rod-and-Frame Test, bei dem Versuchspersonen einen vertikalen Strich zeichnen sollen ohne sich von einem Bezugsrahmen beeinflussen zu lassen. Ein ähnliches Beipiel ist der Water-Level Test, bei dem eine horizontale (Wasser-) Linie in ein Gefäß gezeichnet werden soll, ohne sich hier von der Neigung des Gefäßes beeinflussen zu lassen. Männer schneiden in diesen Aufgaben im Schnitt besser ab als Frauen. Die Effektstärken liegen mit d = .48 (Voyer, Voyer & Bryden, 1995) und d = .64 (Linn & Petersen, 1985) im kleinen bis mittleren Bereich. Räumliche Visualisierung: Hierbei handelt es sich um die Fähigkeit komplexe, räumliche Informationen mehrstufig zu manipulieren. Beispiele hierfür sind der Paper-Folding Test, bei dem die Versuchspersonen aus einer Reihe von vier gefalteten Würfeln, denjenigen finden sollen, der mit dem ungefalteten Würfelmuster übereinstimmt, oder der HiddenFigures Test, bei dem eine Zielfigur in einer von vier komplexen Mustern „gefunden“ werden soll. Hier finden sich vereinzelt Vorteile für Männer, aber die Effektstärken sind mit d = .13 (Linn & Petersen, 1985) und d = .23 (Voyer et al., 1995) als minimal einzustufen. Mentale Rotation: Die größten kognitiven Geschlechtseffekte treten in der mentalen Rotation auf, d.h. der Fähigkeit sich zwei- oder dreidimensionale Objekte mental vorstellen und manipulieren bzw. rotieren zu können. Männer erzielen hier bis zu einer Standardabweichung (d = 1.00) bessere Ergebnisse als Frauen. Eines der am häufigsten verwendeten Testverfahren, um mentale Rotationsleistung zu messen, ist der mentale Rotationstest (MRT) von Peters et al. (1995). Abbildung 1 zeigt eine Beispielaufgabe: Die Versuchspersonen werden gebeten durch mentales Rotieren aus einer Reihe von vier Würfelfiguren, die beiden Figuren zu markieren, die genau deckungsgleich mit einer Ausgangsfigur sind. Der Test besteht aus zwei Hälften à 12 Items, für die jeweils drei Minuten Zeit zur Verfügung stehen. Auch wenn der MRT extremst zuverlässig Geschlechtsunterschiede aufzeigt, ist die Stärke des Geschlechtseffektes von einer Reihe von Testparametern abhängig. Einer dieser Faktoren scheint die Zeitbegrenzung zu sein. Peters (2005) stellte fest, dass mit zunehmender Testdauer der Geschlechtsunterschied ansteigt und dass weniger Frauen als Männer die letzten Testitems erreichen. Andererseits aber bleibt der Geschlechtsunterschied konstant, wenn Frauen und Männern die doppelte Bearbeitungszeit zur Verfügung haben, da bei beiden die Gesamtpunktzahl proportional steigt. Gibt man den Versuchspersonen unend-
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lich viel Zeit, ist der Geschlechtseffekt zwar teilweise reduziert, bleibt aber dennoch erhalten (Masters, 1998; Delgado & Pietro, 1996; aber siehe Goldstein et al., 1990). Räumlich-zeitliche Fähigkeiten: Hiermit sind räumlich-zeitliche Einschätzungen gemeint, wie das Bestimmen der genauen Ankunftszeit eines sich bewegenden Objektes. Männer können dies durchschnittlich besser als Frauen (Halpern, 2000; Schiff & Oldak, 1990). Objektortsgedächtnis: Wenn es darum geht sich die Positionen zu merken, an denen bestimmte Objekte liegen, sind Frauen durchschnittlich den Männern überlegen. Beim sogenannten Object-Location-Memory Test (Eals & Silverman, 1994) sollen sich die Probanden die Position von gezeichneten Alltagsobjekten auf einem Papierblatt einprägen. Danach bekommen sie ein zweites Blatt, auf dem einige der Objekte die Position getauscht haben. Auch wenn die Effektstärke mit d = .30 recht klein ist, gilt der weibliche Vorteil dennoch als relativ robust (Voyer et al., 2007). Sprachliche Kognition Einem weit verbreiteten Stereotyp zu Folge sind Frauen Männern in sprachlichen Fähigkeiten überlegen. Oft wird dafür angeführt, dass Jungen bzw. Männer häufiger von Sprachstörungen betroffen sind. Jungen stottern doppelt so häufig wie Mädchen und Männer vier- bis fünfmal so häufig wie Frauen (Andrews, 1985). Jungen sind auch bis zu dreimal häufiger von Lese- und Rechtschreibstörungen betroffen als Mädchen (Plume & Warnke, 2007). Allerdings ist fraglich, inwiefern diese Störungen tatsächlich sprachliche Kompetenzen abbilden. Stottern zum Beispiel ist typischerweise ein motorisches Defizit, d.h. genuine sprachliche Fähigkeiten wie Wortschatz, Textverständnis etc. sind weiterhin intakt. Für eine weibliche Überlegenheit in sprachlichen Fähigkeiten spricht allerdings auch, dass im Falle einer normalen Sprachentwicklung Mädchen früher zu sprechen beginnen, entsprechend früher komplexe Sätze produzieren, weniger Grammatikfehler machen und einen größeren Wortschatz haben (Horgan, 1975). Der Vorsprung in sprachlichen Fähigkeiten bleibt zunächst während der Schulzeit bestehen (Halpern, 2000), verschwindet in den meisten Sprachbereichen jedoch wieder. Im Erwachsenenalter gibt es insgesamt kaum Geschlechtsunterschiede in sprachlichen Fähigkeiten. Eine Metastudie von Hyde und Linn (1988) fand nur einen kleinen weiblichen Vorteil (d = .20) über sämtliche Sprachtests hinweg. Im Wortschatz beispielsweise unterscheiden sich die Geschlechter nicht (Hyde & Linn, 1988) und in der verbalen Intelligenz, gemessen mit dem Wechsler-Intelligenz Test, zeigt sich, wenn überhaupt, nur ein kleiner Vorteil zu Gunsten der Männer (Jensen & Reynolds, 1983). Dennoch gibt es einzelne Teilfunktionen in den verbalen Fähigkeiten, in denen Frauen konsistent besser abschneiden als Männer. Dazu zählt beispielsweise das verbale Gedächtnis. So zeigt eine Vielzahl von Studien, dass Frauen Wortlisten besser erinnern können als Männer (McGuinness, Olson & Chapman, 1990; Bleecker et al., 1988). Dieser Vorteil findet sich laut Kimura (2000) in sämtlichen Altersgruppen und die Effektstärken bewegen sich zwischen d = .58 und d = .97. Im Durchschnitt schneiden Frauen ebenfalls besser in der Wortflüssigkeit ab als Männer. Wortflüssigkeit bezieht sich hierbei nicht auf die Quantität des Sprechens, sondern auf die Fähigkeit, eine möglichst große Anzahl an Wörtern einer bestimmten semantischen Kategorie oder mit dem gleichen Anfangsbuchstaben unter Zeitdruck zu generieren. Sollen Ver-
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suchspersonen zum Beispiel innerhalb einer Minute möglichst viele Wörter generieren, die mit dem Buchstaben „P“ beginnen, so nennen Frauen durchschnittlich mehr Wörter als Männer (Lezak, 1995), die Effektstärken sind mit Werten um d = .20 jedoch recht klein (Rahman, Abrahams & Wilson, 2003; Hausmann et al., 2009). Wahrnehmung Räumliche Muster oder sprachliche Reize müssen zunächst über die verschiedenen visuellen, akustischen und taktilen Kanäle wahrgenommen werden, um dann später kognitiv verarbeitet zu werden, d.h. Geschlechtsunterschiede in der Wahrnehmung könnten zu Geschlechtsunterschieden in anderen kognitiven Fähigkeiten beitragen. Interessanterweise ist sich die Forschung einig, dass Frauen sensibler auf akustische, taktile, gustatorische und olfaktorische Reize reagieren als Männer (Halpern, 2000; Kimura, 2000). Sie haben niedrigere Wahrnehmungsschwellen für „reine“ oder „einfache“ Töne (Töne einer bestimmten Frequenz), für Berührungen und Geschmäcker und können Gerüche eher wahrnehmen und Abbildung 2:
Die funktionellen Domänen der Frauen
(a) Beispiel eines Tests zur Wahrnehmungsgeschwindigkeit. Probanden sollen die Figur markieren, die sich von den anderen zwei identischen Figuren unterscheidet. Richtige ist Antwort B. (b) Wortflüssigkeit. Probanden sollen in jeweils einer Minute möglichst viele Wörter mit dem Anfangsbuchstaben „P“ bzw. „L“ generieren. (c) Object-LocationMemory Test. In Phase 1 prägen sich Probanden die Position mehrerer Objekte auf einem Blatt Papier ein. In Phase 2 erhalten sie ein zweites Blatt, auf dem einige Objektpaare die Position getauscht haben. Diese gilt es zu markieren. (Aus Hausmann, 2007; mit freundlicher Genehmigung des Springer Medizin Verlags).
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erkennen (Baker, 1987). Im visuellen System sind Geschlechtsunterschiede weniger eindeutig. Zwar haben Frauen scheinbar eine bessere Tiefenwahrnehmung (Peterson, 1993), dafür haben Männer eine höhere Sehschärfe (Burg, 1966). Kimura (2000) bezweifelt jedoch, dass die niedrigeren Wahrnehmungsschwellen einen Einfluss auf kognitive Verarbeitung haben. Zum Beispiel können Frauen Töne unterschiedlicher Frequenz nicht besser unterscheiden als Männer, obwohl sie niedrigere Schwellen für reine Töne haben. Ein robuster Geschlechtseffekt zu Gunsten von Frauen findet sich aber in der Wahrnehmungsgeschwindigkeit, der Fähigkeit zum raschen Auffinden von Objekten oder dem schnellen Vergleichen von verschiedenen Objekten. Wahrnehmungsgeschwindigkeit wird zum Beispiel mit dem Zahlen-Symbol Test aus dem Wechsler-Intelligenz Test erfasst. Hierbei müssen Versuchspersonen unter Zeitdruck Symbole bestimmten Zahlen zuordnen. In einer Untersuchung an über 100.000 Versuchpersonen fanden Hedges und Nowell (1995) Effektstärken zwischen d=.21 und d=.43. Dies deckt sich mit der Effektstärke (d=.34) aus einer früheren Studie (Feingold, 1992). Mathematische Fähigkeiten So weit verbreitet wie das Stereotyp, dass Frauen besser in verbalen Aufgaben sind, ist die Ansicht, dass Männer über bessere mathematischen Fähigkeiten verfügen. Auch mathematische Fähigkeiten ist ein Sammelbegriff für eine Anzahl verschiedener Teilfunktionen, die mehr oder weniger unabhängig voneinander sind und ihrerseits zum Teil von anderen Faktoren wie verbalen und räumlichen Fähigkeiten abhängen. Insgesamt findet sich ein Vorteil für Männer, allerdings ist dieser mit Effektstärken zwischen d=.11 (Lemke et al., 2004), d=.26 (Hedges & Nowell, 1995) und d=.29 bis d=.32 (Hyde, Fennema & Lamon, 1990) höchstens als minimal bis klein einzuschätzen. Differenziert man weiter zwischen verschiedenen Teilfunktionen, schneiden Frauen besser beim Rechnen ab, Männer beim mathematischen Schlussfolgern, Problemlösen und in der Geometrie (Kimura, 2000). Einige Autoren haben mathematische Probleme auf der Basis ihrer Schwierigkeit unterteilt und kommen zu dem Schluss, dass Frauen bei einfachen und Männer bei komplexen mathematischen Problemen leichte Vorteile haben (Engelhard, 1990; Penner, 2003). Allerdings verbergen sich hinter „einfachen“ Problemen häufig Rechenaufgaben und hinter komplexen Problemen die Anwendung mathematischer Grundprinzipien, so dass beide Unterteilungen vermutlich ähnliche Geschlechtsunterschiede reflektieren. Geschlechtsunterschiede in mathematischen Fähigkeiten scheinen aber auch erheblich von der jeweiligen Strategie abzuhängen, die Männer und Frauen anwenden, um verschiedene mathematische Probleme zu lösen (z.B. Linn & Petersen, 1985; Spelke, 2005). So neigen Männer eher dazu eine räumliche als eine verbale Strategie anzuwenden und schneiden insbesondere dann besser ab, wenn sich eine räumliche Strategie anbietet (Geary et al., 2000; Gallagher, Levin & Cahalan, 2002). Tatsächlich wurde in einer Studie gezeigt, dass der Geschlechtsunterschied im mathematischen Schlussfolgern geringer wird, wenn alle Probanden durch die Aufgabenstellung zu einer räumlichen Strategie gezwungen werden (Geary, 1996). Dies verdeutlicht, wie sich kognitive Fähigkeiten gegenseitig beeinflussen und wie wichtig die Wahl der (richtigen) kognitiven Strategie ist.
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Zusammenfassung Männer und Frauen unterscheiden sich in einer Reihe spezifischer, kognitiver Fähigkeiten. Die deutlichsten Unterschiede zeigen sich in der Raumkognition und hier speziell in der mentalen Rotation. Interessanterweise sind Geschlechtsunterschiede in stark stereotypbehafteten Domänen wie verbalen oder mathematischen Fähigkeiten – wenn überhaupt – relativ gering ausgeprägt und bleiben zumeist beschränkt auf einzelne Teilfunktionen. Generell gibt es einen großen Überschneidungsbereich in den Leistungen von Männern und Frauen, so dass markante Geschlechtsuntersschiede in kognitiven Fähigkeiten eher die Ausnahme als die Regel sind. Dennoch sind diese Unterschiede zwischen Männern und Frauen über verschiedene Studien hinweg relativ robust. Dies wird zum Beispiel sehr deutlich, wenn man die sogenannte „fail-safe number“ betrachtet: Die Psychologie ist wie jede andere Wissenschaft anfällig für sogenannte Schubladen-Effekte, d.h. positive, signifikante Ergebnisse werden eher veröffentlicht als negative, nicht-signifikante. Man könnte also argumentieren, dass der Vielzahl an Studien, die einen signifikanten Geschlechtsunterschied zeigen, eine (ebenso) große Anzahl an Studien gegenübersteht, die keinen Unterschied findet, aber in Archiven und Schubläden verstaubt. Es ist allerdings mathematisch möglich zu berechnen, wie viele dieser nicht-signifikanten Studien nötig wären, um einen bestimmten Geschlechtseffekt zu eliminieren, die fail-safe number. Will man beispielsweise den männlichen Vorteil in räumlichen Fähigkeiten eliminieren, bräuchte man genau 178.205 unveröffentlichte Studien (Voyer et al., 1995). Diese Zahl macht es extrem unwahrscheinlich, dass dieser Geschlechtsunterschied auf Schubladen-Effekte beruht und illustriert zugleich, wie robust diese Geschlechtsunterschiede zum Teil sind. Wie aber entstehen diese Geschlechtsunterschiede? Im Folgenden soll dargestellt werden, dass es sich dabei um ein komplexes Geflecht aus biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren handelt.
Erklärungsmodelle Biologische Faktoren Die naheliegendste biologische Basis für Geschlechtsunterschiede in kognitiven Fähigkeiten sind Sexualhormone, denn sie sind wesentlich an der Differenzierung eines weiblichen und männlichen Körpers bzw. eines weiblichen und männlichen Gehirns beteiligt. Der Einfluss von Sexualhormonen auf kognitive Geschlechtsunterschiede wurde mit unterschiedlichsten Methoden beim Menschen untersucht. Untersuchungen an (a) Menschen mit Störungen des Sexualhormonhaushalts, (b) natürlichen Schwankungen der Sexualhormonspiegel, (c) Transsexuellen oder (d) älteren Menschen vor und nach Hormontherapien etc. sprechen dafür, dass Sexualhormone kognitive Geschlechtsunterschiede beeinflussen können. Hormoneffekte lassen sich grob in zwei Kategorien unterteilen: Organisierende Effekte, d.h. Sexualhormone verändern prä- bzw. neonatal die neuronale Struktur/Organisation unseres Gehirns, und aktivierende Effekte, d.h. (post-) pubertäre, aktuelle Hormonschwankungen führen zu einer veränderten Informationsverarbeitung.
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Organisierende Effekte: Um organisierende Effekte zu untersuchen, werden häufig Menschen untersucht, die pränatal auf Grund von Entwicklungsstörungen oder Krankheiten abnorm hohen oder niedrigen Sexualhormonkonzentrationen ausgesetzt waren. Zum Beispiel ist beim sogenannten Androgenitalem Syndrom (AGS) die Nebennierenrinde auf Grund eines genetischen Defekts deformiert und setzt exzessiv Androgene wie Testosteron frei. Frühere Studien haben gezeigt, dass betroffene Mädchen/Frauen bessere Ergebnisse in räumlichen Tests wie mentale Rotation oder Paper-Folding erzielen als nicht betroffene Mädchen/Frauen (Hampson, Rovet & Altmann, 1998; Resnick et al., 1986, aber siehe Helleday et al., 1994). In einer neueren Untersuchung fanden Hines et al. (2003) hingegen keine Unterschiede in der mentalen Rotation, wohl aber im zielgerichteten Werfen, bei dem der männliche Vorteil ähnlich groß ist, wie bei der mentalen Rotation. Zielgerichtetes Werfen steht in engem Zusammenhang mit dem männlichen Vorteil in der Raumkognition und beruht nicht auf Geschlechtsunterschieden im Körperbau (Watson & Kimura, 1991). Interessanterweise schneiden Jungen/Männer mit AGS in räumlichen Aufgaben entweder genauso gut oder sogar schlechter ab als nicht betroffene Jungen/Männer (Hampson et al., 1998; Resnick et al., 1986). Das könnte daran liegen, dass Testosteronspiegel in männlichen Föten mit AGS nicht zwangsläufig erhöht sind oder dass abnorm hohe Testosteronspiegel eher zu schlechteren Leistungen in räumlichen Fähigkeiten führen. Bei gesunden Probanden schließlich sind Mädchen, die als Föten hohen Testosteronkonzentrationen im Fruchtwasser ausgesetzt waren, schneller in mentalen Rotationsaufgaben als Mädchen, die pränatal niedrigen Testosteronkonzentrationen ausgesetzt waren (Grimshaw, Sitarenios & Finegan, 1995). Aktivierende Effekte: Wird der aktuelle Hormonspiegel gemessen und dieser mit geschlechtssensitiven, kognitiven Tests korreliert, zeigen sich extrem heterogene Zusammenhänge. Gouchie und Kimura (1991) fanden, dass Frauen mit hohen Testosteronspiegeln besser in räumlichen Tests abschnitten als Frauen mit niedrigen Testosteronspiegeln. Umgekehrt schnitten Männer mit niedrigen Testosteronspiegeln besser ab als Männer mit hohen Testosteronspiegeln. Halari et al. (2005) berichteten dagegen keine signifikanten Korrelationen zwischen Sexualhormonen und kognitiven Leistungen. Eine weitere Möglichkeit aktivierende Hormoneffekte auf kognitive Fähigkeiten bei Erwachsenen zu untersuchen, stellen natürliche Hormonschwankungen dar, wie über den weiblichen Zyklus. Aber auch hier ist die Datenlage relativ widersprüchlich. Dies mag damit zusammenhängen, dass viele Studien zwar angeben Frauen zu unterschiedlichen Zeitphasen getestet zu haben, dies aber nicht durch direkte Messungen der Hormonkonzentrationen aus dem Blut oder Speichel kontrolliert haben. Die wenigen Studien, die die Sexualhormonspiegel direkt gemessen haben, beobachteten, dass kognitive Leistungen über den Zyklus fluktuieren können. Frauen erzielen zum Beispiel während der Menstruation höhere Punktzahlen im MRT als zur mittlutealen Phase, wobei die MRT-Punktzahl positiv mit dem Testosteron- und negativ mit dem Östradiolspiegel korrelierte (Hausmann et al., 2000). Die Sexualhormonspiegel bei Männern unterliegen ebenfalls natürlichen Schwankungen. So ist zum Beispiel der Testosteronspiegel im Frühjahr niedriger als im Herbst, und am Abend niedriger als am Morgen. In Übereinstimmung mit der Theorie, dass niedrige Testosteronspiegel für Männer vorteilhaft bei räumlichen Aufgaben sind, schnitten Männer im Frühling und am Abend besser ab als Männer im Herbst und am Morgen (Kimura & Hampson, 1994; Moffat & Hampson, 1996).
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Die Vielfältigkeit der Studien macht deutlich, dass Sexualhormone an kognitiven Geschlechtsunterschieden mindestens beteiligt sind. Bis jetzt ist aber auf Grund der teilweise widersprüchlichen Ergebnisse noch immer relativ unklar, welche Hormone in welchen Konzentrationen mit kognitiven Geschlechtsunterschieden assoziiert sind. Funktionelle Hirnasymmetrien scheinen hier eine zentrale Rolle zu spielen. Funktionelle Hirnasymmetrien für beispielsweise sprachliche oder räumliche Funktionen sind nicht nur geschlechtsspezifisch, sondern werden zum Teil durch Sexualhormone moduliert (Hausmann et al., 2002; Bayer & Hausmann, 2009). Wie genau Sexualhormone über eine Modulation der funktionellen Hirnasymmetrien die kognitive Leistung verändern, ist bislang jedoch weitestgehend unklar (siehe Hausmann & Güntürkün, 2000, für einen möglichen Mechanismus). Psychologische Faktoren Die Stärke und das Auftreten von kognitiven Geschlechtsunterschieden wird jedoch nicht nur durch biologische, sondern auch psychologische Variablen determiniert. Zahlreiche Studien sprechen dafür, dass Frauen im MRT eine andere kognitive Strategie verwenden als Männer. Anstatt die Figuren als Ganzes mental zu rotieren, gehen sie eher verbal-analytisch vor, d.h. sie zerlegen die Figur in einzelne Würfel, die in einer bestimmten Anordnung zueinander stehen (z.B. „zwei Würfel nach hinten, vier nach oben, einer nach rechts“) und vergleichen dann diese Anordnungen miteinander. So haben Frauen besonders bei Items Probleme, bei denen diese verbal-analytische Strategie erschwert ist, weil die Items gespiegelt sind (Geiser, Lehmann & Eid, 2006). Darüber hinaus sind laut einer funktionellen Kernspinuntersuchung bei Frauen Hirngebiete stärker aktiviert, die mit einer verbalanalytischen Verarbeitung assoziiert sind, nämlich der inferiore Parietal- und der inferiore Temporallappen (Jordan et al., 2002). Diese verbal-analytische Strategie ist offensichtlich nachteilig für die Leistung von Frauen im MRT, möglicherweise weil sie aufwendiger und fehleranfälliger ist. Ein weiterer psychologischer Einflussfaktor beim MRT ist das Selbstvertrauen. Frauen sind weniger selbstsicher ein bestimmtes Item im MRT richtig gelöst zu haben als Männer. Je niedriger ihr Selbstvertrauen ist, desto niedriger ist auch die Punktzahl im MRT und desto höher die Tendenz zu raten (Cooke-Simpson & Voyer, 2007). In einer eigenen Studie beobachteten wir, dass Geschlechtsunterschiede in der mentalen Rotation überhaupt nur dann auftreten, wenn Frauen wenig Selbstvertrauen im Umgang mit dieser Aufgabe haben (Hausmann, in Bearbeitung). Auch in der Wahrnehmungsgeschwindigkeit gibt es Hinweise darauf, dass Geschlechtsunterschiede auf unterschiedlichen Strategien basieren. Die weibliche Überlegenheit im Zahlen-Symbol Test (s.o.) könnte letztlich auf einer stärkeren Nutzung verbaler Strategien beruhen, da die Zahlen-Symbol Paare verbal enkodiert werden können. Dies würde erklären, warum Geschlechtseffekte in der Wahrnehmungsgeschwindigkeit überwiegend im Zahlen-Symbol Test gefunden werden und nicht in anderen Testverfahren, bei denen verbale Enkodierung eine geringere Rolle spielt, wie beim Identical Pictures Test (Schaie, 1989).
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Soziale Faktoren Von besonderer Relevanz ist hier der sogenannte „stereotype threat“ (Steele & Aronson, 1995). Es bezeichnet den Effekt, dass eine Gruppe oder ein Individuum aus der Angst heraus negative Stereotype über die eigene kognitive Leistungsfähigkeit zu bestätigen, tatsächlich schlechtere kognitive Leistungen erbringt. Ursprünglich wurde dieser Ausdruck im Zusammenhang von ethnischen Unterschieden bei Intelligenztests geprägt. In den USA schnitten farbige Studierende in Intelligenztests häufig schlechter ab als Studierende mit weißem-kaukasischem Hintergrund. Steele and Aronson (1995) konnten jedoch zeigen, dass dieser Unterschied verschwindet, wenn der Intelligenztest nicht als solcher vorgestellt wird und somit die Aktivierung des Stereotyps „Farbige sind weniger intelligent“ vermieden wird. In Folgeuntersuchungen wurde der stereotype threat Effekt auch in anderen Personengruppen nachgewiesen. So verschwanden Geschlechtsunterschiede in einem mathematischen Test, wenn der Test als allgemeiner Problemlösungstest und nicht als Mathematiktest vorgestellt wurde (Spencer, Steele & Quinn, 1999). Gleichzeitig können negative Stereotype über eine andere Gruppe bzw. positive Stereotype über die eigene Gruppe auch die eigene kognitive Leistung verbessern. Frauen erzielen zum Beipiel höhere Punktzahlen in einem mentalen Rotationstest, wenn sie mit einem positiven Stereotyp (z.B. „Frauen können diese Aufgabe besser als Männer“) konfrontiert werden. Umgekehrt sinkt die Leistung von Männern, wenn sie mit einem negativen Stereotyp konfrontiert werden (Wraga et al., 2006). Neben Stereotypen beeinflussen auch Geschlechterrollen kognitive Geschlechtsunterschiede. Im Hidden-Figures Test, einem Test zur räumlichen Visualisierung (s.o.) schnitten Frauen mit einer femininen Geschlechterrolle besser ab, wenn der Test als Empathie-Test vorgestellt wurde, wohingegen Frauen mit einer eher maskulinen Geschlechterrolle besser abschnitten, wenn der Test als räumlicher Test eingeführt wurde. Bei Männern fanden sich keine Unterschiede (Massa et al., 2005). Vermutlich resultiert dieses Ergebnis aus einer höheren Motivation der Frauen ihrer jeweiligen Geschlechterrolle (eher feminin vs. eher maskulin) zu enstsprechen, was die enge Verzahnung von sozialen (Rollenverständnis), psychologischen (Motivation) und kognitiven Faktoren verdeutlicht. Das biopsychosoziale Modell Im Prinzip ist sich die Geschlechterforschung einig, dass kognitive Geschlechtsunterschiede das Ergebnis einer komplexen Interaktion aus biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren sind (Halpern, 2000). Wie aber sieht diese Interaktion aus? Erstaunlicherweise haben bislang relativ wenige Studien versucht Geschlechtsunterschiede mit einem integrativen Ansatz zu untersuchen. Es ist zum Beispiel denkbar, dass biologische Faktoren bestimmte hirnstrukturelle oder physiologische Rahmenbedingungen schaffen, welche zu unterschiedlichen Aufgabenpräferenzen führen, z.B. Spaß an mathematischen oder raumkognitiven Fragestellungen. Diese unterschiedlichen Präferenzen könnten dann dazu führen, dass unterschiedliche Umgebungen aufgesucht oder unterschiedlichen Beschäftigungen nachgegangen wird, was wiederum jene Präferenzen verstärken könnte. Umgekehrt ist es möglich, dass psychologische und soziale Faktoren diese anfänglichen Präferenzen überlagern, aufheben oder sogar umkeh-
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ren. Frauen mit AGS beispielsweise berichten signifikant häufiger als Kinder „jungentypische Spiele“ gemacht und als Heranwachsende weniger Interesse an heterosexuellen Kontakten gehabt zu haben (Hines, Brook & Conway 2004). Da AGS Mädchen das äußere Erscheinungsbild normal entwickelter Mädchen aufweisen, ist es eher unwahrscheinlich, dass kognitive Unterschiede von AGS Mädchen auf Erziehung oder soziokulturelle Einflüsse zurückzuführen sind. Dennoch zeigten nicht alle Mädchen/Frauen „vermännlichende“ Effekte, was darauf hindeutet, dass die erhöhte Ausschüttung von Testosteron bei AGS Mädchen/Frauen zwar zu einem „vermännlichenden“ Verhaltensmuster in einzelnen kognitiven Funktionen führen kann, aber nicht muss. Bislang gibt es kaum wissenschaftliche Arbeiten, die versuchen der Komplexität des Phänomens kognitiver Geschlechtsunterschiede in ihrer Gänze gerecht zu werden und den Einfluss biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren integrativ zu untersuchen. In einer eigenen Studie an über 100 Probanden (Hausmann et al., 2009) erforschten wir daher die Interaktion von Geschlechtsstereotypen und Sexualhormonen und deren Bedeutung für kognitive Geschlechtsunterschiede. In dieser Studie wurde bei der Hälfte der Versuchspersonen Geschlechtsstereotype mit Hilfe eines Fragebogens aktiviert, während eine Kontrollgruppe eine geschlechtsneutrale Version des Fragebogens erhielt. Anschließend bearbeiteten alle Versuchspersonen eine kognitive Testbatterie, bestehend u.a. aus räumlichen Aufgaben (z.B. mentalen Rotation) sowie Tests zur Wortflüssigkeit. Im Anschluss daran wurden die Testosteronspiegel der Versuchspersonen bestimmt. Wie erwartet schnitten Männer im MRT und Frauen in der Wortflüssigkeit besser ab. Der männliche Vorteil im MRT trat allerdings nur in der Gruppe auf, bei der vorher Geschlechtsstereotypen aktivierten wurden. Trotz leichter numerischer Überlegenheit, blieben signifikante Geschlechtsunterschiede in der Kontrollgrupe (geschlechtsneutraler Fragebogen) aus. Zusätzlich wies die Gruppe der Männer, in der Geschlechtsstereotype aktiviert wurden, einen beinahe doppelt so hohen Testosteronwert auf wie die Männer der Kontrollgruppe. Dies könnte darauf hindeuten, dass die Stereotypaktivierung zu einem erhöhten Testosteronausschuss geführt hat, der sich wiederum auf die mentale Rotationsleistung ausgewirkt hat. In einer späteren Untersuchung (Hirnstein, Zieger & Hausmann, in Bearbeitung) zeigte sich ebenfalls, dass Männer im MRT und Frauen in der Wortflüssigkeit durchschnittlich bessere Leistungen aufwiesen. Im Gegensatz zur vorherigen Studie zeigte sich dagegen ein ‚stereotype threat’ Effekt nur für die Wortflüssigkeit, nicht für die mentale Rotation. In dieser Studie war die männliche Stichprobe der weiblichen nur dann unterlegen, wenn zuvor Geschlechtstereotype aktivert wurden, während sich in der geschlechtsneutralen Bedingungen in diesem Test wieder keine Geschlechtsunterschiede fanden. Ein potenzieller Anstieg in den Testosteronspiegeln ließ sich bei den Männern dieser Studie dagegen nicht finden. Das Ergebnis der vorherigen Studie (Hausmann et al., 2009) könnte vielleicht darauf zurückgehen, dass männliche und weibliche Versuchspersonen in gemischtgeschlechtlichen Gruppen untersucht wurden, was eine kompetitive Versuchssituation geschaffen haben könnte. Tatsächlich scheint die Gruppenzusammensetzung einen Einfluss auf kognitive Geschlechtsunterschiede zu haben. In der oben genannten Folgeuntersuchung (Hirnstein et al., in Bearbeitung) bearbeiteten die Probanden die Aufgaben entweder in gemischtgeschlechtlichen (Männer und Frauen) oder geschlechtshomogenen Gruppen (nur Frauen oder nur Männer). Versuchspersonen in homogenen Gruppen schnitten ebenso gut ab wie Pro-
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banden in gemischtgeschlechtlichen Gruppen, aber nur, wenn keine Geschlechtsstereotypen aktiviert wurden. Waren Geschlechtsstereotype aktiviert, war die kognitive Leistung beider Geschlechter in den gemischten Gruppen signifikant reduziert. Dies könnte implizieren, dass homogene Gruppen auf Grund der fehlenden direkten „Konfrontation“ durch Mitglieder des anderen Geschlechts weniger anfällig für den stereotype threat sind. Beide Studien unterstreichen, dass kognitive Geschlechtsunterschiede auf einer komplexen Interaktion von biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren beruhen. Auf der anderen Seite kommen beide Studien trotz identischen methodischen Vorgehens zu teilweise unterschiedlichen Ergebnissen, was erneut verdeutlicht, wie komplex die Interaktionen zwischen diesen Faktoren sind, und wie weit die Wissenschaft derzeit davon entfernt ist, diese Interaktionen in Gänze zu verstehen.
Zusammenfassung und Fazit Hatte Larry Summers also recht, als er behauptete Frauen seien qua Geburt in bestimmten kognitiven Fähigkeiten benachteiligt und dies sei ein Teil der Erklärung, warum sie in Spitzenpositionen in der Wirtschaft und Wissenschaft unterrepräsentiert sind? Nach aktuellem wissenschaftlichen Erkenntnisstand sprechen die Ergebnisse zumindest dafür, dass sich Männer und Frauen in spezifischen kognitiven Fähigkeiten unterscheiden. Frauen schneiden zum Beispiel in spezifischen raumkognitiven Aufgaben (z.B. mentale Rotation) schlechter ab als Männer und umgekehrt gibt es kognitive Domänen, in denen Frauen durchschnittlich besser abschneiden als Männer, wie zum Beispiel in Tests zur verbalen Kreativität. Darüber hinaus lässt sich die Art und Weise wie Männer und Frauen kognitive Aufgaben angehen nicht immer einfach beobachten. So lassen sich, zum Beispiel, mathematische Aufgaben sowohl durch räumliche und als auch durch sprachliche Strategien lösen. Diese individuellen Strategien tragen sicherlich dazu bei, dass die kognitive Leistung innerhalb eines Geschlechts stärker variiert als zwischen den Geschlechtern, was eine individuelle Vorhersage über die kognitive Leistung alleine auf der Basis des Geschlechts unmöglich macht. Das diese kognitiven Geschlechtsunterschiede ausschließlich angeborener Natur sind, ist sehr unwahrscheinlich. Wie sich das Anlage-Umwelt Verhältnis genau verteilt, lässt sich dagegen nicht so einfach beantworten und ist sicherlich auch nicht die entscheidene Frage. Klar ist, dass sowohl biologische Faktoren, wie z.B. die organisierenden und aktivierenden Effekte von Sexualhormonen, als auch soziale Faktoren, wie z.B. die geschlechtsspezifische Lernerfahrungen signifikant an den spezifischen kognitiven Geschlechtsunterschieden beteiligt sind und darüber hinaus stark miteinander interagieren können. Das bedeutet auch, dass Frauen bzw. Männer in spezifischen Bereichen im Durchschnitt zwar unterschiedliche kognitive Leistungen erbringen, diese aber keinesfalls unabänderlich sind, sondern durch eine Vielzahl von psychologischen und sozialen Faktoren positiv (oder negativ) beeinflusst werden können. Darüber hinaus illustriert Summers‘ Behauptung, nach der die Unterrepräsentation von Frauen in Spitzenpositionen zum Teil auf angeborene kognitive Geschlechtsunterschiede zurückgehe, ein grundlegendes Problem, nämlich das der Übertragbarkeit von psycho-
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metrischen Tests auf den Alltag. Die hier berichteten Geschlechtsunterschiede treten in sehr spezifischen kognitiven Leistungstests auf, deren Alltagsrelevanz schon alleine auf Grund ihrer experimentellen Natur limitiert ist. Trotzdem gibt es scheinbar immer wieder Personen oder Gruppen, die mehr als fragliche Rückschlüsse aus diesen Tests für das Alltagsleben ziehen. Hoffentlich kann dieses Kapitel einen kleinen aufklärenden Beitrag hierzu leisten.
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6. Kognitive Neurowissenschaften Gehirn zwischen Sex und Gender – Frauen und Männer aus neurowissenschaftlicher Perspektive Kirsten Jordan
Einführung Geschlechtsdifferenzen im Gehirn gehören zu den faszinierendsten und immer wieder aufgegriffenen Forschungsthemen in unserer Gesellschaft. So war das äußerst provozierende Buch des Neurologen Dr. Paul Julius Möbius aus dem Jahre 1904 „Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes“ innerhalb kürzester Zeit achtmal vergriffen. Heutzutage wird der Büchermarkt geradezu überschwemmt mit Büchern wie „Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken“ (Pease and Pease, 2000), die die gängigen Klischees scheinbar wissenschaftlich zu untermauern versuchen. Andererseits gibt es aber auch Literatur, die populärwissenschaftlich und mit neusten Erkenntnissen aus Psychologie und Hirnforschung darauf hinweist, dass diese einseitige Beurteilung der Geschlechter einfach nicht haltbar ist (z.B. Hines, 2004; Kimura, 1999; Quaiser-Pohl and Jordan, 2004). Der folgende Beitrag „Gehirn zwischen Sex und Gender“ folgt diesen Büchern. Er gibt aus aktueller neurowissenschaftlicher Sicht einen Überblick, inwieweit unser Gehirn und unser Verhalten in Bezug auf Geschlechterdifferenzen biologisch determiniert sind und welche sozialen und Umweltfaktoren hier modulierend wirken. Dabei wird zum einen die durch Sexualhormone modulierte sexuelle Differenzierung des Gehirns während der perinatalen Phase erläutert, gefolgt von hirnanatomischen Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen erwachsenen Frauen und Männern. Weiterhin wird hinterfragt, inwieweit sich Frauen und Männer auch bezüglich ihrer Hirnfunktionen in bezug auf kognitive und emotionale Funktionen unterscheiden. Die Modulierbarkeit dieser Funktionen durch biologische und Umweltfaktoren wird diskutiert. Da die oben genannten Klischees zu den Geschlechterdifferenzen weitverbreitet sind, werden abschließen aktuelle Forschungsergebnisse vorgestellt, die den Einfluss dieser stereotypen Vorstellungen auf kognitive Leistungen und zugrunde liegende Hirnfunktionen untersuchen.
Sexuelle Differenzierung des Gehirns Die pränatale und frühe postnatale Phase der Gehirnentwicklung und deren Modulation durch Sexualhormone sind äußerst interessant im Hinblick auf die zu besprechenden Ge-
G. Steins (Hrsg.), Handbuch Psychologie und Geschlechterforschung DOI 10.1007/978-3-531-92180-8_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010
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schlechtsdifferenzen im Gehirn. Bereits 1947 interessierte sich der französische Wissenschaftler Alfred Jost für den Einfluss der Sexualhormone auf die sexuelle Differenzierung von Gehirn und Verhalten und führte erste Untersuchungen an Kaninchen durch (Jost, 1947). Wir wissen heute, dass Sexualhormone neuronale Prozesse einerseits über die Bindung an intrazelluläre Rezeptoren beeinflussen, die als Transkriptionsfaktoren die Genexpression modulieren. Andererseits können sie über schnelle so genannte nichtgenomische Mechanismen die Aktivität Liganden-gesteuerter Ionenkanäle verändern und darüber schnellen Einfluss auf neuronale Prozesse nehmen. Phoenix et al. prägten auf der Basis ihrer Studien zu pränatalen Effekten von Testosteron die heute noch gängigen Begriffe der organisierenden und aktivierenden Effekte der Sexualhormone (Phoenix, Goy R.A., Gerall, A.A. and Young, W.C.1959). Organisierende Effekte der Sexualhormone resultieren in permanenten strukturellen Veränderungen im Gehirn, die sich in geschlechtsspezifischem Verhalten äußern können. Diese Effekte beeinflussen die neuronale Entwicklung insbesondere während der perinatalen Individualentwicklung. Dahingegen modulieren aktivierende Effekte von Sexualhormonen die funktionelle Interaktion innerhalb einer bereits existierenden neuronalen Struktur. Bei den aktivierenden Effekten der Sexualhormone handelt es sich im Gegensatz zu organisierenden Effekten um eher subtile Veränderungen der neuronalen Verbindungen, der Produktion, Ausschüttung von Neurotransmittern oder der Sensitivität von Rezeptoren (Arnold and Breedlove, 1985; Rupprecht, 2003). In der Forschung zur sexuellen Differenzierung des Gehirns sind insbesondere jene Hirnregionen gut untersucht worden, die im Zusammenhang mit dem Sexualverhalten stehen und daher auch die größten Sexualdimorphismen aufweisen. Melissa Hines grenzt drei sich gegenseitig nicht absolut ausschließende Theorien der sexuellen Differenzierung neuronaler Strukturen und des Verhaltens voneinander ab: die klassische und die graduelle Theorie, sowie die der aktiven Feminisierung (Collaer and Hines, 1995; Hines, 2002). Nach der klassischen Theorie bewirken Androgene (z.B. Testosteron) die Maskulinisierung des Gehirns, während ihre Abwesenheit eher mit neuronaler Feminisierung verbunden ist. Damit nimmt man in diesem Modell auch eine passive Feminisierung an, da zur Entwicklung weiblicher neuronaler Strukturen keine hormonelle Stimulation notwendig sei. Das aktive Feminisierungsmodell postuliert im Gegensatz dazu, dass auch die Hormone der Ovarien (z.B. Östradiol) von Bedeutung bei der aktiven Feminisierung neuronaler Schaltkreise und des Verhaltens sind. Die sogenannte graduelle Theorie nimmt an, dass Sexualhormone nicht selbst das Verhalten zwischen den Geschlechtern beeinflussen, sondern vielmehr die Variabilität innerhalb eines Geschlechtes. Danach sollten z.B. Frauen, die pränatal hohen Androgenkonzentrationen ausgesetzt waren, bessere räumliche Fähigkeiten haben als Frauen, die niedrigen ausgesetzt waren. Eine aktuelle Metaanalyse zeigt, dass bei Mädchen mit dem androgenitalen Syndrom (engl: Congenital Adrenal Hyperplasia), die aufgrund eines genetischen Defekts pränatal einer erhöhten Androgensekretion ausgesetzt waren, insbesondere solche räumlichen Fähigkeiten verbessert sind, in denen Männer durchschnittlich bessere Leistungen erbringen als Frauen (siehe Abb. 1) (Puts, McDaniel, Jordan, and Breedlove, 2008).
6. Kognitive Neurowissenschaften Abbildung 1:
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Typische räumliche Aufgabe, in der Männer in der Regel besser abschneiden als Frauen. Zwei der vier Vergleichsfiguren auf der rechten Seite lassen sich in die linke Originalfigur überführen (Aufgabe aus dem Mental Rotations Test (Peters et al., 1995)
Die klassische Theorie, auch Aromatisierungs-Hypothese, ist diejenige, die die Forschung zur sexuellen Differenzierung am nachhaltigsten beeinflusst hat. Darum soll sie hier näher vorgestellt werden. Nach dieser Theorie wird während der ersten Wochen der pränatalen Entwicklung im genetisch männlichen Organismus Testosteron produziert. Auslöser dieses Prozesses ist eine Genregion auf dem Y-Chromosom des Vaters, die sogenannte SRY-Region (Sex Determining Region of the Y-Chromosom). Interessanterweise sind bis zu diesem Zeitpunkt die Gonaden so angelegt, dass sich daraus sowohl männliche als auch weibliche Keimdrüsen bilden können. Die Aktivierung der SRY-Genregion führt zur Produktion des Testis Determining Factor (TDF), der wiederum in den Gonaden deren Differenzierung zu männlichen Keimdrüsen, den Hoden fördert. Diese produzieren daraufhin Testosteron welches nun im Gehirn zum großen Teil zu Östradiol aromatisiert wird. Östradiol induziert überwiegend über genomische Mechanismen strukturelle Veränderungen in bestimmten, insbes. mit dem Sexualverhalten assoziierten Hirngebieten, z.B. durch Bildung von Proteinen zum Aufbau neuer Synapsen oder durch Modulation des Neuritenwachstums und Apoptose-Prozessen. So gibt es basierend auf tierexperimentellen Studien gegenwärtig Modelle, nach denen Östradiol z.B. im sexuell dimorphen Kerngebiet (sexually dimorphic nucleus, SDN) der präoptischen Region des Hypothalamus die Exprimierung des Gens für das Enzym Cyclooxygenase-2 (COX-2) induziert. Dies führt über verschiedene Schritte zur vermehrten Bildung dendritischer Spines an Neuronen und somit insgesamt zu einer mehr als doppelt so hohen Anzahl an denritischen Spines und stärker verzweigten Astrozyten im SDN in den Gehirnen männlicher Ratten im Vergleich zu weiblichen (Schwarz and McCarthy, 2008). Neben diesen klassischen, hier beispielhaft skizzierten und gut bekannten Mechanismen der sexuellen Hirndifferenzierung über Östradiol ist insbesondere bei Primaten, und auch beim Menschen bekannt, dass Testosteron selbst an entsprechende Androgenrezeptoren (AR) bindet und ähnliche Prozesse auslöst (Zuloaga, Puts, Jordan, and Breedlove, 2008). Zuloaga et al. kommen in ihrer Übersichtsarbeit zu dem Schluss, dass Testosteron in fast allen sexuell dimorphen Hirnstrukturen auch über die AR-Rezeptoren agiert. So ist z.B. der posterodorsale mediale Kern der Amygdala bei männlichen Ratten etwa 1,5-mal größer als bei weiblichen. Dieses Kerngebiet erhält olfaktorische und pheromonale Signale und ist für die männliche sexuelle Erregung wichtig. Die Kastration adulter männlicher Tiere oder die Testosteronbehandlung weiblicher Tiere führt zur entsprechenden Größenveränderung dieses Kerns. Hippokampale Strukturen weisen ebenfalls einen sexuellen Dimorphismus
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Kirsten Jordan
auf, welcher aber offenbar über die verschiedenen Spezies variiert. Bei einigen Mäusestämmen ist der Gyrus dentatus männlicher Tiere größer als der von weiblichen Tieren, während bei Ratten zwar die Morphologie dieses Hirngebietes zwischen weiblichen und männlichen Tieren differiert, nicht aber die Größe (Zuloaga et al., 2008). Auch die Expression von bestimmten Genen auf den Geschlechtschromosomen selbst führt zur sexuellen Differenzierung des Gehirns. So produzieren männliche fetale mesencephale neuronale Zellkulturen mehr dopaminerge Neurone als weibliche und zwar, wenn Sie dem Gehirn entnommen wurden bevor die Keimdrüsen Testosteron produzieren konnten (Arnold et al., 2004; Bocklandt and Vilain, 2007). Im tierexperimentellen Bereich gibt es also einige klare Hinweise auf eine prä- und postnatale sexuelle Hirndifferenzierung, insbesondere durch die Sexualhormone Östradiol und Testosteron, aber auch durch die Geschlechtschromosomen. Diese Prozesse führen zu nachweisbaren strukturellen Veränderungen in den verschiedenen Hirnregionen. Für die psychologische und neurowissenschaftliche Forschung am Menschen ist nun von Interesse, inwieweit sich diese Erkenntnisse auf den Menschen übertragen lassen und welche hirnanatomischen Geschlechtsdifferenzen aufgrund solcher Prozesse beim Menschen zu finden sind.
Hirnanatomische Geschlechtsdifferenzen Während die hirnanatomischen sexuellen Differenzen bei Tieren relativ klar beschrieben sind, gibt es beim Menschen noch viele inkonsistente Forschungsergebnisse (siehe auch Kap. 5 in diesem Band). Allerdings ist es unumstritten, dass das männliche Gehirn auch nach Einberechnung der Körpergröße noch ca. 10-15% größer ist als das weibliche. Dies geht einher mit einer insgesamt größeren Anzahl an Neuronen, einer dickeren Hirnrinde und einem entsprechend größeren Rindenvolumen (siehe Tabelle 1) (Cosgrove, Mazure, and Staley, 2007; Pakkenberg and Gundersen, 1997; Zilles, 2006). Nach Korrektur der Hirngröße finden andere Autoren dafür allerdings eine größere kortikale Dicke und eine regional höhere Konzentration grauer Substanz im Kortex bei Frauen im Vergleich zu Männern (Im et al., 2006; Luders et al., 2005). Luders et al. beschreiben auch eine stärkere Gyrifizierung weiblicher Gehirne, insbesondere frontaler und parietaler Cortexbereiche. Diese stärkere Gyrifizierung könnte z.T. den Größenunterschied der Gehirne von Frauen und Männern ausgleichen (Luders et al., 2004). Nach Goldstein et al. finden sich insbesondere in denjenigen Hirnregionen Geschlechtsunterschiede, für die aus tierexperimentellen Arbeiten bekannt ist, dass sie pränatal einer hohen Sexualhormonkonzentration ausgesetzt sind (Goldstein et al., 2001). Im Kleinhirn scheint der Größenunterschied zwischen den Geschlechtern allerdings nicht mehr vorhanden zu sein (Nopoulos, Flaum, O'Leary, and Andreasen, 2000).
6. Kognitive Neurowissenschaften Tabelle 1:
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Ausgewählte globale hirnanatomische Differenzen zwischen Frauen und Männern (Pakkenberg and Gundersen, 1997; Zilles 2006), *p Frauen* 2.61± 0.21 mm Männer > Frauen* 19.3± 3.3 Mrd. Männer > Frauen* kein Unterschied kein Unterschied
Neben den globalen hirnanatomischen Parametern sind für die Interpretation von Geschlechtsunterschieden auf Verhaltensebene insbesondere regionale Differenzen von Interesse. Hirnregionen, die das Sexualverhalten steuern, wie die im ersten Abschnitt beschriebene präoptische Region im Hypothalamus, weisen auch beim Menschen die entsprechenden Geschlechtsunterschiede auf. So sind die dort gelegenen Kerngebiete, beim Menschen INAH 1-4 (Nucleus interstitialis des anterioren Hypothalamus) genannt, bei Männern signifikant größer als bei Frauen. Seit vielen Jahren sind für das Corpus Callosum (CC), die Verbindung zwischen den beiden Hirnhemisphären, verschiedenste Geschlechtsunterschiede beschrieben worden. So wird z.B. diskutiert, dass der posteriore Teil des Corpus Callosum, das Splenium bzw. der Isthmus bei Frauen größer ist als bei Männern bzw. eine andere Form hat (Allen, Richey, Chai, and Gorski, 1991; DeLacoste-Utamsing and Holloway, 1982; Steinmetz et al., 1992). Insbesondere in den populärwissenschaftlichen Medien wird dies gern als Beweis für eine geringere Lateralisierung weiblicher Gehirne und unterschiedliche kognitive Leistungen angesehen (Bishop and Wahlsten, 1997). Die Geschlechtsunterschiede im Corpus Callosum sind allerdings nach wie vor sehr umstritten. Zilles betont, dass die absolute Fläche des CC bei Frauen und Männern nahezu identisch ist und daher wegen des kleineren weiblichen Gehirns ein lediglich relativer Größenunterschied besteht (Zilles, 1972; Zilles, 2006). Dorion et al. weisen darauf hin, dass die unterschiedlichen Methoden, die zur Erfassung der Größe des Corpus Callosum zur Anwendung kommen, auch zu dieser inkonsistenten Datenlage beitragen können (Dorion, Capron, and Duyme, 2001). Bishop et al. finden in einer Metaanalyse über 49 Studien keine Geschlechtsunterschiede, unabhängig davon, ob die Daten bzgl. der Gehirngröße adjustiert wurden oder nicht (Bishop and Wahlsten, 1997). In einer aktuellen Studie wurde an einer großen Gruppe von Probanden (n=200) der bereits seit langem im Fokus der Forschung stehende Zusammenhang zwischen der Größe des Corpus Callosum und Maßen zur Hirnasymmetrie untersucht (Welcome et al., 2009). Welcome und Kollegen fanden keinen Zusammenhang zwischen Geschlecht, Händigkeit und der Größe des Corpus Callosum, wohl aber eine Beziehung zwischen der Asymmetrie in Verhaltensleistungen und verschiedenen nach der Händigkeit unterteilten Subgruppen der Probanden (Welcome et al., 2009). Möglicherweise sind also individuelle Unterschiede im Corpus Callosum im Zusammenhang mit der Händigkeit und der Verhaltensasymmetrie wesentlich ausgeprägter als reine Geschlechtsunterschiede. Die Amygdala, ein Kerngebiet des limbischen Systems, das sowohl mit der Verarbeitung emotionaler Prozesse als auch mit der emotionsabhängigen Konsolidierung von Gedächtnisinhalten in Zusammenhang steht, ist ebenfalls eine in Bezug auf Geschlechtsdiffe-
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renzen viel untersuchte Hirnstruktur (Güntürkün and Hausmann, 2007). Allerdings ist auch hier die Datenlage eher inkonsistent (Cosgrove et al., 2007). Während Goldstein et al. ein größeres Volumen der Amygdala bei Männern beschreiben, finden andere Autoren keine Geschlechtsunterschiede (Goldstein et al., 2001). Ebenso wie die Amygdala gehört der Hippokampus, eine der bekannten Lern- und Gedächtnisregionen, zu den Hirnbereichen mit einer großen Anzahl an Sexualhormonrezeptoren (Taber, Murphy, Blurton-Jones, and Hurley, 2001). Frühe tierexperimentelle Studien zeigten bereits, dass sich die Dichte der dendritischen Spines in den Pyramidenzellen der CA1-Region (Corpus Ammonis) über den Zyklus der Ratte verändert. Humanstudien bzgl. der Hippokampusgröße sind allerdings eher widersprüchlich. Es werden sowohl ein größerer Hippokampus bei Männern als auch gar keine Geschlechtsunterschiede beschrieben (Cosgrove et al., 2007). Auch für andere Hirnregionen wie das Planum temporale, den inferioren frontalen Gyrus oder den Okzipitallappen werden Geschlechtsunterschiede diskutiert, insbes. im Hinblick auf Hirnasymmetrien. So wird für die Region hOc5 (human occipital Cortex 5), eine Region, die im Zusammenhang mit der Bewegungs- und Raumwahrnehmung diskutiert wird, für Männer eine stärkere Asymmetrie beschrieben als für Frauen (Amunts et al., 2007). Amunts et al. vermuten daher, dass die besseren Raumkognitionsleistungen der Männer mit einer besseren Verarbeitung visuell-räumlicher Informationen in diesen Hirnregionen zusammenhängt. In bezug auf Sprachaufgaben vermuten Hammers et al. das die z.T. besseren Leistungen der Frauen im Zusammenhang mit einem größeren Volumen im inferioren frontalen Gyrus stehen könnten (Hammers et al., 2007). Im Hinblick auf Hirnasymmetrien in verschiedenen sprachrelevanten Regionen finden andere Autoren allerdings keine Geschlechtsunterschiede (Chiarello et al., 2009; Wallentin, 2009). Die Gehirne von Frauen und Männern unterscheiden sich also sowohl auf der globalen als auch regionalen Ebene. Allerdings sind diese Differenzen oft relativ gering und nicht immer zu finden. Dies gilt, wie beschrieben, auch für den Zusammenhang verschiedener hirnstruktureller Merkmale mit kognitiven und emotionalen Fähigkeiten. Allerdings ist auffällig, dass meist entweder Differenzen in eine Richtung oder keine Differenzen beschrieben werden, nicht aber unterschiedliche Richtungen angegeben werden. Es könnte also so sein, dass die beschriebenen hirnanatomischen Differenzen zwischen Frauen und Männern zwar sehr klein und daher nicht in jedem Design zu finden sind, aber doch vorhanden sind. Sorgfältige Metaanalysen, die Studien nach ausgewählten Kriterien zusammenfassen, könnten hier möglicherweise mehr Klarheit bringen. Wie Welcome und Kollegen zeigen (Welcome et al., 2009), könnten aber auch individuelle Unterschiede hier eine größere Rolle spielen als Geschlechtsunterschiede.
Hirnfunktionelle Geschlechtsdifferenzen Differente Hirnstrukturen könnten nun zu differenten Hirnfunktionen und unterschiedlichen mentalen Leistungen führen. Stabile Differenzen zugunsten der Männer finden sich, wie oben bereits beschrieben bei der sogenannten Mentalen Rotation, dem mentalen Drehen
6. Kognitive Neurowissenschaften
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von dreidimensionalen Figuren (weitere Ausführungen dazu in Kap. 5, in diesem Band). Abbildung 1 zeigt eine typische Aufgabe zur Mentalen Rotation. Bildgebende Untersuchungen weisen nun zunächst einmal darauf hin, dass sowohl Frauen als auch Männer die für räumlich-kognitive Aufgaben typischen Hirnregionen, nämlich insbesondere parietale, frontale und temporale Bereiche nutzen und diese Netzwerke sehr ähnlich sind (siehe auch Abb. 2). Einzelne regional z.T. sehr unterschiedliche Differenzen werden dann oft mit unterschiedlichen Lösungsstrategien der beiden Geschlechter assoziiert. Denn eine Erklärungshypothese besagt, dass Frauen und Männer bei diesen Aufgaben unterschiedliche Lösungsstrategien anwenden, wobei die der Frauen offenbar die ungünstigere ist (u.a.Casey, 1996). So wird beispielsweise für Frauen im Vergleich zu Männern eine stärkere Aktivität z.B. in rechtsseitigen inferioren frontalen, bilateralen inferioren temporalen, parietalen und linksseitigen ventral prämotorischen Hirnregionen beschrieben. Die Autoren dieser Studien vermuten, dass in den mentalen Rotationsaufgaben Frauen eher seriell schlussfolgernde, verbal analytische oder auch Imitationsstrategien anwenden als Männer. Stärkere hämodynamische Antworten bei Männern im Vergleich zu Frauen sind diesen Studien zufolge in rechtsseitigen parietalen, linksseitigen motorischen, parieto-occipitalen Hirnarealen und im lingualen Gyrus zu finden, welche eher mit visuellen und holistischen Strategien in Verbindung gebracht werden (Jordan, Wustenberg, Heinze, Peters, and Jancke, 2002; Seurinck, Vingerhoets, de Lange, and Achten, 2004; Thomsen et al., 2000). Trotz der Variabilität bzgl. einzelner regionaler Differenzen deuten diese Ergebnisse darauf hin, dass die auf der Basis von Verhaltensstudien vermuteten unterschiedlichen Lösungsstrategien von Frauen und Männern sich auch auf der neuronalen Ebene abbilden lassen. Auch scheint es so zu sein, dass Geschlechtsdifferenzen eher in für die Aufgabe unspezifischen Bereichen, wie dem inferioren frontalen Gyrus, im inferioren temporalen Gyrus und im primären Motorcortex zu finden sind, weniger in den Kernregionen räumlich-kognitiver Aufgaben, dem inferioren und superioren parietalen Cortex, einschließlich dem intraparietalen Sulcus (Jancke and Jordan, 2007). Natürlich können oben bereits erwähnte hirnstrukturelle Geschlechtsdifferenzen ebenso wie unterschiedliche Sexualhormonkonzentrationen zu hirnfunktionellen Geschlechtsdifferenzen beitragen. Auf letztere wird im folgenden Abschnitt näher eingegangen. Geschlechtsunterschiede in verbalen und Sprachleistungen sind weniger ausgeprägt als jene zum räumlichen Denken (siehe auch Kap. 5). Tendenziell weisen Frauen bessere sprachliche Leistungen z.B. beim verbalen Gedächtnis auf. Die wenigen bildgebenden Untersuchungen dazu sind allerdings noch widersprüchlich. Ragland et al. zeigten 2001 in einer PET-studie, dass bessere verbale episodische Gedächtnisleistungen von Frauen insbes. beim freien Abruf vom gelernten Worten mit einem stärkeren zerebralen Blutfluss in mittleren temporalen Hirnregionen einhergingen (Ragland, Coleman, Gur, Glahn, and Gur, 2000). In einer verbalen Arbeitsgedächtnisaufgabe waren trotz vergleichbarer Leistungen stärkere hämodynamische Antworten bei den Frauen in präfrontalen Arealen zu registrieren (Goldstein et al., 2005). Ebenfalls vergleichbare Leistungen zwischen Frauen und Männern, aber eine stärkere Aktivierung im parietalen und okzipitalen Hirnregionen bei Männern fanden Bell et al. (2006) in einer numerischen Arbeitsgedächtnisaufgabe. Neben dem verbalen Gedächtnis werden, wenn auch nicht unwidersprochen Geschlechtsunterschiede in Aufgaben zur Sprachproduktion, insbesodere in Wortflüssigkeitsaufgaben (siehe Kap. 5) beschrieben. Die Ergebnisse der bildgebenden Untersuchungen sind
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allerdings ebenfalls keineswegs eindeutig. So werden Geschlechtsunterschiede beispielsweise sowohl mit stärkerer Bilateralität der Aktivierungsmuster bei Frauen als auch bei Männern beschrieben (Bell, Willson, Wilman, Dave, and Silverstone, 2006; Shaywitz et al., 1995). Andere Autoren finden keine Differenzen in den neuronalen Aktivierungsmustern von Frauen und Männern (Weiss et al., 2003). Eine neuere Arbeit betont auf der Basis ihrer Ergebnisse, dass zwar Geschlechtsdifferenzen auf der Gruppenebene zu finden waren, die allerdings auf der individuellen Ebene verschwanden (Kaiser, Kuenzli, Zappatore, and Nitsch, 2007). Sommer et al. finden in zwei Metaanalysen keine hirnfunktionellen Lateralisierungsdifferenzen zwischen Frauen und Männern bei verschiedenen Sprachaufgaben (Sommer, Aleman, Somers, Boks, and Kahn, 2008; Sommer, Aleman, Bouma, and Kahn, 2004). In einer aktuellen Metaanalyse weist Wallentin darauf hin, dass in Studien mit wenigen Probanden (ca. 31 Probanden) eher Geschlechtsdifferenzen beschrieben werden als in Studien mit einem eher großen Stichprobenumfang (ca. 76 Probanden) (Wallentin, 2009). Diese beispielhaft erwähnten Studien machen deutlich, dass bisher keineswegs klar ist, inwieweit die in Verhaltensuntersuchungen gefundenen Geschlechtsdifferenzen zu sprachlichen Aufgaben in bildgebenden Studien zu finden sind. Dies mag u.a. darin begründet sein, dass auch die Geschlechtsunterschiede in den sprachlichen Verhaltensleistungen weniger eindeutig sind als in räumlich-kognitiven Aufgaben. Andererseits zeigen die erwähnten Metaanalysen möglicherweise auch deshalb keine Geschlechtsdifferenzen, weil sich die verschiedenen Studien in vielen verschiedenen Parametern zu sehr unterscheiden. So werden viele verschiedene Sprachaufgaben und Designs genutzt und nicht immer die kognitiven Leistungen erhoben, bzw. keine Unterschiede gefunden. Zahlreiche Studien zur kortikalen Plastizität belegen, dass sich Leistungsdifferenzen z.B. vor und nach einem Training auf neuronaler Ebene abbilden (Kelly, Foxe, and Garavan, 2006). Außerdem könnten einige der auftretenden Widersprüche geklärt werden, wenn auch noch weitere Einflussfaktoren auf kognitive Leistungen und Hirnfunktion wie die aktuelle Sexualhormonkonzentrationen oder auch Faktoren wie Erfahrung und individuelle Strategie in den bildgebenden Studien stärker berücksichtigt werden (siehe auch nächster Abschnitt). Frauen sind emotionaler als Männer. Diese Aussage wird immer wieder gern herangezogen, wenn es um Geschlechtsdifferenzen im Alltag geht (siehe Kap. 3). Auch in der neurowissenschaftlichen Literatur wird dieses Thema seit langem diskutiert, zumal sich Frauen und Männer nicht nur im normalen emotionalen Erleben sondern auch bzgl. der Prävalenz bestimmter psychischer affektiver Störungen wie der Depression unterscheiden (Kessler, 2003). Bezüglich der relativ vielen bildgebenden Untersuchungen zu Geschlechtsdifferenzen im emotionalen Wahrnehmen und Erleben, sei an dieser Stelle auf die sehr gute und kritische Überblicksarbeit von Anne Schienle hingewiesen (Schienle, 2007). Schienle kommt in dieser Arbeit zu dem Schluss, dass es sich bezüglich der Wahrnehmung, dem Erleben und Erinnern von Emotionen offenbar ähnlich wie in Bezug auf kognitive Fähigkeiten verhält. Die Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten sind sowohl auf der Verhaltens- als auch der neuronalen Ebene deutlich größer als die Unterschiede zwischen den Geschlechtern (Schienle, 2007). Einzelne Studien mit zeigen lokale Differenzen in den neuronalen Aktivierungsnetzwerken, die allerdings ein unsystematisches Bild bieten. Viele Untersuchungen finden z.B. eine differentielle Aktivierung in der Amygdala, dem Kerngebiet das insbesondere mit der Wahrnehmung und dem Erleben von Angst assoziiert ist. Obwohl einzelne Studien immer
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wieder auf eine unterschiedliche Verarbeitung emotionaler Reize bei Frauen und Männern hinweisen (Cahill, 2006), finden Metaanalysen insgesamt keine Geschlechtsunterschiede bezüglich der Rolle der Amygdala bei der Wahrnehmung von Emotionen (Sergerie, Chochol, and Armony, 2008). Die Amygdala ist eine Hirnregion, die besonders viele Sexualhormonrezeptoren enthält (Goldstein et al., 2001; Taber et al., 2001). Goldstein et al. schließen aus ihren Untersuchungen, dass Geschlechtsunterschiede im Gehirn insbesondere in den Hirnregionen zu finden sind, die in der pränatalen Phase viele Sexualhormonrezeptoren enthielten und daher deren Einflüssen ausgesetzt waren (Goldstein et al., 2001). Daher könnte ähnlich wie in der Untersuchung kognitiver Fähigkeiten die Berücksichtigung des jeweiligen Sexualhormonspiegels der Probanden einige Widersprüche zwischen den Ergebnissen verschiedener Studien klären (siehe auch nächster Abschnitt). Schienle betont zudem, dass auch methodische Probleme bei der Durchführung und Auswertung dieser Studien zu den Inkonsistenzen führen können. Diese beinhalten das Fehlen direkter statistischer Vergleiche zwischen den Gruppen, Untersuchung nur von Personen eines Geschlecht in einer Studie, ein zu liberales statistisches Vorgehen (z.B. die sehr liberale Interpretation von Effekten, die nicht für multiple Vergleiche statistisch korrigiert wurden), oder die Nichtbeachtung/Erfassung weiterer Einflussfaktoren wie Alter, Persönlichkeit und Lernerfahrung (Schienle, 2007). Männer und Frauen unterscheiden sich also nicht nur im Hinblick auf ihre Hirnstruktur, sondern auch auf hirnfunktioneller Ebene. Auch wenn die Aussagen im Detail noch widersprüchlich sind, so wird doch klar, dass es zwar geringe aber doch nicht vernachlässigbare Geschlechtsunterschiede in bezug auf die neuronalen Netzwerke gibt, die z.B. mit räumlich-kognitiven, sprachlichen und emotionalen Funktionen verbunden sind.
Modulation von Geschlechtsdifferenzen In den vorangegangenen Abschnitten ist dargelegt worden, wie sich die sexuelle Hirndifferenzierung vollzieht und inwieweit hirnstrukturelle und -funktionelle Unterschiede messbar sind. Dabei wurde deutlich, dass die Gemeinsamkeiten zwischen Frauen und Männer die Unterschiede überwiegen, und die gefundenen Differenzen sowohl auf der hirnstrukturellen als auch der funktionellen Ebene noch sehr uneinheitlich sind. Neben bereits erwähnten methodischen Problemen können diese Divergenzen auch darin begründet sein, dass Geschlechtsunterschiede in kognitiven und emotionalen Bereichen verschiedensten Einflussfaktoren unterliegen. Neben den biologischen Faktoren wie den Sexualhormonen spielen hierbei die sozialen und Umweltfaktoren eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die Bedeutung letzterer spiegelt sich in dem Begriff „Gender“ wieder, der im Gegensatz zu dem biologischen Begriff „Sex“ das soziale oder psychologische Geschlecht, z.B. unsere Geschlechterrolle in der Gesellschaft definiert. Im Folgenden werden daher beispielhaft psychologische und neurowissenschaftliche Ergebnisse zur Modulation von Geschlechtsdifferenzen durch Sexualhormone und durch Erfahrung, Training und den Geschlechterrollenstereotyp beschrieben. Sexualhormone beeinflussen nicht nur die sexuelle Differenzierung des Gehirns in der pränatalen Phase, sie modulieren auch kognitive und emotionale Leistungen beim erwach-
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senen Menschen. Auch wenn die Datenlage noch widersprüchlich ist, so kann doch festgestellt werden, dass die räumlichen Leistungen von Frauen über den Menstruationszyklus derart schwanken, das die Leistungen zu Beginn des Zyklus mit niedrigen Östradiol- und Progesteronkonzentrationen besser sind als zur Zyklusmitte mit hohen Konzentrationen beider Hormone. Umgekehrt finden sich bessere verbale Leistungen in der Zyklusmitte im Vergleich zum Zyklusbeginn (Hausmann, 2007). Auch die Ergebnisse der wenigen Untersuchungen, die die hämodynamischen Antworten über den Menstruationszyklus von Frauen innerhalb einer Probandengruppe untersuchen, sind noch relativ uneinheitlich. Dietrich et al. beschreiben für eine räumliche und eine verbale Aufgabe eine prinzipielle Zunahme aktivierter Voxel in der follikulären Phase mit hohen Östradiolkonzentrationen im Vergleich zur Menses mit niedrigen Östradiolkonzentrationen. In einem motorischen Test war die Zunahme der Voxelanzahl deutlich geringer (Dietrich et al., 2001). In einer eigenen Arbeit finden sich über den Zyklus die erwarteten Leistungsveränderungen in der mentalen Rotation, kombiniert mit einer leichten Aktivierungserhöhung in der follikulären Phase in parietalen und motorischen Hirnregionen (Fellbrich, 2004). Schöning et al. beschreiben u.a. einen positiven Zusammenhang zwischen der hämodynamischen Antwort in frontalen und parietalen Hirnregionen und der Östradiolkonzentration sowohl in der Menses als auch in der Lutealphase spontanzyklischer Frauen, die mentale Rotationsaufgaben zu bearbeiten hatten (Schoning et al., 2007). Auch für verbale Funktionen scheint es diese Zusammenhänge zu geben. Fernandez berichten einen positiven Zusammenhang zwischen der Aktivität in superioren temporalen sowie medialen superioren frontalen Hirnregionen und den Progesteronund Östradiolkonzentrationen spontanzyklischer Frauen (Fernandez et al., 2003). Susanne Weis und Kollegen überprüften, inwieweit sich funktionelle zerebrale Asymmetrien bei Frauen über den Menstruationszyklus ändern. Sie zeigten für eine Wort-matching Aufgabe, dass die Inhibition der rechten Hemisphäre durch die linke Hirnhemisphäre in der follikulären Phase mit hohen Östradiolspiegeln geringer war, als in der Menses, d.h. es zu einer geringeren funktionellen Asymmetrie zwischen den Hemisphären kam (Weis et al., 2008). Trotz einiger widersprüchlicher Ergebnisse scheint vor allem die Wahrnehmung negativer emotionaler Ereignisse über den Menstruationszyklus zu variieren (Derntl, KryspinExner, Fernbach, Moser, and Habel, 2008; Pearson and Lewis, 2005). Derntl et al. (2008) vermuten, dass die Frauen in der Lutealphase mit hohen Progesteronkonzentrationen solche Reize stärker wahrnehmen, um ähnlich wie in der Schwangerschaft jedes Risiko für die Entwicklung des Embryos zu vermeiden. Einige bildgebende Studien untersuchten insbesondere Veränderungen in der Wahrnehmung erotischer Bilder, Filme oder männlicher bzw. weiblicher Gesichter über den weiblichen Zyklus. Gizewski et al. zeigten 22 Frauen in verschiedenen Zyklusphasen und 22 Männern erotische bzw. emotional neutrale Filmsequenzen. Prinzipiell reagierten die Männer mit einer stärkeren neuronalen Aktivität. Frauen wiederum reagierten in der midlutealen Phase ihres Zyklus mit stärkeren hämodynamischen Anworten als in der Menses insbesondere im anterioren Cingulum, der linken Insel, und dem orbitofrontalen Cortex, Regionen die in die Verarbeitung emotionaler Reize involviert sind (Gizewski et al., 2006). In einer anderen Studie evozierte die Wahrnehmung männlicher Gesichter in der späten follikulären Phase mit den höchsten Östradiolkonzentrationen eine stärkere Aktivität im rechten medialen orbitofrontalen Cortex im Vergleich zur midlutealen Phase (Rupp et al., 2009). Diese beispielhaft angeführten Studien zeigen zu-
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mindest, dass in Phasen hoher Sexualhormonkonzentrationen eine stärkere neuronale Antwort auf emotionale bedeutsame Stimuli erfolgt, auch wenn noch keine klaren Aussagen über regionale spezifische Veränderungen möglich sind. Sowohl für kognitive als auch für emotionale Funktionen lässt sich also eine Modulierbarkeit des Verhaltens und der Hirnfunktionen durch Sexualhormone nachweisen. Allerdings besteht insbesondere über die neuronalen Effekte bzw. deren regionale Spezifität noch Unklarheit. Auch werden verschiedene Wirkmechanismen der Sexualhormone diskutiert. So ist bekannt, dass Östradiol neben der Modulation der Proteinsynthese und der Neurotransmission auch cerebrovaskuläre Effekte hat (White, 2002). Letztere können auch zu veränderten hämodynamischen Antworten führen, die allerdings, zumindest auf der bildgegebenen Ebene nur schwer von den neuronalen Effekten von Östradiol zu trennen sind. Bzgl. der neuronalen Effekte formulierten Hausmann und Güntürkün 2000 die Hypothese der progesteronvermittelten interhemisphärischen Interaktion. Danach hemmt Progesteron die Aktivität exzitatorischer glutamaterger callosaler Neurone. Dies resultiert insgesamt in der fehlenden Inhibition der kontralateralen Hemisphäre und damit einer Entkopplung der Aktivität beider Hirnhemisphären (Hausmann and Gunturkun, 2000). In der oben erwähnten Arbeit von Weis et al. (Weis et al., 2008) konnten sie diese Hypothese bestätigen. Im Zusammenhang mit der Modulation emotionaler Prozesse wird vermutet, dass Östradiol über Östradiolrezeptoren vom Typ ERß u. a. im Nucleus Raphe des Mittelhirns, die serotonerge Aktivität verstärkt und so den Serotoninstoffwechsel moduliert. Serotonin selbst ist als Modulator für Stimmung und Befindlichkeit bekannt (Deecher et al. 2008; Lasiuk and Hegadoren 2007). Neben den Sexualhormonen modulieren auch Umweltfaktoren kognitive Leistungen. Experimentalpsychologische Studien zeigen zuverlässig, dass Erfahrung und Training die Leistung z.B. in Tests zum räumlichen Denken verbessert (Baenninger and Newcombe, 1989). Neurowissenschaftliche Studien weisen seit langem auf die ungeheure strukturelle und funktionelle Plastizität des Gehirns durch Lernen und Erfahrung hin (Kelly and Garavan, 2005). In einer umfangreichen eigenen Kooperationsstudie mit über 3000 japanischen, kanadischen und deutschen Studenten zeigte sich, dass Studenten der eher naturwissenschaftlich und technisch orientierten Wissenschaften deutlich besser im Test zur Mentalen Rotation abschnitten als Studenten der Geistes- und Sozialwissenschaften (Peters, Lehmann, Takahira, Takeuchi, and Jordan, 2006). Studenten der naturwissenschaftlich und technisch orientierten Wissenschaften beschäftigen sich in ihrem Studium wesentlich intensiver mit z.B. räumlichen Konstruktionsaufgaben. Ein gutes räumliches Vorstellungsvermögen ist in diesen Studiengängen von Vorteil, während es für das Studium der Geistes- und Sozialwissenschaften weniger bedeutsam ist. In einer zusammenfassenden Analyse eigener bildgebender Daten von über 80 Probanden wurde der Einfluss von drei Faktoren auf das neuronale Netzwerk raumkognitiver Prozesse untersucht: das Geschlecht, die Raumkomponente und die räumliche Erfahrung (Jordan and Wüstenberg, 2009). Der Faktor Raumkomponente beinhaltete die zwei raumkognitiven Tests: Mentale Rotation & räumliche Orientierung, während der Faktor Erfahrung Studenten entweder der Geistes- und Sozialwissenschaften (wenig räumliche Erfahrung) oder Studenten der Computervisualistik (viel räumliche Erfahrung) umfasste. Der Faktor Raumkomponente modulierte die neuronale Aktivität in umgrenzten für die jeweilige Aufgabe spezifischen Hirnregionen. Das Geschlecht war mit
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Veränderungen der hämodynamischen Antworten in prämotorischen Hirnregionen assoziiert, die entweder in die Antwortselektion oder auch in motorische Vorstellungsprozesse involviert sind. Die stärkere Aktivierung in diesen Hirnregionen bei den Männern wird im Zusammenhang mit einer eher motorisch orientierten Lösungsstrategie gesehen. Der Faktor „räumliche Erfahrung“ beeinflusste sowohl die Aktivität in Hirnregionen, die mit der Verarbeitung visueller Reize assoziiert sind, als auch Areale die in die motorische Vorstellung und Antwortsteuerung involviert sind (Abb. 2). Studenten mit wenig räumlicher Erfahrung wiesen eine deutlich stärkere Aktivität in diesen Bereichen auf. Es wird daher vermutet, dass in diesen Untersuchungen individuelle Leistungsdifferenzen eher durch unspezifische Wahrnehmungs- und Motorprozesse bestimmt wurden, als durch Unterschiede in den spezifischen raumkognitiven Prozessen. Weniger erfahrene Studenten hatten danach möglicherweise größere Schwierigkeiten, die adäquate perzeptuelle Information aus dem Stimulusmaterial zu extrahieren bzw. die korrekte motorische Antwort zu wählen (Jordan and Wüstenberg, 2009). Abbildung 2:
Raumkognitionsnetzwerk und modulierende Faktoren. Raumkomponente: Rotation (Rot), Navigation (Nav), Geschlecht (Männer, Frauen), Erfahrung (niedrig, hoch) (Jordan and Wüstenberg, 2009)
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Aus der sozialpsychologischen Forschung ist schon lange bekannt, dass Vorurteile, auch Stereotype genannt, die individuelle kognitive Leistung beeinflussen können (siehe auch Kap. 2 in diesem Band). Bereits 1995 zeigten Claude M. Steele und Joshua Aronson, dass allein die Aufforderung, in einem Fragebogen die eigene Rasse anzugeben, die Leistungen in einem Intelligenztest beeinflusste (Steele and Aronson, 1995). Im Zusammenhang mit Geschlechtsdifferenzen ist es daher von besonderem Interesse, inwieweit die anfangs erwähnten Klischees sich auf kognitive Leistungen auswirken können. Angelica Moe zeigte, dass sich die mentale Rotationsleistung von Frauen verbessert, wenn sie vorher darüber informiert wurden, dass Frauen in diesem Test besser sind als Männer (Moe, 2009). In einer eigenen Studie führte allein die Beantwortung von Fragen zu typisch männlichen oder typisch weiblichen Leistungen in einem Fragebogen dazu, dass sich die mentale Rotationsleistung der männlichen Probanden verbesserte und die der Frauen verschlechterte. Zusätzlich wies die männliche Experimentalgruppe signifikant höhere Testosteronkonzentrationen im Speichel auf als die männliche Kontrollgruppe die einen geschlechtsstereotyp-neutralen Fragebogen ausgefüllt hatten (Hausmann, Schoofs, Rosenthal, and Jordan, 2009). Allein die indirekte Aktivierung des Geschlechterrollenstereotyps durch Instruktionen oder Fragebögen führt also zur Veränderung der kognitiven Leistungen. Bisher sind nur zwei bildgebende Studien zum Geschlechterrollenstereotyp publiziert worden. Wraga und Kollegen konfrontierten drei Gruppen von Frauen entweder mit einer positiven, einer neutralen oder einer negativen Nachricht zur Leistungsfähigkeit von Frauen im räumlichen Denken. Anschließend lösten die Frauen mentale Rotationsaufgaben (Wraga, Helt, Jacobs, and Sullivan, 2007). Die Frauen, die die positive Instruktion erhalten hatten, wiesen die besten Leistungen gegenüber den beiden anderen Gruppen auf und zeigten eine stärkere aber fokale Aktivierung visueller Kortexareale. Die Frauen mit der negativen Instruktion wiesen die schlechtesten Leistungen auf und aktivierten insbesondere emotionsrelevante Hirnregionen, wie das anteriore Cingulum oder den orbitalen und medialen frontalen Gyrus stärker als die beiden anderen Gruppen. Krendl et al. informierten ihre Frauen darüber, dass Frauen generell komplexe Mathematikaufgaben besser bzw. weniger gut lösen können als Männer. Dies führte wiederum zu den erwarteten Leistungsveränderungen (Krendl, Richeson, Kelley, and Heatherton, 2008) und zur verstärkten Aktivierung des ventralen anterioren Cingulums bei den Frauen mit negativer Information bezüglich ihrer mathematischen Leistungen. Diese Hirnregionen sind eingebunden in die Wahrnehmung der Bedeutung der emotionalen Information und in die Verarbeitung negativer sozialer Informationen. Es wird daher vermutet, dass die Aktivierung des entsprechenden Stereotyps zum Anstieg der Testangst, d.h. emotionalen Reaktionen führt und dadurch die Leistungen schlechter werden. Andere Erklärungen gehen davon aus, dass durch eine starke Beschäftigung mit dem Stereotyp und dessen Auswirkungen kognitive Ressourcen gebunden werden und damit nicht mehr für die Lösung der Aufgabe zur Verfügung stehen.
Zusammenfassung Klassische und aktuelle Besteller wie die von Dr. Paul Julis Möbius oder dem Ehepaar Allan und Barbara Pease „Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes“ aus dem Jahre
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1904, und „Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken“ von 2000 liegen also ziemlich falsch, wenn sie Geschlechtsunterschiede zwischen Frauen und Männer einseitig und als unveränderbar darstellen. Wie man heute weiß, unterliegen unser Gehirn und unser Verhalten in bezug auf Geschlechtsdifferenzen sowohl dem Einfluss biologischer Faktoren wie den Sexualhormonen als auch dem von Umweltfaktoren wie Erfahrung oder dem Geschlechterrollenstereotyp. Die z.Z. noch relativ uneinheitlichen aber oft schon in eine Richtung weisenden Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass diese Differenzen relativ klein, aber sicher nicht vernachlässigbar sind. So führen pränatale organisierende Effekte von Sexualhormonen und Geschlechtschromosomen zur strukturellen, sexuellen Differenzierung des Gehirns. Diese wiederum stehen im Zusammenhang mit hirnfunktionellen Geschlechtsunterschieden. Andererseits werden letzte auch durch Faktoren wie die aktuellen Sexualhormonspiegel und Faktoren wie Erfahrung, Training und dem Geschlechterrollenstereotyp beeinflusst. Ausgehend von dem heutigen Wissen um die Plastizität des Gehirns ist insbesondere von einer ständigen neurofunktionell und strukturell nachweisbaren Interaktion zwischen biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren auszugehen, die permanent unser Gehirn und damit unser Denken und Verhalten modulieren. Dieser ungeheuren Plastizität haben wir auch die Fähigkeit zum lebenslangen Lernen zu verdanken. Danksagung: Mein herzlicher Dank gilt Sophie Hinrichs und Mathias Brosz für die sorgfältige, kritische Durchsicht des Manuskriptes sowie ihre wertvollen Hinweise.
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7. Allgemeine Psychologie I Sollten geschlechtsspezifische Unterschiede in der Allgemeinen Psychologie berücksichtigt werden? Hilde Haider & Ewelina D. Malberg
Im Folgenden werden wir zunächst auf das zentrale Anliegen der Allgemeinen Psychologie und damit der Grundlagenforschung eingehen. Wir werden die zentrale Annahme herausarbeiten, dass alle menschlichen Informationsverarbeitungsprozesse auf der Basis einheitlicher Mechanismen funktionieren. Die Gültigkeit dieser Prämisse werden wir anhand einiger Studienbeispiele aus der gedächtnispsychologischen Experimentalforschung erläutern, die in erster Linie auf allgemeinpsychologische Fragestellungen und experimentelle Prinzipien abheben. Anhand ausgewählter Forschungsarbeiten werden wir in diesem Zusammenhang vorführen, dass es eine Vielzahl an Studien gibt, die auf geschlechtsspezifische Unterschiede verweisen. So legen etwa die Forschungsarbeiten von Agneta Herlitz und Kollegen (1997, 2000, 2007) eine Überlegenheit von Frauen gegenüber Männern nicht nur im Bereich des episodischen, sondern ebenfalls in einigen Aspekten des semantischen Gedächtnisses nahe. Weitere Studien weisen daraufhin, dass Frauen im Bereich des emotionalen Gedächtnisses und in der Erkennung von fremden Gesichtern überlegen sind. Nach der Schilderung der Befunde zu den behavioralen Differenzen in den Leistungswerten zwischen den Geschlechtsgruppen, werden wir uns der Divergenz zwischen männlichen und weiblichen Gehirnen widmen, die Problemstellung der Funktionalitätsannahme veranschaulichen, und abschließend die Verbindung zu den gedächtnispsychologischen Befunden aus der Geschlechtsforschung herleiten. In der Schlussbetrachtung werden wir die Implikationen dieser Arbeiten für die Allgemeine Psychologie diskutieren. Hier gilt es insbesondere zu erörtern, ob diese Befunde die zentrale Annahme des einheitlichen Funktionierens der menschlichen Informationsverarbeitungsprozesse in Frage stellen, und entsprechend geschlechtsspezifische Unterschiede in der Allgemeinen Psychologie grundsätzlich miteinbezogen werden sollten.
Das Anliegen der Allgemeinen Psychologie Ziel der Allgemeinen Psychologie ist es, menschliches Verhalten zu beschreiben, zu erklären und vorherzusagen. Die grundlegende Prämisse hierbei ist, dass Menschen sich nicht hinsichtlich der Mechanismen und Prozesse unterscheiden, die der Informationsverarbeitung zugrunde liegen. Es wird folglich angenommen, dass menschliches Verhalten auf universalen
G. Steins (Hrsg.), Handbuch Psychologie und Geschlechterforschung DOI 10.1007/978-3-531-92180-8_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010
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Gesetzmäßigkeiten oder Prinzipien beruht, die weder aufgrund von genetischen noch aufgrund von Umweltfaktoren variieren. Dies impliziert jedoch nicht die Annahme, dass alle Menschen sich gleich verhalten oder ihr Erleben identisch ist. Es bedeutet lediglich, dass die Entstehung dieses Verhaltens und Erlebens das Resultat universaler Prinzipien darstellt. Wenn zum Beispiel ein Mann und eine Frau um die Wette laufen, so ist anzunehmen, dass der Mann aufgrund längerer Beine und vermutlich einer größeren Muskelmasse schneller laufen wird. Dennoch setzt ein solcher Wettlauf voraus, dass beide Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht in der Lage sind zu laufen. Die Prozesse, die dem Zustandekommen der Bewegung (also dem Laufen) zugrunde liegen, basieren auf allgemeinen Prinzipien, die durch universale Gesetzmäßigkeiten beschrieben werden können. Hingegen ist die Geschwindigkeit des Laufens von der Ausprägung individueller Faktoren abhängig, wie etwa Muskelmasse, Beinlänge usw.. Wenn wir in der Allgemeinen Psychologie von allgemeinen Prinzipien sprechen, auf denen Verhalten beruht, so beziehen wir uns jeweils auf solche Basisfunktionen, die geeignet sind, das Entstehen spezifischer Verhaltensweisen zu erklären.
Untersuchung der universalen Gesetzmäßigkeiten Im Rahmen der Forschungsthemen der Allgemeinen Psychologie wird also untersucht, welche universalen Gesetzmäßigkeiten der Wahrnehmung, der Aufmerksamkeit, dem Bewusstsein, dem Lernen, dem Gedächtnis, der Sprache oder dem Denken zugrunde liegen, um nur einige der wesentlichen Themen der Allgemeinen Psychologie zu benennen. Um die Forschungsprinzipien der Allgemeinen Psychologie besser zu veranschaulichen, führen wir das folgende Beispiel aus der Gedächtnispsychologie an, das die Art und Weise der Untersuchung der Funktionsweisen des Gedächtnisses in der heutigen allgemeinpsychologischen Forschung verdeutlicht. Stellen Sie sich folgende Situation vor: Jemand fragt sie nach Ihrem letzten Urlaub. Sie überlegen kurz und erzählen dann über die Alpen und die Touren, die sie dort gemacht haben. Wie kann eine solche Leistung vor dem Hintergrund gedächtnispsychologischer Annahmen und Modelle erklärt werden? Tulving (2002) zufolge müssen Sie, um die Information aus Ihrem Gedächtnis abzurufen, so genannte Abrufreize generieren. Diese Abrufreize lösen einen episodischen Abrufmodus aus. So sind sie sich, während Sie von Ihren Erlebnissen berichten, vermutlich der Tatsache bewusst, dass Sie sich erinnern, dass Sie also Dinge berichten, die Sie erlebt haben. Sie sehen Dinge, die Ihnen während der Reise begegnet sind, hören Geräusche, erinnern sich an Gerüche und fühlen vermutlich die Freude, die Sie während Ihres Urlaubs empfunden haben. Es handelt sich dabei um so genannte episodische Erinnerungen, sehr reichhaltige Informationen, die aus dem Gedächtnis abgerufen werden. Anders ist dies vermutlich, wenn Sie in einem Quiz nach der Hauptstadt von Frankreich gefragt werden. In diesem Fall werden Sie wahrscheinlich unverzüglich antworten und sich nicht der Tatsache bewusst sein, dass Sie Informationen aus Ihrem Gedächtnis abrufen. Sie greifen auf verankertes Wissen zu, Faktenwissen, das Sie während ihrer bisherigen Lebensspanne gesammelt und verinnerlicht haben.
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Episodisches versus Semantisches Gedächtnis In Anlehnung an die Arbeiten von Tulving (1972, 1983) handelt es sich bei dem Urlaubsbeispiel um episodische Erinnerungen (oder episodisches Gedächtnis), im Falle des Quiz um semantische Erinnerungen (oder semantisches Gedächtnis). Es wird angenommen, dass das episodische Gedächtnis autonoetisch (selbsterkennend) ist: „Ich bin mir bewusst, dass ich mich an ein Erlebnis in meinem früheren Leben erinnere“. Hingegen wird das semantische Gedächtnis als noetisch (erkennend) angesehen: „Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass ich bestimmte Informationen weiß.“ Weiterhin wird von episodischem Gedächtnis im Sinne eines Langzeitgedächtnisses für autobiographische Ereignisse und den Kontext, in dem sie auftraten, gesprochen. Das semantische Gedächtnis wiederum, bezieht sich auf generische kategoriale Gedächtnisinhalte, wie beispielsweise die Bedeutung von Wörtern und Konzepten. Es wird angenommen, dass episodischem und semantischem Gedächtnis unterschiedliche Gedächtnissysteme oder zumindest unterschiedliche hirnphysiologische Netzwerke zugrunde liegen, die auf unterschiedlichen Enkodierungs- bzw. Abrufprozessen beruhen (z.B. Squire & Knowlton, 1995). Experimente der Allgemeinen Psychologie Eine solche Unterscheidung zwischen episodischem und semantischem Gedächtnis wird durch eine Vielzahl von Experimenten gestützt, unter anderem durch Arbeiten mit dem so genannten „Remember-Know“ Paradigma (Gregg & Gardiner, 1994; Gardiner & Gregg, 1997). In den damit konzipierten Experimenten erhalten die Versuchspersonen Wortlisten, die ihnen entweder zusammen mit (Bedingung der geteilten Aufmerksamkeit) oder ohne (Bedingung der ungeteilten Aufmerksamkeit) eine perzeptuelle Orientierungsaufgabe vorgegeben werden. Nach der Lernphase wird ein Wiedererkennenstest vorgegeben. Neben der Klassifikation in alte (Wörter aus der Lernliste) und neue Wörter (nicht gelernte Wörter) sollen die Versuchspersonen für jedes Wort, das sie als alt klassifizieren, angeben, ob sie es erinnern oder es wissen. Zu beachten ist, dass „Erinnern“ bedeutet, dass die Versuchspersonen sich an den Kontext, in dem das Wort vorkam erinnern; „Wissen“ bedeutet, dass sie nur das Gefühl haben, das Wort könne alt sein. In Experimenten dieser Art zeigt sich, dass die Gedächtnisleistung für Remember-Antworten von der Aufmerksamkeitsbedingung beeinflusst wird: Unter geteilter Aufmerksamkeit wird bei weniger erinnerten Wörter ein Erinnern-Urteil abgegeben als unter ungeteilter. Im Gegensatz hierzu werden die Know-Urteile nicht von einer solchen Manipulation der Aufmerksamkeit beeinflusst. In einem Experiment von Rajaram (1993) prägten sich die Versuchspersonen ebenfalls zunächst eine Wortliste ein. Im Wiedererkennenstest wurde den Versuchspersonen vor jedem Testwort ein subliminaler Prime vorgegeben. Dies bedeutet, die Versuchspersonen sahen für den Bruchteil einer Sekunde (15-30 msek) ein Wort, das aufgrund der kurzen Darbietungszeit aber nicht bewusst verarbeitet werden konnte, sondern lediglich eine Aktivierung im Gedächtnis auslöste. Zwischen Prime- und Test-Wort bestand entweder eine semantische Beziehung oder die beiden Wörter waren unverbunden. Die dahinter stehende Annahme ist, dass eine semantische Beziehung zwischen Prime und Testwort bedingt, dass letzteres durch die Voraktivierung rascher verarbeitet wird. In diesem Experiment zeigte sich im Unterschied zu dem
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ersten hier beschriebenen Experiment, dass der Anteil von Know-Antworten anstieg, wenn zwischen Prime- und Test-Wort eine semantische Beziehung bestand. Hingegen wurden die Remember-Antworten durch diese Manipulation nicht moduliert. Insgesamt kann deshalb davon ausgegangen werden, dass Know-Antworten durch andere experimentelle Manipulationen beeinflusst werden als Remember-Antworten. Eine solche Dissoziation wird in der Allgemeinen Psychologie in der Regel als Beleg dafür interpretiert, dass tatsächlich unterschiedliche Systeme oder Prozesse für spezifische Leistungen (hier episodisches vs. semantisches Gedächtnis) verantwortlich sind. Dies bedeutet, dass durch solche Experimente, die von Tulving eingeführte Unterscheidung zwischen episodischem und semantischem Gedächtnis belegt werden kann. Hirnphysiologische und neuropsychologische Befundlage Weiterhin wird eine solche Unterscheidung durch hirnphysiologische Befunde gestützt, was ebenfalls die Validität der Annahme zum episodischen und semantischen Gedächtnis unterstreicht. Diesen Befunden zufolge (z.B. Buckner & Wheeler, 2001; Damasio, 1989; Donaldson, 2004; Fuster, 1997; Nyberg, Cabeza & Tulving, 1996; Schacter & Wagner, 1999) werden beim episodischen Erinnern durch Abrufreize spezifische Areale im Frontalhirn aktiviert. Diese wiederum aktivieren ihrerseits über subkortikale Bahnen Areale im Temporallappen und Hippocampus. Hierdurch werden spezifische neokortikale Strukturen und im Fall emotionaler Informationen auch die Amygdala aktiviert, so dass Gedächtnisspuren reaktiviert werden, die dann unter Einbeziehung des parietalen Kortex der bewussten Verarbeitung (oder Erinnerung) zur Verfügung stehen. Wenn notwendig, werden weitere Suchprozesse unter Beteiligung des Frontalhirns aktiviert. Umfasst die Gedächtnisleistung Erinnerung an Handlungen, so kann auch das Zerebellum und/oder die Basalganglien in den Gedächtnisabruf einbezogen werden. Hingegen wird bezüglich des semantischen Gedächtnisses von vielen Autoren angenommen (z.B. Nyberg et al., 1996; Gabrieli, Russell, Poldrack & Desmond, 1996), dass Erinnerungsleistungen hier insbesondere auf einer Aktivierung im linken, inferioren Präfrontalkortex und der Broca-Areale (Brodmann Areal 44, 45) beruhen. Anzumerken ist, dass die hirnphysiologischen Unterscheidungen durchaus umstritten sind, da einige Studien deutliche Überlappungen zwischen den jeweils angenommenen Netzwerken ausweisen. Neben diesen physiologischen Befunden liegt eine Reihe neuropsychologischer Ergebnisse vor, die ebenfalls eine solche Unterscheidung zwischen episodischem und semantischem Gedächtnis untermauern (z.B. Schacter, 2001). So zeigen viele Arbeiten, dass bei Amnestikern eher das episodische Gedächtnis beeinträchtigt ist, weniger das semantische. Des Weiteren scheint dieses Gedächtnissystem stärker für Alterungsprozesse anfällig zu sein. Das semantische Gedächtnis bleibt auch im Alter in der Regel unbeeinträchtigt. Insgesamt sprechen die Befunde aus den drei verschiedenen Bereichen für eine Unterscheidung zwischen episodischem und semantischem Gedächtnis. Dies bedeutet, hier wird ein universales Prinzip, ein Prinzip von der Existenz zweier verschiedener Gedächtnisarten postuliert, die den Gedächtnisleistungen zugrunde liegen. Wiederum ist es bedeutsam anzumerken, dass in der Gedächtnispsychologie angenommen wird, dass eine solche Unterscheidung zwischen episodischem und semantischem Gedächtnis für alle Menschen unabhängig von ihrem Alter, ihrem Geschlecht oder ihrer Intelligenz gelten, so wie bei unserem
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Beispiel mit dem Laufwettkampf angenommen wird, dass jeder Wettbewerber in der Lage ist zu laufen. Potentielle Unterschiede in den Leistungswerten sind lediglich von der individuellen Variabilität abhängig bzw. darauf zurückführbar. Hingegen liegen der Grundleistung die gleichen, universalen Verarbeitungsprozesse zugrunde. Die hier dargestellten Ausführungen zeigen auf, dass man Experimente, neurophysiologische Analysen und neuropsychologischen Untersuchungen nutzt, um empirische Belege für die postulierten universalen Prinzipien zu erhalten. Im Weiteren folgt ein kurzer Exkurs über die experimentelle Methode, um zu verdeutlichen, warum und wie hiermit universale Prinzipien hinsichtlich ihrer Gültigkeit überprüft werden können.
Die Experimentelle Methode Wie bereits erwähnt, werden in der Grundlagenforschung Theorien generiert, die versuchen, die empirische Welt durch Aufzeigen von allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten zu erklären. Dabei entspricht es der Grundmethodik dieser Theoriebildung, dass ein zu erklärendes Phänomen (Explanandum) dann erklärt ist, wenn es deduktiv aus dem Explanans abgeleitet werden kann (Hempel, 1965). Das Explanans umfasst, unter anderem, Gesetzeshypothesen (allgemeine Wenn-Dann-, bzw. Je-desto-Aussagen) sowie die Antezedenzbedingungen, d.h. konkrete Angaben über spezifische Ausprägungen der Wenn- Komponenten der Gesetzeshypothesen. Anders ausgedrückt: Ein beobachtetes Ereignis wird erklärt, wenn die entsprechende Beobachtung unter eine (oder mehrere) empirisch bestätigte allgemeine Gesetzesaussage über Regelmäßigkeiten subsumiert werden kann. In der Grundlagenforschung werden innerhalb verschiedener Forschungsbereiche Experimente durchgeführt, die es ermöglichen, derartige Gesetzeshypothesen wie Ursache-Wirkungsbeziehungen zu analysieren. Solche Kausalanalysen erlauben es zu prüfen, ob in der Theorie postulierte universale Prinzipien korrekte (widerspruchsfreie) Vorhersagen menschlichen Verhaltens ermöglichen. Nur dann, wenn die Theorie eine widerspruchsfreie Vorhersage erlaubt, kann sie beibehalten werden. Wer mit Hilfe einer Theorie Phänomene erklären kann, kann auch zukünftige Ereignisse prognostizieren. Denn kennt man bewährte Gesetzeshypothesen und ist es möglich, die Ausgangssituation als Antezedenzbedingungen zu erfassen, so lassen sich Aussagen logisch deduktiv ableiten, die zukünftige Ereignisse beschreiben. Die Theorie definiert also diesen Ursache-Wirkungszusammenhang, auch als Kausalität bezeichnet, wodurch die Gültigkeit der Theorie überprüft werden kann. Die Kausalität (ein kausales Ereignis) hat eine feste zeitliche Richtung, die immer von der Ursache ausgeht, auf die die Wirkung folgt. Oben hatten wir das subliminale priming erwähnt. Die Befunde zeigen, dass ein kurzfristig dargebotener Reiz (Ursache) eine raschere Verarbeitung eines semantisch mit dem prime-Wort assoziierten Zielwortes (Wirkung) verursacht. Die Ursache ist als eine besondere Art der Bedingung zu betrachten, nämlich eine zeitlich streng vor der Wirkung liegende Gegebenheit. Schließlich wird im Zusammenhang mit der pragmatischen Relevanz von der Möglichkeit der Manipulation und insofern der Beeinflussung empirischer Zusammenhänge gesprochen. Denn aufgrund des Prognostizierungspotentials, das einer bewährten Theorie entstammt, vermag man die zukünftigen Ereignisse zu steuern bzw. auf verschiedene Ursa-
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che-Wirkungs-Zusammenhänge hin zu untersuchen. Übertragen auf unser priming-Beispiel bedeutet dies: Wenn die semantische Beziehung zwischen prime- und Zielwort die Ursache für die raschere Verarbeitung ist, dann sollte man keine Beschleunigung finden, wenn zwischen prime- und Ziel-Wort keine semantische Beziehung besteht. Entsprechend prüft man, ob der Effekt dann und nur dann eintritt, wenn die in der Theorie formulierte Antezedenzbedingung hergestellt ist. Um sicherzustellen, dass nur die im Experiment hergestellte Antezedenzbedingung für das Entstehen des Effekts verantwortlich ist, werden alle potentiellen Störvariablen kontrolliert. Entsprechend werden Experimente in der Regel in Experimentallaboren durchgeführt. Geschlecht oder Alter der Versuchspersonen werden über die verschiedenen Experimentalbedingungen hinweg stabil gehalten. Eines der ältesten gedächtnispsychologischen Experimente, das diese Kontrolle der Störvariablen ebenso wie Besonderheiten von Experimenten verdeutlicht, ist das klassische Experiment von Ebbinghaus (1885) zum Vergessen. Ebbinghaus nutzte nur sich selbst als Vp. Immer zur gleichen Tageszeit und nur, wenn er feststellte, dass er motiviert und ausgeschlafen war, führte er das Experiment durch. Als Lernmaterial dienten ihm 3-buchstabige Kunstsilben (Kontrolle der Assoziabilität). In den vielen Versuchsdurchgängen lernte er am ersten Tag eine Liste entweder in einer variierenden Anzahl von Durchgängen (z.B. einmal, zweimal oder 50mal pro Tag die gleiche Liste). Jedes Mal, wenn er die Liste lernte, maß er die Zeit, die er hierfür benötigte. Exakt 24 Stunden nach der ersten Lerneinheit, lernte er die Liste erneut; dieses Mal allerdings bis zu einem vorab festgelegten Kriterium der vollständig korrekten Wiedergabe der Liste. Als abhängige Variable nutzte er die Zeitersparnis (d.h., die Zeit, die er bis zur vollständigen Wiedergabe benötigte minus der insgesamt am ersten Tag aufgewendeten Lernzeit). Die Ergebnisse zeigten eine lineare Beziehung zwischen der Anzahl der Listenwiederholungen am ersten Tag und der Zeitersparnis am zweiten Tag. Diese Befunde sind in die Literatur als so genannte Lernkurve eingegangen. Ebbinghaus begründete seine neue Wissenschaft vom Gedächtnis. Seine Analysen gelten zwar als extremstes experimentelles Vorgehen, doch die Ergebnisse seiner Forschung konnten an Gruppenstudien repliziert werden. Er entwickelte damit eine Methodologie durch Verwendung der sinnlosen Silben in der Hoffnung ein „reines“ Maß des Gedächtnisses zu erhalten- ein Gedächtnismaß, was frei von jeglichen Störvariablen im Sinne der früheren Lernerfahrungen und Assoziationen wäre, die jemand in die experimentelle Gedächtnisaufgabe mitbringt. Wie das oben beschriebene Vorgehen zeigt, war Ebbinghaus nicht nur der Forscher, er war auch seine eigene Versuchsperson. Er führte die Aufgabe selbst aus und bestimmte seine eigenen Leistungsmaße. Dadurch entkamen seine Rohwerte jeglichen Verzerrungen, die aufgrund der interindividuellen Varianz hätten zustande kommen können. Wie bei der näheren Betrachtung der Studien zu geschlechtsspezifischen Unterschieden deutlich wird, können extreme Werte innerhalb einer Streuung, das Gesamtbild der Gruppenleistung beeinflussen.
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Geschlechtsspezifische Unterschiede Obwohl in der Allgemeinen Psychologie nach universalen Prinzipien menschlicher Kognition unabhängig vom Geschlecht gesucht wird, zeigen sich in einzelnen Bereichen der psychologischen Untersuchungen stabile Unterschiede zwischen Männern und Frauen; Unterschiede, die nach den Vorgaben der experimentellen Anforderungen, vielfach repliziert und untermauert werden konnten. An dieser Stelle ist die zentrale Prämisse der Allgemeinen Psychologie anzuführen, dass alle menschlichen Informationsverarbeitungsprozesse auf der Basis einheitlicher Mechanismen funktionieren. Hinsichtlich der nicht zu übersehenden Befunde, die Leistungsunterschiede zwischen Geschlechtern aufdecken, kommt eine für die Allgemeine Psychologie sehr wesentliche Frage auf: Lassen sich diese über Untersuchungen hinweg stabilen geschlechtsspezifischen Unterschiede auf unterschiedliche Verarbeitungsmechanismen zurückführen? Diese Frage ist zentral, da in diesem Fall die Annahme universaler und für alle Menschen gültiger Prinzipien verletzt wäre. Um die experimentellen Designs als kontrollierbar und die Effekte als vorhersehbar und gültig erachten zu können, braucht es an Klärung derartiger Problemstellungen. Es ist von großer Relevanz, ob die bestehenden Unterschiede zwischen Männern und Frauen in Leistungswerten in einer Planung einer experimentalen Untersuchung mitbedacht werden sollen. Wie groß ist die Effektgröße und kann damit die Varianz der Geschlechtsgruppen, die Rohwerte eines Experiments zu allgemeingültigen Fragenstellungen beeinflussen? Und falls ja, in welchen Bereichen der Allgemeinen Psychologie sollte der Geschlechtseinfluss als eine bedeutsame Moderatorvariable in die Untersuchungsplanung miteinbezogen werden? Wegen all dieser Fragen sind Befunde der Geschlechterforschung auch für die Allgemeine Psychologie bedeutsam. Denn wenn diese Unterschiede tatsächlich existieren, was ist dann die Ursache dafür? Es ist genau diese Ursache, die für die konzeptuelle Ausrichtung der allgemeinpsychologischen Forschung der entscheidende Punkt ist. Denn worin lassen sich die Unterschiede begründen? In der Biologie? Sind sie angeboren, auf Gene und Hormone zurückführbar? Ist die Neuroanatomie in ihrer Struktur und Funktion divergent? Und falls ja, wie ließe es sich mit der zentralen Prämisse der Allgemeinen Psychologie, dass alle menschlichen Informationsverarbeitungsprozesse auf der Basis einheitlicher Mechanismen funktionieren, in Einklang bringen? Oder liegt der Unterschied in der Sozialisierung begründet? All diese Fragen stellen eine enorme methodische Herausforderung an die Forscher dar, denn all diese Aspekte sind ineinander verwoben, bedienen sich einer reziproken Beziehung, bedingen sich gegenseitig, so dass eine Analyse der Gewichtung einzelner Faktoren extrem schwierig ist. Im Weiteren gehen wir auf die Problematik der Geschlechtsunterschiede ein, und berichten über die bisherigen Befunde in diesem Bereich, die wiederum von nicht wenigen Widersprüchen durchzogen sind. An dieser Stelle sei darüber hinaus angemerkt, dass nicht selten Studien, die keinen signifikanten Unterschied zwischen Männern und Frauen vorfanden, ignoriert oder gar nicht veröffentlicht werden. Vor diesem Hintergrund ist die folgende Darstellung der Befunde zu geschlechtsspezifischen Unterschieden mit Bedacht zu behandeln.
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Die räumlich-visuelle und mathematische Kompetenz Einer der sicher ältesten und robustesten Befunde ist, dass Männer in räumlich-visuellen und mathematischen Aufgaben besser abschneiden als Frauen (z.B. Geary, 1998). In einer Meta-Analyse mit insgesamt 286 Studien aus den Jahren 1974 bis 1993 konnten Voyer, Voyer und Bryden (1995) eine hoch-signifikante Überlegenheit von Männern bei mentalen Rotationsaufgaben (Shepard & Metzler, 1971), räumlichen Wahrnehmungs- und räumlichen Visualierungsaufgaben nachweisen. Diese Überlegenheit ist mit der Pubertät nachzuweisen und scheint einen der stabilsten geschlechtsspezifischen Unterschiede darzustellen (Karnovsky, 1974). Allerdings geht dieser Unterschied mit einer erhöhten Varianz bei männlichen Untersuchungsteilnehmern einher (Weiss et al., 2003). Dies bedeutet, dass die besten Jungen besser sind als die besten Mädchen; gleichzeitig sind aber die schlechtesten Jungen auch schlechter als die schlechtesten Mädchen. Wenn die extremen Werte heraus partialisiert werden, verschwindet die Überlegenheit des männlichen Geschlechts. Gleichzeitig tritt dieser Unterschied nur auf, wenn ein striktes Zeitkriterium während der Aufgabenbearbeitung vorgegeben wird. Einen interessanten Befund lieferte die Studie von Casey et al. (1995), die aufzeigte, dass die Überlegenheit der Männer in räumlich-visuellen Tests eliminiert wurde, wenn die Effekte zur mentalen Rotationsaufgabe statistisch entfernt wurden (heraus partialisiert). Dies führte zu der Vermutung, dass Leistungsunterschiede in konkreten räumlich-visuellen Aufgaben, einen erheblichen Einfluss auf die sich manifestierte, generelle Leistung in den räumlich-visuellen Tests ausüben, und somit als eine Art Störvariable fungieren können. Je nachdem, wie groß der Effekt einer derartigen Störvariable wäre, könnten die Untersuchungsergebnisse einer verzerrten Einschätzung unterliegen, eine Unterschätzung bzw. Überschätzung der Werte zur Folge haben. Eine Störvariable, die einen Einfluss auf die Beziehung zwischen Ursache (z.B. Art der Testung) und Wirkung (die gemessene erbrachte Leistung in der Testung) ausübt, nennt man die Moderatorvariable, eine Variable die die Stärke der Wirkbeziehung bestimmt. In unserem Fall könnte die Rotationsaufgabe einen moderaten Einfluss auf die Leistungswerte in den mathematischen und räumlichvisuellen Aufgaben haben, und den generellen Wert zur mathematischen und räumlichvisuellen Kompetenz verzerren. Derartige Moderatoreffekte sind bei den experimentellen Untersuchungen immer zu beachten, und falls notwendig, ist nach dem Kausalitätsprinzip die Stärke ihrer Einwirkungen zu überprüfen, indem man sich einzelnen Testaufgaben widmet, und ihren statistischen Beitrag für den generellen Effekt untersucht. Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass die räumlich-visuelle Fertigkeit aus vielen einzelnen Komponenten (wie Generierung, Transformation, Navigation, Bildscannung, Zusammenspiel der verbalen, räumlichen und bildlichen Trials) besteht (Halpern & Collaer, 2005), die bei derartigen Geschlechtsvergleichen unabdingbar herangezogen werden sollen. Analog ist die mathematische Kompetenz sehr heterogen, da diese von einfachen Multiplikationsaufgaben über verbale Aufgaben bis hin zur Geometrie reicht. Ein weiterer interessanter Befund legt dar, dass die Leistung von Frauen in räumlichvisuellen Aufgaben mit Intelligenz korreliert, während dies bei Männern nicht der Fall ist (Geary et al., 2000). Dies legt nahe, dass die Überlegenheit der Männer bei mentalen Rotationsaufgaben auf so genannten inherenten (oder angeborenen) Fertigkeiten beruhen könnte, während Frauen diese Kompetenz vermutlich erlernen müssen. Lawrence (2005, zit. nach
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Halpern et al., 2007) vertritt die Meinung, dass Männer ein „angeborenes“ Potential besitzen, die räumlich-visuellen und mathematischen Fragestellungen erfolgreich zu meistern. Folglich wurden viele Studien durchgeführt, um zu erforschen, ob die Differenzen in den Rohwerten sinken, wenn Frauen mit niedrigen Werten in räumlich-visuellen Tests (meistens SAT: Scholastic Aptitude Test) einem Trainingsprogramm unterzogen werden. In der Tat konnte ein Lerneffekt beobachtet werden. Dies könnte darauf hinweisen, dass Frauen diese Kompetenz erst in einem Lernprozess erwerben bzw. verbessern. Dieser Befund einer männlichen Überlegenheit im räumlich-visuellen Bereich ist unter anderem auch deshalb bedeutsam, da sich zeigt, kontrolliert man den Einfluss von Intelligenz, dass räumliche Fähigkeiten direkt die Fertigkeiten beim Lösen arithmetischer Probleme beeinflussen (Geary, 2000; Galea & Kimura, 1993). An dieser Stelle ist eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen den Leistungswerten in den psychologischen Tests und der tatsächlichen Lernleistung in der Schule zu bemerken. Studien zeigten, dass Mädchen in jedem Fach, inklusive Mathematik und Naturwissenschaft bessere Notenleistungen erwarben als Jungen (Dwyer & Johnson, 1997; Kimball, 1989). Im Vergleich schnitten die Mädchen in vielen standardisierten Tests für Verbale und Mathematische Aspekte des SAT-Tests schlechter ab. Zudem wiesen Mädchen schlechtere Werte in den mathematischen Tests auf, wenn die Aufgabeninhalte sich nicht mit dem Schulmaterial überlappten. Diese Diskrepanz lässt darauf schließen, dass die standardisierten Tests dazu tendieren, die mögliche Performanz der Frauen zu unterschätzen, während die der Männer überschätzt wird. Die Befunde, dass die Trainingsmaßnahmen diese Effektsunterschiede im SAT aufheben können, und dass die Frauen bei Vorgabe der gerichteten Instruktionen beim Erlernen eines neuen mathematischen Materials besser abschneiden als ohne die Vorgabe, untermauern die Hypothese, dass die räumlich-visuellen und mathematischen Kompetenzen bei den Männern inherenter Natur sind. Weiterhin konnte eine Überlegenheit von Männern auch bei der Orientierung in unbekanntem Gelände gezeigt werden. Während Männer sich sowohl an geometrischen Informationen, Himmelsrichtungen und so genannten Landmarks (auffällige Merkmale oder Objekte in der Umgebung) orientieren, nutzen Frauen fast ausschließlich die Landmarks. In einem Experiment konnten Sandstrom, Kaufmann und Huettel (1998) zeigen, dass sich weibliche Versuchspersonen in einem Labyrinth deutlich schlechter orientieren konnten, wenn ihnen in einer Experimentalbedingung keine Landmarks zur Verfügung standen. Die männlichen Versuchspersonen hingegen zeigten in dieser Bedingung keine Einbußen bei der Orientierung. Sie schienen ihre Orientierung viel stärker auf geometrische Information auszulegen. Ein solcher Befund stützt folglich die Annahme, dass Frauen andere Hinweisreize zur Orientierung nutzen als Männer. Es wäre dem Befund zufolge zu erwarten, dass Männer Frauen überlegen sind, wenn sie im Wald den Weg zurück zum Auto finden müssen. Kein Unterschied sollte hingegen bestehen, wenn beide den Weg vom Kölner Dom zurück zu ihrem Hotel finden müssen. Ein solcher Unterschied zeigt sich ebenfalls bei Ratten, was für einen recht stabilen geschlechtsspezifischen Unterschied spricht (Williams & Meck, 1991). Die gravierende Entwicklung der Computerspiele eröffnete den Forschern eine weitere Möglichkeit, um die räumlich-visuelle Kompetenz in den Kontext der virtuellen Welten der Computerspiele einzubetten und Geschlechtsunterschiede zu überprüfen. Die enorme Popularität des „online learning“ Kon-
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zepts führte zur Entwicklung einer Vielfalt an online Simulationen von Ereignissen aus der realen Welt. In diesen werden die Probanden einer Breite von verschiedenen Aufgaben ausgesetzt, in denen die „praktischen“ Fähigkeiten wie Navigation und Orientierung in einem unbekannten Terrain z.B. mittels einer militärischen Exkursion untersucht werden können (Macedonia, 2002; Wrobel, 2005). Die Forschungsliteratur aus dem Bereich der Verarbeitung von 3-D virtuellen Umgebung konnte konsistente Befunde für eine Überlegenheit männlicher Probanden darlegen (Cutmore et al., 2000). An dieser Stelle ist allerdings anzumerken, dass Manipulationen des Untersuchungskontexts (z.B. ein sehr großer Bildschirm) diesen Effekt reduzieren oder sogar eliminieren können, und die Leistungswerte der Geschlechtsgruppen einander angleichen (Tan, Czerwinsk, & Robertson, 2006). Das Resultat der männlichen Überlegenheit in räumlich-visuellen Aufgaben konnte somit sowohl in den realen als auch virtuellen Welten gezeigt werden. In einer Arbeit mit bildgebenden Verfahren (mit Magnetresonanztomographie MRT; Grön et al., 2000) konnten diese Unterschiede insofern bestätigt werden, als sich zeigte, dass während der Navigierungsaufgabe die Hirnaktivität im Bereich des rechten parietalen und rechten präfrontalen Kortex bei den Frauen stärker ist, während bei den Männern Areale in der parahippokampalen Region aktiv sind. Der präfrontale Kortex wird mit Leistungen des Arbeitsgedächtnisses in Verbindung gebracht. Entsprechend steht dies mit der Annahme in Einklang, dass Frauen bei der Orientierung die Landmarks im Gedächtnis aktiv repräsentieren. Hingegen wird die linksseitige hippokampale Aktivierung mit der Repräsentation geometrischer Reize in Verbindung gebracht, aber auch mit der Aktivierung von episodischer Gedächtnisinformation. Letztere Annahme ist vermutlich eher unwahrscheinlich, da in verschiedenen Arbeiten aus der Arbeitsgruppe um Herlitz gezeigt wurde, dass Frauen im Bereich des episodischen Gedächtnisses Männern überlegen sind (z.B. Herlitz, Nilsson & Bäckman, 1997; Herlitz, Airaksinen & Nordström, 1999; Herlitz & Rehnman, 2008; Larsson, Lövdén & Nilsson, 2003; Nyberg, Habib & Herlitz, 2000; Rehnman & Herlitz, 2007).
Die verbale Kompetenz Unter dem Begriff der verbalen Kompetenz versteht man sowohl die sprachliche und schriftliche Ausdrucksfähigkeit als auch die verbal-analoge Fragenverarbeitung. Zahlreiche Studien zeigten die Überlegenheit der Mädchen in der sprachlichen und schriftlichen Ausdrucksfähigkeit. Sowohl im Schreiben, Lesen, als auch dem sprachlichen Umgang mit der Sprache zeigten Mädchen über das Alter hinweg eine stabile, deutliche Überlegenheit (Willingham & Cole, 1997, Bae et al., 2000, Hedges & Nowell, 1995). Dieser Effekt konnte international untermauert werden (Mullis et al., 2003; Ogle et al., 2003). Allerdings in Bezug auf die verbal-analogischen Aufgaben – Fragenarten, die eher mit einer perzeptuellen Repräsentation als mit sprachlichem Ausdruck zusammenhängen – schnitten die Mädchen schlechter ab als Jungen. Ähnlich der Art der verbalen Aufgabe, konnten Unterschiede in bestimmten Arten des Gedächtnisses aufgedeckt werden. In verschiedenen Forschungsarbeiten konnten Herlitz und Kollegen zeigen, dass Frauen bei episodischen Gedächtnisaufgaben signifikant bessere Leistungen erbrachten als Männer. Beispielsweise erhielten in einer Studie von Herlitz et al.
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(1997) 1000 männliche und weibliche Versuchspersonen zwischen 35 und 80 Jahren episodische, semantische und Arbeits- Gedächtnisaufgaben. Die Ergebnisse zeigten, dass geschlechtsspezifische Unterschiede im Sinne einer Überlegenheit von Frauen im Bereich des episodischen Gedächtnisses nachzuweisen waren, nicht jedoch im Bereich des Arbeits- oder semantischen Gedächtnisses. Die Altersvergleiche zeigten, dass dies insbesondere im mittleren und höheren Alter der Fall war. Darüber hinaus ergab eine detaillierte Analyse, dass die besseren Leistungen von Frauen eher im Bereich der freien Erinnerung weniger im Bereich des Wiedererkennens nachzuweisen waren. Ein solcher Befund legt nahe, dass es sich um Unterschiede in der Enkodierung, weniger um Unterschiede beim Abruf handelt. Kritisch einzuwenden ist, dass Leistungsunterschiede im episodischen Gedächtnis möglicherweise durch Unterschiede in verbalen Fähigkeiten bedingt sind (z.B. Larsson et al. 2003). Denn, wie bereits erwähnt, ein stabiler geschlechtsspezifischer Unterschied ist, dass Frauen bei verbalen Aufgaben Männern überlegen sind (z.B. Hyde & Linn, 1988). So konnten Weiss et al. (2003) in einer aktuellen Arbeit zeigen, dass bei Aufgaben, die die lexikale und semantische verbale Flüssigkeit erfassen, Frauen signifikant besser abschneiden. In einer internationalen Studie, die mit Viertklässlern in insgesamt 33 Ländern durchgeführt wurde, konnten Mullis, Martin, Gonzalez und Kennedy (2003) in allen teilnehmenden Ländern bessere sprachliche Fertigkeiten bei Frauen nachweisen. Allerdings zeigte sich in den Arbeiten von Herlitz et al. (1997) die Überlegenheit der Frauen in den episodischen Gedächtnisaufgaben auch dann, wenn die verbale Flüssigkeit der Versuchspersonen heraus partialisiert wurde. Dies legt nahe, dass die Unterschiede in den Gedächtnisleistungen nicht allein auf Unterschiede in den verbalen Fähigkeiten zurückgeführt werden können (aber s. Larsson et al., 2003). Diese Annahme wird ebenfalls durch eine Arbeit von Voyer, Postma, Brake und Imperato-McGinley (2007) gestützt, die zeigt, dass Frauen auch bei räumlich-visuellen, episodischen Gedächtnisaufgaben besser abschließen als Männer (also bei Aufgaben, die nur einen geringen verbalen Anteil aufweisen). Die Versuchspersonen erhielten in diesen Studien die Aufgabe, die Position von Objekten zu behalten. Die Befunde zeigen auch für diese Aufgaben eine Überlegenheit von Frauen gegenüber Männern. Des Weiteren lieferten verschiedene Arbeiten Hinweise darauf, dass Frauen beim Erinnern von Gesichtern besser abschließen als Männer (z.B. Lewin & Herlitz, 2002; Rehnman & Herlitz, 2007). Plausibel erscheint in diesem Zusammenhang die Annahme, dass es sich bei diesen geschlechtsspezifischen Effekten um Unterschiede in der Aufmerksamkeitsausrichtung handeln könnte (Herlitz & Rehnman, 2007). In einer weiteren Untersuchung zeigte Herlitz et al. (2004), dass die Frauen sowohl in der freien Erinnerung als auch dem Wiedererkennen, also beim Abruf von Information aus dem episodischen Gedächtnis den Männern überlegen waren. Die Frauen wiesen in dieser Studie ebenfalls bessere Leistung in der verbalen Flüssigkeit, d.h. in einem Teil des semantischen Gedächtnisses auf. Wichtig ist, dass aber Unterschiede im semantischen Wissen nicht nachgewiesen werden konnten. Der Fakt, dass Unterschiede im Abruf, Wiedererkennen und verbalen Flüssigkeit aber nicht im Wissen, festgestellt worden sind, lässt die Autoren über Differenzen in den basalen Gehirnstrukturen spekulieren. Es wird angenommen, dass die Gedächtnisverarbeitung, Enkodierung etc. auf Hippokamus und parahippokampale Strukturen (insbesondere medial-temporal Lappen; MTL) zurückführbar ist (doch dies scheint für den Abruf des Wissens nicht entscheidend zu sein). Vor allem für den Prozess der Enkodierung wird der MTL als das Grundareal angesehen. Der
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MTL ist aber auch bei Prozessen des Abrufs involviert. Der Hippokampus ist ebenfalls für Abruf und Wiedererkennung bedeutsam. Viele Untersuchungen zeigten zudem, dass die verbale Flüssigkeit ebenso vom Hippokamus wie hippokampalen Gyrus abhängt, und nicht von frontalem Sulcus, wie es häufig angenommen wird. Im Unterschied hierzu scheint das semantische Wissen eher die lateralen Teile des temporalen und parietalen Kortex, als die hippokampale Region zu beanspruchen (z.B. Thompson-Schill, 2003). In Anbetracht der dargestellten Befunde, könnte man schließen, dass die geschlechtsspezifischen Unterschiede im Bereich des Gedächtnisses, in diesem Fall eine Überlegenheit der Frauen, sich auf den Hippokampus und MTL zurückführen lassen. Diese Interpretation wird durch Forschungsergebnisse gestützt, dass der Hippokampus das Areal der geschlechtsspezifischen Unterschiede darstellt, bezüglich sowohl der anatomischen Differenzen in der grauen Substanz als auch der Differenz in der Sensitivität auf Umgebungsfaktoren (McEwen, 2000). Diese Befunde liefern einen möglichen Hinweis auf Unterschiede in der Funktionalität des Gehirns, als eine latente Variable, die das Manifest (behaviorale Werte) zu bedingen vermag.
Theoretische Erklärungen für die geschlechtsspezifischen Unterschiede In Anbetracht der hier dargelegten Evidenzen und Problemstellungen, ist grundsätzlich zu fragen, welche theoretischen Erklärungsansätze für diese Geschlechterunterschiede herangezogen werden. Folglich wird versucht, die Überlegenheit von Frauen bei verbalen und Männern bei räumlichen Aufgaben im Kontext der evolutionären, psychosozialen und biologischen Erklärungsansätzen zu erklären: In der Forschung wird nicht selten schon in der frühen Kindheit nach geschlechtsspezifischen Unterschieden gesucht. Dies geschieht, um die Wechselwirkung biologischer und psychosozialer Faktoren einerseits zu reduzieren, andererseits um aufzuzeigen, inwieweit die Unterschiede „von Anfang an“ bestehen. In diesem Zusammenhang wird argumentiert, dass sich die geschlechtsspezifischen Befunde, die in frühen Jahren registriert werden konnten, auf die angeborene Natur des jeweiligen Geschlechts, seine Biologie und evolutionäre Entwicklung und nicht auf psychosozialen Einfluss zurückführen lassen. Allerdings bedeutet es nicht zwangsläufig, dass die im Erwachsenleben, aber nicht im Kinderalter beobachteten Differenzen lediglich in psychosozialen Faktoren begründet sind. Während der ganzen Adoleszenz kommen unterschiedliche Prozesse zum Tragen, wie beispielweise hormonale Weiterentwicklung oder das Wachstum des Frontallappens. Auf die Entwicklung des Frontallappens wirken dabei sowohl biologische als auch psychosoziale Komponenten ein, was die Überprüfung des Kausalitätsprinzips äußerst schwierig macht. Verschiedene Studien zeigen, dass sowohl Mädchen als auch Jungen relativ früh kognitive Fertigkeiten entwickeln, vor allem bezüglich des quantitativen Denkens und des Wissens über die Stellung der Objekte im Raum (Spelke, 2005). Was die Differenzen zwischen den Geschlechtern angeht, zeigten Galsworthy et al (2000) eine Überlegenheit von Mädchen sowohl in verbalen als auch nichtverbalen Aufgaben auf. Allerdings betrug die Stichprobenvarianz 3% für die verbale Fertigkeit und 1% für die nichtverbal konzipierten Aufgaben. Diese als klein zu bezeichnende Effektgrößen legen nahe, dass es sich dabei um keine gravierenden Differen-
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zen handelt, was darauf hindeuten könnte, dass die geschlechtsspezifischen Unterschiede erst im späteren Verlauf des Lebens entweder aufgrund der Modullierung oder verzögerten Manifestation zur Geltung kommen. Im Generellen ist es sehr schwierig die geschlechtsspezifischen Unterschiede auf die Gültigkeit einer der drei Annahmen hin zu überprüfen. Wie bereits erwähnt wurde, es besteht ein Zusammenspiel zwischen Genetik und Umgebung, die in einer reziproken Beziehung stets auf das menschliche Verhalten einwirken.
Evolutionäre Erklärung Fangen wir mit der Annahme an, dass die Unterschiede evolutionär verursacht sein könnten. Hier wird der adaptive Wert von Verhalten und mentalen Prozessen betont und entsprechend postuliert, dass sich die Funktionsweisen spezifischer Spezies aus der evolutionären Geschichte erklären lassen. Bezogen auf die männliche Überlegenheit im räumlichvisuellen Bereich ist die Annahme schlicht, dass Männer mehr als Frauen das Haus verließen, um Jagen zu gehen und deshalb eine verbesserte räumliche Wahrnehmung benötigten was zu einer verbesserten räumlichen Auffassung geführt hatte (z.B. Maittand et al., 1997). Darüber hinaus schreiben viele Evolutionspsychologen die räumlich-visuelle Überlegenheit der Männer, ihrem evolutionären Drang nach der zwischen-männlichen Konkurrenz zu. Die Konkurrenz um sozialen und ökologischen Einfluss zwang die Männer zu reisen und neue Gebiete zu erforschen, was in Anpassungen im Frontallappen resultierte und ihre Überlegenheit in den Navigationsaufgaben erklären könnte (Chagnon, 1988). Allerdings, nimmt man wiederum auf die beobachteten geschlechtsspezifischen Unterschiede in den psychologischen Tests Bezug, wird von vielen Autoren darauf hingewiesen, dass die Mehrheit der in der modernen Mathematik und Naturwissenschaft geforderten Kompetenzen kein direktes Ergebnis der Evolution darstellen kann (Geary, 1996), was die Frage aufwirft, wie sich die geschlechtsspezifischen Unterschiede auf diesen Gebieten mit den evolutionären Annahmen, vereinbaren lassen. Viele Autoren vertreten entsprechend die Auffassung, dass die Unterschiede eher aufgrund der Umgebung, des Kontextes in dem das Kind aufwächst, zum Anschein kommen, als dass sie in einem evolutionären Anpassungsaspekt begründet liegen (z. B. Gazzaninga & Heatherton, 2006, Geary, 2007). Dennoch, kann die Betrachtung der evolutionären Entwicklung dabei helfen, wichtige biologische Korrelate aufzudecken und zu erklären, da diese einen erheblichen Einfluss auf die geschlechtsspezifischen Unterschieden ausüben können.
Biologische Erklärungen Einfluss der Hormone Viele Forscher vertreten die Auffassung, dass Hormone einen Einfluss auf die kognitiven Unterschiede nehmen könnten. Hierbei gilt die Beobachtung, dass je nach Art der experimentellen Manipulation und des Inhalts des Untersuchungsgegenstands, sowohl intra- als
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auch interindividuelle Unterschiede auftreten können. Des Weiteren forscht man daran, ob geschlechtsspezifische Unterschiede durch Hormone verursacht sein könnten. Diese Frage ergibt sich aus den Befunden, die nahelegen, dass Androgene und andere Hormone wie Kortisol die Differenzen in der Kognition und im Verhalten aufgrund der prä- und postnatalen Gehirnentwicklung beeinflussen können (Arnold et al. 2004, McEwen et al. 1997). Darüber hinaus, kann eine akute Ausschüttung der Hormone aufgrund einer experimentellen oder medikamentösen Manipulation ebenso divergente Leistungswerte zufolge haben. Die Einwirkung der Hormone ist allerdings sehr komplex um methodisch schwierig zu untersuchen, denn Hormone hängen ihrerseits wiederum in der Regel mit Genetik, Gesundheit, sozialem und ökologischem Kontext zusammen. Hinsichtlich der geschlechtsspezifischen Unterschiede, lieferten viele Studien Evidenzen für den modulierenden Einfluss der hormonalen Verarbeitung auf die kognitiven Leistungswerte. Es wurde gezeigt, dass Frauen und Männer bei kognitiven Testungen in verschiedenem Ausmaß von dem Stresshormon Kortisol beeinflusst werden, wobei die Frauen den Männern gegenüber überlegen sind. Der Hauptbefund bezieht sich dabei auf die erfassten geschlechtsspezifischen Gedächtniseffekte unter Einwirkung von erhöhter Koritsol-Ausschüttung. Forschungsstudien zeigen, dass Stress vor der Testung, das Wiedererkennen und freie Erinnern in Kombination mit Kortisol- Ausschüttung modulieren kann. Demnach folgt, dass je nach der Art der psychophysiologischen Reaktion, entweder eine Verbesserung oder Beeinträchtigung der Gedächtnisleistung zu erwarten sei (Buchanan et al, 2008, McEwen & Kirchbaum, 2001). Verschiedene Studien bekräftigten diese Annahme, indem sie aufzeigten, dass eine erhöhte Ausschüttung von Kortisol (eine psychophysiologische Reaktion) Defizite in der Gedächtnisleistung (vorwiegend in dem episodischen Gedächtnis) zufolge hat, wobei bei einer Aktivierung des autonomen Nervensystems (ANS), ohne die Involvierung des Kortisols (auch eine psychophysiologische Reaktion) derartige Beeinträchtigungen nicht auftreten. Im Gegensatz, konnte bei einer Aktivierung des autonomen Systems (z.B wie beim Laufwettkampf) und bei leichtem Anstieg des Kortisollevels sogar eine Verbesserung der Gedächtnisleistung nachgewiesen werden. Eine Hypothese hierzu besagt, dass Stress die Gedächtniskonsolidierung in der Amygdala erhöhen kann und somit den Abruf verbessert, wohingegen die erhöhte Kortisol-Ausschüttung diesen Prozess hemmt. Es wurden geschlechtsspezifische Unterschiede hinsichtlich der Stressverarbeitung beobachtet. Studien zeigten, dass die Männer auf eine Testung signifikant häufiger mit erhöhtem Kortisolspiegel reagieren als Frauen, und so genannte erhöhte Kortisol-Stress-Responses ausweisen (Kirschbaum et al., 1999). Weitere Studien korrelierten den Kortisolspiegel mit Leistungswerten in Gedächtnisaufgaben. Diese ergaben, dass Männer bei ihrer Leistung in den Gedächtnisaufgaben signifikant stärker durch Vorgabe einer Stressbedingung (z.B. ein Mathetest vor der Testung) gelenkt wurden als Frauen. Entsprechend wiesen Frauen unter der gleichen Bedingung bessere Gedächtniswerte auf, was die Forscher auf den Unterschied in der Streßreaktionsintensität zurückführten (z.B. Wolf et al., 2001). Insgesamt konnte für die gesamte Stichprobe, vom Geschlecht unabhängig, eine negative Korrelation mit dem Kortisolspiegel (Je höher das Kortisollevel, desto schlechter die Leistung) erfasst werden, nur dass die Frauen diese psychophysiologische Reaktion viel seltener zeigten als Männer. Die Gründe für diese geschlechtsspezifischen Unterschiede sind unklar. Allerdings wird darüber spekuliert, ob nicht möglicherweise die weiblichen Sexualhormone einen
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moderaten Einfluss auf diese Differenz, und damit auf die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Kortisol-Stress-Response, ausüben (Wolf, 2006; Kudielka & Kirschbaum, 2005). Folglich könnten die Unterschiede in der Kortisol-Stress-Response einen indirekten Einfluss auf die in verschiedenen Studien (Bsp. Herlitz et al.) beobachteten geschlechtsspezifischen Unterschiede nehmen und einen Indikator dafür liefern, dass die Differenzen nicht durch Unterschiede in den Informationsverarbeitungsprozessen verursacht sind, sondern Folge einer psychophysiologischen Reaktion darstellen. Ein weiteres Forschungsfeld zu den hormonell bedingten geschlechtsspezifischen Unterschieden versucht die Differenzen in den räumlich-visuellen Fertigkeiten zu erforschen. Die Hauptannahme hierbei ist, dass für die Überlegenheit der Männer auf diesem Gebiet, die erhöhte Ausschüttung von Androgenen verantwortlich ist. In diesem Zusammenhang wird häufig über prä- und postnatale hormonelle Einflüsse diskutiert, wobei vorwiegend der pränatale Einfluss von Androgenen einen relevanten Beitrag für die Entwicklung der räumlich-visuellen Überlegenheit leisten soll. Um die Bedeutung von Androgenen für die räumlich-visuelle Fertigkeit zu untersuchen, bedient man sich zweier Methoden. Die erste Untersuchungsmethode bezieht sich auf Experimente mit Frauen, die unter der Krankheit Androgene Hyperplasie (CAH) leiden, bei der die Mädchen während der pränatalen Entwicklung erhöhtem Androgenspiegel ausgesetzt wurden. Mädchen, die mit CAH geboren wurden, zeigen männliche Verhaltensweisen, allerdings sind diese Verhaltensveränderungen in späteren Lebensphasen experimentell schwierig nachzuweisen, da diese Frauen meistens von Geburt an einer entsprechenden hormonellen Gegenbehandlung unterzogen werden. Was die Befunde zu der räumlich-visuellen Fertigkeit anbelangt, weisen die Daten eine Heterogenität auf. Einige Studien deckten einen Vorteil für die Frauen mit CAH auf, andere wiederum konnten derartigen Effekt nicht nachweisen, bzw. nur für einzelne Tests (Hampson, Rovet & Altmann, 1998; Hines et al., 2003, Resnick et al., 1986). Schlussfolgernd lieferten die Studien mit CAH Frauen keinen konsistenten Befund zum moderaten Einfluss der Androgene auf die räumlich-visuelle Leistung, was allerdings mit der Einwirkung der hochintensiven hormonellen Gegentherapien zusammenhängen könnte. Die zweite Möglichkeit, derartige Unterschiede zu untersuchen, basiert auf der Erforschung der Personen, die den Androgenen aufgrund einer Therapie explizit ausgesetzt werden, z.B. Transsexualisten. Van Goozen et al. (1994) fanden heraus, dass sich bei den Frau- zu- Mann Transsexualisten, bei denen Testosteron vermehrt verabreicht wurde, die Performanz in den räumlichvisuellen Aufgaben verbesserte. Eine signifikante Leistungssteigerung in der mentalen Rotationsaufgabe war bereits nach einer 3-monatigen Verabreichungsphase zu verzeichnen. Slabbekoorn et al. (1999) konnten diesen Effekt bestätigen. Weitere Verabreichungen verbesserten die Leistung jedoch nicht. Nach dem Rückgang der Verabreichung blieb die verbesserte Leistung bestehen. Diese Evidenz untermauert die Hypothese zum Einfluss der Androgene auf die räumlich-visuelle Fertigkeiten, und unterstützt die Annahme, dass die Überlegenheit der Männer auf diesem Gebiet in der vermehrten Androgenexpression begründet liegt. Darüber hinaus schien die Unterdrückung der Androgenausschüttung bei Mann-zu-Frau Transsexualisten die räumlich-visuelle Leistung nicht zu beeinträchtigen, was für einen prä- und postnatalen Einfluss der Androgene auf die Kognition und folglich auf die Theorie der inherent bedingten räumlich-visueller Überlegenheit der Männer hinweisen könnte.
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Unterschiede in den neuroanatomischen Strukturen Nachdem wir den Einfluss von Hormonen auf die geschlechtsspezifische Leistung betrachtet haben, gehen wir auf die Frage der Funktionalität ein, d.h. ob sich die geschlechtsspezifischen Unterschiede auf Differenzen in der neuroanatomischen Struktur und Funktion zurückführen lassen. In vielen Studien konnten mit Hilfe bildgebender Verfahren quantitative Unterschiede in der Informationsverarbeitung festgestellt werden. Viele Forscher postulieren die Annahme, dass die geschlechtsspezifischen Unterschiede sich durch Differenzen in den neuronalen Korrelaten erklären lassen. Es wurden zahlreiche Untersuchungen durchgeführt, um eine kausale Verbindung zwischen den geschlechtsspezifischen Unterschieden in der kognitiven Leistung und Differenzen in der Neuroanatomie herzustellen. Unterschiede in der Neuroanatomie zwischen Männern und Frauen werden insgesamt in der Literatur kontrovers diskutiert, da man keine schlussendliche Aussage darüber treffen kann, ob diese Unterschiede ein Resultat behavioraler Differenzen sind oder die Verhaltenseffekte eine Folge der anatomischen Unterschiede darstellen. Obwohl die Stärke der Befunde bezüglich der neuroanatomischen Unterschiede variiert, konnten viele Studien Differenzen im Volumen, Morphologie und Größe einzelner Hirnregionen aufzeigen. Die ersten Studien legten substanzielle Unterschiede in der grauen Substanz offen (Als graue Substanz bezeichnet man die Gebiete des Zentralnervensystems, die vorwiegend aus Nervenzellkörpern bestehen. Die Nervenfasern bilden dagegen in ihrer Gesamtheit die weiße Substanz; Blatter et al., 1995; Coffey et al., 1998; Pfefferbaum et al., 1994). Leonard et al. (2008) berichten hierbei, dass bei den Frauen proportional mehr graue Substanz im Kortex und Zerebellum zu verzeichnen ist. Diese Arbeitsgruppe stellte die These auf, dass der Unterschied im Volumen der grauen Substanz die Ursache für die geschlechtsspezifischen Unterschiede darstellt. Zur Absicherung etwaiger Unterschiede ist es jedoch notwendig, Langzeit-Studien durchzuführen. Es gibt wichtige Befunde, die zeigen, dass es bei Männern mit fortschreitendem Alter zu einer schnelleren Abnahme an grauer Substanz kommt als es bei den Frauen der Fall ist (Coffey et al., 1998; Good et al., 2001; Gur et al., 1991). In diesem Kontext stellt sich die Frage, inwieweit die Unterschiede im Volumen der grauen Substanz mit beobachteten kognitiven Leistungsdifferenzen zusammenhängen können, des Weiteren ob sie auf rein biologische Entwicklungsprozesse zurückführbar sind, und damit funktionelle Bedeutung für die kognitive Leistung hätten. Darüber hinaus wurden Unterschiede in der hemisphärischen Symmetrie beobachtet. Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren (z.B. MRT) zeigten bei Männern ein höheres Volumen an grauer Substanz in der linken Hemisphäre im Vergleich zur rechten Hemisphäre. Frauen hingegen zeigten eher eine bilaterale Verteilung ohne derartige Präferenz, wobei das Volumen der grauen Substanz (im prozentuellen Verhältnis) in beiden Gehirnhälften bei den Frauen insgesamt höher ausfiel. Wichtig ist anzumerken, dass jedoch derartige anatomische Unterschiede nur dann eine Information über neuronale Substrate für sexuelle Differenzen in der Kognition liefern können, wenn die Unterschiede in der Hirnanatomie mit der Performanz in den kognitiven Aufgaben korrelieren. In der Tat konnten Gur et al (1999) in ihrer Studie eine derartige Korrelation nachweisen: Die Performanz bei kognitiven Aufgaben korrelierte mit dem intrakra-
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niellen Volumen sowohl bei Männer als auch bei Frauen. Darüber hinaus berichteten Haier, Jung, Yeo, Head und Alkire (2005) dass höhere Werte in der Allgemeinen Intelligenz mit einem erhöhten Volumen an grauer Substanz im Gehirn assoziiert sind. An dieser Stelle ist zu vermerken, dass Haier et al. (2005) in ihrer Studie aufdeckte, dass sich Frauen und Männer verschiedener Gehirnstrukturen bei der Lösung von komplexen Regionen bedienen. Bei Intelligenztests sind bei Männern stärker der Frontal- und Parietallappen involviert (Brodmann Area), hingegen werden bei Frauen der Frontallappen und das Broca Areal, das sogenanntem Sprachzentrum, am stärksten aktiviert. Es wurden zudem in vielen Studien proportionale Unterschiede in der Größe der Sprachareale (Harasty et al. 1997; Rademacher et al. 2001; Knaus et al. 2006; Vadlamudi et al. 2006) gefunden, was die Überlegenheit der Frauen in vielen verbalen Fertigkeiten erklären könnte. Ein kontroverser Befund bezieht sich auf die Größe des Corpus Callosums (Witelson 1989; Allen et al. 1991; Steinmetz et al. 1992; Driesen & Raz, 1995; Bishop & Wahlsten, 1997; Davatzikos & Resnick 1998; Luders et al. 2003). Das Corpus Callosum (oder auch Balken) ist die große, quer verlaufende Verbindung zwischen den beiden Hirnhemisphären des Großhirns, die für die Kommunikation zwischen den beiden Hemisphären steht. Das Corpus Callosum gehört zur weißen Substanz und besteht beim Menschen aus rund 250 Millionen Nervenfasern. Da bei Männern die weiße Substanz proportional erhöht ist, sollte eigentlich das Corpus Calossum bei Männern ausgeprägter sein. Es zeigte sich jedoch, dass das Corpus Callosum bei den Frauen „knolliger“ und größer ist als bei den Männern. Viele Forscher bildeten anhand dessen die Hypothese, dass das größere Corpus Callosum, welches für die Informationsverarbeitung zwischen zwei Hemisphären verantwortlich ist, für eine Bilateralität der Frauen sprechen könnte. Weiterhin versuchten die Forscher die sogenannte Multifunktionalität der Frauen hiermit zu erklären. So schneiden Frauen beispielsweise in einem Zahlen-Symbol Test, einem Untertest des Wechsler-Intelligenztests für Erwachsene signifikant besser ab als Männer. Viele Befunde legen nahe, dass Frauen eine erhöhte psychomotorische Verarbeitungsgeschwindigkeit bei gleichzeitig erhöhter Genauigkeit aufweisen (z.B. Hampson & Kimura, 1992; Kimura, 1983), was möglicherweise, mit den geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Struktur des Corpus Callosums zusammenhängen könnte. Eine Problematik bei der Messung der Struktur des Corpus Callosums ergibt sich aus seiner unregelmäßigen Form und der Tatsache, dass es bislang keine Methode gibt, um die Unterschiede eindeutig zu erfassen. Entsprechend lassen sich auch Studien verzeichnen, die keinen geschlechtsspezifischen Unterschied in der Größe des Corpus Callosums nachweisen konnten (Goiing & Dixson, 1990; Witelson, 1985). Der Grund für die kontroverse Debatte um die Größe des Corpus Callosums liegt vorwiegend darin begründet, dass der größere Balken, wie bereits erwähnt möglicherweise für die höhere Informationsverarbeitung sprechen könnte, was zu Vorteilen in den verbalen Fähigkeiten führen könnte. Dies könnte erklären, warum nach unilateralen Hirnschäden bzw. Schlaganfällen, die Rehabilitation der verbalen Fertigkeiten bei Frauen schneller voranschreitet, als es bei den Männern der Fall ist. Über die anatomischen Unterschiede in der Gehirnstruktur hinaus, wird mit Hilfe der bildgebenden Verfahren mittels der Messung der regionalen Hirndurchblutung (z.B. Positionsemissionstomographie PET, siehe Birbaumer & Schmidt, 2006) nach funktionellen Unterschieden in den Gehirnstrukturen zwischen den Geschlechtsgruppen gesucht. In solchen
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Untersuchungen werden die Probanden an eine PET Messung angeschlossen, während sie kognitiven Aufgaben ausgesetzt werden. Verschiedene Autoren berichten von geschlechtsspezifischen Unterschieden je nach der Aufgabenstellung (z.B. Kastrup et al., 1999). So konnte eine höhere bilaterale Gehirnaktivität bei der Verarbeitung der verbalen Aufgaben bei Frauen beobachtet werden. Die Männer zeigten bei den gleichen Aufgaben lediglich eine erhöhte Aktivierung in der linken Hemisphäre (Shaywitz et al., 1995). Analog konnten bei den räumlich-visuellen Aufgaben Differenzen festgestellt werden: Die bessere Leistung der Männer in dem räumlich-visuellen Bereich wurde mit erhöhter Aktivierung der assoziativen Areale der rechten Hemisphäre im Frontalhirn in Verbindung gebracht, was die Hypothese der geschlechtsspezifischen Lateralisierung unterstützt (Gur et al., 2000). Im Unterschied hierzu zeigten Frauen eine bilaterale Aktivierung bei der Verarbeitung der räumlichvisuellen Aufgaben, was für die Theorie der Unterschiede in den verwendeten Lösungsstrategien sprechen könnte. Darüber hinaus konnten Grön et al. (2000) Unterschiede bei der Verarbeitung der 3-D Aufgaben nachweisen, dass Frauen eine stärkere parietale und präfrontale Aktivierung demonstrierten, wohingegen Männer eine höhere Aktivierung im Hippokampus zeigten. Letzteres könnte möglicherweise für einen automatischen Abruf der geometrisch-navigatorischen Hinweisreize sprechen und würde damit die Hypothese der inherenten Fähigkeit bei Männern stützen. Neben der Messung der Hirndurchblutung versucht man die geschlechtsspezifischen Differenzen mittels der Messung des zerebralen Glukosemetabolismus und der Neurotransmitterausschüttung zu erfassen. Der erhöhte Glukosemetabolismus steht für die erhöhte Aktivität der Hirnareale. Auch hier konnten Differenzen nachgewiesen werden: Männer zeigten bei kognitiven Aufgaben höhere Aktivitäten in Basalganglien, Cerebellum und limbischen Regionen, Frauen hingegen bilaterale Aktivierung des cingulären Gyrus und einer limbischen Regionen, die mit Sprache in Verbindung gebracht werden (Murphy et al., 1996). Darüber hinaus konnten Unterschiede in der Transmission des Neurotransmitters DA beobachtet werden, was erneut für einen funktionellen Unterschied sprechen könnte (Adams et al., 2004). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass anatomisch gesehen, das weibliche Gehirn für interhemisphärische (bilaterale) Konnektivität optimiert ist, was möglicherweise die besseren Leistungen in den verbalen Aufgaben erklären könnte. Hingegen weisen Männer eine optimierte Konnektivität innerhalb einer Hemisphäre auf, was ihnen einen Vorteil bei räumlich-visuellen Aufgaben verschaffen könnte. Ebenso scheinen Frauen in der neuronalen Aktivierung eine verstärkte Bilateralität während der verbalen Aufgaben aufzuweisen, während bei den Männern eine unilaterale Aktivierung der assoziativen Kortexareale bei räumlich-visuellen Aufgaben beobachtet wurde.
Die psychosoziale Hypothese Abschließend möchten wir kurz auf die psychosoziale Hypothese eingehen. Man versucht diese Hypothese zu untersuchen, indem man auf Einflussfaktoren fokussiert wie beispielsweise Familienfeld, Einfluss der Nachbar, Peers und Schule, Einwirkung der Stereotypen, Trainingsstudien, übergreifende kulturelle Analysen und Trends über die Zeit hinweg.
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Eine Vielfalt an Studien bestätigte, dass die Erwartungen der Eltern mit dem Eigenkonzept der Kinder hinsichtlich ihrer Fertigkeiten und der Performanz selbst korrelierten (Bleeker & Jacobs, 2004; Parsons et al., 1982). Auch der Ausbildungsgrad der Eltern und ihre persönliche Involvierung in die Schulbildung des Kindes, zeigte eine positive Korrelation mit der Performanz in den räumlich-visuellen Aufgaben auf (Schiller et al, 2002; Muller, 1998). Andererseits scheinen häufig die Kinder eine Prädisposition für gute Leistungen in mathematischen Tests aufgrund des familiären Kontextes zu besitzen. Weiterhin wurde nach dem Grund für die erhöhte Variabilität unter den Jungen gesucht und postuliert, dass die Jungen sensitiver gegenüber ihrer Umgebung sind, was zu den eingangs erwähnten extremeren Werten in der Streuung der männlichen Stichproben führen könnte. Weiterhin werden die Jugendlichen stark durch ihre kollegiale Umgebung beeinflusst. Demnach ist es schwierig festzuhalten, ob verbesserte Leistung in mathematischen Aufgaben auf die erhöhte Zeit zurückzuführen ist, die mit solchen Aufgaben verbracht wird, ob die Kinder mehr Zeit mit solchen Aufgaben verbringen, um dem Stereotyp zu entsprechen und Gruppenakzeptanz sicherzustellen, oder ob die inherente Fertigkeit an sich zu einer erhöhten Bereitschaft führt, mehr Zeit mit mathematischen Aufgaben zu verbringen. Einige Befunde sprechen dafür, dass dieser Unterschied dadurch bedingt ist, dass Männer einfach mehr Erfahrung mit räumlich-visuellen Aufgaben haben als Frauen, während Frauen mehr Erfahrungen mit verbalen Aufgaben sammeln. Ein zweiter Aspekt bezieht sich darauf, dass Frauen ein geringeres Selbstbewusstsein bezüglich ihrer Leistungen im räumlich-visuellen Bereich haben, d. h. schlicht unsicherer sind, ob das anvisierte Ergebnis korrekt ist im Gegensatz zu Männern im verbalen Bereich (O’Connor, 2000). Diese Befürchtung bzw. Unterschätzung der eigenen Fertigkeit mag in den Stereotypen begründet liegen, demzufolge Frauen grundsätzlich kein „Talent“ für räumlich-visuelle und mathematische Bereiche besitzen. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass wenn die Frauen eine mathematische Aufgabe unter einer „high-stereoptype-threat“ Bedingung (Aussetzen der hoch-stereotypen Aussagen, Werbungen, Bildern) lösen sollten, schnitten sie signifikant schlechter ab, als Frauen in einer Kontrollbedingung (Schmader et al., 2004). Demnach konnte der kausale Einfluss einer Manipulation von Instruktionen gezeigt werden, der die Defizite minimieren oder verstärken kann. Trainingsstudien, die behutsam auf die Unterschiede einzugehen versuchten, konnten eine signifikante Verbesserung in der Leistung der Frauen in mathematischem Bereich und mentalen Rotationsaufgaben zeigen (Marulis et al., 2007; Vasta et al., 1996). Diese Ergebnisse weisen auf die Wichtigkeit des sozialen Kontextes hin, und sprechen für die Veränderbarkeit der „inherenten“ Fertigkeitsmechanismen mittels eines gut konzertierten Lernprogramms. Demnach stellt sich erneut die Frage, inwieweit die erfassten Geschlechtsunterschiede bzgl. kognitiver Aufgaben auf die neuroanatomischen, biologischen Faktoren und in welchem Ausmaß auf den reinen Wert der Lernerfahrungen, zurückzuführen sind.
Sollte man in der Allgemeinen Psychologie Geschlecht als Variable einbeziehen? Wie die hier dargelegten Befunde offenlegen, ist es unmöglich konsistente Ursachen für die geschlechtsspezifischen Unterschiede zu erfassen. Biologische und umweltspezifische Fak-
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toren stehen miteinander in einer stetigen Wechselbeziehung, die Gehirnstrukturen unterliegen vom Kindesalter bis zum Erwachsenalter stets einer kontinuierlichen Entwicklung, die sowohl durch biologische als auch psychosoziale Faktoren moduliert wird. Aus allgemeinpsychologischer Sicht ist nicht eindeutig festzuhalten, was die Ursache für welche Wirkung ist; es ist nicht eindeutig zu bestimmen, was und in welchem Ausmaß einen Einfluss auf die kognitiven Leistungen ausübt. Insgesamt konnten geschlechtsspezifische Unterschiede zwar über die Studien hinweg weitestgehend konsistent gezeigt werden, gleichzeitig handelt es sich aber durchweg um sehr kleine Effekte, die sich in ihrem Einfluss und ihrer Modulierbarkeit unterscheiden. Es stellt sich deshalb erneut die Frage, ob man in der Allgemeinen Psychologie Geschlecht als Variable einbeziehen soll. Betrachten wir erneut die Grundprämisse der Allgemeinen Psychologie, dass menschliche Informationsverarbeitung durch universale Prinzipien beschrieben und erklärt werden kann, die weder aufgrund von genetischen, noch aufgrund von Umweltfaktoren variieren. Die Annahme der universalen Prinzipien impliziert dabei, dass die grundlegenden Fertigkeiten aller Menschen den gleichen Mechanismen entspringen, auch wenn die manifeste, beobachtete Leistung aufgrund der Ausprägung individueller Faktoren variieren mag. Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass menschliche Kognition (und dazu zählen ebenfalls räumlich-visuelle oder verbale Fähigkeiten) das Resultat universaler Prinzipien darstellt, solange nicht schlüssig dargelegt werden kann, dass sich die Prozesse, die Verhalten und Erleben zugrunde liegen, zwischen den Geschlechtern grundlegend unterscheiden. Die Präferenz der Männer in den räumlich-visuellen Aufgaben, und der Frauen in den verbalen Bereichen sind in den Begrifflichkeiten der Allgemeinen Psychologie eher als das Resultat der Ausprägungen der individuellen Varianz anzusehen, weniger als das Resultat zweier verschiedener Grundmechanismen, die den Leistungen zugrunde liegen. Bezogen auf das eingangs beschriebene Beispiel des Laufens setzt die Möglichkeit der kognitiven Verarbeitung (anders: die Teilnahme an dem Wettlauf) für alle Teilnehmer die gleichen Prozesse voraus, die dem Zustandekommen der kognitiven oder körperlichen Leistung zugrunde liegen. Hingegen, ist der Leistungswert an sich, wie die Geschwindigkeit des Laufens von der Ausprägung der individuellen Faktoren, die durch Biologie und Umwelt beeinflusst werden können, abhängig. Die Unterschiede in der Funktionalität und Quantität des Gehirns zwischen Männern und Frauen stellen im Sinne der universellen Prinzipien der Allgemeinen Psychologie lediglich eine Art individueller Ausprägung dar, deren Einfluss auf die allgemeinpsychologische Forschung vermutlich eher als gering zu betrachten ist. Dass Frauen die Aufgaben eher bilateral, Männer eher unilateral bearbeiten, legt einen rein funktionellen Unterschied dar, der mit beobachteten Leistungen korreliert. Diese Korrelationen erlauben aber bislang keine Aussagen über Unterschiede in den Mechanismen und Prozessen, die der übergreifenden Informationsverarbeitung, der Wahrnehmung, dem Gedächtnis, dem Denken zugrunde liegen. Allerdings erscheint es methodisch sinnvoll, bei spezifischen Aufgabentypen, wie mentalen Rotationsaufgaben, zu beachten, dass in den zu vergleichenden Stichproben ein ausgeglichenes Geschlechtsverhältnis besteht. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Geschlecht als eine Variable in die allgemeinpsychologischen Untersuchungen einbezogen werden soll. Es bedeutet lediglich, dass man den Einfluss potentieller geschlechtsbedingter Unterschiede durch Konstanthaltung des Einflusses zwischen den Experimentalgruppen eliminiert. Dies ist in allen Bereichen sinnvoll, in
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denen relativ starke Evidenzen für geschlechtsspezifische Unterschiede vorliegen. Darüber hinaus wird eine Bildung homogener Gruppen vorwiegend in den differentialpsychologischen Studien angewendet, die auf die Erforschung der bestehenden menschlichen Unterschiede und nicht der allgemeingültigen Prinzipien ausgelegt sind. Kritisch anzumerken ist zudem, dass viele der hier berichteten Befunde nicht konsistent über verschiedene Studien hinweg nachzuweisen waren. So ist die von Herlitz et al. (1997) nachgewiesene Überlegenheit der Frauen in episodischen Gedächtnisleistungen durchaus umstritten. Sie sollte durch weitere Studien fundiert werden. Unklar ist in diesem Zusammenhang auch, ob die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der episodischen Gedächtnisleistung auf Differenzen in der Stressverarbeitung zurückgehen (z.B. Buchanan 2008; Wolf et al., 2001) und nicht auf die Unterschiede in den Mechanismen, die dem episodischen Gedächtnis zugrunde liegen. Darüber hinaus kann es eine Reihe zusätzlicher Störvariablen geben, die auf die beobachteten Unterschiede einwirken können. Differenzen in der Aufmerksamkeitsausrichtung können auch geschlechtsspezifische Unterschiede bedingen, wie beispielsweise der geschlechtsspezifische Unterschied in der Erinnerung an Gesichter (Herlitz et al., 2007), der sich möglicherweise auf ein ausgeprägteres psychosoziales Grundinteresse der Frauen zurückführen lässt und nicht auf verschiedene Mechanismen der Informationsverarbeitung. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass bislang keine klaren Aussagen darüber getroffen werden konnten, ob geschlechtsspezifische Leistungsunterschiede einen Hinweis auf unterschiedliche Verarbeitungsmechanismen liefern. Aufgrund der unklaren Befundlage zum Ausmaß der geschlechtsspezifischen Unterschiede sollte man Geschlecht in den allgemeinpsychologischen Experimenten als potentielle Störvariable berücksichtigen und durch Konstanthaltung der Geschlechtsverteilung in den Experimentalbedingungen kontrollieren.
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Teil II Mädchen und Jungen, Frauen und Männer: Entwicklungsverläufe
8. Entwicklungspsychologie Körper und Geschlecht im Jugendalter: Schlaglichter auf eine Entwicklungsaufgabe für beide Geschlechter Annette Boeger
Entwicklung als systemischer, transaktionaler Prozess Die Entwicklungspsychologie konzeptualisiert den Entwicklungsprozess als einen unentwegten Austausch zwischen Individuum und Umwelt. Beide wirken aktiv und miteinander verschränkt aufeinander ein. In dieser Interaktion führen Veränderungen des eines Teils zu Veränderungen des anderen Teils oder des Gesamtsystems und diese Veränderungen wirken wieder auf den Urheber zurück, der sich daraufhin ebenfalls verändert. Diese „dynamischen“ Interaktionen, die zu Veränderungen führen oder auch Stabilitäten ausbilden, finden auf der Zeitdimension des Lebensalters statt. Der Lebenslauf lässt sich als eine Folge von Herausforderungen, kritischen Lebensereignissen, Belastungen, Übergängen und Wendepunkten strukturieren, die – so sie alterstypisch sind und der Norm entsprechen – als „Entwicklungsaufgaben“ bezeichnet werden. Das Entwicklungsaufgabenkonzept beschreibt diese kultur- und altersabhängigen Belastungen und Herausforderungen. Ihre Bewältigung setzt individuelle Entwicklung in Gang und treibt sie voran: Neue Orientierungen und der Aufbau von Strukturen werden möglich, so dass das Individuum eine weitere Entwicklungsstufe erreicht. Die Entwicklungsaufgaben haben ihren Ursprung in biologischen Veränderungen, gesellschaftlichen und kulturellen Erwartungen und nicht zuletzt im Individuum selbst und seinen Lebenszielen. Als relativ kurze Zeitspanne zwischen Kindheit und Erwachsenenalter stellt das Jugendalter eine klassische Übergangsphase dar, die durch das Zusammenspiel biologischer, kognitiver, emotionaler und sozialer Veränderungen zur Quelle vielfältiger Erfahrungen wird. Die Jugendphase ist gekennzeichnet durch zahlreiche, in kurzer Zeit auf den Jugendlichen einwirkende massive Umstrukturierungen: Der Pubertätswachstumsschub sowie die Geschlechtsreifung bewirken gewaltige körperliche Veränderungen. Diese Veränderungen werden von der Umwelt registriert und beantwortet. Die Reaktionen des sozialen Umfeldes haben wiederum Auswirkungen auf das Individuum und seine Akzeptanz dieser Veränderungen. Die kognitive Entwicklung erreicht eine höhere Stufe der intellektuellen Fähigkeit, das Stadium der formalen Operationen, welches Reflexionen, innere Abgrenzungen und
G. Steins (Hrsg.), Handbuch Psychologie und Geschlechterforschung DOI 10.1007/978-3-531-92180-8_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010
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autonome Entwicklungsprozesse initiiert. In exemplarischer Weise wird also im Jugendalter das Modell der dynamischen Interaktion auf allen Dimensionen der Entwicklung deutlich. Wie für alle Altersphasen hat die Entwicklungspsychologie auch für die Adoleszenz Entwicklungsaufgaben formuliert (Havighurst 1974; Fend 2001). Die im Folgenden aufgeführten Themen verdeutlichen die prominente Stellung des Körpers im Jugendalter. Fend (2001, S. 105) bezeichnet das in dieser Phase stattfindende Hineinwachsen in einen neuen Körper und diesen „bewohnen“ zu lernen sogar als die zentrale Entwicklungsaufgabe.
Aufbau neuer und reifer Beziehungen zu Gleichaltrigen Aufbau intimer Beziehungen zu Gleichaltrigen Klärung der Geschlechtsrolle Akzeptanz der körperlichen Veränderungen und effektive Nutzung des Körpers Emotionale Unabhängigkeit von den Eltern und anderen Erwachsenen Erwerb intellektueller Kompetenzen Erwerb sozialer Kompetenzen Entwicklung eines individuellen Lebensplans Umgang mit Konsum und Freizeit
Definition „Körperbild“ Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Körper reicht bis zur Jahrhundertwende zurück. Eine der frühesten Wurzeln hat sie in der Psychoanalyse. Freud hat zwar die Begriffe Körperbild oder Körperschema nie verwendet, aber in seinen Werken spielen körperbezogene Phänomene eine zentrale Rolle. Die Triebtheorie oder der Konversionsbegriff, welcher die Verlagerung psychischer Konflikte in körperliche Beschwerden meint, basiert auf einer stark körperbezogenen Persönlichkeitslehre. Head, ein Neurologe und Zeitgenosse Freuds, entwickelte den Begriff des Körperschemas, unter dem er die schematische Vorstellung vom eigenen Körper verstand, die auf Rückmeldungen innerer und äußerer Wahrnehmungsreize angewiesen sei. Mit Bielefeld (1991) und Mrazek (1987) soll das Körperbild oder Körperkonzept als Gesamtheit aller erworbenen kognitiven, affektiven, bewussten und unbewussten Erfahrungen mit dem eigenen Körper verstanden werden, welche sich untergliedern lassen in Körpervorstellung, Körpererfahrung, Körperorientierung, Körperschema und Körperzufriedenheit. Das Körperkonzept ist Teil des Selbstkonzepts und damit ein wichtiges Element der Identität. Die frühesten Selbstwahrnehmungen, die Voraussetzung für die Entwicklung von Identität und Selbstkonzept bilden, sind Körperwahrnehmungen: Das Baby wird gestreichelt und gewickelt, es hat ein körperliches Wohlgefühl oder ein körperliches Unwohlsein und daraus entwickelt sich ein psychisches Gefühl. Diese enge Verknüpfung von körperlicher und psychischer Entwicklung erkannte bereits Freud 1923, wenn er schreibt, „das Ich ist vor allem ein körperliches“ (Freud 1923, S. 235ff). Das Körperkonzept ist insoweit dynamisch, als dass es sich in Abhängigkeit von der Situation verändert, d. h. in Abhängigkeit vom Körperwachstum, von Körperverletzungen, Erkrankungen und zahlreichen anderen Einflüssen. Immer neue Aspekte werden im Ver-
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lauf des Lebens in die Vorstellung vom eigenen Körper integriert. Auch unter diesem Aspekt stellt das Jugendalter eine besonders bedeutsame Phase dar: Es setzen Reifungsvorgänge ein, die zu den stärksten Körperveränderungen im gesamten Lebenslauf führen. Auf biologischer Ebene findet eine zunehmende Androgensekretion in den Nebennieren statt und eine rasche Zunahme der Sexualsteroide in den Gonaden, was über die Hypophyse zu einschneidenden Veränderungen des Körperschemas wie z.B. Längenschuss, Ausbildung sekundärer Geschlechtsmerkmale und vermehrter Fett- bzw. Muskelzunahme führt. Aus psychologischer Perspektive müssen eine Akzeptanz und Anpassung an den veränderten Körper geleistet werden. Besonders im Jugendalter, einer Zeit der Suche nach Orientierung, gewinnt der Körper eine identitätsstiftende Funktion. Die für das Jugendalter typische Stilisierung des Körpers, das Experimentieren mit ihm (Piercing, Punk, Tätowierung usw.) sind Ausdruck davon und dienen aus entwicklungspsychologischer Sicht dem Aufbau und der Konsolidierung der eigenen Identität und der Abgrenzung und Löslösung von den Eltern. Es dient weiterhin dazu, Geschlechtszugehörigkeit darzustellen und darin von der Umwelt bestätigt zu werden. Bei der Entwicklung der eigenen Identität kommt dem Geschlecht eine zentrale Bedeutung zu, die Geschlechtsidentität gehört zu den am frühesten erworbenen Aspekten von Identität. Es kann davon ausgegangen werden, dass es im Umgang mit dem eigenen Körper kaum Bereiche gibt, die nicht geschlechtsbezogen unterschiedlich erlebt und bewertet werden. Abbildung 1:
Modell der Faktoren, die das Körperbild (Body Image) beeinflussen
Der direkte oder indirekte Bezug fast aller Entwicklungsaufgaben zum Körper in dieser Lebensphase weist auf die zentrale Bedeutung der individuellen Auseinandersetzung mit dem Körper hin. Die soziale Umwelt bewertet die körperlichen Veränderungen geschlechtsbezogen unterschiedlich und gibt darüber eine Rückmeldung an die Jugendlichen.
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Nach dem Modell von Slade (1994) wird das Body Image durch mindestens sieben Faktoren beeinflusst, wobei die Faktoren auch untereinander in Beziehung stehen (vgl. Abb. 1). Auf einige dieser Faktoren wird im Weiteren näher eingegangen.
Körperbild und Körperzufriedenheit Sowohl anglo-amerikanische als auch deutsche Untersuchungen belegen einheitlich die größere Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper auf Seiten der Mädchen im Vergleich zu den Jungen (Neumark-Sztainer et al. 2002; Presnell et al. 2004; Stice & Whitenton 2002). So geben 24%- 46% der Mädchen im Vergleich zu 12%-26% der Jungen ein negatives Körperbild an. Ebenfalls werden aber auch die unterschiedlichen geschlechtsspezifischen Erwartungen und Einschätzungen in Bezug auf körperliche Attraktivität und Schönheit hervorgehoben. Diese Werte sind für Frauen und Mädchen wichtiger als für Männer, vermutlich, weil es für das weibliche Geschlecht weniger Möglichkeiten gibt, einen Mangel an Schönheit auszugleichen: Die Optionen auf Erfolg, Karriere, einen hohen gesellschaftlichen Status und Sportmedaillen sind erheblich geringer als beim männlichen Geschlecht (vgl. Levine & Smolak 2004; Freedman 1989; Rosenbaum 1979). Demzufolge legen sie strengere Maßstäbe an ihr Äußeres: Doppelt so viele anglo-amerikanische Mädchen wie Jungen im High School- Alter wollen ihr Aussehen verändern (Musa & Roach 1973) und nur 45% der Mädchen sind mit ihrem Aussehen zufrieden im Vergleich zu 75% der Jungen (vgl. Dacey 1979). Doch trotz zunehmender Teilhabe an Bildungsprozessen wollen auch 2004 noch 40% bis 70% der weiblichen Jugendlichen (Levine & Smolak 2004) bzw. 60% der Mädchen im Vergleich zu 30% der Jungen (Riccardelli & McCabe 2001) Teile ihres Äußeren verändern. In einer gesamtdeutschen Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2006, S. 66f) an 2500 14 bis 17jährigen Jugendlichen stimmten 46% der Mädchen der Aussage „Ich fühle mich wohl in meinem Körper“ zu im Vergleich zu 62% der Jungen. Dick fühlten sich doppelt so viele Mädchen wie Jungen (25% im Vergleich zu 12%). Dagegen schätzten sich fast doppelt so viele Jungen als zu dünn ein (13% zu 7%). Jungen schätzen sich auch im Vergleich zu ihren Geschlechtsgenossen als wesentlich attraktiver ein, während der Vergleich von Mädchen mit ihren Geschlechtsgenossinnen eher zu ihrem eigenen Nachteil ausfällt (Freedman 1989). Jungen nennen „gutes Aussehen und gute Figur“ als wichtigste Eigenschaften einer Partnerin, für Mädchen ist „Intelligenz“ die wichtigste Qualität eines Partners (a. a. O. 1989). Übereinstimmend wird in der Literatur die weibliche Sicht des Körpers als Mittel, andere zu beeindrucken und anzuziehen und die männliche Sichtweise des Körpers als leistungsstarkes, die Umwelt beeinflussendes Instrument beschrieben (vgl. Koff, Rierdan & Stubbs 1990). Jungen sind ich-zentrierter, interpersonell orientiert, bei Mädchen stehen „intra-personel skills“ im Vordergrund (Davies & Furnham 1986a, 1986b). Die Zufriedenheit mit dem eigenen Körper, seine Bewertung und Akzeptanz hängt mit einem Bündel von Faktoren zusammen. Bei allen Untersuchungen imponiert die Geschlechtszugehörigkeit und die Geschlechtsrollenidentifikation als bedeutsamstes Merkmal, das den Einfluss der Faktoren Selbstwert, depressive Verstimmung, Körpergewicht, pubertärer Status bzw. sein Timing, Eltern- Kind Beziehungen, Diätverhalten der Mutter, Bezie-
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hungen zu den Peers, Rassen- und kulturelle Zugehörigkeit und Medien moderiert. Eine Vielzahl von Querschnittsuntersuchungen hat unterschiedlichste Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Merkmalen festgestellt. Dagegen existieren nur wenige Längsschnittstudien. Letztlich sind aber nur diese in der Lage, die Kausalität von Faktoren für die Entstehung eines gestörten Körperbildes zu ermitteln. Im Folgenden werden Schlaglichter auf einige Korrelate für ein negatives Körperbild geworfen. Die Hintergrundfolie hierfür stellt die Geschlechterperspektive dar. Zunächst soll die Bewertung des Körpers genauer betrachtet werden.
Auf welche Körperteile richtet sich die Unzufriedenheit? Bei jugendlichen Mädchen stehen im Vordergrund des Interesses und gleichzeitig der Unzufriedenheit das Körpergewicht, die Hüften und die Taille. Während sich an einer U.S. amerikanischen Studie bei 11-18jährigen weiblichen Jugendlichen eine drastische Verringerung der Zufriedenheit mit zunehmendem Alter zeigte (Davies & Furnham 1986b), ergaben Untersuchungen an finnischen und U.S. amerikanischen Mädchen eine Zunahme der Körperzufriedenheit (Rauste- von Wright 1988: 11-18jährige; Holsen 2001: 13-18jährige). In einer deutschen Studie stellte Mrazek (1983) fest, dass Jungen mit ihrem Körperbau, speziell mit ihrem Gewicht, mit Beinen, Waden und Oberschenkeln zufriedener waren als Mädchen. Die größere Unzufriedenheit mit vielen verschiedenen Aspekten des Körpers auf Seiten der Mädchen interpretiert der Autor als Ausdruck eines differenzierteren Körperkonzepts im Vergleich zu einer globaleren und zufriedeneren Sichtweise der Jungen. Bei Jungen ebenso wie bei Männern steigt die Körperzufriedenheit mit dem Größenumfang bestimmter Körperpartien (Körpergröße, Brustumfang), während bei Mädchen bzw. Frauen ein umgekehrter Zusammenhang besteht: je kleiner der Umfang (z. B. Hüfte, Oberschenkel), desto größer die Zufriedenheit. Die einzige Ausnahme stellt der Brustumfang dar. Damit trifft auf die Einschätzung der Körperteile ähnlich wie bei dem Gewicht der Wunsch nach weniger als nach mehr auf Seiten der Mädchen zu.
Pubertäre Reifeentwicklung Nach dem Entwicklungsmodell von Brooks-Gunn et al. (1987) und Crockett & Petersen (1987) ist es nicht das Geschlecht an sich, sondern der geschlechtsspezifische Verlauf der pubertären Entwicklung, der ein Risiko für die Entstehung von Körperbildstörungen darstellt. Als besonders kritisch erscheinen geschlechtsspezifische, biologische Unterschiede im pubertätsbedingten Gewichtsanstieg. Der präpubertäre Fettgewebsanteil bei Mädchen liegt bei 8% und steigt östrogenbedingt bis zum Abschluss der Pubertät auf 22% an (Killen et al. 1992). Der ebenfalls stattfindende Gewichtsanstieg bei adoleszenten Jungen ist durch eine relative Zunahme der Muskelmasse verursacht. Auf die geschlechtsspezifisch unterschiedliche Bewertung der Gewichtszunahme wird im Zusammenhang mit dem Timing eingegangen. Ein von Rauste-von Wright (1988) durchgeführter längsschnittlicher Vergleich an männlichen und weiblichen Jugendlichen im Alter von 11, 13, 15 und 18 Jahren ergab, dass
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die Körperzufriedenheit nicht nur mit dem Geschlecht variierte, sondern auch mit dem Alter: am zufriedensten waren die 18jährigen Mädchen und Jungen, wobei die spätreifen Mädchen zufriedener mit ihrem Körper waren als die frühreifen, bei den Jungen verhielt es sich umgekehrt. Die positivere Einschätzung des Körpers mit zunehmendem Alter wird durch die bereits erwähnte Studie an deutschen Jugendlichen bestätigt (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2006), bezieht sich allerdings nicht auf alle Aspekte des Körpers: Die Einschätzung als zu dick (Mädchen) oder als zu dünn (Jungen) änderte sich nämlich in dieser Studie nicht mit zunehmendem Alter.
Das Timing der körperlichen Reife: „in time“ oder „off time“ Der pubertäre Status bezieht sich auf das Entwicklungsniveau der Jugendlichen in Bezug auf körperliche Veränderungen. Zur Ermittlung werden in der Regel die Tannerschen Kriterien herangezogen (Tanner 1972). Nach Alsaker (1992) sind im Jugendalter auffallende intraund interindividuelle Unterschiede im pubertären Status charakteristischer als Uniformität. So kann bei weiblichen Jugendlichen die Zeit von den ersten Anzeichen pubertärer Reife bis zur vollständigen Entwicklung zwischen 1,6 und sechs Jahren schwanken. Weiterhin können 14jährige weibliche oder männliche Jugendliche einen erwachsenen Körper aufweisen, ebenso aber auch einen noch unentwickelten, kindlichen Körper. Als ein Maß der individuellen Entwicklung im Verhältnis zur erwarteten Entwicklung wird das Timing verwendet. Das Timing der körperlichen Reife im Vergleich zum pubertären Status wird als der entscheidendere Aspekt der pubertären Entwicklung angesehen (z. B. Rierdan & Koff 1985), insbesondere auch deshalb, weil soziale Vergleichsprozesse im Jugendalter eine herausragende Rolle spielen. Die anglo-amerikanische Forschung zur Reifeentwicklung und zum Körperkonzept belegt einheitlich den engen Zusammenhang zwischen Körperzufriedenheit und Zeitpunkt der Reifeentwicklung, der sich bei den Geschlechtern gegenläufig darstellt. Speziell die Effekte von früher körperlicher Reife werden für Mädchen als eindeutig negativ und für Jungen als eindeutig positiv beschrieben. Während frühreife Jungen ein besonders positives Körperselbstbild aufweisen und sich für besonders attraktiv halten im Vergleich zu spätreifen Jungen, verhält es sich bei Mädchen umgekehrt (Tobin-Richards et al. 1983; Petersen & Crockett 1985; Ohring et al. 2002; Striegel-Moore et al. 2001). Die Autorinnen interpretieren den Befund im Zusammenhang mit den sozialen Verstärkern der Umwelt: Körperlich erwachsen wirkende männliche Jugendliche genießen die Vorteile des Erwachsenseins. Sie werden mit vermehrter Verantwortung ausgestattet und von den Erwachsenen als Gleichberechtigte behandelt. Bei frühreifen Mädchen (Menarche vor dem 12. Lebensjahr) dagegen reagiert die Umwelt mit Verboten und Einschränkungen, wobei ursächlich dafür die elterliche Angst vor verfrühter Schwangerschaft der Jugendlichen stehen dürfte. Weiterhin sind männliche Attribute wie Körpergröße, tiefe Stimme und Bartwuchs für Jungen sehr erstrebenswerte Ziele (Ruhl & Krüger 1990), die den Status unter Gleichaltrigen erhöhen, während beim weiblichen Geschlecht eine Vorliebe für den Status der Mädchenhaftigkeit zu finden ist, der durch die einsetzenden Reifeprozesse bedroht ist. Frühreife Mädchen nehmen einen Außenseiterstatus unter Gleichaltrigen ein. Sie orientieren sich mehr an Älteren
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(die ihrem eigenen körperlichen Entwicklungsstand entsprechen) und beginnen demzufolge eher mit Problemverhaltensweisen wie etwa Rauchen und Alkoholkonsum (Petersen & Crockett 1985). In einer deutschen Studie konnten Silbereisen und Schwarz (1992) das verfrühte Eingehen sexueller Beziehungen bei frühreifen Mädchen im Vergleich zu im zeitlichen Durchschnitt liegenden Gleichaltrigen feststellen. Weiterhin ist Frühreife bei Mädchen (nicht aber bei Jungen) mit schlechten Schulleistungen und psychosozialer Auffälligkeit assoziiert und muss deshalb als Risikofaktor für die Entwicklung von Problemverhalten angesehen werden (Hill & Lynch 1983). Es ist offensichtlich, dass für dieses geschlechtstypisch unterschiedliche Erleben biologischer Faktoren (Frühreife) gesellschaftliche Stereotype verantwortlich sind. Aber auch biologische Faktoren sind für die generell größere Unzufriedenheit mit dem Körper bei Mädchen und speziell bei frühreifen Mädchen im Vergleich zu spätreifen Mädchen verantwortlich. So ist die mit der Reifeentwicklung zusammenhängende bereits erwähnte Gewichtszunahme zu nennen, die sich bei Jungen in hormonbedingtem Muskelzuwachs zeigt und begrüßt wird, während sie bei Mädchen mit einer Zunahme des Fettgewebes einhergeht und abgelehnt wird. Die körperlichen Veränderungen der Jungen (breitere Schultern und eine Vergrößerung des Unterschiedes in der Breite zwischen Schultern und Hüfte sowie Muskelzuwachs) führen hin zum kulturellen Ideal eines erstrebenswerten männlich-muskulösen Körpers. Die körperlichen Veränderungen der Mädchen hingegen (Fettzunahme, eine Verringerung des Unterschiedes in der Breite zwischen Schultern und Hüfte) entfernen diese vom medial vermittelten Ideal eines schmalen, mädchenhaften Körpers. Spätreife Mädchen allerdings (Menarche nach dem 14. Lebensjahr) bleiben länger diesem Ideal treu. In der Tat stellt sich im Gegensatz zu weiblicher Frühreife als Risikofaktor weibliche Spätreife als Schutzfaktor gegen ein negatives Körperbild heraus: In einer Längsschnittstudie konnten Ohring et al. (2002) in ihrer Stichprobe eine kleine Gruppe hoch körperzufriedener Mädchen identifizieren. Diese bestand ausschließlich aus Spätreifen. Auch die Menstruation wird von Early Maturers negativer erlebt als von Mädchen mit zeitgerechter Menarche (12-13 Jahren) und von spätreifen Mädchen. Am zufriedensten erwiesen sich weibliche Jugendliche mit ihrem Körper, wenn sie ihre Pubertätsentwicklung im sozialen Vergleich als zeitgerecht wahrnahmen. Diese subjektiv wahrgenommene eigene Zeitgemäßheit scheint wichtiger zu sein als das durch einen Altersvergleich ermittelte Timing (Rierdan & Koff 1985). Die anglo-amerikanischen Befunde der geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Bewertung des „off time“ Zustandes im Sinne geringerer Körperzufriedenheit bei Mädchen, aber größerer Körperzufriedenheit bei Jungen bestätigte im europäischen Raum Alsaker (1992) für Norwegen. Interessanterweise entsprechen sich frühreife Jungen und spätreife Mädchen in wesentlichen Verhaltensweisen und der Zuschreibung von positiven Effekten für die gesamte Entwicklung. Das Gleiche trifft für frühreife Mädchen und spätreife Jungen zu: Beide Gruppen haben die größten Irritationen in Bezug auf ihr Körperbild, was Stice (2003) mit der Abweichung beider Gruppen vom gesellschaftlichen Körperideal begründet. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass die Erfassung des Timing der körperlichen Reife als ein Maß der individuellen Entwicklung im Verhältnis zur erwarteten Entwicklung nicht unproblematisch ist. Die Erfassungsmethoden variieren stark, Probleme des cut-off Points und die Verwendung von Single-Item Analysen bei einem sehr komplexen Forschungsgebiet schränken die Ergebnisse möglicherweise ein. Als körperliche Reifekrite-
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rien bei männlichen Jugendlichen werden häufig das Längenwachstum und der Stimmbruch herangezogen. Die Pollarche bzw. Spermarche als Korrelat zur Menarche stellt ein erhebliches Tabu dar und ist in ihrer Bedeutung praktisch kaum untersucht. Eine eigene Untersuchung an männlichen und weiblichen Jugendlichen (Boeger & Seiffge-Krenke 1994) ergab ein weit überwiegend positives Erleben der Pollarche bei Jungen gegenüber einem weit überwiegend negativen Erleben der Menarche auf Seiten der Mädchen. Als ursächlich für diesen Befund kann von einer engen Verflechtung sozialer Rückmeldungs- und Vergleichsprozesse ausgegangen werden. Außerdem lösen beide Prozesse gänzlich unterschiedliches körperliches Befinden aus.
Warum ist Frühreife bei Mädchen ein Risikofaktor? Entwicklungspsychologische Erklärungsmodelle Zwei Modelle sind in der Forschung verbreitet, um die Anpassungs- und Verhaltensprobleme bei frühreifen Mädchen zu erklären: Die Abweichungshypothese und die Entwicklungsbeendigungs-Hypothese (Wiesner & Ittel 2002). Die Abweichungshypothese geht davon aus, dass jede Abweichung von der Norm psychosoziale Schwierigkeiten nach sich zieht und die/den Reifende/n in eine abweichende Position bringt, ihn zum Außenseiter macht. Die Abweichung in Form erhöhter Geschwindigkeit der physischen Entwicklung, die nicht mit der Peer Group übereinstimmt, löst beim Individuum Stress aus und macht es anfällig für Problemverhaltensweisen. Die Entwicklungsbeendigungs-Hypothese setzt für jede Entwicklungsstufe spezielle Anforderungen voraus, die sich dem heranreifenden Menschen stellen. Eine Verfrühung unterbricht nun den regulären Entwicklungslauf und es bleibt für das Individuum weniger Zeit, sich mit den Herausforderungen der körperlichen Entwicklung auseinanderzusetzen. Der dadurch ausgelöste Stress bewirkt in der Folge psychosoziale Auffälligkeiten. Beide Modelle erklären zwar durchaus plausibel, warum weibliche Frühreife ein Problem darstellen kann, allerdings liefern sie keine Erklärung für den Befund, dass es sich bei männlicher Frühreife umgekehrt verhält: Auch frühreife Jungen fallen aus der Norm und haben weniger Zeit, sich mit den Entwicklungsaufgaben in Bezug auf den Körper zu beschäftigen. Trotzdem sind sie hochzufrieden mit ihrem Status und erlangen soziale Gratifikationen. Die globalen Kriterien „Aus der Norm fallen“ und „Mangel an Entwicklungszeit“ scheinen zur Erklärung des Phänomens nicht differenziert genug zu sein. Offensichtlich spielen spezifische soziale Erfahrungen, wie etwa bewertende Reaktionen der Umwelt, eine größere Rolle für das Befinden der Betroffenen.
Körpererleben und Selbstwert Weibliche Jugendliche zeichnen sich generell durch ein grundsätzlich niedrigeres Selbstwertgefühl als männliche Jugendliche aus. Das bereits erwähnte starke Bedürfnis weiblicher Jugendlicher attraktiv zu sein bei gleichzeitigem Misstrauen in die eigene Attraktivität, die sehr
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über die Außenwelt definiert wird, legt die Gefahr nahe, das Aussehen mit dem Selbstwert zu verbinden und letzteres stark von der körperlichen Attraktivität abhängig zu machen und zwar stärker als das bei den eher instrumentell ausgerichteten männlichen Jugendlichen der Fall ist. Außerdem kann das körperliche Selbstkonzept als eine wichtige Teilkomponente des gesamten Selbstkonzepts und der Identität angesehen werden (Harter 1998), weshalb Zusammenhänge zwischen beiden Merkmalen geradezu erwartet werden müssen. In der Tat lässt sich anhand zahlreicher Befunde an amerikanischen Stichproben eine enge Verbindung von Körperbild und Selbstwert nachweisen- und zwar sowohl bei Mädchen als auch bei Jungen. Grundsätzlich verfügen sowohl weibliche als auch männliche Jugendliche, die sich für attraktiv halten, über einen höheren Selbstwert als Jugendliche, die sich für unattraktiv halten (Thornton & Ryckman 1991). Ein höherer Selbstwert ist ebenfalls mit Frühreife bei männlichen Jugendlichen assoziiert (Simmons et al. 1979; Duncan et al. 1985). Rierdan und Koff (1980) stellten in ihrer Untersuchung an 92 männlichen und 77 weiblichen Jugendlichen (Durchschnittsalter 14,47) ein differenzierteres, von Selbstunsicherheit begleitetes Körperkonzept der Mädchen im Vergleich zu einer mehr globalen Sichtweise bei den Jungen fest, die auch eine positivere Einstellung zu ihrem Körper hatten. Auch Simmons und Rosenberg (1975) betonen als Resultat einer groß angelegten Interviewstudie an 1917 Schulkindern im Alter von 12-16 Jahren die größere Selbstunsicherheit und das geringere Selbstwertgefühl bei Mädchen. Die Mädchen waren unzufriedener mit ihrer Geschlechtsrolle und ihrer sich verändernden körperlichen Erscheinung und legten im Vergleich zu den Jungen einen größeren Wert auf Anerkennung durch gleich- und gegengeschlechtliche Peers. Die Jungen hatten wesentlich mehr Zukunftspläne in Bezug auf Bildung und Beruf und sahen der Zukunft erwartungsvoll entgegen, während die Mädchen mehr Wert auf zwischenmenschliche Beziehungen und Fähigkeiten legten und ihrer äußeren Erscheinung großen Wert beimaßen. Die Zusammenhänge zwischen Selbstwert und Körperbild lassen sich bereits bei präpubertären Mädchen feststellen (McCabe & Marwit 1993; Button 1990). Lässt sich dieser bei Mädchen festgestellte enge Zusammenhang zwischen Selbstwert und Körperbild kausal interpretieren? Eine prospektive Studie von Tiggemann (2005) an 242 weiblichen Jugendlichen zu zwei Untersuchungszeitpunkten (14 und 16 Jahre) ergab, dass eine anfängliche Unzufriedenheit mit dem Körper und dem Körpergewicht einen erniedrigten Selbstwert zwei Jahre später voraussagte. Ein negatives Körperbild scheint hiernach also die Entwicklung eines positiven Selbstwertgefühls zu verhindern. Beides, sowohl das Körperbild als auch das Selbstwertgefühl, scheint wiederum vom Frühreifestatus beeinflusst zu werden (Willliams & Currie 2000). Der enge Zusammenhang zwischen Körperbild und Selbstwert ist – zumindest bei norwegischen – Jungen nicht nachzuweisen (Wichstrøm, 1999).
Körpererleben und Depression Weibliche Jugendliche haben nicht nur einen erniedrigten Selbstwert im Vergleich zu männlichen Jugendlichen, sondern auch einen grundsätzlich erhöhten Depressionswert.
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Von einer entwicklungspsychopathologischen Perspektive aus betrachtet und klinisch bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, dass insbesondere ein negativeres Körperbild nicht nur mit einem verminderten Selbstwertgefühl, sondern auch mit einer depressiven Symptomatik einhergeht (Rierdan et al. 1987; Noles et al. 1985). Diese engen Beziehungen zwischen Depression und negativem Körperbild sind bereits in der frühen Pubertät etabliert und erweisen sich über die Zeit als stabil und unabhängig von Entwicklungsfortschritten (Rierdan et al. 1987; Crockett & Petersen 1987). So fanden Rierdan und Mitarbeiterinnen keinen Unterschied zwischen prä- und postmenarchalen Mädchen, ebenso wenig hatte das Alter und der körperliche Reifungsgrad einen Einfluss. Derartige Zusammenhänge zwischen Körperbild auf der einen und Depression und Selbstwert auf der anderen Seite, waren bei Jungen nicht nachzuweisen. Wichstrøm (1999) konnte ebenfalls an 12.000 norwegischen Jugendlichen eine durchgehend höhere Depressionsausprägung auf Seiten der Mädchen ab dem Alter von 14 Jahren feststellen. Weiterhin konnte er nachweisen, dass ein negatives Körperbild der stärkste Erklärungsfaktor für die unterschiedliche Depressionsausprägung zwischen den Geschlechtern war. Demnach scheint bei weiblichen Jugendlichen eine negative Einstellung zum eigenen Körper nicht nur einem verminderten Selbstwert, sondern auch depressiven Verstimmungen vorauszugehen.
Körperbild und Körpergewicht Interessante Ergebnisse zum Körperbild erbrachten Figureinschätzungsverfahren. Fallon und Rozin (1985) ließen männliche und weibliche Collegestudierende anhand aufgemalter Figuren ihre eigene Figur, die Idealfigur und die Figur, von der sie annahmen, dass sie vom Gegengeschlecht als am attraktivsten befunden wurde, einschätzen. Für die Männer zeigte sich, dass die Einschätzung der eigenen Figur, die Idealfigur und die vermutete vom Gegengeschlecht meist präferierte Figur nahezu identisch waren. Frauen dagegen schätzten ihre Figur als schwerer ein als die von Männern vermutete meist präferierte. Weiterhin war ihre Idealfigur dünner als die Figur, die sie als am meisten attraktiv für Männer vermuteten. Beide Geschlechter irrten jedoch in der Einschätzung des Gegengeschlechts. Männer dachten, dass Frauen schwerere Männer wünschten als dies tatsächlich der Fall war und Frauen dachten, dass Männer sie dünner wünschten. Allerdings war die bevorzugte Frauenfigur der Männer dünner als die weibliche Selbsteinschätzung. Das erklärt zwar den Druck der Frauen, ihr Gewicht zu reduzieren; dass sie aber eine Idealfigur anstreben, die dünner ist als die Figur, von der sie vermuten, dass sie für Männer am attraktivsten ist, spricht dafür, dass bei Frauen noch andere Faktoren als der Wunsch, für Männer attraktiv zu sein, für gewichtsreduzierende Maßnahmen verantwortlich sind. Eine Nachuntersuchung an Adoleszenten (10-15 Jahre) von Cohn et al. (1987) ergab ähnliche Befunde. Auch hier zeigte sich, dass die Mädchen dünner sein wollten als sie tatsächlich waren und auch dünner als sie glaubten, dass Jungen es attraktiv finden.
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Einschätzung des eigenen Körpers, des gewünschten Idealkörpers und des vom Gegengeschlecht als am attraktivsten vermuteten Körpers durch weibliche und männliche Jugendliche (Cohn et al. 1987)
Dass diese Standards schon bei präpubertären Kindern bestehen, belegen Befunde von Collins (1991) und Kreikebaum (1999). Collins wandte an einer Stichprobe von 1118 U.S. amerikanischen Jungen und Mädchen im Alter von 6-9 Jahren eine siebenstufige Figureneinschätzungsskala an. Er fand heraus, dass 44% der Mädchen und 47% der Jungen mit ihrer Figur zufrieden waren (bei den Figureneinschätzverfahren gilt die Diskrepanz zwischen der Einschätzung der eigenen Figur und der Idealfigur als Maß für Körperzufriedenheit). Doch fast ebenso viele Mädchen, nämlich 42%, wählten eine im Vergleich zu ihrer tatsächlichen Figur signifikant dünnere Idealfigur und drückten somit ihre Unzufriedenheit mit ihrer Figur aus. Jungen wünschten sich demgegenüber zu 23% eine dickere Figur, was nur 14% der Mädchen anstrebten. Das relative Gewicht war nicht ausschlaggebend für die Bevorzugung schlankerer Ideale. So wünschte sich beispielsweise ein Viertel der untergewichtigen Mädchen eine dünnere Figur. Kreikebaum (1999) verglich die Körpereinschätzung 7-11jähriger deutscher und U.S. amerikanischer Kinder anhand ihrer Selbsteinschätzung auf der gleichen Figurenskala. Auch sie fand sowohl bei den deutschen als auch bei den U.S. amerikanischen Mädchen dieses Alters bereits ein untergewichtiges Körperideal. Die Jungen zeigten jedoch weder bei Kreikebaum noch bei Collins den Wunsch nach einer schwereren Figur. Dies spricht nach Kreikebaum (1999: 153) dafür, dass 7-11 jährige Mädchen bereits durch gesellschaftliche Attraktivitätsnormen beeinflusst sind, Jungen dieses Alters jedoch das muskulöse, männlichkeitsverkörpernde Ideal noch nicht verinnerlicht haben. Die größte Körperzufriedenheit zeigten Mädchen mit Untergewicht und Jungen mit Normalgewicht. Die Tatsache, dass bereits prä-pubertäre, normalgewichtige Mädchen Diäterfahrungen haben, ent-
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kräftigt die These, dass die Diätversuche bei weiblichen Jugendlichen eine alleinige Reaktion auf die pubertätsbedingte Gewichtszunahme sind, sondern rückt soziokulturelle Faktoren als sehr bedeutsam für das Körperbild und die Körperzufriedenheit in den Blick. Der bei prä-pubertären und pubertären Mädchen vorhandene Wunsch, das Körpergewicht zu reduzieren, um den Körper in die Wunschfigur zu verwandeln, führt zu Gewichtsreduktionsmaßnahmen, die bei weiblichen Jugendlichen genauso häufig angewandt werden wie bei erwachsenen Frauen (Childress et al. 1993; Rosen & Gross 1987; Paxton et al. 1991). Die Mehrzahl der Studien zum jugendlichen Diätverhalten konzentriert sich auf weibliche Stichproben, da Diäten offensichtlich ein frauenspezifisches Thema sind (vgl. Rosen & Gross 1987: zwei Drittel der weiblichen Stichprobe führten zum Zeitpunkt der Untersuchung im Gegensatz zu einem Sechstel der männlichen Teilnehmer eine Diät durch); außerdem sind nur 5%-10% aller Eßgestörten männlich (ODea & Yager 2006). Die Unzufriedenheit mit dem Körpergewicht bei den Mädchen steigt mit zunehmendem Jugendalter an und ist postmenarchal größer als prämenarchal. Der Wunsch abzunehmen steht im Übrigen in keiner Beziehung zu einem realen Übergewicht (Davies & Furman 1986a; Wichstrøm, 1999); die Einschätzung eines eigenen Übergewichts entspricht häufig nicht dem objektiven BMI Wert, der sich in Wirklichkeit im Durchschnittsbereich befindet (Wichstrøm, 1999). Dagegen existieren enge Beziehungen zwischen der Selbsteinschätzung als untergewichtig und der Körperzufriedenheit. In einer Studie von Paxton et al. (1991) gaben zwei Drittel der weiblichen Jugendlichen an, dass ein Gewichtsverlust das Zufriedenheitsgefühl stark positiv beeinflussen würde. Wie bereits erwähnt, bewerten männliche amerikanische Jugendliche einen Gewichtsverlust negativ (z. B. Paxton 1993; McCabe & Ricciardelli 2001), da er mit mangelnden Muskeln in Verbindung steht. Er wird u.U. mit Strategien, Gewicht zu gewinnen, beantwortet (Zufuhr von Eiweißgetränken oder Einnahme von Stereoiden). Allerdings konnte in einer schwedischen Stichprobe 14jähriger Jugendlicher festgestellt werden, dass Jugendliche beiderlei Geschlechts am zufriedensten mit ihrem Körpergewicht waren, wenn es unterhalb des Idealgewichts lag (Ivarsson et al. 2006).
Körperbild und soziokulturelle Einflüsse: Medien, Eltern, Peers Soziokulturelle Modelle sehen die Ursache eines negativen Körperbildes in der Anpassung an die in Industrienationen herrschende Schönheits- und Schlankheitsnorm, wobei die wichtigsten Vermittler dieser Normen die Medien sind (z. B. Rodin et al. 1984). Zeitgeschichtliche Trends belegen einen solchen Zusammenhang. So zeigen Untersuchungen zu zeitgeschichtlichen Veränderungen des weiblichen Körperideals die „Verschlankung“ des Körpers im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und damit einhergehend eine Zunahme an Essstörungen seit dieser Zeit. Garner et al. (1980) etwa analysierten und verglichen die Maße der Miss Amerika Siegerinnen ebenso wie die Modelle des Playboy Magazins über die Zeit (Garner et al. 1980). Mit den sinkenden Körpergewichtswerten ging eine Zunahme der Diätartikel in Frauenzeitschriften einher (Mazur 1986). Ein Vergleich der von Garner berichteten Maße im Zeitraum von 1959 bis 1979 mit dem Zeitraum von 1979 bis 1988 ergab ein weiteres
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Absinken der Gewichtswerte in der Fotomodell-Branche und eine weitere Zunahme an Publikationen zum Thema Diät und Fitness (Wiseman et al. 1992). Empirische Studien belegen ebenfalls den Einfluss der Medien auf das Körperbild, die bei Mädchen (McCabe & Ricciardelli 2001a) und im früheren Jugendalter offenbar von größerem Einfluss sind als bei Jungen und in der späteren Adoleszenz. Die größere Bedeutung von Medienbotschaften für Mädchen als für Jungen liegt möglicherweise an eindeutigeren soziokulturellen Vorstellungen über den idealen weiblichen Körper. Außerdem dienen sicherlich der höhere Selbstwert und die positivere Stimmungslage auf Seiten der Jungen als Puffer gegen Beeinflussungen von außen. Die Berechnung des relativen Einflusses von Medien, Eltern oder Gleichaltrigen ergab, dass Eltern den größten Einfluss auf das Körperbild ihrer Töchter und Söhne hatten (McCabe & Ricciardelli 2003; Stanford & McCabe 2006). Eltern fungieren als wichtige Rollenvorbilder, sie geben ihre eigenen Ziele in Bezug auf ihren Körper und den Umgang mit ihm an ihre Kinder weiter. Mütter vermitteln dabei eher Botschaften über Diäten und Körpergewicht, Väter dienen eher als Vorbild für den Erwerb von Muskeln und für körperliche Betätigung (a. a. O.). Weiterhin kann man bei der Beeinflussung des Kindes durch seine Eltern von Mediatoren wie etwa Internalisierungsprozessen ausgehen, die von früher Kindheit an stattfinden und dazu führen, dass Kinder die Werte und Normen ihrer Eltern übernehmen und als ihre eigenen ansehen (Smolak 2004). Gleichaltrige in Mädchencliquen können u.U. Druck ausüben, das Gewicht zu minimieren, während ein vergleichbarer Druck in Bezug auf Gewichts- und Muskelzunahme in Jungengruppen nicht stattzufinden scheint (McCabe & Ricciadelli 2001b). Der Einfluss der Gleichaltrigen ist stärker, wenn das Mädchen das Ideal eines dünnen Körpers verinnerlicht hat und wenn in der Clique Vergleichsprozesse bezüglich des Aussehens eine wichtige Rolle spielen (Shroff & Thompson 2006). Ein verbreitetes Verhalten von Eltern und Peers ist das Hänseln ihrer Kinder bzw. Freunde wegen ihrer äußeren Erscheinung. Figurkritik und Hänseln sind ein erheblicher Risikofaktor bei beiden Geschlechtern für die Entwicklung eines negativen Körperbildes. Dagegen ist die wahrgenommene Akzeptanz von Mutter und Vater ein bedeutender Schutzfaktor gegen ein gestörtes Körperbild, allerdings nur für Mädchen (Barker & Galambos 2003). Hänseln wegen des Körpergewichts und der Brustentwicklung ist ebenfalls für frühreife Mädchen ein weiterer Faktor für ihre Körperunzufriedenheit (Williams & Currie 2000; Silbereisen & Kracke 1997). Das Forscherteam um Thompson, das sich mit der Verursachung von Essstörungen beschäftigt, hat längsschnittlich ätiologische Faktoren für ein negatives Körperbild untersucht und konnte Hänseln bzw. erlebte Figurkritik neben dem Ausmaß an Übergewicht als stärksten Prädiktor für ein negatives Körperbild identifizieren. Ein negatives Körperbild wiederum leitet Essprobleme und Essstörungen ein (Thompson et al. 1995; Cattarin & Thompson 1994). So ist Übergewicht nur dann ein Risiko für die Entwicklung eines negativen Körperbildes, wenn es auf Kritik im sozialen Umfeld stößt. Diesen direkten Einfluss von Hänseln und Figurkritik auf die Entwicklung eines negativen Körperbildes, welches Essstörungen vorausgeht, ermittelten auch van Berg et. al. (2001) an einer Stichprobe australischer weiblicher Jugendlicher.
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Unter Einbeziehung der identifizierten, bisher bekannten Faktoren kann von folgendem Bedingungsmodell ausgegangen werden, bei dem ein negatives Körperbild eine zentrale Stellung einnimmt: Es ist sowohl Folge sozialer Einflüsse und biologischer Prozesse als auch Ursache für psychopathologische Entwicklungen und gilt im Wesentlichen nur für weibliche Jugendliche (Abb. 3). Abbildung 3:
Bedingungsmodell Körperbild
1. Weiblicher Frühreifestatus 2. Hänseln und Figurkritik
Depression negatives Körperbild
negativer Selbstwert Essstörung
Sport: Ein protektiver Faktor? Bewegungserfahrung scheint sich ganz generell positiv auf die Ausbildung des Körperbildes auszuwirken (Bielefeld 1991: 36ff). Verschiedene Befunde belegen, dass die körperliche Aktivität einen Faktor darstellt, der die beschriebenen Geschlechtsunterschiede bezüglich Körper- und Gewichtszufriedenheit nivelliert (Covey & Feltz 1990; Brown & Lawton 1986). Ebenso bestätigten Richards et al. (1990) diesen positiven Effekt der körperlichen Betätigung auf das Selbst- und Körpergefühl. Sie konnten zeigen, dass der Unterschied zwischen weiblichen und männlichen Adoleszenten hinsichtlich Körper- und Gewichtszufriedenheit verschwand, wenn die Variablen der körperlichen Aktivität und der zufriedenstellenden Beziehungen zu Gleichaltrigen einbezogen wurden. Mädchen, die sich in einer Peer Group aufgehoben fühlten und Sport trieben, waren ebenso zufrieden mit ihrem Gewicht und hatten ein ebenso positives Körperbild wie die Jungen der Stichprobe. Obrock (2008) stellte in ihrer vergleichenden Studie an eßgestörten, sportlich inaktiven und sportlich aktiven weiblichen Jugendlichen weiterhin fest, dass die sportlich aktiven Mädchen ihrer Stichprobe weniger anfällig waren für medial präsentierte Stereotypisierungen des weiblichen Körpers, sondern sich vielmehr nach ihren eigenen gesundheitlichen Prinzipien richteten. Die Autorin interpretiert dies als Ausdruck eines stabileren Selbstwertes, den die Mädchen aufgrund der Einbindung in einen Sportverein und durch sportliche Aktivitäten erworben hatten. Der Sport gebe ihnen Orientierung in einer Phase der Identitätssuche und mache sie von extrinsischen Einflüssen unabhängiger als es bei den sportlich inaktiven und den essgestörten Mädchen der Fall sei (a. a. O.). Auch wenn sich nicht entscheiden lässt, ob Sport primär das Körpergefühl positiv prägt oder ob ein positives Körperbild zu verstärkter sportlicher Aktivität führt, kann Brown und Lawton (1986) zugestimmt werden, dass sportliche Aktivität den Teamgeist stärkt, das Selbstvertrauen in die eigene Kraft und Ausdauer fördert, Stress und depressive Stimmungen vermindert und nicht zuletzt einen gewichtsreduzierenden Effekt hat. Nicht gemeint ist hier die Funktionalisierung von Sport im Sinne exzessiver Betätigung mit dem ausschließlichen Ziel der Gewichtsreduktion, was bereits ein Krankheitssymptom darstellt.
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Ebenso wenig sind Leistungssportarten gemeint, die ein geringes Körpergewicht verlangen und Körperbildstörungen und Essstörungen geradezu herausfordern und zwar bei beiden Geschlechtern (z. B. bei Balletttänzerinnen und Jockeys).
Resumé und Ausblick Die Forschung zum Body Image im Jugendalter imponiert durch ihre Vielzahl an unterschiedlichen Perspektiven und Facetten auf das Thema. Sie ist aber noch weit davon entfernt, ein geschlossenes und vor allem integratives Modell zur Entstehung und Aufrechterhaltung geschlechtsbezogener negativer Einstellungen zum Körper anzubieten. Eine Flut von Querschnittsuntersuchungen und einige wenige Längsschnittuntersuchungen belegen für weibliche Jugendliche ein deutlich negativeres Körperbild als für männliche Jugendliche. Es stellt einen Prädiktor für depressive Verstimmungen, Selbstwertbeeinträchtigungen und Essstörungen dar. Diese Schlüsselstellung für adoleszente Entwicklungsstörungen hat das Körperbild bei männlichen Jugendlichen nicht. Die meisten Untersuchungen sind angloamerikanischen Ursprungs. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass die Ergebnisse dieser Studien nicht uneingeschränkt auf andere westliche Industrienationen übertragen werden können. Sowohl Untersuchungsergebnisse über das positivere Körperbild trotz eines höheren BMI bei afro-amerikanischen Menschen weiblichen und männlichen Geschlechts im Vergleich zu weißen Amerikanern und Amerikanerinnen als auch Befunde, dass etwa die Diätraten in den U.S.A. bedeutend höher sind als in Europa – um nur zwei Aspekte herauszugreifen–, sprechen für eine vorsichtige Haltung bei der Interpretation anglo-amerikanischer Forschungsbefunde. Verschiedene Längsschnittstudien weisen darauf hin, dass sich das Körperbild von Frauen in den vergangenen 30 Jahren verschlechtert hat, während das Körperbild von Männern stabil geblieben ist (z. B. Cash et al. 2004; Sondhaus et. al. 2001). Eine Metastudie von Feingold und Mazzella aus dem Jahr 1998 erhärtet diese Befunde. Die Autoren untersuchten 222 Studien der letzten 50 Jahre zum Körperbild hinsichtlich festgestellter Geschlechtsunterschiede. Auch sie fanden eine besorgniserregende Zunahme an Frauen, die ein negatives Körperbild hatten. Dagegen hatte sich die positivere Selbsteinschätzung der Männer bzgl. ihrer Attraktivität und ihres positiveren Körperbildes während der letzten Generation verstärkt und damit den Abstand zu den Frauen vergrößert. Diese Geschlechtsunterschiede waren im Jugendalter am größten. Erklären lassen sich diese Befunde mit soziokulturellen Einflussfaktoren, da in den älteren Studien die Geschlechtsunterschiede nicht bestanden; vielmehr verstärkten sich diese über die Zeit kontinuierlich. Ähnliche Ergebnisse konnten bei norwegischen Jugendlichen zwischen 1992 und 2002 gefunden werden (Storvoll et al. 2005). Die Autoren fanden darüber hinaus mehr Jugendliche beiderlei Geschlechts an den Extrempolen eines besonders positiven und eines besonders negativen Körperbildes. Gesellschaftliche Idealvorstellungen über einen schlanken bzw. dünnen Körper werden in stärkerem Maße auf den weiblichen Körper projiziert. Die Zunahme des Körpergewichts bei der Bevölkerung der Industrienationen in den vergangenen Jahren bei gleichzeitig immer dünneren weiblichen Schönheitsvorbildern durch die Medien, macht das Errei-
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chen solcher herrschenden Ideale immer schwerer und führt zwangsläufig zu größeren Körperakzeptanzproblemen bei Mädchen und Frauen. Das männliche Geschlecht ist aufgrund seines höheren Selbstwerts, der auch den Körper umfasst, zufriedener mit seinem Äußeren und auch weniger anfällig für mediale Verführungen. Prospektive Studien haben soziokulturelle, biologische, interpersonelle und personelle Faktoren ausfindig gemacht, die eng miteinander und mit dem Körperbild verflochten sind. Im Jugendalter fördert insbesondere die Verflechtung biologischer und soziokultureller Faktoren eine Unzufriedenheit mit dem Körper beim weiblichen Geschlecht, nicht aber beim männlichen Geschlecht. Aufgrund der bei Mädchen nachweisbaren höheren Prävalenz von Körper- und Essstörungen (zwanghaftes Diäten, Magersucht, Bulimie), denen ein negatives Körperbild vorausgeht, weisen zahlreiche Studien zum Thema ausschließlich weibliche Stichproben auf. Auch die Untersuchungsinhalte sind in der Regel an der Problemlage weiblicher Adoleszenten ausgerichtet. So sind etwa Fragen nach dem Diätverhalten für männliche Jugendliche nicht zentral, eher sollte bei ihnen z. B. nach der missbräuchlichen Einnahme von Medikamenten zum Ziele des Muskelaufbaus gefragt werden; ein solches Verhalten sollte dann ebenfalls als ein Ausdruck von Körperunzufriedenheit und als eine Form der Essstörung interpretiert werden. Ein mehr auf die Problemlage von Jungen zugeschnittenes Untersuchungsinstrumentarium könnte also unter Umständen zu anderen als den bisherigen Ergebnissen führen. Und was lässt sich tun gegen die erwiesenen Probleme mit dem eigenen Körper bei weiblichen Adoleszenten? Die Entwicklung von sehr frühzeitig einzusetzenden Präventionsprogrammen stellt ein weiteres wichtiges Forschungsthema dar.
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9. Entwicklungspsychologie, Kulturwissenschaften, Biopsychologie Evolutionäre Grundlagen geschlechtstypischen Verhaltens Doris Bischof-Köhler
Gender und Sex 2003 heißt es in einer Informationsbroschüre des Bundesfamilienministeriums: „Gender bezeichnet die gesellschaftlich, sozial und kulturell geprägten Geschlechtsrollen von Männern und Frauen. Diese sind – anders als das biologische Geschlecht – erlernt und damit auch veränderbar.“ Bei oberflächlicher Hinsicht erscheint die Aussage plausibel. Anders sieht das aus, wenn man die Botschaft reflektiert, die mit der Zweiteilung insinuiert wird. Sie bezieht sich auf die im angelsächsischen Sprachbereich geprägte Unterscheidung von Gender, als dem gesellschaftlich bedingten Geschlecht und Sex als dem anatomischen Geschlecht und soll programmatisch zum Ausdruck bringen, geschlechtstypisches Verhalten sei ausschließlich gesellschaftlich bedingt, während alles, das mit der Biologie zu tun hat – und etwa gar mit Veranlagung – für die Prägung von Geschlechtsrollen ohne Einfluss sei. Die einschlägige Literatur gibt die Überzeugung wieder, dass Gender nicht vorgefunden, sondern gemacht wird (z.B. Gildemeister, 1988). Es handelt sich um eine soziale Konstruktion, die in aktiver Auseinandersetzung mit der Umwelt „angeeignet“ werden muss. Menschen sind unfähig, einfach spontan zu interagieren. Wann immer sie zusammentreffen, muss zunächst, wie es heißt, eine „soziale Situation hergestellt“ werden. Alles menschliche Handeln ist Schöpfung, Konstruktion oder, wie man sagt, „Inszenierung“ von Wirklichkeit. Was immer daran regelhaft verläuft, basiert auf gesellschaftlichen Normsetzungen. Die Natur wird als ordnungsgenerierendes Moment nicht etwa widerlegt, sondern schlicht nicht wahrgenommen. Das Einzige, was allein gemeint ist, wenn man von „biologischen“ Unterschieden der Geschlechter redet, sind die anatomischen Geschlechtsmerkmale. Diese sind aber zunächst nur Unterscheidungskriterien, an denen sich Beliebiges – und im Bedarfsfalle auch gar nichts – assoziativ anhängen ließe. Insofern sind die gesellschaftlichen Rollenzuweisungen inhaltlich in keiner Weise biologisch determiniert. Und sogar die anatomischen Unterschiede werden zuweilen noch wegdiskutiert; sie würden, so heißt es, für sich gar nicht bemerkt, wäre da nicht eine Gesellschaft, die uns von Kindheit an auf sie aufmerksam macht (z.B. Fausto-Sterling, 2000). Nicht alle in der Genderforschung engagierten Sozialwissenschaftler gehen so weit. So sieht etwa die soziale Rollentheorie die Basis für eine geschlechtsspezifische Rollenzuweisung
G. Steins (Hrsg.), Handbuch Psychologie und Geschlechterforschung DOI 10.1007/978-3-531-92180-8_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010
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durchaus in den unterschiedlichen geschlechtlichen Funktionen bei der Fortpflanzung, die gesellschaftlich reflektiert würden, was sich dann in einer entsprechenden Aufgabenteilung niederschlage (Eagly, 1987). Aber auch bei diesem Ansatz werden die Geschlechtsrollen ausschließlich als Produkt rationaler Überlegungen und damit als unabhängig von irgendwelchen Anlageeinflüssen verstanden. Wenn es um die konkrete Veränderung von Geschlechtsrollen geht, so kann die Annahme ihrer Konstruiertheit zu eigentümlichen, schon ziemlich ideologisch anmutenden Forderungen führen, wie sie etwa in folgenden Zitaten zum Ausdruck kommen (Zitate aus Tischner, 2008): „Jungen sollen in profeministischer, antisexistischer und partriarchatskritischer Jungenarbeit lernen, dass sie so, wie sie sind, nicht sein sollten und einem falschen Männlichkeitsbild hinterherjagen.“, „Nicht die stabile männliche Identität (kann) das erste Ziel von Jungen- und Männerarbeit sein. Das Ziel (ist) nicht der ‚andere Junge‘ sondern gar kein Junge.“ Die „Dekonstruktion“ von Männlichkeit wird als die geeignete Maßnahme propagiert, das in der Gesellschaft immer noch dominierende Männlichkeitsideal abzuschaffen, in dem man die eigentliche Ursache der weiblichen Diskriminierung sieht. Mittlerweile ist der Glaube an die Veränderbarkeit der Geschlechtsrollen nicht mehr ganz so ungetrübt. Zwar hat sich in den letzten Jahrzehnten einiges zum Positiven gekehrt, aber immer noch sind die Verhältnisse für Frauen nicht optimal, was wiederum der Hartnäckigkeit des Bestehenden angelastet wird. Bei genauerer Hinsicht kommt einem dann aber doch der Verdacht, ob das Vorgehen bei den Änderungsversuchen nicht etwa revisionsbedürftig sei. Wie die erheblichen Probleme nahe legen, mit denen sich die Jungenpädagogik derzeit herumschlägt (Matzner & Tischner, 2008), lassen sich die Jungen die Dekonstruktion von Männlichkeit nicht ohne weiteres gefallen und setzen sich auf ihre Weise zur Wehr, nämlich meist lautstark, manchmal auch schlicht in Form von Verweigerung. Nun dürfen meine Ausführungen nicht dahingehend missverstanden werden, mit der traditionellen Rollenaufteilung sei alles in Ordnung. Handlungsbedarf ist auf jeden Fall gegeben. Aber zu alldem hat die Biologie etwas zu sagen, und wenn man sie nicht geradezu programmatisch aus dem Diskurs aussparen würde, dann hätte man vielleicht mehr Erfolg mit der Abänderung von Geschlechtsrollen, wo immer sie sich als kontraproduktiv erweisen. Natur und Kultur Was nun die Frage biologischer Einflüsse betrifft, so besteht von Seiten der Genderforschung mehrheitlich eine ablehnende Haltung, mit der – wie es abwertend heißt – „biologistischen“ Position überhaupt in einen Diskurs einzutreten. Man darf also argwöhnen, dass Affekte dahinter stecken, die eine sachliche Diskussion nicht nur erschweren sondern oft auch gar nicht zulassen. Der Gedanke, dass Männer und Frauen von Natur aus verschieden seien, und zwar nicht nur rein leiblich, sondern auch und gerade in ihrer Weise des Fühlens, des Denkens, des Wünschens und ihrer Handlungsmuster – dieser Gedanke macht manchen offenbar Angst und wird aus diesem Grund gewaltsam unterdrückt. Diese Angst ist indessen gar nicht berechtigt. Sie entspringt aus einer Reihe von Denkfehlern, die sich eigentlich ohne großen Aufwand berichtigen ließen. Die wichtigste Fehlannahme liegt in einem falschen Verständnis von „Natur“. Man fasst sie als etwas auf, das uns Fesseln anlegt, Zwängen aussetzt und damit unsere Freiheit beschneidet.
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Ein Gleichnis von Norbert Bischof (1985, 561ff) mag helfen, dieses Missverständnis auszuräumen. Demnach verhält sich die Kultur zur Natur wie das Straßennetz von Manhattan zu den begrenzenden Wasserfronten des Hudson und des East River. Wo Wasser ist, dort kann man keine Straßen bauen. Wo das Wasser aber Land freigibt, dort kann der Städtebauer walten, wie er will, und es ist offenkundig, dass die Straßen von Manhattan in ihrer rechtwinkeligen Struktur nach eigenen Gesetzen konstruiert sind, die nicht irgendwie in der Gewässerkunde gründen. Nun wäre aber auch eine andere Konstellation denkbar. Stellen wir uns vor, eine Stadt soll auf einem ausgesprochen hügeligen Gelände errichtet werden. Zehn Städtebauarchitekten beteiligen sich an der Ausschreibung. Sie alle werden verschiedene Entwürfe liefern. Und doch wird man beim Vergleich der Entwürfe wahrscheinlich gewisse Ähnlichkeiten bemerken; irgendwie haben sich alle Bewerber mit den Gradienten und Höhenlinien der vorgegebenen Geographie auseinandergesetzt. Sie mussten das nicht, sie waren frei. Vielleicht ist sogar einer darunter, der das Schachbrettmuster von Manhattan auf eine solche Geographie übertragen wollte. Historische Beispiele gibt es, wie z.B. San Francisco. Die Zeche zahlen dabei die Autofahrer, denen es bei dem ewigen auf und ab den Magen hebt. Der Sinn der Analogie sollte deutlich sein. Unsere Natur setzt uns nur selten Schranken, so wie der Hudson River dem Straßenplaner. Sie gibt uns vielmehr ein Gradientenfeld vor, in dem wir uns geodätische Linien aussuchen können. Wir müssen nicht, aber so ist es am bequemsten. Selbstverständlich bleiben wir dabei frei in unserer Wahl. Nur machen wir von dieser Freiheit nicht immer Gebrauch. Oft tun wir Dinge, über die wir nicht weiter nachdenken, und dabei schlägt auch unsere Natur durch. Es gibt eben Handlungen, bei denen wir uns keine Mühe geben müssen, weil sie uns mehr Spaß machen als die Alternativen. Nun ist es zwar außerordentlich schwierig, das individuelle Verhalten einer Person selbst bei Kenntnis ihres Charakters vorherzusagen. Betrachtet man jedoch das durchschnittliche Verhalten größerer Populationen – konkret von Männern und Frauen insgesamt –, dann schlagen diese Prädispositionen eben doch durch. Das widerspricht überhaupt nicht unserer Freiheit. Allerdings besteht eine höchst ärgerliche gesellschaftliche Tendenz, solche statistischen Normen zu moralischen Normen zu erheben, also zu dekretieren, es sei für Männer und Frauen auch schicklich, sich so zu verhalten, wie es die Mehrzahl von ihnen üblicherweise unreflektiert tut. Um solcher Verpflichtung zu entkommen, glauben dann manche, die natürlichen Vorgaben überhaupt leugnen zu müssen, anstatt, was viel einfacher wäre, auf die logische Unabhängigkeit von Sein und Sollen zu verweisen. Wenn man aber natürliche Vorgaben leugnet, dann können tatsächlich beobachtbare Unterschiede nur auf soziale Willkür zurückgeführt werden. Will man die Dinge ändern, dann ist man in Versuchung, diese als gegeben unterstellte Willkür lediglich durch eine andere zu ersetzen. Dabei hält man jede beliebige Form für gleich einfach durchsetzbar, so wie sich in Manhattan jedes beliebige Straßenmuster hätte konzipieren lassen. Genau hier liegt der Denkfehler. Sollte sich nämlich herausstellen, dass die Beliebigkeitsprämisse nicht gilt, dann läuft man Gefahr, dass soziale Maßnahmen unwirksam oder sogar kontraproduktiv werden, weil sie die natürliche Eigendynamik der Betroffenen nicht genügend beachten. Für jede tragfähige Konstruktion braucht es so etwas wie eine vorangehende Vermessung der natürlichen Geographie – und die gibt es auch bei der menschlichen Psyche. Ohne
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eine solide Basis dieser Art verkommt die erziehungspolitische Kreativität zu einem unverantwortlichen Experimentieren am Menschen, das an Fragwürdigkeit dem gentechnischen Experimentieren in keiner Weise nachsteht (Bischof & Bischof-Köhler, 2000). Parentale Investition Für die evolutionsbiologische Herleitung geschlechtstypischen Verhaltens muss man sich zunächst vergegenwärtigen, wie Evolution eigentlich vor sich geht. Dispositionen werden dann genetisch verankert, wenn das Verhalten, das sie ermöglichen, den Fortbestand des Genoms von Generation zu Generation begünstigt. Von der Zahl der Nachkommen hängt es ab, wie wahrscheinlich eine individuelle Anlage innerhalb einer Population anzutreffen ist. Die Geschlechter sind gleichermaßen disponiert, sich optimal fortzupflanzen, erreichen dies aber durch unterschiedliches Vorgehen. Den Ausgangspunkt hierfür bildet ein Tatbestand, der sich bei allen landlebenden Tieren, einschließlich dem Menschen vorfindet. Wenn im folgenden von Tieren die Rede ist, dann sei gleich einem Missverständnis zuvorgekommen: es soll hier nicht „vom Tier auf den Menschen geschlossen werden“, wie ein beliebtes Klischee lautet, sondern es werden Prozesse thematisiert, die bei Tieren und Menschen gleichermaßen wirksam sind (Bischof, 1979, 2009; Bischof-Köhler, 1990a,b, 1997, 2006). Der Grundgedanke ist der folgende. Während bei unseren fischartigen Vorfahren beide Geschlechter ihre Keimsubstanz einfach dem Meerwasser anvertrauten, also eine äußere Befruchtung praktizierten, machte der Übergang zum Landleben vor etwa 400 Millionen Jahren eine innere Befruchtung erforderlich. Das bedeutet, dass einer der beiden Organismen, und zwar aus naheliegenden Gründen derjenige, der die Eizellen produziert, das keimende Leben aufnehmen und während einer gewissen Zeit austragen muss. Seitdem besteht für beide Geschlechter landlebender Arten eine immer vorhandene, wenn auch verschieden große Ungleichheit in der „parentalen Investition“. Ins anschauliche übersetzt läuft dies auf die Binsenweisheit hinaus, dass das weibliche Geschlecht weniger Kinder haben kann als das männliche. Präziser definiert man parentale Investition als den Aufwand an Energie, Zeit und Risiko pro Einzelnachkomme auf Kosten möglicher weiterer Nachkommen (Trivers, 1978). Eben dieser Aufwand ist für die beiden Geschlechter, sofern sie innere Befruchtung praktizieren, verschieden verteilt. Das weibliche Geschlecht muss sich vom Moment der Konzeption an länger und intensiver um jeden einzelnen Nachkommen kümmern. Die Kapazität reicht daher nur für wenige Kinder aus. Für das männliche Geschlecht existiert diese Beschränkung primär nicht. Es kann sich im einfachsten Fall mit Partnersuche und Begattung begnügen und hat damit freie Kapazitäten für eine größere Zahl von Nachkommen. Wir unterscheiden somit zwei gegenläufige Fortpflanzungsstrategien – eine quantitative, nach dem Prinzip „die Masse macht's“, und eine qualitative, die sich mit wenigen Nachkommen begnügen muss, diesen dann aber wenigstens eine möglichst gute Startbasis im Daseinskampf verschafft. Bei Lebewesen mit innerer Befruchtung ist dem weiblichen Geschlecht die quantitative Strategie verwehrt, so dass hier ein stärkerer Selektionsdruck auf die Entwicklung und den Ausbau qualitativer Strategien wirkt. Die Weibchen der meisten landlebenden Wirbeltiere erweitern daher den durch die Trächtigkeit gebotenen Minimalaufwand durch zusätzliche Leistungen der nachgeburtlichen Brutpflege, wie Wärmen,
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Transportieren und Schützen der Jungen, und durch Füttern, was sich bei Säugetieren in der Ausbildung von Milchdrüsen auch anatomisch manifestiert. Folglich legt die Selektion beim weiblichen Geschlecht eine besondere Prämie auf fürsorgliche Dispositionen. Ein vergleichbar einheitlicher Selektionsdruck lastete auf dem männlichen Geschlecht nicht. Hier liegen die Verhältnisse daher komplizierter. Genügt ein Elternteil, um die Nachkommen zu versorgen und zu beschützen, so begünstigt die Selektion Männchen, die ihre parentale Investition minimieren d. h. nach der Befruchtung unverzüglich nach der nächsten empfängnisbereiten Partnerin suchen. Wenn das Weibchen aber seine Kinder allein nicht am Leben halten könnte, dann haben solche Männchen einen Selektionsvorteil, die bereit sind, ihre Partnerinnen bei der Brutpflege zu unterstützen, was zu länger dauernden eheähnlichen Bindungen führen kann. Häufig reicht der Investitionsbeitrag eines Männchens für mehrere Weibchen, das ergibt dann den häufigen Fall der Polygynie, der Haremsehe. Den Grenzfall stellt die Monogamie dar, bei der die parentale Investition der Geschlechter praktisch angeglichen ist. Diese exklusive Partnerbindung findet sich am ehesten bei kleinen und relativ schwachen Wirbeltieren, z.B. bei Vögeln. Auch beim Menschen sind Väter bereit, einen Anteil ihrer Ressourcen auch nachgeburtlich in ihre Nachkommen zu investieren. Diese Investition ist allerdings häufig nicht auf eine einzige Partnerin und deren Nachwuchs beschränkt. Monogamie ist nur bei 17% der uns bekannten Kulturen vorgeschrieben und bekanntlich ziemlich störanfällig. 83% der menschlichen Kulturen erlauben Polygynie, wobei diese allerdings meistens in gemäßigter Form praktiziert wird: Ein Mann hat zwei oder drei Frauen, soviel er eben versorgen kann, oder er heiratet mehrere Frauen nacheinander: „Monogamie auf Zeit“ (Daly & Wilson, 1983). Unterschiedliche Verhaltensdispositionen Die durch die Unterschiede in der parentalen Investition bedingten Fortpflanzungsstrategien führen zu jeweils geschlechtsspezifischen Lebensumständen und dies wiederum hat Folgen für die gesamte Verhaltensorganisation. Die Ultima ratio der Selektion ist nun einmal die Nachkommenzahl. Wenn eine Spezies in zwei Formen zerfällt, die in der potentiellen Nachkommenzahl um wenigstens zwei Zehnerpotenzen divergiert, dann führt dies zu Verhaltensasymmetrien, die seit Hunderten von Millionen Jahren zwischen den Geschlechtern bei Tieren wie auch beim Menschen bestehen, und angesichts derer es von schlichter Ahnungslosigkeit evolutionsbiologischer Gesetzmäßigkeiten zeugt, diese Unterschiede auf gesellschaftliche Faktoren zurückführen zu wollen, die erst seit dem Mittelalter oder allenfalls seit 2000 Jahren wirksam sein konnten. Nachfolgend seien die wichtigsten dieser Asymmetrien aufgezählt, zunächst, wie sie sich im Tierreich darstellen. (Bischof & BischofKöhler, 2000; Bischof-Köhler, 2006). Während beim weiblichen Geschlecht, wie bereits erwähnt, eine besondere selektive Prämie auf Fürsorglichkeit liegt, stehen männliche Individuen mit niedriger parentaler Investition wegen der Begrenztheit der weiblichen Fortpflanzungsressourcen unter permanentem Rivalitätsdruck. Ein besonders bedeutsamer dispositioneller Schwerpunkt ergibt sich somit für das männliche Geschlecht aus der Notwendigkeit, um paarungsbereite Partnerinnen zu konkurrieren. Damit sind jegliche Verhaltensdispositionen selektiv begünstigt, die den Erfolg beim Rivalenkampf fördern.
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Als erstes ist hier Körperkraft und Ausdauer zu nennen; die Männchen sind meist physisch kräftiger als die Weibchen. Wichtiger noch ist, dass sie auch motiviert sein müssen, miteinander zu konkurrieren, also nicht nur das Risiko und Abenteuer des Konkurrenzkampfs zu ertragen, sondern auch Spaß daran zu finden. Junge Männchen engagieren sich schon im Tierreich in Raufspielen; auch ist es ein weit verbreitetes Verhaltensmuster, dass sie noch vor der Geschlechtsreife die Familie verlassen und sich sogenannten Junggesellenrudeln anschließen, während die Weibchen in der Familie bleiben, von der ein potentieller Partner sie dann erst abwirbt. Ein weiterer wichtiger Selektionsdruck im männlichen Geschlecht begünstigt die Toleranz gegenüber Misserfolg. Nicht jeder Konkurrenzkampf kann zu Erfolg führen. Ein Männchen, dem eine Serie solcher Erfahrungen die unverdrossene Bereitschaft rauben würde, es immer wieder zu versuchen, und das stattdessen zum Aufgeben neigte, könnte diese Eigenschaft schwerlich an Söhne vererben, während die Disposition, „ein dickes Fell“ gegenüber Misserfolgen auszubilden, eine gute Chance hat, an folgende Generationen weiter gegeben zu werden. Beim weiblichen Geschlecht hingegen besteht keine Notwendigkeit, sich besonders gegen Misserfolg zu desensibilisieren. Männliche Kompetitivität wird oft ungenau als Aggressivität bezeichnet. Man muss sich aber deutlich machen, dass es nicht primär um Destruktion des Rivalen geht. Sobald dieser aufgibt und sich unterwirft, ist das Ziel erreicht. So konstatieren wir bei den Rivalenkämpfen Mechanismen, die schädliche Begleiterscheinungen wie Verletzungsgefahr, Stress oder Verlust der Gruppenkohäsion nach Möglichkeit begrenzen. Die Aggressivität wird – wie die Ethologen sagen – ritualisiert. Schon rein morphologisch sind Männchen auf Schau hin angelegt, etwa durch prächtige Mähnen und Geweihe, bei Vögeln auch durch besonders auffällige Gefiederfärbung. Und wenn es zur Auseinandersetzung kommt, ziehen sie es vor, den Rivalen anzudrohen und durch Imponierverhalten einzuschüchtern, statt sich ernsthaft auf einen Beschädigungskampf einzulassen. Eine letzte Auswirkung permanenter Rivalität ist schließlich die größere Bereitschaft der Männchen, ihr Aggressionspotential vorübergehend zu neutralisieren, so dass es nicht gruppendestruktiv wirkt. Dies führt zur Ausbildung stabiler Rangordnungen. Hierarchische Strukturen entstehen nicht dadurch allein, dass jeder nach Macht strebt; sie setzen vielmehr vor allem auch die Bereitschaft voraus, sich dem Stärkeren spannungsfrei unterzuordnen. Man geht gewissermaßen in eine Warteschleife, bis irgendwann die eigene Chance gekommen ist und versucht nicht ständig vergeblich, dem anderen seine Position streitig zu machen. Als Konsequenz können ehemalige Rivalen kooperieren. Im weiblichen Geschlecht setzt die Selektion andere Schwerpunkte. Bei unterschiedlicher parentaler Investition müssen die Weibchen um Futter, nicht aber um Männchen konkurrieren, denn Männchen gibt es genug. Aber auch bei angeglichener parentaler Investition zahlt sich Amazonenmentalität nicht aus, weil sie den Reproduktionserfolg mindert. Wenn sich Weibchen mit Weibchen auseinandersetzen müssen, dann ist es eher eine reaktive, eine anlassbezogene Kompetitivität, bei der die Aggression kaum ritualisiert ist. Es gibt nichts Gefährlicheres als ein Weibchen, das seine Jungen verteidigt.
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Ultimate und Proximate Analyse Bisher haben wir die Grundlagen geschlechtstypischen Verhaltens unter dem Aspekt betrachtet, welche Verhaltensstrategien den Fortpflanzungserfolg optimal begünstigen und wieso sich die Geschlechter hierin unterscheiden. Der Begriff „Strategie“ sagt indes noch nichts darüber aus, wie diese in konkrete Verhaltensweisen umgesetzt wird. Tiere denken ja nicht bewusst darüber nach, was sie am besten ihre Nachkommenzahl optimieren. Auch Menschen tun das nicht, obwohl sie es könnten. Nun unterscheidet die evolutionsbiologische Betrachtung zwei Analyseebenen. Die Frage nach dem Selektionsvorteil entspricht der ultimaten Analyse. Manche Vertreter der evoutionären Psychologie neigen dazu, es bei dieser bewenden zu lassen und zu glauben, sie hätten ein Verhalten bereits erklärt, wenn sie begründen können, wozu es selektionistisch gesehen „gut“ ist. Die Erklärung ist indes erst vollständig, wenn sich eine proximate Analyse anschließt, die verständlich werden lässt, welche Mechanismen vorausgesetzt sind, damit eine Verhaltensweise überhaupt statt finden kann (Bischof-Köhler, 2006). Bei Tieren ist die Verhaltenssteuerung durch einen angeborenen Satz von Instinkten geregelt. Wenn wir beim Menschen von anlagebedingten Dispositionen sprechen, dann handelte es sich dabei ursprünglich ebenfalls um Steuermechanismen, die während unserer Evolution adäquates Verhalten ermöglichten, bevor das Denken evolviert war. Diese Mechanismen sind nun aber durch die Vernunft nicht abgelöst sondern überformt worden. Sie äußern sich auch heute noch in Form von Neigungen, Interessen, emotionaler Ansprechbarkeit auf bestimmte Konstellationen und Fähigkeiten, in denen sich die Geschlechter schwerpunktmäßig unterscheiden. Diese Dispositionen legen das Verhalten aber eben nicht fest, sie haben vielmehr appellativen Charakter und wirken sich dahingehend aus, dass uns je nach Geschlecht bestimmte Verhaltensweisen mehr oder weniger Spaß bereiten, ohne dass wir aber gezwungen wären, solchen Appellen auch tatsächlich Folge zu leisten. Selbstverständlich können wir lernen, gegen unsere Neigungen zu handeln und etwas zu tun, das uns weniger Spaß macht – es bereitet uns dann allerdings mehr Mühe. Frühe Geschlechtsunterschiede Bei einer entwicklungspsychologischen Bestandsaufnahme geschlechtstypischen Verhaltens stellt man fest, dass sich die Geschlechter bereits von Geburt an unterscheiden. Jungen sind sogar schon im Mutterleib aktiver und dann vom ersten Lebenstag an impulsiver, reizbarer, schlechter zu beruhigen, emotional rascher aufgedreht und schnell auch einmal überdreht (Eaton & Enns, 1986; Haviland & Malatesta, 1981; Hay et al., 1983). Sie sind generell schwieriger und rufen allein schon dadurch mehr Beachtung hervor. Ferner sind sie bereits mit sechs Monaten durchsetzungsorientierter, was sich darin äußert, dass sie anderen Kindern ein Spielzeug wegnehmen, während Mädchen das in diesem Alter noch nicht tun. Mädchen sind von Geburt an emotional ausgeglichener und leichter zu beruhigen. Sie zeigen häufiger und länger Blickkontakt und öfter den Ausdruck des Interesses. Im Wahlexperiment sind sie schon als Neugeborene stärker an einem menschlichen Gesicht interessiert, während Jungen ein Mobile bevorzugen (Lutchmaya & Baron-Cohen, 2002) und reagieren eher mit
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Gefühlsansteckung, wenn andere Babys schreien, worin sich ihre spätere erhöhte Empathiefähigkeit ankündigen könnte (Hoffman, 1977). Eine geschlechtstypische Spielzeugpräferenz tritt bereits bei Einjährigen auf. Mädchen spielen am liebsten mit Stofftieren und Puppen und generell mit Objekten, die eine pflegerische Aktivität ermöglichen. Mit zwei Jahren kommt hinzu, dass sie sich gern verkleiden und basteln. Jungen spielen schon vom ersten Lebensjahr an lieber mit Autos, mit allem, was Krach macht oder funktioniert, und mit verbotenen Dingen. Auch zeigen sie früh eine Vorliebe für riskante Spiele (Kuhn, Nash & Brucken, 1978; O'Brien & Huston, 1985; Weinraub et al., 1984; Goldberg & Lewis, 1975; Bischof-Köhler 2006). Vom dritten Lebensjahr an raufen sie gern mit anderen Jungen (De Pietro, 1981). So deuten sich schon früh jene Verhaltensbesonderheiten an, in denen sich die Geschlechter dann auch im Erwachsenenalter signifikant unterscheiden (Feingold, 1992): Männer sind durchsetzungsorientierter, risikobereiter und explorativer, Frauen personbezogener, fürsorglicher und empathischer. Konfliktstrategien bei Jungen und bei Mädchen Im dritten Lebensjahr beobachtet man kulturübergreifend eine spontane Segregation der Geschlechter (Maccoby, 2000). Jungen und Mädchen zieht es automatisch zu ihresgleichen; gemischtgeschlechtliche Aktivitäten müssen von den Erziehern initiiert und aufrecht erhalten werden. Das hängt zum einen damit zusammen, dass der Spielstil der Geschlechtsgenossen attraktiver ist als der des Gegengeschlechts. Aber auch in den Konfliktbewältigungsstrategien zeigen die Geschlechter schon früh unterschiedliche Muster (Jacklin & Maccoby, 1978; Eisenberg et al., 2006). Dazu gehört nicht nur die stärkere männliche Durchsetzungsorientiertheit sondern auch eine jeweils typische Weise des Vorgehens. Schon im Kindergartenalter kämpfen Jungen um Vorrechte, mit der Tendenz, dass sich Beziehungen einspielen und Rangordnungen ausbilden (Charlesworth & Dzur, 1987; Hold, 1977; Omark & al. 1980). Besonders aufschlussreich ist eine Studie von Savin-Williams (1979) zum Rangverhalten an 11- bis 14-jährigen Jugendlichen, wobei die typischen Muster aber eben auch schon im Kindergarten auftreten. Die Jugendlichen, die sich mehrheitlich nicht kannten, wurden bei einem Ferienlager geschlechtsgetrennt zu fünft in Hütten untergebracht und in ihrem Verhalten systematisch beobachtet. Bei den Jungen waren die Rangbeziehungen innerhalb von wenigen Tagen stabil. Die Konflikte nahmen stetig ab, dem Ranghöchsten wurden ohne Widerrede Vorrechte eingeräumt, z.B. das größte Stück Kuchen oder der besten Schlafplatz zugestanden. Befragte man die Jungen nach dem relativen Rang eines jeden einzelnen, dann stimmten sie weitgehend überein; nur die eigene Position wurde in der Regel überschätzt. Auch im Vorgehen zeigte sich ein typisches Muster. Die Jungen kämpften häufig mit brachialen Mitteln, suchten das Gespräch zu dominieren, drohten Gewalt an und zeigten Imponierverhalten, also ein Verhalten, das Stärke bekunden und Furcht verbreiten sollte. Auch die Mädchen bemühten sich um einen hohen Status. Aber auch nach fünf Wochen, gegen Ende des Ferienlagers hatten sich keine stabilen Beziehungen eingespielt. Immer wieder brachen Konflikte aus nichtigen Anlässen aus, auch war die Übereinstimmung über den relativen Rang niedrig. Das Vorgehen der Mädchen war eher indirekt. Sie suchten bei anderen Anerkennung zu gewinnen
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und wenn sie Erfolg hatten, wurden sie bewundert und imitiert. Wenn nicht, dann gehorchten die anderen nicht oder bildeten Koalitionen, und äußerten sich abfällig. Ein weiteres Merkmal ranghoher Mädchen war es, sich um das seelische Wohlbefinden der anderen zu kümmern. Das konnte schnell einmal die Form ungefragter Ratschläge annehmen. Typisch für Mädchen ist „prosoziale Dominanz“; eine Mischung aus verantwortlicher Besorgtheit und Bevormundung. Aggression äußern Mädchen weniger brachial sondern eher als Beziehungsaggression. Es handelt sich dabei um das Androhen des Kontaktabbruchs, wenn andere einem nicht zu Willen sind (Archer & Coyne, 2005). Prosoziale Dominanz und Beziehungsaggression bei Mädchen und Imponierverhalten sowie eine eher brachiale Konfliktbewältigung bei Jungen sind Merkmale, in denen sich die Geschlechter bereits im Kindergarten signifikant unterscheiden (Hold-Cavell & Borsutzky, 1986; Archer, 2005; weitere Literatur: Bischof-Köhler, 2006). Die Rolle der Sozialisation Fragt man nach den möglichen Ursachen für die aufgezählten Unterschiede, dann werden diese, wie eingangs schon erwähnt, als Folge von Sozialisation und kulturellen Einflüssen gesehen. Diese Annahme gilt als so selbstverständlich, dass man es vielfach gar nicht mehr nötig findet, sie empirisch zu überprüfen. Man stellt – zutreffenderweise – fest, dass Eltern Mädchen und Buben von Geburt an verschieden behandeln, und nimmt an, dass sie sich dabei nach den Geschlechtsstereotypen richten, womit die Unterschiede ausreichend erklärt seien. Als Beleg werden hierfür immer noch die sog. Baby-X-Studien angeführt. Bei diesen wurde Erwachsenen das falsche Geschlecht von einem Baby angegeben, mit dem sie spielen und dem sie Merkmale zuordnen sollten. Entgegen der Hypothese wurde die Charakterisierung des fremden Babys nicht immer nur stereotypengemäß vorgekommen sondern entsprach, wie eine Metaanalyse der einschlägigen Studien ergab, zum Teil durchaus dem wirklichen Geschlecht des Kindes: Als Mädchen deklarierte Jungen wurde z.B. als robuster und weniger sensibel bezeichnet. Lediglich das Spielangebot erfolgte vorwiegend stereotypenkonform, was nicht verwundert, da man in Unkenntnis der Vorlieben eines fremden Babys den Hinweis auf sein Geschlecht gern aufgreift (Stern/Karraker 1989). Bei längerem Kontakt würde man dann das Vorgehen sicher gemäß der Eigenart des Kindes modifizieren. Untersuchungen zur Wirkung geschlechtsdifferenzierender Sozialisation haben kaum überzeugende Zusammenhänge ergeben (Lytton/Romney, 1991). Eltern verstärken lediglich geschlechtstypische Aktivitäten signifikant öfter als gegengeschlechtliches Verhalten. In den übrigen Bereichen, insbesondere auch in Bezug auf Durchsetzung und Aggression ergaben sich keine signifikanten Zusammenhänge. Auch gibt zu denken, dass Mütter wie auch Betreuer im Kindergarten bei kleinen Jungen eher neutrales und mädchenhaftes Verhalten verstärken, ohne dass dies die Jungen feminisieren würde (Fagot, 1985; Langlois & Downs, 1980). Die Verstärkungspraxis ist also keineswegs so konsequent, wie zu fordern wäre, wollte man die Unterschiede ausschließlich darauf zurückführen. Vor allem geben auch Fehlschläge zu denken, wenn Eltern versucht haben, Jungen und Mädchen bewusst geschlechtsneutral zu erziehen. Als ein Beispiel hierfür sei die antiautoritäre Erziehung in den Kinderläden der 68er Bewegung angeführt, die unter anderem eine
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nicht-aggressive Konfliktbewältigung und die Nicht-einübung der Geschlechtsrollen anstrebte. In einem Vergleich von Drei- bis Fünfjährigen in faktisch allen bestehenden Kinderläden mit traditionellen Kindergärten ergab sich, dass diese Ziele nicht erreicht wurden, ja dass geradezu das Gegenteil herauskam (Nickel & Schmidt-Denter, 1980). Wie erwartet, waren die Jungen im Kindergarten etwas aggressiver als die Mädchen. In den Kinderläden dagegen übertrafen die Jungen nicht nur ihre Geschlechtsgenossen in den traditionellen Kindergärten; sie waren vor allem deutlich aggressiver als die Mädchen, die sie überdies massiv dominierten. Entsprechend war deren Neigung besonders stark ausgeprägt, bei Konflikten einfach den Rückzug anzutreten, während sich die Jungen und Mädchen in den Kindergärten hierin nicht unterschieden. Nun könnte man argumentieren, die Kinder hätten sich auf andere Weise die einschlägigen Rollenkenntnisse verschafft. Im Anschluss an Kohlbergs Theorie der Geschlechtsrollenübernahme wurde zunehmend auch auf die Bedeutung der kognitiven Entwicklung und der aktiven Eigenleistung des Kindes verwiesen, das von sich aus Information über die Geschlechtlichkeit sammle und verarbeite (Kohlberg, 1966; Überblick Bischof-Köhler, 2006). Das trifft sicher zu, nur muss man sich immer vor Augen halten, dass geschlechtstypische Aktivitäten und Präferenzen nicht erst als Folge dieser Einsichten, sondern schon früher auftreten, nämlich bevor das Geschlecht zuverlässig zugeordnet werden kann und bevor die Kinder über die Geschlechtsstereotypen Bescheid wissen, also verstehen, was sich für einen Jungen bzw. ein Mädchen „gehört“ (Campbell et al., 2002). Die genannten Faktoren beeinflussen die weitere Geschlechtsrollenentwicklung und Konsolidierung sicher in erheblichem Maße, aber eben erst ab dem Alter von drei bis vier Jahren. Bezüglich der früheren Unterschiede lassen sie einen unerklärten Rest – und dieser verweist auf den Faktor der Veranlagung. Auch wenn Eltern vorgefasste Meinungen über die Eigenart der Geschlechter haben, muss das nicht heißen, dass sie meinen, es hänge ausschließlich von ihrer Erziehung ab, dass aus ihrem Kind ein Junge bzw. ein Mädchen wird. Sie gehen vielmehr auch von einer unterschiedlichen „Natur“ der Geschlechter aus, was sie dazu veranlasst, in gewissen Bereichen gegenzusteuern oder gar nichts zu unternehmen. Vor allem aber legt das sehr frühe Auftreten geschlechtstypischer Verhaltensweisen nahe, dass die ungleiche Behandlung auch bereits eine Reaktion darauf ist, dass Söhne und Töchter von Anfang an ein unterschiedliches Verhaltensangebot machen und auf dieselben Maßnahmen verschieden reagieren (s. Abb. 1). Um den gleichen Effekt einer optimalen Interaktion herbeizuführen, muss man eben mit einem Jungen anders umgehen als mit einem Mädchen (Maccoby & Jacklin, 1974; Feingold, 1994; Golombok & Fivush, 1994).
9. Entwicklungspsychologie, Kulturwissenschaften, Biopsychologie Abbildung 1:
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Sozialisation als Feedback, wobei unter dem Leitbild optimaler Interaktion eine Balance zwischen gesellschaftlicher Rollenerwartung und kindlicher Disposition angestrebt wird
Rollenvorstellungen
Angebot und Rückmeldung
optimale Interaktion
Mutter Sozialisation
Kind Anlagen
Hormonelle Einflüsse Als nächstes wollen wir der Frage nachgehen, welchen physiologischen Vorgängen die Dispositionen, die das geschilderte geschlechtstypische Verhalten anregen, ihre zerebrale Realisierung verdanken. Die Befundlage spricht recht eindeutig für den pränatalen Einfluss foetaler Androgene auf die Gehirnentwicklung (Überblick, s. Cohen-Bendahan u.a., 2005). Männliche Foeten produzieren ab der 8. Schwangerschaftswoche Androgene (mit Testosteron als dem wichtigsten) in den Hoden. Von der Wirkung dieser Hormone hängt nun nicht nur die weitere morphologische Differenzierung, sondern auch die geschlechtsspezifische Prägung von Gehirnstrukturen ab, in denen wir die Grundlage der in Frage stehenden Dispositionen vermuten können. Bei Anwesenheit der Androgene geht die Entwicklung in die männliche Richtung, bei deren Fehlen in die weibliche. Bei Ausfall der Testosteronwirkung kommt es bei genetisch männlichen Individuen zu einer Verweiblichung, und umgekehrt ist auch eine Androgenisierung genetisch weiblicher Individuen möglich. Besonders aufschlussreich sind in dieser Hinsicht Fallgeschichten von Mädchen, die während der Foetalzeit unerwünschtermaßen einer erhöhten Androgenwirkung ausgesetzt waren, sei es, weil die Mütter wegen drohenden Schwangerschaftsabbruchs künstliche Gestagene erhielten, die androgenisierend wirkten, sei es wegen eines genetischen Defekts, der den Foetus selbst veranlasst, in der Nebennierenrinde ein Übermaß an Androgenen zu produzieren (adrenogenitales Syndrom). Die betroffenen Mädchen zeigten jungentypisches „Wildfangverhalten“, eine Vorliebe für Raufen und athletische Sportarten mit Wettkampfcharakter, eine Präferenz für Jungenspielzeug, eine eher brachial-aggressive Konfliktbewältigung sowie bessere Leistungen in der räumlichen Vorstellung, wie sie ebenfalls für Jungen typisch sind (Cohen-Bendahan u.a., 2005). Neuste Untersuchungen mit Hormonsbestimmungen aus dem Fruchtwasser bestätigen solche Zusammenhänge bei Kindern aus normal verlaufenden Schwangerschaften, wobei anzumerken ist, dass auch Mädchenfoeten normalerweise – wenn auch in viel geringerem
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Maß – Androgene produzieren. Je höher die Konzentration von Androgenen während der Foetalentwicklung, um so stärker war im Grundschulalter die Neigung von Jungen und Mädchen zu jungentypischen Beschäftigungen (Aueyung et al., 2009). Zur Vollständigkeit ist zu erwähnen, dass die Testosteronausschüttung auch bei erwachsenen Männern eine direkte Wechselwirkung mit dem männlichen Wettkampfverhalten aufweist. Androgene intensivieren die Kampfeslust, bei Erfolg steigt die Konzentration, bei Misserfolg fällt sie ab (Mazur & Booth, 1998). Dominanzhierarchie und Geltungshierarchie Es dürfte aus den bisherigen Ausführungen deutlich geworden sein, dass auffällige Parallelen zwischen den typischen Verhaltensmustern rivalisierender Tiermännchen und der Gruppenstruktur von Jungen bestehen. In beiden Fällen beobachten wir betontes Imponierverhalten, stabile Rangordnungen und die Bereitschaft, sich unterzuordnen. Die Struktur der Jungengruppen entspricht einer von zwei Grundformen menschlicher Sozialorganisation; man bezeichnet sie als Dominanzhierarchie. In dieser geht es um die Machtverhältnisse; der Vorrang wird – notfalls brachial, bevorzugt aber durch Droh- und Imponierverhalten – erkämpft. Wer einsieht, dass er keine Chance hat, ordnet sich unter. Der Vorteil dieser Struktur liegt in der Möglichkeit, relativ schnell einen Konsens zu erreichen, und in der Bereitschaft, auch mit ehemaligen Rivalen zu kooperieren. Der Nachteil ist, dass auf persönliche Belange keine Rücksicht genommen wird. Diese Gruppenstruktur schließt an das phylogenetisch alte Muster des männlichen Konkurrenzkampfes an, wenn die Facetten des Wettbewerbs beim Menschen auch vielgestaltiger geworden sind. Neben dieser Strategie steht dem Menschen indessen noch eine zweite zur Verfügung, einen hohen Status zu erlangen. Diese kündigt sich bereits bei Tieren in dem Phänomen an, dass sich die Ranghöhe eines Individuums an der Aufmerksamkeitsstruktur der Gruppe ablesen lässt: Der Ranghöchste wird von allen anderen am meisten angeschaut. Hierin liegen die Wurzeln für das menschliche Geltungsmotiv. Der Mensch kann sich aufgrund bestimmter Eigenschaften vor anderen auszeichnen und dadurch zu Ansehen gelangen. Anerkennung und Lob werden als Steigerung des Selbstwertes erfahren. Die dabei entstehende Sozialordnung lässt sich als Geltungshierarchie bezeichnen (Bischof-Köhler, 1985, 1997, 2006). Die Geltungshierarchie ist die Basis für die Demokratie. Ihr Vorteil besteht darin, dass die persönliche Meinung zur Geltung kommt und der einzelne sich keine Vorrechte herausnehmen kann, weil ausufernde Ansprüche einzelner Mitglieder dadurch kontrollierbar werden, dass die Gruppe ihnen die Anerkennung entzieht. Da man sich Anerkennung nicht erkämpfen kann, sondern darauf angewiesen ist, sie zugestanden zu bekommen, sind Geltungshierarchien konfliktanfälliger als Dominanzhierarchien. Die Dominanzhierarchie kennzeichnet in erster Linie männliche Gruppierungen. Männer können allerdings beide Spielarten des Rangverhaltens einsetzen. Da in Frauengruppen die verlässliche motivationale Basis für Dominanzhierarchien fehlt, haben weibliche Organisationen eher den Charakter reiner Geltungshierarchien, und müssen weitgehend ohne das stabilisierende Fundament der Einordnungsbereitschaft in Machtstrukturen auskommen. Wie schon die oben angeführten Befunde bei Mädchen deutlich machen, spielt das Suchen und Gewähren von Anerkennung beim weiblichen Statusverhalten die zentrale Rolle. Dem-
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entsprechend sind rein weibliche Organisationen auch konfliktanfälliger. Frauen haben offensichtlich Mühe, sich anderen Frauen unterzuordnen. Wie aus Befragungen hervorgeht, ziehen Mitarbeiterinnen vielfach einen männlichen Chef vor, weil sie eine Chefin für „parteiisch und ungerecht“ halten, während die Chefinnen ihrerseits zum Teil lieber mit männlichen Mitarbeitern arbeiten und sich beklagen, dass Mitarbeiterinnen „nicht offen“ seien, kritischer, schwerer zu motivieren und „zu viel persönliche Anteilnahme“ erwarteten (Rosenstiel, 1986; Bischoff, 1987; Neujahr-Schwachulla & Bauer, 1995; Wunderer & Dick, 1997; Bischof-Köhler, 1997, 2006). In diesem Kontext stellt sich die Frage, wieso Frauen bereit sind, sich einem männlichen Chef unterzuordnen, anderen Frauen dagegen nicht. Hier könnte eine Rolle spielen, dass dominante Männer, die es zu etwas gebracht haben, erotisch als attraktiv erlebt werden, während die andere Frau eher als Rivalin erscheint (Buss, 2004). Rivalität um einen begehrenswerten Partner wird von Frauen aber nur in den seltensten Fällen brachial ausgetragen; Kampfeslust wäre ihrer Attraktivität für den Partner auch eher abträglich. Wie gehirnphysiologische Befunde belegen, liegt die Hemmschwelle für physische Aggression bei Frauen eindeutig höher ist als bei Männern (Strüber, 2008). Evolutionsbiologisch hat dies den Zweck, eine Gefährdung der Nachkommenschaft zu vermeiden. Und in diesem Zusammenhang erweist sich die Beziehungsaggression eben als das optimalere Verfahren: Frauen versuchen eine Rivalin um die Gunst eines Mannes bei diesem in ein schlechtes Licht zu rücken, indem sie genau die Merkmale „aufs Korn“, nehmen auf die Männer bei Frauen besonderen Wert legen, nämlich Jugendlichkeit, Gesundheit und Treue. Kulturvergleich Beide geschilderten Strukturen haben ihre Vor- und Nachteile, und es wäre müßig, hier eine Wertung anzubringen. Problematisch wird es allerdings, wenn Frauen mit Männern direkt in Konkurrenz treten müssen. Hierbei handelt es sich um eine sehr rezente Entwicklung, auf die beide Geschlechter weder kulturhistorisch noch gar phylogenetisch vorbereitet sind, denn die Tätigkeitsbereiche der Geschlechter waren immer getrennt. Eine Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern dürfte in der menschlichen Evolution schon sehr früh eingesetzt haben. Heute noch lebende Steinzeitkulturen, wie z. B. die Buschleute in der Kalahari, bieten ein Modell dieser Lebensform: Die Männer gehen auf kooperative Großwildjagd, wofür einige der im Rivalenkampf nützlichen Dispositionen eine ausgezeichnete Präadaptation darstellen. Die Frauen sind für das Sammeln von Nahrung und die Kinderbetreuung zuständig (Daly & Wilson, 1983). Die Väter leisten einen Beitrag zum Lebensunterhalt, dieser verteilt sich bei polygyner Eheform allerdings stets auf mehrere Familien. Auch bei der Erziehung insbesondere der Söhne spielen Väter eine mehr oder weniger ausgeprägte Rolle – ein Faktum, dem neuerdings ja auch in unserem Kulturkreis wieder mehr Beachtung geschenkt wird (Lamb, 1997). Trotzdem gilt kulturübergreifend, dass Männer auf die Frage nach der Wichtigkeit von Beruf und Familie den Beruf an erste Stelle nennen und dass die Hauptlast der Betreuung – zumindest der Kleinkinder – sich auf die Frauen konzentriert. In allen uns bekannten Kulturen sind sie primär mit der Kindererziehung betraut (Whyte, 1978; Rudolph, 1980; Blaffer Hrdy, 2000). Dabei muss man sich verdeutlichen, dass
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das Gedeihen des Säuglings unter den, die längste Zeit der Menschheitsgeschichte vorherrschenden, steinzeitlichen Bedingungen allein von der Betreuung der Mutter abhing. Diese konnte ihr von anderen Personen nicht abgenommen werden, Fütterung mit der Milchflasche war ja nicht möglich. Frauen, die ihre Kinder vernachlässigten, hatten einfach eine schlechtere Chance, sie durchzubringen. Über unzählige Generationen hinweg ist es somit primär der Fürsorglichkeit der Mütter zu verdanken, dass die Babys überlebten und gediehen. Und wenn andere Personen bei der Pflege helfen, dann sind dies, wie Blaffer Hrdy feststellt, mehrheitlich wiederum Frauen (Großmütter, Tanten, ältere Töchter). Es ist also schwer vorstellbar, dass die Disposition zur Fürsorglichkeit den Frauen irgendwann während der Evolution abhanden gekommen sein soll und entsprechendes Verhalten jetzt nur noch anerzogen ist. Aus Untersuchungen wissen wir, dass fürsorgliche Tätigkeiten Frauen eine tiefe Befriedigung verschaffen, selbst wenn sie gesellschaftlich von der Kinderbetreuung „befreit“ sind, wie dies etwa in der israelischen Kibbuzbewegung praktiziert wurde (Spiro, 1979). Die meisten modernen Frauen sehen in ihrer Lebensplanung eine Phase der Kinderbetreuung vor, auch wenn sie berufstätig sind und ihren Beruf schätzen (Schmidt-Denter, 1994; Rhoads, 2004). Dabei darf aber nicht außer Acht gelassen werden, dass Frauen in allen Kulturen immer schon neben der Kinderbetreuung einen wichtigen Beitrag zum Fortkommen der Familie leisteten, vor allem durch die Beschaffung von Nahrung sowie die Herstellung von Kleidung und Geräten, und damit auch Prestige erhielten. So legt der Kulturvergleich nahe, dass Frauen immer schon auch berufstätig waren und von der Veranlagung her darauf eingestellt sind, sich neben der Betreuung der Familie in einer sinnvollen Beschäftigung selbst zu bestätigen. In unserem Kulturkreis ist nun aber ein entscheidender Wandel eingetreten: Die typisch weiblichen Betätigungsfelder sind durch die Technisierung und Industrialisierung entwertet worden. Deshalb streben Frauen berechtigtermaßen in die traditionell männlichen Berufe und geraten dadurch unvermeidlich in Konkurrenz mit Männern. Konkurrenz zwischen den Geschlechtern Im Wettbewerb mit Frauen haben die Männer nun offensichtlich Strategien, die ihnen Vorteile verschaffen und die Frauen ins Abseits geraten zu lassen. Diese Vorteile schließen wiederum unmittelbar an das phylogenetische Erbe an (Bischof-Köhler, 1990a, 1997). Konkret geht es um die Eigenschaften, die mit der Dominanzhierarchie korreliert sind. Als erstes wären hier der rigorosere Durchsetzungsstil und die stärkere Wettbewerbsorientiertheit zu nennen. Männer haben Spaß an Konkurrenzsituationen und schätzen Statusunterschiede in der Gruppe, während Frauen Gleichheit wünschen und kompetitiven Konstellationen eher aus dem Weg gehen (Eagly & Johnson, 1990). Als nächster Punkt ist die erhöhte Risikobereitschaft zu nennen, die sich schon bei kleinen Jungen bekundet. Jungen und Männer haben einfach weniger Angst, wenn es darum geht, Unbekanntes zu erkunden (Gubler & Bischof, 1993; Bischof-Köhler, 2006). Im Schulalter und insbesondere in der Pubertät äußert sich das dann in Abenteuerlust und im Zusammenschluss von Jungen zu Banden, die an die Kohortenbildung bei juvenilen Tiermännchen erinnern und den Zweck haben, gemeinsam Abenteuer zu erleben. Die Risikobe-
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reitschaft hat allerdings ihren Preis in der durchgängig erhöhten Unfallhäufigkeit bei Jungen und Männern. Wenn es aber darum geht, alles auf eine Karte zu setzen und etwas neues zu erproben, auch wenn man nicht genau abschätzen kann, was dabei herauskommt, dann sind Männer gegenüber den eher vorsichtigen Frauen im Vorteil – allerdings nicht unbedingt zum Wohl der Kommunität, wie die jüngste Wirtschaftskrise anschaulich belegt (Bischof-Köhler, 2008). Eine weitere Eigenschaft, die sich für Mädchen und Frauen nachteilig auswirken kann, ist die höhere Selbsteinschätzung von Jungen und Männern bis hin zur Selbstüberschätzung. Dazu ein Beispiel aus einer amerikanischen Untersuchung: Man ließ Studierende über etliche Jahre hinweg voraussagen, welche Noten sie bei der Abschlussprüfung erwarteten. Die jungen Männer haben sich regelmäßig über-, die jungen Frauen regelmäßig unterschätzt, ohne aus der gegenteiligen Erfahrung etwas zu lernen (Maccoby & Jacklin, 1974; siehe auch Wawra, 2004). Schließlich ist als wichtiger Punkt die höhere Misserfolgstoleranz zu nennen, die im Rivalenkampf Vorteile verschafft. Jungen lassen sich durch Misserfolg weniger entmutigen und neigen dazu, die Ursache hierfür auf Pech oder zu geringe Anstrengung zu schieben (Ruble & Martin, 1998; Stetsenko et al. 2000). In einer Studie, bei der es bei einem Spiel darum ging, in den Besitz eines Balles zu gelangen, um andere damit abzuwerfen, stürzten sich bis zu acht Jungen auf den Ball, obwohl die meisten keine Chance hatten, ihn zu erhalten. Die Mädchen verhielten sich in der gleichen Situation viel realistischer und engagierten sich nur, wenn ihnen die Gelegenheit einigermaßen erfolgversprechend erschien. Ließ man nun Jungen gegen Mädchen spielen, dann gerieten letztere allerdings hoffnungslos ins Hintertreffen (Cronin, 1980). Generell kann man feststellen, dass Männer, wie auch schon kleine Jungen Spezialisten in der Selbstdarstellung sind. Dabei kommt die alte Disposition zum Imponieren zum Zug, es geht letztlich darum, den anderen zu beeindrucken und ihn gegebenenfalls einzuschüchtern, selbst wenn man dabei nur blufft. Wenn also immer ins Feld geführt wird, Männer würden Frauen „fertigmachen“ – was zum Teil ja auch zutrifft, dann wird übersehen, dass oft allein schon die Konfrontation mit der besseren Selbsteinschätzung und der unverdrossenen Misserfolgstoleranz ein mindestens genauso großes Problem darstellt, weil Frauen sich dadurch entmutigen lassen. Auch die kulturübergreifend beobachtbare Höherbewertung von Männlichkeit schließt an das phylogenetische Erbe an. Aufgrund der Geltungsthematik interpretieren wir Verhalten, das Aufsehen erregt, unreflektiert als Indiz für Ranghöhe. Da nun das männlichen Geschlecht für Imponierverhalten prädestiniert ist, gelingt es Männern besser, Tätigkeiten mit dem Nimbus des Besonderen zu versehen, weshalb man sie automatisch für ranghoch hält. Wenn Frauen immer noch versuchen, es den Männern gleichzutun, dann hängt dies sicher nicht unwesentlich mit der höheren Wertschätzung typisch männlicher Merkmale zusammen. Diese unbewusste Tendenz zur Überbewertung sollte aber gerade von Frauen reflektiert werden, die in Konkurrenz mit Männern stehen. In der Überbewertung liegt doch der eigentliche Kern der Diskriminierung. Allerdings wird man dieses Problem sicher nicht lösen, indem man Männlichkeit insgesamt verdammt und in Bausch und Bogen abzuschaffen sucht.
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Fazit Der Beitrag sollte ein Verständnis dafür wecken, dass Geschlechtsstereotype nicht willkürlich konstruiert sind, sondern eine anlagebedingte Grundlage haben; man kann sie wohl nicht einfach per Dekret aus der Welt schaffen. Es wäre eine Menge zu sagen, wie man sich das Zusammenspiel von anlagebedingten Neigungen und soziokulturellen Einflüssen im Einzelnen vorzustellen hat; wir müssen es bei ein paar Hinweisen bewenden lassen (detailliert: Bischof-Köhler, 2006). Für die Wirksamkeit erzieherischer Maßnahmen ist es von fundamentaler Bedeutung, ob man von Anlagegleichheit oder Verschiedenartigkeit ausgeht. Gleichbehandlung wäre nur angebracht, wenn sich Jungen und Mädchen nicht unterscheiden. Sind sie in Wirklichkeit aber von Natur aus verschieden, dann muss man damit rechnen, dass diese Dispositionen bei Gleichbehandlung nur um so kräftiger durchschlagen. Umgekehrt kann man nicht einfach erwarten, dass Jungen und Mädchen das gleiche Verhaltensmuster entwickeln, wenn man sie nicht ausdrücklich dahingehend trainiert, sich an den Stil des anderen Geschlechtes anzugleichen. Abbildung 2:
Hypothetische Verteilung der Wettbewerbsorientierung über beide Geschlechter. Wird die Fähigkeit in einem bestimmten Ausmaß (limit) gefordert, dann ist das weibliche Geschlecht zahlenmäßig unterrepräsentiert.
Grundsätzlich ist zur Frage geschlechtsadäquater Förderung folgendes zu bedenken. Bei den anlagebedingten Unterschieden handelt es sich um statistische Verteilungen, die sich überlappen. Nehmen wir etwa das Merkmal „Wettbewerbsorientierung“ und denken es uns hypothetisch wie in Abbildung 2 über die Geschlechter verteilt, dann gibt es eine nicht unerhebliche Anzahl von Frauen mit männlichen und Männer mit weiblichen Zügen. Die geschlechtstypischen Neigungen haben also nicht für alle das gleiche Gewicht. Hierzu ist nun zweierlei anzumerken: 1. Trotz der Überlappung kommt Wettbewerbsorientierung in ihrer stärksten Ausprägung und in der Mehrheit nur beim männlichen Geschlecht vor, und entsprechendes würde bei
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der Fürsorglichkeit für das weibliche Geschlecht gelten. Wo immer auf diese Fähigkeiten besonderer Wert gelegt wird, hat also das eine oder das andere Geschlecht einen Vorteil. Deshalb ist es kontraproduktiv, aus der Überlappung abzuleiten, man könne die Unterschiede doch gleich gänzlich vernachlässigen, wie häufig argumentiert wird. 2. Wenn man eine Angleichung des einen Geschlechts an das andere anstrebt, dann wird dies bei denjenigen leichter fallen, die von der Veranlagung her bereits eher zu der erwünschten Eigenschaft neigen, während es bei den hierfür schwächer Disponierten eines erhöhten erzieherischen Aufwands bedarf. Damit stellt sich natürlich die Frage, ob sich aus einem fiktiven Gleichheitsideal heraus eigentlich alle Jungen und Mädchen bestimmte Verhaltensweisen aneignen müssen, ohne dass man dabei ihren individuell mehr oder weniger ausgeprägten Neigungen Rechnung trägt. Anstatt eine Angleichung anzustreben, könnte das Ideal doch wohl auch darin bestehen, gesellschaftliche Bedingungen zu realisieren, unter denen jede und jeder die Variante der Geschlechtsrolle realisieren kann, die ihrer oder seiner Neigung am nächsten kommt. Es wird sich zeigen, in welchem Verhältnis sich dann die Tätigkeitsschwerpunkte verteilen. Nur eine Höherbewertung eines Geschlechts auf Kosten des anderen dürfte damit nicht verbunden sein.
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Teil III Mädchen und Jungen, Frauen und Männer: Ein Blick in verschiedene Lebenswelten?
10. Pädagogische Psychologie Pädagogische Psychologie und Geschlechterforschung Barbara Moschner
Einleitung Die Pädagogische Psychologie gehört zu den Anwendungsfächern innerhalb der Psychologie. Die Forschungsgebiete befinden sich vielfach an der Schnittstelle zwischen Psychologie und empirischer Pädagogik. Zentrale Forschungsgegenstände sind Bedingungen des Lernens in Erziehungs-, Unterrichts- und Weiterbildungssituationen. Schule und Unterricht stehen häufig im Zentrum des Interesses, aber auch außerschulische – sowohl institutionalisierte als auch selbstbestimmte oder implizite – Formen des Lernens werden untersucht. Wichtige Forschungsthemen sind beispielsweise auf der Seite der Lernenden Lernmotivation und -demotivation, Interesse, Lernstrategien, implizite Begabungstheorien und Fähigkeitsselbstkonzepte. Auf der Seite der Lehrenden werden z.B. Lehrexpertise, Unterrichtsqualität, Lerndiagnostik und Leistungsbeurteilungen untersucht.
Die Untersuchung von Geschlechtsunterschieden in der Pädagogischen Psychologie Geschlechterfragen wurden in der Pädagogischen Psychologie ausführlich diskutiert und beforscht. In der Vergangenheit wurde von einer systematischen Benachteiligung der Mädchen im deutschen Bildungssystem ausgegangen, da sie lange Zeit weniger qualifizierte Bildungsabschlüsse erreichten als die Jungen. So liegen umfangreiche Veröffentlichungen zum Thema Mädchenförderung (z.B. in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern, in der Technik, bei Attributionen von Erfolg und Misserfolg, durch monoedukativen Unterricht) vor. Mädchen wurden als quasi defizitär betrachtet, man wollte sie in ihrer Entwicklung unterstützen. Ebenso vorliegende Defizite bei Jungen, vor allem im sprachlichen Bereich, wurden dagegen nicht Gegenstand von groß angelegten Forschungsprojekten oder von Förderprogrammen. Erst in jüngster Zeit wurde deutlich, dass inzwischen die Mädchen im schulischen Bereich nicht nur aufgeholt haben, sondern die Jungen in vieler Hinsicht überholt haben. Ansätze zur gezielten Jungenförderung liegen allerdings kaum vor, was auch durch das Selbstverständnis männlicher Wissenschaftler als Vertreter des „starken Geschlechts“ bedingt sein könnte. Eine Defizitannahme männlicher Geschlechtsgenossen ist mit diesem Selbstverständnis nur schwer vereinbar.
G. Steins (Hrsg.), Handbuch Psychologie und Geschlechterforschung DOI 10.1007/978-3-531-92180-8_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010
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Das Thema Geschlechtsunterschiede im Zusammenhang mit Schulleistungen oder Lernund Leistungsergebnissen im Allgemeinen wird in der Öffentlichkeit mit großem Interesse wahrgenommen und diskutiert. Es knüpft an gängige Alltagserfahrungen an. Viele Menschen erleben sich als Expertinnen und Experten, da sie sich an Erfahrungen aus ihrer eigenen Schulzeit erinnern oder sich durch Kinder und Enkelkinder wieder mit der Thematik beschäftigen. Dieses gesteigerte Interesse der Öffentlichkeit an der Thematik kann Vor- und Nachteile haben. Einerseits können bestehende geschlechtsstereotype Vorurteile bestätigt und verfestigt werden, andererseits können die Ergebnisse aber auch dazu beitragen, dass Untersuchungen ein neues Licht auf bestehende Vorstellungen werfen. So wurde erst durch die PISA-Ergebnisse deutlich, dass die 15jährigen Jungen in Deutschland erhebliche Defizite bei der Lesekompetenz zeigen (Artelt, Stanat, Schneider & Schiefele, 2001; Hannover, 2008).
Koedukation vs. Monoedukation Werden Pädagogen auf die Frage der Koedukation angesprochen, wird oft darauf verwiesen, dass dies ein altes Thema der Pädagogik sei. Schon Comenius (1592-1670) habe in seiner „Didactica magna“ gefordert „omnes omnia omnino“ (lat: „Alle alles ganz [zu lehren]“; Comenius, 1657/2007). Für Comenius war Bildung der Weg, um die Menschheit aus ihren Irrtümern zur Ordnung der Welt, wie Gott sie vorgesehen habe, zurückzuführen. Er forderte eine allgemeine Schulpflicht für Jungen und Mädchen aller Bevölkerungsgruppen in einer Elementarschule bis zum zwölften Lebensjahr. Die weiterführende Schulbildung war jedoch lange den Jungen vorbehalten. So wurde erst in der Weimarer Republik in Ausnahmefällen die Schule für Mädchen geöffnet und erst in den 60ziger Jahren entwickelte sich die Koedukation als Regelfall in der Bundesrepublik (Holz-Ebeling, 2006) Schon wenige Jahre nach der allgemeinen Einführung der Koedukation wurde allerdings von feministischer Seite Kritik an dieser Praxis geübt (Kauermann-Walter, Kreienbaum & Metz-Göckel, 1988). Im Zentrum der Kritik standen die Tradierung von Geschlechtsrollendarstellungen in Unterrichtsmaterialien, die Orientierung von Unterrichtsmethoden und Unterrichtsinhalten an den Interessen der Jungen und diskriminierende soziale Prozesse. Beispielsweise bekommen Jungen im Unterricht mehr Aufmerksamkeit von Lehrerinnen und Lehrern als Mädchen. Mädchen werden zudem im Unterricht seltener aufgerufen als Jungen. Dieser Kritik wurde in einem Interventionsprojekt, das vom Institut für die Didaktik der Naturwissenschaften (IPN) in Kiel durchgeführt wurde, begegnet. Im Rahmen dieses Projektes wurden Physikklassen zeitweise geteilt und monoedukativ unterrichtet. Die Autoren Häußler und Hoffmann (1995; Hoffmann, 2002) konnten zeigen, dass Mädchen längerfristig bessere physikalische Kenntnisse erwerben, wenn sie zeitweise in monoedukativen Halbklassen unterrichtet werden. Zudem berichteten die Schülerinnen, dass im monoedukativen Unterricht mehr untereinander kooperiert wurde. In dieser Unterrichtsform entfällt die Geschlechterdimension, sodass viele der oben genannten Probleme nicht mehr wirksam werden können (geschlechtstypische Erwartungen von Lehrerinnen und Lehrern oder geschlechtsspezifische Aufmerksamkeitszuwendung und Verstärkung). Ähnliche Ergebnisse konnten auch in einem vergleichbaren Berliner Schulversuch erzielt werden (Hannover & Kessels, 2002; Kessels 2002). Eine temporäre Aufhebung des koedukativen Physik-
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unterrichtes ist also geeignet, bestehende geschlechtsspezifische Leistungs- und Interessenunterschiede im Bereich der Physik zu verringern. Zu Recht gibt Hannover (2008) jedoch zu bedenken, dass im schulischen Unterricht nicht nur Fachinteressen vermittelt werden, sondern auch soziale Kompetenzen (auch im Umgang mit dem anderen Geschlecht) eingeübt werden, und die Jugendlichen selbst eine Rückkehr zum monoedukativen Unterricht nicht wünschen. Dies trifft allerdings nur für Jugendliche zu, die noch nie monoedukativen Unterricht erlebt haben (Kessels, Hannover & Janetzke, 2001).
Geschlechtsunterschiede bei Attributionen von Erfolg und Misserfolg Attributionen von Erfolg und Misserfolg sind ein Resultat der Suche nach Gründen für Erfolg oder Misserfolg. Personen stellen Vermutungen über die Ursachen von Leistungsergebnissen an. Ein weit verbreitetes Modell der Ursachenzuschreibung geht auf Heider (1958) zurück. Dieser unterscheidet in seinem Modell zwischen internalen und externalen Ursachenzuschreibungen für Erfolg und Misserfolg und führt als zweite Dimension die Stabilität ein. Internal stabile Ursachenzuschreibungen werden als Fähigkeiten oder Begabungen wahrgenommen, eine internal variable Ursachenzuschreibung ist als Anstrengung (mehr oder weniger) gekennzeichnet. Als external stabile Ursachenzuschreibung benennt Heider die Aufgabenschwierigkeit, external-variable Ursachenzuschreibungen beziehen sich auf Aussagen wie Glück, Pech, Zufall, Schicksal usw.. In der weiteren Theoriebildung wurde im sogenannten „Selbstbewertungsmodell der Motivation“ zwischen erfolgs- und misserfolgsmotivierten Personen unterschieden (Heckhausen 1980; Rheinberg 2006), die habituelle Voreingenommenheiten der Ursachenerklärung in Leistungssituationen haben. Erfolgsmotivierte neigen dazu, als Erklärung für eigene Erfolge internale Faktoren und insbesondere die eigene Fähigkeit oder die eigene Begabung heranzuziehen. Als Ursache für eigene Misserfolge sehen sie vorzugsweise variable Faktoren wie mangelnde Anstrengung oder Pech an. Dieses Attributionsmuster geht mit einer positiven Selbstbewertungsbilanz einher. Im Gegensatz dazu erklären Misserfolgsmotivierte ihre Misserfolge meist mit einem Mangel an Fähigkeiten, Erfolge werden dagegen eher mit Glück oder einer niedrigen Aufgabenschwierigkeit erklärt. Für misserfolgsmotivierte Personen sind Erfolge deshalb wenig bedeutsam, Misserfolge sind demgegenüber durch die negative Bewertung der eigenen Fähigkeiten stark belastend. Hinsichtlich dieser Attributionsmuster wurden Geschlechtsunterschiede festgestellt (Bettge, 1992; Rustemeyer & Jubel, 1996; Rustemeyer, 1999). Mädchen attribuieren Misserfolge häufiger auf mangelnde Begabung (internal-stabil), Erfolge eher auf zufällige Faktoren und weniger häufig auf eigene Fähigkeiten. Bei Jungen findet man dagegen eher eine selbstwertdienliche Attribution (Kirschmann & Röhm, 1991). Mädchen schätzen bei gleichen Leistungen wie Jungen ihre Fähigkeiten schon am Ende der Grundschulzeit geringer ein als die Jungen (Tiedemann & Faber, 1995). Mädchen zeigen auch geringeren Stolz nach erfolgreichen Leistungen in Mathematik (Stipek & Gralinski, 1991). Solchen selbstwertbedrohlichen Attributionsmustern von Mädchen könnte mit einem Reattributionstraining (Ziegler & Heller, 1998; Ziegler & Schober, 2001) begegnet werden.
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Dieses Training hat das Ziel, externale Attributionen für Erfolg (Aufgabenleichtigkeit, Glück) und stabile Attributionen für Misserfolg (mangelnde Fähigkeit, Aufgabenschwierigkeit) zu verhindern. Sowohl für Erfolg als auch Misserfolg sollten vor allem Anstrengungsattributionen gefördert werden. Bei Reattributionstrainings kommt dem Rollenvorbild der Lehrperson eine hohe Bedeutsamkeit zu. Als Techniken haben sich Modellierungs- und Kommentierungstechniken bewährt. Bei der Modellierungstechnik zeigt die Lehrkraft günstige Attributionsstile im Unterricht. Sie attribuiert Misserfolge auf mangelnde Anstrengung. Bei der Kommentierungstechnik werden Leistungsergebnisse im Sinne günstiger Attributionsstile kommentiert oder selektiv verstärkt. Zum Beispiel könnte eine Lehrerin oder ein Lehrer unter eine sehr gute Klassenarbeit schreiben, die Anstrengung beim Lernen habe sich gelohnt. Bei Misserfolgen könnten positive Entwicklungspotentiale signalisiert werden (z.B. „Lies Dir das zu Hause nochmals durch und probiere ein paar Übungsaufgaben. Du wirst sehen, dass Du dann die Aufgaben ohne Schwierigkeiten beherrscht.“). So soll verhindert werden, dass gute Leistungsergebnisse auf Zufall und schlechte Leistungsergebnisse auf mangelnde Fähigkeit zurückgeführt werden. Ziegler und Heller (1998) konnten die Effektivität ihres Reattributionstrainings empirisch gut belegen.
Geschlechtsunterschiede im Selbstkonzept Viele Studien zeigen, dass Mädchen ihre Kompetenzen pessimistischer einschätzen als Jungen (Hannover & Kessels, 2008), Jungen dagegen ihre Leistungen unabhängig von der fachlichen Domäne überschätzen. Zudem halten sich Jungen eher im mathematisch-technischen Bereich für talentiert, Mädchen sehen sich eher als sprachbegabt an. Die Ergebnisse der PISA-2003-Studie verdeutlichen die Unterschiede recht anschaulich: Obwohl die Jungen nur in fünf der 42 Teilnehmerländer bessere Leistungen in Mathematik erzielten als die Mädchen, hatten sie in 33 Teilnehmerländern ein höheres mathematisches Selbstkonzept als die Mädchen (Prenzel et al., 2004). Selbstkonzepte haben einen wichtigen Einfluss auf Verhalten, Denken und Fühlen von Menschen. Der Glaube an die eigenen Fähigkeiten und Leistungen hat Einfluss auf das Anstrengungsmanagement, die Persistenz beim Lernen, den Umgang mit Misserfolgen und Fehlern und der Freude oder der Angst beim Lernen. Zusammenhänge zwischen Selbstkonzepten und Leistungen werden in der Literatur immer wieder berichtet. Dabei wird von Einflüssen in beide Richtungen ausgegangen: Die Selbstkonzepte beeinflussen die nachfolgende Leistung. Zugleich haben erzielte Leistungen wiederum einen Einfluss auf das Selbstkonzept. Die längerfristigen Auswirkungen der unterschiedlichen Selbstkonzepte der Mädchen und Jungen können dramatisch sein. Mädchen mit niedrigem Selbstkonzept im mathematisch technischen Bereich, werden mit höherer Wahrscheinlichkeit solche Herausforderungen meiden als Jungen mit vergleichbaren Leistungen.
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Geschlechtsunterschiede beim Lernen Geschlechtsunterschiede beim Lernen zeigten sich in einer Vielzahl von Studien, in denen dieser Frage nachgegangen wurde. Die wesentlichen Ergebnisse dieser Studien verdeutlichen, dass Mädchen und Jungen sich in der Lernzeit, die sie investieren, unterscheiden, und in der Art und Weise, wie gelernt wird. Zudem interessieren sich Mädchen und Jungen für andere Wissensgebiete. Mädchen sind fleißiger als Jungen. Dieses (Vor)Urteil konnte auch empirisch bestätigt werden. Spiel,Wagner und Fellner (2002) befragten Jugendliche der 10. Klassen in Österreich nach der Zeit, die sie für Hausarbeiten und die Vorbereitung von Klassenarbeiten investierten. Die Mädchen der Stichprobe gaben an, im Schnitt 12 Stunden und 47 Minuten zu Hause für die Schule zu lernen, die Jungen investierten dagegen im Durchschnitt nur neun Stunden und 47 Minuten. In der Untersuchung von Artelt und Lompscher (1996) gaben die Studentinnen im Durchschnitt an, mehr für die Universität zu lernen als die Studenten. In den großen Schulleistungsvergleichsstudien (PISA, IGLU) wurden unter anderem Geschlechtsunterschiede bei Lernstrategien untersucht. Lernstrategien sind wesentliche Elemente selbstregulierter Lernformen und können als Handlungssequenzen zur Erreichung von Lernzielen definiert werden. Vielfach wird angenommen, dass es sich bei den verschiedenen Mustern von Lernstrategien um stabile interindividuelle Differenzen handelt, die in verschiedenen Bereichen zum Tragen kommen. Meist werden drei Gruppen von Lernstrategien unterschieden: (1) Zu den kognitiven Strategien zählen Wiederholungsstrategien, Elaborationsstrategien und Organisationsstrategien. Als Wiederholungsstrategien sind Strategien bezeichnet, die beispielsweise Auswendiglernen, Abschreiben eines Textes oder mehrmaliges lautes Aufsagen oder Vorlesen von Lernmaterial beinhalten. Elaboriertes Lernen zeichnet sich dagegen durch Konstruktion, Integration und Transfer aus. Organisationsstrategien stehen für Methoden wie das Herausarbeiten der Hauptgedanken eines Textes, das Entwickeln von Oberbegriffen, das Erstellen von Textübersichten, oder das Erstellen von Schaubildern und Graphiken. (2) Metakognitive Lernstrategien umfassen Strategien der Planung, Überwachung und Regulation und Kontrolle des eigenen Lernprozesses. (3) Die Strategien des Ressourcenmanagements können unterteilt werden in internes Ressourcenmanagement und externes Ressourcenmanagement. Als internes Ressourcenmanagement werden Anstrengungs-Management, Aufmerksamkeitsfokussierung und die planvolle Nutzung der Lernzeit konzipiert, externes Ressourcenmanagement umfasst die optimale Ausgestaltung der Lernumwelt. Im Rahmen der PISA-Studien wurden Lernstrategien bezogen auf Mathematik untersucht (Prenzel et al., 2003). In den meisten Ländern gaben die Jungen an, stärker Elaborationsstrategien zu verwenden als die Mädchen, in einigen Ländern verwendeten die Mädchen mehr Kontrollstrategien als die Jungen. Auch in einer studentischen Stichprobe (Moschner, 2000),
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gaben die Studentinnen an, weniger zu elaborieren und mehr zu wiederholen und zu organisieren als die Studenten. Mädchen und Jungen präferieren Lernaktivitäten, die in Übereinstimmung mit den Geschlechtsstereotypen sind (Hannover & Kessels, 2008). Mädchen lesen länger und öfter als Jungen, während Jungen eher zu den Computerenthusiasten gehören. Mädchen spielen häufiger als Jungen ein Musikinstrument und haben eher ein Haustier als Jungen. Als Leistungskurse in der gymnasialen Oberstufen wählen Schülerinnen eher sprachliche Fächer oder Biologie, die Jungen sind eher als Mädchen in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Leistungskursen zu finden. Besonders auffällig sind diese Kurswahlen im Fach Physik, für das sich nur sehr, sehr wenige Mädchen interessieren.
Geschlechtsunterschiede bei der Leistungsängstlichkeit Angst und Ängstlichkeit in der Schule sind Themen, die seit vielen Jahren in der pädagogisch-psychologischen Forschung thematisiert werden. Dabei bezieht sich Angst auf eine emotionale Reaktion in einer spezifischen Situation (state). Mit Ängstlichkeit dagegen wird eine habituelle Eigenschaft einer Person bezeichnet, in verschiedenen Situationen schnell und immer wiederkehrend mit Angst zu reagieren (trait). Angst bezeichnet dabei ein unangenehmes Gefühl, in einer bedrohlichen Situation zu sein. Etwa fünf Prozent aller Kinder sind so ängstlich, dass sie unter ihrer Ängstlichkeit leiden. Eltern und Lehrer unterschätzen häufig das Ausmaß der Angst dieser Kinder (Czeschlik, 2008). Ängstliche Kinder nehmen kaum aktiv am Unterricht teil, sie sprechen leise und vermeiden Blickkontakt, sie sind nervös und versprechen sich oft. Zusätzlich werden diese Symptome von Herzklopfen und schwitzenden Händen begleitet. Sie erzielen schlechtere Schulnoten, sind häufig krank und neigen dazu, psychosomatische Beschwerden zu entwickeln. Eine besondere Belastung für ängstliche Schülerinnen und Schüler stellen Prüfungssituationen dar. Viele Studien belegen, dass Mädchen und Frauen höhere Mittelwerte als Jungen und Männer in Fragebögen zur Erfassung von Angst, Ängstlichkeit und Leistungsängstlichkeit zeigen (Rost & Schermer, 2007; Thurner & Tewes, 2000). Allerdings ist unklar, ob Frauen ängstlicher sind, oder ob sie eher bereit sind, ihre Angst zuzugeben (Czeschlik, 2008; siehe auch Beitrag 2 von Ljubica Lozo). Um mit diesen Ängsten besser umgehen zu können, empfehlen Rost und Schermer (2006), Interventionen nicht nur beim Individuum, sondern auch im Elternhaus und in der Schule anzusetzen. Lehrerinnen und Lehrer könnten beispielsweise vor Klassenarbeiten Entspannungsübungen durchführen, oder durch gezielte Maßnahmen, die Unsicherheiten reduzieren und eine erfolgsorientierte Leistungserwartung aufbauen, die Ängste der Schülerinnen und Schüler schrittweise reduzieren. Den Eltern raten die Autoren zu einem angstfrei-fordernden Erziehungsstil.
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Geschlechtsunterschiede im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich Mädchen in Deutschland interessieren sich weniger für den mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich als Jungen und erzielen in diesen Bereichen auch häufig schlechtere Leistungsergebnisse. Eine Ausnahme bildet in diesem Spektrum das Fach Biologie, das von Mädchen stärker bevorzugt wird als von Jungen. Besonders gut untersucht und dokumentiert sind die geschlechtsspezifischen Unterschiede im Fach Mathematik, die in der folgenden Darstellung im Vordergrund stehen. Einen umfassenden Überblick über die Thematik gibt Budde (2009), der im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung einen umfangreichen Bericht erstellt hat. Betrachtet man die immer wieder berichteten Geschlechtsunterschiede über die gesamte Schullaufbahn, so wird deutlich, dass die Fähigkeiten und die Interessen von Jungen und Mädchen im Hinblick auf die Mathematik beim Schuleintritt noch gleich ausgeprägt sind. Dies ändert sich allerdings schon ab der dritten Klasse in der Grundschule. Die Ergebnisse der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) zeigen dann am Ende der Grundschulzeit deutlich höhere mathematische Kompetenzen bei den Jungen als bei den Mädchen (Bos et. al., 2003). Im Alter von 15 Jahren ist die Differenz zwischen den mathematischen Leistungen der Mädchen und der Jungen in Deutschland beachtlich. In der jüngsten PISA-Studie im Jahr 2006 haben sich die Geschlechtsdifferenzen seit Beginn der Erhebung im Jahr 2000 noch deutlich vergrößert (Deutsches PISA-Konsortium, 2007). Besonders auffällig ist, dass von allen untersuchten Ländern die Geschlechtsunterschiede nur in Japan und in Österreich noch größer sind. Dagegen ließen sich in anderen Ländern (Island, Niederlande, Polen, Schweden, Griechenland, Türkei) kaum Geschlechtsunterschiede hinsichtlich der mathematischen Kompetenz finden. Bei einer Auswertung der PISA-Daten aus dem Jahr 2003 konnten diese Unterschiede allerdings nur in einigen Bundesländern (z.B. im Saarland, in Thüringen, in Sachsen, in Baden-Württemberg, in Rheinland-Pfalz) festgestellt werden, in anderen (z.B. in Niedersachsen) liegen die Leistungen der Mädchen sogar über denen der Jungen (Zimmer, Stick, Burba & Prenzel, 2006). In der gymnasialen Oberstufe nimmt der Leistungsvorsprung der Jungen weiter zu, da deutlich mehr Jungen als Mädchen einen Mathematikleistungskurs wählen. Die Leistungsbeurteilung von Mädchen und Jungen im Mathematikunterricht zeigt einen deutlichen BIAS zugunsten der Mädchen: Bei gleichen Leistungen werden Mädchen positiver benotet als Jungen (dies trifft auf die Noten 1,2 und 3 zu), im unteren Leistungsspektrum dreht sich dieser Effekt dann um. Mädchen erhalten bei gleichen Testleistungen im unteren Leistungsspektrum eher ein „mangelhaft“ als Jungen (Budde, 2009). Kessels und Hannover (2006) haben sich eingehend mit der mathematischnaturwissenschaftlichen Fachkultur beschäftigt. Sie stellen fest, dass Jungen und Mädchen mathematisch-naturwissenschaftliche Fächer als schwierig, maskulin und wenig selbstverwirklichend beschreiben. Um ihrem Geschlechtsrollenstereotyp zu entsprechen und nicht sozial ausgegrenzt zu werden, tendieren die Mädchen eher zum Desinteresse am Fach. Mädchen, deren Interesse nicht den gängigen Geschlechtsstereotypen entsprechen, werden von den Jungen als Konkurrentinnen, Emanzen oder Streberinnen gesehen und durch Aus-
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grenzung sanktioniert. Um dies zu vermeiden, werden die eigenen Leistungen „nach unten justiert“ (Pelkner & Boenke, 2003).
Geschlechtsstereotype Verhaltensweisen und Erwartungen von Lehrerinnen und Lehrer Geschlechtstereotype Vorstellungen und Erwartungen sind in der Gesellschaft weit verbreitet und werden in der Schule auch über die Lehrkräfte weiter verfestigt. Lehrerinnen und Lehrer haben eine wichtige Bedeutung bei der Tradierung (aber auch bei der Veränderung) von Geschlechtsstereotypen. So konnten Dweck, Davidson, Nelson und Enna (1978) zeigen, dass Mädchen und Jungen im Unterricht unterschiedliches Lehrerfeedback erhalten. Mädchen werden bei guten Leistungen für ihre gute Vorbereitung, auf ihre saubere Heftführung und ihre zuverlässige und ordentliche Mitarbeit gelobt, während erfolgreiche Jungen als aktiv-kreative Problemlöser gesehen werden. Bei schlechten Leistungen erhalten Mädchen begabungsrelevante Rückmeldungen, schlechte Leistungen bei Jungen werden auf Unterrichtsstörungen zurückgeführt. Überspitzt formuliert könnte man diese impliziten Theorien der Lehrkräfte folgendermaßen zusammenfassen: Leistungsstarke Mädchen sind fleißig, leistungsstarke Jungen sind begabt. Leistungsschwache Mädchen sind unbegabt, leistungsschwache Jungen sind unkonzentriert (vgl. auch Tiedemann, 1995). Besonders deutlich werden diese Zuschreibungen im mathematisch naturwissenschaftlichen Unterricht. Rustemeyer (1999) untersuchte bei Lehramtsstudierenden Erwartungen bezüglich der Mathematikleistung, des Mathematikinteresses, der Bedeutung von Mathematik und des Arbeits- und Lernverhaltens von Mädchen und Jungen. Die angehenden Lehrkräfte erwarteten in der Sekundarstufe I und II von Mädchen deutlich geringere mathematische Leistungen als von Jungen. Auf die Frage, ob Mädchen und Jungen sich bei gleichem Leistungsstand in Mathematik auch genau so viel zutrauen, gaben 53 Prozent der Befragten an, dass sich Mädchen weniger zutrauen als Jungen; nur zwei Prozent nahmen an, dass sich Mädchen mehr zutrauen als Jungen. Alle befragten Lehramtsstudierenden nahmen an, dass Mädchen ein deutlich geringeres Interesse an Mathematik haben als Jungen und besonders die männlichen Studierenden gingen davon aus, dass eine mathematisch-naturwissenschaftliche Ausbildung für die Gesamtlebensplanung der Mädchen eine geringe Bedeutung und in ihrem Alltag einen geringen Gebrauchswert habe. Befragt nach dem vermuteten Arbeits- und Lernverhalten von Mädchen und Jungen ergaben sich fast in allen Dimensionen signifikante Unterschiede. Von Jungen wurde erwartet, dass sie sich häufiger melden, sich leicht ins Unterrichtsgeschehen ziehen lassen, spontan an Aufgaben herangehen, mehr tüfteln und knobeln und auf kreativere Problemlösungsstrategien kommen. Von Mädchen wurde angenommen, dass sie mehr Hilfestellungen brauchen, weniger ermahnt werden müssen, zuverlässiger lernen, ordentlicher und kooperativer arbeiten, aber bei Schwierigkeiten schneller aufgeben als Jungen. In der Berliner Längsschnittstudie zur Lesekompetenzentwicklung von Grundschulkindern (Mücke & Schründer-Lenzen, 2008) wurden Grundschullehrkräfte drei Monate nach der Einschulung der Kinder zum erwarteten schulischen Lernerfolg für Jungen und Mädchen befragt. Entgegen den oben berichteten Befunden zeigten sich keine statisch bedeutsamen Differenzen bezüglich der Schulleistungsprognose für Jungen und Mädchen.
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Zur Erklärung dieses unerwarteten Ergebnisses führen die Autoren die Besonderheiten der Stichprobe an. Die Datenerhebung fand in Berliner Brennpunktschulen statt mit einem durchschnittlichen Migrantenanteil der Grundschulkinder von über 70 Prozent. Gegenüber diesem Merkmal von Heterogenität scheinen Zuschreibungen von geschlechtstereotypen Verhaltens- und Leistungsmustern in den Hintergrund zu treten. Im Bewusstsein der Lehrkräfte könnte die spezifische und risikobehaftete Lernsituation der Kinder mit Migrationshintergrund das dominierende Thema sein.
„Schlaue Mädchen – Dumme Jungen. Sieger und Verlierer in der Schule“ Mit dieser Titelstory warf der SPIEGEL (Nr. 21/2004) im Jahr 2004 eine Frage auf, die seither immer wieder diskutiert wird: Werden Jungen in Deutschland im allgemein bildenden Schulsystem benachteiligt? Sind sie die Opfer des Bildungssystems? Ein Blick auf die amtlichen Statistiken scheint dies zu bestätigen. Mädchen sind den Jungen bei nahezu allen schulischen Erfolgsindikatoren überlegen:
mehr Mädchen als Jungen werden vorzeitig eingeschult (11% vs. 7%), mehr Mädchen als Jungen besuchen das Gymnasium (32,3% vs. 24,4%), mehr Mädchen als Jungen nehmen ein Studium auf (mehr als 50% der Studienanfänger bundesweit sind weiblich) mehr Jungen als Mädchen werden bei der Einschulung zurückgestellt (7% vs. 4%), mehr Jungen als Mädchen wiederholen eine Klasse (4,2% vs. 3%) mehr Jungen als Mädchen besuchen die Hauptschule (33,6% vs. 25,5%) mehr Jungen als Mädchen werden auf Sonderschulen überwiesen (5,9% vs. 3,5%) mehr Jungen als Mädchen verlassen die Schule ohne Schulabschluss (10,5% vs. 6,3%; Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2008; Konsortium Bildungsberichterstattung, 2006)
Die Daten sind beunruhigend und erklärungsbedürftig. Nachdem lange dazu geforscht wurde, ob und wie Mädchen im Bildungssystem benachteiligt werden, werden nun die Jungen als die eigentlichen Bildungsverlierer angesehen, und es werden Erklärungsansätze für dieses Phänomen, das nicht nur in Deutschland, sondern auch in England, Australien und den USA zu beobachten ist, gesucht. Weaver-Hightower (2008) bezeichnet die veränderte Forschungsperspektive als „boy turn on gender and education“. Kuhn (2008) hat sich eingehend mit vier möglichen Erklärungsansätzen für dieses Phänomen beschäftigt und beurteilt diese auf der Basis vorliegender empirischer Studien. In einem ersten Erklärungsansatz wird angenommen, dass Jungen bei den Übergangempfehlungen von der Grundschule in die Sekundarstufe benachteiligt werden. Für diesen Erklärungsansatz gibt es empirische Hinweise aus der Hamburger LAU-Studie (Lehmann, Peek & Gänsfuß, 1997). In der ersten Erhebungsphase, der Längsschnittstudie (LAU 5) wurde der Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe I anhand ausgewählter Aspekte der Lernausgangslage untersucht. Verglichen wurden Testergebnisse in einem Deutschtest mit der Notengebung im Fach Deutsch in der Grundschule. Es konnte festgestellt werden,
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dass Jungen bei der Notenvergabe in Deutsch im Vergleich zu ihren Testleistungen (leicht) benachteiligt werden. Insgesamt zeigen sich bei den Jungen etwas niedrigere Testleistungen als bei den Mädchen, aber selbst bei identischen Testleistungen erhalten Jungen im Durchschnitt etwas schlechtere Noten. Zusätzlich werden von den Grundschullehrkräften die Noten im Fach Deutsch auch etwas mehr für eine Gymnasialempfehlung gewichtet, als die Mathematiknoten. Zudem vermuten die Autoren der LAU-Studie auch, dass die Grundschullehrkräfte den Mädchen schulkonformere Einstellungen und eine größere Anstrengungsbereitschaft zuschreiben. Allerdings werden Jungen von ihren Eltern häufiger entgegen der Übergangsempfehlung für das Gymnasium angemeldet und Mädchen werden von ihren Eltern häufiger gegen die Übergangsempfehlung nicht zum Gymnasium angemeldet. In einem zweiten Erklärungsansatz wird von einer „femininen schulischen Subkultur“ (Kuhn, 2008, S. 59) ausgegangen, da es zunehmend mehr weibliche Lehrkräfte in der Schule gibt (in den Grundschulen arbeiten inzwischen mehr als 85 Prozent Lehrerinnen) und den Jungen deshalb männliche Vorbilder fehlten. Empirische Studien, die diese These fundiert und zweifelsfrei stützen, fehlen jedoch. In einem dritten Erklärungsansatz werden die Sozialisationsbedingungen der Jungen als Faktor für eine mögliche Benachteiligung angesehen. Jungen wird häufiger unterrichtsstörendes Verhalten vorgeworfen. Sie zeigen problematisches Verhalten häufiger als Mädchen. Allerdings lässt sich anhand der PISA-Daten zeigen, dass Jungen und Mädchen bei problematischem Verhalten gleichermaßen sanktioniert werden. So haben sowohl Jungen wie Mädchen bei hohen Fehlzeiten in der Schule (Fehlen, Schwänzen, Zuspätkommen) ein erhöhtes Risiko sitzen zu bleiben (Krohne & Meier, 2004, S. 127f.) In einem vierten Erklärungsansatz wird hohe Arbeitslosigkeit für die schlechteren Schulleistungen von Jungen verantwortlich gemacht. Es wird angenommen, dass Jungen auf diese Problemlage sensibler reagieren als Mädchen und dass insbesondere den Jungen männliche Leistungsvorbilder fehlen. Allerdings fehlen auch für diese These empirische Studien, die den vermuteten Zusammenhang erklären könnten (Kuhn, 2008). Insgesamt muss die empirische Grundlage für die oben genannten Erklärungsansätze eher als problematisch angesehen werden. Es gibt erst Indizien dafür, dass Jungen gegenüber Mädchen im Schulsystem benachteiligt werden könnten, diese sind jedoch keineswegs ausreichend. Neben den berichteten Geschlechtsunterschieden muss festgehalten werden, dass es mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen gibt, und dass diese auch im Schulsystem deutlich werden.
Fazit und Ausblick Nachdem nun halbe Bibliotheken über die Benachteiligung der Mädchen im deutschen Schulsystem geschrieben wurden, stellt sich aktuell die Frage, ob sich in jüngster Zeit alles geändert hat. Sind heute die Jungen im Schulsystem benachteiligt, brauchen sie eine spezifische Förderung? Insgesamt stellt sich die Literaturlage so dar, dass Jungen und Mädchen sich in Interessen, Leistungen, Selbsteinschätzungen und Verhaltensweisen sehr stark unterscheiden. Dabei wird übersehen, dass die berichteten Unterschiede häufig nur sehr klein sind und nur
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aufgrund sehr großer Stichprobengrößen signifikant werden. Jungen und Mädchen haben viel mehr gemeinsam, als in diesen Studien zum Ausdruck kommt und nur in einigen, wenigen Merkmalen gibt es sehr bedeutsame Unterschiede. Sinnvoll wäre – aus meiner Sicht – eine Entdramatisierung der Geschlechtsunterschiede und Geschlechtsstereotype. Gefördert werden müssen diejenigen, die diese Förderung benötigen, egal, ob es sich dabei um einen Jungen oder ein Mädchen handelt.
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11. Gesundheitspsychologie Genderforschung in der Gesundheitspsychologie Monika Sieverding
Einleitung Sind Frauen kränker als Männer? Was macht Frauen krank? Warum sterben Männer früher? Geschlechtsunterschiede in Morbidität und Mortalität haben seit den 1970er Jahren zunehmende Aufmerksamkeit erlangt, zunächst vor allem in Hinblick auf die Gesundheit der Frauen. Eine Reihe von Arbeiten setzte sich beispielsweise mit der Frage auseinander, ob und inwiefern Frauen „das kränkere“ Geschlecht seien. Die amerikanische Soziologin Verbrugge beispielsweise wunderte sich: „How can the sicker sex have greater longevity?“ (Verbrugge, 1976), und auch in Deutschland erschienen mehrere Veröffentlichungen zur Frauengesundheit (s. z.B. Hagemann-White, 1994; Schneider, 1981). In den ersten deutschsprachigen Lehrbüchern für Gesundheitspsychologie, die in den 1980er und -90er Jahren erschienen, waren Geschlechtsunterschiede in Gesundheit und Gesundheitsverhalten sowie Versuche, diese zu erklären, jedoch noch kein Thema. Dabei ist die Variable „Geschlecht“ eine sehr entscheidende Variable zur Vorhersage von gesundheitsrelevantem Verhalten, von Anfälligkeit für bestimmte Erkrankungen und nicht zuletzt für die Lebenserwartung. Will man beispielsweise vorhersagen, welche Personen ein bestimmtes gesundheitliches Risikoverhalten mit höherer Wahrscheinlichkeit ausüben werden, ist die Variable „Geschlecht“ ein sehr guter Prädiktor. Riskanter Alkoholkonsum, gefährliche Sportarten oder riskantes Autofahren sind deutlich häufiger bei Männern zu finden. Frauen haben dagegen öfter ein gestörtes Verhältnis zu ihrem eigenen Körper und entwickeln mit größerer Wahrscheinlichkeit Essstörungen wie Bulimie (Ess-Brechsucht) oder Magersucht. Beim Rauchen gab es bis vor kurzem mit überwiegend männlichen Rauchern ebenfalls einen klaren Geschlechtsunterschied, der sich jedoch in den letzten Jahren stark verringert hat; insbesondere in jüngeren Altersgruppen haben die Mädchen und jungen Frauen „aufgeholt“. Zur Vorhersage von gesundheitsbewusstem und gesundheitsförderlichem Verhalten eignet sich die Variable Geschlecht ebenfalls. Wenn z.B. ein neues Angebot zur Gesundheitsberatung und zur Gesundheitsförderung gemacht wird, egal, ob dieses telefonisch, per Internet oder auf persönlicher Basis stattfindet, kann man mit Sicherheit vorhersagen, dass die Mehrheit der Personen, die dieses Angebot in Anspruch nehmen werden, Frauen sind. Ein Beispiel für dieses Phänomen sind primärpräventive Leistungen, die von Krankenkassen in Form von Gesundheitskursen angeboten werden. Diese erstrecken sich auf vier Handlungsfelder: Bewegung, Ernährung, Stressmanagement und Suchtmittelkonsum. Be-
G. Steins (Hrsg.), Handbuch Psychologie und Geschlechterforschung DOI 10.1007/978-3-531-92180-8_11, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010
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reits in den 1990er Jahren haben Inanspruchnahmeanalysen gezeigt, dass diese überwiegend (80% und mehr) von Frauen in Anspruch genommen wurden (Meierjürgen & Schulte, 1993). An dieser Situation hat sich in den letzten Jahren nichts geändert (Meierjürgen & Dalkmann, 2006). Auch von den in Deutschland seit Anfang der 1970er Jahre angebotenen Standarduntersuchungen zur Krebsfrüherkennung machen deutlich weniger Männer als Frauen regelmäßig Gebrauch. Die Hochrechnungen des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung beispielsweise zeigen, dass innerhalb eines Jahres ungefähr jede 2. anspruchsberechtigte Frau die Untersuchungen zur Standard-Krebsfrüherkennung in Anspruch nimmt, aber nur jeder 5. Mann (Altenhofen, 2005). In einer Erhebung in 29.000 bundesdeutschen Haushalten zeigte sich, dass 29% der befragten Männer im Alter von 50 bis 70 Jahren noch nie einen Stuhlbluttest zur Darmkrebsfrüherkennung hatten machen lassen, bei den Frauen lag diese Quote bei 17.5%. Regelmäßig, d.h. alle 1 – 2 Jahre nutzten nach eigenen Angaben 62.5% der Frauen, aber nur 46% der Männer diesen Test (Sieverding, Matterne & Ciccarello, 2008). In der gleichen Erhebung zeigte sich auch ein deutlicher Geschlechtsunterschied in der Wahrnehmung einer allgemeinen Gesundheitsuntersuchung („Checkup 35“). Jeder vierte Mann gab an, noch nie einen solchen Checkup gemacht zu haben (Frauen: 14%), deutlich weniger Männer als Frauen gaben an, regelmäßig, d.h. alle 1 bis 2 Jahre einen Gesundheits-Checkup machen zu lassen (46% versus 62%). Gut dokumentiert ist ein Frauenüberschuss bei Arztbesuchen, der nur zum Teil auf reproduktive Faktoren (Verhütung, Schwangerschaft, Beschwerden in Zusammenhang mit Menstruation oder Klimakterium) zurückgeführt werden kann. Ein Grund besteht offensichtlich darin, dass Frauen bei leichteren oder psychosomatischen Symptomen eher einen Arzt oder eine Ärztin konsultieren. Männer sind bei körperlichen Symptomen vergleichsweise weniger motiviert, einen Arzt aufzusuchen, außerdem gibt es unter Männern mehr arzt“averse“ Personen (Laubach & Brähler, 2001). Männer und Frauen unterscheiden sich auch in Krankheitsrisiken und in der Lebenserwartung. Beispielsweise haben Männer in mittleren Altersgruppen ein viel höheres Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden und daran zu sterben – für höhere Altersgruppen gilt das jedoch nicht (Kendel & Sieverding, 2006)! Auch tödliche Verkehrs- und Sportunfälle oder Lungenkrebs sind bei Männern häufiger. Männer weisen in allen Industrieländern eine niedrigere Lebenserwartung als Frauen auf, in Deutschland lag die Differenz in der Lebenserwartung Neugeborener im Jahr 2006 bei fünf Jahren. Sex und Gender Zur Erklärung der Geschlechtunterschiede in gesundheitsrelevantem Verhalten und in Gesundheit/Krankheit ist die Unterscheidung von „sex“ und „gender“ hilfreich, die in die psychologische Forschung Ende der 1970er Jahre eingeführt wurde (Unger, 1979). Während „sex“ die biologischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen umfasst, bezeichnet „gender“ die sozial konstruierten Erwartungen, die an Männer und Frauen entsprechend den jeweils geltenden Geschlechterrollen in einer Gesellschaft gerichtet werden. „Gender“ ist ein sehr weites Konstrukt, es umfasst einerseits Erwartungen der Gesellschaft an das Verhalten und wesentliche Charakteristika von Männern und Frauen (Geschlechterrrollen und Geschlechterstereotype), andererseits aber auch die Übernahme von Geschlechterkonstruktionen in das Selbstkonzept (z.B. Geschlechtsrollen-Selbstkonzept) (Deaux & LaFrance,
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1998). Das Konstrukt „Gender“ ist in den letzten Jahren zunehmend populär geworden und wird inzwischen nicht nur in der soziologischen und psychologischen Fachliteratur verwendet, sondern auch in der Medizin. Es gibt bestimmte Krankheiten, die eindeutig mit dem biologischen Geschlecht einer Person assoziiert sind, als Beispiele wären Brustkrebs oder Prostatakrebs zu nennen. Jedoch spielt auch bei diesen Krankheiten „gender“ eine Rolle, z.B. dann, wenn Männer aufgrund der Identifikation mit der traditionellen männlichen Rolle es als „unmännlich“ ansehen, zu Früherkennungsuntersuchungen zu gehen und deshalb ein Prostatakarzinom erst in einem fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert wird. Oder wenn eine Frau eine Brustoperation hinauszögert oder ganz vermeidet, da sie Einschränkungen ihrer Attraktivität befürchtet. Ein anderes Beispiel ist die koronare Herzkrankheit: Dass Männer in mittlerem Alter häufiger einen Herzinfarkt erleiden, ist sowohl mit „sex“, als auch mit „gender“ zu erklären (Weidner, 2000). So bieten die weiblichen Sexualhormone Frauen zumindest bis zur Menopause einen gewissen Schutz gegen die koronare Herzkrankheit, somit ein klarer „sex“-Effekt. Die meisten Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen werden jedoch durch das Verhalten beeinflusst, wie Bluthochdruck oder Übergewicht. Dass jedoch Männer sich ungesünder ernähren, mehr rauchen (zumindest in der Vergangenheit), weniger auf ihre Gesundheit achten und weniger aus präventiven Gründen ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen, hat vor allem etwas mit der männlichen Geschlechterrolle und damit mit „gender“ zu tun (Courtenay, 2000; Sieverding, 2004). Auch die Zunahme des Rauchens bei jungen Frauen wird auf Veränderungen der weiblichen Geschlechterrolle zurückgeführt (Waldron, 1988, 1997). Ein Modell zum Zusammenhang zwischen Geschlechterrollen und Gesundheit Genderkonstruktionen oder Geschlechterrollen sind gesellschaftliche Erwartungen, die sich an die „Träger“ der Positionen männliches oder weibliches Geschlecht richten. Wie können solche allgemeinen Erwartungen das Verhalten einer konkreten Person beeinflussen, d.h., wie „wirken“ Geschlechterrollen auf die Gesundheit? In einem heuristischen Modell (Sieverding, 2005) werden verschiedene Pfade postuliert, über die gesellschaftliche GenderKonstruktionen vermittelt über psychologische Variablen das gesundheitsrelevante Verhalten und die Gesundheit eines Individuums beeinflussen können (s. Abbildung 1). Unter gesellschaftlichen Gender-Konstrukten werden in Anlehnung an Deaux und LaFrance (1998) die Aufteilung von gesellschaftlichen Positionen und Rollen in Abhängigkeit vom Geschlecht verstanden sowie Geschlechterstereotype, d.h. Vorstellungen über angemessene und erwünschte Verhaltensweisen und persönliche Charakteristika von Männern und Frauen. Geschlechterrollen und -stereotype können sich direkt auf gesundheitsrelevantes Verhalten, z.B. gesundheitliches Risikoverhalten wie Rauchen oder Alkoholkonsum auswirken, und zwar insbesondere dann, wenn es klare geschlechtsabhängige „Gebote“ oder „Verbote“ gibt. Beispiele sind der starke Gruppendruck in Richtung starken Trinkens in sogenannten „Männerbünden“ oder die Demonstration von Männlichkeit über gesundheitliches Risikoverhalten wie z.B. riskantes und schnelles Autofahren in bestimmten männlichen Subkulturen (Courtenay, 2000; Lemle & Mishkind, 1989). Die gesellschaftliche Ächtung des Rauchens bei Frauen bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts hat dazu geführt, dass Frauen lange zumindest nicht in der Öffentlichkeit rauchen konnten (Waldron, 1988, 1997). Die weite
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Verbreitung eines unnatürlich dünnen Schönheitsideals in den Medien gilt als eine wichtige Ursache für die Entwicklung von Essstörungen bei Frauen. Abbildung 1:
Gesellschaftliche GenderKonstrukte Geschlechtsabh. Rollen- und Machtaufteilung
Heuristisches Modell: Geschlechterrollen und Gesundheit (nach Sieverding, 2005)
Persönlichkeits- und Selbstkonzeptvariablen Persönlichkeitseigenschaften (z.B. Defensivität, Typ-A, Feindseligkeit) GeschlechtsrollenSelbstkonzept (G-SK) Selbsteinschätzungen der Gesundheit (Gesundheits-Selbstkonzept)
Individuelles Verhalten Emotionale und physiologische Stressreaktivität Coping Risikoverhalten Präventives Verhalten Krankheitsverhalten
Geschlechterstereotype
Gesundheitszustand
Fremdbeurteilung und -behandlung in Abhängigkeit vom Geschlecht (z.B. durch Eltern, Peers, Partner, Angehörige, Ärzte)
Indirekt wirken Geschlechterrollen und -stereotype, indem sie durch Prozesse der Sozialisation, Erziehung und sozialen Interaktion die Entwicklung von individuellen Merkmalen wie Persönlichkeitsmerkmalen, Geschlechtsrollen-Selbstkonzept und gesundheitsrelevanten Selbsteinschätzungen (Gesundheitsbezogenes Selbstkonzept) bei Männern und Frauen beeinflussen. Diese individuellen Merkmale wiederum können sich über verschiedene vermittelnde Pfade auf die Gesundheit auswirken. Ein Pfad führt über gesundheitsrelevantes Verhalten wie Risikoverhalten, gesundheitsförderndes Verhalten sowie den Umgang mit Stress (Coping) der andere Pfad führt über emotionale und physiologische Stressreaktivität (Kohlmann, 1997). So ist die – bewusst schwer manipulierbare – kardiovaskuläre Stressreaktivität mit Persönlichkeitsmerkmalen wie Defensivität (Kohlmann, 1997) oder Feindseligkeit (Vögele, Jarvis & Cheeseman, 1997) assoziiert. Eine wesentliche Rolle spielt nach Annahmen dieses Modells die Identifikation mit gesellschaftlichen Geschlechterrollen im Selbstkonzept (auch Geschlechtsrollen-Selbstkonzept) (Sieverding & Alfermann, 1992). Dieses kann unterschiedlich erfasst werden. Häufig werden Selbstbeschreibungen anhand von Persönlichkeitseigenschaften benutzt, die als typischer für das männliche oder weibliche Geschlecht gelten. Weit verbreitet sind die beiden Fragebögen „Personal Attributes Questionnaire“ (PAQ) oder der Bem Sex Role Inventory (BSRI). Für beide Fragebögen liegen deutschsprachige Versionen vor (Runge, Frey, Gollwitzer, Helmreich & Spence, 1981; Schneider-Düker & Kohler, 1988). Die Identifikation mit traditionellen Geschlechterstereotypen wurde aber auch anders erfasst, z.B. über die „Macho-PersonalityScale“ (in einer deutschen Version von Krahé & Fenske, 2002) oder über die Ähnlichkeit des Selbstkonzeptes zum Marlboro-Mann aus der Kinowerbung (Sieverding, 1997).
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In dem Modell wird angenommen, dass das gesundheitsrelevante Verhalten einer Person auch vom Verhalten (wichtiger) Interaktionspartner abhängt, z.B. Gleichaltriger, Partner, behandelnder Ärzte bzw. Ärztinnen. Hierzu liegen bisher erst wenige systematische Studien vor. In einer interessanten schon älteren Schweizer Studie konnte gezeigt werden, dass Patienten, die eine Poliklinik mit Bauchschmerzen aufsuchten, in Abhängigkeit von ihrem Geschlecht unterschiedlich behandelt wurden (Conen & Kuster, 1988). Die Ärzte nahmen sich deutlich mehr Zeit für die Erstanamnese der Frauen (59 versus 45 Minuten). Bei Männern kamen dagegen mehr invasive diagnostische Verfahren zum Einsatz; so wurden bei elf Männern, aber nur bei drei Frauen Endoskopien durchgeführt. Unterschiede gab es auch in der Therapie. Frauen wurden deutlich häufiger unspezifische Medikamente in Form von Quellmitteln oder Analgetika verschrieben, bei Männern dagegen erfolgte häufiger der Einsatz einer spezifischen Therapie. Bei männlichen Patienten wurde zunächst eher ein organisches Leiden vermutet, während bei weiblichen Patienten in der Regel die Diagnose „Colon irritabile“ (eine funktionelle Störung ohne morphologisches oder biochemisches Korrelat) bereits bei der ersten Konsultation gestellt wurde. Auch bei Herz-KreislaufKrankheiten wurden Ungleichheiten in der Diagnose und Behandlung von Männern und Frauen beobachtet. Da gerade die koronare Herzkrankheit als „Männerkrankheit“ gilt, scheinen Frauen wie behandelnde Ärzte entsprechende Symptome seltener auf eine (potentielle) Herzkrankheit zurückzuführen. So hat eine bundesdeutsche Studie mit 5000 Patienten gezeigt, dass bei Frauen die Diagnose Koronare Herzkrankheit im Durchschnitt erst nach 68 Monaten Dauer der klinischen Beschwerdesymptomatik erfolgte, während die entsprechende Dauer bei Männern nur bei neun Monaten lag (Schannwell et al., 2000). Auch wenn die bisherige Forschungslage zu Fremdbeurteilungsbiases in Abhängigkeit vom Geschlecht der Patienten alles andere als befriedigend ist, kann man vermuten, dass hier komplizierte Wechselwirkungsprozesse vorliegen. Ausgehend von einer unterschiedlichen Selbstwahrnehmung und -attribution von Beschwerden (Gijsbers van Wijk & Kolk, 1997) sind Geschlechtsunterschiede in der Interaktion mit behandelnden Ärzten anzunehmen. Möglicherweise bieten Frauen von sich aus eher subjektive Krankheitstheorien (Faltermaier, 2005) an, in denen psychische Faktoren eine Rolle spielen. (Diese Hypothese bedarf jedoch dringend einer Überprüfung!) Umgekehrt beurteilen Ärzte und Ärztinnen die Beschwerden ihrer Patienten vor dem Hintergrund von Stereotypen über die Geschlechter, über den typischen Patienten bzw. die typische Patientin wie über bestimmte Krankheitsbilder. In einer qualitativen Studie bei Ärzten wurden Stereotype von männlichen und weiblichen Patienten erfragt. Dabei stellte sich heraus, dass Krankheitsverhalten, wie es eher von weiblichen Patienten erwartet wird: „more frequent attending ... more trivial problems ... more trivial medical speaking“ von Ärzten bei männlichen Patienten als „unmännlich“ wahrgenommen wird (Seymour-Smith, Wetherell & Phoenix, 2002). Solche ärztlichen Erwartungen über „angemessenes“ Verhalten von Patienten und Patientinnen können wiederum das Patientenverhalten beeinflussen.
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Exemplarische empirische Studien Im Folgenden sollen exemplarisch einige eigene empirische Studien zum Thema Genderforschung in der Gesundheitspsychologie vorgestellt werden. Die Bedeutung des Geschlechtsrollen-Selbstkonzeptes für die Stressreaktivität – eine Laborstudie In der Stressreaktivität, definiert als Bereitschaft, auf belastende Reize zu reagieren, wurden zum Teil substantielle Geschlechtsunterschiede beobachtet, wobei diese durch eine Reihe von Faktoren (wie situative Merkmale, Persönlichkeitsmerkmale oder Alter) moderiert werden. Stressreaktionen äußern sich in in einer Vielzahl von Indikatoren; zu unterscheiden sind hier insbesondere im Sinne einer „Reaktionstrias“ drei Reaktionsbereiche: die subjektiv erlebte Belastung, die physiologischen Reaktionen sowie das (Ausdrucks-) Verhalten. Frühe Ergebnisse der Stressforschung ergaben, dass die Stressreaktionen der verschiedenen Reaktionsbereiche häufig nicht parallel verlaufen. Weiterhin zeigte sich, dass es „den“ Stressindikator wohl nicht zu geben scheint, weshalb dafür plädiert wird, eine möglichst repräsentative Auswahl von Indikatoren zu erfassen. Die zum Teil beobachteten großen Geschlechtsunterschiede beziehen sich vor allem auf die Äußerungsform, nicht auf die Stärke insgesamt (Janke, 1992). Während in subjektiven Reaktionen, erfasst über Selbstbeurteilungen, Frauen im allgemeinen stärker reagieren, zeigen Männer in einer Reihe von somatischen Indikatoren, d.h. biochemischen und physiologischen Maßen, stärkere Reaktionen. Die subjektive Befindlichkeit bzw. Belastung ist der in Stressexperimenten am häufigsten erhobene Indikator, vermutlich deshalb, da diese Variable relativ einfach zu erfassen ist. Dabei zeigte sich in Studien zu Geschlechtsunterschieden, dass Frauen in und nach belastenden Situationen über relativ mehr Stress berichteten als Männer. Janke (1992) nennt als Beispiele für von ihm und seinen Mitarbeitern untersuchte Stressoren Gefahren- und Schmerzantizipation, soziale Verluste, soziale Zurücksetzung, interpersonale Konflikte und Arbeitsüberforderung. Die Tatsache, dass Frauen relativ mehr Stress berichten als Männer bedeutet jedoch nicht, dass sie tatsächlich mehr Stress erleben. Selbstwahrnehmungprozesse und Selbstdarstellungsprozesse lassen sich empirisch nur schwer trennen. Es wäre denkbar, dass stark internalisierte Geschlechtsrollenerwartungen zu einer Wahrnehmungsverzerrung oder Wahrnehmungsabwehr bei Männern führen könnten. Noch wahrscheinlicher ist, dass bei den Berichten über Stress Geschlechtsrollenerwartungen wirksam werden. Gemäß den Erwartungen der traditionellen männlichen Geschlechtsrolle wäre zu erwarten, dass Männer eher dazu neigen, ihren Stress „herunterzuspielen“, das heißt ein geringeres Maß berichten, als sie tatsächlich selbst wahrnehmen. Aus diesem Grund erlangen die physiologischen Maße der Stressreaktivität eine besondere Bedeutung, da diese nicht durch Selbstdarstellungstendenzen verzerrt sind. Bezüglich der physiologischen Stressreaktivität – z.B. in der Ausschüttung von Stresshormonen oder in der Blutdruckreaktivität – zeigte sich in der Mehrheit der Studien, dass Männer stärker reagieren als Frauen und zwar insbesondere auf leistungsbezogene Stressoren. Die höhere kardiovaskuläre Stressreaktivität von Männern wurde in diesem Zusammenhang als ein möglicher Faktor diskutiert, der zu ihrem höheren KHK-Risiko insbeson-
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dere im mittleren Lebensalter beitragen könnte (Davis & Matthews, 1996; Weidner & Messina, 1998). Schon früh wurde die Hypothese aufgestellt, dass die Geschlechtsunterschiede in subjektiver wie physiologischer Stressreaktivität nicht nur biologisch bedingt sind, sondern zu einem bedeutenden Anteil auch erlerntes Geschlechtsrollenverhalten repräsentieren (Frankenhaeuser, Dunne & Lundberg, 1976). In mehreren Studien wurden Frauen in traditionell männlichen Berufen, z.B. Busfahrerinnen, Rechtsanwältinnen oder Managerinnen, mit ihren männlichen Kollegen verglichen. Die Ergebnisse zeigten insgesamt, dass diese „nichttraditionellen“ Frauen auf Leistungsanforderungen mit einem vergleichbar starken Anstieg in der Ausschüttung des Stresshormons Adrenalin reagierten wie ihre männlichen Kollegen (Frankenhaeuser, 1991). Inwiefern beeinflusst das Geschlechtsrollen-Selbstkonzept (G-SK), das heißt die Selbstbeschreibung mit geschlechtstypischen Persönlichkeitseigenschaften, die Stressreaktivität von Männern und Frauen? Zur Beantwortung dieser Frage wurde eine aufwändige Bewerbungssituation simuliert. 74 fortgeschrittene Studierende mit einem Durchschnittsalter von 26 Jahren absolvierten im Labor einzeln verschiedene Aufgaben, wie sie typisch für Bewerbungssituationen sind: einen schriftlichen Leistungstest, einen Vortrag zu Darstellung der eigenen beruflichen Qualifikationen sowie ein Bewerbungs-Interview (Sieverding, Weidner & von Volkmann, 2005). Die Teilnehmer der Studie sollten nach jeder Untersuchungsphase auf Fragebögen ihren subjektiven Stress einschätzen, als Maß für die physiologische Stressreaktivität wurde die Blutdruckreaktivität gemessen. Das Geschlechtsrollen-Selbstkonzept wurde vor Beginn der Untersuchung mit dem Personal Attributes Questionnaire erfasst. In den subjektiven Stressreaktionen zeigte sich das bekannte Muster, wenn die durchschnittlichen Reaktionen der Männer und Frauen miteinander verglichen wurden. Frauen beschrieben sich nach den Aufgabenphasen als gestresster im Vergleich zu den Männern. In den kardiovaskulären Reaktionen gab es keine gravierenden Geschlechtsunterschiede, d.h. beide Geschlechter reagierten vergleichsweise stark mit Blutdruckanstiegen, insbesondere in den Aufgabenphasen Selbstdarstellungsvortrag und Bewerbungsinterview. Die Geschlechtsunterschiede verloren jedoch an Bedeutung, wenn zusätzlich zum biologischen Geschlecht das Geschlechtsrollen-Selbstkonzept berücksichtigt werde. Es konnte nämlich gezeigt werden, dass das Geschlechtsrollen-Selbstkonzept für die Vorhersage der subjektiven, aber auch der physiologischen Stressreaktivität ein wichtigerer Prädiktor ist als das biologische Geschlecht. Personen mit einem typisch maskulinen Selbstkonzept (gekennzeichnet durch Selbstbeschreibungen wie z.B. „überlegen“, „selbstsicher“ oder „durchsetzungsfähig“) reagierten – unabhängig von ihrem biologischen Geschlecht – im Vergleich zu Personen mit einem typisch femininen Selbstkonzept mit hohen physiologischen Stressreaktionen bei vergleichsweise geringen subjektiven Stressreaktionen. Eine solche Reaktionsdissoziation wird in der Gesundheitspsychologie als ein potentielles Risiko für die Gesundheit diskutiert (Kohlmann, 1997; Kohlmann, Weidner & Messina, 1996). Personen mit einem solchen Reaktionsmuster könnten möglicherweise Stress- oder andere körperliche Warnsignale zu spät wahrnehmen und zu wenig oder zu spät mit entsprechenden Maßnahmen darauf reagieren (z.B. Pausen machen, „kürzer treten“, ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen, etc.). Es gab in unserer Studie maskuline Frauen, die ein „typisch“ männliches Reaktionsmuster zeigten und auch feminine Männer, die eher „typisch“ weiblich reagierten. Die Er-
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gebnisse dieser Studie weisen darauf hin, dass Geschlechtsunterschiede in Stressreaktionen abnehmen dürften, je mehr sich die Geschlechterrollen annähern. Ist präventives Verhalten „unmännlich“? Zwei Fragebogenstudien Wie bereits in der Einleitung dieses Kapitels dargestellt, nehmen Männer deutlich seltener an präventiven Gesundheitsmaßnahmen teil als Frauen. In Anwendung der sozialkognitiven Theorie des „Prototype Matching“ wurde der Zusammenhang zwischen Selbstkonzeptvariablen und gesundheitsrelevanten Einstellungen untersucht. Die zugrunde liegende These ist, dass die Inanspruchnahme von professioneller Hilfe bei psychosozialen Problemen sowie (der Bericht über) körperliche Beschwerden nicht mit einem traditionell männlichen Selbstkonzept vereinbar ist. Dabei wurde ein traditionell männliches Selbstkonzept operationalisiert über die Ähnlichkeit des Selbstkonzeptes (erfasst über ein semantisches Differential) mit dem Stereotyp des Marlboro-Mannes aus der Kinowerbung, welches in einer Vorstudie erhoben worden war. Die erste Studie untersuchte die Motivation zur Teilnahme an einem Stressbewältigungstraining bei Medizinstudierenden und Klinikärzten und -ärztinnen in Abhängigkeit von ihrem Selbstkonzept (Sieverding, 1997). Es zeigte sich, dass die Motivation der Männer (nicht aber die der Frauen) deutlich von der Ähnlichkeit des Selbstkonzeptes zum Marlboro-Mann-Stereotyp beeinflusst wurde: Je mehr ein Mann in seiner Selbstbeschreibung dem Marlboro-Mann ähnelte, desto weniger konnte er sich vorstellen, an einem Stressbewältigungskurs teilzunehmen. In einer zweiten Studie wurde die Hypothese bestätigt, dass ein solches „Macho“-Selbstkonzept auch die Selbsteinschätzung von Gesundheit und körperlichen Beschwerden beeinflusst (Sieverding, 2002). MarlboroMann-ähnliche Männer gaben deutlich weniger körperliche Beschwerden an als MarlboroMann-unähnliche Männer. Dabei war die Varianzaufklärung durch die Berücksichtigung des Macho-Selbstkonzeptes beträchtlich. Während durch soziodemographische Variablen wie Geschlecht, Alter und Herkunft (Ost- versus Westdeutschland) nur 3% der Varianz in den Angaben zu körperlichen Beschwerden aufgeklärt wurden, konnte durch die Ähnlichkeit des Selbstkonzeptes zum Marlboro-Mann-Stereotyp immerhin 13% aufgeklärt werden. Könnte man daraus den Schluss ziehen, dass ein maskulines Selbstkonzept mit höherer körperlicher Gesundheit einhergeht? Nicht unbedingt. Vergleicht man nämlich die Selbstberichte von Männern und Frauen über ihre Gesundheit mit objektiven Krankheits- und Sterblichkeitsstatistiken, erhält man vielmehr den Eindruck, dass Männer (im Durchschnitt) ihren Gesundheitszustand überschätzen (Sieverding, 1998). Da die Selbsteinschätzung körperlicher Beschwerden ein wichtiger Faktor für gesundheitsrelevantes Verhalten ist (z.B. Initiierung gesundheitsfördernder Aktivitäten, Aufgeben gesundheitsriskanter Verhaltensweisen, Inanspruchnahme professioneller Hilfe), erscheint ein solches Ergebnis von hoher gesundheitlicher Relevanz. Maskulinität verursacht schnelleres Autofahren bei Männern – Ein Experiment Im aggressiven und schnellen Autofahren gibt es sehr große Geschlechts- und Altersunterschiede. Insbesondere junge Männer riskieren durch riskantes Fahrverhalten sich selbst und andere (Vgl. Limbourg und Reiter, in diesem Band). Im Jahr 2004 beispielsweise starben in
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Deutschland 6087 Personen bei Verkehrsunfällen, 4.438 (oder 73%) von diesen waren Männer (Statistisches Bundesamt, 2006). In einigen Studien wurde bereits ein Zusammenhang zwischen einem maskulinen Selbstkonzept (Özkan & Lajunen, 2005) bzw. einer „Macho“Persönlichkeit und aggressivem Autofahren festgestellt, „Macho“-Männer legten auch mehr Wert auf schnelle und sportliche Autos (Krahé & Fenske, 2002). Da in diesen Studien korrelative Zusammenhänge festgestellt wurden, konnten jedoch keine Aussagen über kausale Zusammenhänge gemacht werden. In einer experimentellen Studie ging es um die Frage, ob Maskulinität tatsächlich ursächlich für riskantes Autofahren verantwortlich ist (Schmid Mast, Sieverding, Esslen, Graber & Jäncke, 2008). Männliche Studierende (N = 84) wurden nach Zufall einer maskulinen, femininen oder neutralen Priming-Bedingung zugeordnet. Die Probanden fuhren eine festgelegte Strecke in einem Fahrsimulator. Während der Fahrt mussten die Teilnehmer auf Wörter achten, die aus dem Autoradio kamen. Sobald sie ein bestimmtes Wort hörten, sollten sie die Hupe betätigen. Es gab drei Bedingungen. In der Kontrollbedingung kamen ausschließlich neutrale Wörter, in der femininen Priming-Bedingung kamen Wörter, die in Vorversuchen als feminin eingeschätzt worden waren, wie „Mutter“, „Lippenstift“ oder „einfühlsam“, in der maskulinen Priming-Bedingung kamen maskuline Wörter wie „Muskeln“, „Anzug“„Fußball“, „stark“ oder „Vater“. Da die Begriffe nicht vor, sondern während des Autofahrens aus dem Autoradio kamen, war die interessante Frage, ob sich das Fahrverhalten, insbesondere die Fahrgeschwindigkeit im Lauf des Fahrens in Abhängigkeit von den unterschiedlichen PrimingBedingungen verändert. Tatsächlich zeigte sich, dass die Versuchsteilnehmer, die in der maskulinen Priming-Bedingung waren, ihre Fahrgeschwindigkeit signifikant im Vergleich zu den Teilnehmern in der femininen und neutralen Bedingung vom Anfang zum Ende der Fahrstrecke erhöhten. In der Realität kann Maskulinität durch sehr viele verschiedene Wege geprimt oder verstärkt werden. Die Anwesenheit, die Erwartungen und das Verhalten anderer Männer können beispielsweise Auslöser und Verstärker von maskulinem riskanten Verhalten sein. Ist Maskulinität ein Risiko für die Gesundheit? Schon vor einiger Zeit wurden Überlegungen über gesundheitsschädliche Wirkungen der traditionellen männlichen Rolle angestellt: So überschrieb Harrison (1978) seinen Artikel im Journal of Social Issues mit: „Warning: The male sex role may be dangerous to your health!“ In Deutschland stellte der Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter (1973) bereits Anfang der 1970er Jahre einen Zusammenhang zwischen traditionellen Geschlechtsrollenerwartungen und Gesundheitsverhalten her. „Von den Männern hingegen wird erwartet, dass sie jederzeit stark und fit sind. Wer männlich sein will, darf – jedenfalls nach der herkömmlichen Norm – nicht ‚wehleidig‘ sein“ (Richter, 1973, S. 296). So käme es, dass Männer unter Stress oberflächlich als belastbarer erscheinen; Richter vermutete jedoch, dass eine solche den Männern aufgezwungene Verdrängungs- und Verleugnungshaltung auf längere Sicht psychosomatisch nicht unbedenklich sei. „Die damit verbundene Anspannung, dazu der gesellschaftlich den Männern abverlangte Konkurrenzehrgeiz sind von nachweislicher pathogenetischer Bedeutung … vor allem für Koronarleiden ... Der nach dem traditionellen
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Rollenbild supermännliche Mann voller Kampfgeist, Unbeirrbarkeit und Ungeduld ist offensichtlich genau mit dem Typ der sogenannten koronaren Risikopersönlichkeit identisch ... Somit sprechen jedenfalls sehr gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass Männer, auf die Dauer gesehen, im Mittel nicht echt widerstandsfähiger sind gegen psychosoziale Überlastung“ (S. 297). So plausibel diese These war, so selten wurde sie empirisch überprüft. Erst in den letzten Jahren sind im Rahmen einer geschlechtersensiblen Gesundheitsforschung Studien durchgeführt worden, die versucht haben, die Hypothese über die gesundheitsschädliche Wirkung der männlichen Rolle zu überprüfen. Als erstes wäre die Studie von Lippa, Martin und Friedman (2000) zu nennen, die Daten einer Teilstichprobe der Längsschnittstudie an Hochbegabten von Lewis Terman auswerten konnten. Bei 654 Männern und 200 Frauen dieser Studie waren im Jahr 1940 die beruflichen Präferenzen ermittelt worden. Lippa und Kollegen berechneten daraus sogenannte Gender Diagnosticity Scores. Je typisch männlicher oder weiblicher die beruflichen Präferenzen und Interessen einer Person waren, desto höher war ihr jeweiliger Gender Diagnosticity-Wert. Dieser Wert ermöglicht es, ähnlich wie bei Maskulinitäts- und Femininitätsskalen von Selbsteinschätzungsfragebögen wie dem Personal Attributes Questionnaire, innerhalb der Geschlechter maskulinere und femininere Typen zu unterscheiden. Lippa und Kollegen untersuchten nun fast 60 Jahre später Zusammenhänge zwischen diesen Gender Diagnosticity Scores und der späteren Mortalität der Studienteilnehmer. Ihre Analysen erbrachten, dass tatsächlich die maskulineren Typen ein signifikant höheres Mortalitätsrisiko aufwiesen, und zwar galt das für beide Geschlechter. Männer und Frauen mit typisch männlichen beruflichen Präferenzen hatten ein erhöhtes Risiko zu sterben im Vergleich zu Individuen mit weniger typisch männlichen Präferenzen, und zwar in jeder Altersgruppe. In Hinsicht auf die Lebenserwartung schnitten die femininen Frauen am besten und die maskulinen Männer am schlechtesten ab. Bereits vorher dokumentierte Geschlechterunterschiede in der Lebenserwartung der Terman-Studienteilnehmer sind nach Lippa und Kollegen zumindest zum Teil auf die Unterschiede in den Sterblichkeitsraten zwischen maskulinen Männern und femininen Frauen zurückzuführen. Während es sich bei der Analyse von Lippa und Kollegen um eine Sekundäranalyse vorliegenden Datenmaterials handelt, war das explizite Ziel einer schottischen Längsschnittstudie die Überprüfung des Geschlechtsrollen-Selbstkonzeptes als unabhängiger Prädiktor der Mortalität an koronarer Herzkrankheit (Hunt, Lewars, Emslie & Batty, 2007). Insgesamt nahmen 1551 Männer und Frauen mit einem Durchschnittsalter von 55 Jahren an der ersten Befragung im Jahr 1988 teil. Sie wurden in ausführlichen Interviews zu ihrer Gesundheit und gesundheitsrelevantem Verhalten sowie zu wichtigen soziodemographischen Variablen befragt. Das Geschlechtsrollen-Selbstkonzept wurde mit einer Kurzversion der Maskulinitäts- und Femininitätsskala des Bem Sex Role Inventory erfasst. (BeispielItems der Maskulinitäts-Skala waren Unabhängigkeit, Durchsetzungsfähigkeit, starke Persönlichkeit; Beispiel-Items der Femininitätsskala waren mitfühlend, anteilnehmend, verständnisvoll, liebe Kinder.) Interessierende abhängige Variable war die Mortalität aufgrund einer koronaren Herzkrankheit (KHK). Bis zum Juni 2005 waren 88 Männer und 41 Frauen an einer KHK verstorben. Als mögliche Risikofaktoren wurden Rauchen, übermäßiger Alkoholkonsum (Binge Drinking), Übergewicht (Body Mass Index) und systolischer Blutdruck kontrolliert, außer-
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dem wurden psychologisches Wohlbefinden und Haushaltseinkommen als Kontrollvariablen berücksichtigt. Nach Kontrolle all dieser Faktoren erwies sich das GeschlechtsrollenSelbstkonzept als unabhängiger Prädiktor der KHK-Mortalität. Anders als in der Studie von Lippa et al. und der vielfach formulierten Hypothese waren jedoch nicht die maskulinen Personen (d.h. Personen mit hohen Werten auf der Maskulinitätsskala) stärker gefährdet, an einer koronaren Herzkrankheit zu versterben. Es zeigte sich vielmehr ein protektiver Effekt femininer Persönlichkeitseigenschaften, interessanterweise jedoch nur bei Männern: Die Männer, die sich 1988 in einem höheren Maß mit femininen Persönlichkeitseigenschaften beschrieben hatten, hatten in den nachfolgenden Jahren ein signifikant niedrigeres Risiko, an einer koronaren Herzkrankheit zu sterben!
Resumé Die soziale Konstruktion von Geschlecht beeinflusst das gesundheitsrelevante Verhalten von Individuen und Gruppen und damit indirekt auch die Gesundheit von Männern und Frauen. Während mögliche Zusammenhänge zunächst vorwiegend in Querschnittstudien analysiert wurden, konnten in letzter Zeit auch vielversprechende Ergebnisse aus Längsschnittstudien berichtet werden. Wünschenswert wären mehr Studien, die nicht allein auf Selbstberichten basieren, d.h. mehr Laborstudien unter Einbezug von physiologischen Maßen (Sieverding et al., 2005), Feldstudien (Klumb, Hoppmann & Staats, 2006) sowie experimentelle Studien (s. dazu z.B. Schmid Mast et al., 2008). Die bisher vorliegenden Befunde weisen jedenfalls bereits deutlich darauf hin, dass Maßnahmen zur Förderung von gesundheitsbewusstem Verhalten und zum Abbau von Risikoverhalten Genderkonstruktionen berücksichtigen sollten. Das hier vorgestellte Modell zum Zusammenhang zwischen Geschlechterrollen und Gesundheit kann einerseits als Anregung für die Forschung gesehen werden, andererseits sind darin mögliche Ansatzpunkte für geschlechtersensible Prävention und Gesundheitsförderung enthalten.
Literatur Altenhofen, L. (2005). Hochrechnung zur Akzeptanz von Gesundheitsuntersuchungen und Krebsfrüherkennungsuntersuchungen bei gesetzlich Versicherten. Verfügbar unter: http://www.zi-berlin.de/k_frueh _prog/downloads/Akzeptanz_KFU_GU_FOBT.pdf [15. Oktober 2009. Conen, D. & Kuster, M. (1988). Geschlechts- oder symptomspezifisches Verhalten männlicher Assistenzärzte. Sozial- und Präventivmedizin, 33, 167-172. Courtenay, W. H. (2000). Constructions of masculinity and their influence on men's well-being: A theory of gender and health. Social Science & Medicine, 50, 1385-1401. Davis, M. C. & Matthews, K. A. (1996). Do gender-relevant characteristics determine cardiovascular reactivity? Match versus mismatch of traits and situation. Journal of Personality and Social Psychology, 71, 527-535. Deaux, K. & LaFrance, M. (1998). Gender. In D. T. Gilbert, S. T. Fiske & G. Lindzey (Hrsg.), The handbook of social psychology, Vols. 1 and 2 (4th ed.) (S. 788-827). New York: McGraw-Hill.
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Monika Sieverding
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12. Verkehrspsychologie Verkehrspsychologische Gender-Forschung Maria Limbourg und Karl Reiter
Die Verkehrspsychologie erforscht die Wechselbeziehungen zwischen Verkehrssystemen und menschlichem Erleben und Verhalten mit den Zielen, die Mensch-VerkehrssystemInteraktion zu optimieren und Unfälle zu vermeiden. Dabei werden nicht nur der Straßenverkehr betrachtet, sondern auch der Bahn-, Flug- und Schiffsverkehr. Menschen als Verkehrsteilnehmer stehen im Zentrum eines jeden Verkehrssystems – und sie gelten als der fehleranfälligste Teil dieses Systems. Hauptunfallursachen sind menschliche Fehler und unangepasste Verhaltensweisen, die allein oder in Interaktion mit ungünstigen Bedingungen auf Seiten der Verkehrswege oder der Verkehrsmittel für über 90% aller Verkehrsunfälle (mit)verantwortlich gemacht werden (Schlag/Richter 2008). Zentrale Forschungsgegenstände der Verkehrspsychologie sind das Mobilitätsverhalten, das Mobilitätserleben und die Verkehrsmittelwahl von Menschen in Verkehrssystemen. Verkehrspsychologische Forscher/innen interessieren sich für die Mobilitätsbedürfnisse, -wünsche, -motive und -probleme von Menschen als Fußgänger, Radfahrer, Autofahrer, Nutzer des öffentlichen Verkehrs usw. Darüber hinaus entwickeln sie Ansätze zur Beeinflussung und Optimierung des menschlichen Mobilitäts- und Verkehrsverhaltens (Schlag/Richter 2008). In der Forschung wendet die Verkehrspsychologie nicht nur theoretische und methodische Grundlagen der Psychologie an; sie ist – auch wegen ihrer interdisziplinären Zusammenarbeit mit den Ingenieurwissenschaften, den Wirtschaftswissenschaften, den Erziehungswissenschaften, der Soziologie und der Medizin – ein innovatives Forschungsgebiet mit eigener Methodik und eigenständigen theoretischen Ansätzen. Innerhalb der Verkehrspsychologie lassen sich folgende Forschungs- und Anwendungsgebiete unterscheiden (Schlag 1999):
Verkehrspsychologische Diagnostik (Medizinisch-psychologische Untersuchungen von Kraftfahrern, Eignungsdiagnostik) Verkehrspsychologische Intervention (Beratungen von Kraftfahrern, Aufbauseminare für verkehrsauffällige Fahrer, Kurse zur Wiederherstellung der Fahreignung, Verkehrstherapie) Verkehrspsychologische Unfallforschung (zur Verbesserung der Verkehrssicherheit für unterschiedliche Alters- und Verkehrsteilnehmer-Gruppen, Beanspruchung beim Fah-
G. Steins (Hrsg.), Handbuch Psychologie und Geschlechterforschung DOI 10.1007/978-3-531-92180-8_12, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010
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Maria Limbourg und Karl Reiter ren, Wahrnehmung, Kognition und Aufmerksamkeit bei der Verkehrsteilnahme, Risikobereitschaft) Ausbildung und Aufklärung (Verhaltensbeeinflussung durch rechtliche, pädagogische, fahrzeug- und verkehrsraumgestaltende Maßnahmen, schulische und außerschulische Mobilitäts-/Verkehrserziehung, Fahrausbildung, Fahrlehrerausbildung, Verkehrsaufklärung, Kampagnengestaltung und Marketing) Fahrzeuggestaltung (Fragen der Fahrzeug-Ergonomie, Analyse der Fahraufgaben und der Voraussetzungen, die Kraftfahrer zu ihrer Bewältigung benötigen, Gestaltung und Design von Fahrzeugen und von Fahrerassistenzsystemen, Akzeptanz technischer und organisatorischer Innovationen) Verkehrspsychologische Beratung von Stadt- und Verkehrsplanern, Mobilitätsmanagern, Verkehrspolitikern, Polizeibeamten, Verkehrsjuristen usw.
Die Verkehrspsychologie hat eine lange Tradition: Bereits zu Beginn des letzten Jahrhunderts beschäftigten sich die ersten Verkehrspsychologen mit der Feststellung der beruflichen Eignung von Straßenbahnfahrern und Lokomotivführern, ab 1915 auch mit Autofahrern (Schlag 1999). Lange Zeit war dieses psychologische Forschungs- und Anwendungsgebiet fast ausschließlich in männlicher Hand und auch heute ist die Zahl verkehrspsychologischer Forscherinnen gering. Nur 8 von 44 Mitgliedern der Fachgruppe „Verkehrspsychologie“ der Deutschen Gesellschaft für Psychologie sind weiblich. Unter den 39 Autoren des im Jahr 2009 publizierten Bandes „Anwendungsfelder der Verkehrspsychologie“ der Enzyklopädie für Psychologie (Krüger 2009) sind nur sechs weiblich. Trotzdem waren Gender-Forschungsfragen in der Verkehrspsychologie schon sehr früh von Bedeutung – sie wurden den Forschern durch die großen geschlechtsspezifischen Unterschiede in den Verkehrsunfallzahlen nahe gelegt (z.B. Viteles/Gardner, 1928, mit ihrem Vergleich von Unfällen männlicher und weiblicher Taxifahrer in New York). Zu diesem Forschungsgebiet der Verkehrspsychologie möchten wir die vorliegenden Gender-Erkenntnisse zusammenfassen.
Gender-Fragen in der verkehrspsychologischen Unfallforschung Männer kommen im Straßenverkehr wesentlich häufiger zu Tode als Frauen (vgl. Abbildung 1). Im Jahr 2002 waren 73% der 1,2 Millionen weltweit gezählten Verkehrstoten männlich und 27% weiblich (WHO 2004).
12. Verkehrspsychologie Abbildung 1:
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Anzahl der 2002 im Straßenverkehr weltweit getöteten Männer und Frauen nach Alter (WHO 2004).
300000 250000 200000 Männer Frauen
150000 100000 50000 0 0-4 J.
5-14 J. 15-29 J. 30-44 J. 45-59 J.
60 + J.
In Deutschland sind im Jahr 2007 insgesamt 3.638 Männer (74%) und 1.309 Frauen (26%) bei Verkehrsunfällen getötet worden (Statistisches Bundesamt 2008). Auch bei den Schwerverletzten sind die geschlechtsspezifischen Unterschiede groß (63% : 37%). Bei den Unfällen mit Leichtverletzten sind die Unterschiede deutlich geringer (55% : 45%). Wenn Männer im Auto getötet werden, sitzen sie meist selbst am Steuer des Fahrzeugs: 80% der als Autoinsassen getöteten Männer waren bei dem Unfall als Fahrer und 20% als Mitfahrer unterwegs. Im Vergleich dazu starben von den getöteten Frauen 60% als Fahrerinnen und 40% als Mitfahrerinnen (Holte 2007). Da Männer mit motorisierten Fahrzeugen durchschnittlich mehr Kilometer pro Jahr als Frauen zurücklegen, müssen die Getötetenzahlen auf die Verkehrsleistung bezogen werden (Getötete je 100.000 km), um die Unfallzahlen von Männern und Frauen vergleichen zu können. Die Ergebnisse dieses Vergleichs zeigen, dass das verkehrsleistungsbezogene Risiko für Männer, als Fahrer eines motorisierten Fahrzeugs bei einem Verkehrsunfall im Straßenverkehr getötet zu werden, um 83% größer ist als für Frauen (Holte 2007), obwohl Frauen „vulnerabler“ als Männer sind: Medizinische Trauma-Untersuchungen zeigen, dass in vergleichbaren Unfallsituationen (gleiche Aufprallgeschwindigkeit, gleiche Sitzposition im Auto, gleiche Gurtnutzung usw.) Frauen häufiger tödlich verletzt werden als Männer (Evans 2001). Die Ergebnisse der einschlägigen Forschungsarbeiten zeigen, dass sich Männer als Verkehrsteilnehmer anders als Frauen verhalten. In den Studien von Mizell (1997), Stradling/Meadows (1999), Lajunen/Parker (2001), Shinar et al. (2001) und Shinar/Compton (2004) konnte beobachtet werden, dass Männer häufiger als Frauen „aggressiv“ fahren (schneiden, blockieren, andere Fahrzeuge ausbremsen, hupen, Mittelfinger zeigen, andere Fahrer beleidigen) und dass sie Geschwindigkeitsbeschränkungen und Alkohol-Promille-Grenzen seltener als Frauen einhalten. Auch in Deutschland sind Männer an alkoholbedingten Unfällen
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Maria Limbourg und Karl Reiter
wesentlich häufiger als Frauen beteiligt: Im Jahr 2006 wurden 20.966 alkoholisierte Beteiligte an Unfällen mit Personenschaden gezählt, darunter 91% Männer und 9% Frauen (vgl. Statistisches Bundesamt 2007). Außerdem nutzen Männer den Sicherheitsgurt im Auto seltener als Frauen (Begg/Langley 2000; Lerner et al. 2001; Shinar et al. 2001). Für die verkehrspsychologische Gender-Forschung stellt sich die Frage, ob das im Vergleich zu Frauen erhöhte Unfalltodesrisiko für Männer ein verkehrsspezifisches Problem darstellt, oder ob es auch für nicht verkehrsbezogene Lebensbereiche gültig ist. Die weltweite WHO-Unfallstatistik zeigt, dass Männer bei fast allen Unfallarten häufiger als Frauen zu Tode kommen (Verkehrsunfälle, Stürze, Ertrinken, Vergiftungen). Nur bei Feuer-Unfällen werden Frauen weltweit etwas häufiger als Männer getötet (WHO 2002). Zur Beantwortung dieser Frage für Deutschland kann die Todesursachenstatistik des Statistischen Bundesamtes herangezogen werden. Die jährlichen Zahlen zeigen eindeutig, dass Männer auch in Deutschland nicht nur im Verkehr häufiger tödlich verunglücken als Frauen, sondern auch in anderen Lebensbereichen: Sie ertrinken häufiger als Frauen (Jahr 2007: 250:101) und sie sterben häufiger als Folge von Rauchvergiftungen und Verbrennungen (205:141). Auch bei tödlichen Stürzen sind Männer bis zu einem Alter von 80 Jahren überrepräsentiert (2.044:1.019). Ab einem Alter von 80 Jahren sterben mehr Frauen als Männer nach Stürzen (3.252 Frauen zu 1.413 Männern). In dieser Altersgruppe ist allerdings der Frauenanteil in der Bevölkerung unseres Landes deutlich größer als der Männeranteil (2.638.000 Frauen zu 1.043.000 Männern) (Statistisches Bundesamt 2008). Männer halten auch bei einer anderen „nicht natürlichen“ Todesursache einen „traurigen“ Rekord: Sie sterben häufiger als Frauen nach „vorsätzlichen Selbstbeschädigungen“. Im Jahr 2007 haben sich 7.009 Männer in Deutschland das Leben genommen, bei den Frauen waren es 2.393 (Statistisches Bundesamt 2008). Inwieweit tödliche Verkehrsunfälle mit selbsttötenden Absichten herbeigeführt wurden, lässt sich nur in Einzelfällen feststellen. Die Dunkelziffer bei der statistischen Erfassung von vorsätzlichen Selbsttötungen im Straßenverkehr ist wahrscheinlich groß, und es kann angenommen werden, dass Männer in diesem Bereich überrepräsentiert sind (Statistisches Bundesamt 2008). Betrachtet man die jährlichen Geburtenzahlen, zeigt sich ein deutlicher JungenÜberschuss (Jahr 2006: 345.816 Jungen zu 326.908 Mädchen (Statistisches Bundesamt 2007). Man kann vermuten, dass sich die Natur auf das höhere Todesrisiko von Männern – nicht nur bei Unfällen und Selbsttötungen, sondern auch bei Krankheiten im Kindesalter – eingestellt hat. Jahr für Jahr sterben im ersten Lebensjahr mehr Jungen als Mädchen. Im Jahr 2007 waren es in Deutschland 1.518 männliche und 1.138 weibliche Säuglinge (Statistisches Bundesamt 2008). Bei der Betrachtung der geschlechtsspezifischen Unterschiede in den Verkehrstotenzahlen stellt sich die für die verkehrspsychologische Gender-Forschung wichtige Frage, ob sich die erhöhte Unfallgefährdung von Männern im Vergleich zu Frauen in allen Bevölkerungsgruppen und bei allen Mobilitätsformen zeigt. Um diese Frage zu beantworten, möchten wir einzelne Altersgruppen mit ihren spezifischen Mobilitätsverhaltensweisen und Unfallschwerpunkten betrachten und mögliche Ursachen für geschlechtsspezifische Unterschiede in der Verkehrsunfallbelastung von Männern und Frauen aufzeigen.
12. Verkehrspsychologie
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Verkehrsunfallgeschehen im Kindes- und Jugendalter Im Jahr 2007 wurden in Deutschland 33.804 Kinder unter 15 Jahren im Straßenverkehr verletzt, 111 der verletzten Kinder (69 Jungen und 42 Mädchen) starben an den Unfallfolgen. Geschlechtsspezifische Auswertungen der Verkehrsunfallzahlen im Kindesalter (0-14 Jahre) zeigen, dass Jungen zu Fuß, mit dem Fahrrad, als Pkw-Insassen und als Fahrer und Mitfahrer motorisierter Zweiräder häufiger tödlich verunglücken als gleichaltrige Mädchen (vgl. Abb. 2). Auch im Jugendalter weisen die Verkehrsunfallzahlen deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede auf: Im Alter von 15 bis 17 Jahren verunglücken Jungen wesentlich häufiger tödlich als Mädchen im Straßenverkehr (vgl. Abb. 3). Abbildung 2:
Anzahl der 2007 getöteten Jungen und Mädchen unter 15 Jahren als Fußgänger, Radfahrer, Pkw-Insassen und Fahrer/Mitfahrer von motorisierten Zweirädern (Statistisches Bundesamt 2008).
30 25 20 Jungen
15
Mädchen
10 5 0 Fußgänger Abbildung 3:
Fahrrad
Pkw
mot.Zw.
Anzahl der 2007 getöteten 15- bis 17-jährigen männlichen und weiblichen Jungendlichen als Fußgänger, Radfahrer, Pkw-Insassen und Fahrer/ Mitfahrer von motorisierten Zweirädern (Statistisches Bundesamt 2008).
60 50 40 männlich
30
weiblich
20 10 0 Fußgänger
Fahrrad
Pkw
mot.Zw.
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Maria Limbourg und Karl Reiter
Verkehrsbeteiligung von Kindern und Jugendlichen Die unterschiedlichen Unfallzahlen von Jungen und Mädchen unter 15 Jahren als Fußgänger/innen und Radfahrer/innen können zum Teil durch Unterschiede im Umfang der Verkehrsteilnahme erklärt werden: Obwohl Mädchen und Jungen unter 15 Jahren in Deutschland etwa gleich häufig ein Fahrrad besitzen (0-5 Jahre: M=39%, J=37%; 5-9 Jahre: M=92%, J=93%; 10-13 Jahre: M=95%, J=94%; 14-17 Jahre: M=84%, J=85%, Infas und DIW, 2004), sind Mädchen etwas seltener als Jungen zu Fuß oder mit dem Fahrrad im Straßenverkehr unterwegs. Zu Fuß legen Jungen in Deutschland im Schnitt 1,15 km pro Tag zurück, Mädchen 1,06 km. Mit dem Fahrrad sind Jungen 1,22 km pro Tag unterwegs, Mädchen 0,82 km (Funk/Fassmann 2002). Aufgrund ihrer geringeren Verkehrsbeteiligung als Fußgängerinnen und Radfahrerinnen wären bei Mädchen 7% weniger Fußgängerunfälle und 33% weniger Fahrradunfälle als bei Jungen zu erwarten. Die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen sind allerdings deutlich größer: Jungen erleiden 30% mehr Unfälle zu Fuß und 51% mehr Fahrradunfälle als Mädchen (Statistisches Bundesamt 2008). Die höheren Getötetenzahlen bei Jungen als Pkw-Insassen können nicht mit einer höheren Verkehrsbeteiligung von Jungen als Pkw-Mitfahrer erklärt werden. Jungen werden nicht häufiger als Mädchen im Pkw transportiert. Eine mögliche Erklärung ist in den heimlichen Spritztouren von Jungen unter 15 Jahren mit dem elterlichen Auto zu suchen. Jahr für Jahr – so zeigen einschlägige Mitteilungen in der Presse – verunglücken Jungen bei „Mutproben“ im Straßenverkehr tödlich (Limbourg et al. 2003). Bei der Verkehrsbeteiligung mit motorisierten Zweirädern sind die geschlechtsspezifischen Unterschiede noch größer. Männliche Jugendliche nutzen diese Mobilitätsform allerdings auch wesentlich häufiger als Mädchen: Von 20.552 Haltern von Krafträdern bis 17 Jahren waren im Jahr 2008 86% männlich und 14% weiblich (Kraftfahrt-Bundesamt 2008). Erleben und Verhalten von Jungen und Mädchen im Straßenverkehr Die beobachteten Geschlechterunterschiede können nicht durch verkehrsbezogene Wissensund/oder Kompetenzdefizite bei Jungen erklärt werden. Die vorliegenden Forschungsbefunde zeigen, dass Jungen ein größeres Verkehrswissen als gleichaltrige Mädchen besitzen, Gefahren besser erkennen und Geschwindigkeiten von Autos besser einschätzen. Jungen sind außerdem bessere Radfahrer und reagieren schneller als gleichaltrige Mädchen (Limbourg 2008; Starker et al. 2007). Einen Beitrag zur Erklärung der geschlechtsspezifischen Unterschiede bei Kinderunfällen können die Ergebnisse einer Vielzahl von Beobachtungsstudien von Kindern und Jugendlichen im Straßenverkehr leisten (Limbourg 2008): Jungen fahren mit ihrem Fahrrad durchschnittlich schneller als Mädchen und unternehmen häufiger „ziellose“ und „spielerische“ Fahrten. Sie fahren außerdem häufiger als Mädchen einhändig/freihändig und führen häufiger „akrobatische Kunststücke“ beim Radfahren aus. Studien über Kinder und Jugendliche als Fußgänger im Straßenverkehr zeigen, dass Jungen sich häufiger auf der Fahrbahn aufhalten als Mädchen; sie laufen häufiger als Mädchen plötzlich auf die Fahrbahn und verhalten sich häufiger „riskant“. Sie sind auf dem Gehweg häufiger verspielt und unkonzentriert. Mädchen halten öfter als Jungen am Bord-
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stein an, bevor sie die Straße überqueren (Limbourg 2008). Jungen spielen im Verkehrsraum Fußball oder fahren mit dem Rad, Mädchen sind stärker an sozialen Spielen interessiert, die weniger auf Wettstreit ausgerichtet sind und einen geringeren Platzbedarf haben (Gifford 1996; Flade 1999). Risikobereitschaft im Kindes- und Jugendalter Einen weiteren Beitrag zur Erklärung geschlechtsspezifischer Unterschiede bei Verkehrsunfällen im Kindes- und Jugendalter kann das Persönlichkeitsmerkmal „Risikobereitschaft“ leisten. Tödliche Verletzungen von 9- bis 17-jährigen Kindern und Jugendlichen im Straßenverkehr sind nicht selten die Folge von riskanten „Mutproben“ (Limbourg et al. 2000, 2003; Raithel, 2000, 2001a). Kinder und Jugendliche gehen bei „Rot“ über die Fahrbahn, balancieren auf den Geländern von Autobahnbrücken, rennen über stark befahrene Autobahnen, setzen sich auf Schienen vor herannahende Züge und surfen auf Autos und Bahnen, um ihren „Mut“ unter Beweis zu stellen. Die Forschungsergebnisse zur Häufigkeit von riskanten Verhaltensweisen im Jugendalter zeigen, dass Jungen häufiger als Mädchen „Mutproben“ durchführen (32%:18%). Die Mutproben von Jungen und Mädchen unterscheiden sich außerdem in ihrem Verletzungspotential: Jungen bevorzugen lebensgefährliche Mutproben wie z.B. Bahnsurfen, Sprünge von Brücken oder Klettern auf Strom-Masten. Mädchen führen häufiger soziale Mutproben (z.B. Klauen, Streiche spielen) oder Schmerz-Mutproben (sich mit einer Nadel stechen oder mit einer Kerzenflamme verbrennen) durch. Damit können Mädchen ihren Mut mit einem geringeren Verletzungsrisiko unter Beweis stellen (Limbourg et al. 2003). Die Annahme, dass Jungen risikobereiter als Mädchen sind, wird durch die schon etwas ältere Beobachtungsstudie von Ginsburg/Miller (1982) gestützt: Die Autoren konnten mit ihrer Untersuchung in einem „Streichel-Zoo“ in Texas zeigen, dass Jungen im Umgang mit den Zoo-Tieren häufiger als Mädchen bereit sind, Risiken einzugehen. Die Kinder wurden bei vier Zoo-Aktivitäten beobachtet: Elefanten-Reiten, Esel-Streicheln, Tiere-Füttern und Felsen-Klettern. Obwohl gleich viele Mädchen und Jungen am Zoo-Eingang gezählt wurden (Alter 3 bis 11 Jahre, n=480), führten signifikant mehr Jungen als Mädchen die vier beschriebenen Aktivitäten durch. Eine Untersuchung von Hoffrage et al. (2003) konnte zeigen, dass nicht alle Jungen risikobereit sind. Die Autoren konnten in ihrer experimentellen Arbeit mit 5- bis 6-jährigen Jungen zwei Persönlichkeitstypen unterscheiden: Den „risk taker“ und den „risk avoider“. Bei der Aufgabe, die Fahrbahn zu überqueren, wählten „risk taker“ häufig zu kleine Lücken im fließenden Verkehr, während „risk avoider“ auf größere Lücken warteten. Auch Gredler et al. (1998) identifizierten in ihrer Studie mit 4.720 Kindern aus Österreich den Persönlichkeitstyp des „quirligen Draufgängers“ als besonders unfallgefährdet. Zuckerman (1979) erklärt das Risikoverhalten im Rahmen seiner biosozialen Theorie mit dem Konstrukt „Sensation Seeking“ (Suche nach dem „Kick/Thrill“), das mit der „Sensation-Seeking-Skale“ gemessen wird. „Sensation seeking“ (SS) wird als eine Verhaltensdisposition beschrieben, die durch ein interindividuell variierendes Bedürfnis nach neuen, abwechslungsreichen und intensiven Sinneseindrücken und Erfahrungen gekennzeichnet ist. Die
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Maria Limbourg und Karl Reiter
Suche nach solchen Erfahrungen geht dabei mit der Bereitschaft einher, dafür auch Risiken in Kauf zu nehmen (Ruch/Zuckerman 2001; Raithel 2004: 127). In seinen Untersuchungen konnte Zuckerman zeigen, dass „Sensation Seeking“ zwischen 9 und 14 Jahren beginnt, und den Gipfel in der späten Adoleszenz erreicht – zwischen 16 und 20 Jahren. Die SS-Werte sind bei männlichen Jugendlichen durchschnittlich höher als bei weiblichen. So auch die Testosteron-Werte (Frauen durchschnittlich 40 Nanogramm, Männer 300-1000 Nanogramm pro Deziliter Blut). Außerdem konnte Zuckerman zeigen, dass hohe SS-Werte mit hohen Werten des männlichen Hormons Testosteron einhergehen, und diese Werte sind bei männlichen Jugendlichen biologisch bedingt höher (Raithel 2004). Die Forschungsergebnisse von Zuckerman wurden von weiteren Studien bestätigt (Dabbs/Morris 1990; Bogaert/Fischer 1995; Gerra et al. 1999). Es gibt auch Frauen, die höhere Testosteron-Werte als der weibliche Durchschnitt aufweisen. Dabbs et al. (1988) fand bei kriminellen Frauen in Haftanstalten erhöhte Testosteron-Werte. Auch die Befragung von 567 Kindern und Jugendlichen im Alter von 11 bis 17 Jahren zur Sensation-Seeking-Tendenz und zur Begeisterung für schnelles Fahren durch Waylen/ McKenna (2008) stützt die Theorie von Zuckerman. Jungen erhielten in beiden Bereichen höhere Werte als Mädchen. Die Werte waren bei den 14-Jährigen am höchsten. Vergleichbare Ergebnisse erhielten Harré et al. (2000) in Neuseeland. Zuckerman konnte in seinen Forschungsarbeiten außerdem zeigen, dass der Testosteron-Spiegel durch Umweltfaktoren beeinflusst werden kann. Aggressionen und Konflikte gehen mit einer Erhöhung des Testosteron-Spiegels einher (Zuckerman 1994). Andere Forschungsarbeiten haben sich mit der Rolle der Neurotransmitter Dopamin und Serotonin (sog. „Glückshormone“, mit einer ähnlichen Wirkung wie Drogen) bei der „Kicksuche“ („Sensation-Seeking“) und beim Risikoverhalten („risk taking behavior“) beschäftigt. Die errechneten Korrelationen waren positiv (z. B. Netter et al. 1996; Gerra et al. 2000). Das bedeutet, dass Risikoverhalten und Kicksuche mit Glücksgefühlen einhergehen. Auch das Stresshormon Cortisol korreliert positiv mit der Sensation-Seeking-Tendenz (Rosenblitt et al. 2001). Cortisol wirkt aktivierend auf den Organismus und steigert somit den Drang, etwas zu unternehmen. Im Auftrag der Bundesanstalt für Straßenwesen wurden mehrere Forschungsarbeiten zum Zusammenhang von Lebensstil und Unfallrisiko im Jugendalter durchgeführt (Schulze 1999). Die Ergebnisse der Studien zeigen, dass das Unfallrisiko für sog. „KicksuchendeTypen“ unter den Jugendlichen deutlich erhöht ist. Zu dieser Gruppe gehören 37% der vorwiegend männlichen Jugendlichen. Sie sind ständig auf der Suche nach dem „Kick“ und haben Spaß an riskanten Situationen. Es handelt sich dabei um Personen mit einem geringen psychophysiologischen Aktivierungsniveau, die versuchen, mit riskanten Verhaltensweisen ihr Aktivierungsniveau zu steigern. Sie sind anfällig für Langeweile („Boredom Susceptibility“) und bekämpfen ihre Langeweile mit aktivierungssteigernden Aktivitäten, zu denen auch Mutproben zählen (Zuckerman 1979, 1994; Ruch/Zuckerman 2001). Zu dieser Risikogruppe gehören auch „hyperaktive“ Kinder und Jugendliche. Sie haben ein viermal höheres Verkehrsunfallrisiko als Kinder und Jugendliche ohne ADHSSymptomatik (Barkley et al. 1993, 2002). ADHS-Kinder und Jugendliche haben häufig ein zu geringes Aktivierungsniveau und versuchen dieses durch „Hyperaktivität“ zu steigern. Riskantes Verhalten und Mutproben können diese Funktion erfüllen. Das „Hyperaktivitäts-
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Syndrom“ kommt bei Jungen häufiger vor als bei Mädchen (Verhältnis 3:1 bis 9:1) (Döpfner et al. 2000). Einen weiteren theoretischen Ansatz zur Erklärung der geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Unfallbelastung und im Risikoverhalten Jugendlicher bietet die Evolutionspsychologie (Barkow et al. 1992; Cosmides/Tooby 1987). In diesem Kontext wird das Verhalten der Menschen als Resultat eines biologischen Anpassungsprozesses des Gehirns – und somit auch der kognitiven Prozesse – an die vorherrschenden Umweltbedingungen verstanden. Die Menschen der Steinzeit waren in „Jäger-und-Sammler“-Gesellschaften organisiert. Die Männer waren für das Jagen zuständig, die Frauen für das Sammeln. Für das Jagen waren Risikobereitschaft und Mut erforderlich. Evolutionsorientierte Psychologen argumentieren nun, dass der menschliche Geist an eine steinzeitliche und nicht eine moderne Umwelt angepasst ist. Grund dafür ist die „Langsamkeit“ der Evolution im Vergleich zur Geschwindigkeit der gesellschaftlichen Veränderungen in der modernen Zeit. Deswegen könne man in gegenwärtigen Kulturen Verhaltensweisen beobachten, die dem Reproduktions- und Überlebenserfolg von Menschen zum Teil radikal entgegenstehen. Die Anpassung des Gehirns an die veränderten Lebensbedingungen kommt mit der Geschwindigkeit der gesellschaftlichen Veränderungen nicht mit. Einen sozialisationstheoretischen Ansatz zur Erklärung der geschlechtsspezifischen Unterschiede im Risikoverhalten von Jungen und Mädchen stellt die interaktionistische Geschlechtertheorie „doing gender“ von West/Zimmermann (1987) dar. Diese Theorie setzt an der Unterscheidung zwischen biologischem Geschlecht (sex) und sozialem Geschlecht (gender) an. Die biologische Ausstattung umfasst Morphologie, Anatomie, Hormone und Physiologie, wohingegen das soziale Geschlecht die kulturellen Wertungen und Deutungen meint. Während das biologische Geschlecht angeboren ist, entsteht das soziale Geschlecht in der Interaktion des Individuums mit seiner sozialen Umwelt (Raithel 2004). Nach der „doing gender“- Theorie ergeben sich geschlechtsspezifische Unterschiede aus geschlechtstypischen Interaktionsmustern in unserem kulturellen System der Zweigeschlechtlichkeit (Männlichkeit/Weiblichkeit). In unserer Kultur sind Leistung und Sieg für die Geschlechtsidentität von Jungen von zentraler Bedeutung. Gewalt, exzessive Risikopraktiken oder auch riskante Mutproben bieten sich an, um männliche Invulnerabilität, Stärke und Überlegenheit zu demonstrieren. PS-starke Autos und Motorräder haben für eine große Anzahl von Männern in unserer Gesellschaft eine identitätstiftende Bedeutung (Arnett et al. 2002). Die Begeisterung des männlichen Geschlechts für das Auto entsteht bereits in der Kindheit: Jungen fahren mit Spielzeugautos, stossen mit Box-Autos auf dem Rummelplatz zusammen und fahren Rennen auf Kart-Bahnen. Bei der Befragung von 1.185 Schülerinnen und Schülern im Alter von 10 bis 17 Jahren in Bielefeld, Bottrop, Darmstadt, Essen, Hamburg, Münster und Oberhausen gaben 31% der Mädchen, aber 46% der Jungen an, dass sie nach dem Führerscheinerwerb „häufig“ Auto fahren wollen. Auf die Frage nach dem Grund für die geplante häufige Autonutzung nannten 10% der Mädchen, aber 22% der Jungen das Motiv „Spaß am Autofahren“ (Flade/Limbourg 1997). Mädchen entwickeln ihre Geschlechtsidentität häufiger über das Aussehen: sie werden von ihren Eltern hübsch gekleidet, erhalten Puppen als Spielzeug und werden stärker behütet als Jungen. Die starke Betonung des Aussehens bei der geschlechtsspezifischen Sozialisa-
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tion von Mädchen hat wiederum andere Risikoverhaltensweisen wie z.B. Bulimie und Magersucht zur Folge (Raithel 2004). Die Doing-Gender-Theorie wird durch ein Experiment von Schmid-Mast et al. (2008) gestützt. In diesem Experiment wurden 83 Männer im Alter von 20 bis 27 Jahren, die an einem Fahrsimulator 10 Minuten lang eine Strecke zurücklegen mussten, drei Versuchsgruppen zugeordnet: Einer maskulinen, einer femininen und einer geschlechtsneutralen Gruppe. Den Gruppen wurden über das Autoradio des Fahrsimulators 56 unterschiedliche Wörter dargeboten. Maskuline Wörter waren z.B. „Vater“, „stark“, „Anzug“ usw.; feminine Wörter waren „Mutter“, „Lippenstift“, „empathisch“ usw.; neutrale Wörter waren „Bein“, „mieten“, „privat“ usw. Die Ergebnisse zeigten, dass in der „maskulinen“ Gruppe die Tendenz zum „Rasen“ bei den Versuchspersonen am stärksten war. In der „femininen Gruppe“ war sie am geringsten. Extreme Formen der öffentlichen Präsentation von Männlichkeit, die auf körperlicher Kraft und Dominanz beruhen, wählen insbesondere „marginalisierte Jugendliche“ (Helfferich 2001). So ist auch zu verstehen, dass gerade für Kinder und Jugendliche aus benachteiligten Soziallagen Risikoverhalten und körperliche Gewalt der Geschlechtsidentitätsreproduktion dienen (Raithel 2004). Das Problem wird noch dadurch verstärkt, dass sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche als Folge von kognitiven Kompetenzdefiziten und mangelnder Aufklärung im Elternhaus Gefahren nicht so gut einschätzen können wie Kinder und Jugendliche aus höheren sozialen Schichten (Limbourg 1997). Zur öffentlichen Präsentation von Männlichkeit gehört in unserer Gesellschaft auch der Alkoholkonsum, der schon in jungen Jahren das Unfallgeschehen beeinflusst. So zeigen die Verkehrsunfallstatistiken 2007, dass bereits bei den unter 15-jährigen Kindern und Jugendlichen 19 Jungen gegenüber sechs Mädchen wegen/unter Alkoholeinfluss im Straßenverkehr verunglückten. Bei den 15- bis 18-Jährigen waren es 669 Jungen gegenüber 67 Mädchen (Statistisches Bundesamt, 2008).
Verkehrsunfallgeschehen im Jungen Erwachsenenalter Verkehrsunfälle stellen die häufigste Todesursache im Alter von 18 bis einschließlich 24 Jahren dar (McCartt et al. 2003). Im Jahr 2007 starben in Deutschland insgesamt 971 junge Erwachsene im Alter von 18 bis 24 Jahren im Straßenverkehr. Junge Männer waren unter den Getöteten überrepräsentiert (767=79%), junge Frauen verunglückten deutlich seltener tödlich (204=21%) (Statistisches Bundesamt 2008). Bei tödlichen Straßenverkehrsunfällen von jungen Erwachsenen hat der Pkw als Verkehrsmittel eine herausragende Bedeutung: 78% der Verkehrstoten bei den 18- bis 24-Jährigen waren in Deutschland Pkw-Insassen (Männer: 577=76%; Frauen: 180=24%) (vgl. Abb. 3). Die Geschlechterunterschiede bei den Pkw-Getöteten-Zahlen können nicht durch unterschiedliche Führerscheinbesitzquoten bei jungen Männern und jungen Frauen erklärt werden: Im Alter von 18 bis 19 Jahren besaßen im Jahr 2002 70% der Männer und 70% der Frauen einen Pkw-Führerschein, im Alter von 20 bis 24 Jahren waren es bereits 90% bei beiden Geschlechtern (Infas/DIW 2004). Junge Frauen legen allerdings durchschnittlich weniger Kilometer als junge Männer zurück. Aus diesem Grund müssen die Getötetenzahlen auf die Verkehrsleistung bezogen werden. Die amerikanische Arbeit von Massie et al.
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(1995) ermittelte für die Gruppe der 16- bis 19-jährigen jungen Männer ein Todesrisiko von 12,5 Getöteten je 100 Millionen Meilen. Bei den gleichaltrigen jungen Frauen betrug das Todesrisiko 6 Getötete je 100 Millionen Meilen. Zu den tödlichen Pkw-Unfällen kommen die männlich dominierten tödlichen Motorradunfälle hinzu. Auch bei den getöteten Fußgängern und Radfahrern sind die jungen Männer überrepräsentiert (vgl. Abb. 4). Abbildung 4:
Anzahl der 2007 getöteten 18- bis 24-jährigen jungen Erwachsenen als Fußgänger, Radfahrer, Pkw-Insassen und Fahrer/Mitfahrer von motorisierten Zweirädern (Statistisches Bundesamt, 2008).
700 600 500 400
männlich
300
weiblich
200 100 0 Fußgänger
Fahrrad
Pkw
mot.Zw.
Der Unterschied zwischen weiblichen und männlichen Jugendlichen zeigt sich ebenso in den Statistiken über das Geschlecht der Fahrzeugführer bei Unfällen mit Personenschäden: In der Gruppe der 15- bis 17-Jährigen sind es 85% junge Männer und 15% junge Frauen. In der Gruppe der 18- bis 24-Jährigen ist das Verhältnis 70% junge Männer zu 30% junge Frauen (Statistisches Bundesamt 2008).
Ursachen von Verkehrsunfällen junger Erwachsener Bei einem „typischen“ tödlichen Autounfall von jungen Erwachsenen handelt es sich um einen sog. „Alleinunfall“ (ohne Beteiligung anderer Fahrzeuge) durch Kontrollverlust, der sich auf einer Freizeitfahrt mit Freunden unter Alkoholeinfluss bei hoher Geschwindigkeit am Wochenende in der Nacht ereignet (Schulze 1998). Unter diesen Freizeitunfällen kommt den sog. „Disco-Unfällen” eine herausragende Bedeutung zu, welche die folgenschwersten nächtlichen Freizeitunfälle in dieser Altersgruppe darstellen. 79% der Disco-Unfälle werden von jungen Männern verursacht (Marthiens/Schulze 1990). Betrachtet man die Ursachen von Unfällen junger Fahrer, so zeigt sich, dass die „nicht angepasste Geschwindigkeit“ die dominierende Unfallursache ist: Jeder zweite tödliche Unfall
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in der Altersgruppe der 18- bis 24-jährigen jungen Fahrer ist auf diese Ursache zurückzuführen (Statistisches Bundesamt 2008). Zur „nicht angepassten Geschwindigkeit“ als Unfallursache kommt oft der „Alkoholkonsum“ als weitere Ursache hinzu: Bei jedem zehnten tödlich verunglückten jungen Autofahrer wurde eine erhöhte Blutalkoholkonzentration gemessen (vgl. Statistisches Bundesamt 2008). Das männliche Geschlecht ist sowohl bei den Geschwindigkeits-Unfällen (77% zu 23%) wie auch bei den Alkohol-Unfällen deutlich überrepräsentiert (91% zu 9%). Die Verkehrsunfallstatistiken über alkoholisierte Verunglückte im Straßenverkehr zeigen einen großen Unterschied zwischen jungen Männern und jungen Frauen: In der Gruppe der 15bis 17-Jährigen kommen auf 736 männliche alkoholisierte Verunglückte 67 weibliche. Bei den 18- bis 24-Jährigen sind es 5.459 Männer und 511 Frauen (vgl. Statistisches Bundesamt 2008). Eine schwedische Untersuchung von tödlichen Verkehrsunfällen in einem zweijährigen Zeitraum bestätigt die Erkenntnisse aus Deutschland. Keine einzige getötete Frau im Alter von 20 bis 29 Jahren hatte zu hohe Promille-Werte. Bei den getöteten Männern waren es 31% (Ahlm et al. 2009). Die Unfallursachen „Unangepasste Geschwindigkeit“ und „Alkoholkonsum“ hängen mit der erhöhten „Sensation Seeking-Tendenz“ bei Männern – und besonders bei jungen Männern – zusammen (vgl. 2.3). Die Studie von Hippius/Joswig (1999) belegt diesen Zusammenhang: 72 männliche und 46 weibliche Autofahrer im Alter von 20 bis 62 Jahren wurden mit der „Sensation-Seeking-Scale“ und einem Verkehrsfragebogen untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass die männlichen Autofahrer eine höhere SS-Punktzahl erreichten, über höhere gefahrene Spitzengeschwindigkeiten berichteten und leistungsstärkere Fahrzeuge (PS) nutzten als die weiblichen Befragten. Vergleichbare Ergebnisse zeigt auch die australische Studie von Hatfield/Fernandes (2009). Die Forscher befragten 89 Autofahrer/innen im Alter von 16 bis 25 Jahren und 110 Fahrer/innen über 35 Jahre mit Tests und Skalen zur Risikobereitschaft, zur Risikomotivation und zur Risikowahrnehmung sowie zum Risikoverhalten. Junge männliche Fahrer erhielten die höchsten Werte. In einer neuseeländischen Studie wurden 907 junge Erwachsene im Alter von 18 bis 21 Jahren zu ihrem Fahrverhalten und zu ihren Verkehrsunfällen befragt. Die Ergebnisse zeigten einen signifikanten Zusammenhang zwischen riskantem Fahrverhalten und Unfallbelastung. Junge Männer waren wesentlich häufiger als junge Frauen in der Gruppe der risikobereiten unfallbelasteten jungen Autofahrer/innen (Fergusson et al. 2003). In der finnischen Studie von Laapotti et al. (2001) wurden 28.000 Unfälle junger Fahrerinnen und Fahrer analysiert. Die Ergebnisse zeigen, dass Unfälle junger Frauen häufig die Folge von Problemen beim „handling“ des Fahrzeugs sind (z.B. Bedienen der Gangschaltung, Einparken, Spur halten). Junge Männer haben damit weniger Probleme, die Unfallursachen sind weit häufiger bei Persönlichkeitsmerkmalen (z.B. Risikobereitschaft, Aggressivität), Einstellungen (Begeisterung für schnelle Autos) und Emotionen (geringe emotionale Selbstkontrollfähigkeit) zu finden. In den letzten 40 Jahren wurde von einigen Verkehrsexperten immer wieder vorhergesagt, dass sich das Fahrverhalten von Frauen im Zuge der weiblichen Emanzipation in Richtung Angleichung an das männliche Fahrverhalten verändern würde. Eine finnische Forschungsarbeit ist dieser Frage nachgegangen (Laapotti/Keskinen, 2004): Die Autoren haben die Verkehrsunfälle von Männern und Frauen aus den Jahren 1984 und 2000 verglichen. Die
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Unfallmuster von Frauen- und Männer-Unfällen (Alter 18 bis 25 Jahre) haben sich im betrachteten Zeitraum nicht verändert: Junge Männer waren sowohl 1984 als auch 2000 häufiger als junge Frauen in schwere Unfälle mit den Ursachen „Unangepasste Geschwindigkeit“ und/oder „Alkohol“ verwickelt, Frauen waren häufiger an leichten Unfällen ohne Alkohol und bei moderaten Geschwindigkeiten beteiligt. Zu vergleichbaren Ergebnissen kommt auch die Arbeit von Mayhew et al. (2003), in der die Veränderungen der fahrleistungsbezogenen Unfallzahlen von Männern und Frauen von 1975 bis 1998 in den Vereinigten Staaten verglichen wurden. Sowohl bei Männern als auch bei Frauen haben sich im betrachteten Zeitraum die verkehrsleistungsbezogenen Unfallraten um 40% verringert. Der Abstand zwischen Männern und Frauen ist gleich geblieben. Erleben und Verhalten von jungen Fahrerinnen und Fahrern im Straßenverkehr Junge Männer und junge Frauen unterscheiden sich in ihren Einstellungen zur Autonutzung: Das Motiv „Spaß zu haben“ wird von jungen Männern doppelt so häufig als Begründung für das Autofahren genannt als von jungen Frauen, die sich meistens auf rationale Begründungen wie Zeitgewinn und Bequemlichkeit beschränken (Limbourg et al. 2000). Spaß beim Autofahren bereitet nicht das sicherheitsbewusste, sondern das schnelle Fahren, so dass junge Männer häufig mit zu hohen Geschwindigkeiten unterwegs sind (Raithel 2001b). Zum Risikoverhalten „Rasen“ (speeding) kommt häufig noch die jugendspezifische Selbstüberschätzung hinzu: 86% der jungen Fahranfänger schätzen ihren Fahrstil als „sicher“ ein (Shell/ADAC 2000). Grund dafür ist der „jugendliche Egozentrismus“. Diese alterstypische erhöhte Selbstwahrnehmung verstellt den Jugendlichen den Blick für die realistische Einschätzung der Außenwelt mit ihren Gefahren (Elkind 1967, Berger 1998). Aber auch dann, wenn Gefahren realistisch eingeschätzt werden, beziehen die Jugendlichen sie nicht auf sich selbst, sondern nur auf die anderen („So etwas kann mir nicht passieren“). Die Jugendlichen erleben sich als „einzigartig“ („Personal fable“-Phänomen) und überschätzen ihre Fähigkeiten. Gedanken wie „Ich bin ein hervorragender Autofahrer“ oder „Ich kann sehr schnell reagieren“ sind Ausdruck dieser Selbstüberschätzung. Jugendliche glauben, dass sie „unverwundbar“ sind und ihnen nichts passieren kann („Invincibility fable“-Phänomen). „Egozentrismus“ im Jugendalter führt u.a. auch dazu, dass Jugendliche von sich auf andere schließen. Dadurch überschätzen sie die Anzahl der Gleichaltrigen, die ähnliche Verhaltensweisen wie sie selbst zeigen („Imaginary audience“-Phänomen). Aussagen wie „Kein Jugendlicher trägt einen Schutzhelm beim Rad fahren“ oder „Alle Jugendlichen trinken Alkohol in der Disco“ sind Beispiele für derartige egozentrische Denkweisen (Berger 1998). Häufig fahren junge Männer riskant, um Anerkennung unter Gleichaltrigen zu finden. Viele jugendtypische riskante Verhaltensweisen werden durch die „Peer-Group“ gesteuert (Mutproben, delinquente Handlungen, schnelles Fahren usw.). Innerhalb der „Peer-Group“ haben riskante Verhaltensweisen eine wichtige soziale Funktion: Sie stellen einen Weg dar, von der jeweiligen Bezugsgruppe akzeptiert zu werden und eine Identität innerhalb der jugendlichen Subkultur aufzubauen. Die Konformität mit Peer-Normen ist im Jugendalter sehr ausgeprägt („Group-Think“). Der Konformitätsdruck in der Gruppe führt zu verzerrten Denk- und Entscheidungsprozessen, die einzelne Gruppenmitglieder daran hindern, selbst durchdachte Entscheidungen zu treffen. Für die Gruppenzugehörigkeit tun Jugendliche
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alles – auch/oder besonders Risiken in Kauf zu nehmen (Janis 1983). Das sog. „Risky ShiftPhänomen“ verstärkt die Risikobereitschaft von Jugendlichen in Gruppen: Kollektiv von Gruppen getroffene Entscheidungen fallen tendenziell riskanter aus (Stoner 1961). In einigen Forschungsarbeiten wurde der Einfluss der Peer-Group auf das Fahrverhalten junger Fahrer/innen untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass junge Männer dann besonders riskant fahren, wenn andere junge Männer im Auto mitfahren. Sind die Mitfahrer weiblich, fahren die jungen Männer vorsichtiger (Schupp/Schlag, 1999; Williams 2003; Williams et al. 2007; Rueda-Domingo et al. 2004; Simons-Morton et al. 2005). Eine weitere Ursache für die Gefährdung von Jugendlichen im Verkehr ist in ihrem Freizeitverhalten zu finden. So ist der Disco-Besuch eine der wichtigsten Freizeitaktivitäten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen: 15% der jungen Menschen besuchen mindestens einmal pro Woche eine Diskothek, weitere 31% mindestens zwei bis drei Mal pro Monat. Der wöchentliche Disco-Besuch ist bei Berufsschülern besonders häufig (Rode et al. 2002). Ca. 70% der Jugendlichen und jungen Erwachsenen fahren mit dem Pkw zur Disco – als Selbstfahrer oder als Mitfahrer. Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Alkohol- und Drogenkonsum in der Disco. Insgesamt 63% der jungen Frauen und ca. 77% der jungen Männer geben an, in der Diskothek Alkohol zu trinken (Rode et al. 2002). Die Frauen trinken im Durchschnitt drei Gläser, die Männer sieben Gläser. In der Gruppe der Autofahrer sind es immerhin noch 38% der Männer und 12% der Frauen. Da Alkohol das Risikoverhalten verstärkt, erhöht sich für die Jugendlichen nach Alkoholkonsum in der Disco die Unfallgefahr. Illegale Drogen konsumieren nach eigenen Angaben insgesamt 21% der Männer und 10% der Frauen bei ihrem Disco-Besuch. Bei den Autofahrern sind es immerhin noch 9% der jungen Männer und 5% der jungen Frauen. Am häufigsten wird Cannabis konsumiert, eine Droge, die wahrnehmungsverzerrend und halluzinogen wirkt und dadurch auch ein Gefahrenpotenzial für die jungen motorisieren Disco-Besucher – besonders in Kombination mit Alkohol – darstellt (Rode et al. 2002). Vergleichbare Erkenntnisse zum Zusammenhang von Alkoholkonsum und Autofahren bei Männern konnten auch in anderen Ländern gewonnen werden (Caetano/Clark, 2000; Anderson/Ingram, 2001; Shinar el al. 2001). Weitere Risikofaktoren für das Zustandekommen von Verkehrsunfällen in dieser Altersgruppe sind neben dem Geschlecht auch der Lebensstil, die Persönlichkeit, der familiäre Hintergrund sowie die Schul- und Ausbildungssituation der jungen Frauen und Männer (Schlag et al. 1986; Keskinen 1996; Schulze 1996; 1999; Raithel 1999). Lebensstilanalysen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zeigen ein deutlich erhöhtes Unfallrisiko für sog. „Action-Typen”, „Fan-Typen” und „Kicksuchende-Typen“ unter den jungen Fahrern. Diese Freizeit-Typen besuchen häufiger Discotheken oder Fußballspiele, konsumieren dabei viele alkoholische Getränke und verunglücken häufiger im Straßenverkehr. 37% der 18- bis 24jährigen – vorwiegend männlichen – jungen Erwachsenen können diesen Gruppen zugeordnet werden (Schulze 1996, 1999). Auch die Verhaltensdisposition „Sensation Seeking“ stellt einen Risikofaktor für Verkehrsunfälle im jungen Erwachsenenalter dar (Schulze, 1999; Holte 2007). „Sensation seeker“ zeigen eine stärkere Bereitschaft zu Regelverstößen, bevorzugen Fahrzeuge mit hohen Motorleistungen, sind häufiger durch risikoerhöhende Fahrmotive (z.B. „Es ist ein gutes Gefühl,
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andere abzuhängen“) charakterisierbar, äußern häufiger Trinkmotive wie „Spaß haben“ und „Frust abbauen“ und sind häufiger überzeugt, schwierige Situationen durch eigene Fähigkeiten bewältigen zu können. Sie sind häufiger Raucher, trinken häufiger Alkohol und nehmen häufiger illegale Drogen ein. Sie pflegen häufiger Extremsportarten wie Drachenfliegen, Fallschirmspringen, Sporttauchen usw. Sie schätzen Verkehrssituationen als weniger gefährlich ein und fahren häufiger riskant und unter Alkoholeinfluss, verhalten sich häufiger aggressiv am Steuer und begehen häufiger Verkehrsverstöße. „Sensation seeker“ sind vorwiegend männlich und man findet sie häufig unter den „Kicksuchenden Typen“ und den „Action-Typen“ (Holte 2007). Untersuchungen von Zusammenhängen zwischen Verkehrsunfällen – besonders nächtlichen Disco-Unfällen – und der schulischen Qualifikation von Jugendlichen ergaben, dass 65% der Verursacher von Disco-Unfällen Hauptschüler sind, obwohl ihr Anteil in der Altersgruppe 37% beträgt. Junge Erwachsene mit Hauptschulabschluss sind demnach unter den Verursachern nächtlicher Freizeitunfälle deutlich überrepräsentiert. Im Bereich der Berufsschulen sind die vorwiegend männlichen Lehrlinge aus den Berufen Metall und Bau häufiger an Verkehrsunfällen beteiligt als andere Berufsgruppen. Fast jeder zweite nächtliche Freizeitunfall (48%) wird von Angehörigen dieser beiden Berufsgruppen verursacht (Schulze 1998). Zu der Risikogruppe „Junge Fahrer“ zählen besonders solche Jugendliche, die auf psychologischer Ebene weniger durch eine rationale als durch eine emotionale Verhaltenssteuerung und ein zu großes subjektives Sicherheitsgefühl (Selbstüberschätzung) gekennzeichnet sind (Schulze 1998). Auch „hyperaktive“ (vorwiegend männliche) Jugendliche gehören zu dieser Risikogruppe (Barkley et al. 1993). Eine weitere Risikogruppe stellen die sog. „Problem-Kids“ dar. Sie sind häufig männlich, leben in problematischen Familienverhältnissen und haben oft einen Freundeskreis, in dem motorisiertes Fahren „in“ ist, oft viel Alkohol/Drogen konsumiert werden und riskant gefahren wird (Henning et al. 1996; Shope et al. 2001). Das Fahrverhalten junger Fahrer und Fahrerinnen wird auch durch das Fahrverhalten der Eltern beeinflusst (Ferguson et al. 2001; Wilson et al. 2006). Junge Fahrer, deren Eltern drei und mehr Unfälle in ihrem bisherigen Leben hatten, haben eine 22% höhere Chance einen Unfall zu erleben als junge Fahrer, deren Eltern unfallfrei geblieben sind. Ein vergleichbares Ergebnis zeigt sich bei Verkehrsverstößen: Bei jungen Fahrern, deren Eltern drei und mehr Verkehrsverstöße begangen haben, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für einen Verkehrsverstoß um 38%. Da Männer häufiger riskant fahren und auch häufiger gegen Verkehrsregeln verstoßen, werden diese Verhaltensweisen häufig an junge Männer weitergegeben, denn Söhne übernehmen das Verhalten ihrer Väter, während Töchter sich stärker am Verhalten der Mütter orientieren, die meistens weniger risikobereit fahren (Bandura 1977). Verkehrsverstöße von jungen Männern und Frauen im Straßenverkehr Verkehrsverstöße von Verkehrsteilnehmer/innen werden beim Kraftfahrt-Bundesamt in Flensburg (KBA) im Verkehrszentralregister (VZR, „Verkehrssünderkartei“) registriert und können neben dem Unfallgeschehen als weitere Indikatoren für Risikobereitschaft im Straßenverkehr herangezogen werden. Die VZR-Statistik umfasst Daten zu Delikten wie z.B. Fahren ohne Fahrerlaubnis, Alkoholgenuss beim Führen des Fahrzeugs, Verstöße bezüglich
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Geschwindigkeit, Vorfahrt, Überholen, Sicherheitsabstand, Abbiegen usw. Im VZR sind Jugendliche ab 14 Jahren vertreten, weil nach dem Strafgesetzbuch mit diesem Alter die Strafmündigkeit beginnt (Hansjosten 1999). Die Zahlen der im VZR registrierten jungen Täter je 100.000 Einwohner der Altersgruppe zeigen, dass junge Männer im VZR sehr viel häufiger vertreten sind als junge Frauen (Hansjosten 1999). Auch im Jahr 2007 waren junge Männer im Alter von 18 bis 24 Jahren im VZR mit 494.000 zu 141.000 Eintragungen von Verkehrsverstößen im Vergleich zu Frauen gleichen Alters überrepräsentiert (KBA 2008). Jedem siebten Fahranfänger (14%) gelingt es nicht, die zweijährige Probezeit ohne eine Eintragung im VZR zu bestehen. Männer sind davon durchschnittlich 3,5mal häufiger als Frauen betroffen (Zielke 1992; Hansjosten/Schade 1997; Hansjosten 1999; Klein 2000). Dieses Verhältnis verschiebt sich noch weiter zu Lasten der Männer bei der Betrachtung von Verkehrsstraftaten, Alkohol- und Geschwindigkeitsdelikten. 40% der während der Probezeit begangenen Delikte tragen einen Unfallvermerk, weit mehr als in der Gesamtgruppe der Kraftfahrer. Es bestätigt sich bei den Fahranfängern ein besonders enger Zusammenhang zwischen Verkehrsdisziplin und Verkehrssicherheit. 29% der in der Probezeit auffällig gewordenen Fahranfänger der Klasse B (3) werden innerhalb von zwei Jahren erneut in das VZR eingetragen. Bei den Männern im Alter zwischen 19 und 24 Jahren beträgt die Rückfallquote sogar 45% (Hansjosten/Schade 1997). Die statistischen Erkenntnisse aus dem Verkehrszentralregister zur Häufigkeit von Verkehrsverstößen junger Fahrerinnen und Fahrer werden durch die Studien von Yagil (1998), Lawton et al. (1997) und Waller et al. (2000) bestätigt. Yagil (1998) befragte 181 Frauen und Männer in Israel zu ihrem Verhalten im Straßenverkehr. Die Ergebnisse zeigen, dass die Bereitschaft von jungen Frauen, sich im Straßenverkehr regelkonform zu verhalten, signifikant größer als bei jungen Männern ist. Hauptmotiv für die höhere Bereitschaft junger Frauen zur Einhaltung von Verkehrsregeln war die Vermeidung von Unfällen – nicht die Angst vor Bestrafung. Bei jungen Männern war das Hauptmotiv für regelkonformes Verhalten die Angst vor Bestrafung. Die Angst vor Unfällen spielte bei ihnen eine geringere Rolle. Lawton et al. (1997) und Waller et al. (2000) erhielten vergleichbare Ergebnisse für Großbritannien.
Verkehrsunfallgeschehen im mittleren Lebensalter In der Gruppe der 25- bis 64-jährigen Verkehrsteilnehmer/innen sind die Männer bei den Getöteten im Straßenverkehr bei allen Mobilitätsformen weiterhin überrepräsentiert (vgl. Abb. 5). Erstaunlich ist diese Erkenntnis für die Fußgänger, weil Frauen in dieser Altersgruppe häufiger zu Fuß gehen als Männer (Schade 2008). Betrachtet man den Alterstrend der geschlechtsspezifischen Unterschiede, so zeigt sich, dass Frauen über alle Altersklassen hinweg auf dem gleichen Niveau bleiben, während Männer auf einem hohen Niveau beginnen und ab einem Alter von 55 Jahren eine deutliche Abnahme der Getötetenzahlen verzeichnen (vgl. Abb. 6). Ein möglicher Grund für diese Abnahme könnte die Verringerung der „Sensation-Seeking“-Tendenz und die damit zusammenhängende Abnahme des Risikoverhaltens sein (Zuckerman 1994). Mit zunehmendem Alter verringert sich sowohl bei Männern als auch Frauen die Verkehrsdelinquenz im Stra-
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ßenverkehr, wobei die Reduktion bei den Männern stärker als bei den Frauen ist (vgl. Abb. 7). Besonders stark reduzieren sich in der zweiten Hälfte des mittleren Lebensalters die Geschwindigkeits- und Alkohol-Delikte, die meistens von Männern begangen werden (Schade 2008). Abbildung 5:
Anzahl der 2007 getöteten 25- bis 64-jährigen Männer und Frauen als Fußgänger, Radfahrer, Pkw-Insassen und Fahrer/Mitfahrer von motorisierten Fahrzeugen (Statistisches Bundesamt 2008).
1000 900 800 700 600 500 400 300 200 100 0
männlich weiblich
Fußgänger
Abbildung 6:
Fahrrad
Pkw
mot.Zw.
Anzahl der 2007 im Straßenverkehr getöteten 25- bis 64-jährigen Männer und Frauen nach Alter (Statistisches Bundesamt 2008).
700 600 500 400
männlich
300
weiblich
200 100 0 25-34 J.
35-44 J.
45-54 J.
55-64 J.
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Maria Limbourg und Karl Reiter
Abbildung 7:
Täter im VZR nach Geschlecht und Alter im Jahr 2007 (KBA 2008).
2500000 2000000 1500000
männlich
1000000
weiblich
500000 0 25-44 Jahre
45-64 Jahre
Verkehrsunfallgeschehen im höheren Lebensalter Die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei den tödlichen Verkehrsunfällen zeigen sich bis ins höhere Lebensalter. Auch bei älteren Menschen im Alter von 65 und mehr Jahren werden Männer häufiger als Frauen im Straßenverkehr getötet – sowohl als Fußgänger, als auch als Radfahrer und Pkw-Insassen (vgl. Abb. 8). Abbildung 8:
Anzahl der 2006 getöteten Männer und Frauen im Alter von 65 und mehr Jahren als Fußgänger, Radfahrer und Pkw-Insassen je 100.000 Einwohner/innen der Altersklasse (Statistisches Bundesamt 2007).
5 4 3
Männer Frauen
2 1 0 Fußgänger
Radfahrer
Pkw
Da Frauen durchschnittlich länger als Männer leben, sind die Bevölkerungszahlen für Männer und Frauen ab 65 Jahren unterschiedlich (vgl. Tab. 1). Deshalb müssen die Getötetenzahlen auf eine konstante Bezugszahl umgerechnet werden (Getötete je 100.000 ältere Männer/Frauen). Bei Fahrrad- und Pkw-Unfällen kann der Geschlechterunterschied zum Teil durch eine stärkere Nutzung dieser beiden Verkehrsmittel durch Männer erklärt werden (Infas & DIW 2004; Limbourg/Matern 2009). So besitzen 66% der über 65-jährigen Männer aber nur 44%
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der gleichaltrigen Frauen ein Fahrrad (Infas/DIW 2004). Ältere Männer nutzen ihr Fahrrad auch häufiger als ältere Frauen: 33% der über 65-jährigen Männer nutzen ihr Fahrrad regelmäßig, bei den gleichaltrigen Frauen sind es nur 20% (Limbourg/ Matern 2009). Ähnlich sieht es bei dem Führerscheinbesitz und der Pkw-Nutzung aus: Im Jahr 2007 hatten 90% der 70- bis 80-jährigen Männer und 50% der Frauen dieser Altersklasse einen Pkw-Führerschein, bei den 80- bis 90-Jährigen waren es 85% der Männer und 35% der Frauen. Während 78% der über-65-jährigen Männer einen Pkw besaßen, waren es bei den Frauen 15%. Ältere Frauen fahren seltener selbst Auto (36%:63%) und häufiger im Auto mit als ältere Männer (37%: 14%) (Limbourg/Matern 2009). Bei den Fußgängerunfällen kann die höhere Anzahl getöteter älterer Männer allerdings nicht durch eine höhere Verkehrsbeteiligung erklärt werden: Ältere Frauen sind gleich häufig zu Fuß unterwegs wie ältere Männer (Limbourg/Matern 2009). Auf der Suche nach Ursachen für diesen geschlechtsspezifischen Unterschied stoßen wir auch im höheren Lebensalter auf die Problematik des Alkoholkonsums in Verbindung mit Mobilität: Im Jahr 2007 waren insgesamt 940 unter Alkoholeinfluss stehende Personen im Alter von 65 und mehr Jahren an Unfällen mit Getöteten und Verletzten beteiligt. Unter diesen 945 alkoholisierten älteren Unfallbeteiligten waren 76 Frauen (8%), die restlichen 869 (92%) waren männlich. Als Fußgänger sind 114 alkoholisierte ältere Männer und neun Frauen im Alter von 65 und mehr Jahren zu Tode gekommen (Statistisches Bundesamt, 2008). Ein weiterer Grund für die geringere Verkehrsunfallbelastung von älteren Frauen im Vergleich zu älteren Männern ist in der größeren Unfallangst und der geringeren Risikobereitschaft von älteren Frauen zu finden (Limbourg/Matern 2009). Erleben und Verhalten älterer Menschen im Straßenverkehr Ältere Menschen – und besonders ältere Frauen – fahren im höheren Lebensalter mit dem Auto weniger „aggressiv“ (Shinar/Compton 2004). Sowohl die Angst vor Unfällen als auch die Angst vor Kriminalität steigen im Alter an. Damit verbundene Gefühle führen zu erhöhter Vorsicht bei der Verkehrsteilnahme und sind bei älteren Frauen stärker ausgeprägt als bei älteren Männern. Aus diesen Gründen meiden ältere Frauen häufiger als Männer vergleichbaren Alters „ungünstige Verkehrsverhältnisse“ (Dunkelheit, Eis, Schnee und Hauptverkehrszeiten) und befürworten auch häufiger die Einrichtung von Tempo 30-Zonen innerhalb von Ortschaften (63%:45%) und von Tempolimits auf Autobahnen (67%:52%) (Limbourg/Matern 2009). Verkehrsdelikte älterer Autofahrer und Autofahrerinnen Ältere Menschen zeigen eine größere Bereitschaft als jüngere, sich regelkonform zu verhalten. Die Missachtung von Verkehrsregeln geschieht bei älteren Menschen seltener als bei jüngeren „vorsätzlich“, sondern ist häufiger die Folge von altersbedingten Leistungseinbußen. So werden z.B. geschwindigkeitsbeschränkende Verkehrsschilder oder bevorrechtigte Fußgänger oder Radfahrer nicht bewusst missachtet, sondern zu spät wahrgenommen oder übersehen (Schade 2008; Limbourg/Matern 2009). Bei älteren Frauen ist die Bereitschaft, sich regelkonform zu verhalten, noch größer als bei älteren Männern (Yagil 1998). Aus diesem
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Grund sind Männer im Alter von 65 und mehr Jahren immer noch häufiger als Frauen im Verkehrszentralregister zu finden. Der Abstand zwischen Männern und Frauen verringert sich allerdings mit zunehmendem Alter (vgl. Abb. 9). Abbildung 9:
Zahl der Normverletzungen pro Million Kilometer nach Alter im VZR (Schade 2008).
4 3,5 3 2,5 2 1,5 1 0,5 0
männlich weiblich
45-49 J.
60-64 J.
80-84 J.
Zusammenfassung und Ausblick Die Ergebnisse der verkehrspsychologischen Forschungsarbeiten zeigen, dass sich Männer als Teilnehmer am Straßenverkehr weltweit riskanter als Frauen verhalten und Männer deshalb häufiger als Frauen tödliche Unfälle verursachen. Dieser geschlechtsspezifische Unterschied zeigt sich bei allen Mobilitätsformen und in allen Altersgruppen – vom Kindesalter bis ins hohe Lebensalter. Am deutlichsten ist der Unterschied im Jugendalter, danach wird er mit zunehmendem Alter geringer. Zur Erklärung der Geschlechterunterschiede können biosoziale, sozialisationstheoretische und evolutionspsychologische Ansätze herangezogen werden (vgl. Beitrag von Steins in diesem Buch, Kap. 1). Es ist anzunehmen, dass sowohl die hormonelle Ausstattung und die menschliche Evolution von der Steinzeit bis heute als auch der sozialisierende Einfluss der Gesellschaft einen Beitrag zur Förderung des Risikoverhaltens bei Männern leisten. Dass diese Einflüsse nicht monokausal wirken, zeigen differentialpsychologische Forschungsergebnisse: Nicht alle Männer sind risikobereit, Persönlichkeitsmerkmale und kognitive Kompetenzen, aber auch der soziale Hintergrund beeinflussen die Risikobereitschaft. Männliche Risikobereitschaft wird nicht immer im Straßenverkehr ausgelebt. Ein Teil der „Sensation seeker“ ist sich der Gefahren im Straßenverkehr durchaus bewusst und sucht andere Betätigungsfelder für die „Kick- und Abenteuersuche“ (z.B. extreme Sportarten oder riskante Berufe). Die Ursachen für die Abnahme der männlichen Risikobereitschaft mit zunehmendem Alter sind nicht eindeutig zu identifizieren. Sowohl die hormonellen Veränderungen als auch die negativen Erfahrungen im Straßenverkehr (Unfälle, Bußgelder, Führerscheinentzug usw.) und die Erziehungs- und Aufklärungsversuche der Gesellschaft können einen Beitrag geleistet haben. Dass pädagogische Präventionsansätze, aber auch eine konsequente
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Verkehrsüberwachung (Geschwindigkeit, Alkohol, Drogen) einen Beitrag zur Reduktion der Getötetenzahlen – auch bei jungen Fahrern – leisten können, zeigt die Unfallzahlenentwicklung in den letzten 40 Jahren (1970: 19.193 Verkehrstote in Westdeutschland, 2008: 4.600 Verkehrstote in Gesamtdeutschland, Statistisches Bundesamt 2009). Pädagogische Bemühungen in unseren Bildungsinstitutionen und konsequente polizeiliche Überwachung des Straßenverkehrs sollten weiter intensivieren werden.
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13. Medienpsychologie Gender und Games – Medienpsychologische Gender-Forschung am Beispiel Video- und Computerspiele Sabine Trepte und Leonard Reinecke
Einleitung Medien sind in unserem Alltag allgegenwärtig. Dreieinhalb Stunden sehen die Deutschen täglich fern, zwei Stunden surfen sie im Internet, drei Stunden hören sie (nebenbei) Radio und 30 Minuten lesen sie die Zeitung (vgl. im Überblick Oehmichen & Schröter, 2008). So ist geradezu die gesamte Wachzeit von Mediennutzung bestimmt oder begleitet. Medieninhalte wirken emotional, kognitiv und konativ (Mangold, Vorderer, & Bente, 2004). Inhalte werden wahrgenommen und enkodiert. Der Enkodierungszustand wird durch das im Gedächtnis gespeicherte Vorwissen beeinflusst. Daraufhin werden Verhalten, Emotionen und/oder Kognitionen abgeleitet (Fiedler, 2007). Im Hinblick darauf, dass in allen Medieninhalten eine geschlechtsbezogene Botschaft transportiert wird, verläuft dieser Prozess geschlechtsspezifisch ab. Zum einen weil die dargebotenen Medieninhalte niemals geschlechtsneutral sein können und zum anderen, weil die Rezipientinnen und Rezipienten geschlechtstypisch reagieren, zum Beispiel aufgrund unterschiedlicher Rollensozialisation oder geschlechtsbezogener Persönlichkeitseigenschaften (Gurin & Townsend, 1986). Mediennutzung verläuft also als eine Interaktion von Personen- und Medieneigenschaften. Die Medienpsychologie befasst sich mit dem menschlichen Erleben und Verhalten im Kontext der Mediennutzung (Vorderer, 2000). Dabei steht das Erleben und Verhalten von Massenmedien im Vordergrund – es geht also um die Medien Fernsehen, Radio, Zeitung, Zeitschriften, Bücher, Filme, das Internet und Computerspiele. In diesem Kapitel wird ein besonderes Augenmerk auf die Computerspiele geworfen, weil sie ein weit größeres Ausmaß an Aktivität der Nutzerinnen und Nutzer voraussetzen (Klimmt, 2006; Klimmt, Hartmann, & Frey, 2007; Klimmt, Schmid, & Orthmann, 2009). Aufgrund dieser Aktivität wirken Computerspiele prägender auf das Verhalten als die weitaus passivere Nutzung klassischer Massenmedien wie beispielsweise Fernsehen (Bandura, 1997; Klimmt & Hartmann, 2006). Es geht also hier um Fragen wie diese: Welche geschlechtsspezifischen Inhalte enthalten Computerspiele? Warum spielen Mädchen gern Computerspiele, die Denksportaufgaben beinhalten, und warum mögen Jungen gern „Ballerspiele“? Was macht ein Computerspiel spannend und wieso vergessen die Spielerinnen und Spieler mitunter ganz, dass sie sich in einer virtuellen Umgebung befinden?
G. Steins (Hrsg.), Handbuch Psychologie und Geschlechterforschung DOI 10.1007/978-3-531-92180-8_13, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010
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Bereits seit über 100 Jahren befassen sich Medienpsychologen mit der Bedeutung von Medien für Menschen (Trepte, 2004b). Erste Studien fragten beispielsweise danach, wie sich Film und Theater unterscheiden (Münsterberg, 1916) und ob Stummfilme zu delinquentem Verhalten führen (Flik, 1940). Bei der wissenschaftlichen Betrachtung von Medien aus psychologischer Perspektive wurden seit der ersten Stunde psychologische Theorien und Modelle verwandt, um die Mediennutzung zu beschreiben, zu prognostizieren und zu erklären. Seit den 1980er Jahre hat die Medienpsychologie „Schule gemacht“. Seitdem wird das Fach an eigenen Universitätsinstituten und in medienpsychologischen Fachzeitschriften vertreten (Winterhoff-Spurk, 1989). Ungefähr seit den 1980er Jahren arbeiten Medienpsychologinnen und -psychologen auch grundlagenwissenschaftlich. Die Theorien und Strömungen sind nicht mehr ausschließlich an dem Mutterfach Psychologie angelehnt, sondern zeigen mit eigenen medienpsychologischen Theorien und Denkrichtungen eine grundlagenwissenschaftliche Ausrichtung (Trepte, 1999). Die medienpsychologische Theorie des MoodManagements beinhaltet beispielsweise, dass Menschen Medieninhalte so auswählen, dass positive Gemütszustände beibehalten werden und sie sich optimal stimuliert fühlen (Zillmann, 1988). Der Autor der Mood-Management-Theorie – Dolf Zillmann – und seine Schüler (z.B. Jennings Bryant) und Schülerinnen (z. B. Mary-Beth Oliver, Silvia Knobloch) arbeiten verhaltenstheoretisch und emotionspsychologisch. Die Mood-Management Theorie wurde basierend auf den Theorien von Thorndike und Skinner zur Konditionierung sowie auf den weiterführenden Ideen entwickelt und in vielen Experimenten weiterentwickelt (Knobloch, 2003; Knobloch & Zillmann, 2002; Oliver, 2003; Zillmann, 1988a, 1988b, 2000). Sowohl in der anwendungsorientierten als auch in der grundlagenwissenschaftlichen Medienpsychologie wurden seit jeher Geschlechtsunterschiede identifiziert und besprochen (Dickhäuser & Stiensmeier-Pelster, 2002; Krcmar & Greene, 2000; Littleton, Ashman, Light, Artis, & Roberts, 1999). Beispielsweise zeigte Oliver im Rahmen des „Sad-Film-Paradoxon“ auf, dass vor allem Frauen gern traurige Filme sehen und sie damit nicht ihre Stimmung optimieren, sondern in der Auseinandersetzung Ziele des persönlichen Wachstums erleben (Oliver, 1993). Die Rezeption und die anschließende Auseinandersetzung mit traurigen Inhalten oder trauriger Musik wird aber auch aufgesucht, weil Menschen mit schlechter Stimmung das intensive Eintauchen und die damit einhergehende Stimmungsverstärkung als hilfreich erleben, um negative Stimmungen schneller zu überwinden (Wirth & Schramm, 2005). Die Mood-Management Theorie zeigt beispielhaft, mit welchen Fragen sich die Medienpsychologie befasst und in welcher Weise „Gender“ dabei eine Rolle spielt. Die jetzige medienpsychologische Forschung beheimatet (noch) keine Genderforschung im eigentlichen Sinne, sondern eher eine medienpsychologische Forschung der Geschlechterdifferenzen. In vielen medienpsychologischen Beiträgen werden Geschlechterunterschiede berichtet, es wird jedoch nur selten reflektiert, welche Dimensionen die Variable Geschlecht letztlich operationalisiert und mit welchen Theorien Geschlechtsunterschiede erklärt werden können.
Mediennutzung als Interaktion von Personen- und Medieneigenschaften Insbesondere drei Phasen der Mediennutzung, nämlich die Medienselektion, die Rezeption und die Wirkung werden im Rahmen medienpsychologischer Forschung betrachtet. Wäh-
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rend medienpsychologische Forschung vornehmlich mit Blick auf entweder Selektion oder Rezeption oder Wirkung stattfindet, so ist für die Genderforschung die Berücksichtigung des gesamten Prozesses erforderlich. Slater schlägt das Modell der „Reinforcing Spirals“ vor (Slater, 2007). Er demonstriert, dass Medienselektion und Medienwirkung sich gegenseitig bedingen und verstärken und inwieweit sie individuelles Verhalten und soziale Identität determinieren. Zunächst ist mit Slater (2007) davon auszugehen, dass Aspekte der Mediennutzung wie beispielsweise die Nutzungsfrequenz oder Genrevorlieben vor allem als endogene Variablen betrachtet werden müssen, die die Beziehungen zwischen bestimmten ursächlichen Variablen (wie zum Beispiel die Variable Geschlecht oder eine Persönlichkeitsvariable) und bestimmten abhängigen Variablen (wie zum Beispiel Aggression) beeinflussen. Demnach ist also der Zusammenhang von Geschlecht und aggressivem Verhalten abhängig bzw. beeinflusst davon, wie häufig und welche aggressiven Computerspiele gespielt werden. Im nächsten Schritt beeinflussen das Verhalten oder Kognitionen auch die Mediennutzung. In einer minimalen Vorstellung dieser reziproken Interaktion von Mediennutzung und ihrer Wirkungen, resultiert ein Prozess mit drei Zeitabschnitten (vgl. Abbildung 1). Die Medienrezeption zum Zeitpunkt 1 führt zur Wirkung zum Zeitpunkt 2. Die Medienwirkung auf Einstellungen, Überzeugungen und Verhalten zum Zeitpunkt 2 beeinflusst die Mediennutzung zum Zeitpunkt 3. Dieses Modell eignet sich nun, um konkrete Hypothesen zu Geschlechtereffekten zu entwickeln. Wenn beispielsweise ein Junge mit der rollenstereotypen Darstellung von Frauen in einem Computerspiel konfrontiert ist (Zeitpunkt 1), so wird er möglicherweise seine bisher erworbene Überzeugungen diesem Stereotyp anpassen (Zeitpunkt 2), weil es selbstwertdienlicher ist und sich infolge dessen beim Kauf des nächsten Computerspiels für eines entscheiden (Zeitpunkt 3), das mit ähnlichen Stereotypen arbeitet wie das zuerst gespielte. Abbildung 1:
Grundlegende Vorstellung eines sich gegenseitig verstärkenden Prozesses von Personenvariablen und Medienvariablen.
Mediennutzung
Mediennutzung
Mediennutzung
Einstellungen Überzeugungen Verhalten
Einstellungen Überzeugungen Verhalten
Einstellungen Überzeugungen Verhalten
Zeitpunkt 1
Zeitpunkt 2
Zeitpunkt 3
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Die gegenseitige Beeinflussung und Verstärkung von Prozessen sozialer Identität und Mediennutzung verläuft vermutlich intensiver und beeinflusst eher das nachfolgende Verhalten, wenn die Aspekte sozialer Identität mit den dargebotenen Medieninhalten übereinstimmen (Harwood, 1999). Wenn beispielsweise junge Mädchen als Teil ihrer sozialen Identität internalisiert haben, dass Frauen nicht an kämpferischen Auseinandersetzungen teilnehmen und wenn diese Mädchen gewalthaltige Computerspiele spielen, in denen Frauen als Opfer oder „Bystander“ dargestellt werden, so stimmen soziale Identität und Medieninhalt überein. Voraussichtlich verstärkt sich die Auffassung, dass Frauen nicht kämpfen oder aggressiv sind, darüber hinaus ist diese Kognition für nachfolgendes Verhalten zugänglicher und entscheidender (Slater, Henry, Swaim, & Anderson, 2003). Auch nachfolgende Rezeptionsentscheidungen werden davon beeinflusst. Frauen und Mädchen schneiden im sozialen Vergleich mit Männern in Computerspielen negativ ab (Dietz, 1998). Die Wahl eines gewalthaltigen Computerspiels ist für sie somit selten selbstwertdienlich. Abbildung 2:
Wirkung sozialer Identität im Kontext von Medienwahl und Medienrezeption
Computerspiel
Soziale Kategorien
Rezeption
Salienz sozialer Kategorien
Sozialer Vergleich
Ziel: positive soziale Distinktheit
z. B. Mann
Streben nach positiver Identität
Eigengruppenfavorisierung
Medienselektion
Streben nach positiver sozialer Identität
Abbildung 2 verdeutlicht den Zusammenhang sozialer Identität mit der Medienwahl auf Grundlage der Theorie sozialer Identität (Tajfel & Turner, 1979). Die soziale Identität bezeichnet das Wissen, einer bestimmten sozialen Gruppe anzugehören und die Bewertung dieser Zugehörigkeit (Mummendey, 1985). Das Modell bildet den Einfluss der sozialen Identität auf die Medienwahl in einem zirkulären Prozess ab. Die wesentlichen Aspekte der
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Theorie der sozialen Identität sind hier im Einzelnen berücksichtigt (Trepte, 2004a): Selbstkategorisierung und Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Kategorien, sozialer Vergleich, soziale Distinktheit, Eigengruppenfavorisierung und Effekte dieser Prozesse auf nachfolgendes Verhalten und die soziale Identität. Grau unterlegte Felder in Abbildung 2 symbolisieren die Mediennutzung. Ein Computerspiel macht die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe salient (z. B. die Zugehörigkeit zur Gruppe der Männer). Aufgrund der Salienz einer sozialen Kategorie wird der soziale Vergleich ausgelöst (Oakes, Turner, & Haslam, 1991). Als Vergleichsgruppe wird beispielsweise die Gruppe der Frauen herangezogen. Das Ziel des Vergleichsprozesses ist, positive soziale Distinktheit zu erlangen, um mit einem hohen Selbstwert aus dem sozialen Vergleich herauszugehen (Trepte, 2006). Das Motiv, positive soziale Distinktheit zu erlangen, wird von dem Motiv angetrieben, positive soziale Identität zu erreichen, also das eigene Selbst und die im Selbst repräsentierten Grupenzugehörigkeiten positiv zu bewerten. Dies ist für Männer im Fall von gewalthaltigen Computerspielen leicht möglich, weil die Eigengruppenfavorisierung, also die Auswahl von Spielen, in denen die Gruppe der Männer positiv dargestellt wird, aufgrund des reichhaltigen Angebotes leicht fällt. Das Motiv der Eigengruppenfavorisierung nährt also folgende Selektionsentscheidungen und die nachfolgende Rezeption. Gleichzeitig stützen und stärken die Medieninhalte bestehende soziale Kategorien. Die Auswahl von Medieninhalten ist also durch soziale Kategorien geprägt und beeinflusst diese in einem zirkulären Prozess. Ähnliche Prozesse lassen sich mit anderen Theorien verdeutlichen wie beispielsweise der sozial-kognitiven Lerntheorie nach Bandura (Bandura, 2001). Auch hier ist entscheidend, dass Medien als Abbild der Gesellschaft geschlechtsspezifische Schemata und Rollenvorgaben auslösen, verstärken oder erhalten. Die Interaktionsprozesse von Individuum und Medienangebot werden im Folgenden am Beispiel der Selektion, Rezeption und Wirkung von Video- und Computerspielen genauer beleuchtet.
Gender und Games: Geschlechtsspezifische Medienpsychologie am Beispiel von Videound Computerspielen Video- und Computerspiele haben sich innerhalb der vergangenen Jahrzehnte von einer gesellschaftlichen Randerscheinung in ein Kulturgut gewandelt. Die ersten Computerspiele wurden in den 1960er Jahren zunächst als spielerisches Nebenprodukt universitärer Forschung entwickelt (Lowood, 2006). Insbesondere Institute, an denen Computertechnik erforscht und erste Software entwickelt wurde, waren die Geburtsstätte der ersten Spiele. Kommerziell bedeutsam wurde das neue Medium aber nicht vor Anbruch der 1970er Jahre als die ersten Spielkonsolen für den Heimgebrauch auf den Markt kamen und professionell beworben wurden (Williams, 2006). Die Ausbreitung von Videospielen beschleunigte sich im weiteren Verlauf zusätzlich durch die steigende Verfügbarkeit von Computern in Privathaushalten. Durch die ständig steigende Rechenkapazität erweiterten sich dabei auch die Möglichkeiten der Darstellung. Was als pixelhafte Monochromgrafik seinen Anfang nahm,
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entwickelte sich schließlich zu einer dreidimensionalen Multimedia-Anwendung mit immer aufwändigeren Sound- und Grafikeffekten. Heute ist das Geschäft mit Video- und Computerspielen ein Milliardenmarkt. Seit den Anfängen in den 1970er Jahren hat der Markt für Video- und Computerspiele ein stetiges Wachstum erfahren (Williams, 2006). Allein in Deutschland wurden im Jahr 2008 rund 55,6 Millionen Einheiten Unterhaltungssoftware verkauft. Die Gaming-Branche erzielte einen Jahresumsatz von 1,566 Milliarden Euro (Bundesverband Interaktive Unterhaltungsindustrie e.V., 2009) und blieb damit nur knapp hinter dem Umsatz der deutschen Musikindustrie (1,575 Mrd. Euro, Bundesverband Musikindustrie e.V., 2009) zurück. Auch aktuelle Nutzungsdaten belegen die Entwicklung vom Rand- zum Massenmedium. So spielen 29,1 Prozent aller Deutschen ab 14 Jahren zumindest selten Video- und Computerspiele (Burda Community Network GmbH, 2009). Insbesondere in den jüngeren Nutzerschichten sind Games stark verbreitet. So spielte im Jahr 2008 eine Mehrheit von 70 Prozent der Kinder zwischen 6 und 13 Jahren Video- und Computerspiele zumindest selten (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, 2008b). Im Durchschnitt spielen deutsche Jugendliche im Alter zwischen 13 und 19 Jahren 74 Minuten Computerspiele pro Tag an Werktagen und sogar 94 Minuten täglich am Wochenende (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, 2008a). Das Medium Computerspiel hat demnach Einzug gehalten in die Medienmenüs breiter Bevölkerungsschichten. Die Verbreitung von Games verläuft dabei aber keinesfalls homogen (siehe Abbildung 3). Abbildung 3:
Verbreitung von Video- und Computerspielen bei Männern und Frauen unterschiedlicher Altersgruppen. Quellen: Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (2008b, Altersgruppe 6-13), Burda Community Network GmbH (2009, übrige Altersgruppen)
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Computerspielen ist bei Männern in allen Altersgruppen deutlich stärker verbreitet als bei Frauen gleichen Alters (Burda Community Network GmbH, 2009; Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, 2008b). Dieser „gender gap“ ist kein deutsches Phänomen. Auch in anderen Regionen finden sich ähnliche geschlechtsspezifische Nutzungsmuster von Video- und Computerspielen. So stellen Männer mit einem Anteil von 60 Prozent auch in den USA die Mehrheit der Computerspielenutzer (Entertainment Software Association, 2008). Auch im europäischen Ausland setzt sich diese Tendenz fort. So ist etwa in Finnland und Spanien der Anteil von Computerspielern in der Altersgruppe zwischen 16 und 49 Jahren bei den Männer (38 Prozent) etwa doppelt so hoch wie bei Frauen gleichen Alters (Interactive Software Federation of Europe, 2008). Ähnliche Ergebnisse finden sich auch für Großbritannien, wo in dieser Altersgruppe einem Anteil von 48 Prozent Spielern bei den Männern nur 29 Prozent spielende Frauen gegenüberstehen. Neben dieser heterogenen Verbreitung der Computerspielnutzung bei Männer und Frauen manifestiert sich die geschlechtsspezifische Nutzung von Games auch in den Genrepräferenzen von Männern und Frauen. So verdeutlichen die Ergebnisse der JIM-Studie 2008 (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, 2008a), dass sich Jungen und Mädchen im Alter zwischen 13 und 19 Jahren deutlich in den Angaben zu ihren Lieblingsspielen unterscheiden (siehe Abbildung 4). Während Jungen eine klare Präferenz für Actionspiele und Shooter sowie für Sportspiele zeigen, begeistern sich Mädchen vor allem für Strategiesowie für Denk- und Geschicklichkeitsspiele. Einzig Adventure-Games sind bei beiden Geschlechtern ähnlich beliebt (Kabel, 2006). Abbildung 4:
Liebste Computerspiele (bis zu drei Nennungen) von Mädchen und Jungen im Alter zwischen 13 und 19 Jahren. Quelle: Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (2008a)
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Werden Video- und Computerspiele also immer eine Männerdomäne bleiben? Aktuelle Entwicklungen auf der Angebotsseite geben Grund zu der Vermutung, dass sich das Nutzungsverhalten von Männer und Frauen in Bezug auf Computerspiele in Zukunft weiter annähern wird. So ist eine Zunahme starker weiblicher Protagonisten in Computerspielen zu verzeichnen (Jansz & Martis, 2007). Auch entstehen neue Spielgenres, die den Bedürfnissen von Frauen besser entsprechen könnten, als herkömmliche Spiele. So bietet etwa das relativ neue Genre der Online-Rollenspiele (z. B. World of Warcraft etc.) neben kompetitiven Elementen eine Vielzahl von Möglichkeiten zum Aufbau sozialer Beziehungen (Cole & Griffiths, 2007). Auch neue Steuerungskonzepte wie das der Nintendo Wii Videospielkonsole, welche eine alltagsnähere und weniger technische Steuerung von Spielen anbietet, könnte Frauen in stärkerem Maße ansprechen als klassische Spiele. Diese Neuerungen könnten die Motivation von Frauen erhöhen, sich mit dem Medium Computerspiel auseinanderzusetzten und mögliche technische oder sozialisationsbedingte Hürden zu überwinden. Video- und Computerspiele stellen somit ein eindrückliches Beispiel für geschlechtsspezifisches Mediennutzungsverhalten dar. In den vergangenen Jahren ist diesem Phänomen von wissenschaftlicher Seite reges Interesse zugekommen (z.B. Hartmann & Klimmt, 2006; Lucas & Sherry, 2004; Miller & Summers, 2007; Ogletree & Drake, 2007; Reinecke, Trepte, & Behr, 2007). Zur Erklärung des gender gaps im Bereich Computerspiele werden dabei sowohl angebotsseitige Faktoren (Beasley & Standley, 2002; Ivory, 2006; Miller & Summers, 2007; Scharrer, 2004) als auch nutzerseitige Eigenschaften (Hartmann & Klimmt, 2006; Lucas & Sherry, 2004; Quaiser-Pohl, Geiser, & Lehmann, 2006) herangezogen. In den folgenden Abschnitten werden diese unterschiedlichen Erklärungsansätze für die geschlechtsspezifische Nutzung von Video- und Computerspielen vorgestellt und der Versuch unternommen, anhand dieses Mediums einen Einblick in die genderbezogene medienpsychologische Forschung zu vermitteln. Gendered Game-Design: Genderbezogene Eigenschaften von Video- und Computerspielen Wie in Abschnitt 2 beschrieben wurde, ist die Selektion, Rezeption und Wirkung von Medien am ehesten als Interaktion von Personen- und Medieneigenschaften zu begreifen. Ein Medienangebot trifft mit seinem charakteristischen Eigenschaftsprofil auf die Bedürfnisse und Motive potenzieller Rezipienten. Die Nutzungsmotivation steigt mit dem Grad der Passung zwischen Medienangebot und individuellen Bedürfnissen (Katz, Blumler, & Gurevitch, 1974; Rosengren, 1974). Ein Erklärungsansatz für die vergleichsweise zurückhaltende Computerspielnutzung von Frauen könnte daher sein, dass die Eigenschaften dieses Mediums in keiner guten Passung zu den geschlechtsspezifischen Nutzungsmotiven und Bedürfnissen von Frauen stehen. Der Inhalt von Computerspielen würde Frauen in diesem Fall gegenüber Männern benachteiligen und den Nutzungsanreiz von Spielen für Frauen reduzieren. Eine Reihe von Studien liefert Hinweise darauf, dass Computerspiele tatsächlich stärker auf eine männliche Nutzerschaft zugeschnitten sind. So weisen inhaltsanalytische Studien darauf hin, dass Gewalt und Aggression einen hohen Anteil der Inhalte aktueller Video- und Computerspiele einnehmen (Children Now, 2001; Dietz, 1998; Smith, 2006; Smith, Lachlan, & Tamborini, 2003). Dietz (1998) kommt bei der Analyse von 33 weit verbreiteten Nintendo und Sega Genesis Videospielen zu dem Ergebnis, dass die Mehrheit (79%) der untersuchten Spiele
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Gewalt oder Aggression beinhalten. In den meisten Fällen richtete sich die Aggressivität direkt gegen menschenähnliche Charaktere im Spiel und 21 Prozent der Spiele enthielt aggressive Inhalte, die sich direkt gegen weibliche Charaktere richtete. Aktuelle Studien kommen zu vergleichbaren Ergebnissen. In einer Inhaltsanalyse populärer Videospiele fanden Smith, Lachlan und Tamborini (2003) einen Anteil von 68 Prozent gewalthaltiger Spiele. Haninger und Thomson (2004) berichten in ihrer Analyse von 80 Videospielen mit einer Altersfreigabe ab 13 Jahren (T-rating des Entertainment Software Rating Boards) sogar einen Anteil von 95 Prozent gewalthaltiger Spiele. Zwar gehen die Operationalisierungen von Gewalt und somit auch die Ergebnisse der jeweiligen Inhaltsanalysen zum Teil weit auseinander. Insgesamt verdeutlicht die Forschungslage aber eine weite Verbreitung von gewaltbezogenen Inhalten in Video- und Computerspielen. Dieser hohen Prävalenz von Gewalt in Computerspielen steht ein geringes Nutzungsinteresse weiblicher Rezipienten für gewalthaltige Medien gegenüber. Männer zeigen ein deutlich höheres Interesse an gewalthaltigen Inhalten in Filmen, Computerspielen und dem Internet als Frauen (Funk, Buchman, & Germann, 2000; Hartmann & Klimmt, 2006; Slater, 2003). Die Dominanz von Gewalt in Computerspielen steht somit in einem Missverhältnis zu den Nutzungsmotiven weiblicher Rezipienten. Neben dem hohen Gewaltanteil bietet die Darstellung weiblicher Charaktere in Computerspielen einen weiteren Erklärungsansatz für die geringere Computerspielnutzung von Frauen. So belegen zahlreiche Inhaltsanalysen, dass weibliche Charaktere in der Mehrzahl von Spielen entweder gar nicht repräsentiert sind, oder aber in Nebenrollen, in Opferpositionen oder geschlechtsstereotypisch und hypersexualisiert dargestellt werden (Beasley & Standley, 2002; Children Now, 2001; Dietz, 1998; Ivory, 2006; Miller & Summers, 2007). Eine Reihe von Autoren kommt übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass der Anteil männlicher Charaktere in Computerspielen den Anteil weiblicher Spielfiguren erheblich überschreitet. In einer Zufallsauswahl von 47 Nintendo 64 und Sony Playstation Spielen fanden Beasley und Stanley (2002) nur einen Anteil von 13,74 Prozent weiblicher Charaktere. In ihrer Inhaltsanalyse von Spielbeschreibungen in drei US-Gaming-Magazinen kamen Miller und Summers (2007) auf einen Anteil von 51 Prozent von Spielen, in denen nur männliche Spielfiguren zur Auswahl standen, 26,5 Prozent der Spiele, in denen nur weibliche Avatar zur Wahl standen, und 10, 2 Prozent, in denen der Spieler die Wahl zwischen männlichen und weiblichen Spielfiguren hatte (die übrigen Spiele enthielten nichtmenschliche Spielfiguren oder solche, denen kein Geschlecht zugeordnet werden konnte). Die aktuellste und bisher umfangreichste Inhaltsanalyse von Video- und Computerspielen legen Williams, Martins, Consalvo und Ivory (2009) vor. In ihre Analyse flossen die 150 im Zeitraum von März 2005 bis Februar 2006 in den USA meistverkauften Video- und Computerspiele über neun unterschiedliche Spiele-Plattformen ein, die für die Analyse entsprechend ihrer Verkaufszahlen gewichtet wurden. Die Analyseergebnisse belegen einen Anteil von 89,55 männlichen und nur 10,45 Prozent weiblichen Charaktere bei den spielergesteuerten Spielcharakteren. Zwar waren weibliche Charaktere in Nebenrollen etwas häufiger anzutreffen, mit 14,65 Prozent liegt ihr Anteil aber ebenfalls weit unter der Häufigkeit männlicher Charaktere. Wenn Computerspiele Darstellungen von Frauen enthalten, so sind diese meist von Geschlechtsstereotypen dominiert. Männliche und weibliche Spielcharaktere unterscheiden sich deutlich in den Attributen und Rollen, mit denen sie im Spiel auftreten. Während männliche Charaktere signifikant häufiger muskulös, stark und in der Rolle des Aggressors
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dargestellt werden (Children Now, 2001; Miller & Summers, 2007), nehmen Frauen in Computerspielen häufig nur die Rolle der unbeteiligten bzw. unwichtigen Randfigur (Children Now, 2001; Dietz, 1998) oder hilfloser Opfer (Dietz, 1998; Miller & Summers, 2007) ein. Darüber hinaus sind weibliche Charaktere in Computerspielen signifikant häufiger leicht bekleidet als männliche Spielfiguren (Beasley & Standley, 2002; Miller & Summers, 2007) und werden häufig in sexualisierter Form dargestellt (Burgess, Stermer, & Burgess, 2007; Children Now, 2001; Dietz, 1998; Ivory, 2006). Dieses Ungleichgewicht in der Anzahl und Darstellung männlicher und weiblicher Protagonisten stellt für weibliche Nutzer von Computerspielen eine deutliche Benachteiligung dar. Sowohl Männer als auch Frauen bevorzugen Spielfiguren des eigenen Geschlechts (Hsu, Lee, & Wu, 2005; Nowak & Rauh, 2005; Trepte, Reinecke, & Behr, 2009) und fühlen sich mit solchen stärker ins Spielgeschehen hineinversetzt als mit Spielfiguren des anderen Geschlechts (Eastin, 2006). Das schlichte Fehlen von weiblichen Protagonisten in der Mehrzahl der Computerspiele erschwert es weiblichen Nutzern somit, ein für sie optimales Spielerlebnis zu erreichen. Computerspieler orientieren sich bei der Wahl und Ausstattung ihrer Spielfiguren aber nicht nur an ihrem eigenen Geschlecht sondern auch an den Anforderungen, die durch den Spielkontext an die Spielfigur gestellt werden. So wählten sowohl männliche als auch weibliche Teilnehmer in einem Experiment von Trepte, Reinecke und Behr (2009) Spielfiguren mit überwiegend maskulinen Eigenschaften für Spielbeschreibungen, die in einem Pretest als vorwiegend maskuline Anforderungssituationen gewertet wurden, und Spielfiguren mit überwiegend femininen Eigenschaften für Spielsituationen mit vorwiegend femininem Anforderungsprofil. Frauen bleiben also im Hinblick auf die Auswahl von Spielfiguren gegenüber Männern doppelt unberücksichtigt: Zum einen bietet nur ein geringer Teil von Computerspielen weibliche Protagonisten. Zum anderen erfordert selbst bei solchen Spielen, die Handlungsspielraum bei der Auswahl der Spielfigur gewähren, der Spielkontext häufig die Auswahl von vornehmlich maskulinen Avatar-Eigenschaften. Sowohl Männer als auch Frauen schreiben darüber hinaus solchen Spielen einen höheren Unterhaltungswert zu, deren Aufgabenprofil mit der eigenen Geschlechtsrolle im Einklang stehen (Trepte, Reinecke, & Behr, 2009). Da ein Großteil von Spielen einer eher maskulin orientierten und häufig aggressionsbezogenen Aufgabenstellung entsprechen, werden die Nutzungspräferenzen weiblicher Nutzer, die sich stärker von Computerspielen mit einem hohen Maß an sozialer Interaktion angezogen fühlen (Hartmann & Klimmt, 2006), von einem geringeren Anteil von Spielen erfüllt. Computerspiele orientieren sich demnach sowohl im Hinblick auf ihre Inhalte, als auch im Bezug auf die Darstellung der Protagonisten und ihren Aufgabenkontext vornehmlich an den Bedürfnissen männlicher Nutzer. Zu diesen angebotsseitigen Faktoren, die für sich genommen Erklärungsansätze für die geringere Verbreitung von Computerspielen bei Frauen liefern, kommen weitere Personenfaktoren, die Männer gegenüber Frauen ebenfalls als Nutzer von Video- und Computerspielen prädestinieren. Gendered Users: Geschlechtsspezifische Unterschiede von Spielerinnen und Spielern Die oben beschriebenen Medieneigenschaften von Video- und Computerspielen treffen auf geschlechtsspezifische Bedürfnisse, Einstellungen und Fähigkeiten. So werden Jungen und
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Mädchen schon früh geschlechtsspezifisch in Bezug auf den Umgang mit (Computer-) Technik und geschlechtsadäquates Spielverhalten sozialisiert. Männliche und weibliche Nutzer haben somit schon in der frühen Kindheit unterschiedliche Grundvoraussetzungen im Hinblick auf den Zugang zu und den Umgang mit Computerspielen. Der Umgang mit Computern und Informationstechnologie ist stark von Genderstereotypen und geschlechtsspezifischen Einstellungen charakterisiert. So berichtet Whitley (1997) in einer Meta-Analyse von 82 Studien zu computerbezogenen Einstellungen und Nutzungsverhalten von Männern und Frauen eine ganze Reihe signifikanter Geschlechtsunterschiede. Männer fühlen sich demnach kompetenter im Umgang mit Computern, haben eine positivere affektive Einstellung gegenüber Computern und nutzen diese häufiger als Frauen. Darüber hinaus zeigen Männer stärkere geschlechtsstereotype Einstellungen als Frauen und sind in stärkerem Maße der Überzeugung, dass sie selbst besser für den Umgang mit Computer geeignet sind als Frauen. Zwar deuten aktuellere Studien darauf hin, dass sich Männer und Frauen in ihren computerspezifischen Einstellungen annähern (North & Noyes, 2002; Rainer, Laosethakul, & Astone, 2003). Auch heute noch bestehen aber erhebliche Gender-Stereotype und Geschlechtsunterschiede in Bezug auf den Umgang mit Computer- und Informationstechnologie (Broos, 2005; Cooper, 2006; Dickhäuser & Stiensmeier-Pelster, 2002; Selwyn, 2007). In einer Befragung von 1058 belgischen Erwachsenen kam Broos (2005) zu dem Ergebnis, dass Frauen sich signifikant weniger erfahren im Umgang mit Computern fühlten, signifikant stärkere Ängste mit der Computernutzung verbanden und eine negativere Einstellung gegenüber der Internetnutzung zeigten als Männer. Frauen haben im Vergleich zu Männern eine geringere Erfolgserwartung im Umgang mit Computern, schätzen ihre eigenen computerbezogenen Fähigkeiten geringer ein und schneiden in computerbezogenen Aufgaben schlechter ab als Männer (Busch, 1995; Dickhäuser & Stiensmeier-Pelster, 2002; Vollmeyer & Imhof, 2007). Auch konfligiert die Nutzung von Computern für Frauen stärker mit der eigenen Geschlechtsrolle als für Männer. So kommt Selwyn (2007) zu dem Schluss, dass eine Reihe unterschiedlicher Arten der IT-Nutzung (z. B. Computernutzung allgemein, Online Banking, Computerspielen) als vorwiegend maskuline Tätigkeiten bewertet wird. Auch Sozialisationsinstanzen wie das Elternhaus tragen möglicherweise zu diesem gender gap in der Computernutzung bei. So können Mädchen im Jugendalter zu Hause seltener auf einen eigenen Computer zurückgreifen als Jungen (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, 2008a). Der erschwerte Zugang zu Computern und die geringere Einschätzung ihrer computerbezogenen Fähigkeiten könnten bei Mädchen und Frauen zu einer verringerten Kompetenzerwartungen in Bezug auf Video- und Computerspiele führen (Klimmt & Hartmann, 2006). Die Erwartung, den technischen Anforderungen von Computerspielen nicht gerecht werden zu können, wäre somit ein möglicher Erklärungsgrund für die geringe Computerspielnutzung von Frauen. Neben diesen geschlechtsspezifischen Barrieren im Umgang mit Computern und Informationstechnologie stoßen Frauen auf weitere Sozialisationsfaktoren, die den Zugang zu Video- und Computerspielen erschweren. Mädchen und Jungen entwickeln schon im Kindesalter geschlechtsspezifisches Spielverhalten (Blakemore & Centers, 2005; Cherney & London, 2006; Moller, Hymel, & Rubin, 1992) und haben schon früh eine Vorstellung davon, welche Arten von Spielaktivitäten und Spielzeugen für ihr eigenes Geschlecht rollenadäquat sind (Blakemore & Centers, 2005; Etaugh & Liss, 1992). Dabei werden typische Spielzeuge
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für Jungen (z. B. Spielzeugwaffen, Actionfiguren, etc.) eher als gewaltbezogen, kompetitiv und aufregend bewertet und typische Spielzeuge für Mädchen (Puppen, Spielzeugschmuck etc.) eher mit Attraktivität, äußerer Erscheinung und Versorgung von Kindern oder Haushaltstätigkeiten assoziiert (Blakemore & Centers, 2005). Geschlechtskonformes Spielverhalten wird von Elternhaus und Freundeskreis bestärkt (Etaugh & Liss, 1992; Moller, Hymel, & Rubin, 1992). So erfüllen Eltern sowohl bei Jungen als auch bei Mädchen mit signifikant höherer Wahrscheinlichkeit Wünsche nach geschlechtskonformen Spielzeugen (Etaugh & Liss, 1992). Jungen, die geschlechtskonformes Spielverhalten zeigen, sind bei Ihren Altersgenossen beliebter (Moller, Hymel, & Rubin, 1992) und Mädchen, die eine maskuline Geschlechtsrollenorientierung und maskuline Verhaltensweisen zeigen, sind bei Gleichaltrigen weniger akzeptiert und verfügen über geringeres soziales Selbstvertrauen (Lobel, Slone, & Winch, 1997). Video- und Computerspiele werden von Kindern als eher männliches Spielverhalten wahrgenommen. So waren sich Jungen und Mädchen in einer Befragung von Funk und Buchman (1996) mit 364 Viert- und Fünftklässlern zwar einig, dass Computerspielen grundsätzlich auch eine für Mädchen akzeptable Beschäftigung darstellt. Eine intensive Beschäftigung mit Computerspielen und insbesondere mit gewalthaltigen Computerspielen wurde aber insgesamt eher der männlichen Geschlechtsrolle zugeschrieben. Mädchen und Jungen sind demnach schon in der frühen Kindheit mit Sozialisationsinstanzen konfrontiert, die geschlechtstypisches Spielverhalten verstärken. Computerspielen wird dabei eher als adäquate Beschäftigung für Jungen wahrgenommen, die daher über eine größere Wahrscheinlichkeit verfügen, von ihrem Umfeld in diesem Spielverhalten bestärkt zu werden. Darüber hinaus wird das Mediennutzungsverhalten von Mädchen in stärkerem Maße von den Regulationsbemühungen der Eltern beeinflusst als die Mediennutzung von Jungen (Van den Bulck & Van den Bergh, 2000). Mädchen werden daher mit höherer Wahrscheinlichkeit von ihren Eltern in Bezug auf die Mediennutzung geschlechtskonform sozialisiert als Jungen. Neben der Tatsache, dass Computerspielen im Allgemeinen für männliche Nutzer sozial stärker akzeptiert ist als für Frauen, korrespondieren auch die Inhalte und die Aufgabenstruktur vieler Computerspiele in stärkerem Maße mit der weiblichen Geschlechtsrolle. Wie zuvor bereits beschrieben, enthalten viele Computerspiele einen hohen Anteil gewaltbezogener Inhalte (Dietz, 1998; Smith, 2006; Smith, Lachlan, & Tamborini, 2003). Aggressive Verhaltensweisen, Stärke und Dominanz entsprechen in hohem Maße dem maskulinen Geschlechtsstereotyp, sind hingegen mit der weiblichen Geschlechtsrolle in sehr viel geringerem Maße assoziiert (Hosoda & Stone, 2000; Lueptow, 2005). Ein weiteres entscheidendes Element vieler Computerspiele ist Wettkampf und das Kräftemessen mit Gegenspielern (Hartmann & Klimmt, 2006; Lucas & Sherry, 2004). Die Bereitschaft zu Konflikt und Wettkampf ist ebenso wie aggressive Verhaltensweisen Teil männlicher Geschlechtsstereotype (King, Miles, & Kniska, 1991; Lueptow, 2005). Ähnlich wie gewaltbezogene Inhalte steht die kompetitive Aufgabenstruktur vieler Computerspiele somit im Widerspruch zur weiblichen Geschlechtsrolle. Dieser Rollenkonflikt manifestiert sich im Nutzungsverhalten weiblicher Spieler. So zeigen Frauen eine geringere Präferenz für gewalthaltige Spiele (Hartmann & Klimmt, 2006; Slater, 2003) und Wettkampf und Konkurrenz mit Gegnern stellt für Frauen ein weniger wichtiges Nutzungsmotiv dar als für Männer (Hartmann & Klimmt, 2006; Lucas & Sherry, 2004).
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In Ergänzung zu geschlechtsspezifischen Normen und Einstellungen gegenüber Computerspielen werden auch geschlechtsspezifische Fähigkeiten und Fertigkeiten als eine Erklärung für den gender gap bei der Computerspielnutzung herangezogen. Insbesondere Geschlechtsunterschiede in Bezug auf Fähigkeiten im Bereich Raumkognition und visuelle Wahrnehmung werden immer wieder im Zusammenhang mit Video- und Computerspielen diskutiert (Feng, Spence, & Pratt, 2007; Lucas & Sherry, 2004; Quaiser-Pohl, Geiser, & Lehmann, 2006). Eine große Anzahl von Studien belegt signifikante Geschlechtsunterschiede in den räumlichen Fähigkeiten von Männern und Frauen. Männer schneiden insbesondere im Bereich mentaler Rotationsaufgaben signifikant besser ab als Frauen (Voyer, Voyer, & Bryden, 1995). Viele Video- und Computerspiele erfordern eben solche räumlichen Fähigkeiten, um etwa die Spielfigur erfolgreich durch dreidimensionale Spielwelten zu steuern, Hindernissen auszuweichen oder die Position von Gegenspielern zu erfassen. Frauen könnten demnach bei Computerspielen Männern gegenüber aufgrund ihrer räumlichen kognitiven Fähigkeiten systematisch benachteiligt sein (Lucas & Sherry, 2004). Tatsächlich belegt eine Reihe von Studien einen Zusammenhang zwischen der Nutzung von Computerspielen und räumlichen Fähigkeiten (Ferguson, 2007; Ferguson, Cruz, & Rueda, 2008; Quaiser-Pohl, Geiser, & Lehmann, 2006; Terlecki & Newcombe, 2005). So zeigten in einer Studie von Quaiser-Pohl, Geiser und Lehmann (2006) Jungen eine deutlich stärkere Präferenz für Action- und Simulationsspiele, die hohe Anforderungen an die räumlichen Fähigkeiten ihrer Nutzer stellen, wohingegen Mädchen signifikant häufiger Denk- und Geschicklichkeitsspiele oder gar keine Computerspiele spielten. Jungen mit starker Präferenz für Action-Spiele verfügten dabei über signifikant bessere mentale Rotationsfähigkeiten als Nicht-Spieler und als Mädchen. Auch Lucas und Sherry (2004) kommen zu dem Ergebnis, dass weibliche Computerspieler im Gegensatz zu männlichen Nutzern solche Spiele bevorzugen, die wenig mentale Rotationsfähigkeiten erfordern. Problematisch ist bei dieser Datenlage aber die Frage nach der Wirkrichtung. Die unterschiedlichen Präferenzen männlicher und weiblicher Spieler könnten zwar auf Geschlechtsdifferenzen im Bereich der Raumkognition zurückzuführen sein. Ebenso plausibel ist es aber, dass das unterschiedliche Abschneiden von Jungen und Mädchen im Bereich räumlicher Fähigkeiten nicht Grund sondern Folge der Computerspielnutzung ist. So kann es als gesichert gelten, dass das Spielen von Computerspielen sowohl bei Männern als auch bei Frauen zu einer Verbesserung der räumlich-visuellen Fähigkeiten, etwa im Bereich der mentalen Rotation, der visuellen Aufmerksamkeit oder der Kontrastsensitivität führt (Cherney, 2008; Feng, Spence, & Pratt, 2007; Li, Polat, Makous, & Bavelier, 2009; Subrahmanyam & Greenfield, 1994). Ob die Anforderungen von Computerspielen an die Raumwahrnehmung einen Hinderungsgrund für weibliche Nutzer darstellen, bleibt somit offen. Gendered Game-Play: Interaktion von angebots- und nutzerseitigen Eigenschaften bei der Nutzung von Computerspielen In den vorangegangenen Abschnitten haben wir dargelegt, dass a) Video- und Computerspiele hinsichtlich ihres Inhalts, der Repräsentation der Protagonisten und der Aufgabenstruktur nicht gender-neutral, sondern überwiegend an maskulinen Genderstereotypen orientiert sind und dass b) Männer und Frauen durch geschlechtsspezifische Sozialisation (Umgang mit und Zu-
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gang zu Technik, rollenkonformes (Spiel-)Verhalten, Geschlechtsstereotypen) und geschlechtsspezifische Fähigkeiten mit anderen Grundvoraussetzungen auf Computerspiele treffen. In der Interaktion dieser angebotsseitigen Eigenschaften von Computerspielen auf der einen und den personenbezognen Eigenschaften männlicher und weiblicher Spieler auf der anderen Seite lässt sich ein Erklärungsansatz für Unterschiede in allen drei Gegenstandsbereichen der medienpsychologischen Forschung finden: Selektion: Männer und Frauen wählen solche Spielinhalte aus, die besser mit ihrer Geschlechtsrolle zu vereinbaren sind. Während gewalthaltige und kompetitive Inhalte eher dem maskulinen Geschlechtsrollenstereotyp entsprechen (Hosoda & Stone, 2000) und von Männer häufig genutzt werden (Slater, 2003), präferieren Frauen z. B. Spiele mit hohem Anteil an sozialer Interaktion (Hartmann & Klimmt, 2006), was stärker der weiblichen Geschlechtsrolle entspricht. Rezeption: Auch im Unterhaltungserleben beim Computerspielen unterscheiden sich Männer und Frauen und bewerten solche Spiele als unterhaltsamer, deren Aufgabenstruktur der eigenen Geschlechtsrolle entspricht (Trepte, Reinecke, & Behr, 2009). Auch das Geschlecht des Avatars beeinflusst das Rezeptionserleben von Frauen und Männern, wobei das Spielen mit einem Avatar des eigenen Geschlechts zu stärkerem Präsenzerleben führt, Spieler sich also stärker in die Spielwelt hineinversetzt fühlen (Eastin, 2006). Wirkung: Computerspiele hinterlassen bei männlichen und weiblichen Nutzern unterschiedliche Wirkungen. So profitieren Frauen z. B. in stärkerem Maße hinsichtlich ihrer räumlichen Fähigkeiten vom Computerspielen als Männer (Cherney, 2008; Feng, Spence, & Pratt, 2007). Abschließend sollte das geschlechtsspezifische Nutzungsverhalten von Video- und Computerspielern aber nicht bloß als Manifestation unterschiedlicher Eigenschaften von Männer und Frauen betrachtet werden. Computerspiele sind vielmehr ihrerseits eine Sozialisationsinstanz, die potenziell dazu beitragen kann, Genderstereotype aufrechtzuerhalten. Die hochgradig genderstereotype Darstellung von Männer und Frauen in Computerspielen kann bei Ihren Nutzern zu einer Verstärkung von genderstereotypen Einstellungen und Verhaltensweisen führen (Dill, Brown, & Collins, 2008; Dill & Thill, 2007).
Selektion oder Wirkung? Die Wechselbeziehung von Mediennutzung und geschlechtsspezifischen Eigenschaften Abschließend und mit Blick auf die eingangs dargestellte Wechselwirkung von Medieninhalten und Mediennutzerinnen und -nutzern (vgl. Abbildungen 1 und 2) lässt sich resümieren, dass sich geschlechtsspezifische Unterschiede nicht bloß in der Mediennutzung manifestieren, sondern durch diese noch zusätzlich verstärkt werden. In der heutigen Medienlandschaft werden physische und soziale Geschlechter-Stereotype transportiert, was sich sowohl an den Inhalten der Spiele als auch an den Nutzungsgewohnheiten der Spielerinnen zeigt und Spieler
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(Dietz, 1998). Im Hinblick auf ihre Genrepräferenzen ist zu vermuten, dass Jungen – ebenso wie im Hinblick auf Spielfilme (Dale, 2003) –mehr ihren Vätern als ihren Freundinnen ähneln, während Mädchen ihren Müttern ähnlicher sind als ihren Freunden. Ein prominenter Impuls auf diese Ergebnisse wäre nun zu versuchen, die Medien zu verbessern und gender-neutrale Angebote zu fordern. Eine kritische Sicht auf den derzeitigen Markt der Computerspiele aus Gendersicht erscheint auch durchaus sinnvoll (Royse, Lee, Undrahbuyan, Hopson, & Consalvo, 2007). Wichtiger ist jedoch ein Vertrauen in die Macht der Rezipientinnen und Rezipienten und deren Unterstützung (Vekiri & Chronaki, 2008). Die medienpsychologische Forschung der letzten 50 Jahre zeigt, dass Menschen sehr gut in der Lage sind, Medien auszuwählen, die ihnen gut tun, sie unterhalten, sie optimal informieren. Insofern ist eher angeraten diese bereits vorhandenen Medienkompetenzen auszubauen, also die Kritikfähigkeit und die eigene Medienwahl zu reflektieren (Yelland & Lloyd, 2001). Die lange Forschungstradition zu gewalthaltigen Fernsehinhalten und Computerspielen zeigt recht deutlich: Extrem gewalthaltige Medieninhalte richten nur dort Schaden an, wo sie auf fruchtbaren Boden fallen, wenn sie also beispielsweise von Kindern rezipiert werden, die häusliche Gewalt erleben oder keine Ansprechpartner zur Reflexion der Inhalte zur Verfügung stehen (Slater, Henry, Swaim, & Anderson, 2003). Andere Jugendliche, die solchen Risikofaktoren nicht ausgesetzt sind, gehen auch aus intensiver Nutzung von Gewaltinhalten unbeschadet hervor. Ähnlich wird es sich mit fragwürdigen, geschlechtsstereotypen Darstellungen von Frauen und Mädchen in Computerspielen verhalten. Die Rezipientinnen werden nur in den Bereichen angreifbar, in denen eine feste „reale“ Gender-Identität fehlt.
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14. Forensische Psychologie Die Analyse anonymer Schreiben unter Berücksichtigung von GenderAspekten Henriette Haas
Anonyme Schreiben als Sprechakte Anonyme Schreiben sind zunächst ungefragte, spontane Kommunikationen. In der forensischen Psychologie behandeln wir sie als Sprech-Handlungen (Austin 1962/1980, S. 40ff). Die Bedeutung solcher Texte erschließt sich somit nur aus dem Wortlaut und ihrer speziellen Inszenierung zusammen. Was den Wortlaut anbetrifft, so bildet er im Sinne der RelevanzTheorie (Sperber & Wilson 2008) die von der Autorenschaft gewählte Form, um ihre Botschaft so gut wie möglich zu vermitteln; genauer gesagt: so gut sie es mit den ihr zur Verfügung stehen kognitiven, technischen und sozialen Mitteln überhaupt kann. Wir gehen davon aus, dass jedes Detail frei gewählt wurde und seine psychologische Bedeutung hat. In anderen Worten: „auch was überflüssig scheint, ist es in Wirklichkeit nicht“ (übersetzt aus Sapir 1999). Vorsicht ist allerdings geboten, weil wir a priori nicht wissen, ob ein Text aus der Feder einer einzigen Person stammt, oder ob mehrere Personen mitgewirkt haben. Für die kriminalistische Auswertung von inkriminierten Schreiben stellt die Analyse des Materials im Hinblick auf gender-relevante Aspekte ein Gesichtspunkt unter mehreren dar. In einem Gutachten wird nach vielen anderen möglichen Merkmalen der Urheberschaft eines anonymen Textes ebenfalls gesucht, etwa besonderen Fähigkeiten, (Aus-)Bildung und Intelligenz, Muttersprache (Nationalität), Alter, Wohnort, Mobilität, delinquente Vergangenheit und Vorstrafen, psychische Störungen und medizinische Probleme, Verfügbarkeit von Waffen, technische Kenntnisse, Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen, politische Gesinnung, Weltanschauung und Religion, Motive, Gefährlichkeit, etc. Die Gender-Aspekte spielen aber in politischen und arbeitsrechtlichen Zusammenhängen, sowie bei häuslicher Gewalt eine besonders wichtige Rolle. Bevor wir zur eigentlichen Analyse eines kleinen Corpus von Beispielen schreiten, betrachten wir einige Eigenheiten von anonymer schriftlicher Kommunikation. In Abwesenheit einer internationalen, empirisch breit abgestützten Phänomenologie über verschiedene Corpora von anonymen Schreiben basieren die folgenden Abschnitte auf klinischer Erfahrung mit polizeilich bekannten Schreiben. Es gibt allerdings ein großes Dunkelfeld an anonymen Schreiben (beispielsweise aus Nachbarschaftsstreitigkeiten), die wegen Belanglosigkeit gar nie zur Anzeige kommen oder keinen strafrechtlichen Tatbestand erfüllen.
G. Steins (Hrsg.), Handbuch Psychologie und Geschlechterforschung DOI 10.1007/978-3-531-92180-8_14, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010
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Die Tarnung der Täterschaft Eine erste Differenzierung betrifft die Art und Weise, wie sich die anonyme Täterschaft tarnt, wenn sie sich im Text auf sich selber bezieht. Tarnung und gezielte Irreführung, in der Biologie als Mimikry bekannt, ist schon in der Natur ein Mittel, das gegenüber Beutetieren, Fressfeinden und gegenüber anderen Artgenossen zur Überlistung eingesetzt wird. Auch Tiere verlassen sich dabei nicht nur auf ihre äußere Erscheinung (sowie Eule und Nachtfalter), sondern manche Arten sind fähig, ein Verhaltensmimikry einzusetzen (z.B. Raben, Affen). Zunächst ist nicht klar, ob ein anonymes Schreiben von einer Einzelperson, von einem Paar oder von einer ganzen Gruppe von Personen verfasst wurde. Sehr oft benennt sich die Täterschaft in der ersten Person Plural mit „wir“. Außer bei politischen Manifesten und bei jugendlichen Scherzen hat man es jedoch in Wirklichkeit in fast allen Fällen mit einer Einzelperson zu tun. Andere TäterInnen äußern sich als „verstecktes Subjekt“ indem sie sich ausschließlich der passiven Verbform, sowie des „man“, respektive unpersönlicher Substantive wie „Gott“ oder „Schicksal“ bedienen. Der Gebrauch eines versteckten Subjekts ist recht typisch, wenn etwas verschleiert werden soll. Gehäuftes Vorkommen des Passiven lässt sich zudem in Ausflüchten beobachten, denn mit diesem sprachlichen Trick können die Sprechenden die Verantwortung für ihr Tun verwedeln. Während die meisten anonymen Briefe entweder ganz ohne Absender oder mit einem erfundenen Namen oder Initialen daher kommen, gibt es eine dritte Kategorie von Schreiberlingen, die den Namen einer unwissenden (und dadurch diffamierten) Drittperson missbrauchen. Die Wahl der als falschen Absender missbrauchten Person kann ebenfalls etwas mit ihrem Geschlecht oder mit spezifischen „Gender-Issues“, die im anonymen Schreiben adressiert werden, zu tun haben. Der Zweck der Anonymität Die Anonymität eines Briefes können wir als Ausdruck einer Vermeidung verstehen. Nur, was muss denn genau vermieden werden? Wenn es sich um strafbare Äußerungen handelt, zum Beispiel explizite Gewaltandrohungen oder persönliche Diffamierungen soll das Risiko der Entdeckung vermieden werden. In abgeschwächter Form kann dasselbe Motiv auch bei anonymen politischen oder privaten Äußerungen zutreffen, für die sich die Autorenschaft schämt, trotzdem sie nicht strafbar sind. Die Schreiberlinge möchten einer informellen Stigmatisierung als AnhängerIn eines extremen Gedankengutes oder als gestörte Person entgehen (z.B. als HundehasserIn, als politischer ExtremistIn, als xenophob oder misogyn, als AnhängerIn einer Sekte, als NörglerIn). Die Vermeidung des Preisgabe der eigenen Identität ist auch das Motiv hinter anonymen Denunziationen an Polizei, Vormundschaftsbehörden, Vorgesetzte und Vermieter. Die Schreiberschaft möchte die zuständige Autorität auf ein illegitimes oder illegales Verhalten hinweisen, befürchtet aber in einen Konflikt hineingezogen zu werden und Konsequenzen zu erleiden, wenn sie offen aufträte. Solchen Denunziationen haftet der Geruch von Feigheit an, und nicht selten sind sie einfach üble Nachrede und Verleumdung. Andererseits gibt es
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Situationen, wo die Angst der Whistleblower vor den Machenschaften der beschuldigten Person berechtigterweise sehr groß ist. Dazu gehörte der Fall eines Immigranten mit schlechten Deutschkenntnissen, der sich mit einem anonymen Brief an die Polizei seines Wohnortes gewendet hatte, um eine Frau vor ihrem Ehemann zu schützen. Zu seiner großen Bestürzung war dem Schreiber nämlich von einem Bekannten (einem Schweizer) das Angebot unterbreitet worden, für eine größere Geldsumme dessen Ehefrau zu ermorden. Der Hinweis auf die Gefährdung der Frau wurde durch weitere polizeiliche Ermittlungen erhärtet und so wurde die Suche nach dem anonymen Zeugen zu einem wichtigen Teil der Ermittlung. Es gibt aber noch einen weiteren Grund für die Vermeidung der Namensnennung, der mit manipulatorischen Absichten hinter diesen Kommunikationen zu tun hat. In einigen Fällen könnte das Ziel der Kommunikation durch die Offenlegung der Identität der Verfasser gar nicht erreicht werden. Dies ist etwa dann der Fall, wenn eine mächtige oder einflussreiche Person durch einen Schreiberling, der gar keine wirkliche Bedrohung darstellt, eingeschüchtert werden soll. Briefe, die im Namen einer unwissenden Drittperson verfasst wurden, gehören ebenfalls in diese Kategorie. In allen Fällen beinhaltet das Schreiben anonymer Briefe die Absicht, die EmpfängerInnen oder deren Umfeld dazu zu bringen, etwas zu fühlen, zu denken, zu sagen oder zu tun, was sie in umfassender Kenntnis aller hinter dem Brief stehender Tatsachen nicht tun würden. In die manipulative Kategorie gehören SchreiberInnen mit Munchausensyndrom (sic), die anonyme Drohbriefe verfassen, mit der Absicht sich später als „Helfer“ in Not auszugeben, um sich (als Teil eines umfassenderen Stalkings) das Vertrauen des Opfers zu erschleichen. In der Vielfalt menschlicher Äußerungen gibt es aber noch weitere Motive für das Absenden anonymer Schreiben, die mit Vermeidung zu tun haben und die aus der Psychopathologie der Täterschaft resultieren. Einerseits verfassen manche Demenzkranke in mehr oder weniger luziden Momenten einen Brief, vergessen dann aber, ihn zu unterschreiben und schicken ihn aus Versehen anonym ab. Weiter gibt es an Schizophrenie Erkrankte, die solche Briefe aus wahnhaften Motiven verfassen, weil sie sich beispielsweise von einem Geheimdienst mit Strahlen verfolgt wähnen und aus ihrer psychotischen Angst heraus anonym bleiben wollen. Eine letzte Kategorie betrifft Schreiben, die von Kindern und Jugendlichen als Jux verfasst wurden (sog. Hoaxes). Bei diesen steht nicht so sehr der Gender-Aspekt im Vordergrund als Interessenskonflikte zwischen den Generationen. Die Adoleszenten rebellieren, manchmal recht humorvoll, gegen die ältere Generation, die ihrer Lebhaftigkeit Grenzen setzen möchte. Umgekehrt gibt es Drohbriefe von älteren Leuten, die sich durch Jugendliche gestört und gefährdet fühlen. In denen fehlt dann allerdings der Humor. Für manche Hoaxe existiert eine Vorlage. In Unkenntnis des gesamten Corpus anonymer Briefe einer Region ist es zwar nicht immer möglich zu erkennen, ob der Text nach Schablone verfasst wurde. Indessen gehört die Identifizierung der Täterschaft von humoristischen Schreiben nicht unbedingt zu den Ermittlungsprioritäten der Kriminalpolizei.
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Die kognitive Belastung beim Verfassen komplexer, anonymer Schreiben Anonym inszenierte Kommunikationen sind eine Form von Täuschung. Ebenso wie andere Lügengebäude sind sie von einem systemimmanentem Dilemma geprägt: einerseits will die Täterschaft ein ihr persönlich wichtiges Anliegen so transportieren, dass sie damit einen Effekt erreicht, andererseits muss sie dazu ganz wesentliche Elemente geheim halten oder verändern. Dieser Widerspruch führt dazu, dass das Verfassen von anonymen Schreiben erhebliche kognitive Ansprüche an die AutorInnen stellt, denen sie nur selten gerecht werden können. Der sogenannte „cognitive overload“ resultiert aus der Tatsache, dass beim Lügen zwei verschiedene Realitäten (die Erfundene und die Wirkliche) gleichzeitig im Gedächtnis behalten und aufeinander abgestimmt werden müssen (Vrij, Mann, Fisher, Leal, Milne & Bull 2008). Aus psychologischer Sicht kann also die vollständige Anonymisierung kaum ohne Fehlleistungen bewältigt werden, wenn es sich um einen komplexen oder längeren Inhalt handelt. Wie Austin (1962/1980) in ihrer Theorie der Sprechakte ausführt, basiert jegliche menschliche Kommunikation in hohem Maß auf gewissen Annahmen, die die Sprechenden aufgrund des Kontextes, in welchem sie sich bewegen, treffen. Auch die Zuhörenden müssen vielerlei Annahmen treffen, um den Text verstehen zu können. Die Rekonstruktion der Annahmen durch die LeserInnen, respektive der kriminalpsychologischen Analyse, lässt dann gewisse Rückschlüsse auf den psychosozialen Kontext, in dem die Schreiberschaft gehandelt und gesprochen hat, zu. Aus psychologischer Sicht entstehen Schmäh-, Droh-, Bekenner- und Erpresserschreiben primär aus einem in der Lebensgeschichte des Schreibers verankerten Bedürfnis, das durch aktuelle (politische oder individuelle) Ereignisse aktiviert wurde. Die Schreiberlinge haben ein psychisches oder materielles Anliegen im Kopf, welches für sie von großer Wichtigkeit ist. Sie versuchen nun, dieses Anliegen so zu formulieren, dass sie die gesuchte Bedürfnisbefriedigung erreichen, ohne ihre Identität enthüllen zu müssen. In der Kriminalistik geht es nun darum, sowohl die Fehlleistungen als auch den psychosozialen Kontext der Schreibenden aufzuspüren und für Ermittlungsansätze zu nutzen.
Empirische Studien über anonyme Briefe, Textmerkmale und Gender Autoren und Autorinnen anonymer Briefe Empirische Studien über die Täterschaft anonymer Briefe sind dünn gesät, denn die polizeiliche Aufklärung ist aufwändig und gleicht der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Daher haben wir nur Zahlen aus polizeilich oder nachrichtendienstlich bekannten Corpora, nämlich den beiden Feldern „Erpresserbriefe“ und „ungehörige Schreiben an Politiker“. Wie ganz allgemein in der Kriminalstatistik ist auch bei anonymen Schreiben an Magistraten eine deutliche Überrepräsentation der Männer unter den Tatverdächtigen zu finden. Nach Baumgartner, Scalora und Plank (2001), Scalora et al. (2002) und SchoenemanMorris et al. (2007) sind zwischen 60% und 83% aller Täter männlich. Bei den polizeilich bekannt gewordenen Erpressungen ist sogar die weitaus größte Zahl aller Tatverdächtigen
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männlich (z.B. KRISTA Kanton Zürich 2007: 98.4% aller als Erpresser Tatverdächtigen waren männlich). Voerman und van der Meer (2008, S. 73), haben einen Corpus von aufgeklärten Fällen anonymer Schreiben der niederländischen Polizei analysiert. Sie haben daraus die folgende heuristische Typologie extrahiert:
Konfuse AutorInnen Frustrierte AutorInnen ErpresserInnen im strafrechtlichen Sinn mit Geldforderungen Slang-DroherInnen Politische ExtremistInnen Angstauslösende RächerInnen mit persönlichen Kontakten zum Opfer Emotionale ErpresserInnen und StalkerInnen (darunter auch die fingierte Viktimisierung der Täterschaft) Rache- und Drohbriefe von notorischen GewalttäterInnen
Linguistische Studien zu weiblichem und männlichem Sprachgebrauch Für die Analyse von Texten wäre der Rückgriff auf empirisch erhobene statistische Normen im Bezug auf verschiedene Textsorten und deren Urheber sehr wertvoll, etwa die durchschnittliche Anzahl männlicher und weiblicher Akteure sowie die durchschnittliche Gesamtzahl von Personen, die in Briefen von männlichen und weiblichen UrheberInnen erwähnt werden. Wenn wir die Linguistik zu Hilfe nehmen, ergeben sich mannigfache Gelegenheiten durch formale sprachliche Merkmale Rückschlüsse auf das Geschlecht der Schreiberschaft zu ziehen. Argamon, Koppel, Fine und Shimoni (2003) berechneten etwa den Quotient zwischen weiblichen und männlichen Pronomina der 3. Person singular (Anzahl „sie, ihr, ihre“/Anzahl „er, ihm, seine“) in Texten. Frauen gebrauchten rund doppelt so oft weibliche Pronomina der 3. Person Singular wie Männer. Als typisch männliche linguistische Marker fanden sie einen erhöhten Gebrauch von Quantifikatoren. Darunter versteht man sprachliche Mengenangaben wie „alle“, „verschiedene“, „fast alle“, „vier“, etc. und Determinatoren, welche die Identität einer Person oder einer Sache genauer bezeichnen oder einschränken (diese, jeder, ...). Argamon, Koppel, Pennebaker und Schler (2009) fanden in ihrer Untersuchung auch einige Wörter, deren Häufigkeit geschlechtstypisch verteilt war. Die typisch weiblichen Wörter waren: „cute“, „love“, „boyfriend“, „mom“, „feel“, wohingegen „system“, „software“, „game“, „based“, „site“, typisch männliche Wörter waren. Koppel, Argamon und Shimoni (2001) konnten aufgrund verschiedener linguistischer Marker Texte mit ca. 80% Treffsicherheit einem Geschlecht zuordnen. In die Praxis können wir statistische Normen allerdings nicht so einfach übertragen, denn es fehlt meistens die Vergleichsbasis von mehreren längeren Texten die eindeutig den verschiedenen fraglichen AutorInnen zugeordnet werden können. Anders als in der wissenschaftlichen Bestimmung von literarischer Urheberschaft (eine Likelihood Ratio, die mit Hilfe des Theorems von Bayes aufgrund eines Corpus von eindeutig zugeordneten Texten berechnet werden kann), sind anonyme Briefe quasi im luftleeren Raum zu analysieren. Empirisch erforschte Corpora sind als Vergleichsbasis nur bedingt brauchbar. Sie bestehen
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nämlich oft aus publizierten Texten (z.B. die erwähnte Untersuchung von Argamon, Koppel, Fine und Shimoni 2003) und nicht aus privaten Briefen, geschweige denn anonymen Briefen. Publizierte Texte unterscheiden sich sprachlich ganz erheblich von privaten Briefen, etwa in den Mittelwerten der darin vorkommenden Grammatik- und Rechtschreibfehler, aber auch im Stil und Inhalt. Im englischsprachigen Raum sind nun neuerdings Datenbanken mit Corpora von Texten der allgemeinen Bevölkerung im Aufbau, die dann ein automatisches Profiling der AutorInnen von anonymen Texten im Bezug auf Alter, Geschlecht, Fremdsprachigkeit, regionale Dialekte und sogar psychologische Merkmale wie Neurotizismus erlauben (Argamon, Koppel, Pennebaker & Schler 2009). Allerdings zeichnen sich anonyme Briefe durch bestimmte Inhalte aus, die mit Aggressionen und Angst beladen sind. Es ist daher unwahrscheinlich, dass sich darin die Wörter „Mom“, „cute“ und „love“ finden, selbst wenn sie von einer Frau verfasst worden wären. Da Sprache etwas Lebendiges ist, das sich ständig ändert, müssen solche Datenbanken zudem mindestens alle zehn Jahre mit einer neuen Stichprobe aktualisiert werden, damit sie brauchbar bleiben. Die einfache Übernahme und Anwendung von linguistischen Markern aus wissenschaftlichen Publikationen auf konkrete Fälle ist weiter insofern problematisch, als in verschiedenen Sprachen und Kulturen möglicherweise unterschiedliche Marker existieren oder die gleichen Marker statistisch gesehen unterschiedliche Ausprägungen haben könnten. Rückschlüsse von Publikationen zum englischen Sprachgebrauch auf das Deutsche stehen somit auf etwas wackligen Beinen. Nimmt man diese Unsicherheiten in der Anwendung von linguistischen Forschungsergebnissen in Kauf und stellt sie transparent dar, lassen sich in einigen Fällen gleichwohl einige plausible Hypothesen daraus abduzieren. Zum Beispiel können wir aufgrund dieser Ergebnisse eine deutlich bemerkbare Frequenz an weiblichen Pronomina als ein Indiz für eine Schreiberin nehmen und die fast vollständige Abwesenheit davon als Indiz für einen männlichen Schreiber. Ebenso ist die Hypothese eines männlichen Schreibers recht plausibel, wenn sich ein Text durch besonders viele Quantifikatoren und Determinatoren auszeichnet.
Analysen mit der Methode des systematischen Beobachtens Die Methode des „Systematischen Beobachtens“ besteht aus einer logischen Verknüpfung bekannter hermeneutischer Regeln und macht sich Erkenntnisse aus der Wissenschaftstheorie, der Hermeneutik und der kognitiven Psychologie zu Nutzen. Sie beschränkt sich nicht auf Briefe, sondern kann in der Buchhaltung, auf wissenschaftliche Arbeiten, sowie auf Bilder und Videosequenzen angewendet werden. Was die Analyse von Texten anbetrifft, wäre natürlich eine Zusammenarbeit mit der Linguistik optimal, denn die psychologische Analyse und die Linguistische konkurrenzieren einander nicht; vielmehr ergänzen sie sich. Linguistisches Wissen wird unumgänglich, wenn es um die Analyse formeller Aspekte der Sprache geht, etwa für die Unterscheidung zwischen fingierter und echter Fremdsprachigkeit (Dern 2009, S. 81). Die eigentliche Analyse besteht im Aufstellen eines Inventars der psychologischen Indizien, das dann gewisse Hinweise im Bezug auf Merkmale der Täterschaft liefern kann.
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Die Herleitung des inneren Zusammenhangs der fünf Regeln (in Haas 2003 bis 2009 abgehandelt) erfolgte ausgehend von der Feststellung Poppers (1972, S. 342), dass Beobachtung eine Wahrnehmung sei, allerdings eine geplante und gezielte. Wenn man nun die Beobachtungsfähigkeit verbessern will, muss man bei der Wahrnehmung ansetzen. Aus der kognitiven Psychologie wissen wir, dass sich die Wahrnehmung dann verbessert, wenn das Repertoire der mentalen Repräsentationen im Gedächtnis durch weitere Modelle erweitert wird. Dies ist die erste Regel. Aus der Semiotik stammt die zweite Regel. Beobachtung findet nämlich anhand von Zeichen statt, wobei das Zeichen die kleinste (sinnbesetzte) Einheit ist, die wahrgenommen wird. Das Zeichen (resp. Indiz/Symptom) hat eine äußere Form, „die für etwas Anderes steht“ (Peirce 1931/1978, CP Vol. 2, S. 228). Darum muss es sowohl in seinen formellen als auch in seinen inhaltlichen Aspekten beobachtet und beschrieben werden. Um sicherzustellen, dass die Zeichen möglichst vollständig erfasst werden und nicht bloß selektiv, muss das Beobachtungsobjekt in die Struktur seiner Teilelemente unterteilt werden, was die dritte Regel darstellt. Nach Minsky (1985, Kap. 12, Abschnitte 12.4-12.5) stehen die Elemente einer Struktur jeweils für gewisse Funktionen. Jedes einzelne TeilElement muss der Reihe nach mit all seinen Zeichen beobachtet und beschrieben werden. In offenen Systemen gibt es häufig mehrere denkbare Strukturen, nach denen aufgeschlüsselt und beobachtet werden muss. Da sich die Bedeutung des Zeichens nur aus seinem Gesamtzusammenhang erschließt (Eco 1973, Kap. 5, Abschnitt 5.19) folgt das Erfassen von Ungereimtheiten und Widersprüchen (die vierte Regel) erst nach dem Aufstellen eines solchen Inventars. Der ganze Vorgang des systematischen Beobachtens wird abgerundet durch die fünfte Regel, die besagt, dass auch die negativen Zeichen und die Nicht-Resultate zu beobachten seien, d.h. das was fehlt, obwohl es da sein sollte. Diese letzte Regel kann wiederum nur dann angewendet werden, wenn zuvor alle sinnvollen Strukturen des Beobachtungsgegenstandes erfasst und deren Zeichen einzeln in allen Teilelementen formal und inhaltlich beschrieben wurden. Im Laufe der Beobachtung der verschiedenen Indizien tauchen unweigerlich Ideen und Hypothesen zur Täterschaft, zum Zweck des Briefes und zur Gefährlichkeit der Drohungen auf. Bei einem uneinheitlichen Bild mit Indizien, die für eine Hypothese sprechen und anderen, die dagegen sprechen, kann nach der Abduktion einer plausiblen Hypothese das Inventar aller Indizien in einer dreispaltigen Tabelle aufgelistet werden: „für die Hypothese H0“, „gegen die Hypothese H0“, sowie „unklar“. Durch diese Zuordnung der Indizien wird die Interpretation des gesammelten Materials auf eine transparente, und somit für Außenstehende kritisierbare Art, dargestellt. Danach, sowie beim Auftauchen neuer Indizien, muss der hermeneutische Zirkel iterativ neu durchlaufen werden. Die aus diesem Prozess resultierenden Profile beanspruchen nicht, irgendwelche Beweise oder definitive Meinungen über die Täterschaft zu formulieren, sondern sie sollen aufgrund von plausiblen Überlegungen, Ermittlungsansätze aufzeigen, wenn es darum geht, eine Stecknadel im Heuhaufen zu suchen. Die Tauglichkeit der Methode des systematischen Beobachtens in der Kriminalistik wurde in zwei Experimenten getestet (Haas, work in progress). Dabei zeigte sich, dass durch ihre Anwendung ein deutlicher Mehrwert an beobachteten relevanten Details erhoben werden kann und dass der Prozentsatz an logischen und zutreffenden Tat-Hypothesen ansteigt. Von 174 darin geschulten Kriminalpolizisten aus acht verschiedenen Kantonen
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attestierten 67% der Methode eine gute bis sehr gute Praxistauglichkeit. Weitere Experimente zur Reliabilität der Methode und zu ihrem möglichen positiven Effekt auf die Kreativität in der Hypothesenbildung sind derzeit im Gang.
Systematisches Beobachten unter gender-relevanten Blickwinkeln In der Analyse von Gender-Aspekten untersuchen wir die in den Texten genannten AkteurInnen und die mutmaßliche Täterschaft auf folgende Gesichtspunkte:
Einstellungen gegenüber Gleichberechtigung und den Geschlechtern Betroffenheit von ungleichen Machtverhältnissen zwischen den Geschlechtern Ausnutzen der Vulnerabilität weiblicher Opfer im Bezug auf sexuelle Gewalt Attributionen und Projektionen auf die Geschlechter
Die erste Regel (Vergleich mit Modellen) kommt insofern zum Zug, als mehrere Kommunikationen bezüglich der obigen Fragen miteinander verglichen werden können. Die Kombination von zweiter und dritter Regel (Erhebung formaler und inhaltlicher Strukturen und Indizien) gibt in manchen Fällen gewisse Aufschlüsse über Machtverhältnisse und Beziehungsdynamiken zwischen den Geschlechtern. Erstens nehmen wir die Pronomina genauer unter die Lupe, wie von Sapir (1999) empfohlen, der dazu viele einleuchtende Beispiele anführt. In einem vermeintlich belanglosen Satz kann unter Umständen viel preisgegeben werden, etwa: „Samstagabend gingen wir ins Kino; danach wollte der Mann nach Hause.“ Mit diesem Satz wird impliziert, dass am Anfang des Abends Harmonie herrschte (wir), wohingegen im zweiten Teil offensichtlich divergierende Interessen bestanden, denn nur „der Mann“ wollte nach Hause, „wir“ wollten nicht. Der Ausdruck „der Mann“, der nicht „mein Mann“ ist, drückt die Abwesenheit des Zugehörigkeitsgefühls aus, das mit dem Possessivpronomen einhergeht. Der Mann der Sprecherin scheint eine rein funktionale Rolle einzunehmen. Selbstverständlich gelten diese Indizien nur für den Zeitpunkt der Aussage, es sei denn, sie würden in anderen Zusammenhängen mehrfach bestätigt werden. Informelle Machtverhältnisse und Konflikte schimmern auch in den Modal-Verben „müssen“, „wollen“, „sollen“, „mögen“, „dürfen“, „können“ in Kombination mit den jeweiligen Pronomina resp. Namen, durch. Nehmen wir den Satz: „ich musste nochmals anhalten, denn sie wollte noch ihr Schminkzeugs holen“. Gemäß Relevanztheorie ist es für den Sprecher hier nicht so, dass „wir anhalten mussten“ oder dass „wir nochmals anhielten, damit sie ihr Schminkzeugs holen konnte“. Die Verteilung der Pronomina auf die Verben „müssen“ und „wollen“ zeugt somit von einer gewissen Einseitigkeit und von einem latenten Konflikt. Danach kann die systematische Aufstellung aller natürlichen und juristischen Personen sowie der Themenabfolge gemäß der dritten Regel der systematischen Beobachtung oft zu interessanten Hinweisen führen. Die Suche nach Inkonsistenzen und Lücken gemäß der vierten und fünften Regel bildet die Krönung der Analyse, die eigentliche Miss Marple- und Sherlock Holmes’ Aufklärungsarbeit.
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Einstellung zur Gleichberechtigung in der Extremisten-Propaganda Bei politischer Propaganda von Extremisten nehmen wir die gesamte Kommunikation inklusive des Vehikels illegaler Aktionen unter die Lupe. Gewalt und Vandalismus als Mittel, um Medienberichterstattung zu provozieren, werden von gewissen politischen Akteuren im Sinne eines medialen Verstärkers ihrer Botschaft bewusst eingesetzt. Die Betreffenden fürchten offenbar, dass ihre Botschaft sonst wenig öffentliche Resonanz fände. Der Begriff „politischer Extremismus“ wird hier nach schweizerischer Auslegung als Gewaltextremismus gebraucht, d.h. anders als in Deutschland, wo sich der Begriff auf verfassungsfeindliche Umtriebe generell bezieht. Sie lautet (Extremismusbericht des Bundesrates 2004, S. 5019): „Extremisten bezeichnen sich selbst nicht als solche. [...] Entscheidend ist die Gegnerschaft gegenüber den demokratischen Grundwerten und Ordnungsprinzipien und nicht die politische Randlage extremistischer Phänomene. Außenseiterpositionen sind in jeder Gesellschaft unvermeidlich. Extremistisch werden diese Positionen erst, sobald jemand von der Randposition aus den Anspruch erhebt, für eine größere Menge oder sogar für alle zu sprechen, und dementsprechend einzeln oder zusammen mit anderen beginnt, seine oft einseitigen Ansprüche gegen die Mehrheit zu stellen und auch gewaltsam durchzusetzen. [...] Im Gegensatz zu den Ländern, die die Institutionen des Verfassungsschutzes weit entwickelt haben, reichen in der Schweiz also organisierte Bestrebungen einer Gruppe zur Abschaffung der Demokratie, der Menschenrechte oder des Rechtsstaates alleine noch nicht, um sie von den Staatsschutzorganen beobachten zu lassen. Eine Gruppe muss zur Erreichung dieser Ziele zusätzlich Gewalttaten verüben, befürworten oder in Kauf nehmen.“ Analyse einer rechtsextremen Propagandaseite In der Propaganda und den anonymen Bekenner-Schreiben politischer Extremisten finden sich oft aufschlussreiche Fehlleistungen im Bezug auf Genderaspekte. Wir befassen uns hier mit Sympathien und Antipathien, aber auch mit Aufgeschlossenheit gegenüber Gleichberechtigungsfragen1. Hier das Beispiel von der Homepage der 2004 gegründeten sog. „Helvetischen Jugend“, einer rechtsaußen politisierenden Gruppe.
1 Um die daraus resultierenden Hypothesen zu überprüfen, sollten natürlich weitere Publikationen der beiden dargestellten marginalen Gruppierungen analysiert werden. Da es hier primär um die Vorführung der Analyse-Methode geht und nicht um eine Vertiefung des Themas „politischer Extremismus“, ersparen wir uns diesen Schritt.
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Henriette Haas Rechtsextreme Propaganda im Internet2
Seite „Über uns“: www.helvetischejugend.ch/ueber_uns.html Die Helvetische Jugend ist eine unabhängige Kameradschaft, bestehend aus jungen Nationalistinnen und Nationalisten im Alter von 17-25 Jahren. [...] Die Kameradschaft ist keiner Partei oder Organisation verpflichtet. Nach eigenem Ermessen unterstützen wir aber Personen oder Gruppierungen die sich für eidgenössische Interessen einsetzen Seite „Aktivitäten“ (Ost Personenfreizügigkeit): www.helvetischejugend.ch/personenfreizuegigkeit.html Folgende Aktionen wurden von der Kameradschaft der Helvetischen Jugend durchgeführt: Am Donnerstag vor dem Abstimmungswochende, begaben sich vier Kameraden und eine kameradin nach Solothurn in den Abendverkauf. Vor dem örtlichen Coop verteilten Sie Flugblätter gegen die Personenfreizügigkeit und waren originell mit Transparent und Verkleidung vor Ort! [...] Weiter fand eine Aktion statt, die die Helvetische Jugend nicht kommentieren möchte und die auch nicht von der Helvetischen Jugend aus lanciert wurde! Vier Autobahnbrücken wurden mit Transparenten wie: Arbeit zuerst für Schweizer – Nein zur Ost – Erweiterung oder Arbeit verlieren? – Nein zur Ost – Erweiterung versehrt. Schauen wir uns nun die extrahierte Liste der AkteurInnen der „Helvetischen Jugend“ genauer an und vergleichen wir verschiedene Internetseiten miteinander (nach Regel 1): AkteurInnen der Seite „Über uns“ • Helvetische Jugend • unabhängige Kameradschaft • junge Nationalistinnen • (junge) Nationalisten • keine Partei oder Organisation • wir • Personen • Gruppierungen
AkteurInnen der Seite „Aktivitäten“ • Kameradschaft der Helvetischen Jugend • vier Kameraden • eine kameradin • der örtliche Coop (Kaufhaus) • die Helvetische Jugend • verdecktes Subjekt • nicht die Helvetische Jugend • Schweizer
Im Gegensatz zur Vorstellungsseite kommt auf der Aktivitätenseite die Nennung der Frau an zweiter Stelle und wurde als Fehlleistung kleingeschrieben. Bei den Autobahnschmierereien, begangen durch versteckte Subjekte, welche die „Helvetische Jugend“ nicht kommentieren, aber trotzdem kommunizieren möchte, geht es im Zusammenhang mit Ängsten vor Arbeitsverlust wegen der Zuwanderung nur noch um Schweizer (Männer). Aufschlussreich ist also die Diskrepanz zwischen der Internetseite, wo sich diese Gruppierung vorstellt und jungen Frauen vermeintliche Gleichberechtigung suggeriert und der Internetseite, wo sie über konkrete Aktionen berichtet. Die Hypothese, die wir anhand dieser Indizien abduzieren, lautet: bei der „Helvetischen Jugend“ findet ein vorgetäuschtes Gendermainstreaming statt, mit dem junge Frauen angeworben werden sollen, obwohl sie nachher möglicherweise nicht mehr viel zu melden haben werden. Betreffend der Identität des versteckten Subjekts bemerken wir die interessante Tatsache, dass es sich eingeklemmt zwischischen den Nennungen „Helvetische Jugend“ befindet. 2
Anm. hh: Auslassungen sind durch Pünktchen in eckigen Klammern […] markiert
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Analyse einer linksextremen Propagandaseite Seit den 1990er Jahren werden in Zürich Sprengstoff- und Farbanschläge verübt, die sich gegen Gebäude richten, die man als Symbole für Globalisierung, Kapitalismus und staatliche Repression verstehen kann. Veröffentlicht werden die dazugehörigen Bekennerschreiben durch den 1992 gegründeten „Revolutionären Aufbau Zürich“ im Internet. Beim normalen Durchlesen von längeren Texten wie dem folgenden bemerkt man wenig, bevor der Text in seine Einzelteile zerlegt ist. Erklärend sei hinzugefügt, dass der erwähnte israelische Minister Ze’evi im Jahr 2001 von der PFLP erschossen worden ist. Die christdemokratische Bundesrätin Ruth Metzler war damals schweizerische Justizministerin. Beispiel 2:
Linksextreme Propaganda im Internet3
Seite „Index / Aufbau / Erklärungen“ vom 14.7.2002: www.geocities.com/~aufbau/Erklaerungen/ Erklärung: Wir haben heute Nacht bei der amerikanischen Consular Agency [...] und bei der israelischen Fluggesellschaft EL-AL [...] in Zürich mit Feuerwerksraketen angeklopft. Mit diesen Aktionen setzen wir ein Zeichen gegen die verbrecherische Bomben- und Brotpolitik der USA in Afghanistan, die Verschärfung der zionistischen Vernichtungspolitik gegen das palästinensische Volk und die Volksfront für die Befreiung Palästinas PFLP, an der sich WEF-Habitué Arafat aktiv beteiligt. Die schweiz. Profiteure der entfesselten Kriegs- und Unterdrückungspolitik sind fassbar und angreifbar, ob in Zürich, Davos, oder..... Die reaktionären Anschläge vom 11.09.01 in New York und Washington geben den Imperialisten auf der ganzen Welt einen Freipass gegen alles, was immer sie als terroristisch definieren können. [...] In Deutschland hebt Sozialdemokrat Schily die Trennung zwischen zivilen und militärischen Nachrichtendiensten, Staatsschutz und Strafverfolgung auf und schafft damit Bedingungen, die nach den Erfahrungen mit der Naziherrschaft niemand mehr wollte. [...] Die PalästinenserInnen sind ebenfalls Ziel der Antiterrorstrategie. Besonders seit der Krieg begonnen hat, hat Israel die letzten Hemmungen fallen gelassen und führt einen intensivierten Krieg in Palästina. Indessen gewinnt die PFLP, die klassenbewusste Organisation Palästinas an Stärke und zeigte dies v. a. mit dem Attentat auf den erzreaktionären israelischen Tourismusminister Zeevi. Bush, Sharon und Arafat sind sich einig im Kampf gegen die PFLP. [...] Die Imperialisten führen Krieg und rüsten im Innern auf. Stolz weist Bundesrätin Metzler darauf hin, dass der CH-Staatsapparat für „Innere Sicherheit“ dem gigantischen Projekt Deutschlands in nichts nachsteht. Und trotz all dieser inneren Aufrüstung stossen sie an Grenzen, eine davon ist fassbar, indem ihre Eliten und Strategen sich nicht mehr treffen können: Die Jahresversammlung der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds vom 29./30. September wurde abgesagt; das Word Economic Forum WEF findet nicht mehr in Davos statt; die WTO-Ministerkonferenz findet in Katar in der Wüste statt, wo keine Gegendemonstrationen möglich sind. Der Kapitalismus, seine Krisen und Kriege gehen weiter.... Greifen wir sie da an, wo sie sind und nicht nur dort, wo sich ihre Eliten zu treffen gedenken. Die KapitalistInnen sind angreifbar! Für eine revolutionäre Perspektive!
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Anm. hh: Auslassungen sind durch Pünktchen in eckigen Klammern […] markiert
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Henriette Haas
Aus Platzgründen beschränken wir uns auf natürliche Personen in der Liste der AkteurInnen. Namentlich genannte AkteurInnen • WEF-Habitué Arafat • Sozialdemokrat Schily • der erzreaktionäre israelische Tourismusminister Zeevi • Bush, Sharon und Arafat • Bundesrätin Metzler
AkteurInnen ohne Namen • wir • schweiz. Profiteure • Imperialisten auf der ganzen Welt • PalästinenserInnen • GenossInnen • Imperialisten • ihre Eliten • KapitalistInnen
Unter den namentlich genannten Personen gab es fünf männliche und eine weibliche. Man bemerke, dass einzig die weibliche Magistratin den ihr zustehenden Titel „Bundesrätin“ bekommt, ohne dass ein pejoratives Adjektiv hinzugefügt worden wäre. Im Gegensatz zur Bundesrätin Metzler wird den Herren Arafat, Bush, Sharon und Schily ihr Titel als Volksvertreter gewissermaßen aberkannt. Arafat wird als „Habitué“ bezeichnet und scheint ein besonderes Hassobjekt zu sein, denn er wird – im Gegensatz zu allen anderen AkteurInnen, die dieses Privileg nur einmal genießen – mehrmals erwähnt. Innenminister Schily wird nur durch seine Parteizugehörigkeit „Sozialdemokrat“ charakterisiert. Hier ziehen wir gemäß der ersten Regel ein Modell zur Bedeutung dieses Wortes in linksextremen Kreisen hinzu, nämlich den kommunistischen Spruch von 1918: „Wer hat uns denn verraten? Sozialdemokraten!“. Daraus formulieren wir die Hypothese, dass die Bezeichnung „Sozialdemokrat“ hier als Synonym für „Verräter“ gemeint ist. Der israelische Tourismusminister Ze’evi wird zwar mit seinem Titel benannt, er ist allerdings tot. So vertritt er de facto niemanden mehr und ist als Opfer eines Anschlags ein Symbol vollkommener Ohnmacht. Zudem wurde ihm das Adjektiv „erzreaktionär“ beigesellt und sein Name wurde falsch geschrieben – ebenfalls Zeichen von wenig Respekt. Bei den nicht namentlich genannten Akteurinnen und Akteuren fällt auf, dass bei einigen die Schreibweise des großen Binnen-I verwendet wurde, um damit beide Geschlechter mit einzubeziehen: „PalästinenserInnen“, „GenossInnen“ und „KapitalistInnen“, wohingegen andere, nämlich die „schweiz. Profiteure“ und „Imperialisten“ nur in der männlichen Form genannt werden. Nach klassisch leninistischer Lehre (Kößler 2003, S. 522ff) wird der Imperialismus als das Endstadium des Kapitalismus angesehen. Imperialisten sind noch schlimmer als Kapitalisten – und sie sind gemäß unserem Manifest immer männlich, wohingegen KapitalistInnen offenbar auch weiblich sein können. Man kann dies als eine versteckte Sympathie für Frauen auslegen, denn politisch anders denkende Frauen werden in diesem Schreiben weniger stark verteufelt als Männer. Dafür spricht auch, dass „schweiz. Profiteure“ nur in der männlichen Form gebraucht werden, obwohl es zweifellos bei beiden Geschlechtern solche gibt. Die Hypothese, dass das Bekennerschreiben von einer Person redigiert wurde, die größere politische Toleranz gegenüber Frauen zeigt als gegenüber Männern, gewinnt zudem an Plausibilität, wenn man weiß, dass die führende Exponentin des „Revolutionären Aufbaus“ eine Frau ist (in den Medien auch schon als das „Mami des
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schwarzen Blocks“ bezeichnet). Gegen die Hypothese einer größeren Sympathie für Frauen könnte man berechtigterweise einwenden, dass der Sprachgebrauch bezüglich der „Imperialisten“ einfach nur die statistische Realität spiegle, da es kaum Frauen in führenden militärischen Positionen gibt, wohl aber Unternehmerinnen. Da wir den gesamten Kontext dieser versteckten Zeichen nicht vollständig kennen, tun wir jeweils gut daran, mehrere Interpretation des Inhalts gewisser Zeichen im Sinne von Thesen und Antithese stehen zu lassen.
Betroffenheit von Machtverhältnissen zwischen den Geschlechtern und Missbräuchen Anonyme Briefe haben nicht selten Interessenskonflikte und Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern zum Hauptthema. Wir berücksichtigen demnach die individuelle Perspektive der Täterschaft und versuchen, den psychosozialen Kontext in welchem dieser Konflikt stattfand, herauszufiltern. Analyse eines Leserbriefes im Namen einer unwissenden Drittperson Das folgende Schreiben wurde im Namen einer unwissenden männlichen Drittperson verfasst, die hier mit den Namen „Hans Koller“ anonymisiert dargestellt wird. „Peter Müller“ (ebenfalls ein Pseudonym) ist Redakteur einer größeren Zeitung und bekannt für seine Hintergrundreportagen, für die er aufwändige Recherchen betreibt. „Hans Koller“ ist ein Kollege von „Peter Müller“, der bei einer anderen Zeitung arbeitet und eine andere politische Linie verfolgt als dieser. Da mehrere, ähnliche Schreiben im Namen nichtsahnender Fachleute bei der Redaktion der X-Zeitung eingingen, konnte man davon ausgehen, dass „Hans Koller“ die Frage, ob er diesen Brief verfasst hätte, wahrheitsgemäß verneinte. Beispiel 3:
emotional erpresserischer Leserbrief4
Betrifft: Fall U./Zwangsprostitution/Peter Müller Ist es nicht seltsam? Der Journalist Peter Müller, „Peter der Grosse“ der den Frauenhasser U. hat auffliegen lassen, stellt fest: Zwangsprostitution gibt es gar nicht. X-Zeitung vom [...] 2009. Wie ist so etwas möglich? Die Antwort ist ganz einfach. Der Fall U. wurde ihm von eifrigen Spitzeln innerhalb der Polizei auf dem Silbertablett serviert, die ihm zuflüsterten was da so alles schief läuft. Im Fall der Prostitution hätte „Peter der Grosse“ im Milieu recherchieren müssen. Zum Beispiel am Sihlquai. Das wäre vielleicht gefährlich geworden. Ein paar Prügel, ein, gebrochenes Kinn, ein blaues Auge ... So bedient sich Peter Müller in der Literatur, die den Frauenhandel und die Zwangsprostitution negiert. [...] Denn es gibt genug Frauen die diesen „Job“ freiwillig und gern machen. Ja, Peter, es ist ein erhebendes Gefühl und es macht unheimlich Spass ungewaschene, stinkende, abartige, hässliche, neurotische und perverse Männer zwischen den Beinen zu haben ... Prostitution hat verschiedene Facetten, da gibt es die Sex-Tempel des „honoren“ I. (Globe etc.),
4 Anm. hh: Auslassungen sind durch Pünktchen in eckigen Klammern […] markiert. Alle erwähnten Namen wurden hier mit Initialen abgekürzt und anonymisiert. Der Brief wird mit Erlaubnis des Empfängers „Peter Müller“ wiedergegeben.
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den gehobenen Escort-Service, da sind die schmuddeligen Hinterhof-Salons, der Drogenstrich und eben das knallharte Sihlquai-Drecksgeschäft. Da Schweizer Frauen in diesem Milieu selten geworden sind, karrt man eben Frauen von überall her. [...] Der deutsch/tschechischen Grenze werden Prostituierte bewusst geschwängert, um sie dann schwanger den geilen Freiem anzubieten. Ein Riesengeschäft. [...] Peter schreib doch mal einen Artikel über ganz schlimme Perversionen, ich meine nicht deine und meine perversen Gedanken, sondern jene Männer die ihre schlimmen Perversionen ausleben. Solange „Peter der Grosse“ nicht vor Ort recherchiert sondern als Schreibtischtäter herumphantasiert, kann man ihn doch gar nicht ernst nehmen. [...] Was auf dem Strassenstrich wirklich läuft, Peter, bitte kläre uns auf. [...] Aber vielleicht frequentiert „Peter der Grosse“ selber ab und zu ein Puff und möchte nicht aus dem Nähkästchen plaudern Mit freundlichen Grüssen Hans Koller [handschriftlich] Die Anspielung auf den Frauenhasser bezieht sich auf den Medienfall eines zurückgetretenen Staatsdieners, der seine Ex-Freundin auf dem Internet diffamiert hatte. Der Brief war wie ein Geschäftsbrief (gemäß Regel 1: Vergleich mit Modellen) in Ort und Datum, Adresse, Überschrift, Anliegen mit logisch gegliederten Abschnitten, sowie Unterschrift aufgeteilt. Der Vergleich der Absenderadresse mit dem Telefonbuch ergab eine perfekte Übereinstimmung. In formaler Hinsicht (Regel 2) beobachten wir, dass der Brief grafisch unauffällig, sauber dargestellt und übersichtlich daherkommt. Das Datum, die Empfängeradresse und die Grußformel waren auf die gleiche Linie eingerückt. Die Darstellung zeugte von einem guten Sinn für Ordnung und Sauberkeit, sowie von Vertrautheit mit dem Verfassen von offiziellen Briefen. Nota bene, nicht alle Menschen können das; es gibt viele HandwerkerInnen, die sich trotz Lehrabschluss damit schwer tun. Die ganze Seite war dicht beschrieben. Dies könnte man (zusammen mit dem Inhalt) als Indiz dafür nehmen, dass die Täterschaft viel zu sagen hätte, wenn man sie nur fragen würde. Die Extraktion der AkteurInnen soll hier nicht nochmals vorgeführt werden, ist aber für Hinweise auf die Autorenschaft sehr ergiebig. Einerseits zeugt die leicht ironische Benennung „Peter der Große“ von einer vergangenen Bewunderung für den Journalisten. Immer wieder wird an ihn appelliert; er wird persönlich angesprochen und geduzt. Dies sind deutliche Anzeichen dafür, dass die Täterschaft den Journalisten „Müller“ persönlich kennt und tief enttäuscht von ihm ist. Andererseits wird uns sehr explizit und anschaulich die Perspektive der Sex-Workerinnen vor Augen geführt und zudem wird Insiderwissen in Sachen Prostitution und Menschenhandel preisgegeben. „Schweizer Frauen“ werden erwähnt, die in diesem Milieu selten geworden sind. Dadurch liegt die Hypothese nahe, dass die Täterschaft ebenfalls eine schweizerische Sex-Workerin ist, die sich offenbar schreibend betätigt und vom Journalisten „Peter Müller“ tief enttäuscht wurde. Die Diskussion dieser Analyse führte dazu, dass es „Peter Müller“ plötzlich wie Schuppen von den Augen fiel. Eine Bekannte von ihm erfüllte alle genannten Merkmale und er war sich sicher, dass nur sie als Täterin in Frage kam. Sie hatte ihm zweitweise interessante Informationen zukommen lassen. Er sieht sie aber als ziemlich schwierigen Charakter an und hatte sie schon mehrmals deutlich zurückgewiesen. Das Anliegen des Briefes, aufzuzeigen wie schlimm der Alltag von Prostituierten sein kann, ist an sich völlig legitim,
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aber die Art und Weise wie dieses Anliegen transportiert wurde, trägt die Züge einer emotionalen Erpressung (nach Voerman & van der Meer 2008). Tragischerweise wäre ein solches Vorgehen für diese schreibgewandte Frau gar nicht nötig, um sich Gehör zu verschaffen. Vielmehr zeugt es vom tiefen Misstrauen gegenüber Männern, das sie durch ihre Traumatisierung empfinden muss, und das sie dazu bringt, den Konflikt zwischen den Geschlechtern mit untauglichen Mitteln auszutragen und nun ihrerseits zur Täterin in Sachen übler Nachrede wird.
Das Benutzen der sexuellen Vulnerabilität Unter Vulnerabilität im soziologischen Sinn (Albernhe 1997, S. 509) versteht man die Disposition eines Menschen, die ihn leichter zum Opfer werden lässt als Andere (im Englischen „proneness to victimization“). Wie man aus der Praxis weiß, wählen sich Kriminelle ihre Opfer primär unter dem Aspekt ihrer Verletzlichkeit aus und nur sekundär nach dem durch die Straftat zu erwartenden materiellen oder emotionalen Gewinn. Diese Beobachtung wurde durch eine Befragung von inhaftierten Kriminellen erhärtet (Grayson und Stein 1981). PolitikerInnen sind auf gewisse Art und Weise sehr vulnerable Opfer, weil sie ständig in den Medien präsent sein müssen. Besonders wenn sie dort „angeschossen“ werden, weckt das die primitiven Angriffs-Instinkte potentieller Täter. Frauen sind als potentielle Opfer sexueller Gewalt vulnerabler für entsprechende Drohungen als (erwachsene) Männer. Umgekehrt sind die Angehörigen des männlichen Geschlechts heute für Verleumdungen vulnerabler geworden als früher, insofern als ihr Ansehen und ihre Stellung mit falschen Anschuldigungen betreffend sexuellen Missbrauchs vernichtet werden kann, sogar wenn die Anschuldigungen später nicht beweisbar sind oder als unwahr erkannt werden. Statistische Daten zur Wahrscheinlichkeit von Angriffen auf Parlamentarier International ist bekannt, dass Drohschreiben und Diffamierungen an Politiker außerordentlich häufig vorkommen. Der amerikanische Präsident bekommt ungefähr 3000 davon pro Jahr (Taylor 2009). Das „Exceptional Case Study Project“ des US Secret Service untersuchte das Verhalten und Denken aller 83 Personen, die eine offizielle und prominente öffentliche Figur (Präsidenten, ParlamentarierInnen, BundesrichterInnen oder prominente landesweit bekannte PolitikerInnen), direkt angegriffen hatten im Zeitraum von 1949 bis 1996. Insgesamt gab es in dieser Zeit 74 Attacken oder fast-tödliche Begegnungen. Entgegen den Erwartungen des gesunden Menschenverstands hatte keiner der 43 Mörder eine direkt an das Opfer gerichtete Drohung verlauten lassen und weniger als 10% aller 83 Angreifer (Mörder und Nicht-Mörder zusammen) hatten ihre Absichten beim Opfer oder bei der Polizei kund getan. Rein statisch gesehen, sind tätliche Angriffe auf PolitikerInnen glücklicherweise eher unwahrscheinlich.
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Analyse eines kurzen Slang-Briefes an eine Politikerin Das nächste Schreiben (Nr 4) ist typisch für viele kurze Schmähschriften an Politikerinnen und kann unter die der Kategorie Slang-Schreiben nach Voerman und van der Meer (2008) subsumiert werden. Beispiel 4:
Slang-Drohbrief an eine Politikerin5
Du verdammte Drecksau, früher oder später, werde ich Dir Deine Fotze bis zum Adamsapfel aufreissen. Nach Regel 1 sollen auch Elemente, die dem Laien als unauffällig vorkommen, durch den Vergleich mit Modellen deutlich gemacht werden, denn sie sind manchmal von erheblicher Bedeutung. So etwa in diesem Fall, wo der Brief ordentlich aussah, offenbar mit dem Computer verfasst und mit Laserdrucker ausgedruckt worden war. Das Schreiben kommt ohne Umschweife zur Sache. In der Tat sind Grußformeln und Anreden nicht notwendig, um die Botschaft einer Drohung durchzubringen, sie werden aber dennoch oft gebraucht. Mit der zweiten Regel schauen wir uns Rechtschreibung und Grammatik an. Hierbei notieren wir, dass es keine Schreibfehler gibt und dass die Kommata richtig gesetzt wurden. Hier haben wir kleine Hinweise darauf, dass die Täterschaft Konventionen durchaus einhalten kann, wenn sie will. Das Schreiben enthält leider keinerlei inhaltliche Indizien, wer als AutorIn („Du“ und „ich“) dahinter stehen könnte. Der Inhalt wird durch ein einziges Thema bestimmt: die sexuelle Diffamierung. Das Geschlecht der Geschädigten spielt also offensichtlich eine große Rolle. Den Ausdruck die „Fotze aufreißen bis zum Adamsapfel“ kann man einerseits als vulgären Ausdruck für Geschlechtsverkehr verstehen, andererseits als sadistische Verstümmelung und Ermordung. Er soll bei der Empfängerin Angst auslösen. Die beiden Wörter „Fotze“ als weibliches primäres Geschlechtsmerkmal und „Adamsapfel“ als männliches sekundäres Geschlechtsmerkmal stehen in einem biologischen Gegensatz (Regel 4). Dieser löst sich allerdings auf, wenn man annimmt, dass die Täterschaft generell die Adressatin in ihrer Weiblichkeit verletzen will, indem sie ihr neben der Beschmutzung durch die Wörter „Drecksau“ und „Fotze“ auch noch eine Vermännlichung unterstellt. Dies würde auf das Motiv des Neides auf eine beruflich erfolgreiche Frau hindeuten. Die gute grammatikalische Form und die saubere Darstellung stehen im Widerspruch zum vulgären Inhalt. Das Bild der gut organisierten und knappen Vorgehensweise sowie der korrekte Darstellung und Rechtschreibung lässt nun eine Hypothesenbildung zu. Wir können nämlich annehmen (ohne uns allerdings darauf zu versteifen), dass es sich um jemanden handelt, der ökonomisch handelt, d.h. der oder die zur Sache kommt und über eine gewisse Direktheit verfügt, sowie im Deutschen sattelfest ist. Es könnte sich etwa um eine(n) kaufmännische(n) Angestellte(n) handeln. Das tatsächliche Aufreißen des Bauches von den Geschlechtsteilen hinauf bis zum Hals kommt in der mitteleuropäischen Kriminallandschaft äußerst selten vor, vielleicht einmal im Jahrzehnt pro Region mit 5 Millionen Einwohnern. Nur äußerst schwer gestörte Sexual5
Anm. hh: Brief mit Erlaubnis der zuständigen Behörde abgedruckt.
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mörder sind psychisch zu solchen Taten überhaupt fähig. Es wäre zudem fraglich, ob die Schreiberschaft Nr 4 über die für das Aufschlitzen notwendige körperliche Kraft und Metzger-Technik verfügt. Kurz und gut, die Androhung des Aufschlitzens ist lächerlich und leer. Hingegen ist eine solche Ankündigung als reine Fantasie durchaus beliebt. Ein Feldversuch mit Studierenden, die gebeten wurden, einen möglichst glaubhaften und erschreckenden anonymen Drohbrief an die Verfasserin dieses Artikels zu schreiben (um diese Briefe dann im Unterricht zu analysieren), hat ergeben, dass auch Frauen zum Mittel der sexuellsadistischen Fantasien zwecks Einschüchterung anderer Frauen greifen. Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen hatten die Studierenden das genüssliche Ausmalen einer sadistisch-perversen Idee gewählt, weil sie sich davon erhofften, einen besonderen Schrecken einjagen zu können. Zum anderen wurde das sexualisierte Element zwecks Verschleierung der weiblichen Identität der Täterschaft eingeführt. Es kann also eine Kombination von emotionalen und instrumentellen Motiven hinter sexuell-sadistischen Drohungen stehen. Das Schreiben 4 zeichnet sich durch seinen Minimalismus aus, was eigentlich einen klugen Modus operandi darstellt, denn je weniger geschrieben wird, desto weniger psychologische Indizien werden hinterlassen. Wenn wir dieses Schreiben mit den Schreiben 3 und 5 vergleichen, wo die Täterschaft viele verschiedene Themen, die sie beschäftigen, aufgreift, sieht man, dass es hier um weniger tiefgehende individuelle psychische Probleme geht, sondern um Neid, sowie um Geltungs- und Machtansprüche. Wir haben keinerlei Hinweise auf psychische Störungen. Es ist daher anzunehmen, dass die Täterschaft sozial und psychisch unauffällig ist und im Drohbrief gewissen unschönen Seiten ihres Charakters freien Lauf lässt, die sie ohne das Siegel der Anonymität wohl zu verbergen weiß.
Attributionen und Projektionen im Text Analyse eines längeren Drohschreibens an eine Politikerin Beim folgenden Schreiben handelt es sich um einen längeren konfusen Drohbrief an eine Politikerin, gegen die gerade eine Medienkampagne im Gange war. Die entsprechenden (genauso wirren) Stellen wurden aus dem Brief entfernt.
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Henriette Haas Längerer, konfuser Drohbrief an eine Politikerin6
Im Original war der Brief von Hand geschrieben mit Notizen kreuz und quer übers ganze Blatt verteilt. Die Tatsache, dass bei den quer stehenden Bemerkungen der rechte Winkel zur Haupttextrichtung eingehalten wurde, lässt darauf schließen, dass früher ein gewisser Ordnungssinn vorhanden war, d.h. die Person ist wahrscheinlich nicht jemand, der schon seit langer Zeit vollkommen chaotisch und desorganisiert ist. Viele Wörter und Satzteile sind unterstrichen, fett geschrieben, oder mit Ausrufezeichen geschmückt. Diese Merkmale findet man oft in anonymen Briefen, ebenso wie bei QuerulantInnen. Man könnte sie psychologisch dahingehend interpretieren, dass der Schreiberling sich nicht ernst genommen fühlt, und deshalb mit grafischen Mitteln versucht, um jeden Preis die Aufmerksamkeit der Leser zu gewinnen, aber gleichzeitig von einer gewissen Hoffnungslosigkeit getragen ist, dass ihm das gelingen könnte. Auf dem Blatt ist dreimal ein fettes schwarzes Kreuz-Symbol notiert. Es könnte für „Tod“ stehen oder für das christliche Kreuz. Im Kontext der Drohung macht das Christus-Kreuz allerdings wenig Sinn. Das D im Wort „Dirtbag“ und das C in „Candidate“ sind in gotischer Schrift als Ornamente geschrieben. Dirtbag ist zudem groß geschrieben. Dies hat etwas Manieriertes an sich, das so gar nicht zum aggressiven Tonfall des Briefes passt. Nach dem Ausdruck „blow up“ kommt eine kryptische Botschaft in Form eines „D!“ in Klammern. Dabei bleibt unklar, was damit gemeint ist, ob es sich zum Beispiel um eine Abkürzung für das Wort „Death“ handelt. Auf der drittuntersten Zeile neben „signed Kreuzsymbol“ steht die Abkürzung: „C. K.“ Die Bedeutung der Abkürzung ist unklar, man könnte sie aber versuchsweise als die Initialen der Täterschaft auffassen, ohne sich auf diese Interpretation als einzig Mögliche festlegen zu wollen. Voerman und van der Meer (2008) wiesen darauf hin, dass verwirrte Schrei6
Anm. hh: Brief mit Erlaubnis der zuständigen Behörde abgedruckt.
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berlinge besonders häufig Spuren hinterlassen, die direkt zu ihrer Identifizierung führen. Bei den Abkürzungen und Symbolen stellt sich die Frage, ob die Täterschaft realisiert, dass ein Leser gar nicht wissen kann, was diese kryptischen Zeichen wohl bedeuten. Im Brief hatte es zudem mehrere Wortneubildungen wie „HQ-cells“ und Andere, die hier weggelassen wurden. Unverständliche Neologismen, die nicht im Sinne einer Ironie oder eines Witzes kreiert wurden, sind Zeichen einer Denkstörung, d.h. Symptom einer schwereren Psychopathologie, z.B. einer Geisteskrankheit oder einer Demenz. Die wirre Art, in der die normale Form eines Briefes gar nicht mehr eingehalten werden kann, zeugt von Kontrollverlusten. Zusammen mit den aggressiven Inhalten, kann man vermuten, dass solches auch im Alltag der schreibenden Person immer wieder passiert und dass er/sie öfters ausfällig wird. Der Ausdruck „blow up“ (explodieren) ist doppeldeutig, er kann heißen in die Luft sprengen, oder einen Wutanfall haben. Es könnte daher gut sein, dass die Täterschaft voller Wut ist und häufig selber explodiert. Die Wahl der beiden Wörter „lethal“ und „situative“ ist auf dem Hintergrund des restlichen Briefes auffällig. Sie stammen eher aus einem akademischen Fachjargon, was aber wiederum im Gegensatz zum ganzen aggressiven Tonfall des Briefes steht. Die beiden Wörter könnten darauf hindeuten, dass die Täterschaft sich in medizinischer Behandlung befindet, wo sie sie möglicherweise aufgeschnappt hat. Die Täterschaft verwendet die Verben „blow up“, „have lots of time“, aber ohne die zugehörigen Pronomina zu gebrauchen. Benennung der Adressatin • Voller Name • Feminist dirtbag • Satanic woman • Candidate
Benennung der Täterschaft • Verstecktes Subjekt, das HQZellen in die Luft sprengen will • Verstecktes Subjekt, das viel Zeit und Geduld hat
Andere Akteure • American people • C. K.
Aus der Abfolge der Namen, die der Adressatin zugeteilt werden, ersieht man, dass das Thema „mächtige Frauen“ eine zentrale Rolle spielt. Eine satanische Frau steigt ins Bewusstsein des Schreiberlings auf; eine Frau mit unbegrenzter Macht aber ohne Seele, die als Kandidatin für Wahlen aufgestellt worden ist. Liste der Abfolge der Themen • Kreuzsymbol • Beschimpfung als „dirtbag“ und Feministin (kohärent) • Blowing up im doppelten Sinn • Sehr viel Zeit und Geduld haben • Inkohärente Beschimpfungen im Zusammenhang mit der Medienkampagne • Beschimpfung mit religiösem Unterton als Satansfrau • Warnung und Tod • Betrug am Volk • letale situative Abrechnung (Tod) • Kreuzsymbol
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Im ganzen Schreiben kommt als wiederkehrendes Thema der „Tod“ vor, nicht zuletzt in der religiösen Anspielung auf den Satan. Dies alles sind Zeichen dafür, dass sich der Schreiber intensiv mit dem Tod auseinandersetzen muss, d.h. dass er möglicherweise an einer schweren Krankheit leidet oder schwer depressiv ist. Man beachte auch, dass sich ein weiteres Todessymbol gleich neben den kryptischen Initialen befindet. Die Idee des Sprengstoffattentats ist eine typisch männliche Idee, es gibt in der Kriminalgeschichte (außerhalb des organisierten Terrorismus) keine weiblichen Bombenlegerinnen. „Viel Zeit haben“ ist ein Merkmal von Nicht-Berufstätigen und „viel Geduld haben“ eher ein Merkmal für ältere Personen. In Frage kommt also vor allem ein älterer oder invalider Rentner. Die Benutzung des Wortes „feminist“ als Schimpfwort deutet auf eine konservative Gesinnung und wird ebenfalls eher von der älteren Generation gebraucht. Das zweite wiederkehrende Haupt-Thema betrifft die Frauenrechte und die vermeintlich unbegrenzte Macht von Frauen (satanic woman, decide over life and death). Während Beschimpfungen als Feministin durchaus auch von Frauen stammen können, ist die Attribution von Allmacht an die Frau eher als ein typisches Zeichen von männlicher Angst vor Frauen zu werten, denn Frauen halten ihre Geschlechtsgenossinnen nicht für so mächtig. Der Mann könnte in emotionaler oder anderweitiger Abhängigkeit von einer Frau leben. Zum Beispiel könnte er pflegebedürftig sein oder zumindest im Alltag sehr unselbstständig. Analog zum Beispiel 4 des Leserbriefs, der wahrscheinlich von einer schwer traumatisierten Person verfasst wurde, könnte auch hier ein frühkindliches Trauma die Biografie des mutmaßlichen Täters geprägt haben. Die Gesamtheit der Ungereimtheiten und Merkwürdigkeiten in diesem Elaborat, lässt uns vermuten, dass die Täterschaft ihre Störung nicht verbergen kann und es wahrscheinlich auch zu aggressiven Kontrollverlusten in der Öffentlichkeit kommt.
Fazit Das Geschlecht als zentralstes Identitätsmerkmal der Menschen und die nicht immer einfachen Beziehungen zwischen den Geschlechtern stellen ein prominentes Thema anonymer Briefe dar, unabhängig davon, ob diese an private Bekannte oder an Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens gerichtet sind. Mit den fünf Regeln des systematischen Beobachtens kann man die gender-relevanten Aspekte auf einfache Art und Weise aus einem Text herausschälen und daraus erste plausible Hypothesen ableiten. Dies ist ein erster, unabdingbarer Arbeitsschritt auf dem Weg zur Aufklärung und darf nicht etwa mit einer Beweisführung verwechselt werden. Technisch gesehen manifestieren sich die Gender-Issues erstens in der Bedeutung der verwendeten Substantive, Adjektive und Symbole. Zweitens können wir den Text senkrecht lesen (Idee nach Sapir 1999) und die genannten Akteure, ebenso wie die angesprochenen Mikro-Themen mit Listen herausfiltern. Weiter liefern uns die Pronomina vielerlei Indizien, sowie die Modalwörter. Zuletzt gibt es innerhalb gewisser Grenzen auch die Möglichkeit, anhand statistischer Erhebungen aus der Linguistik, gewisse Rückschlüsse auf das Geschlecht der Täterschaft zu ziehen.
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15. Sportsoziologie Hat Führung ein Geschlecht? – Karrieren und Barrieren in ehrenamtlichen Entscheidungsgremien des organisierten Sports Sabine Radtke
Einleitung In Deutschland sind mehr als 50% der Bevölkerung im Sport aktiv und etwa 35% sind Mitglieder eines Sportvereins. Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) ist die regierungsunabhängige Dachorganisation des deutschen Sports und mit rund 27 Millionen Mitgliedern in mehr als 91.000 Sportvereinen die größte Personenvereinigung Deutschlands und gleichzeitig die größte Sportorganisation der Welt. Als größter deutscher Verband im Bereich des Dritten Sektors ist der Sport ein wichtiges gesellschaftliches Aktionsfeld, in das große Summen öffentlicher Mittel investiert werden. Mitgliedsorganisationen im DOSB sind 16 Landessportbünde, 61 Spitzenverbände sowie 20 Sportverbände mit besonderen Aufgaben. Die Zahl der Frauen, die in Deutschland am organisierten Sport teilnehmen, steigt seit Jahrzehnten kontinuierlich an. Heute sind rund zehn Millionen Mädchen und Frauen in Vereinen des DOSB organisiert. Damit ist der DOSB der bundesweit größte Dachverband für Mädchen und Frauen. In acht der 61 Spitzenverbände ist die Zahl der weiblichen Mitglieder höher als die der Männer (Deutscher Olympischer Sportbund, 2008).1 In den Führungsgremien sowohl an der Sportvereinsbasis als auch in den Spitzensportverbänden und Landessportbünden bilden Frauen hingegen noch immer die Minderheit. In Sportvereinen sind lediglich rund 19% der ehren- und hauptamtlichen Führungspositionen, die mit einem hohen Grad an Verantwortung und Außenwirkung verbunden sind, von Frauen besetzt. Zwei von 42 Vereinspräsidenten und sieben von 96 Vereinsvorsitzenden sind weiblich (DSB-Presse, 2001).2 Eine in 2003 durchgeführte quantitative Erfassung der Geschlechterverteilung in den regionalen und nationalen Führungsgremien des organisierten Sports bestätigt diese Ergebnisse (Meck, 2004). Der Frauenanteil in den ehrenamtlich geführten erweiterten Präsidien der Landessportbünde betrug zum Zeitpunkt der Datenerhebung 20.1%, in den Präsidien der Spitzenverbände hingegen lediglich 10.1%. Drei Spitzenverbände (Aikido,
1 Reiten (Frauenanteil: 73%), Turnen (69%), Sportakrobatik (69%), Tanzen (67%), Moderner Fünfkampf (63%), Schwimmen (52%), Behindertensport (51%), Volleyball (51%) 2 Die Angaben beziehen sich auf die 157 Mitgliedsvereine des Freiburger Kreises, der Arbeitsgemeinschaft größerer deutscher Sportvereine mit einer Mitgliederzahl von mindestens 2.500 (West) bzw. 1.500 (Ost).
G. Steins (Hrsg.), Handbuch Psychologie und Geschlechterforschung DOI 10.1007/978-3-531-92180-8_15, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010
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Schwimmen, Triathlon) sowie der Landessportbund Rheinland-Pfalz werden aktuell (2009) von einer Frau geführt.
Erkenntnisinteresse und leitende Forschungsfragen Die Unterrepräsentanz von Frauen in den ehrenamtlichen Führungsgremien des organisierten Sports war Ausgangspunkt für die Durchführung des Forschungsprojekts „Frauen an die Spitze“ an der Freien Universität Berlin.3 Inhalt des Projekts war die Untersuchung der Geschlechterverteilung in ehrenamtlichen Führungspositionen des Sports, die Ursachenanalyse für die Marginalisierung der Frauen sowie die Entwicklung von Maßnahmen4 zur Erhöhung des Frauenanteils in den Führungspositionen von Sportverbänden. Als theoretischer Bezugsrahmen dienten Ansätze konstruktivistischer Geschlechtertheorien (u.a. Connell, 2002; Lorber, 1994, 2000, 2005) sowie der Arbeitsmarkt- und Organisationssoziologie (u.a. Achatz, Fuchs, Stebut, & Wimbauer, 2002; European Commission, 2006; Siltanen, Jarman, & Blackburn, 1995).5 Angesichts der stetig wachsenden Zahl sportaktiver Frauen stellte sich die Frage, warum sich diese Entwicklung nicht auch in den Führungspositionen des Sports widerspiegelt. Gründe für die Unterrepräsentanz der Frauen an den Schalthebeln der Macht im Bereich des organisierten Sports lassen sich einerseits auf der Ebene der Organisationsstrukturen, andererseits auf der Ebene der Individuen suchen. Insofern galt es u.a. zu untersuchen, ob Frauen in den Führungsgremien nicht erwünscht sind, ob nicht genug in die Gewinnung und Förderung von Frauen investiert wird, ob Frauen nicht über die notwendigen Qualifikationen und Kompetenzen verfügen oder ob es zu wenig Interessentinnen gibt. Im Rahmen des Forschungsprojekts wurden insgesamt acht empirische Untersuchungen durchgeführt (vgl. Doll-Tepper, Pfister & Radtke, 2006). Im vorliegenden Beitrag werden ausgewählte Ergebnisse aus einer quantitativen Befragung sowie zwei Interviewstudien vorgestellt, wobei folgende Forschungsfragen im Fokus der Betrachtung stehen:
Sind männliche und weibliche Führungskräfte des organisierten Sports durch sozialstrukturelle Auffälligkeiten gekennzeichnet? Werden Männer und Frauen im Laufe ihrer Ehrenamtskarriere mit unterschiedlichen Barrieren und Hindernissen konfrontiert?
3 Das Forschungsprojekt mit einer Laufzeit von vier Jahren (2001-2005) wurde vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) gefördert. 4 Die Entwicklung von Maßnahmen zur Personalentwicklung von Frauen auf der Führungsebene des Sports wurde in Kooperation mit dem so genannten Praxisprojekt, das zunächst beim Nationalen Olympischen Komitee (NOK), anschließend beim Deutschen Sportbund (DSB) angesiedelt war, durchgeführt (dies erfolgte vor der NOK-DSB-Fusion in 2006). Das Praxisprojekt beinhaltete die Beratung von Verbänden bei der Durchführung von Mentoring- und Coachingprogrammen sowie bei der Netzwerkbildung. Ferner sollte die Strategie des Gender Mainstreaming in die Sportorganisationen transportiert werden. Abschließend wurden die Personalentwicklungsmaßnahmen im Rahmen des Wissenschaftsprojekts evaluiert. 5 Einen zusammenfassenden Überblick gibt Pfister (2004).
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Unterscheiden sich Männer und Frauen in ihrem Umgang mit Konflikten, die ihnen im Laufe ihrer Ehrenamtskarriere begegnen?
Untersuchungsmethodik Qualitative Interviews mit Frauen in Führungspositionen des organisierten Sports Ziel einer ersten qualitativen Interviewstudie war die Generierung von Informationen über unterschiedliche Lebenswege zum und im Ehrenamt von Frauen, um in Erfahrung zu bringen, wie weibliche Führungskräfte das Ehrenamt in ihren Lebenszusammenhang integrieren, von welchen Motivationen sie geprägt sind, ob es Barrieren beim Aufstieg gab bzw. gibt und inwieweit die Frauen Aufstiegsambitionen haben. Kriterium für die Auswahl der Interviewpartnerinnen war deren Vorstandsposition in Sportverbänden auf Landes- oder Bundesebene (in zwei Fällen auf europäischer Ebene) sowie in Landessportbünden. Bei der Auswahl der Gesprächspartnerinnen wurde darauf geachtet, Frauen mit unterschiedlichen Lebenswegen zu berücksichtigen, um ein möglichst umfangreiches Spektrum an möglichen Biographiemustern dokumentieren zu können. Zwischen Dezember 2001 und Juni 2002 wurden 23 Interviews geführt. Als Gesprächsform wurde das teilstandardisierte, problemzentrierte Leitfadeninterview gewählt. Zehn der 23 Interviews fanden in der face-to-face-Siuation statt. Aus Zeit- und Kostengründen wurde im Verlauf der Studie zu Telefoninterviews übergegangen, wobei im Rahmen einer Testphase die Telefonsituation auf ihre Vergleichbarkeit mit der face-to-face-Situation geprüft wurde. Die im Vergleich zur face-to-face-Situation längere Gesprächsdauer in der Telefonsituation deutete darauf hin, dass die Interviewpartnerinnen die Telefonsituation nicht als hemmend empfanden, sondern vielmehr – evtl. ob der größeren Anonymität – offener über ihre Lebenssituation berichteten. Die Dauer der Interviews differierte zwischen 60 und 180 Minuten. Die transkribierten Interviews wurden nach Mayring (2003) anhand von inhaltsanalytischen, computergestützten Verfahren ausgewertet. Die Aufbereitung, Codierung sowie Analyse der Texte fanden mit Hilfe des Software-Programms MAXqda statt. Quantitative Befragung der Präsidiumsmitglieder von Sportverbänden auf regionaler und nationaler Ebene Während der Durchführung der qualitativen Interviews kristallisierte sich heraus, dass nur eine Befragung von Frauen und Männern Aufschluss über unterschiedliche, möglicherweise geschlechtsspezifische Lebenswege und -situationen, aber auch Einstellungen und Barrieren bezüglich der Ehrenamtslaufbahn geben kann. Daraus folgend wurde 2002 eine Vollerhebung der männlichen und weiblichen Präsidiumsmitglieder der Spitzenverbände, der Landessportbünde sowie des Deutschen Sportbundes (DSB) und des Nationalen Olympischen Komitees (NOK) durchgeführt. Die in der Untersuchung berücksichtigten Führungskräfte mussten zwei Kriterien aufweisen: Sie mussten mit Sitz und Stimme Mitglied im (erweiter-
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ten) Präsidium/Vorstand6 eines Spitzensportverbands, eines Landessportbundes, des DSB oder des NOK sein, und sie mussten ehrenamtlich tätig sein. Es ergab sich daraus folgend, wie in Tabelle 1 dargestellt, eine Population von 697 Präsidiumsmitgliedern, darunter 591 Männer (84.4% der Population) und 106 Frauen (15.2%). Als Datenerhebungsinstrument diente ein Fragebogen, der im Rahmen eines Pretests unter den Mitgliedern des erweiterten Vorstands eines Berliner Ruderclubs überprüft und daraus folgend optimiert wurde. Der Fragebogen umfasst 20 Seiten und 103 Fragen zur Ehrenamtslaufbahn, zur Sportkarriere und beruflichen Laufbahn, zur Familie und Soziodemographie. Die Komplexität der Befragung ist durch die Annahme gerechtfertigt, dass ehrenamtliches Engagement nur vor dem gesamtbiographischen Hintergrund der beteiligten Individuen vollständig zu verstehen ist. Es handelt sich in erster Linie um geschlossene Fragen mit Antwortvorgaben. Insgesamt wurden 413 auswertbare Fragebögen zurückgeschickt, was einer Rücklaufquote von 59.3% (vgl. Tabelle 1) entspricht. Da die errechnete Mindeststichprobengröße bei N = 341 liegt, lässt die vorliegende Stichprobengröße bezogen auf die Grundgesamtheit (N = 697) repräsentative Aussagen zu. Im Januar 2003 wurden sämtliche Fragebögen in das Statistikprogramm SPSS für Windows eingegeben.7 Im Anschluss erfolgte die Datenbereinigung sowie die statistische Datenanalyse. Tabelle 1:
Versand und Rücklauf der Fragebögen, differenziert nach Geschlecht
Population (N) Population (%) Rücklauf/Stichprobe (N) Rücklauf/Stichprobe (%) Rücklaufquote (% von Geschlecht)
Frauen 106 15.2 72 17.4 67.9
Männer 591 84.8 341 82.6 57.7
Gesamt 697 100 413 59.3
Qualitative Interviews mit männlichen und weiblichen „Drop-outs“ Im Verlauf des Forschungsprozesses wurde deutlich, dass zur Analyse möglicher Barrieren in der Ehrenamtskarriere Personen befragt werden müssen, die heute keine Führungsposition mehr innehaben, sondern die in der Vergangenheit eine ehrenamtliche Karriere begonnen haben, diese aber vor dem ursprünglich anvisierten Karrierehöhepunkt abbrachen. Der Drop-out wird dabei als ein zeitlicher Prozess verstanden, in dessen Verlauf eine Person Phasen der Veränderung durchläuft. Verschiedene Faktoren bzw. Ereignisse lassen die Person zu einem bestimmten Zeitpunkt beschließen, die bisherige Tätigkeit abzubrechen. Um seitens der Forschungsgruppe geschlechtsspezifische Unterschiede in den Biographien aufzeigen zu können, müssen darüber hinaus bei der Befragung sowohl Frauen als auch Männer involviert sein. Damit die Tendenzen, die sich in der quantitativen Befragung ab6 Der Begriff „Präsidium“ wird im deutschen Sportverbandssystem nicht einheitlich gebraucht. Einige Verbände werden nicht von Präsidien, sondern von Vorständen geführt. In diesem Beitrag werden die Begriffe synonym verwendet. 7 Die Datenauswertung erfolgte mit Hilfe der SPSS (Statistical Package for the Social Sciences) Version 12.0.
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zeichneten, vertieft analysiert und inhaltlich genauer bestimmt werden können, empfiehlt sich die Anwendung der qualitativen Methodik. Im Interview können Kategorien behandelt werden, die in standardisierten Fragebögen nicht ermittelbar sind, da sie auf dem subjektiven Wissen und den Einschätzungen der Befragten beruhen. Die Suche nach potenziellen Interviewpartnerinnen bzw. Interviewpartnern wurde mittels einer E-Mail an die dem Projektteam bekannten Führungskräften des organisierten Sports eingeleitet. Diese Kontaktpersonen wurden nach der Methode des Schneeballverfahrens gebeten, der Forschungsgruppe ihnen bekannte ehemalige Funktionärinnen und Funktionäre zu nennen, die aus einer ehrenamtlichen Position einer Sportorganisation auf Landes- oder Bundesebene ausgeschieden sind. Bedingung war, dass die Entscheidung der entsprechenden Person zum Drop-out nicht allein aus Alters- oder Gesundheitsgründen getroffen wurde. Auf diese Weise erhielten wir die Daten von 16 Personen, die der Definition eines Drop-outs entsprechen und bereit waren, sich für ein Interview zur Verfügung zu stellen. Es handelt sich um neun Frauen und sieben Männer (vgl. Tabelle 2). Tabelle 2:
Arbeitsebene der männlichen und weiblichen ehemaligen Führungskräfte (N = 16)
Geschlecht Männer (N = 7) Frauen (N = 9)
Landesebene (N = 10) 5 5
Bundesebene (N = 6) 2 4
Insgesamt gestaltete es sich schwieriger, Informationen über männliche als über weibliche Drop-outs zu erhalten. Im Gespräch waren die Männer der Stichprobe in ihrer Mehrheit weniger kommunikativ und einsilbiger als die Frauen. Einige zeigten sich vor allem gegenüber Fragen nach persönlichen Gefühlen unwillig. Die durchschnittliche Interviewlänge lag bei 100 Minuten, das Maximum bei 225 Minuten. Die Gespräche mit den Frauen dauerten aufgrund der oben beschriebenen größeren Offenheit im Durchschnitt länger als die mit den Männern der Stichprobe. Die transkribierten Interviews wurden nach Mayring (2003) anhand von inhaltsanalytischen, computergestützten Verfahren ausgewertet. Die Aufbereitung, Codierung sowie Analyse der Texte fanden mit Hilfe des Software-Programms MAXqda statt.
Ausgewählte Ergebnisse und Interpretation Im Folgenden werden zunächst ausgewählte Ergebnisse der quantitativen Befragung wiedergegeben. Um die bestehenden Geschlechterhierarchien in den Führungsgremien des organisierten Sports zu beleuchten und zu prüfen, ob neben der vertikalen Segregation der Geschlechter eine horizontale Segregation besteht, wird die geschlechtsspezifische Verteilung der Ämter bzw. Zuständigkeitsbereiche in den Präsidien dargestellt. Anschließend werden ausgewählte sozialstrukturelle Charakteristika der amtierenden männlichen und weiblichen Führungskräfte aus den Bereichen Soziodemographie, Berufs- und Sportbiogra-
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phie präsentiert. Am Beispiel von Gesprächsauszügen8 aus den beiden oben beschriebenen Interviewstudien werden anschließend Barrieren und Konfliktsituationen, denen die Befragten im Verlauf ihrer Ehrenamtskarriere begegnet sind, in den Fokus der Betrachtung gestellt. Des Weiteren werden Handlungsstrategien, die die männlichen und weiblichen (ehemaligen) Führungskräfte angeben, im Konfliktfall angewendet zu haben, diskutiert. Geschlechtsspezifische Verteilung von Ämtern im Präsidium In 96.6% der Fälle ist das Präsidentenamt von einem Mann ausgefüllt. Außer im Frauenressort überwiegen in allen Zuständigkeitsbereichen die Männer. Unter den Ehrenpräsidenten bzw. -mitgliedern findet sich keine einzige Frau. Auch die Tätigkeitsfelder „Presse/Medien/ Öffentlichkeitsarbeit“ sowie „Natur/Umwelt/Gewässer“ sind reine Männerdomänen. Die Frauen der Stichprobe leiten in erster Linie Abteilungen, die am ehesten dem traditionellen Frauenbild entsprechen wie das Ressort „Mädchen/Frauen/Familie“ – ein Drittel der weiblichen Präsidiumsmitglieder sind hier engagiert. Eine weitere größere Gruppe, nämlich 10.1% der Frauen, steht dem Bereich „Jugend- und Schulsport“ vor. Ein Anzeichen dafür, dass die weiblichen Führungskräfte jedoch durchaus daran interessiert und in der Lage sind, auch so genannte harte Ressorts zu leiten (d.h. Ressorts, die mit Macht und Einfluss verbunden sind), ist die Tatsache, dass die zahlenmäßig drittgrößte Gruppe der befragten Frauen, nämlich 8.7%, sich für den Bereich „Recht/Finanzen/Marketing/ Sponsoring“ verantwortlich zeichnen. Die meisten Männer der Stichprobe sind im Präsidentenamt tätig (16.9% der Männer) oder leiten die Ressorts „Finanzen“ (13.0%) oder „Leistungssport“ (10.9%). Insgesamt spiegelt sich in der Verteilung der Geschlechter auf die unterschiedlichen Präsidiumspositionen die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auftretende Geschlechtersegregation wider. Frauen und Männer besetzen schwerpunktmäßig unterschiedliche hierarchische Ebenen und dominieren zudem in je unterschiedlichen Wirtschaftbereichen und Berufsfeldern (vgl. Pfister, 2004; European Commission, 2006).9 Zur Soziodemographie Altersstruktur Die auf der Führungsebene des organisierten Sports engagierten Menschen sind durchschnittlich 55 Jahre (M = 54.9; SD = 10.9) alt. Wenn die Altersspanne der Führungskräfte im Sport auch sehr groß ist (27 bis 90 Jahre), so fällt auf, dass die Gruppe der über 65-jährigen Personen dreimal so groß ist wie die der unter 35-Jährigen. Ein Engagement auf der Füh8 Die Interviewauszüge der ersten Interviewstudie sind nummeriert und mit „WF“ (weibliche Führungskraft) gekennzeichnet. Die Interviewauszüge der Drop-out-Studie sind ebenfalls nummeriert und mit „DW“ (Drop-out weiblich) bzw. „DM“ (Drop-out männlich) gekennzeichnet. 9 Für das Feld des organisierten Sports ist hinzuzufügen, dass das Nichtvorhandensein von Amtszeitbegrenzungen das Aufbrechen alter Strukturen erschwert. Viele amtierende Präsidiumsmitglieder geben nur ungern ihren Posten ab und verhindern damit den Aufstieg von Nachwuchsführungskräften. So sind innerhalb unserer Untersuchungsgruppe 38.6% der Frauen und 49.4% der Männer länger als sechs Jahre im Amt. 30 Männer (9.0%) und drei Frauen (4.3%) amtieren seit mehr als 15 Jahren.
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rungsebene eines Sportverbands spricht insofern offensichtlich vor allem Ältere an bzw. anders ausgedrückt: Die Ausübung eines Ehrenamts in den Führungsgremien des organisierten Sports ist am ehesten mit den Lebensbedingungen älterer Menschen kompatibel. Je älter die Gruppe ist, desto geringer der Anteil der weiblichen Führungskräfte. In der Gruppe der 76- bis 90-Jährigen finden sich nur Männer (vgl. Tabelle 3). Die unterschiedliche Verteilung der Geschlechter auf die einzelnen Altersgruppen ist als hoch signifikant einzustufen (2 =18.78, df = 5, p = 0,002.00).10 Tabelle 3:
Altersverteilung der Untersuchungsgruppe, differenziert nach Geschlecht (N = 410)
Altersgruppen 27 bis 30 Jahre 31 bis 40 Jahre 41 bis 50 Jahre 51 bis 60 Jahre 61 bis 70 Jahre 71 Jahre und älter Gesamt
Anzahl (N) % von Geschlecht Anzahl (N) % von Geschlecht Anzahl (N) % von Geschlecht Anzahl (N) % von Geschlecht Anzahl (N) % von Geschlecht Anzahl (N) % von Geschlecht Anzahl (N)
Frauen 3 4.2 9 12.7 25 35.2 22 31.0 10 14.1 2 2.8 71
Männer 3 0.9 31 9.1 64 18.9 124 36.6 94 27.7 23 6.8 339
Gesamt 6 1.5 40 9.8 89 21.7 146 35.6 104 25.4 25 6.1 410
Der arithmetische Mittelwert des Alters der männlichen Präsidiumsmitglieder liegt bei M = 55.85 Jahren (SD = 10.86), ihre Kolleginnen sind mit einem arithmetischen Mittel von M = 50.38 Jahren (SD = 10.52) hoch signifikant jünger (2 = 14.58, df = 1, p = 0,000.00). Die ungleiche Verteilung der Geschlechter auf die verschiedenen in der Untersuchungsgruppe vertretenen Generationen ist auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungszusammenhänge zurückzuführen: Da vor einigen Jahrzehnten sowohl das Bildungsniveau der Frauen als auch deren Anteil an der Erwerbsbevölkerung wesentlich niedriger war als heute, war damals auch die Chance für Frauen, eine ehrenamtliche Führungsposition im Sport zu besetzen, wesentlich geringer. Zu einer Zeit, als die heute amtierenden männlichen Präsidiumsmitglieder ihre Ehrenamtslaufbahn auf der Sportvereinsebene begannen, war den Frauen der Zugang zu derartigen Ämtern in den meisten Fällen somit verwehrt. Familienstand Die Zahl der Frauen, die angeben, ohne Lebenspartner/-in zu leben, ist mit 19.7% dreimal so hoch wie die Zahl der Männer mit 6.3% (2 = 12.41, df = 1, p = 0,001.00). Während knapp
In der vorliegenden Arbeit werden alle Tests auf dem 5%-Signifikanzniveau durchgeführt. Das heißt, die Nullhypothese wird abgelehnt, wenn die Irrtumswahrscheinlichkeit (p-Wert) kleiner als .05 ist.
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86.6% der Männer verheiratet sind, ist dies lediglich bei knapp 56.9% der Frauen der Fall. Entsprechend höher ist der Anteil der Frauen an den Ledigen, den Geschiedenen sowie den Verwitweten (vgl. Tabelle 4). Tabelle 4:
Familienstand in Abhängigkeit vom Geschlecht
Familienstand
ledig verheiratet geschieden verwitwet
Gesamt
Anzahl % von Geschlecht Anzahl % von Geschlecht Anzahl % von Geschlecht Anzahl % von Geschlecht Anzahl
Frauen 16 22.2 41 56.9 11 15.3 4 5.6 72
Männer 24 7.1 292 86.6 16 4.,7 5 1.5 337
Gesamt 40 9.8 333 81.4 27 6.6 9 2.2 40
Die Familiensituation der weiblichen Führungskräfte im Sport entspricht tendenziell der Situation der Frauen in so genannten Hochstatusberufen. Grote, Hoff, Wahl und Hohner (2001) stellen in ihrer Studie über Berufsverläufe von Frauen und Männern in den hoch qualifizierten Berufen der Medizin und Psychologie fest, dass es für Ärzte einfacher ist, Partnerinnen zu finden, die ihnen im außerberuflichen Bereich für ihren belastenden Beruf den Rücken freihalten, für den Haushalt sorgen und deshalb unter Umständen selbst beruflich zurückstecken. Ärztinnen leben dagegen häufiger ohne Partner. Offensichtlich ist es für sie schwieriger, Partner zu finden, die bereit sind, sich ihrerseits privat auf eine berufstätige Frau einzustellen. Bischoff (1990, S. 35 f.) konstatiert für das Jahr 1986 in Bezug auf Führungskräfte der Wirtschaft, dass 89% der Männer verheiratet sind oder mit einer festen Lebenspartnerin zusammen leben, dies jedoch nur für 58% der Frauen gilt. 1991 lebten 68% der befragten weiblichen Führungskräfte der Wirtschaft in einer festen Bindung und 1998 waren dies bereits 75%, also drei Viertel der befragten Frauen (Bischoff, 1999, S. 29). Die Quote der alleinstehenden Männer in Führungspositionen der Wirtschaft liegt sowohl 1991 als auch 1998 lediglich bei 7%. Kinder Unter den Präsidiumsmitgliedern haben mit p(Chi2) = 0,002.00 hoch signifikant mehr Männer (83%) als Frauen (67%) Kinder. Auffällig ist dabei, dass weniger Männer als Frauen (nämlich 20% der Väter gegenüber knapp 81% der Mütter) angeben, vorwiegend selbst für die Betreuung der Kinder zuständig zu sein (2 = 70.56, df = 1, p = 0,000.00). Die Unterschiede zwischen den männlichen und weiblichen Führungskräften hinsichtlich Familienstand und Vorhandensein von Kindern deuten strukturelle Probleme sowohl allgemein in der Gesellschaft als auch im Ehrenamtsbereich Sport an, die den gleichberechtigten Zugang von Frauen zum Ehrenamt einschränken bzw. verhindern. Winkler (1988, S. 98) interpretiert die unterschiedliche Geschlechterverteilung hinsichtlich des Familienstandes als ein Zeichen dafür, dass „eine familienfreiere Situation den Frauen mehr Möglichkeiten gibt, ehrenamt-
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lich tätig zu werden“. Mehrere Sportfunktionärinnen, die im Rahmen unserer ersten Interviewstudie befragt wurden, beschreiben den spezifischen Lebenszusammenhang von Frauen, der neben dem Beruf die Hauptverantwortlichkeit für Familie, Kinder und Haushalt beinhaltet, als hinderlich für die Ausübung eines Ehrenamtes. „Es gab sicher schwierige Zeiten, als mein Sohn noch zu Hause war, ich berufstätig war und eine Familie versorgen musste. Und ich wollte auch mein Ehrenamt machen. Da war das sicher eine große Herausforderung und es hat durch meine bundesweite Tätigkeit auch im familiären Bereich mitunter Stresssituationen gegeben, weil ich ja viel unterwegs war. Mittlerweile hat sich das alles relativiert.“ (WF11) „Ein Kind wäre in der beruflichen Drucksituation, in der ich stehe, mit Sicherheit (...) nicht zu vereinbaren gewesen (...) Da hätte ich mich dann entscheiden müssen: Gehe ich jetzt beruflich nicht mehr weiter oder lasse ich das jetzt mit dem Ehrenamt?“ (WF09)
Befürwortung des ehrenamtlichen Engagements von Seiten des Lebenspartners Die Befunde unserer quantitativen Befragung belegen, dass eine Frau, die Familie hat, im Falle der Entscheidung für ein Ehrenamt eher von der Befürwortung ihres Lebenspartners abhängig ist, als dies bei den Männern der Fall ist; 66,1% der Frauen gegenüber 41.3% der Männer geben an, dass ihr Engagement von Seiten des Partners/der Partnerin befürwortet wird. Hier zeichnet sich ein hoch signifikanter Unterschied zwischen den Geschlechtern ab (2 = 15.28, df = 4, p(Chi2) = 0,005.01). Die Befürwortung des ehrenamtlichen Engagements von Seiten des Lebenspartners beinhaltet, dass dieser bereit ist, zusätzliche Pflichten im Haushalt und in der Kinderbetreuung zu übernehmen, wenn seine Frau beispielsweise am Wochenende oder abends häufig abwesend ist. Alle im Rahmen unserer Interviewstudien befragten Frauen waren sich darüber einig, dass ein ehrenamtliches Engagement, das mit erheblichem Zeitaufwand11 und Einbußen im Privatleben verbunden ist, nur funktionieren kann, wenn der Partner dieses unterstützt und bereit ist, sich verstärkt um Haushalt und Familie zu kümmern. „Ich habe den tollsten Mann der Welt, (...) ohne ihn ginge das nicht, ohne sein Verständnis und ohne seine Unterstützung (...) Und nie Gemeckere, wenn ich später nach Hause komme oder schon wieder bis um neun abends im Büro sitze, überhaupt nicht. Also, das ist sensationell.“ (WF21) 11 Die Ergebnisse der quantitativen Befragung belegen, dass der durchschnittliche Zeitaufwand pro Woche für das Ehrenamt bei M = 15.7% liegt. Während die meisten Frauen (64.3%) pro Woche bis zu zehn Stunden für ihr Ehrenamt aufwenden, engagiert sich die Mehrheit der Männer (58,1%) mindestens zehn Stunden pro Woche. Zwischen 41 und 70 Stunden investieren ausschließlich männliche Führungskräfte in ihr Ehrenamt. Keine einzige Frau betreibt für ihr Ehrenamt einen so hohen Zeitaufwand, der sogar über den einer Vollzeitbeschäftigung hinausgeht. Frauen und Männer unterscheiden sich in ihrer Zeitinvestition für das Ehrenamt pro Woche mit p(Chi2) = 0,004.00 hoch signifikant voneinander. Die Erwartungshaltung von Verbandsseite hinsichtlich der Zeitinvestition in das Ehrenamt (sowohl den Zeitaufwand als auch die Zeitflexibilität betreffend) ist als ein strukturelles Hindernis anzusehen. Nicht selten wird der Zeitaufwand, der für das Ehrenamt geleistet wird, mit der Qualität der Arbeit gleichgesetzt (vgl. Rapoport, Bailyn, Fletcher & Pruitt, 2002).
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An anderer Stelle wird erwähnt, dass für die beiderseitige Akzeptanz in erster Linie von Wichtigkeit ist, dass beide Partner prinzipiell eine Aufgabe haben, die sie erfüllt: „Da muss man jemanden kennen lernen, der genauso verrückt ist“ (WF13). Nur in diesem Fall kann ein Engagement, das auch Abwesenheiten erfordert und das Einbußen in der gemeinsamen Freizeit nach sich zieht, verstanden werden. „Wenn der eine im Hundezüchterverein glücklich wird, der andere etwas anderes macht, aber beide zufrieden sind in ihrer Arbeit, sich dann gut ergänzen und austauschen, beleben sie sich gegenseitig dadurch, dass man etwas zu erzählen hat und das Leben nicht so eintönig ist. Aber das ist ein Kunststück.“ (WF13)
Es ist nicht zuletzt deshalb unerlässlich, dass sich der Partner in seiner Freizeit ebenfalls stark engagiert, da das gemeinsame Privatleben durch die Aktivitäten einer ehrenamtlichen Führungskraft zeitlich stark eingeschränkt ist: „Das Engagement geht zu Lasten des Privaten. Die Familie muss zurückstehen und auch private Interessen müssen zurückstehen, das ist eindeutig so“ (WF14). Auch wenn die große Mehrheit der befragten Frauen nur Positives über das Verständnis von Seiten des Partners zu berichten weiß, so gibt es einige, bei denen die Beziehung letztendlich am ehrenamtlichen Engagement der Frauen gescheitert ist. Eine Frau hatte sich zunächst 12 Jahre lang gemeinsam mit ihrem Freund im Sport engagiert. Im Laufe ihres Aufstiegs in der Sportorganisation ist ihr Partner „dann irgendwie auf der Strecke geblieben“ (WF13): „Ich war dann wahrscheinlich schneller vorangekommen in meiner Entwicklung und meiner Sichtweise (...) und unsere gemeinsamen Ziele waren dann auch einfach vorbei.“ Aus ihren Erfahrungen heraus ist sie der Meinung, dass Männer nicht selten Probleme haben, Frauen, die erfolgreicher sind als sie selbst, zu akzeptieren: „Das halten Männer nicht aus.“ Zur Ausbildungs- und Berufsbiographie Bildungsstand Neben der Zugehörigkeit zum männlichen Geschlecht sowie dem relativ hohen Alter kristallisieren sich der Bildungsstand sowie die berufliche Situation als weiteres Charakteristikum der Untersuchungsgruppe heraus. Die befragten Präsidiumsmitglieder verfügen über ein höheres Bildungsniveau als die durchschnittliche Bevölkerung in Deutschland: 61.6% der ehrenamtlichen Führungskräfte haben das Abitur absolviert. Laut Ergebnis des Mikrozensus 2002 weisen im Vergleich dazu lediglich 24.4% der Erwerbspersonen in Deutschland die (Fach-)Hochschulreife auf.12 Über die Hälfte der Untersuchungsgruppe, nämlich 53.6%, weist als höchsten Ausbildungsabschluss einen Hochschulabschluss auf. 16.5% der Befragten sind zusätzlich promoviert worden.13 Hinsichtlich des Bildungsstandes zeigen sich keinerlei signifikanten Differenzen zwischen den Geschlechtern.
12 Vgl. dazu die Angaben im Statistischen Jahrbuch 2003, Online-Version. Zugriff am 8. Februar 2004 unter http://www.destatis.de/download/jahrbuch/stjb_6.pdf 13 Auch hier zeigt sich im Vergleich zur erwerbstätigen Bevölkerung Deutschlands (7.2% mit Hochschulabschluss, davon 1.1% promoviert) die Ausnahmestellung der Untersuchungsgruppe. Vgl. dazu
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Berufszugehörigkeit und berufliche Stellung In Anlehnung an die ISCO-Klassifizierung14 der Berufe wurden die im Fragebogen von den Präsidiumsmitgliedern angegebenen Berufe den unterschiedlichen Berufsgruppen zugeordnet.15 Unter den ehrenamtlichen Führungskräften des deutschen Sportsystems sind primär drei Berufsgruppen vertreten: erstens die Handels- und Dienstleistungsberufe, in denen 30.6% der Befragten tätig sind, zweitens die Erziehungsberufe, in denen 21.4% der Befragten arbeiten, drittens die Organisations- und Verwaltungsberufe, die 21.2% der Befragten als ihren Tätigkeitsbereich angeben. Dabei fällt auf, dass sich unter den Sportfunktionärinnen und -funktionären – neben den im Dienstleistungssektor Beschäftigten – auffallend viele Angestellte sowie Beamtinnen und Beamte des öffentlichen Dienstes befinden, die entweder in der öffentlichen Verwaltung oder im (Hoch-)Schulwesen tätig sind. Die Gruppe derjenigen Befragten, die im Bereich Erziehungswesen arbeiten, setzt sich aus Lehrerinnen und Lehrern bzw. Studienrätinnen und Studienräten (N = 40), Professorinnen und Professoren (N = 21) sowie dem wissenschaftlichen Personal (N = 16) an Universitäten zusammen. Es ist zu vermuten, dass den im Erziehungswesen tätigen Präsidiumsmitgliedern die Vereinbarkeit von Beruf und Ehrenamt leichter fällt als anderen, da ihre Berufe ein höheres Maß an Zeitflexibilität gewähren.16 Die größte Gruppe der weiblichen Präsidiumsmitglieder (35.9%) sind in erster Linie in Erziehungsberufen an Schulen und Hochschulen tätig, die größte Gruppe ihrer männlichen Kollegen (32,2%) arbeiten in Handels- und Verwaltungsberufen. 78.8% der Führungskräfte des deutschen Sports besetzen auch im Berufsleben eine Führungsposition. 81.1% der männlichen Präsidiumsmitglieder gegenüber 68.7% der weiblichen Präsidiumsmitglieder haben im Beruf eine Leitungsfunktion inne, wobei diese Differenz als nicht signifikant zu werten ist. Die Zugehörigkeit zu spezifischen Berufsgruppen sowie die Tatsache, dass es sich in erster Linie um Personen in beruflichen Führungspositionen handelt, lässt darauf schließen, dass enge Verknüpfungen zwischen Ehrenamt und Beruf möglich sind. Fähigkeiten und Kenntnisse, aber auch Kontakte aus dem beruflichen Umfeld können für das Ehrenamt genutzt werden. Auf der anderen Seite können im Ehrenamt aufgebaute Netzwerke sowie entwickelte Fähigkeiten für das berufliche Vorankommen von Nutzen sein.
die Angaben im Statistischen Jahrbuch 2003, Online-Version. Zugriff am 8. Februar 2004 unter http://www.destatis.de/download/jahrbuch/stjb_6.pdf 14 ISCO = International Standard Classification of Occupations. ISCO ist die internationale Berufsnomenklatur, die auf die statistischen Bedürfnisse in der Europäischen Union ausgerichtet ist (zum Zeitpunkt der Datenerhebung gültige Fassung: ISCO-88). Sie ermöglicht die internationale Vergleichbarkeit von Berufsstatistiken. Vgl. die Angaben der Gesellschaft sozialwissenschaftlicher Infrastruktureinrichtungen (GESIS). Zugriff am 4. August 2005 unter http://www.gesis.org/Dauerbeobachtung/GML/Daten/ MZ/allgemein/isco88com.pdf 15 Die Befragten, die zum Zeitpunkt der Befragung nicht berufstätig waren, wurden gebeten, den zuletzt ausgeübten Beruf anzugeben. 16 Für die Lehrerinnen und Lehrer gilt dies zumindest für den Nachmittag.
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Zur Sportbiographie Mit 94.4% hat die große Mehrheit der Befragten in Kindheit und Jugend Sport getrieben. Lediglich 11.1% der Männer sowie 4.4% der Frauen waren als Kinder bzw. Jugendliche sportlich inaktiv (p(Chi2) = 0,042.04). Der hohe Beteiligungsgrad im Sport in Kindheit und Jugend weist sowohl auf eine frühe Sozialisation zum Sport als auch auf eine langjährige Sozialisation im Sport hin. Die Untersuchungsgruppe hat dadurch eine enge emotionale Bindung an den Sport entwickelt, was der Bereitschaft zum ehrenamtlichen Engagement im Sportsystem zugute kommt (vgl. Radtke, 2004; Winkler, 1988). Nach Emrich und Papathanassiou (2003) ist es für die Besetzung von Führungspositionen im organisierten Sport essentiell wichtig, dass die Kandidatinnen und Kandidaten einen spezifischen „Stallgeruch“ mitbringen, der erst durch eine langjährige emotionale Bindung an das Sportsystem erworben werden kann. Zu den Barrieren in der Ehrenamtslaufbahn Im Rahmen der quantitativen Studie nach Aufstiegsbarrieren befragt, geben sowohl männliche als auch weibliche Präsidiumsmitglieder an, entsprechende Erlebnisse gehabt zu haben, wobei in ihren Aussagen kein signifikanter geschlechtsspezifischer Unterschied festzustellen ist. Geschlechtsübergreifend sind Barrieren für die größte Gruppe der Befragten (33.8%) eine seltene Erfahrung. Bei der Interpretation dieses Antwortverhaltens ist zu berücksichtigen, dass es sich bei den im Rahmen der quantitativen Studie Befragten um Personen handelt, die bereits Führungspositionen im Sportsystem besetzen. Das heißt, unüberwindbare Barrieren können sie gar nicht erlebt haben, anderenfalls hätten sie im bestehenden System nicht reüssieren können. Auch der Aspekt der sozialen Erwünschtheit ist an dieser Stelle nicht außer Acht zu lassen. Tabelle 5:
Aufstiegsbarrieren in Abhängigkeit vom Geschlecht (Mehrfachnennungen möglich)
Aufstiegsbarrieren Geschlechtsspezifische Barrieren Machtkämpfe/Konkurrenz Familie Akzeptanzprobleme als junge(r) Funktionär(in) Zwischenmenschliche Probleme Beruf Zeitprobleme Zu hohes Alter der Funktionäre Verwaltungsstrukturen Neid/Missgunst Mangelnde Kompetenz der Kollegen/Kolleginnen
Frauen (%)
Männer (%)
Gesamt (%)
34.8 17.4 8.7 8.7 8.7 6.5 4.3 4.3 0.0 0.0 0.0
0.0 28.5 2.0 5.9 12.9 5.9 2.3 6.6 12.9 10.9 3.9
5.3 26.8 3.0 6.3 12.3 6.0 2.6 6.3 10.9 9.3 3.3
In Tabelle 5 sind die benannten Barrierekomplexe aufgezählt, wobei sich im Antwortverhalten von Frauen und Männern Differenzen offenbaren. Ein Drittel der Frauen erinnert sich, geschlechtsspezifische Barrieren erlebt zu haben. Machtkämpfe und Konkurrenzdenken
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finden sich bei den Frauen in der Liste der aufgezählten Barrieren an zweiter Stelle, gefolgt von Problemen der Vereinbarkeit von Ehrenamt und Familie, Akzeptanzproblemen als junge Funktionärin sowie sonstigen zwischenmenschlichen Problemen. Die männlichen Präsidiumsmitglieder führen an erster Stelle die Machtkämpfe der Funktionäre an, durch die sie sich in ihrem Aufstieg behindert fühlten. Weitere Hindernisse sind für sie antiquierte Verwaltungsstrukturen, zwischenmenschliche Probleme sowie Neid und Missgunst unter den Kollegen. Die aus der quantitativen Untersuchung gewonnenen Befunde werden durch die Erkenntnisse aus der Drop-out-Studie bestärkt. So schildert eine Interviewpartnerin ihre Erfahrungen im Zusammenhang mit geschlechtsspezifischen Barrieren. „Natürlich hat man Diskriminierungen erlebt. Ich glaube, dass jede Frau, die ein bisschen wach ist und ein bisschen Frauenbewusstsein hat, diese Diskriminierung spüren wird. Sei es, dass blöde Bemerkungen gemacht werden, sei es, dass Witze gemacht werden, dass Frauen ins Wort gefallen wird (…) Ein Verbandspräsident sagte beispielsweise einmal zu mir: ‚Was Sie alles für (...)[die Sportart] gemacht haben, das finde ich gut, aber heiraten würde ich Sie nicht.‘ Ich war sehr empört.“ (DW07)
Mehrere Frauen weisen auf die Effektivität der so genannten „Schulterschluss-Riegen“ (DW11) der Männer hin. Während das Old-Boys-Network funktioniert, bekämpften sich Frauen nicht selten gegenseitig und stehen sich eher selbst im Weg, als dass sie sich für die gemeinsame Sache solidarisieren. „Wir Frauen haben uns da gegenseitig das Leben zur Hölle gemacht, weil wir keine Strategien eben im Miteinander-Arbeiten hatten (...) Männer legen sich am Tresen die Hand auf die Schulter und sagen: ‚Pass’ auf, Fritz, lass’ uns noch mal darüber reden.’ Und nach drei Bier [ist die Sache gelaufen]. Frauen haben diese Strategien nicht entwickelt.“ (DW11)
Ein Charakteristikum der männlich dominierten Organisationskultur im Sport ist das inoffizielle gesellige Beisammensein nach Sportveranstaltungen und Sitzungen. Einige Frauen berichten, dass ihnen die Zusammenhänge derartiger Lobbyarbeit erst spät bewusst geworden sind. „Vielleicht war ich auch ungeschickt in meiner Lobbyarbeit. Wenn ich vorher viel telefoniert hätte (...) das habe ich erst hinterher kapiert, wie das läuft. Und abends am Tresen geblieben wäre und nicht ins Bett gegangen wäre (...) Ich mag aber kein Bier! Grundvoraussetzung ist, dass man Bier mag und abends lange in der Kneipe im Rauch steht, das mag ich alles nicht. Dann tränen mir die Augen, mir wird schlecht. Ich brauche meinen Schlaf (...) [Grundsätzlich gilt:] Bevor man irgend etwas angeht, (muss man) überlegen: Wo kriegst du deine Seilschaft her. Die Sache ist gar nicht so wichtig, sondern wo sind deine Mitstreitenden? Das ist das Wichtigste überhaupt und dann kann ich die Sache umsetzen, sonst hole ich mir nur Beulen.“ (F11)
Die meisten Frauen, die es geschafft haben, sich in den Führungsgremien des Sports durchzusetzen, geben an, dass Kooperationsbereitschaft sowie die Zusammenarbeit mit den männlichen Kollegen Voraussetzung dafür seien, langfristig die eigene Position halten zu können. Auch wenn sie sich insgeheim den Männern überlegen fühlen und Strategien entwickeln, um
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die Männer „zu packen“ (F13), so passen sie sich – zumindest nach außen hin – dem männlich geprägten System und den gängigen Verhaltensweisen an, um akzeptiert zu werden. Zum Umgang mit Konflikten in der Ehrenamtslaufbahn Die Ergebnisse der Drop-out-Studie verdeutlichen, dass der entscheidende Unterschied zwischen den Geschlechtern weniger in der Art der erfahrenen Barrieren liegt als vielmehr in der Art des Umgangs mit ebendiesen sowie in der interpersonellen Interaktion insgesamt. Die Frauen reflektieren sich selbst und ihr Umfeld generell sehr viel stärker als ihre Kollegen und sprechen teilweise von tief greifenden Verletzungen, die sie im Laufe ihrer Ehrenamtskarriere erlebt haben. Eine Interviewpartnerin beschreibt die erfahrenen Kränkungen zunächst als „so kleine Nadelstiche, die sehr persönlich sind“, später als „Krallen, die in mich eindrangen“ (DF11). Problembehaftete Situationen und Verhaltensweisen von Seiten des Umfelds bringen sie fast immer mit ihrer eigenen Person in Verbindung. Eine emotionale Abgrenzung findet in den meisten Fällen nicht statt. So erregen sich mehrere Interviewpartnerinnen über das intrigante Verhalten und die rüden Umgangsformen in ihrem Arbeitsalltag. „Gelobt sei, was hart macht. Und jeder ist Terrier und beißt den anderen weg. Und was ich hab’, ist meins und wehe, du gehst über meine Grenze, dann pinkle ich dich gleich an (...) Also, in der Form will ich mit mir nicht umgehen lassen (...) Solange du von Bedeutung bist und förderlich bist für die Karriere, wirst du gesehen. Wenn du den Leuten aber keinen Vorteil bringst, dann bist du eben unbedeutend (...) Und da gehen so die menschlichen Bezüge, wegen denen ich das gemacht habe, verloren (...) Das ist nicht mehr meine Welt, ich musste da raus (...) Das sind so die kleinen Verletzungen und je häufiger so was passiert ist, umso empfindlicher oder empfindsamer wurde ich auch gegen solche Dinge.“ (DF11)
Im Gegensatz zu den Frauen zeigen sich die Männer der Stichprobe in Konfliktsituationen viel eher in der Lage, emotionale Distanz zu bewahren. Sie geben sich im Interview rational handelnd und sind von starkem Selbstbewusstsein geprägt. „Konflikte gibt’s immer. Auch in der richtigen Ehe gibt’s immer Konflikte, das Problem ist nur, wenn ein Konflikt da ist, dass man ihn anschließend so schnell wie möglich wieder löst (...) Das ist das Wichtigste.“ (DM15)
Im Interview reagieren vor allem ältere Funktionäre unwirsch auf die Thematik Barrieren und Konflikte im Ehrenamt. So erregt sich einer unserer Gesprächspartner über Menschen, die „immer jammern“ (DM10), aber keine Initiative ergreifen: „Die Leute sind nichts mehr gewohnt (...) Kritikfähig sind sie nicht mehr.“ Viele würden an Problemen „oft zerbrechen und hören auf“ – für ihn selbst ein Ausdruck von Schwäche. Wie ihre Kolleginnen kommen auch die Männer der Stichprobe im Interview auf das Thema Machtspiele und Intrigen zu sprechen. Dabei wird deutlich, dass Männer und Frauen im Kontext von Intrigen unterschiedliche Rollen besetzen. Mehrere Männer führen an dieser Stelle mit Stolz und Bestimmtheit ihre Zielorientiertheit sowie ihre Durchsetzungsfähigkeit an. Sie geben jedoch gleichzeitig zu, mit ihrem Auftreten nicht immer auf Gegenliebe gestoßen zu sein, sondern Anfeindungen erlebt zu haben.
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„Wo ich dann so ein bisschen Probleme hatte, war das Präsidium, wo man so ein bisschen (...) meine schroffe Art, meine rabiate Art beanstandete, Konzepte und Systeme nicht nur auszudenken, sondern auch durchzusetzen (...) Wenn ich ein Konzept entwickle und eine Strategie dafür, dann bin ich auch derjenige, der sie durchsetzt, auch gegen Widerstände. Und diejenigen, denen das nicht gepasst hat, das waren eben nicht meine Freunde (...) Wenn man etwas bewegen will, muss man Macht und Einfluss haben. Nur andere haben das wohl teilweise nicht so empfunden.“ (DM16)
Die Männer der Stichprobe neigen eher als ihre Kolleginnen dazu, Probleme zu entpersonalisieren, d.h., die Gründe für beispielsweise abweisendes Verhalten seitens der Kollegen suchen sie – möglicherweise aus unbewusstem Selbstschutz heraus – in den Strukturen. Anfeindungen nehmen sie nicht persönlich, sondern begründen das Verhalten des Gegenübers auf rationale Art und Weise. Meist sind sie von der Richtigkeit des eigenen Handelns überzeugt und sie fühlen sich ihren Gegnern überlegen, so dass sie deren Widerstand eher als Herausforderung denn als persönlichen Angriff betrachten.
Schluss Die Analyse hat ergeben, dass die Gruppe der Führungskräfte im organisierten Sport im Hinblick auf Variablen wie Geschlecht, Alter, Familienstand, Bildungsniveau und Beruf sowie Sportbiographie selektiv zusammengesetzt ist. Ebenso wie der Arbeitsmarkt ist das Sportverbandssystem als ein System von Angebot und Nachfrage zu verstehen (vgl. Pfister & Radtke, 2009). Potentielle Führungskräfte mit ihren individuellen Biographien, Ressourcen und Motivationen bieten ihre (ehrenamtliche) Arbeitskraft an, während man von Verbandsseite daran interessiert ist, Führungskräfte zu rekrutieren, die am ehesten in die bestehenden Systemstrukturen passen. Neben einer ausreichend vorhandenen ökonomischen Grundlage der Beteiligten (die unerlässlich ist, da es sich um eine unbezahlte Tätigkeit handelt) sind vor allem Zeitflexibilität im Beruf (bzw. im Ruhestand), gesellschaftliches Ansehen, Zugehörigkeit zu relevanten Netzwerken, hohe fachliche Kompetenzen sowie führungsspezifische Qualifikationen gefragt. Mit derartigen sozialstrukturellen Merkmalen ausgestattete Präsidiumsmitglieder stellen für die Sportorganisationen eine bedeutende und gewinnbringende Ressource dar. Fakt ist, dass es sich für Personen, die nicht dem gewünschten Idealtypus entsprechen, schwierig gestaltet, Führungspositionen im organisierten Sport zu besetzen. Dies gilt zwar gleichermaßen für Männer und Frauen, jedoch belegen die Ergebnisse der vorliegenden Studien, dass der spezifische Lebenszusammenhang von Frauen den Zugang zu den Leitungsgremien im Sport erschwert. So verfügt ein Großteil der weiblichen Bevölkerung aufgrund der Verantwortlichkeiten in der Familie weder über die für die Besetzung einer ehrenamtlichen Führungsposition notwendigen Zeitflexibilität noch weisen viele eine infolge jahrelanger Sportaktivität im Verein aufgebaute emotionale Bindung an den Sport und damit den nötigen „Stallgeruch“ auf. Weniger Frauen als Männer besetzen im Berufsleben Leitungspositionen und verfügen daraus folgend über soziale Netzwerke, die Synergieeffekte zwischen Beruf und Ehrenamt ermöglichen und für Verbände eine wichtige Ressource darstellen. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass geschlechtsspezifische Sozialisation,
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gesellschaftliche Rollenzuweisungen sowie die Mehrfachbelastung der Frauen (Familie, Beruf und Ehrenamt) Ausschlussprozesse nach sich ziehen, die dazu beitragen, dass sich das Engagement von Frauen überwiegend auf den unteren Ebenen der Organisationshierarchie realisiert (vgl. Radtke, 2007). Die aktuelle Organisationskultur in Sportvereinen und -verbänden ist im Allgemeinen auf die Bedürfnissen von Männern ausgerichtet und verlangt von den Akteurinnen und Akteuren Selbstbewusstsein, strategisches Vorgehen, Zielstrebigkeit, Durchsetzungsfähigkeit sowie Unempfindlichkeit gegenüber Anfeindungen. Vor allem Letzteres ist ausschlaggebend, denn in unserer Drop-out-Studie kristallisierte sich heraus, dass der entscheidende Unterschied zwischen den Geschlechtern weniger in der Art der erfahrenen Barrieren liegt als vielmehr in der Art des Umgangs mit ebendiesen sowie in der interpersonellen Interaktion insgesamt. Die Frauen reflektieren sich selbst und ihr Umfeld stärker als ihre Kollegen. Sie nehmen Anfeindungen oft persönlich und leiden daraus folgend. Die Männer unserer Stichprobe zeigen sich im Gegensatz dazu viel eher in der Lage, ihre Gefühle auszuschalten. Sie geben sich im Interview weniger emotional als vielmehr rational handelnd und von starkem Selbstbewusstsein geprägt. In problembehafteten Situationen suchten die Funktionäre die Schuld meist zunächst bei anderen. Unsere empirischen Untersuchungen belegen, dass sich die wenigen heute erfolgreichen Sportfunktionärinnen den Strukturen insofern angepasst haben, als sie ihren Kollegen in deren Verhaltens- und Vorgehensweisen ähneln. Es kommt hinzu, dass die meisten männlichen Funktionäre denjenigen Typus Frau in ein hohes Amt wählen, den sie am ehesten als ihresgleichen betrachten – Frauen, die sich dem männlich geprägten System anpassen, die von Männern gesetzten Spielregeln einhalten und das bestehende System insofern nicht gefährden. Die Änderung einer Organisationskultur ist ein langwieriger Prozess und von der Mehrheit der im System handelnden Personen abhängig. Anzeichen dafür, dass viele Funktionäre in diesem Zusammenhang offenbar keinen Handlungsbedarf sehen, ist die Tatsache, dass die meisten von uns befragten männlichen Führungskräfte angaben, dass Frauen im derzeitigen System Vorteile genießen würden. Im Gegenzug berichteten mehrere Funktionärinnen, die Erfahrung gemacht zu haben, dass einige Kollegen versuchen, den Aufstieg von Frauen gezielt zu verhindern. Solange die Frauen, die sich mit den gängigen Strukturen nicht identifizieren können (oder wollen), weiterhin keine Unterstützung von außen erfahren und infolgedessen keinen anderen Weg für sich sehen, als das System zu verlassen, werden Frauen auf der Führungsebene des Sports in der Minderheit bleiben. Eine Veränderung der Organisationskultur, die den Bedürfnissen beider Geschlechter gerecht wird, bleibt somit weiterhin aus.
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16. Politische Psychologie Frau sein – eine Herausforderung? – Gender Mainstream und Politische Psychologie Petia Genkova
Die Politische Psychologie hat sich kaum als eine selbstständige Disziplin in der Psychologie etabliert. Im weitesten Sinne stellt die Politische Psychologie eine Art angewandte Sozialpsychologie mit spezifischen Schwerpunkten dar, die die gesellschaftlichen Normen, Regeln und Prozesse wiedergeben. In der Politischen Psychologie sind verschiedene kritische Ansätze stärker vertreten, die dazu dienen sollen, die sozialen Normen und Prozesse so zu verändern, dass sich die Lebensqualität der Menschen verbessert – dies ist eines der Hauptziele der Psychologie als Wissenschaft. Betrachtet man dies aus einer Genderperspektive, stößt man auf die stereotypenhafte Vorstellung, dass Genderforschung eine Art Quotenforschung sei (Genkova, 2006; 2009). Setzt man sich aber intensiv damit auseinander, wird ersichtlich, dass die Genderforschung nicht wirklich als gleichwertig angesehen, sondern nur als ein Randbereich betrachtet wird, der keine Anerkennung von dem Gender Mainstream erfährt. Genderforscher oder insbesondere Genderforscherin zu sein, wird als keine ernsthafte Leistung angesehen und deswegen von vielen gemieden (Genkova, 2006; 2009). Die Genderforschung ist mit den Konzepten der Stereotypisierung und Diskriminierung verbunden. Diese Konzepte der Geschlechterstereotypen beruhen auf Konzepten zu sozialen Prozessen zur Bildung von Stereotypen und Vorurteilen, somit hängen sie sehr häufig mit den Diskriminierungskonzepten nach der Rasse zusammen. Sowie Migranten interkulturelle Forscher sind, so sind Frauen dann Genderforscherinnen. Allein diese Vorstellung betont schon die Randstellung der Genderforschung und wird teilweise wertend betrachtet. Somit stellen sich die Fragen, wieso ein solches Stereotyp existiert und wieso sich im Mainstream diese defizitäre Vorstellung von Gender durchgesetzt hat – als müsste man diesen „Mangel“ des weiblichen Geschlechts erst einmal kompensieren, um erfolgreich zu sein. In diesem Zusammenhang wird hier auf ein paar häufig betrachtete Themenbereiche aus der angewandten Sozialpsychologie hinsichtlich Geschlecht und Gender eingegangen: Geschlechterrollen und Geschlechtervorurteile, sowie Geschlechterstereotypen unter der besonderen Berücksichtigung von Wohlbefindenskonzepten.
G. Steins (Hrsg.), Handbuch Psychologie und Geschlechterforschung DOI 10.1007/978-3-531-92180-8_16, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010
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Geschlechterstereotype und Geschlechterrollen Die Sozialpsychologie definiert ein Stereotyp als eine Art Gruppenbeschreibung. Durch die Abstraktion wesentlicher Eigenschaften einer Gruppe wird diese charakterisiert. Diese Beschreibung kann neutral, positiv sowie auch negativ ausfallen. Die Kategorisierung soll vor allem der schnellen Informationsverarbeitung dienen und die Komplexität der Realität durch Vereinfachung überschaubar machen. Für die gebildeten Kategorien werden vor allem Merkmale von Makrosystemen oder auch Merkmale von Gesamtgesellschaften verwendet und als Stereotype aufgefasst. Als solche Merkmale von Makrosystemen können z.B. Geschlecht, Alter oder Bildung betrachtet werden. Die vereinfachenden Kategorien werden entweder selbst entwickelt oder von anderen, beispielsweise der Gesellschaft, übernommen. Die Entwicklung eines eigenen Klassifikationssystems ist mit Anstrengung, das heißt mit kognitivem und zeitlichem Aufwand, verbunden, daher werden diese Kategorien im Laufe der Sozialisierung häufiger von anderen übernommen. Ein Vorteil der Benutzung von Kategorien besteht darin, dass eine fremde Person anhand eines einzigen Merkmals sofort eingeschätzt werden kann. Denn wenn dieses eine Merkmal auf die Person zutrifft, können auch alle anderen – mit der Klasse verbundenen Merkmale – auf sie übertragen werden. Dies erleichtert zwar die Orientierung, führt aber auch zu Fehleinschätzungen, was Ausdrücke wie stereotypes Verhalten und stereotype Geschlechterrollen in Bezug auf das Geschlecht beweisen (vgl. Bierhoff & Frey, 2006). Diskussionen darüber, ob Geschlechterrollen eher durch Sozialisierung oder durch Anlagen entstehen, tendieren aufgrund empirischer Studien in der Sozialpsychologie dazu, dass es sich um Sozialisierung handelt. Die Geschlechtsstereotype werden als fehlattribuiertes Rollenverhalten (Eagly, 1987) interpretiert. Es wird kritisch darauf hingewiesen, dass die Rolle mit dem Rollenträger verwechselt wird: Frauen nehmen eine bestimmte Rolle ein, weil sie bestimmte Dispositionen haben – beispielsweise die Rolle der Hausfrau, weil sie fürsorglich sind, gerne putzen und kochen usw. Wenn man diese mit der Mutterrolle verbindet, schließt sich der Kreis einer ähnlichen Stereotypisierung, da schließlich nur die Frau Mutter sein kann. Die Rollen, die wir in der Gesellschaft einnehmen, sind auf Geschlechterstereotypen zurückzuführen. Daher kann es als Stereotypenaufbruch bezeichnet werden, wenn Männer in Frauenberufe eintreten und umgekehrt. Diese Tatsache spiegelt die These, dass die Emanzipation keinen Geschlechterkampf zum Ausdruck bringt, sondern einen Rollenkampf. Eagly (1987) beschreibt in ihrer Theorie die Geschlechterrollen als eine Art Interaktion zwischen biologischen und kulturellen Faktoren. Die biologischen Faktoren sowie die sozialen Faktoren begünstigen gewisse Aufgabenverteilungen zwischen den Geschlechtern. In Folge dessen werden Geschlechterrollen erwartet und es entwickeln sich geschlechtsspezifische Fähigkeiten und Einstellungen. Das Ergebnis der Interaktion sind Geschlechtsunterschiede im Verhalten. Somit sind die Geschlechtsrollen im Erwachsenenalter die unmittelbare Ursache für das geschlechtstypische Verhalten. Über diese Interaktion beeinflussen biologische und soziale Faktoren das Verhalten von Männern und Frauen. Um dies zu verifizieren, haben Deaux und Lewis (1984) folgendes experimentelle Design angewendet. Die Versuchspersonen erhielten Informationen über Geschlecht und Rollenverhalten einer Person. Dann sollten sie angeben, wie wahrscheinlich es ist, dass diese Person bestimmte Persönlichkeitseigenschaften besitzt. Die Ergebnisse zeigten, dass nicht
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von der Geschlechterzugehörigkeit, sondern vom Rollenverhalten auf das Vorhandensein von bestimmten Persönlichkeitseigenschaften geschlossen wird. Die Geschlechtsstereotype sind zum Teil auf tatsächlich vorhandene Unterschiede im sozialen Verhalten (nonverbale Kommunikation, etc.) zurückzuführen, gehen aber in der Regel weit über die Fakten hinaus. Heutzutage spricht man eher von einem subtilen Sexismus, welcher mit der Stereotypisierung zusammenhängt. Die Frauen selbst unterschätzen sich und haben geringere Erwartungen bezüglich ihrer Karriere, weil sie ihren Schwerpunkt auf andere Dinge legen, z.B. auf Kinder und Familie. Es wird ihnen nachgesagt, dass sie weniger Wert auf das Einkommen legten als Männer, weil sie sich mit anderen Frauen verglichen und sehen würden, dass Frauen allgemein weniger verdienen als Männer. Somit würden sie ein niedrigeres eigenes Einkommen als eher gerechtfertigt sehen. Zudem behaupten neuere Studien, Frauen verhandelten schlechter, weil sie sowieso ein schlechteres Einkommen erwarten würden. Außerdem „zeigen“ Frauen in leistungsbezogenen Situationen weniger Selbstvertrauen als Männer. Frauen in Führungspositionen wird oft ein negatives, subtiles Verhalten entgegengebracht (auch wenn man dies von Frauen und Männern gleichermaßen behauptet), da die Erwartungen manchmal denen widersprechen, die an eine Führungskraft gestellt werden. Des Weiteren erhalten sie von Untergebenen schlechtere Bewertungen, vor allem wenn sie einen als typisch männlich angesehenen Führungsstil praktizieren würden. Obwohl es viele Managerinnen gibt, ist der Prozentsatz von Frauen in wirklichen Spitzenpositionen vergleichsweise sehr gering gestiegen (von 3% auf 5%). Der Effekt einer Glass ceiling wird durch subtile Faktoren (mangelnde Unterstützung; Schwierigkeiten, Anerkennung zu bekommen; etc.) produziert, bei dem es eine Barriere basierend auf Einstellungs-Biases gibt. Diese Fakten geben den Anschein, als wären die Frauen ausschließlich Gefangene der Stereotype und müssten darunter leiden, ohne sich wehren zu wollen bzw. zu können. Natürlich sind Veränderungen in Stereotypen langwierig und schwierig. In der Sozialpsychologie wurden drei Mechanismen zur Veränderung von Stereotypen ermittelt (vgl. Aronson et al., 2004) 1. Das Book-keeping-Modell: Die Veränderung wird durch Sammeln inkonsistenter Informationen verursacht. Die Verteilung ist dabei irrelevant, es kommt hierbei vor allem auf die Menge der Informationen an. 2. Das Konversionsmodell: Hierbei handelt es sich um eine plötzliche und schnelle Veränderung, die durch ein Schlüsselerlebnis hervorgerufen wird. Es tritt vor allem dann ein, wenn sich ein besonders prototypisches Mitglied eines Stereotyps völlig inkonsistent dazu verhält – beispielsweise ein typisches Mädchen, das unheimlich gut Fußball spielt. 3. Das Subtypingmodell: Hierbei handelt es sich um keine wirkliche Veränderung. Extreme Abweichungen vom Stereotyp werden in einer Unterkategorie als „Abweichung“ von der Regel gespeichert; positive Ausnahmen bilden Unterklassen („eine weibliche Führungskraft wird als eine Ausnahme gesehen“). Die Stereotype bleiben auch deshalb bestehen, weil sie bereits die Aufmerksamkeit bei der Informationsaufnahme beeinflussen. Wenn diese aber zu Diskriminierung führen, ist mit den negativen Folgen der Stereotypen zu kämpfen.
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Geschlechtsvorurteile und Diskriminierung In der sozialpsychologischen Forschung werden Vorurteile typischerweise als negative (im Sozialisierungsprozess) gelernte Einstellungen bzw. als die negative Bewertung von Gruppen(-mitgliedern) und den damit einhergehenden negativen Gefühle und Verhaltenstendenzen definiert (Bierhoff, 2006). Im Unterschied zu Vorurteilen ist die soziale Diskriminierung nicht auf der Überzeugungsebene, sondern auf der Handlungsebene angesiedelt. Wie zuvor bereits erwähnt, können Vorurteile – müssen aber nicht in jedem Fall – zu einer direkten sozialen Diskriminierung führen. Jedoch gehen laut Frey negative Überzeugungen (Vorurteile) oft mit negativen Handlungen (Diskriminierungen) einher (Bierhoff & Frey, 2006). Frey geht in seiner Definition noch einen Schritt weiter und behauptet, dass sich soziale Diskriminierung auf die Benachteiligung einer Person auf Grund ihrer Gruppenzugehörigkeit beziehe. Es handelt sich hierbei immer um eine soziale Aktion, die sowohl einen Akteur als auch eine Zielperson oder Zielgruppe impliziert. Diese „Aktion“ wird neben Vorurteilen auch durch die konkrete Situation und Persönlichkeitsmerkmale, wie zum Beispiel Aggressivität oder auch kulturelle Traditionen, ausgelöst (Bierhoff, 2006). Für Bergmann spielen neben diesen Aspekten auch äußere Reize, Befehle von Autoritätspersonen und Gruppensolidarität eine Rolle für die Motivation von sozialer Diskriminierung (Bergmann, 2005). Es ist schwierig zu messen, wie weit soziale Diskriminierung verbreitet ist und angewendet wird: Zumal jemanden zu ignorieren genauso diskriminierend sein kann, wie sich explizit auf jemanden, zum Beispiel durch verweigerte Hilfeleistungen oder verbale Äußerungen, zu beziehen. Nach Güttler (1996) ist soziale Diskriminierung zielgerichtet, jedoch sind die Opfer über die man spricht, diejenigen, mit denen man vermeidet direkt zu reden. Auch Allport ist der Meinung, dass soziale Diskriminierung meistens indirekt ausgeübt wird und nicht offen von Angesicht zu Angesicht, wodurch Schwierigkeiten entstehen könnten. Dies ist meist dann der Fall, wenn ein klarer Widerspruch zwischen Gesetz und Gewissen auf der einen Seite und Sitte und Vorurteil auf der anderen Seite besteht (Allport, 1971). Frey stellt vier Theorien vor, die als Erklärung für die Entstehung sozialer Diskriminierung herangezogen werden können: die Theorie der relativen Deprivation, des realistischen Gruppenkonflikts, der sozialen Identität und die Theorie der sozialen Dominanzorientierung (Bierhoff & Frey, 2006). Diese Theorien werden ebenfalls bei der Erklärung von Geschlechtsdiskriminierung herangezogen: 1.
Die Theorie der relativen Deprivation: hierbei wird von Runciman (1966) nochmals zwischen individueller und kollektiver relativer Deprivation unterschieden. Deprivation allgemein bedeutet so viel wie Entbehrung oder Entzug. Unter der individuellen Deprivation versteht Runciman die Empfindung individueller Benachteiligung durch eine andere Person oder Gruppe. Diese Art der Deprivation ist für ihn oft mit psychischen und psychosomatischen Schwierigkeiten verbunden. Dagegen beinhaltet die kollektive Deprivation häufig Feindseligkeit und Diskriminierung gegenüber anderen Gruppen.
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Denn hier empfindet die eigene Gruppe eine Benachteiligung gegenüber einer anderen fremden Gruppe. Eine weitere Möglichkeit für die Entstehung von sozialer Diskriminierung ist die Theorie des realistischen Gruppenkonflikts. Diese Bezeichnung geht auf Campbell (1965) zurück, der die Meinung vertritt, dass „Vorurteile das Ergebnis eines Wettbewerbs zwischen unterschiedlichen Gruppen um seltene, knappe Ressourcen darstellen, wobei die Ziele der verschiedenen Gruppen inkompatibel sind“(Allport, 1971). Ein aktuelles Beispiel für Gruppen, die auf Grund der Konkurrenz um materielle Ressourcen stärkere Abneigungen und Vorurteile gegeneinander hegen, wäre sowohl das Verhältnis zwischen Ausländern und Einheimischen als auch zwischen Männern und Frauen in der Arbeitswelt. Viele Frauen werden heute nicht zuletzt deswegen diskriminiert, weil einige Männer Sorge um ihre Arbeitsplätze haben, die nur in begrenzter Anzahl zur Verfügung stehen (Bierhoff & Frey, 2006). Auch die Theorie der sozialen Identität von Tajfel und Turner wird als eine weitere Möglichkeit zur Erklärung von sozialer Diskriminierung herangezogen. Sie besagt, dass die soziale Identität eines jeden Menschen auf drei Basisprinzipien beruht. Ersteres beschreibt das positives Selbstkonzept, das Menschen immer herstellen und beabsichtigen es aufrechtzuerhalten. Das zweite Prinzip beschäftigt sich mit dem Selbstkonzept, welches aus zwei Teilen besteht: der persönlichen Identität, worunter man individuelle Merkmale, Fähigkeiten etc. versteht und der soziale Identität, die durch die Eigenschaften der zugehörigen Gruppe geprägt wurden. Das dritte Basisprinzip beschreibt das Verlangen, ein positives Selbstkonzept zu erreichen, indem man die eigene Gruppe bevorzugt, andere Gruppen abwertet und benachteiligt und so automatisch diskriminierendes Verhalten zeigt. Hierdurch wird die eigene soziale Identität aufgewertet. Soziale Abwärtsvergleiche mit einer selbstwertschätzenden Funktion sind eines der üblichen Verhaltensweisen in derartigen Fällen von diskriminierendem Verhalten. Die letzte von Frey aufgeführte Möglichkeit besteht in der Theorie der sozialen Dominanzorientierung von Sidanius & Pratto (1990). Diese geht davon aus, dass jede Gesellschaft bestimmte Ideologien vertritt, die soziale Hierarchien aufrechterhalten. Jedes Individuum unterscheidet sich lediglich darin, inwieweit es diese Ideologien akzeptiert. Vor allem dominanzorientierte Menschen beabsichtigen bestehende Hierarchien in einer Gesellschaft beizubehalten, was zur Folge hat, dass sie eine eindeutige Dominanz gegenüber der Gruppe, der sie selbst angehören, deutlich machen möchten. Durch diese starke Dominanzorientierung ergibt sich letztendlich eine stärkere Diskriminierungsbereitschaft.
Man geht auch hier wieder davon aus, dass die Bereitschaft zu diskriminierendem Verhalten nicht ausschließlich auf einer Theorie beruht. Es wirken mehrere Faktoren und Reize zusammen. Was bereits bei einem Menschen schon zum diskriminierenden Verhalten führen kann, liegt bei einem anderen Individuum noch weit unter der Bereitschaftsgrenze. Experten konnten jedoch zeigen, dass alle der vier aufgeführten Theorien früher oder später zu diskriminierendem Verhalten führen.
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Was bewirkt jedoch eine soziale Diskriminierung? Graumann und Wintermantel führen fünf Funktionen auf, durch die eine Person einer fremden Gruppe von Mitgliedern einer Ingroup zunehmend deindividualisiert wird (Güttler, 1996). Von Güttler (1996) wird dieser Vorgang auch als Labeling bezeichnet. Labeling ist das Ergebnis der Diskriminierung als Fixierung und besteht darin, dass der Diskriminierende ein typisches Verhalten vom Diskriminierten erwartet. „Wenn jemand typisiert ist, dann wissen wir, wie wir mit ihm umgehen und uns ihm gegenüber verhalten müssen oder verhalten können“ (Güttler, 1996, S.5, 86). Bei untypischen Verhalten wird die Person dann sozial sanktioniert, da sie nicht der Kategorie entspricht – nach dem Motto „was nicht sein kann, gibt es nicht“. Somit werden Gegenargumente mit Sätzen wie „Ja, aber…“ ausgeklammert, Informationen, die zur Veränderung einer Kategorie beitragen könnten, ignoriert oder als Ausnahmen wahrgenommen. Dieses Vorgehen wird auch als Repräsentivitätsstrategie bezeichnet. Sexistische Vorurteile werden oft mit ethischen Vorurteilen in Beziehung gesetzt (Glick& Fiske, 1996; Spence & Helmreich, 1978; Swim et al., 1995, Tajfel, 1981 u.a), die wiederum mit Autoritarismus zusammenhängen (vgl. auch Altemeyer, 1988; Zick, 1997). Eine eher autoritäre, feindliche Einstellung gegenüber Frauen erfassen die Old-Fashioned Scale von McConahay (1986, nach Swim, 1995) und die Modern Racism Scale von Swim (1995). Die Modern Racism Scale beinhaltet drei empirisch bestätigte Dimensionen der gegenwärtigen Geschlechtsdiskriminierung: „denial of continuing discrimination“, „antagonism toward women`s demands“ und „resentment about special favors of women“ (Swim et al. 1995). Demnach beeinflussen die lokalen, zeitlichen und modalen Patterns des Kulturmodels wie Stereotype und Vorurteile zum Ausdruck gebracht werden. Stewart & Ting-Toomey (1987) betonen die pragmatische Perspektive der Kommunikation zwischen den Geschlechtern. Hiermit verbinden sie drei Aspekte der Kommunikation zwischen Männern und Frauen: Jede Kommunikation geschieht demnach in einem bestimmten sozialen und kulturellen Kontext. Dieser Kontext determiniert die persönlichen Interpretationsschemata und Verhaltensmuster und weiterhin schließt sie die Kommunikation zwischen den Geschlechtern mehrere Ebenen der funktionalen Kontexte ein. Nach Zick (1997) neigen verunsicherte Personen dazu, autoritäre Einstellungen und eine Orientierung zur Aufrechterhaltung der Dominanz zu generieren. Folgt man der Social Dominance Theory von Sidanius & Pratto (1999; s. auch Sidanius, 1993), dann bezieht sich diese Dominanzorientierung vor allem auf die Überlegenheit der eigenen Referenzgruppe (In-Gruppe). Vor allem in Situationen, in denen Menschen erleben, dass ihr Status gefährdet ist, versuchen sie, die Dominanz der In-Gruppe aufrechtzuerhalten und zu stabilisieren. Soziale Vorurteile, individualistische Werte der Leistungsgesellschaft und konservative Einstellungen unterstützen eine ähnliche Perspektive (Swim et al., 1995; Zick, 1997). Die Theorie der sozialen Dominanz (Sidanius & Pratto, 1999) betont drei zusammenhängende Systeme der Gruppenhierarchie. Diese Systeme sind mit Alter, Geschlecht und arbitrary sets verbunden. Solche sets zeigen wiederum Verknüpfungen mit ethnischer Herkunft, Bürgerschaft, sozialer Klasse, Rasse, Ethnizität, Region usw. Je nach Status verhalten sich die Mitglieder der verschiedenen Gruppen auf unterschiedliche Art und Weise zueinander. Diese Zusammenhänge sind auch empirisch voraussagbar. Eine Gruppe mit hohem Status betont dabei die Social Dominance Orientation (SDO), denn sie unterstützt sozusagen ein Set von Glaubensgrundsätzen, um die eigene Dominanz zu legitimieren. Dies dient aber nur dazu,
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um die eigene Gruppe zu schützen. Umgekehrt unterstützen Personen mit niedrigem Status, die eine soziale dominante Orientierung zeigen, nicht die Mitglieder der eigenen Gruppe, da diese Mitglieder die sozial dominante Orientierung nicht teilen, sondern sie unterstützen die dominante Gruppe. Dies hängt auch mit der Minderheitsgruppen-Attribution zusammen: die Akzeptanz des Minderheitsgruppenstatus und der unangenehmen Attribution dieses Status sind hier zu nennen. So wird zum Beispiel Frauen der soziale Stereotyp vorgeworfen, sie hielten nicht zusammen, sondern versuchten, mit den Männern kooperieren. Die Erklärung für dieses Stereotyp liegt darin, dass es als prestigeträchtig angesehen wird, von der dominanten Gruppe der Männer akzeptiert zu werden, denn diese Dominanz wird als legitim angesehen.
Moderne Konzepte von Vorurteilen Stereotype und Vorurteile werden durch viele Mechanismen in der sozialen Umwelt geschaffen und aufrechterhalten. Einige dieser Mechanismen sind in den Persönlichkeitsdispositionen eines Individuums zu suchen, z. B. die Informationsverarbeitungsprozesse. Andere Mechanismen wirken innerhalb der ganzen Gruppe, zum Beispiel als Folgen von Konkurrenz, Konflikten und Frustration, denn Vorurteile entstehen ebenfalls (s. o.) durch Anpassung an normative Standards oder Regeln in der Gesellschaft. Konformität, als Anpassung an die Mehrheitsmeinung, stellt einen festen Bestandteil des sozialen Lebens dar und dient dazu, Informationen zu erhalten (informative Konformität) und Akzeptanz zu erlangen (normative Konformität). So kann relativ harmloses soziales Verhalten wie Konformität sehr gefährlich und hinderlich sein, wenn es durch Vorurteile geprägten Annahmen und Verhaltensweisen mit einschließt (Aronson et al., 2008). Auf dieser Art und Weise werden Vorurteile institutionalisiert, da sie als Normen betrachten werden. Soziale Normen sind in einer Gesellschaft oder Kultur die herrschenden Vorstellungen vom dem, was als richtig, akzeptabel und erlaubt gilt. Natürlich gibt es je nach Kultur unterschiedliche Normen und auch innerhalb eines Landes wichtige regionale Unterschiede. Normen müssen nicht direkt vermittelt werden, da die Mehrheit unbewusst voreingenommene Einstellungen übernimmt und bis zum einem gewissen Maß auch diskriminierende Verhaltensweisen zeigt. Dies geschieht allein dadurch, dass diese Mehrheit in einer Gesellschaft lebt, in der der sie mit stereotypen Informationen überhäuft wird und in der diskriminierende Verhaltensweisen die Norm sind. Dieser Prozess wird als institutionalisierte Diskriminierung bezeichnet, insbesondere als institutionalisierter Rassismus und institutionalisierter Sexismus. Wenn jemand in einer Gesellschaft aufwächst, in der nur wenige Mitglieder einer Minderheit oder nur wenige Frauen einen gehobenen Beruf, sondern mehrheitlich niedrigere Tätigkeiten ausüben, entwickeln sich in dieser Gesellschaft bestimmte (negative) Ansichten über die Fähigkeiten von Minderheiten und Frauen. Dies kann der passieren, ohne dass jemand den Menschen aktiv vermittelt, dass Minderheiten und Frauen minderwertig seinen, und ohne ein Gesetz oder einen Erlass, das Minderheiten und Frauen den Zugang zu Universitäten, höheren Posten usw. versagt. Stattdessen sorgen soziale Barrieren dafür, dass diesen Gruppen weniger Möglichkeiten zur Verfügung stehen, was ihre Erfolgschancen schmälert. Dementsprechend versagen die Personen selbst, als Folge einer selbster-
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füllenden Prophezeiung, denn sie werden abgestraft, wenn sie sich nicht konsistent zur sozialen Erwartungen verhalten – sei es als Opfer der Diskriminierung oder als „Täter“. Denn durch die starke Neigung sich den Gruppen anzupassen und deren Erwartungen zu erfüllen um akzeptiert zu werden, funktioniert laut Pettigrew (1991, nach Aronson et al. 2008) die normative Konformität. Es ist als würden sie sagen, „Alle anderen Menschen glauben, dass Person X minderwertig ist, wenn ich Person X gegenüber freundlich bin, halten die Leute mich für seltsam. Sie werden mich nicht mögen. Sie werden schlechte Dinge über mich erzählen. Ich will keine Auseinandersetzungen. Deshalb passe ich mich einfach den anderen an“ (Aronson et al., 2008). Da soziale Normen jedoch positive Werte vermitteln wollen, habe sich diese insoweit verändert, als dass Fremdgruppen Toleranz entgegengebracht wird. Viele Menschen werden vorsichtiger und tun nach außen hin so, als hätten sie keine Vorurteile, halten jedoch innerlich an ihren stereotypen Einstellungen fest. Dieses Phänomen wird als moderndes Vorurteil oder Diskriminierung bezeichnet. Dabei zeichnet sich der moderne Rassismus durch Folgendes aus: Die Menschen haben gelernt, ihre Vorurteile zu verbergen, um nicht als Rassist zu gelten, aber in Situationen, in denn sie sich „sicher“ fühlen, kommen ihre Vorurteile zum Vorschein (Dovidio & Gaerntner, 1996; Mc Conahay, 1986). Dagegen kommt der moderne Sexismus anders zum Ausdruck, denn nicht alle Vorurteile sind mit Gefühlen der Abneigung gegen die Zielgruppe verbunden. Da das kulturelle Muster der menschlichen Kultur eher patriarchalisch ausgeprägt ist, bilden viele Männer ambivalente Gefühle Frauen gegenüber. Diese Ambivalenz wird im Konzept des Ambivalenten Sexismus von Glick und Fiske (1996) dargestellt. Während die Vertreter des feindseligen (hostilen) Sexismus stereotypen Ansichten über Frauen verbreiten und die Unterlegenheit von Frauen in Bezug auf Intelligenz, Kompetenz usw. betonen, akzentuieren die Vertreter des wohlwollenden Sexismus positive stereotype Ansichten. Diese positiven stereotypen Gefühle können jedoch – wie schon erwähnt – den Zielpersonen schaden, weil sie einschränkend wirken. Wohlwollender Sexismus geht ein Stück weiter, denn wie Glick & Fiske (2000) feststellen, gehen wohlwollende Sexisten im Grunde wie feindselige Sexisten vor: beide Gruppen gehen davon aus, dass Frauen das schwächere Geschlecht darstellen. Wohlwollende Sexisten neigen dazu, Frauen auf romantische Weise zu idealisieren, bewundern sie vielleicht als wunderbare Köchinnen und Mütter und wollen sie beschützen, auch wenn sie keinen Schutz bedürfen (Aronson et al., 2008). Letztendlich geht es sowohl beim feindseligen als auch beim wohlwollenden Sexismus darum zu rechtfertigen, dass Frauen traditionelle stereotype Rollen zugewiesen werden, auch wenn dies aus verschiedenen Gründen passiert. Diese neue Form der Diskriminierung gibt vor, die Frauen schützen und unterstützen zu wollen, da diese prädestiniert seinen, ein bestimmtes Verhalten zu repräsentieren oder auch nicht. Das Konzept des modernen Sexismus (Glick & Fiske, 1996) versucht diese beiden Aspekte einzubeziehen: die subjektiven positiven Einstellungen gegenüber Frauen (benevolent sexism) und die Geschlechtsdiskriminierung (hostile sexism). Der hostile Sexismus entspricht der klassischen Konzeption von Vorurteilen (Allport, 1954, nach Glick & Fiske, 1996) als „an antipathy based upon a faulty and inflexible generalization“ (Glick & Fiske, 1996). Der benevolente, wohlwollende Sexismus ist dagegen als Set von zusammenhängenden Einstellungen gegenüber Frauen zu sehen. Wenn Frauen den „sozialen Erwartungen“ nicht
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entsprechen, werden sie negativ wahrgenommen oder „sanktioniert“, aber trotzdem akzeptiert und unterstützt. Das Konzept des ambivalenten Sexismus beinhaltet drei empirisch bestätigte, miteinander korrelierende Dimensionen: Paternalismus, Gender Differentiation und Heterosexualität. Der Paternalismus bringt die ambivalente Haltung gegenüber Frauen zum Ausdruck, die Frauen zwar zu fördern, diese jedoch für unselbständigen Personen halten., Die Gender Differentiation stellt hingegen die soziale Rechtfertigung und Bestätigung für die vorrangige soziale Position des Mannes dar, mit der Begründung, dass die Geschlechter verschiedene soziale funktionale Rollen erfüllen würden. Die Ambivalenz wird durch die positivere Einstellung einer „complementary gender differentiation” Frauen gegenüber zum Ausdruck gebracht, da diese die Frau als die begehrte und auch komplementäre Partnerin für den Mann betrachtet.
Macht Frau sein glücklich? – Globalisierung und Geschlechtsstereotype Die Kultur beeinflusst, wie Stereotype und Vorurteile wahrgenommen werden. Stewart und Ting-Toomey (1987) betonen die pragmatische Perspektive der Kommunikation zwischen den Geschlechtern. Demnach geschieht die Kommunikation zwischen Männern und Frauen in einem bestimmten sozialen und kulturellen Kontext. Handelt es sich dabei dann nur um eine selbst-erfüllende Prophezeiung, in der der subtile Sexismus auch in Form von Protegieren durch extreme „political correctness“ zum Ausdruck kommt? Oder wählen Frauen nur diejenigen Stereotypen aus, die ihnen nützlich sind? Ist letztgenanntes tatsächlich verwerflich und wird es nur vom weiblichen Geschlecht praktiziert? Die Globalsierung ruft viele Veränderungen der kulturellen Muster hervor, ist dies ebenfalls bei den Geschlechtsstereotypen der Fall? Die Kulturspezifik äußert sich am stärksten zu diesen Fragen in der Selbstbeschreibung der Sozialen Rollen in einer Kultur (Genkova, 2009). In einer kulturvergleichenden Studie (Deutschland, China, Bulgarien und Frankreich) über kulturelle Muster (Genkova, 2009) wurden gefragt, inwieweit das weibliche Geschlecht positiv oder negativ bewertet werde und ob es „gut“ und „förderlich“ für das eigene Fortkommen sei, eine Frau zu sein. Wendet man hier eine Gender-MainstreamPerspektive an, stellt man fest, dass sich die Geschlechterstereotype bis auf Frankreich universell bestätigen. In Frankreich hingegen wird angegeben, dass es die Frauen besser als die Männer haben (s.o.). Da die Stichprobenverteilung nach Alter und Geschlecht gleich ist, sollten man von einem ähnlich starken Einfluss dieser Variablen auf die subjektiven Theorien der Menschen ausgehen (Genkova, 2009). Dies alles weist darauf hin, dass Frau zu sein, nicht so erwünscht ist und eigentlich nicht zu einem erfolgreichen Leben und zum Glück führen kann. So stellen sich die folgenden Fragen: Macht Frau sein glücklich? Und wann sind Frauen glücklich und erfolgreich? In Bezug auf das Geschlecht wurde festgestellt, dass für Männer und Frauen die sexuelle Zufriedenheit stärker mit equity zusammenhängt als mit dem Glück in der Partnerschaft (Grau, 1999). Bei einer Paaranalyse von 242 Paaren bezogen auf Alltagsstress, Coping, psychisches und physisches Wohlbefinden schätzen Frauen ihr physisches Befinden schlechter als das der Männer ein. Bezüglich des Ausmaßes an Alltagsstress schätzen Frauen die Belastungen in den meisten Bereichen höher ein im Vergleich zu den Bewertungen ihres Partners.
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Die Auswirkungen der Belastungen auf das Befinden beider Partner zeigt, dass für das psychische und physische Befinden der Frauen der Stress durch den Partner und der Alltagsstress des Partners von größerer Bedeutung sind als ihre eigenen Belastungen, während das physische Befinden der Männer durch die eigenen Belastungen beeinflusst wird (Widmer & Bodenmann, 2000). Stroebe und Stroebe (1994) stellten dennoch eine förderliche Wirkung der Ehe auf das Wohlbefinden und die Gesundheit fest. Dieser Effekt wird durch die Geschlechtszugehörigkeit modifiziert. Der Effekt auf das Wohlbefinden ist bei Frauen größer als bei Männern, während der Effekt auf die Gesundheit bei Männern größer ist. Die Gegenwart von kleinen Kindern im Haushalt senkt das Wohlbefinden der Eltern. Das Wohlbefinden steigt erst wieder auf das Niveau von kinderlosen Eltern, wenn die Kinder das Haus verlassen haben. Ein Erklärungsansatz für die förderliche Wirkung der Ehe findet sich in den Theorien zur sozialen Unterstützung. Danach erfüllen Ehepartner füreinander wichtige Funktionen in den Bereichen der instrumentellen Unterstützung, der sozialen Validierung von Urteilen über Meinungen, Fähigkeiten und Gefühle, der emotionalen Unterstützung und der sozialen Identität (Stroebe & Stroebe, 1994). Durch die Ehe können verschiedene Stressfaktoren, wie z.B. Einsamkeit und mangelnde soziale Unterstützung, vermindert werden. Die soziale Unterstützung und das Vorhandensein von Bezugspersonen haben einen Puffereffekt für Wohlbefinden, Stressbewältigung, Gesundheit und für kognitive und emotionale Aspekte der Motivation. Die Soziale Unterstützung interagiert stark mit positiven und negativen Lebensereignissen. Bei Frauen spielt die soziale Unterstützung eine wichtigere Rolle für das Wohlbefinden und Selbstwertgefühl als bei Männern. Im Allgemeinen führt der Mangel an sozialer Unterstützung zu externalen Kontrollüberzeugungen, zu relativer Unzufriedenheit mit dem Leben und zu Schwierigkeiten bei Problemlösungen (Saranson et al., 1983). In einer Studie, zu Alltagssituationen und kausaler Attribution, wurde festgestellt, dass Situationen bezogen auf das Zusammensein mit anderen bevorzugt werden. Dies gilt besonders für Frauen (Brandstätter, 1983). In Bezug auf die Ehe als Wohlbefindensindikator unterscheiden sich die Geschlechter ebenfalls – denn verheiratete Männer haben eine höhere Lebenserwartung und sind zufriedener als die unverheirateten, hingegen haben verheiratete Frauen eine niedrigere Zufriedenheit als nicht verheiratete (vgl. Genkova, 2009). In Bezug auf den sozioökonomischen Status und das subjektive Wohlbefinden existiert bei Männern ein stärker ausgeprägter Zusammenhang als bei Frauen. Die Korrelationen von Einkommen und Ausbildung mit Lebenszufriedenheit und Glück sind bei Männern ebenfalls höher als bei Frauen (Wilz et al., 1999). Dies hängt vom unterschiedlichen Sozialisationsprozess und der differierenden Selbstwahrnehmung ab, was durch den Zusammenhang gestützt wird, dass dies bei älteren Männern und Frauen stärker zum Ausdruck kommt als bei jüngeren. Dabei hat das soziale Netzwerk auf das subjektive Wohlbefinden von Frauen einen stärkeren Einfluss als von Männern, wie bereits die Ergebnisse der Einzelstudien zeigten. Dies wurde auch in Längsschnittuntersuchungen ermittelt. Anhand der German Panel Date wurde eine Auswertung durchgeführt (Clark et al., 2003), ob Personen nach intensiven lebens- und arbeitsbezogenen Ereignissen zu ihrem Grundzustand des subjektiven Wohlbefindens zurückkehren. Ein starker Einfluss auf die Lebenszufriedenheit ist während der Zeit
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des Ereignisses oft festzustellen. Hier können signifikante Effekte erkannt werden, so reagieren beispielsweise Männer stärker auf arbeitsmarktbezogene Ereignisse (Arbeitslosigkeit und Entlassung) und Frauen stärker auf Lebensereignisse (Heirat und Scheidung). Auch Antizipation stellt eine wichtige Komponente des individuellen Wohlbefindens dar. Zuletzt wurde festgestellt, dass Glück keine Versicherung gegen harte Unglücke ist: Menschen mit einem hohen Zufriedenstellungs-/Zufriedenheitsniveau werden umso stärker von negativen Ereignissen getroffen. Bei einer Studie über Alter und Geschlechtsunterschiede in Bezug auf Wohlbefinden in elf Kulturen haben Lucas und Gohm (2000) folgende kulturübergreifende Aspekte ermittelt: In Bezug auf das Geschlecht tendieren Frauen eher dazu, unglücklich zu sein. Sie sind emotionaler und deswegen gilt für sie eher die selbsterfüllende Prophezeiung. In Bezug auf das Alter sind verschiedene Lebensbedingungen sehr wichtig (Diener & Suh, 1998; Wilson, 1967). Die Geschlechtstereotype äußern sich ebenfalls in Bezug auf die Führungsrolle der Frau. Heutzutage spricht man häufiger von der Führungsrolle der Frau und diesbezüglich vom Gender Mainstream. Auch die Stereotypenvorstellungen wurden empirisch verifiziert: Im Durchschnitt sind Frauen zwischenmenschliche Beziehungen wichtiger als Männern. Bereits in der Kindheit streben Jungs mehr nach Unabhängigkeit, für Mädchen sind dagegen die sozialen Beziehungen wichtiger. Diese Unterschiede werden im Erwachsenenalter noch deutlicher: Männer gehen bei Gesprächen stärker auf den Inhalt ein, Frauen auf die Beziehung zu und zwischen den Gesprächspartnern (vgl. Koch, 2003). Männer sprechen, um Informationen zu geben, Frauen, um ihre Erfahrungen mit anderen zu teilen, zu helfen oder zu unterstützen. Deswegen betonen Frauen im Gespräch Gemeinsamkeiten. Dier wird Frauen in Führungspositionen oder Verhandlungen oft zum Verhängnis, da sie mit diesem Kommunikationsverhalten nicht unbedingt das Durchsetzen ihrer Interessen in den Vordergrund stellen. Die Vorstellungen von sozialer Macht sind kulturell übergreifend: Männer werden als aggressiver und dominanter als Frauen beschrieben, somit sind die Führungspositionen in Politik und Wirtschaft auch fast ausschließlich mit Männern besetzt. In Situationen, in denen die Rollen des Führers nicht eindeutig definiert sind, verhalten sich Männer direktiv und Frauen hingegen eher demokratisch. Dieses Verhalten ist auch ausschlaggebend, um bestimmte stereotype Erwartungen zu erfüllen. Dementsprechend legen Männer größeren Wert darauf, andere zu dominieren, sich durchzusetzen und zu gewinnen. Ein direktiver Führungsstil wird deswegen bei Männern eher akzeptiert und positiver bewertet als bei Frauen. Somit stecken Frauen in einer Art Dilemma, Erwartungen zu erfüllen und gleichzeitig auf ihre Weise akzeptiert zu werden. Doch offensichtlich wird die soziale Kategorie „Führung“ jedoch männlich definiert. Ob die Karrieremänner als kompetenter wahrgenommen und besser akzeptiert würden, überprüften Steffens & Mehl (2003) in einer Studie: Die Versuchspersonen sollten für eine Position in der mittleren Führungsebene ihre Beurteilung abgeben, in der entweder auf stereotypmännliche Führungsqualitäten Wert gelegt („traditionell“) oder zusätzlich auf stereotypweibliche Sozialkompetenz („feminisiert“) geachtet wurde. Anschließend sollten sie fiktive Bewerberinnen und Bewerber auf der Basis eines Lebenslaufs und eines Schreibens hinsichtlich ihrer Fachkompetenz, sozialen Kompetenz und Eignung einschätzen. Die Lebensläufe ließen ebenfalls auf Fachkompetenz, auf soziale Kompetenz oder auf beides schließen. Insgesamt wurde die Eignung von den Bewerberinnen und Bewerbern am höchsten eingeschätzt, die sowohl ihre fachliche als auch
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ihre soziale Kompetenz betonten. Die Sozialkompetenz der fachlich kompetenten Frauen wurde hierbei höher eingeschätzt als die der entsprechenden Männer. Dies ist aber tendenziell stärker negativ zu interpretieren, da Frauen eher soziale als fachliche Kompetenz zugetraut wird (Steffens et al., 2003). Stahlberg und Reinhard (1999, nach Stahlberg & Reinhard, 2003) zeigten, dass Männer, denen mitgeteilt wurde, dass (1) sie in einem Leistungstest ein schlechteres Testergebnis erzielt hatten und (2) Männer in diesem Test schlechter abgeschnitten hatten als Frauen, eine besonders hohe Zufriedenheit und ein besonders hohes aktuelles Selbstwertgefühl aufwiesen („Der Dümmste der Dummen“-Effekt). Weiterhin sollten sie den zukünftigen Berufserfolg von fiktiven Stimuluspersonen (männlich oder weiblich) einschätzen, die in einem Test zur logischen Denkfähigkeit entweder gute oder schlechte Ergebnisse erzielt hatten (Stahlberg & Reinhard, 2003). Hierbei haben Männer und Frauen laut Informationsangaben unterschiedlich abgeschnitten. Die Ergebnisse zeigen, dass sich auch in der Fremdwahrnehmung „Der Dümmste der Dummen“-Effekt für die männlichen Stimuluspersonen bestätigen ließ. Die Ergebnisse bestätigen auch die Annahme, dass die Information über Geschlechterunterschiede in Bezug auf Fähigkeiten implizite Informationen über die Bedeutung bestimmter Fähigkeiten für den beruflichen Erfolg enthält. Die Messinstrumente selbst wurden abgewertet, wenn die Männer schlechter abgeschnitten. Rudman und Glick (1999, 2001, nach Steffens et al., 2003) zeigten Videomitschnitte angeblicher Bewerbungsgespräche für die Besetzung einer Führungsposition. Sie fanden heraus, dass „Karrierefrauen“ für weniger sozial kompetent gehalten wurden als sich gleich präsentierende „Karrieremänner“. Daraus folgt die paradoxe Konsequenz der Diskriminierung von Bewerberinnen, wenn typisch weibliche soziale Fähigkeiten in der Stellenausschreibung verlangt wurden (backlash effect). Steffens (2003) führte drei Folgeexperimente durch, in denen die Rahmenbedingungen geprüft wurden, wann „Karrierefrauen“ sozial kompetent erschienen. Präsentiert wurden entweder Lebensläufe oder Tonmitschnitte von Bewerbungsgesprächen. Wie die Ergebnisse zeigen, kam bei der Beurteilung von Lebensläufen der allgemeine Geschlechterstereotyp zum tragen, sodass Frauen für sozial kompetenter gehalten wurden als Männer mit einem identischem Lebenslauf. Bei der Beurteilung von Tonmitschnitten führten sowohl Antworten, die auf Sozialkompetenz schließen ließen, als auch eine „sympathische Sprechweise“ zu hohen Sozialkompetenzurteilen über die Bewerberinnen. Dennoch wurde den weiblichen Bewerberinnen, wenn sie sachkompetent waren, weniger soziale Kompetenz zugeschrieben und umgekehrt.
Zusammenfassung Dementsprechend könnte man meinen, dass Frauen in einem Dilemma stecken: Was wäre für eine erfolgreiche Karriere fördernd und was, um bestimmten Stereotypenvorstellungen entgegenzuwirken? Denn wenn sie sich männlicher verhalten, wirken sie nicht sozial kompetent („Das ist doch keine Frau!“), doch wenn sie weiblicher wirken, dann traut man ihnen keine Sach- und Führungskompetenz zu. Auf der einen Seite wird hohe Attraktivität von ihnen erwartet und auf der anderen Seite jedoch wird Frauen häufig unterstellt, dass sie durch diese mangelnde Anstrengung kompensieren möchten. All dies klingt eher negativ,
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so als seien Frauen „Opfer“ der sozialen Normen, der Erwartungen und Stereotype und würden wiederkehrend sanktioniert, wenn sie sich nicht diesen entsprechend verhielten. Dass die Frau kein vernachlässigtes Forschungsobjekt ist, wird durch die zahlreichen Studien ersichtlich, obwohl die Perspektive der Unterschiedsbetrachtung häufig von dem Gender Mainstream der Defizitbetrachtung geprägt ist. Diese entsteht aber nicht nur durch die stereotypen sozialen Erwartungen. Somit ist Gender Mainstream nur eine Herausforderung für die sozialen weiblichen Stereotype – sie nach außen und auf weibliche Art und Weise zu verändern.
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Teil IV Das Fach Psychologie aus einer Genderperspektive: Kritik und Reflexion
17. Friedenspsychologie Krieg und Frieden – feministische Perspektiven der Friedenspsychologie Miriam Schroer
Das Thema Krieg und Frieden trifft den Kern der zentralen dualistischen Geschlechterzuschreibung aggressiv-friedlich. Aggression und Gewalt sind in vielen Gesellschaften geschlechtlich kodiert. Jeweils spezifische Formen von Aggression und Gewalt gelten – in bestimmten Kontexten – als Teil der Definition von Männlichkeit und Negation von Weiblichkeit. Feministische Bewegungen befassten sich mit Gewalt, Krieg und Frieden und beeinflussten die Geschlechterforschung. Inzwischen sind Zusammenhänge zwischen Geschlecht und Konflikt zu einem traditionsreichen Thema eines breiten, interdisziplinären, geschlechtertheoretischen Forschungsstrangs geworden. Gegenstände der Friedenspsychologie sind Krieg und Frieden. Die Disziplin ist normativ am Ideal des positiven Friedens ausgerichtet. Die Kategorie Geschlecht ist inzwischen Bestandteil friedenspsychologischer Gegenstandsbestimmungen (z.B. Christie, et al. 2001). Dabei wird Geschlechtergerechtigkeit als fester Bestandteil eines positiven Friedens verstanden und strukturelle Gewalt geschlechtsspezifischer Ungleichheit untersucht. Debatten der Geschlechterforschung legen nahe, dass Gender darüber hinaus eine bedeutende Kategorie für die Untersuchung bewaffneter Konflikte ist. Zu den – später ausführlich dargestellten – analytischen Eckpunkten der Forschung über Geschlecht und Konflikt gehört die feministische Kritik an starren Identitätskonzepten, das Verständnis von Geschlecht in den Dimensionen Struktur, Symbolik und Identität, der Begriff der Intersektionalität und Ansätze der Männlichkeitsforschung. Diese analytischen Werkzeuge ermöglichen ein vertieftes Verständnis nationaler und ethnischer Gemeinschaftsbildungen und Eskalationsdynamiken, die für das Verständnis bewaffneter Konflikte zentral sind. Der in diesem Beitrag verwendete Konfliktbegriff bezieht sich, soweit nicht anders bezeichnet, auf die Makroebene zwischenstaatlicher und innerstaatlicher Konflikte. Unterschieden wird zwischen einem Konflikt als Unvereinbarkeit (vgl. Glasl 1994) und dem möglicherweise gewaltsamen Konfliktaustrag. Damit sind vor allem bewaffnete Konflikte und Kriege gemeint.1 Der Gewaltbegriff
1 Von bewaffneten Konflikten wird in der quantitativen Kriegsforschung ab 25 kampfbezogenen Toten pro Jahr gesprochen, von Kriegen ab 1000 (Upsala Conflict Data Program 2009).
G. Steins (Hrsg.), Handbuch Psychologie und Geschlechterforschung DOI 10.1007/978-3-531-92180-8_17, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010
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bezieht sich, soweit nicht anders bezeichnet, auf direkte Gewalt. Strukturelle Gewalt2 wird als solche benannt. Feministische Perspektiven haben in der Friedenspsychologie eine ambivalente Position. Einerseits werden die oben skizzierten Ergebnisse der Geschlechterforschung in weiten Teilen der sozialpsychologischen Friedensforschung nicht berücksichtigt. Mitte der 1990er Jahre stellte McKay eine Lücke zwischen Friedenspsychologie und feministischer Forschung und den Ausschluss feministischer Positionen aus diesen Debatten fest (McKay 1995). Andererseits fanden geschlechtertheoretische Perspektiven durchaus – und seit Mitte der 1990er Jahre zunehmend – Einzug in psychologische Forschung, die sich mit Krieg und Frieden befasst. Veröffentlicht wurde diese Forschung teilweise in friedenspsychologischen und politisch psychologischen Zusammenhängen, insbesondere aber in feministisch psychologischen und anderen geschlechterwissenschaftlichen Publikationen. Die Forschungsergebnisse beziehen sich auf vielfältige nationale, zeitliche und diskursive Kontexte. In neueren internationalen Publikationen der Friedenspsychologie werden feministische Ansätze inzwischen stärker wahrgenommen. Im friedenspsychologischen Sammelband (Blumberg, et al. 2006) nimmt ein Überblick über feministische Forschungsergebnisse einen prominenten Platz ein. Im Vordergrund der Darstellung stehen feministische Perspektiven auf Frieden sowie Effekte von Konflikten auf Frauen und Mädchen (Costin 2006).3 Anliegen dieses Beitrags ist es, Ansätze feministischer Friedenspsychologie entlang zentraler Diskussionslinien zusammenzufassen und vor dem Hintergrund analytischer Eckpunkte der geschlechtertheoretischen Friedensforschung einzuordnen. Der Beitrag beginnt mit einem kurzen Überblick über die Friedenspsychologie. Dabei wird die Verankerung der Kategorie Geschlecht im friedenspsychologischen Gegenstandsbereich hervorgehoben. Im zweiten Schritt werden aus den geschlechterwissenschaftlichen Debatten drei bedeutsame, aktuelle analytische Eckpunkte für die Erforschung von Krieg und Frieden herausgearbeitet. Der dritte Abschnitt ist der Darstellung zentraler Diskussionslinien feministischer Friedenspsychologie gewidmet. Dabei werden Bezüge zu den skizzierten Debatten der Geschlechterforschung hergestellt und wichtige Berührungspunkte mit feministischen Bewegungen im Kontext internationaler Friedens- und Sicherheitspolitik benannt.4 Der Beitrag zeigt die thematische Bandbreite feministischer Friedenspsychologie. Einen wichtigen Ausgangspunkt bildeten feministische Kritik am Identitätsbegriff sozialpsychologischer Friedensforschung und die Dekonstruktion essentialistischer Zusammenhangsannahmen zwischen Geschlecht und Gewalt bzw. Krieg. Im Gegensatz zu letzteren stehen differenzfeministische Positionen der Friedenspsychologie. Einen eigenen geschlechterkritischen Analyserahmen stellte die sozialpsychologisch psychoanalytische Friedenspsychologie bereit. Die Kritik und Erweiterung scheinbar geschlechterneutraler Methoden – ein klas2 Der von Galtung (1969) geprägte Begriff der strukturellen Gewalt bezeichnet die Begrenzung von Lebenschancen durch soziale Ungleichheit, die durch gesellschaftliche Strukturen und Institutionen hervorgerufen wird. 3 Weitere Überblicksartikel über feministische Friedenspsychologie: Johnson und Newcomb (1992), McKay (1996), McKay und Mazurana (2001). 4 Berücksichtigt wurden Beiträge von 1988 bis 2009. Die speziell hervorgehobenen geschlechteranalytischen Eckpunkte entstanden teilweise gleichzeitig, teilweise erst Mitte der 1990er Jahre. Auf Ungleichzeitigkeiten wird ggf. hingewiesen.
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sisches feministisches Projekt – bezieht sich vor allem auf Instrumente der Konfliktbearbeitung. Zu den wichtigen inhaltlichen Errungenschaften gehören zudem die Erforschung der Erfahrungen und Positionen von Frauen und Mädchen in Kriegs- und Friedensprozessen und die Entwicklung praktischer Implikationen für den Friedensaufbau. Friedenspsychologische Geschlechterforschung schließlich, nimmt Geschlecht zusammen mit anderen Kategorien als analytische Perspektive auf Konflikt- und Friedensdynamiken in den Blick. Gemessen an den geschlechteranalytischen Werkzeugen für die Erforschung von Krieg und Frieden bestehen besonders in diesem Bereich wichtige Forschungspotentiale für die Friedenspsychologie.
Was ist Friedenspsychologie? Friedenspsychologische Forschung bildet ein innovatives Feld innerhalb der Psychologie und ist gleichzeitig in das Themenfeld interdisziplinärer Friedens- und Konfliktforschung einzuordnen. Ähnlich wie feministische Forschung ist die Friedenspsychologie normativ ausgerichtet, am Ideal des Friedens. Dieses Ideal umfasst nicht nur negativen Frieden, d.h. das Ende direkter Gewalt, sondern auch positiven Frieden, d.h. die Transformation struktureller Gewalt, die Verwirklichung der Menschenrechte und sozialer Gerechtigkeit (Sommer 2005, 311). Ein verkürzter Blick auf gewaltfreien Konfliktaustrag und negativen Frieden allein berge die Gefahr, soziale Ungleichheit und Menschenrechtsverletzungen zu verfestigen (Sommer 2006, ebenda). Der Gegenstandsbereich der Friedenspsychologie erstreckt sich demnach über die Themen direkte Gewalt, strukturelle Gewalt, gewaltfreie Konfliktbearbeitung sowie Friedensgestaltung, d.h. Aufbau eines umfassenden Friedens (Christie, et al. 2001). „Peace Psychology seeks to develop theories and practices aimed at the prevention and mitigation of direct and structural violence. Framed positively, peace psychology promotes the nonviolent management of conflict and the pursuit of social justice, what we refer to as peacemaking and peace building, respectively.“ (Christie et al 2001, 13)
Friedenspsychologie bezieht dabei ausdrücklich die strukturelle Dimension sozialer Ungleichheit in ihr Verständnis sowohl von Gewalt als auch von Frieden ein und fragt nach Zusammenhängen zwischen direkter und struktureller Gewalt. In dieser Definition begründet sich bereits die Relevanz der Analysekategorie Geschlecht und der feministischen Analyse weiterer Machtstrukturen wie Ethnie, Klasse und Sexualität für den friedenspsychologischen Gegenstandsbereich. Geschlechtergerechtigkeit und Beendigung struktureller Gewalt gegenüber Frauen und Mädchen sind aus feministischer Perspektive untrennbarer Bestandteil eines positiven Friedens. Geschlecht wird dabei zusammen mit weiteren Achsen sozialer Differenz und Ungleichheit berücksichtigt, z.B. weltweiten Machstrukturen (Rey 2000). Mittlerweile ist Geschlechtergerechtigkeit zu einem Bestandteil friedenspsychologischer Gegenstandsbestimmung (Christie, et al. 2001) und der Diskussion des Friedensbegriffs unter dem Stichwort „Kulturen des Friedens“ (Spring 2000, Brenes und Wessells 2001, Rivera 2004) geworden. Auch für die praktische Arbeit von Friedensfachkräften werden
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„Genderkompetenzen“ erwartet (Johnson und Newcomb 1992), im Sinne einer – oft nicht näher ausgeführten – Sensibilität gegenüber geschlechtlichen Strukturen und für die Berücksichtigung von Männern und Frauen der jeweiligen Zielgruppe. Große Teile friedenspsychologischer Forschung sind allerdings bislang geschlechterblind geblieben. In die interdisziplinäre Konfliktforschung brachten friedenspsychologische Analysen Neuerungen ein. Anders als die in den Politikwissenschaften dominanten realistischen Theorien internationaler Beziehungen betonten sie die Wahrnehmung der jeweiligen Streitpunkte. Das wissenschaftliche Verständnis der Unvereinbarkeiten, wie etwa strittige Ressourcen, wurde um psychologische Perspektiven erweitert, z.B. auf soziale Identität, kollektive Mythen oder Attribuierungen des eigenen und gegnerischen Verhaltens. Friedenspsychologie befasst sich (vgl. etwa den deutschsprachigen Sammelband Sommer und Fuchs 2004) mit psychologischen Themen im Kontext internationaler Konflikte, wie z.B. Aggression, Intergruppenprozesse und politische Sozialisation. Friedenspsychologische Analysen direkter und struktureller Gewalt umfassen Themen wie Kriegskultur, Militarismus, Feindbilder, militärische Sozialisation sowie psychische Wirkungen von Krieg und Bedrohung. Die Untersuchung von Medieninhalten und deren Rezeption im Kontext von Konflikten ist verknüpft mit der Entwicklung und Erforschung friedensjournalistischer, bzw. ausgewogener Berichterstattung. Friedenspsychologische Forschung untersucht und verbessert vielfältige Methoden der gewaltfreien Konfliktbearbeitung, der Gestaltung gesellschaftlicher Versöhnung, sowie Methoden zur Verarbeitung kriegsbedingter Traumata. Verschiedene Facetten friedenspolitischen Engagements bilden ein weiteres Untersuchungsfeld (vgl. Sommer und Fuchs 2004). Das Ideal des positiven Friedens verpflichtet dazu, nicht bei Methoden der gewaltfreien Konfliktbearbeitung, d.h. einer bloßen Befriedung, stehen zu bleiben (Sommer 2006, 13). Als wichtige Aufgabe für die Zukunft definieren Christie et al die Betrachtung der Zusammenhänge zwischen struktureller und direkter Gewalt, zwischen negativem und positivem Frieden (Christie et al 2001, 17 f). Diese Fragen sind traditioneller Bestandteil der Geschlechterforschung und werden auch in den verschiedenen Ansätzen feministischer Friedenspsychologie bearbeitet.
Geschlecht und Konflikt – Analytische Eckpunkte Für den Gegenstandsbereich der Friedenspsychologie ist Geschlecht aufgrund der normativen Ausrichtung auf strukturelle Gewalt und auf einen positiven Friedensbegriff relevant. Darüber hinaus ist Geschlecht eine bedeutsame analytische Kategorie für die Erforschung von Krieg und Frieden. Aus der Geschlechterforschung stehen analytische Werkzeuge zur Verfügung, die die Erforschung komplexer Identitätsprozesse im Kontext von Krieg und Frieden und die Untersuchung kollektiver Gewalt ermöglichen und dabei Zusammenhänge zwischen der individuellen und strukturellen Ebene in den Blick nehmen. Im folgenden Abschnitt werden zentrale analytische Eckpunkte aus aktuellen Debatten der Geschlechterforschung herausgearbeitet, anhand derer die Ansätze feministischer Friedenspsychologie diskutiert werden.
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Die Literatur zum Thema Geschlecht und Konflikt aus der feministischen, Geschlechter- und Männlichkeitsforschung5 bezieht sich – in unterschiedlicher Weise – auf konstruktivistische Grundannahmen. Die Debatte wird interdisziplinär geführt. Methodisch prominent sind dabei vor allem Geschlechterforschung (Žarkov 2006), Ethnologie (Slapšak 2000), Kulturwissenschaften (Helms 2006) und Soziologie (Seifert 2004). Spezifische Aspekte der Debatte spiegeln sich in der Auseinandersetzung mit vielfältigen Ausgangsdisziplinen und Methoden wider. Dies sind z.B. feministische Politikwissenschaft (Harders 2002), Entwicklungspolitik (Schäfer 2008), Geschichte (Davy, et al. 2005), feministische Kommunikationsund Medienwissenschaften (Kassel 2002) sowie die Psychologie (Costin 2006). Parallel zur wissenschaftlichen Debatte wurden praktische geschlechtersensible Ansätze für zivile und militärische Konfliktinterventionen und den Wiederaufbau entwickelt (z.B. International Alert 2001, gaps – gender action for peace and security 2007). Neben konstruktivistischen Grundannahmen teilen die meisten Ansätze einen geschlechterkritischen Friedensbegriff. Ein solcher positiver, prozessorientierter Friedensbegriff betont Geschlechtergerechtigkeit und das Ende geschlechtsspezifischer Gewalt an Frauen und Männern. Ein entsprechendes Modell operationalisierte Clasen (2006). Dieser Friedensbegriff schließt eine Kritik am Begriff des Nachkriegs ein, der in der Regel die Fortsetzung direkter Gewalt im öffentlichen Raum (Žarkov 2005, Susskind 2007) und eine Zunahme häuslicher Gewalt mit sich bringe (Zwingel 2002). Moser entwickelte daher einen analytischen Rahmen zum geschlechtlichen Kontinuum der Gewalt (2001). Die Forschungsergebnisse zum Thema Geschlecht und Konflikt können aus Platzgründen nicht im Einzelnen referiert werden. Stattdessen werden drei zentrale analytische Eckpunkte aus der Debatte zunächst genannt und dann ineinander verschränkt anhand von Beispielen näher erklärt. 1.
2.
Für die wissenschaftliche Betrachtung von Krieg und Frieden, d.h. von komplexen gesellschaftlichen, politischen aber auch individuellen Prozessen werden mehrere analytische Dimensionen von Geschlecht relevant. Reimann spricht von einem Genderdreieck. Sie unterscheidet, aufbauend auf Harding (1986), die Ebenen Struktur, Symbolik und Identität (2000). Der Blick auf Geschlecht als Machtdimension allein greift zu kurz. Geschlecht muss vielmehr in seiner komplexen Verwobenheit mit anderen Machtdimensionen betrachtet werden. Dies sind je nach analytischem Fokus Rasse6, Ethnizität, Sexualität und Klasse, sowie Lebensalter, Behinderung und nationale Machtposition in der Weltordnung. Hierfür wird gegenwärtig der Begriff der Intersektionalität verwendet, übertragen als Überkreuzungen oder Verwobenheit.7
5 Einen Einblick bieten die folgenden Sammelbände (Breines, et al. 2000, Moser und Clark 2001, Skjelsbæk und Smith 2001, Žarkov und Cockburn 2002, Davy, et al. 2005). 6 Der Begriff Rasse wird häufig bewusst nicht in Anführungszeichen gesetzt, da die Beschreibung sozialer Prozesse der rassistischen Konstruktion bestimmter Gruppen (racialization) gemeint ist. 7 Zum grundlegenden Verständnis von Intersektionalität siehe Brah (1993), einen Überblick über verschiedene Strömungen gibt Knudsen (2006), zur Verknüpfung mit einem psychologischen Subjektbegriff siehe Staunæs (2003), zur Einordnung in die deutschsprachige soziologische Debatte Klinger und Knapp (2007).
310 3.
Miriam Schroer Das Konzept hegemonialer Männlichkeit (Connell 1995) baut auf Ergebnisse feministischer Geschlechterforschung über die historische Dimension geschlechtlicher Kategorien auf. Es bildet eine wichtige Ressource zur Analyse geschlechtlicher Dynamiken im Kontext gewaltförmiger Konflikte.
Diese analytischen Eckpunkte ermöglichen innovative Perspektiven bei der Erforschung von Krieg und Frieden. Im Folgenden wird zunächst das Konzept hegemonialer Männlichkeit näher dargestellt. Vor diesem Hintergrund werden dann Intersektionalität und das Genderdreieck sowie deren Relevanz für friedenswissenschaftliche Fragestellungen anhand von Beispielen erläutert. Connell (1995) beschrieb Männlichkeit als ein historisch in der Moderne entstandenes Konzept, das sich zusammen mit der Vorstellung komplementärer Geschlechtscharaktere herausbildete. Die moderne westliche Geschlechterordnung beruhe nicht nur auf Hierarchien zwischen Männern und Frauen, sondern auch zwischen Männern. Hegemoniale Männlichkeit definierte Connell als die jeweils kulturell herausgehobene Männlichkeitsform (1995, 71 ff). Sie sei durch Heterosexualität und Dominanz gegenüber Frauen und anderen Männern gekennzeichnet. Als Ideal werde sie nur von wenigen Männern erreicht. Es bestehe jedoch eine Korrespondenz zwischen hegemonialer Männlichkeit und tatsächlicher Macht. Weitere Formen von Männlichkeit sind die Komplizenschaft, d.h. Praktiken, die nicht vollständig dem hegemonialen Ideal entsprechen, aber von der „patriarchalen Dividende“ materiell profitieren, Unterordnung, d.h. schwule Männlichkeit und als schwächlich abgewertete heterosexuelle Männlichkeit, sowie Marginalisierung. Darunter fasste Connell Männlichkeiten, die entlang der Achsen Klasse und/oder Rasse ausgegrenzt werden. Diese Formen bezeichnen keine Charaktertypen, sondern historisch veränderbare gesellschaftliche Strukturen und Praktiken. Connell verknüpfte diese strukturelle Ebene mit psychologischen Fragestellungen des individuellen Erlebens von Männern (Connell 1995, 87 ff.). Zusammenhänge zwischen Männlichkeit und kriegerischer Gewalt sollten vor dem Hintergrund historischer, institutioneller und weltweiter Strukturen – aus einer postkolonialen Forschungsperspektive – betrachtet werden (Connell 2002). Er analysierte die Entstehung moderner Armeen und beschrieb eine dominante weltweite Geschlechterordnung, die sich lokal jeweils unterschiedlich auswirke. Bourdieu (2005) beschrieb mit seinem Konzept des männlichen Habitus wie Struktur und individuelles Handeln in komplexen Verhaltens- und Ausdrucksformen des Habitus zusammenfließen. Dieses Konzept kann zur Analyse von Gewaltverhalten verwendet werden (Streicher 2008). Die Begriffe der Intersektionalität und der hegemonialen Männlichkeit ermöglichen ein kontextualisiertes Verständnis der Kategorie Geschlecht. Männlichkeit wird in der westlichen Geschlechterordnung demnach nicht nur in Abgrenzung von Weiblichkeit konstruiert, sondern die unausgesprochen weiße Männlichkeit wird gleichzeitig in Abgrenzung zu „ethnisierter“ Männlichkeit, zu den jeweils ethnisierten „Anderen“ konstruiert. In Deutschland sind etwa türkische und „arabische“ Männer die ethnisierten Anderen, in den Niederlanden und in Frankreich nordafrikanische Männer (Brah 1993). Die kulturell und gesellschaftlich dominante Gruppe wird dabei ethnisch nicht markiert. Gleichzeitig wird Geschlecht unausgesprochen entlang heterosexueller Normen definiert und bewertet (Connell 1995, 78). Aus intersektionaler Perspektive ist für die Konstruktion kriegswichtiger Katego-
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rien wie Ethnie oder Nation die Verwobenheit mit anderen Kategorien, insbesondere Geschlecht und Sexualität notwendig. Aus dieser komplexen Betrachtung wird deutlich, das Geschlecht für die Erforschung gewaltförmiger Konflikte nicht nur auf der Ebene individueller Identität bedeutsam wird. Daher bietet das Genderdreick, d.h. die Analyse von Geschlecht auf den Ebenen Struktur, Symbolik und Identität eine hilfreiche Gliederung. Geschlecht in seiner strukturellen Dimension bezieht sich auf gesellschaftliche und politische Machstrukturen, die sich u.a. in Institutionen manifestieren. Sie werden anhand des Zugangs und der Verteilung politischer und gesellschaftlicher Macht, sowie materieller Ressourcen sichtbar. Institutionelle Praktiken wie z.B. die militärische Einberufung der Männer, sind aus dieser Perspektive an der Herstellung von Geschlecht beteiligt. Feministisch politikwissenschaftliche Studien legen nahe, dass Institutionen wie Staat und Militär historisch ursprünglich mit Männlichkeit gleichgesetzt wurden und strukturell weiterhin eng mit gesellschaftlichen Idealen von Männlichkeit verflochten sind (Mordt 2002, Roß 2002). Zur strukturellen Analyse von Geschlecht gehört das Konzept der patriarchalen und rassistischen Dividende. Damit sind Vorteile gemeint, die Männer und Weiße in den meisten modernen Gesellschaften aus der einfachen Tatsache ihrer Position beziehen (Connell 1995). Geschlecht in seiner symbolischen Dimension eignet sich zur Analyse der diskursiven Kriegsvorbereitung und -führung in den Medien und dominanten politischen Diskursen. Prozesse der Gemeinschaftsbildung, z.B. als bedrohte Nation, setzen auf starke Geschlechtersymboliken, die mit Heteronormativität verflochten sind. Ihre Kommunikation durch die Medien bildet einen Teil des Krieges, den so genannten Medienkrieg (Žarkov 2007). Die Analyse von Geschlecht und Nation, deren Auftakt die Studie von Yuval-Davis bildete (1997), zeigte die Verflochtenheit zwischen kollektiven Identitätsprozessen als Nation und Geschlechtlichkeit. Identität und individuelles Erleben als weitere Analyseebene von Geschlecht muss, wenn man dem komplexen Ansatz Reimans folgt, vor dem Hintergrund der symbolischen Gemeinschaftsbildungen und strukturellen Machtkategorien analysiert werden. In diesen Themenbereich fällt zum einen die Erforschung geschlechtsspezifischer Erfahrungen und Bedürfnisse im Krieg und Nachkrieg und die Entwicklung angemessener Programme. Zum anderen wird hier die Erforschung von Identitäten im Kontext von Krieg und Frieden eingebettet. In dieser Debatte hat sich ein konstruktivistischer Identitätsbegriff (Überblick bei Howard 2000) etabliert, der den Fokus auf die Prozesshaftigkeit und Vielschichtigkeit von Identitäten im Kontext der jeweiligen gesellschaftlichen Machtstrukturen und Symboliken setzt.
Diskussionslinien feministischer Friedenspsychologie Feministische Kritik am Identitätsbegriff sozialpsychologischer Friedensforschung In der traditionell sozial- und individualpsychologischen Friedensforschung wird Geschlecht in der Regel als eine – von mehreren – erklärenden Variable verwendet. In manchen Untersuchungsdesigns werden Unterschiede zwischen Männern und Frauen gefunden, in anderen nicht. Häufig wird verglichen, ob in einer untersuchten Population ethni-
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sche oder Geschlechterunterschiede überwiegen. Viele neuere Studien verwenden inzwischen Designs, die die Erklärungskraft der Geschlechtszugehörigkeit relativieren. So wird Geschlecht zusammen mit anderen Variablen, z.B. Fernsehkonsum, erhoben (Jayaratne, et al. 1996) oder auf möglicherweise geschlechtsrollenkonformes Antwortverhalten hingewiesen (Boehnke und Schwartz 1997). Feministische Strömungen innerhalb dieser Forschungstradition fordern eine stärkere Nutzung sozial- und persönlichkeitspsychologischer Variablen für feministische Fragestellungen (Duncan 2006). Ein Großteil der empirischen sozialpsychologischen Friedensforschung erhebt Geschlecht standardmäßig als Variable, weist ihr aber keine besondere analytische Rolle zu. Solange die Kategorie Geschlecht nicht in ihrer Komplexität und machtpolitischen Eingebundenheit berücksichtigt wird, ist dies kein großer Verlust, da zumindest Stereotypisierungen vermieden werden. Problematisch bleibt allerdings die Reduktion der Kategorie Kultur, Ethnie oder Migrationshintergrund auf eine erklärende Variable in vielen Untersuchungsdesigns. Diese Kritik wurde für ein psychologisches Publikum aus der Rezeption der oben dargestellten Ansätze der Geschlechterforschung entfaltet. Bhavnani und Phoenix analysierten in ihrem psychologischen Sammelband (1994) die Prozesshaftigkeit von Identitäten und Rassismen vor dem Hintergrund sich verändernder Machtkonstellationen und wechselnder nationalistischer Projekte. Daran anknüpfend rezensierte Marshall (1999) das einschlägige Werk „Geschlecht und Nation“ (Yuval-Davis 1997) sowie zwei Werke, in denen Intersektionen zwischen Geschlecht, Rasse und Machtstrukturen in Einwanderungsgesellschaften untersucht werden (Afshar und Maynard 1994, Brah 1996) für eine psychologische Leserschaft. Marshall las deren Ansätze als Kritik an den Identitätsbegriffen der Sozialen Identitätstheorie und der Interkulturellen Psychologie. Geschlecht und Kultur könnten nach der Rezeption der intersektionalen Forschung nicht als Variablen verwendet werden, da sie nicht voneinander und vom jeweiligen Kontext getrennt betrachtet werden sollten. Interkulturelle Psychologie versage darin, Machtbeziehungen zwischen den untersuchten Gruppen zu berücksichtigen. Marshall forderte eine Psychologie, die bei der Erforschung ethnischer Identitäten oder bestimmter Gruppen deren Beziehung zur dominanten kulturellen Gruppe berücksichtigt, ihren Stellenwert innerhalb der jeweiligen Nation untersucht und ihre Bedeutung in verschiedenen nationalistischen Projekten analysiert (Marshall 1999, 484). Zu einem ähnlichen Schluss kam Howard (2000) in einem Überblicksartikel zur Sozialpsychologie der Identitäten. Sie forderte eine stärker politisierte, kontextualisierte Sozialpsychologie, die neben der gesellschaftlichen Konstruktion von Identitätskategorien weltpolitische, geschichtliche, soziale und wirtschaftliche Rahmenbedingungen in ihre Analyse einbezieht. Zehn Jahre nach dieser Kritik haben konstruktivistische Konzepte einen festen Stellenwert in sozialpsychologischer Theoriebildung, nicht immer in den praktischen Forschungsdesigns. Im Fokus der intersektionalen Perspektive steht jedoch die Analyse von Prozessen nicht von Ergebnissen sozialer Konstruktionen. Die kritische Frage der Autorinnen nach der Berücksichtigung gesellschaftlicher Machtbeziehungen im Zusammenhang mit der Formation konfliktrelevanter Identitäten bleibt bestehen. Sie insistieren, dass intersektionale Analysen zeigen können, wie die Konstruktion des ethnischen Anderen z.B. auf Geschlechtersymboliken angewiesen ist. Diese Diskussion ist friedenspsychologisch relevant, da das Ausklammern dieser Komplexität die Isolierung, Festschreibung und Naturalisierung der Kategorien Kultur, Ethnie, Religionszugehörigkeit oder Migrationshintergrund befördern
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kann. Dies sind jedoch genau jene Kategorien, mit denen die Gegensätze konstruiert werden, auf deren Grundlage Kriege geführt werden können. Friedenspsychologische Forschung, die diese Konstruktionsprozesse wiederholt und festigt, verpasst damit eine wichtige emanzipatorische Chance. Geschlecht und Gewalt: Dekonstruktion essentialistischer Zusammenhangsannahmen Feministische Psychologie befasste sich mit der Dekonstruktion essentialistischer Geschlechterbilder. Diese Diskussion wird anhand von zwei Beispielen dargestellt. Das erste bezieht sich auf individuelle Aggression. Im Kontext der feministischen Therapiedebatte und der psychologischen Aggressionsforschung diskutierte Großmaß das Verhältnis von Geschlecht und Gewalt (1992). Das zweite Beispiel bezieht sich auf Geschlecht und Krieg. Ein Sammelband im Kontext der feministischen Auseinandersetzung mit genetischen und anderen biologischen Erklärungsmodellen gesellschaftlicher Prozesse setzte sich mit entsprechenden Erklärungen für Krieg, Gewalt und Geschlechterungleichheit auseinander (Hunter, et al. 1991). Anfang der 1990er Jahre wurde in der feministischen Psychologie in Westeuropa das Verhältnis von Frauen und Gewalt diskutiert. Dabei wurden Annahmen natürlicher weiblicher Friedfertigkeit und männlicher Aggressivität zurückgewiesen. Im deutschsprachigen Raum wies z.B. Großmaß (1992) auf die Wechselhaftigkeit geschlechtlicher Zuschreibungen hin. Frauen werde gelegentlich „omnipotente Destruktivität“, gelegentlich „aggressionslose Wehrlosigkeit“ zugeschrieben (1992, 119). Sie kritisierte, dass unter dem Gewaltbegriff oft undifferenziert die verschiedensten Phänomene zusammengefasst werden, so dass nur eine scheinbare Kohärenz bestehe (1992, 121). Mit Blick auf Geschlechtsunterschiede in Kriminalstatistiken unterschied sie zwischen Aggression – als aggressiven Impulsen und Gefühlen – und Gewalthandeln. Sie arbeitete heraus, dass Jungen und Männern in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Ordnung die „effektiveren Gewaltmittel“ vorbehalten seien, während Frauen und Mädchen eher indirekte und nach innen gerichtete Gewaltformen offen stünden. Diese Polarisierung werde auch genutzt, um vorwiegend Männer positiv in Kriegshandlungen einzubinden (1992, 120). Als Beleg für die symbolische Dimension dieser Geschlechterzuschreibungen beschrieb sie die Aufladung der Kriegsmetaphorik mit Geschlechtersymboliken. „Kriegshandlungen können wie männliche Sexualakte beschrieben werden [z.B. als Penetration eines Gebiets]. […] Und das Objekt von Kriegshandlungen wird als weibliches Sexualobjekt phantasiert.“ (1992, 121). Zur feministischen Friedenspsychologie zählt die Kritik und Dekonstruktion essentialistischer Zusammenhangsannahmen zwischen Geschlecht, Krieg und Frieden aus Disziplinen wie der Soziobiologie, Genetik, Biopsychologie und Anthropologie. In einem Sammelband der Reihe Gene und Geschlecht zum Thema Frieden, Krieg und Geschlecht (Hunter, et al. 1991) aus dem Umkreis U.S.- und mittelamerikanischer Frauenforschung wurde z.B. der Ansatz des Anthropologen Marvin Harris kritisiert, der Krieg und männliche Dominanz als natürliche Phänomene menschlicher Gemeinschaften beschrieb (Casey 1991). Rossoff (1991) kritisierte Ansätze, die universelle Geschlechtsunterschiede im Aggressionsverhalten auf der Grundlage biologischer Faktoren wie Genen, Chromosomen und Hormonen nahe legten sowie rassistische Einstellungen und Krieg als biologisch bedingte Phänomene betrachteten. Zu den Methoden der Dekonstruktion gehörte die Kritik aus der Perspektive der jeweiligen
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Disziplin selbst. Die Autorinnen benannten gegenläufige und komplexere anthropologische, biologische und psychologische Befunde, kritisierten aus biologischer Sicht soziobiologische Verallgemeinerungen und wiesen auf schwere methodische Verstöße hin. Darüber hinaus wurden aus soziologischer Perspektive die ahistorische Sichtweise und die unreflektierte Reproduktion kultureller Werte kritisiert. In der Tradition feministischer Wissenschaftskritik wurde schließlich aus marxistischer und wissenssoziologischer Perspektive die gesellschaftliche Rolle sozialwissenschaftlicher Forschung bei der Rechtfertigung von Ungleichheit und Krieg analysiert. Ebenso scharf wurden jedoch auch universalistische Thesen über friedliche kollektive Matriarchate differenzfeministischer Anthropologinnen kritisiert (Leacock in Casey 1991). Diese wissenschaftliche Diskussion spiegelt auch die politische Diskussion innerhalb verschiedener Strömungen internationaler Frauenbewegungen wieder, von denen Teile ihr pazifistisches Engagement auf differenzfeministische Positionen gründeten. Diese Autorinnen setzten sich dekonstruktivistisch mit vorhandenen Theorien auseinander. Sie bezogen sich fast ausschließlich auf die Kategorie Geschlecht. Sie wiesen die Annahme natürlicher, komplementärer Geschlechtscharaktere und deren Implikationen für die Erforschung von Krieg und Frieden zurück. Diese Debatten entstanden im Kontext der insbesondere durch Butler angestoßenen Debatte zur Dekonstruktion der Kategorie Geschlecht (Butler 1990). Sie bilden eine wichtige Grundlage für weitergehende Analysen. Neben der Dekonstruktion bietet insbesondere Großmaß erste Anhaltspunkte für die Untersuchung von Zusammenhängen zwischen Gewalt und Geschlecht, z.B. mit dem Verweis auf gesellschaftliche Prozesse der Zuweisung spezifischer Gewaltmittel für Jungen und Mädchen, die Bedeutung polarisierter Geschlechtszuschreibungen für die militärische Rekrutierung der Männer und die Bedeutung von Geschlechtersymboliken für Kriegsmetaphorik. Intersektionalität und eine differenzierte Männlichkeitsanalyse sind in dieser frühen Debatte nicht präsent. Differenzfeministische Positionen Differenzfeministische Positionen der Friedenspsychologie stehen den oben beschriebenen Ansätzen diametral entgegen. Auf der Grundlage des Konzepts der Problemlösungsworkshops analysierten Pearson und Babbitt (1998) kommunikative, interpersonale und emotionale Kompetenzen, die für einen erfolgreichen politischen Dialog in internationalen Konflikten hilfreich sind. Sie legten nahe, dass diese Kompetenzen bei Frauen häufiger auftreten. Ihre empirische Untersuchung bezieht sich auf zwei israelisch-palästinensische Problemlösungsworkshops mit Teilnehmer/innen mittlerer gesellschaftlicher Machtpositionen, einer davon gemischtgeschlechtlich, einer ausschließlich mit Frauen besetzt. Die Beobachtung zeigte Unterschiede in der Art der Kommunikation sowie eine positivere Bewertung des Ergebnisses in der reinen Frauengruppe. Dies führen Pearson und Babbitt auf spezifische kommunikative Kompetenzen der Frauen zurück, die sie mit Gilligans differenzfeministischen psychologischen Ansatz der weiblichen Moral erklären. An differenzfeministischen Ansätzen wurde vor allem die Festschreibung weiblicher Eigenschaften und die Verallgemeinerung des westlichen, weißen Mittelschichtfrauenbilds kritisiert. Aus der Perspektive der Männlichkeitsforschung kann an dieser Studie angemerkt werden, dass der gemischte Workshop ausschließlich als negative Kontrastfolie diente und
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kein rein mit Männern besetzter Workshop untersucht wurde. Aus politischer Sicht wurde kritisiert, dass diese Zuschreibungen ironischerweise im Umkehrschluss Kommunikationsunfähigkeit und Gewalthandeln von Männern legitimiere (vgl. Böge und Fischer 2005). Friedenspsychologische Ansätze stoßen an ihre Grenzen, wenn Machtstrukturen, Geschichte und Institutionen vernachlässigt werden. Sozialpsychologisch psychoanalytische Tradition Eine Sozialpsychologie des Friedens mit feministischen Aspekten entwarfen SenghaasKnobloch und Volmerg im Journal of Peace Research (1988). Vor dem Hintergrund des OstWestkonflikts kritisierten sie, dass der Ausdruck subjektiver Erfahrungen aus dem politischen Diskurs zwischen Regierungsvertretern ausgeschlossen sei. Subjektive Erfahrungen seien jedoch ein notwendiger Bestandteil einer adäquaten Kommunikation über Sicherheitsbedürfnisse. Diesen Mangel führten sie auf die historisch gewachsene Rolle des Staatsmannes zurück, die sie als „pathologische Regierungsrolle“ kritisieren. Starre Rollen ermöglichten, dass eine Politik der Abschreckung betrieben und von der Bevölkerung passiv hingenommen werde. Die Autorinnen fanden in Gruppendiskussionen und Planspielen ähnlich wie in den oben beschriebenen differenzfeministischen Ansätzen Geschlechtsunterschiede, kamen aber zu anderen Schlussfolgerungen. Anhand ihrer Untersuchung problematisieren sie starre Geschlechterrollen, in denen Jungen – zur Aufrechterhaltung ihrer männlichen Identität – auf Argumentationsstrukturen der Macht, Konfrontation und in einem Planspiel auf den nuklearen Erstschlag setzten, während Mädchen – zur Aufrechterhaltung ihrer weiblichen Identität – sich aus der Diskussion zurückzogen und sich so in eine passive Rolle brachten, die das aggressive Verhalten der Jungen zuließ. Diese komplexere Betrachtung geschlechtsspezifischen Handelns lässt spätere konstruktivistische Ansätze des „doing gender“ anklingen. Die Autorinnen führen verschiedene Ebenen zusammen: die historische Analyse des Regierungshandelns im Entstehungskontext des Nationalstaats, eine psychoanalytische Perspektive auf gesellschaftliche und individuelle Prozesse und eine Geschlechterforschungsperspektive vermittelt durch Rollentheorie und Annahmen zur Geschlechtsidentität. Diese friedenspsychologische Forschungstradition bietet mit ihrer psychoanalytisch-sozialpsychologischen Analyse einen lohnenden, im gegenwärtigen Mainstream wenig beachteten Ansatz über den oben skizzierten feministischen Forschungsrahmen hinaus. Feministische Erweiterung friedenspsychologischer Methoden Die feministische Kritik und Erweiterung friedenspsychologischer Methoden ist Teil einer breiteren friedenspolitischen Debatte, in der feministische und andere Organisationen Instrumente der internationalen Konfliktintervention hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf Frauen und Mädchen untersuchten (z.B. International Alert 2001). Gleichzeitig ist sie Teil des feministischen Projekts in verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen, scheinbar geschlechterneutrale Instrumente kritisch zu untersuchen. Gegenstand dieses feministischen Projekts sind in der Friedenspsychologie Ansätze der Friedenserziehung (Brock-Utne 1989), Methoden der internationalen Konfliktbearbeitung (Reimann 2000), das Konzept des zivilgesellschaftlichen politischen Diskurses (Mazurana
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und Bonds 2000), Burtons „Human Needs Theorie“ (Reimann 2002) sowie Problemlösungsworkshops (Reimann 2004a). Die Kritik beruht darauf, dass die vermeintlich neutralen friedenspsychologischen Instrumente dem positiven Friedensbegriff nicht gerecht werden, da sie indirekt den Ausschluss von Frauen und die Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung männlicher Privilegien im Nachkrieg unterstützen. Im vielen Nachkriegssituationen verschlechtere sich die Position von Frauen, z.B. durch neue, autoritäre Regierungen oder durch die Verdrängung von Frauen aus wirtschaftlichen Positionen, die sie während des Krieges eingenommen hatten (Reimann 2004b). Methoden der gewaltfreien Konfliktbearbeitung ließen diese Geschlechterdynamiken außer Acht, erhoben Lebenssituationen von Männern zur Norm, und trügen so zur Wiederherstellung des status quo ante bei. Die Autorinnen forderten daher, Prozesse der Geschlechterungleichheit im Rahmen der Konflikt- und Situationsanalysen zu erheben, Friedensverhandlungen öffentlich zu gestalten, Frauen und Frauengruppen in die Friedensverhandlungen einzubeziehen und Sozialisationsprozesse von Mädchen und Jungen durch eine Demokratisierung des Schulsystems zu verbessern. Eine Fortsetzung dieser kritischen Weiterentwicklung friedenspsychologischer Methoden ist sicherlich lohnend. Diese Diskussionslinie bringt mit dem Fokus auf den Ausschluss von Frauen und Mädchen die strukturelle Ebene von Geschlecht in die Konzeption und Analyse der Instrumente ein. Sie birgt Potentiale für die Berücksichtigung weiterer Ausschlussmechanismen. Während ethnische Trennungslinien zumeist im Zentrum der friedenspsychologischen Methoden stehen, könnte eine Weiterführung dieser Kritik gesellschaftliche Klassen in den Blick nehmen. Im Vordergrund der Ansätze stehen Mädchen und Frauen. Der Ansatz von Brock-Utne (1989) unterscheidet sich von den anderen, da er Vorschläge für die Sozialisation von Mädchen und Jungen entwickelt. Diese Diskussionslinie setzt sich in späteren Ansätzen fort, die auf der Grundlage der Männlichkeitsforschung im Kontext gewaltförmiger Konflikte spezifische Konzepte für die Arbeit mit Männern zur Reduktion von Gewalt und Sexismus entwickeln (Breines, et al. 2000). Spezifische friedenspsychologische Ansätze zur Arbeit mit Frauen zur Reduktion von Nationalismus und Gewalt sind mir nicht bekannt. Sichtbarkeit von Frauen in Kriegs- und Friedensprozessen Die UN-Resolution 1325 (United Nations Security Council 2000) ist ein wichtiges Ergebnis internationaler feministischer Bewegungen. Sie zielt auf die gleichberechtigte Beteiligung der Frauen an allen internationalen Maßnahmen der Konfliktintervention und Friedensförderung, ihre Berücksichtigung als Zielgruppe bei materiellen Wiederaufbaumaßnahmen, den Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt an Frauen in Kriegen und dessen strafrechtlicher Verfolgung. Dieses Themenspektrum wurde in interdisziplinären Geschlechterforschungsdebatten aufgegriffen und bildet den bisher umfangreichsten Themenbereich feministischer Friedenspsychologie. Die feministische Perspektive besteht darin, Frauen in die empirische Untersuchung einzubeziehen, sowie vor dem Hintergrund eines positiven Friedensbegriffs Implikationen für praktische Maßnahmen herauszustellen. Für die psychologische Debatte skizzierten McKay und Mazurana eine Geschlechterperspektive auf die Friedensförderung (2001). Zu den Themen gehörte die zivilgesellschaftliche Friedensarbeit von Frauen und Frauenorganisationen, Gewalt an Frauen und Mädchen
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in Kriegen sowie – zunächst zögerlich – Frauen als Soldatinnen oder Täterinnen. Eine spezifisch psychologische Perspektive des Wiederaufbaus (McKay 1998a) betonte gesellschaftliche Lern- und Heilungsprozesse, um strukturelle und direkte Gewalt an Frauen und Männern vermindern, der Militarisierung der politischen Kultur entgegenwirken und die Selbstbestimmung der Frauen zu stärken, ohne jedoch individualistische Lebensformen zum Maßstab zu erheben. Arbeitsschwerpunkte führender Frauen und Frauenorganisationen in Friedensprozessen sind Thema vieler Einzelstudien, z.B. in Südafrika (Rey und McKay 2006), Ruanda (Brunet und Helal 1998) oder Kenia (Tobach 2008). Dieses friedenspolitische Engagement wird aus psychologischer Perspektive als Form des Empowerments nach Gewalterfahrungen (Comas-Diaz und Jansen 1995) und des Erlangens psychischer Gesundheit (Laplante 2007) betrachtet. Die Studien zeigen Zusammenhänge zwischen psychischer Heilung und dem Einfordern von Gerechtigkeit, z.B. mithilfe einer Wahrheitskommission (Laplante 2007) oder psychologisch-rechtlicher Beratung (Agger, et al. 2008). Das Schweigen über historische Traumata, die verstärkende Rolle verschiedener Institutionen sowie Ausdrucksmöglichkeiten durch Kunst und öffentliche Aufarbeitung untersuchte Liem (2007) am Beispiel koreanischer Amerikanerinnen. Im Gegensatz dazu kritisierte Luci (2004), dass westliche Journalistinnen und Therapeutinnen das Schweigen kosovarischer Albanerinnen über Kriegsvergewaltigungen als Zeichen mangelnder Emanzipation deuteten. Das Schweigen könne ebenso als bewusste Entscheidung für das Aufrechterhalten familiärer und gemeinschaftlicher Gefüge interpretiert werden. Psychische Folgen geschlechtsspezifischer Gewalt an Frauen und Mädchen in Norduganda untersuchten Liebling und Kiziri-Mayengo (2002), sowie Länder übergreifend auf der Grundlage einer umfassenden UN Studie McKay (1998b). Die Bewältigung von Kriegsvergewaltigung bosnischer Frauen durch die Formierung komplexer sozialer Identitäten beschrieb Skjelsbæk (2006). Die Erfahrungen von Mädchen in bewaffneten Truppen, ihre physische, psychische, soziale und ökonomische Situation und geschlechtsspezifischen Gefährdungen nach dem Verlassen der Einheit, sowie Schlussfolgerungen für die Wiedereingliederung von Kindersoldatinnen waren Thema zunächst einer allgemeinen Literaturstudie (Mazurana, et al. 2002) und einer empirischen Studie in Norduganda und Sierra Leone (McKay 2004). Frauen als Täterinnen sexualisierter Gewalt am Beispiel amerikanischer Gefängnisaufseherinnen im Irak stellte Zurbriggen (2008) in den Kontext anderer Formen sexualisierter Gewalt innerhalb der USA, ohne jedoch das unterschiedliche Ausmaß des Kontrollverlustes systematisch einzubeziehen. Dieser Forschungsbereich ist der umfangreichste in der feministischen Friedenspsychologie. Die Untersuchungen trugen entscheidend zur Sichtbarkeit von Frauen in der psychologischen Erforschung von Friedens- und Kriegsprozessen bei. Sie leisteten einen wichtigen Beitrag für die Weiterentwicklung geschlechtersensitiver Maßnahmen der praktischen Konfliktintervention und Friedensarbeit. In die interdisziplinäre Debatte brachten sie spezifisch psychologische Perspektiven ein, zum Beispiel zeigten sie Zusammenhänge zwischen psychischer Heilung und Strukturen zum Erkämpfen sozialer Gerechtigkeit. In dieser Diskussionslinie werden vielfältige Rollen von Frauen in Konflikt- und Friedenssituationen berücksichtigt, vorrangig die der Friedensaktivistinnen und der von Gewalt Betroffenen, sowie zunächst von Täterinnen, die zugleich als Opfer erscheinen. Mit Blick auf das Geschlechter-
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dreieck betont diese Diskussionslinie neben der Ebene der Erfahrungen von Frauen die strukturelle Ebene von Geschlecht: Das Ideal eines geschlechtergerechten Friedens bildet einen wichtigen Bezugspunkt, zum Beispiel wird die Partizipation von politisch aktiven Frauen und Frauengruppen an offiziellen Friedensverhandlungen und die angemessene Berücksichtigung spezifischer Gewalterfahrungen von Frauen in Versöhnungsprozessen gefordert. Offen bleiben in diesen Analysen vor allem symbolische Aspekte von Geschlecht in Bezug auf Krieg und Frieden und Perspektiven auf Männer und Männlichkeitsdynamiken. Friedenspsychologische Geschlechterforschung Die folgenden Ansätze gehen über das Sichtbarmachen von Frauen hinaus. Geschlecht wird zusammen mit anderen Kategorien als Analysekategorie für das Verständnis von Krieg und Frieden und deren komplexen Dynamiken verwendet. Diese Perspektive wird bislang selten mit psychologischen Fragestellungen verbunden. Die Zielrichtung der Ansätze ist weniger die Verbesserung praktischer Interventionsprogramme als vielmehr die Erforschung komplexer Konflikt- und Friedensdynamiken. Dabei wird die Verknüpfung der Ebenen Struktur, Symbolik und Identität angestrebt. Psychologische Fragestellungen werden in eine Geschlechteranalyse des Konfliktgeschehens eingebettet. Diese Forschung ist daher notwendigerweise interdisziplinär und methodisch vielfältig. Die indische Forscherin Sonpar (2006) untersuchte im Kontext des Kaschmirkonflikts ehemalige Anhänger militanter Gruppen – den Begriff Terrorist lehnt sie dabei ab – anhand qualitativer Interviews und eines PTSD-Fragebogens. Wichtigste Faktoren für den Eintritt der befragten Männer in die bewaffneten Gruppen waren die familiäre Unterstützung des bewaffneten Kampfes und der Zusammenbruch der sozialen und symbolischen Ordnung, verbunden mit dem dringenden Bedürfnis Sinn wiederherzustellen, das von religiöser Ideologie erfüllt werden konnte. Der Prozess wurde durch männlich geprägte, kulturell verfügbare Ideale des Gerechtigkeitskämpfers unterstützt. Der Wechsel von individueller zur Gruppenidentität und die Identität als Opfer spielte eine bedeutsame Rolle für die Bereitschaft, sich dem bewaffneten Kampf anzuschließen. Nach der Rückkehr wurde für viele der ehemaligen Kämpfer eine Identität als Opfer erneut bedeutsam. Gründe dafür waren demütigende Erfahrungen in der Kriegsgefangenschaft, mangelnde Anerkennung in ihrer eigenen Gesellschaft sowie der Gegensatz zwischen dem Ideal ziviler Männlichkeit als Ernährer und Versorger und ihrem tatsächlichen Status. Diese Identität als Opfer könne potentiell zum Wiedereintritt in den bewaffneten Kampf beitragen. Goltermann (2000) untersuchte den Umgang heimkehrender deutscher Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg mit Kriegstraumata und Schuldgefühlen vor dem Hintergrund eines männlichen Ethos, keine Gefühle, insbesondere keine Schwäche zu zeigen, der auch in der damaligen behandelnden Psychologie tief verwurzelt war. Andere Studien schlugen die Sportforschung als Feld der Erforschung von Männlichkeit und Militarismus vor (Shields und Bredemeier 1996) und legten umfassende Analogien zwischen Männlichkeit und Militarismus nahe (Winter, et al. 2001). Differenzierte Untersuchungen wie die von Sonpar zum Zusammenhang zwischen Männlichkeit und bewaffnetem Konflikt aus psychologischer Perspektive sind bisher selten. Hutchings (2008) warnte in ihrem Überblick über den Themenbereich vor der Wiederholung von Essentialisierungen durch vereinfachende Analogien.
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Sonpar (2008) untersuchte militante Frauenvereinigungen im Kaschmirkonflikt. In ihrem Rahmenmodell zur Untersuchung von Geschlecht und kollektivem Handeln verbindet sie Soziale Identitätstheorie mit der Rolle geschlechtlich kodierter Emotionen im Kontext kollektiven Handelns. Der politische Aktivismus militanter Frauen im Kaschmirkonflikt gründe sich auf das geschlechtsspezifische emotionale Skript der Trauer um Verschwundene oder Verstorbene, während sich der Aktivismus militanter Männer auf das kollektiv ausgedrückte, männlich kodierte Gefühl der Wut beziehe. Die militanten Aktivistinnen kämpften einerseits für eine nationalistische und gleichzeitig patriarchale Ideologie und forderten andererseits durch das Verlassen ihrer Geschlechtsrollen im Rahmen ihrer politischen Aktivität bestimmte Aspekte der patriarchalen Ordnung heraus. Im Gegensatz dazu ist das Engagement von Männern in militanten Strömungen konsistent mit dem in den Bewegungen vertretenen patriarchalen männlichen Geschlechterbild. Husanovi (2009) stellte den schwierigen Umgang mit dem Thema Trauma im bosnischen feministischen Diskurs dar. Nach der Geschichte nationalistischer Vereinnahmung jeglicher Gemeinschaftsbildung und insbesondere des Leidens von Frauen im Krieg sei Kunst, z.B. der feministische Film, Teil der schwierigen Aufgabe, Erinnerung, Verlust, Trauma und Solidarität jenseits der nationalistischen Lesarten und jenseits der Ausgrenzung bosnischer Feminismen aus dem internationalen feministischen Diskurs zu thematisieren und eine Politik der Hoffnung zu entwickeln. Für afrikanische Kontexte sei laut Palmary (2006) die intersektionale Betrachtung von Gender und Rasse im Rahmen psychologischer Analysen unerlässlich. Am Fallbeispiel einer kongolesischen Migrantin zeigt sie, wie geschlechtliche Normen, z.B. das Ablegen des ethnisch unpassenden, ruandischen Tutsi Mädchennamens bei ihrer Heirat, innerhalb nationalistischer und rassistischer Projekte gewaltsam eingefordert werden. Mit solchen Methoden solle die Reinheit der imaginierten Gemeinschaft aufrechterhalten werden. An einem Beispiel aus der südafrikanischen Wahrheitskommission zeigte Palmary, wie die Weitergabe der Ethnizität durch das Gebären im dominanten Diskurs als natürlicher und nicht als sozialer Prozess gesehen werde. Die als natürlich angesehene Geschlechtlichkeit spiele so eine zentrale Rolle bei der Naturalisierung der kolonialen Kategorien Ethnie und Rasse. Diese Ansätze friedenspsychologischer Geschlechterforschung setzen sich in komplexer Weise mit psychologischen Fragestellungen und geschlechterwissenschaftlichen Analyseperspektiven auseinander. Intersektionalität und die Berücksichtigung der Ebenen Symbolik, Struktur und Identität bilden den Rahmen vor dessen Hintergrund psychologische Fragestellungen entfaltet werden. Dadurch können komplexe Analysen militanten Handelns von Männern und Frauen vor dem Hintergrund spezifischer Geschlechterdynamiken analysiert werden. Im Gegensatz zu anderer geschlechterwissenschaftlicher Forschung trägt die psychologische Perspektive hier zu einer differenzierten Betrachtung des individuellen Handelns und Entscheidens vor dem Hintergrund struktureller und symbolischer Prozesse bei. Eine differenzierte Analyse des Gewalthandelns von Männern und Frauen ist mit diesen Analyseinstrumenten – anders als bei der bloßen Dekonstruktion geschlechtsspezifischer Gewaltaffinität – möglich. Gefahren bestehen in allzu leichten Analogien zwischen Männlichkeit und z.B. militärischen Organisationsstrukturen, die wiederum zu einer Festschreibung dieser Kategorien führen. Für die friedenspsychologische Forschung bieten diese
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Ansätze eine wichtige Erweiterung der Perspektiven auf Krieg und Frieden. Insgesamt bildet dieses Themenfeld ein interessantes zukünftiges Forschungsfeld.
Fazit Die vielfältigen Diskussionsstränge feministischer Friedenspsychologie bilden Meilensteine bei der eingangs zitierten zukunftweisenden Aufgabe friedenspsychologischer Forschung, Zusammenhänge zwischen struktureller und individueller Gewalt sowie zwischen negativem und positivem Frieden zu berücksichtigen (Christie, Wagner & Winter, 2001). In den feministischen Analysen werden diese Zusammenhänge thematisiert, konzeptualisiert, empirisch untersucht und zu Interventionen weiterentwickelt. Thematisiert werden sie z.B. in der Dekonstruktion essentialistischer Erklärungsansätze für Gewalt und Krieg. Konzepte zu ihrer Untersuchung sind z.B. im psychoanalytisch sozialpsychologischen Ansatz enthalten, insbesondere aber in der Verknüpfung der geschlechteranalytischen Eckpunkte mit psychologischen Fragestellungen. Empirisch untersucht wurden Überschneidungen zwischen struktureller und individueller Gewalt im Rahmen der Studien über Erfahrungen von Frauen in Kriegs- und Friedensprozessen. Friedenspsychologische Ansätze zur Konfliktbearbeitung wurden hinsichtlich ihres Beitrags zur Überwindung struktureller Gewalt weiterentwickelt. Auf der Ebene der Intervention wurden also Aspekte eines negativen und eines positiven Friedens in den Blick genommen. Für die Friedenspsychologie ist insbesondere die konzeptionelle Ebene bedeutsam. Feministische Psychologinnen griffen analytische Eckpunkte aus der interdisziplinären Geschlechterforschung auf und bezogen sie auf psychologische Theoriebildung und Forschung. Diese Diskussion enthält wichtige Schlussfolgerungen für die psychologische Erforschung von Krieg und Frieden, z.B. für die Untersuchung nationaler und ethnischer Polarisierungsprozesse oder kollektiver und individueller Gewalt. Konstruktionsprozesse des ethnisierten Anderen und des unmarkierten Selbst sollten in den Blick genommen werden, nicht nur deren Ergebnis zu einem bestimmten Zeitpunkt. Bei der Analyse ethnischer Polarisierungen sollte gefragt werden, welche Rolle andere Kategorien spielen, ob z.B. Ethnizität durch Geschlechtersymboliken und Heteronormativität gestützt wird und dadurch natürlich und unveränderbar erscheint. Bei der wissenschaftlichen Verwendung der Identitätskategorien ist es aus dieser Perspektive zentral, die gesellschaftlichen Machtstrukturen des jeweiligen Kontexts in das Untersuchungsdesign einzubeziehen. Das Ausblenden dieser Beziehungen in der psychologischen Theoriebildung und Forschung kann dazu führen, dass ethnische Polarisierungen im wissenschaftlichen Diskurs wiederholt und verfestigt, statt durch kritische Analysen hinterfragt werden. Eine solche Forschungsperspektive macht es erforderlich, Forschungsmethoden weiterzuentwickeln und stärker miteinander zu verbinden, verschiedene Wege interdisziplinärer Forschung zu erproben und postkoloniale Perspektiven einzubeziehen. Erste spezifisch psychologische Untersuchungen aus dieser Perspektive liegen vor. Sie wurden in diesem Beitrag unter dem Stichwort friedenspsychologische Geschlechterforschung dargestellt. Die Autorinnen bringen Perspektiven aus unterschiedlichsten internationalen Konfliktregionen ein. Sie verbinden die Analyse struktureller und symbolischer
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Konfliktdynamiken mit der Untersuchung des individuellen Erlebens, Handelns und Begründens. Damit leisten sie nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Friedenspsychologie sondern auch zur geschlechterwissenschaftlichen Friedensforschung. Letztere bezieht sich stark auf die strukturelle und symbolische Ebene, oft zu Lasten differenzierter Analysen auf der Ebene individueller und gruppenbezogener Prozesse. Die Friedenspsychologie kann diese Forschung durch spezifisch psychologische Perspektiven bereichern. Abschließend sollen mögliche zukünftige Forschungsbereiche feministischer Friedenspsychologie skizziert werden. Die Weiterentwicklung friedenspsychologischer Methoden mit der Zielsetzung eines positiven Friedens ist ein wichtiger Bereich, z.B. gemeindebasierte Selbstorganisation oder Friedenspädagogik in spezifischen Kontexten. Dabei könnten intersektionale Perspektiven hilfreich sein. Die Untersuchung der konkreten Erfahrungen von Frauen und Männern in Kriegs- und Friedensprozessen ist ebenfalls ein Feld, in dem weiterer Forschungsbedarf besteht. Ein Anknüpfungspunkt könnte die psychologische Forschung über Täterinnen sein. Einen wichtigen Themenbereich bildet die Situation von Männern in Kriegen im Lichte der hegemonialen Männlichkeitsforschung, z.B. die Erforschung von Brüchen zwischen hegemonialen Männlichkeitsidealen und dem Erleben der eigenen Verletzlichkeit in Kriegen. Offene Forschungsthemen sind die Verknüpfung des psychologisch orientierten Friedensjournalismus und der Forschung zu Feindbildern und Propaganda mit geschlechterwissenschaftlichen Analysen zur Rolle von Geschlecht bei der medialen Konstruktion von Nationalismus im Vorfeld und Verlauf von Kriegen (Žarkov 2007). Bestimmte Themenfelder der Geschlechterforschung könnten lohnend um psychologische Perspektiven erweitert werden, z.B. Geschlecht und Nationalismus (Enloe 2000) oder religiöser Fundamentalismus (Wohlrab-Sahr 2006). Diese Forschungsperspektiven sind in mancher Hinsicht unbequem, da sie methodisch herausfordernd sind und nicht leicht in die üblichen disziplinären Strukturen eingeordnet werden können. Die verschiedenen Forschungsstränge tragen jedoch zu einem vertieften Verständnis von Konflikt- und Friedensprozessen bei. Auch für die Psychologie insgesamt haben die feministisch friedenspsychologischen Perspektiven wichtige Implikationen. Sie können dafür sensibilisieren, inwieweit psychologisches Wissen Teil der Konstruktion ethnischer Polarisierungen oder Teil ihrer Kritik ist. Diese Frage ist zentral, wenn wir annehmen, dass Konflikte entlang religiöser und ethnischer Linien oder entlang Kategorien vermeintlich gegensätzlicher „Zivilisationen“ gegenwärtig eine bedauerlich bedeutsame Rolle spielen.
Danksagung Dieser Beitrag entstand im Rahmen meines Forschungsaufenthalts am Institute of Social Studies in Den Haag. Für die Förderung des DAAD und die Gastfreundschaft am Institut möchte ich mich herzlich bedanken.
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18. Arbeits- und Organisationspsychologie Von „Frauen in Führungspositionen“ zu „doing gender at work“? Konzeptionalisierungen von Geschlecht in der deutschsprachigen Arbeits- und Organisationspsychologie Julia C. Nentwich & Martina Stangel-Meseke
Einleitung: Blind und taub? Vor über zehn Jahren bescheinigte Fiona Wilson (1996) der Organisationstheorie eine explizite Taub- und Blindheit in Bezug auf die Geschlechterthematik. Frauen und Männer als Arbeitnehmer/innen würden entweder als austauschbar und damit geschlechtsneutral betrachtet, während zugleich der „ideal worker“ als männlich identifiziert werde. Die herrschende Norm sei eine männliche und Frauen würden als das Andere und im Vergleich dazu Defizitäre beschrieben (Wilson, 1996, p. 826). Während „Frauen im Management“ ein interessantes Forschungsthema abzugeben scheinen, sind die „Männer in Nadelstreifen“ Selbstverständlichkeiten und der Zusammenhang zwischen Männlichkeit und Management eine nahezu triviale Alltagsbeobachtung. Auch wenn diese Diagnose nach wie vor Gültigkeit hat (Wilson, 2003), ist in den letzten Jahren eine Zunahme der theoretischen wie auch empirischen Thematisierung von Geschlecht zu verzeichnen. Es wurden wissenschaftliche Zeitschriften gegründet und Tagungen organisiert, Gender zu thematisieren scheint mittlerweile zum guten Ton organisationstheoretischer Veranstaltungen zu gehören. Inwieweit damit die Analyse von Gender „in den Mainstream“ gerückt ist, also ein Querschnittsthema in organisationstheoretischer Forschung geworden ist, ist jedoch nach wie vor stark in Frage zu stellen. Dies ist zumindest der Schluss, den Resch und Pleiss (2005) für die deutschsprachige Arbeits- und Organisationspsychologie ziehen1. Pleiss und Reschs (2003; sowie Resch & Pleiss, 2005) Analyse der Thematisierung möglicher Fragestellungen der Frauen- und Geschlechterforschung in Lehrbüchern zeigt, dass diese entweder äußerst knapp gehalten oder aber gar nicht berücksichtigt werden. So wird der Begriff „Arbeit“ nach wie vor in erster Linie auf bezahlte Arbeit bezogen, die vor allem eine männliche dreiteilige Normalarbeitsbiographie als Referenz setzt. Die traditionellerweise von Frauen geleistete und typischerweise unbezahlte Arbeit wird dabei kaum berück1 Pleiss und Resch (2003) untersuchten, inwieweit in den deutschsprachigen Lehrbüchern der Arbeitsund Organisationspsychologie, in einzelnen Artikeln sowie Themenheften (Zeitraum: 1994 – 2003) einschlägiger Publikationsorgane Probleme der Geschlechterforschung Eingang gefunden haben.
G. Steins (Hrsg.), Handbuch Psychologie und Geschlechterforschung DOI 10.1007/978-3-531-92180-8_18, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010
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sichtigt. Im Gegenteil, die Auseinandersetzung mit dem Begriff „Arbeit“ scheint weniger im Hinblick auf die geschlechtshierarchische gesellschaftliche Arbeitsteilung zu erfolgen, sondern die Erweiterung des Gegenstandsbereiches richtet sich eher auf die Existenzsicherung, hier insbesondere der Arbeitspsychologie, als auf die Integration der bislang überwiegend von Frauen geleisteten Arbeitstätigkeiten. Studien zu frauentypischen Arbeitsbedingungen werden ebenso vernachlässigt wie Fragen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Eine aus Geschlechterperspektive kritische Auseinandersetzung mit dem Arbeitsbegriff beschränkt sich zumeist auf Absichtserklärungen mit Blick auf zukünftige Forschungsfragen, so das Ergebnis der Untersuchung. Wie dieses Beispiel zeigt ist „Geschlecht“ zwar stark debattiert worden, zugleich besteht aber noch immer ein enormer Entwicklungsbedarf, was die Rezeption und Umsetzung geschlechtertheoretischer Erkenntnisse, Modelle und Begrifflichkeiten in die generelle Forschung zu und in Organisationen betrifft (Wilson, 2003). Von diesem, zugegeben vom Ergebnis her äußerst ambivalenten Status Quo zwischen Blind- und Taubheit und dynamischer Entwicklung ausgehend, gehen wir in diesem Kapitel der Frage nach, WIE Geschlecht als Untersuchungskategorie in einzelne Forschungsarbeiten der deutschsprachigen Arbeits- und Organisationspsychologie Eingang gefunden hat. Hierfür erscheint uns zunächst unabdingbar, den Begriff „Geschlecht“ ausführlicher zu klären. Unter Bezug auf die Entwicklungen der Geschlechterforschung erarbeiten wir vier Perspektiven auf die Geschlechterthematik, die in unterschiedlichen Konsequenzen für Fragestellung und empirischen Fokus der Forschung resultieren. In einem zweiten Schritt skizzieren wir, aufbauend auf den Analysen von Pleiss und Resch (2003; 2005), einen Überblick über die derzeitige Forschungslandschaft zu Geschlecht in der deutschsprachigen Arbeits- und Organisationspsychologie, welche wir bezüglich der zur Anwendung kommenden Konzeptionalisierungen von Geschlecht und damit der Rezeption geschlechtertheoretischer Erkenntnisse einer kritischen Analyse unterziehen. Allgemein ist festzustellen, dass, wie in der Psychologie im Allgemeinen (Kroll, 2002), ein an individuellen Eigenschaften und Unterschieden orientiertes Verständnis von Geschlecht als Variable dominiert und die Perspektiven der Geschlechterverhältnis- und Prozessforschung bisher noch kaum umgesetzt worden sind. Gerade in einer solchen Erweiterung der theoretischen Perspektiven, so unsere Schlussfolgerung, liegen jedoch neue Möglichkeiten, die aktuellen Themen der Arbeitswelt theoretisch wie empirisch zu fassen.
Alles Gender? Vier Perspektivwechsel der Frauen- und Geschlechterforschung Was heute im deutschsprachigen Raum als „Frauen- und Geschlechterforschung“ bezeichnet wird, ist ein stark verwobenes Konglomerat an Positionen, Konzepten und historischen Entwicklungen (Becker-Schmidt, 2000a; Kroll, 2002; Maihofer, 2004, 2006). Um für die weitere Analyse zu klären, was unter „Geschlecht“ verstanden werden kann, stellen wir hier entlang der Entwicklungslogik der Frauen- und Geschlechterforschung vier sich erweiternde Perspektiven von Geschlecht vor und geben einen Überblick über mögliche Positionen und Konzepte (vgl. Maihofer, 2004).
18. Arbeits- und Organisationspsychologie
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Ausgangspunkt der historischen Betrachtung sind die 1960er Jahre und die damals beginnende Thematisierung der vielfältigen Diskriminierungserfahrungen von Frauen, für die es bis dahin weder Beschreibungen noch Begrifflichkeiten gab (Becker-Schmidt, 1991). Dies fällt zusammen mit den Anfängen der feministischen Wissenschaftstheorie und -kritik (Harding, 1986, 1990) durch die deutlich herausgearbeitet wurde, dass Wissenschaft bisher nicht nur ausschließlich von Männern, sondern auch mit wenigen Ausnahmen lediglich über Männer betrieben wurde. Dieser „männliche Standpunkt“ (Hartsock, 1987) wissenschaftlicher Forschung konnte solange unbemerkt bleiben, solange davon ausgegangen wurde, dass es sich um einen geschlechtsneutralen und objektiven Standpunkt handele. Aus dieser Erkenntnis heraus setzt sich die neu entstehende „Frauenforschung“ zum Ziel, Forschung von Frauen über Frauen für Frauen zu betreiben, die das Leben, Handeln und Erleben von Frauen sichtbar machen kann. Ein geschlechtsspezifischer Standpunkt wird hier explizit angenommen und auch wissenschaftstheoretisch begründet (Harding, 1986, 1990). Gegenstand der Frauenforschung ist der Alltag, die Fähigkeiten, Situationen und Lebensweisen von Frauen. Ein aktuelles Beispiel aus der Frauengeschichtsforschung ist z. B. das Projekt „Fraubünden“, das die Geschichte des Lebens von Frauen in Graubünden erforscht. So wird im Band „frauenArbeit“ die Arbeit von Frauen im „Bauern- und Tourismuskanton Graubünden“ analysiert und beschrieben (Redolfi, Hofmann, & Jecklin, 2006). Schon an diesem Beispiel wird deutlich, dass Frauenforschung zwar nach wie vor ihre ausgewiesene Wichtigkeit hat, zugleich aber auch bald an ihre Grenzen stoßen musste. Die beschriebene Tatsache, dass Frauen für ihre Arbeit auf dem Hof und im Hotel nicht entlohnt wurden ist zwar einerseits an sich interessant, gewinnt aber eine ganz andere Aussagekraft, wenn zugleich bekannt ist, dass Männer zur gleichen Zeit für die gleiche Arbeit sehr wohl einen Lohn bezogen haben. Diese Erkenntnis beschreibt den ersten Schritt von der Frauenforschung hin zu einer Geschlechterverhältnisforschung, die Frauen und Männer innerhalb eines bestimmten Geschlechterverhältnisses untersucht (Becker-Schmidt, 2000a). Geschlecht wird hier nicht mehr als individuelle Erfahrung, sondern als gesellschaftliches Organisationsprinzip, als historische bzw. soziale Kategorie (Maihofer, 2004, S. 15) und insbesondere in der Soziologie als „Strukturkategorie“ oder auch „Platzanweiser“ in einer Gesellschaft theoretisiert (vgl. Maihofer, 2004). Der Fokus wird nun auf die möglichen hierarchischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern gelegt. Wo haben Frauen und Männer eigenständig, wo untergeordnet, wo gleichberechtigt gearbeitet? Worin liegen Unterschiede in Ausbildung und Tätigkeit zwischen typischen Frauen- und typischen Männerberufen? Und wie sind die spezifischen für das jeweilige Geschlecht konstitutiven Erfahrungswelten in Familie, Arbeit und Gesellschaft aufgebaut und wirksam? Verschiedene Analysen zeigen, dass Geschlecht auch ein grundlegendes Organisationsprinzip im Kontext von Arbeitsorganisationen ist. Organisationen sind bei weitem nicht geschlechtsneutral. Frauen und Männer arbeiten nicht nur in unterschiedlichen Berufen und Bereichen, sondern das Geschlecht nimmt eine „Platzanweiserfunktion“ ein: „… sex affects how labor is divided, how job descriptions are written, how people are assigned to jobs, how performance is appraised, how pay is allocated, and how movements up, down and across career ladders are controlled…” (Martin, 2000, p. 208). Selbst wenn Frauen und Männer sehr ähnliche Tätigkeiten ausüben, werden die Stellen unterschiedlich benannt, wobei häufig nur die männlich konnotierten Tätigkeiten Aufstiegsmöglichkeiten beinhalten (Bielby & Baron, 1987) sowie
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besser bezahlt werden und einen höheren Status zugeschrieben bekommen (Cockburn & Ormrod, 1997; Wetterer, 1995). Diese geschlechtliche Strukturierung des Arbeitsplatzes zeigt sich auch in Studien, die den Geschlechtswechsel von Berufen oder Tätigkeiten untersuchen. Sobald der Frauenanteil über einen kritischen Punkt hinaus steigt, wird der Beruf zum Frauenberuf während Bezahlung und Status abnehmen (Achatz, Gartner, & Glück, 2005; Hinz & Gartner, 2005; Pfeffer & Davis-Blake, 1987). Die derzeit bestehende Lohndifferenz zwischen Männern und Frauen von 19.1% in der Schweiz (Sousa-Poza, 2003; Swiss Federal Statistical Office, 2008, p. 22), 23% in Deutschland (Bundesministerium für Familie, 2009a) und 18% in Österreich (Bundeskanzleramt Frauen, 2007) spiegelt diese unterschiedliche Bewertung männlicher und weiblicher Tätigkeitsbereiche wider. Die in der empirischen Forschung gezeigte Relevanz von Geschlecht als Strukturkategorie fand zunächst jedoch noch keinen Niederschlag in der einschlägigen Literatur (Hearn & Parkin, 1992) oder in der Theoriebildung (Calás & Smircich, 1992; Martin, 2000). Das bekannteste Beispiel dieser scheinbaren „Geschlechtsneutralität“ von Wissenschaft und Theorie ist sicherlich die Thematisierung von Geschlechtereffekten in den berühmten Hawthorne Studies durch Acker und Van Houten (1992). Sie reinterpretieren die klassischen Ergebnisse unter Einbezug der in der ursprünglichen Studie nicht erwähnten Information, dass die Personen im „Relay Assembly Room“ alles Frauen, die im „Bank Wiring Room“ alles Männer waren und auf dieser Grundlage auch unterschiedlich von den Forschenden zugeteilt und behandelt wurden. Was als allgemeine Aussagen über geschlechtsneutrale Arbeit getroffen wurde wird hierdurch als ein eindeutig geschlechterdifferenzierender Selektionsprozess offengelegt. Durch die „Geschlechterverhältnisforschung“ wurde die gesamte Organisation des gesellschaftlichen sowie organisationalen Geschlechterverhältnisses in den Mittelpunkt der Forschung gestellt (Ferguson, 1984; Kanter, 1977; Martin, 2000). Die eingenommene Perspektive war jedoch zunächst, ausgehend von der Thematisierung von Ungleichheit und Diskriminierung, noch immer die einer fehlenden Berücksichtigung von Frauen. Männer scheinen auch hier kein Geschlecht zu haben, sie bleiben geschlechtsneutral, nicht erklärungsbedürftig und damit unerforscht. Unter anderem durch die ebenfalls in den 80er Jahren einsetzende Männerforschung wird festgestellt, dass „trotz der Fülle von Wissen, das von Männern über die Jahrhunderte produziert wurde, die Kenntnisse über das Leben, das Denken, Fühlen und Handeln von Männern – genau besehen – sehr gering sind. Darüber wurde bislang kaum geforscht. Männer verschwanden bislang im Wissen über das Allgemeine, über den Menschen an sich, in der Präsentation des allgemein Menschlichen“ (Maihofer, 2004, S. 18). Aus dieser der Frauenforschung sehr ähnlichen Kritik heraus entsteht die Zielsetzung der Männerforschung, Forschung von Männern über Männer für Männer zu betreiben, in der auch Männer ein untersuchenswertes Geschlecht haben (Collinson & Hearn, 1994; Döge, 2000; Döge & Meuser, 2001; Meuser, 2004). Ihr Gegenstand ist der männliche Sozialisationsprozess und die damit verbundenen Einschränkungen und Verletzungen sowie eine kritische Reflexion der Wirkungsweisen hegemonialer Männlichkeiten (Collinson & Hearn, 1996; Connell, 1995; Connell & Messerschmidt; Connell & Wood, 2005). Dieser dritte Perspektivenwechsel lässt sich besonders gut anhand der Entwicklung der Forschung zu „Women in Management“ (vgl. Marshall, 1995) verdeutlichen. Wurde hier zunächst die besondere Situation von Frauen in Führungspositionen, bestehende Barrieren
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und Hindernisse (Heilman, 2001; Schein, 2001), sowie besondere Eigenschaften und Fähigkeiten von Frauen in diesen Positionen untersucht (Eagly, 2007; Eagly & JohannesenSchmidt, 2001), fand in den 1990er Jahren eine Ergänzung um die Perspektive der Situation von Männern im Management statt. Diese waren bis dahin als dominante Norm gesetzt und damit auch nicht weiter erklärungsbedürftig gewesen (Collinson & Hearn, 1994, 1996). Indem Männer im Management zum Untersuchungsgegenstand wurden, konnte zum einen deutlich gemacht werden, dass die vermeintliche Selbstverständlichkeit, mit der sich Männer an den für sie vorgesehenen Orten bewegen, bereits das Ergebnis von Disziplinierungs-, Normalisierungs- und Formierungsprozessen ist. Dass „think manager“ gleichbedeutend mit „think male“ ist (Schein & Davidson, 1993; Schein, et al., 1996), d.h., dass stereotype Vorstellungen „des Managers“ weitestgehend mit einem männlichen Geschlechtsrollenstereotyp übereinstimmen (Dodge, 1995), hat nicht nur Konsequenzen für Frauen, sondern wirkt sich auch auf Männer aus. Zum anderen wird klar, dass es nicht nur zu Unterschieden zwischen Männern und Frauen kommt, sondern auch zwischen Männern und zwischen Frauen untersuchenswerte Differenzen bestehen (Connell, 1995; Connell & Messerschmidt, 2005; Hearn, 2004). Ein vierter Perspektivenwechsel findet statt im Wechsel von Geschlecht als Strukturkategorie hin zur Prozesskategorie (Maihofer, 2004). In Theorien des „doing gender“ (West & Zimmerman, 1987) werden die sozialen Interaktionsprozesse und institutionellen Praktiken, die Geschlecht interaktiv konstruieren und reproduzieren (Gherardi, 1994, 1995; Gildemeister, 1992; vgl. auch Nentwich, 2004), aber auch organisationstheoretische Ansätze, die die Verwobenheit von Organisation und Geschlecht gemeinsam zu theoretisieren beginnen (Acker, 1990, 1992; Boje et al., 2001; Britton, 2000; Bruni, Gherardi, & Poggio, 2005; Gherardi, 1995), ins Zentrum des Interesses gerückt. An dieser Stelle handelt es sich jedoch weniger um eine ergänzende Perspektive oder gar eine Erweiterung der Frauenforschung (BeckerSchmidt, 2000b). Vielmehr hat ein Paradigmenwechsel (Maihofer, 2004) stattgefunden: Es geht „jetzt um eine grundlegende Infragestellung von Geschlecht: Warum überhaupt Geschlecht? Wie wird es immer wieder gesellschaftlich-kulturell hergestellt? Und was bedeutet es und wie im Detail geht es vor sich, dass sich viele Gesellschaften zentral über Geschlecht – und das heißt derzeit: über das System der heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit – organisieren? Welche Folgen hat das für die gesellschaftliche Organisation, die Sprache, die Architektur, die Wissenschaft, das Denken, die Körper und nicht zuletzt für die (Genese der) Individuen? Dies sind einige der nun zentralen Fragen“ (Maihofer, 2004, S. 34). Zentral für diesen – bisher letzten – Paradigmenwechsel ist das Infragestellen der Unterscheidung in „Sex“ und „Gender“, also dem biologischen und dem sozialen Geschlecht. Was zunächst als analytische Kategorie eine Trennung von „Anatomie“ und „Schicksal“ der Geschlechter ermöglichte, steht nun unter Kritik. Insbesondere die angenommene Stabilität und Unveränderlichkeit des biologischen Geschlechts und der angenommene kausale Zusammenhang zwischen Biologie und Geschlechterrolle wird problematisiert (Gildemeister, 1992). Geschlecht wird hier zum Produkt von Interaktion, zu einem „doing“ (Connell, 1987) oder einem performativen Akt (Butler, 1991, 1997), der nur durch einen bestimmten historischen und sozialen Kontext Bedeutung erlangt. Im Kontext von Arbeit und Organisation werden aus dieser Perspektive sowohl Fragen nach der interaktiven Herstellung von Geschlecht gestellt als auch nach deren organisati-
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onstheoretischer Relevanz. Wie bestimmte Tätigkeiten und Berufe geschlechtsspezifisch konstruiert werden (Hochschild, 1983; Leidner, 1991; Schein, et al., 1996; Wajcman, 1998; Wetterer, 2002), mit welchen Konsequenzen dies für z.B. individuelle Kompetenzbeurteilungen einhergeht (Rees, 2003; Rees & Garnsey, 2003; Sczesny, Spreemann, & Stahlberg, 2006; Sczesny & Stahlberg, 2002), rückt die Fragen nach der interaktiven Konstruktion des Geschlechts in einem wiederum vergeschlechtlicht gedachten Kontext der Organisation in den Mittelpunkt des Interesses (Ridgeway, 2009; Ridgeway & Correll, 2004; Ridgeway & Smith-Lovin, 1999). Dies ist auch im Kontext von Arbeit und Organisation als Paradigmenwechsel anzusehen, da hier ein epistemologischer Wechsel stattgefunden hat. Dieser vollzieht sich weg von der Betrachtung des handelnden Individuums als stabiler Einheit innerhalb von als Kontext zu beschreibenden organisationalen Gegebenheiten hin zu Organisation und Individuum als sich reflexiv konstituierenden Phänomenen (Calás & Smircich, 1992). Tabelle 1 gibt einen Überblick über die vier Perspektiven, ihre Forschungsperspektive, ihre Annahmen über Geschlecht und der jeweils geäußerten Kritik. Tabelle 1:
Eigene Darstellung in Anlehnung an Maihofer (2004)
Frauenforschung Männerforschung
Annahmen über Geschlecht Unterschiedliche Standpunkte (und Sozialisationserfahrungen) Unterschiedliche Standpunkte und Sozialisationserfahrungen
Geschlechterverhältnisforschung
Historische und soziale Kategorie
Geschlechterforschung
Konstruiert in sozialen Interaktionsprozessen
Forschungsfokus
Kritik
Leben, Handeln, Fühlen, an einer rein männliErleben von Frauen chen Perspektive als objektiv und „allgemein“ Leben, Handeln, Fühlen, an einer rein männliErleben von Männern chen Perspektive als objektiv und „allgemein“, Betonung der Wichtigkeit von Unterschieden zwischen Männern Gesellschaftliche an einer reinen FokusVerhältnisse zwischen sierung auf nur Männer Männern und Frauen, und nur Frauen Beschreibung der Strukturen und Verhältnisse, die Unterschiede erzeugen Konstruktionsprozesse an Geschlecht als zen(Interaktion, Handeln, tralem gesellschaftlichen Sprache, Diskurse, Organisations- und Symbole) Herrschaftsprinzip
Zusammenfassend und bereits im Hinblick auf das Ziel dieses Überblicks, die Frage nach der Rezeption dieser Theorien in der deutschsprachigen Arbeits- und Organisationspsychologie zu erörtern, lässt sich sagen, dass die Entwicklung der Frauen- und Geschlechterforschung durch vier grundlegende Erkenntnisschritte gekennzeichnet ist:
18. Arbeits- und Organisationspsychologie 1.
2. 3.
4.
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Die Erkenntnis, dass Forschung nicht per se geschlechtsneutral und objektiv ist, d.h. geschlechtsspezifische Standpunkte und hier die Perspektive eines „weiblichen Standpunktes“ notwendig macht. Die Erkenntnis, dass auch Männer über ein untersuchenswertes Geschlecht verfügen und damit neben der „Frauenforschung“ auch „Männerforschung“ notwendig ist. Die Erkenntnis, dass Geschlechterforschung auch immer Geschlechterverhältnisforschung sein muss, wodurch das Geschlecht zunächst als gesellschaftliche und organisationale Strukturkategorie in den Fokus gerückt wird. Die Erkenntnis, dass Geschlecht in komplexen sozialen Prozessen hergestellt wird, die es zu untersuchen gilt. Geschlecht wird in diesem Verständnis von Geschlechterforschung zur Prozesskategorie.
Gemeinsam ist dabei den ersten drei Perspektiven, dass sie sich in einem Spannungsfeld zwischen Differenz und Gleichheit der Geschlechter bewegen (Knapp, 1998; Nentwich, 2004, 2006). Geschlecht wird hier als eine festgeschriebene Größe, Kategorie oder auch Variable (vgl. Alvesson & Billing, 1997, p. 21ff.; Harding, 1986) untersucht. Zur Frage stehen geschlechtsspezifische bzw. geschlechterdifferenzierende Ausprägungen, Sichtweisen, Konsequenzen sowie Unterschiede zwischen den Geschlechtern bzw. die jeweils besonderen Standpunkte (vgl. Alvesson & Billing, 1997, p. 21ff.; Harding, 1986). Diese Sichtweise verändert sich durch den Paradigmenwechsel der Geschlechterforschung von der Strukturkategorie zur Prozesskategorie. Nun sind der Herstellungsprozess von Geschlecht selbst sowie seine Verschränktheit mit anderen Ausprägungen von Wirklichkeit in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Im weiteren Verlauf werden wir untersuchen, welches Verständnis von Geschlecht bisher Eingang in die deutschsprachige arbeits- und organisationspsychologische Forschung gefunden hat und welche theoretischen Verständnisse im Sinne der vier Perspektiven der Frauen- und Geschlechterforschung aufgegriffen worden sind.
Konzeptionalisierungen von Geschlecht in der deutschsprachigen Arbeits- und Organisationspsychologie Ausgehend von der umfassenden Analyse des Standes der Geschlechterforschung in der deutschsprachigen Arbeits- und Organisationspsychologie durch Pleiss und Resch (2003; 2005) und durch uns ergänzt um einige Studien neueren Datums2 sowie um thematisch einschlägig orientierte sozialpsychologische Studien, diskutieren wir in diesem Abschnitt die Rezeption der zuvor vorgestellten vier geschlechtertheoretischen Perspektivenwechsel in der deutschsprachigen Arbeits- und Organisationspsychologie. Pleiss und Resch (2003, 2 Um relevante Studien für den Zeitraum von 2003 bis 2009 zu finden haben wir neben einer allgemeinen Psyndex-Recherche insbesondere in den einschlägigen Zeitschriften wie Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie, Zeitschrift für Personalpsychologie und Arbeit recherchiert. Gängige Lehrbücher der Organisationspsychologie, wie z.B. das von Weinert (2004, S. 515 ff.) wurden von Pleiss und Resch (2003) in die Analyse mit einbezogen. Wir lassen diese Publikationen hier außer Acht, da hier lediglich auf eine Perspektive der Frauenforschung fokussiert wurde und ein Einbezug folglich zu keiner tatsächlichen Erweiterung des hier skizzierten Bildes führen würde.
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2005) nennen vier Bereiche, in denen Geschlecht durch die Forschung thematisiert wird: 1) Berufseinstieg und Berufsbiographien, 2) Führung und Geschlecht, 3) Arbeit und Gesundheit sowie 4) soziale und familiäre Auswirkungen unterschiedlicher Arbeitsformen. Forschung zum Thema „Frauen und Führung“ bzw. „Frauen und Karriere“ ist dabei, wie Resch und Pleiss (2005, S. 49) feststellen, überrepräsentiert. Tabelle 2 gibt einen Überblick über die Ergebnisse Pleiss und Reschs. Tabelle 2:
Schwerpunkte geschlechterbezogener Themen in A und O-Publikationen und Publikationsorganen – exemplarische Darstellung (in Anlehnung an Pleiss und Resch, 2003; Resch & Pleisch, 2005)
Themenschwerpunkte (Pleiss & Resch, 2003; Resch & Pleiss, 2005) Berufseinstieg bzw. Berufsbiographie Berufsorientierung und Berufsverlauf von Akademikerinnen (Abele, Andrä, & Schute, 1999) Situation und Barrieren der beruflichen Entwicklung hoch qualifizierter Frauen (Spies, 2000) Geschlechtsrollenkonflikte in geschlechtstypischen Berufen (Rustemeyer, 2001) Führung und Geschlecht Konzepte von Managerinnen und BWL-Studentinnen (Steins, 1995) Frauen und Führung (Neubauer, 1990) Erlebens- und Verhaltensunterschiede zwischen den Geschlechtern in Bezug auf Geschlechtsstereotype (Littmann-Wernli, 2002; Wunderer & Dick, 2002) Mikropolitische Prozesse und Frauen in Führung (Rastetter, 2002) Arbeit und Gesundheit Einfluss des Geschlechts auf die Arbeitszufriedenheit bei Einsatz neuer Technik (Korunka et al., 1995) Zusammenhang zwischen Arbeitsbedingungen, Gesundheit und Empfinden in Bezug auf Geschlechtsunterschiede (Sonnentag, 1996) Effekte beruflicher, sozialer und häuslicher Belastung auf das Gesundheitsverhalten berufstätiger Frauen (Reime, 2000; Resch, 2002) soziale und familiäre Auswirkungen Rolle der Männer/Väterförderung (in späteren Publikaunterschiedlicher Arbeitsformen tionen Helfmann, 2000; Kreß, 2000; Prenzel, 1990) Telearbeit und Vereinbarkeit von Familie und Beruf (Büssing, 2001; Schmook, 2001) Förderung von Frauen durch Arbeitszeitregelungen und Arbeitsinhalte (Kuark, 2002; Zölch, Wodtke, & Haselwander, 2002b) Aus Perspektive der Geschlechterforschung ist festzustellen, dass bei den betrachteten Studien Fragen nach dem spezifischen Erleben bzw. der spezifischen Situation von Frauen, wie auch nach spezifischen Unterschieden zwischen Männern und Frauen überwiegen. Nicht nur im Themenfeld „Frauen und Führung“ wird das Augenmerk auf die Situation von Frauen und ihr Erleben gerichtet, sondern auch wenn die Determinanten diskontinuierlicher
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weiblicher Berufsverläufe (Hoff, et al., 2005; Hoff, Grote, & Wahl, 2002) oder aber die querund längsschnittliche Betrachtungen der Effekte beruflicher, sozialer und häuslicher Belastungen auf das Gesundheitsverhalten berufstätiger Frauen untersucht werden (Reime, 2000) und damit Erkenntnisse über diese bis dahin in der männlichen Norm von Normalarbeitsbiographie und Arbeit als Erwerbsarbeit (Resch, 2002) gewonnen werden können. Frauen rücken in den Fokus der Forschung, wenn es um die Einflüsse der Erwerbs- und Familienarbeit auf ihre Gesundheit (Büssing, 2001), die Konsequenzen erziehungsbedingter Auszeiten für ihre Karriere (Wiese, 2007) oder aber um Auswirkungen neuer Technologien auf ihre Arbeitszufriedenheit untersucht werden (Korunka et al., 1995). Allerdings bleiben sie dabei in der Position der „Anderen“, die Abweichung der in den Unternehmen geltenden Norm (Ostendorp & Nentwich, 2005). Eine weitere Spielart arbeits- und organisationspsychologischer Geschlechterforschung ist in der Untersuchung des organisationalen Kontexts in Form von Arbeitsorganisation und Arbeitszeit zu finden. Verschiedene der von Pleiss und Resch (2003, 2005) referierten Studien thematisieren z.B. Möglichkeiten des „Job Sharings“ (Kuark, 2002) und der „Teilzeitarbeit“ (Zölch, Wodtke, & Haselwander, 2002a). Diese sind klar dem Paradigma der Frauenforschung zuzuordnen, da die Innovationen noch allzu häufig einseitig den Bedürfnissen von Frauen zugeschrieben werden. Zugleich ist aber bekannt, dass neue Formen der Arbeitsorganisation problematisch bleiben, wenn nicht zugleich die bestehenden Annahmen von Normalarbeitszeit und – organisation hinterfragt werden, sondern als geltende Norm stehen bleiben. Allzu häufig resultiert eine solche Veränderung in reinen „Mommy Tracks“ (Lewis, 1997): Teilzeitarbeitsplätze, die zur reinen Frauenförderung geschaffen werden, führen dann zu einer Abwertung der ausgeübten Tätigkeit (Nentwich, 2004). Neben der Perspektive der Frauenforschung wird von einigen Studien eine Perspektive der Geschlechterverhältnisforschung eingenommen. Rastetter elaboriert in einer sehr frühen Studie unter der Perspektive organisationaler Mikropolitik verschiedene Zusammenhänge von Sexualität und Herrschaft (Rastetter, 1994) und in einer späteren Publikation die Relevanz von männerbündischen Organisationsformen für den Ausschluss von Frauen (Rastetter, 1998). Auch Rolf Haubls (2003) psychoanalytische Analyse der Konflikte zwischen Krankenschwestern und Ärzten im Krankenhaus als ein Resultat geschlechterdifferenzierender Zuschreibungsprozesse und Arbeitsteilung sind hier zu nennen. Er zeigt dabei auf, wie traditionelle Geschlechterverhältnisse den stattfindenden Professionalisierungsprozess des Berufs der Krankenschwester unterwandern und sogar verhindern können. Neben diesen vereinzelten Ausnahmen, die explizit den Zusammenhang zwischen organisationalen Strukturen und Prozesse und bestimmten Formen von Geschlechterverhältnissen thematisieren, steht aus geschlechtervergleichender Perspektive jedoch in einem weitaus größeren Teil der Studien eine Analyse möglicher Unterschiede zwischen Männern und Frauen im Fokus des Interesses. So untersucht z.B. Sonnentag (1996) einen Zusammenhang zwischen den spezifischen Arbeitsbedingungen mit dem psychischem Befinden von Männern und Frauen. Eine neuere Studie von Blickle & Boujataoui (2005) zum Einfluss von Mentoringbeziehungen und Geschlecht auf die Karrieren von Führungskräften zeigt, dass Frauen häufiger nur über Kollegen und Kolleginnen als Unterstützer verfügten, während Männer mehr mit hierarchisch höhergestellten Personen vernetzt sind. Auch in formalen MentoringProgrammen wurden männliche Nachwuchskräfte häufiger als die teilnehmenden Frauen
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einem Vorgesetzten als Mentor zugeteilt (vgl. auch Kessler, 2008). Auch die aktuelle Forschung zu Work-Life-Balance, die hier unter der Perspektive einer längerfristigen Gestaltung von Berufstätigkeit und Privatleben betrachtet wird, nimmt eine geschlechtervergleichende Perspektive ein. So untersuchten Abele und Kollegen (2005; Abele, Hoff, & Hohner, 2003) die Entwicklung der praktizierten Konstellationen von Berufs- und Privatleben von Akademikerinnen und Akademikern über einen Zeitraum von sieben Jahren. Signifikante Unterschiede zeigten sich insbesondere bei den persönlichen Zielen bezüglich der Work Life Balance. Während bei Männern Karriereorientierung und Elternschaft als gut zusammen passend erlebt wurden, erscheint dies bei Frauen schwerer umsetzbar: Frauen mit einer hohen Karriereorientierung verschieben den Kinderwunsch auf später und entscheiden damit die Frage der Work Life Balance in Richtung „Work“. Bei den untersuchten Frauen mit Kindern blieb lediglich die Hälfte berufstätig, sie trafen also eine umgekehrte aber nicht desto weniger einseitige Entscheidung. Eine tatsächliche Balancierung von Berufs- und Arbeitsleben deute sich, so Abele (2005, S. 184), erst bei Müttern mit Kindern nach dem Kleinkindalter an. Der bisherige Überblick zu den ausgewählten Studien zeigt, dass die Forschung der deutschsprachigen Arbeits- und Organisationspsychologie zur Verwendung eines so genannten essentialistischen Verständnisses von Geschlecht tendiert. Geschlecht wird als eine Eigenschaft des Individuums gesehen, nach denen Personen sortiert und kategorisiert bzw. im Untersuchungsdesign Variablen bestimmt werden können (Alvesson & Billing, 1997, 2002). Dies überrascht nicht, überwiegt diese Betrachtungsweise in der Psychologie allgemein. So hält das Metzler Lexikon der Gender Studies/Geschlechtforschung unter dem Stichwort „Psychologie“ fest, dass „die Kategorie Geschlecht (wird), wenn überhaupt, lediglich als eine Variable innerhalb der differentiellen Psychologie gesehen (wird), mit der individuelle Unterschiede gemessen werden können. Diese werden dabei als feste Eigenschaften angesehen, weniger als variierende Bestandteile sozialer Interaktion“ (Kroll, 2002). Auch wenn eine solche Konzeption von Geschlecht als Variable die arbeits- und organisationspsychologischen Konzepte um verschiedene bis anhin vernachlässigte Perspektiven wie auch Forschungsfelder erweitert hat, ist sie jedoch auch mit verschiedenen Gefahren verbunden, die bereits ausführlich an anderer Stelle diskutiert worden sind (Alvesson & Billing, 1997, 2002; Calás & Smircich, 1993; Eagly, 1995; Hare-Mustin & Marecek, 1994; Kitzinger, 1994; Wajcman, 1996) und vom Problem, dass bei gefundenen Unterschieden die Varianz zwischen den Gruppen zumeist größer ist als die innerhalb der Gruppe „Frauen“ oder „Männer“ (Alfermann, 1996), über den bisher unterlassenen Einbezug von gesellschaftlichen, organisationalen und situativen Kontextfaktoren (Burke & Collins, 2001; Eagly, 2007; Eagly & Johannesen-Schmidt, 2001; van Engen, van der Leeden, & Willemsen, 2001) bis hin zur Frage, ob bereits die auf das Suchen von Unterschieden fokussierte Forschungsfrage Unterschiede als Ergebnis produzieren müssen (Hyde, 2005), reichen. Für die arbeits- und organisationspsychologische Forschung werden diese Konsequenzen einer ausschließlichen Konzeptionalisierung von Geschlecht als Variable am Beispiel der Führungsforschung besonders deutlich; konstatiert doch gerade die Forschung zu Differenzen zwischen Männern und Frauen in Führungspositionen, dass Frauen üblicherweise Qualitäten wie Einfühlungsvermögen, Hilfsbereitschaft, Fürsorglichkeit, Sensibilität etc. zugeschrieben werden (Fondas, 1997), die in der Soziologie als „weibliches Arbeitsvermögen“
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bezeichnet wurden (Beck-Gernsheim, 1978; Ostner, 1991). Die Wirksamkeit so genannter „weiblicher Eigenschaften“ in Führungssituationen ist in der empirischen Forschung der Organisationspsychologie jedoch eher als geschlechterdifferenzierendes Postulat zu betrachten (Weinert, 2004, S. 518). Empirische Untersuchungen zu Führungsverhalten und Führungserfolg von Männern und Frauen zeigen keine bedeutsamen und stabilen Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Führungskräften (Wunderer & Dick, 1997), was u.a. auf die Probleme der Führungsstilforschung zurückzuführen ist (s. insbes. Neuberger, 2002) und größtenteils im organisationalen Kontext der Führungssituation begründet zu liegen scheint (Eagly & Johannesen-Schmidt, 2001; Heilman, 2001). Ein anderes Erleben von Frauen in Führungspositionen lässt sich demnach weniger mit situationsunabhängigen und stabilen Unterschieden zwischen den Geschlechtergruppen erklären, als mit einem situativ erlebten Konflikt zwischen professioneller und persönlicher Identität (Meyerson & Scully, 1995) und damit zwischen der eigenen Weiblichkeit und der den meisten Führungssituationen zugeschriebenen Männlichkeit „think manager think male“, (Schein & Davidson, 1993; Schein, et al., 1996; Schein, 2001). So zeigt eine Studie von Rustemeyer und Thrien (2001) zur Auswirkung der Passung von Berufsimage und sozialer Geschlechtsrollenorientierung (Maskulinität und Femininität) auf das Erleben von Geschlechtsrollenkonflikten, dass Frauen wie Männer sich in weiblich typisierten Berufen signifikant mehr weibliche Eigenschaften zuschreiben. In männlich typisierten Berufen hingegen sind es signifikant mehr männliche Eigenschaften. Insbesondere Frauen erleben unabhängig von der ausgeübten Tätigkeit signifikant mehr Geschlechtsrollen-Konflikte als Männer. Die Segregation des Arbeitsmarktes lässt sich aus einer solchen Perspektive durch genau diese zum Rollenkonflikt führenden Zuschreibungsprozesse erklären, durch die Frauen geradezu in bestimmte schlecht bezahlte, auf das sogenannte „weibliche Arbeitsvermögen“ ausgerichtete Arbeitsplatznischen drängen, wie dies z.B. bei den Berufen der Erzieherinnen, Krankenschwestern, Verkäuferinnen oder Stewardessen der Fall ist (neuere Ergebnisse zum Gender Wage Gap s. Anger & Schmidt, 2008). Unterstützt wird diese mögliche Erklärung durch Forschung die aufzeigt, dass diese zunächst als weiblich konnotierten und wenig honorierten „soft skills“ unter modernen Produktions- und Organisationsbedingungen als funktional und damit als allgemeine Erfolgsfaktoren betrachtet werden (Neuberger, 2002). Im Unterschied zu den bisher einem weiblichen „Geschlechtscharakter“ (Hausen, 1976) zugeschriebenen, quasi natürlichen Eigenschaften, stellen sie sich jetzt jedoch als wesentliche Aspekte professionellen Verhaltens dar, die als Kompetenzen auch von Männern erwartet werden können. Allerdings werden sie nun, im Unterschied zur natürlichen weiblichen Eigenschaft, entsprechend honoriert (Kelan, 2008; Wetterer, 1995). Eine Spielart der an Geschlechterdifferenz orientierten Studien, die weniger essentialistische Eigenschaften der Geschlechter untersuchen, als eine durch Geschlechtsstereotypen geprägte Wahrnehmung von Männern und Frauen sowie möglichen Unterschieden zwischen diesen beiden Gruppen ist in der angewandten Sozialpsychologie3 zu finden. So zeigten
3 Ein Überblick über arbeits- und organisationsrelevante Fragestellungen gibt zum Beispiel das Sonderheft der Zeitschrift für Sozialpsychologie aus dem Jahr 2003 mit Beiträgen zur Relevanz von Geschlechterstereotypen insbesondere für die Kompetenzbeurteilung und Selektion.
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zum Beispiel Sczesny & Stahlberg (2003) die Relevanz von Geschlechtsrollenstereotypen für die Selbst- und Fremdwahrnehmung weiblicher und männlicher Führungskräfte (s. auch Sczensy et al., 2006). In der Fremdwahrnehmung wurden Frauen den Geschlechtsrollenstereotyp entsprechend seltener aufgabenorientierte und häufiger personenorientierte Fähigkeiten zugeschrieben. Einen ähnlichen Effekt zeigt Sieverding (2003). In der Selbstbewertung schätzten sich Frauen im Vergleich zu Männern deutlich weniger erfolgreich ein, was sich auch in der Fremdbewertung niederschlug. Dass diese Stereotypisierungsprozesse im organisationalen Kontext von größter Relevanz sind belegen verschiedene Studien eindringlich, die zeigen, dass stereotype Wahrnehmungen in der Personalauswahl zu einer Verzerrung personenbezogener Urteile und in Verbindung mit Vorurteilen zu diskriminierendem Verhalten führen (Stangel-Meseke, Achtziger, & Akli, 2004). Sozialpsychologische Befunde zur Vorsatzforschung (Gollwitzer, 1993, 1999) haben zudem effiziente Maßnahmen zur Kontrolle von Stereotypisierungsprozessen wissenschaftlich nachgewiesen (Achtziger, 2003; Seifert, 2001; Stangel-Meseke, et al., 2004). Aus einer geschlechtertheoretischen Perspektive ist hier insbesondere interessant, dass mögliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen in einer stereotypen Wahrnehmung begründet werden, die eine analytische Trennung zwischen der Wahrnehmung des biologischen Geschlechts und der dargestellten Männlichkeit/Weiblichkeit einer Person zulässt (s. auch Wänke, Bless & Wortberg, 2003; Steffens & Mehl, 2003; Hannover & Kessels, 2003). So untersucht zum Beispiel von Rennenkampff (2005) in Anlehnung an Spreemann (2000) das Phänomen des „think manager think male“ (Schein & Davidson, 1993; Schein, et al., 1996) und dessen Auswirkungen auf die Auswahl von Interviewfragen in einem Personalauswahlinterview. Für sowohl Männer als auch Frauen mit einer maskulinen äußeren Erscheinung wurden mehr positive Interviewfragen ausgewählt, während für Personen mit einer femininen Erscheinung mehr negative Fragen ausgewählt wurden. Die Studien zeigen eindrücklich die Relevanz der Passung zwischen dem, was stereotyp als „männlich“ oder „weiblich“ wahrgenommen wird und dem Stereotyp dessen, was als „gute Führung“ oder „kompetentes Management“ gilt (vgl. auch Gmür, 1997) und verdeutlichen die Reflexivität des in der Interaktion stattfindenden Zuschreibungsprozesses (Ridgeway, 2009; Ridgeway & Correll, 2004). Was aber wissen wir über Männer „bei der Arbeit“? Während die Forschung die Gruppe der Frauen als eine Ausprägung „des Anderen“ in Organisationen im Laufe der letzten Jahre entdeckt hat, wird dem Normalfall, den ein Mann in einer Führungsposition nach wie vor darzustellen scheint (Neuberger, 2002), nach wie vor Desinteresse entgegen gebracht. Neben der bereits von Pless und Resch erwähnten Studie von Prenzel (1990) zum Wandel männlicher Rollenbilder stellt die Studie „Männer in Bewegung – zehn Jahre Männerentwicklung in Deutschland“(Bundesministerium für Familie, 2009b) eine weitere Ausnahme hierzu dar. Sie wertet die erstmals von Zulehner und Volz (1999) erhobenen Daten zur Selbstbeschreibung von Männern und Sicht der Frauen auf Männer aus und vergleicht sie mit den neu erhobenen Selbsteinschätzungen von Männern im Jahr 2008. Die Studie zeigt, dass eine Veränderung dahingehend stattgefunden hat, dass die Männer, die 1998 als „teiltraditionell“ typisiert wurden, sich in der neuen Erhebung stärker positiv gegenüber einer Berufstätigkeit von Frauen positionieren. Verkleinert hat sich die damals „traditionelle“ und heute „teiltraditionelle“ Gruppe jedoch nur unwesentlich von 30 Prozent 1998 auf 27 Pro-
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zent im Jahr 2008. Dieser Veränderung auf Seiten der Männer steht jedoch eine gravierendere Veränderung bei den Frauen gegenüber; hier verringerte sich der Prozentsatz „traditioneller“ bzw. „teiltraditioneller“ Frauen von 25 auf 14 Prozent. Das von den Autoren als „modern“ beschriebene Profil gewann bei den Frauen fünf Prozentpunkte und liegt nun bei 32 Prozent. Dem stehen 19 Prozent „moderne“ Männer gegenüber. „Das Verhältnis zwischen den weiblichen und männlichen Rollentypen ist folglich unausgewogen – was Quelle möglicher Probleme ist“, folgern die Autoren. Dies erscheint insbesondere als erheblich, da sich die Aufgabenverteilung in den Familien nicht gravierend verändert hat. Die Verantwortung für Haushalt und Familie liegt mehrheitlich bei den Frauen. Ein weiteres Beispiel für eine Männerforschungsperspektive stellt das interdisziplinäre EU-Forschungsprojekt „Work Changes Gender“ dar (Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2004; Höyng, 2005), das die Zusammenhänge von veränderten Arbeitsbedingungen, dem Selbstbild von Männern und den Geschlechterverhältnissen in Norwegen, Spanien, Deutschland, Österreich, Bulgarien und Israel untersucht. Die Ergebnisse zeigen folgende Tendenzen auf: Der Anteil Männer, die in einem sogenannten „Normalarbeitsverhältnis“ beschäftigt sind ist in Europa auf unter 5% der erwerbstätigen Männer gesunken, der Anteil befristeter Arbeitsverhältnisse ist gestiegen. Dabei werden jedoch Männer, die dem kulturell vorherrschenden Bild von Männlichkeit (vollzeitbeschäftigter FamilienErnährer) nicht entsprechen wollen oder können, durch eine männerbündige Arbeitskultur ausgegrenzt. Die genannten Motive für eine Arbeitszeitreduzierung waren Partnerschaft, Wahrnehmung von Betreuungspflichten oder –wünschen, soziales Engagement oder Anspruch auf das ganze Leben, wobei die gewonnene Lebensqualität der Männer bewusst gegen eine berufliche Karriere aufgerechnet wird und mit Zufriedenheit im beruflichen und privaten Umfeld einhergeht. Dabei wurde jedoch Gleichstellungspolitik von den befragten Männern nicht als Politik wahrgenommen, die etwas für Männer bewirke. Da Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie/Privatleben in Organisationen in den meisten Fällen auf Frauen beschränkt waren, wurde die Aushandlung der Work-life Balance als ein individualisierter Prozess zwischen den Bedürfnissen der Beschäftigten und der Organisation betrachtet. Der hier gegebene Überblickt lässt aus einer geschlechtertheoretischen Perspektive folgendes Fazit zu (s. auch Nentwich & Stangel-Meseke, 2007; Stangel-Meseke, 2005): Die analysierten Untersuchungen beziehen sich in erster Linie auf ein Konzept von Geschlecht als Variable. Die zentrale Fragestellung ist dabei, inwieweit Frauen sich von Männern unterscheiden oder aber mögliche Unterschiede durch den Vorgang einer stereotypen Personenwahrnehmung hervorgebracht werden. Aus einer Perspektive der Frauenforschung wird ihre spezifische Situation im Arbeitskontext untersucht; ihre spezifischen Bedingungen und Verhaltensweisen im Berufseinstieg und in der Berufsbiographie, ihre Erwartungen an Arbeit und ihre spezifischen Merkmale als Arbeitnehmerinnen. Aus einer Perspektive der Geschlechterverhältnisforschung werden mögliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen bzw. die zu einer solchen Wahrnehmung führenden Verzerrungen in Form von Stereotypen thematisiert und für Selektionsprozesse Hinweise auf mögliche Interventionsstrategien zur Vermeidung von Geschlechterstereotypen und ungerechtfertigter Diskriminierung gegeben. Das reflexive Verhältnis zwischen Geschlechterverhältnissen und organisationalen Prozessen und Strukturen sowie eine Perspektive der Männerforschung wird nur
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von sehr wenigen Studien umgesetzt. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Geschlechterforschung noch allzu oft auf ein reines „body counting“ (Alvesson & Billing, 2002) reduziert wird. Die geschlechterdifferenzierende Arbeitsteilung, bestehende unterschiedliche Lebens- und Arbeitsbedingungen von Frauen und Männern, ein männlich dominiertes geprägtes Bild des „ideal workers“ sowie andere bestehende normative Vorstellungen, die die strukturellen wie auch prozessualen Bedingungen der untersuchten Unterschiede darstellen, werden dabei selten thematisiert bzw. allzu häufig als gegeben vorausgesetzt. Damit steht insbesondere die Exploration der vierten Perspektive der prozessorientierten Geschlechterforschung für die deutschsprachige Literatur weitestgehend noch aus und wir werden diese anhand der vorliegenden englischsprachigen Literatur zu „Gender and Organisation“ (vgl. auch Nentwich & Kelan, 2007) im folgenden Abschnitt näher ausführen.
Prozessorientierte Geschlechterforschung im Kontext von Arbeit und Organisation: Doing gender at work Geschlecht als Variable zu definieren, um dann nach Unterschieden zwischen „Männern“ und „Frauen“ zu suchen, ist, wie wir gezeigt haben, problematisch. Was aber wäre die Alternative? In der internationalen Literatur wird hier insbesondere auf den reflexiven Zusammenhang der Konstruktion von Geschlecht verwiesen. Die Konstruktion von Geschlecht muss hiernach immer in ihrer Verwobenheit mit organisationalen Phänomenen untersucht werden, also als „intertwined practice“ (Bruni, Gherardi, & Poggio, 2004; Martin, 2003, 2006). So zeigen Bruni, Gherardi und Poggio (2004, 2005) in einer ethnographischen Studie eine neue Perspektive auf das Thema „Frauen als Unternehmerinnen“. Die Frage ist hier nicht, inwieweit sich Frauen im Vergleich zu Männern auf der Ebene des individuellen Verhaltens anders verhalten, sondern wie sich Frauen in einem männlich geprägten Kontext, in der ihnen zunächst nur eine Außenseiterinnenposition als „die Andere“ (Ahl, 2004) zugeschrieben wird, als Unternehmerinnen interpretieren und darstellen. Andere haben für den Bereich der Führungsforschung gezeigt, wie der Diskurs über Führung bereits in solcher Form vergeschlechtlicht ist (Bowring, 2004; Calás & Smircich, 1991; Cunha & Cunha, 2002), dass nicht nur paradoxe Handlungsaufforderungen für das weibliche Individuum entstehen müssen (Carli, 2001), sondern auch das, was führende Individuen tun, geschlechtsspezifisch interpretiert wird. Zu führen und als geschlechtliches Individuum wahrgenommen zu werden sind hier zwei Praktiken, die miteinander verknüpft sind und erst gemeinsam das hervorbringen, was wir als Führung im Unternehmenskontext wahrzunehmen vermögen. Ein anderes Beispiel ist die emotionale Arbeit. Hochschild (1983) hat bereits in den 1980er Jahren aufgezeigt, dass Arbeitsplätze nicht nur rational strukturiert sind, sondern auch durch Emotionen und deren Ausdruck. Das „Management“ von Emotionen (Gerhards, 1988a, 1988b; Kannheiser, 1992) ist seither in Diskussion und gilt als ein Charakteristikum „weiblicher Arbeitsplätze“, wie zum Beispiel der Flugbegleitung oder Krankenpflege. Prozessforschung hat dabei aber gezeigt, dass zum einen emotionale Arbeit auch in männlich konnotierten Berufen wie z.B. dem Versicherungsvertreter (Leidner, 1991) oder dem Prozessanwalt (Pierce, 1996) eine Rolle spielt, jedoch auf jeweils andere Weise konstruiert wird. Während im ersten Fall das Pflegende und Sorgende im Zentrum steht, geht es im zweiten
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Fall um den strategischen Einsatz von Freundlichkeit, um als Anwalt einen Fall zu gewinnen – also eine weitaus kämpferischere Rhetorik. Forschung, die den Herstellungsprozess dessen, was im empirischen Alltag als klare Kategorie erscheint, thematisiert und untersucht, kann damit nicht nur dazu beitragen, dass Frauen- und Geschlechterforschung weniger dazu beiträgt, bestehende Stereotypen und Vorurteile gegenüber Männer und Frauen zu bekräftigen, sondern auch die Theorieentwicklung in beiden Forschungsfeldern voranbringen. Wenn wir die Möglichkeiten, wie „Vertrauen“ in Telefongesprächen eines Call Centers hergestellt werden kann untersuchen, so ist es nicht unerheblich zu sehen, dass Männerund Frauenstimmen aufgrund bestimmter stereotyper Wahrnehmungsweisen zum Verkaufen unterschiedlicher Produkte eingesetzt werden, dieser Einsatz aber zugleich dazu beiträgt, die Tätigkeit des Telefonverkaufens in bestimmter Weise geschlechtsspezifisch einzufärben (Korvajärvi, 2007). Aufzeigen zu können, dass Firmenfusionen nicht nur unterschiedliche Konsequenzen für die dort arbeitenden Frauen und Männer haben (nämlich die, dass Frauen häufiger von Entlassungen betroffen sind), sondern auch über die stattfindende Veränderung hinweg stabile Geschlechterverhältnisse konstruiert werden (Collins, 2005; Tienari, Quack, & Theobald, 2002; Tienari, Søderberg, et al., 2002), so ist das sowohl für die Theorien zu organisationalem Wandel als auch der Forschung zur Veränderung von Geschlechterverhältnissen interessant. Diese Reflexivität der Konstruktionsweisen im Blick zu behalten und damit auch die Verschränktheit (arbeits- und organisations-) psychologischer Fragestellungen mit gesellschaftlichen, kontextuellen und individuellen Ebenen sollte demzufolge die zukünftige Aufgabe der Forschung sein. Einen ersten Schritt in diese Richtung zeigen die Studien zur diskursiven Konstruktion von Verständnissen von Gleichstellung (Nentwich, 2004), Familienfreundlichkeit (Ostendorp & Nentwich, 2005) sowie Diversity Management (Ostendorp, 2009) und den jeweils daraus resultierenden Konsequenzen für Unternehmenskultur und Veränderungsprozesse auf. Eine weitere Möglichkeit, diese reflexive Perspektive umzusetzen, stellt das Konzept der lebenszyklusorientierten Personalentwicklung dar (Graf, 2008). Auf der Grundlage der sich ändernden individuellen Bedürfnisse von Frau und Mann (Statistisches Bundesamt, 2009), der zunehmenden Forderung nach Gleichstellung von Frau und Mann im Beruf unabhängig vom Geschlecht steht hier die Aushandlung zwischen den Bedürfnissen der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und der Organisation im Fokus der Personalentwicklung. Diese Beispiele zeigen, wie gerade in der Umsetzung des vierten Perspektivenwechsels der Geschlechterforschung Chancen liegen können, dringliche Fragen der Arbeitswelt in der „reflexiven Moderne“ (Beck, Bonß, & Lau, 2001) neu zu thematisieren. Die hier beschriebenen zentralen Themenbereiche betreffen allesamt Bereiche, in denen das Geschlechterverhältnis von zentraler Bedeutung ist: die Auflösung des Normalarbeitsverhältnisses, die Aufhebung der Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit, Patchwork-Biografie als Normalbiografie, ein erhöhter Anteil an qualifizierten Frauen als Arbeitnehmerinnen (vgl. auch Allmendinger & Ebner, 2006). Um diese stattfindenden Veränderungen sowohl empirisch als auch theoretisch präziser fassen zu können, erscheint uns für die zukünftige arbeits- und organisationspsychologischen Forschung eine stärkere Reflexion der den eigenen Konzepten zugrundeliegenden Annahmen, Strukturen und Prozesse als äußerst hilfreich.
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Einleitung Über kaum ein anderes Themenfeld ist in den Geistes- und Sozialwissenschaften in den letzten Jahr(zehnt)en so viel geforscht und publiziert worden wie der Geschlechterforschung oder, international gewendet, den Gender Studies. Doch wie sieht es aus in der Psychologie und speziell der Differentiellen oder Persönlichkeitspsychologie, die sich mit den Unterschieden zwischen Menschen beschäftigt? Seit der Einführung der Unterscheidung zwischen „sex“ und „gender“ durch den amerikanischen Psychoanalytiker Robert Stoller (1968) wird diese in der Psychologie als grundlegend vorausgesetzt (z.B. Deaux 1985: 51, Eagly et al. 1994 u. 2000, Alfermann 2005). Die Unterscheidung, die im Deutschen keine genaue Übersetzung findet, wird in der Psychologie meist mit „biologischem Geschlecht“ und „sozialem Geschlecht“ bezeichnet (vgl. Alfermann 2005). In der Psychoanalyse wird „gender“ zumeist als „Geschlechtsidentität“ gefasst (King 2000: 245). Während diese Trennung maßgebend ist für die Psychologie, Biologie und die Neurowissenschaften (vgl. Lautenbacher et al. 2007), so stehen ihr seit den 1990er Jahren in Deutschland – mit ca. 20jähriger Verspätung gegenüber dem angloamerikanischen Raum (Stephan 2006: 52) – inzwischen dekonstruktivistische Ansätze gegenüber, in denen zum Teil jegliche Bestimmung, auch vom sogenannten biologischen Geschlecht, dem „sex“ dekonstruiert wird. Besondere Prominenz erlangte die Kritik durch Judith Butler (1991). Christina von Braun geht in der „Einführung in die Gender Studien“ so weit, den Dekonstruktivismus der Geschlechter (in westlichen Industrienationen) gar als Konsens zu begreifen1. Dagegen möchte ich in diesem Aufsatz argumentieren, dass vielmehr ein Auseinanderfallen auszumachen ist zwischen einem akademischen, vorwiegend geistes- v.a. kulturwissenschaftlichen Diskurs und einer zunehmenden (Re-) Biologisierung sowohl im „Alltagsbewusstsein“ (Leithäuser & Volmerg 1977) und populärwissenschaftlichen als auch im psychologischen Diskurs. So begleitet die Diskussion um die (in uns und unserer Gesellschaft) tief verwurzelte Dichotomie von „männlich“ und „weiblich“ ebenfalls eine Dichotomisierung der Diskurse um diese Begriffe. Auf der einen Seite wird „die“ Differenz betont und festgeschrieben, was immer auch mit einer Homogenisierung einhergeht und bedeutet, 1 „Konsens“ bei von Braun (2006) anstelle des Begriffs der „Macht“ bei Foucault. Letzterer impliziere mit diesem Begriff noch eine Instanz, die die „Instrumente der Macht bediene“ (ebd.: 42).
G. Steins (Hrsg.), Handbuch Psychologie und Geschlechterforschung DOI 10.1007/978-3-531-92180-8_19, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010
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dass Differenzen gerade nicht mehr wahrnehmbar werden. Am weitesten gehen sogenannte evolutionsbiologische Ansätze in der Tendenz, alle bestehenden Unterschiede zwischen den Geschlechtern auf Biologisches zurückzuführen (vgl. Bischof-Köhler 2006). Auf der anderen Seite besteht die Tendenz, jegliche Festschreibung von Differenz, Differenz(en) zu dekonstruieren, zum Verschwinden zu bringen. Hier wurde häufig der Vorwurf erhoben, zum Beispiel aus psychoanalytischer (vgl. Reiche 1997) aber auch aus körperhistorischer Perspektive (vgl. Duden 1993), dass die Körperlichkeit und vor allem die Leiblichkeit2 aus dem Blickfeld gerate. In diesem Beitrag sollen zunächst klassisch differentialpsychologische Ansätze skizziert sowie ihre Kritik durch vorwiegend lerntheoretische und sich an der sozialen Rollentheorie orientierenden Ansätze der Psychologie diskutiert werden. Anschließend soll mit der psychoanalytischen Theorie und Methode ein Ansatz beschrieben werden, wie ein Denken von Differenz(en) jenseits festschreibender Biologisierung auf der einen Seite und einem jeglichen Verschwinden von Leiblichkeit, Geschlecht und Sexualität in Diskursen auf der anderen Seite, errungen werden könnte. Der Beitrag mündet in methodische Überlegungen zu einer psychoanalytisch orientierten Geschlechterforschung, die die Spannung zu halten vermag zwischen einem begrifflichen Einholen von Differenz und dem gleichzeitigen Offenhalten, indem sie als etwas begriffen wird, das sich konstituiert und nicht einfach repräsentiert werden kann (Löchel 2009).
Differentielle Psychologie: Begriffe, Beispiele, Methoden Zunächst sei die Frage aufgeworfen, ob und wie die Debatten um gender und sex Eingang gefunden haben in die Lehre in der Differentiellen Psychologie. Ein Blick in das inzwischen in der sechsten Auflage erschienene Lehrbuch (Amelang et al. 2006), das nach wie vor die Grundlage der Disziplin im Studiengang Psychologie an zahlreichen deutschen Universitäten darstellt, zeigt: Weder dekonstruktivistische noch psychoanalytische Ansätze haben Eingang gefunden in das Kapitel über die Differentielle Psychologie der Geschlechter, lerntheoretische und an der sozialen Rollentheorie orientierte Ansätze werden zwar zitiert, vorwiegend in ihren Ergebnissen zu quantitativ empirisch untersuchten – und minimal ausfallenden – Unterschieden zwischen den (beiden) Geschlechtern. Im Mittelpunkt stehen jedoch biologische und neurologische Befunde, in denen beispielsweise von Ergebnissen, die an Nagetieren gewonnen wurden, auf den Menschen geschlossen werden. Aufschlussreich mag der „absichtlich etwas provokativ“ gestaltete Einstieg in das Kapitel sein: eine Auflistung von „herausragenden Leistungen“ von Männern (ebd.: 518), wobei historische Persönlichkeiten aus der abendländischen Geschichte genannt werden: von Aristoteles über Goethe, Bismarck bis hin zu Daimler. Zwar wird dann wiederum relativiert, es könne ja nicht vom Produkt oder Befund auf die Prozesse geschlossen werden, die es hervorgebracht hätten, um letztlich aber – mit Aussagen über empirisch ermittelte Zusammenhänge zwischen Geschlechtsverhältnis und dem Intelligenzquotienten (IQ) – darauf 2 Der „Körper“, Gegenstand von Medizin und Naturwissenschaft, wird stärker aus der Perspektive ‚von außen‘ betrachtet, der „Leib“ impliziert eher die Perspektive ‚von innen‘.
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zu schließen, eine zahlenmäßige Überlegenheit hochintelligenter Männer trage zur „gesellschaftlichen Dominanz des männlichen Geschlechts bei“ (ebd.). Die Autoren beziehen sich auf eine dänische Studie aus dem Jahre 2005, die anhand von Intelligenztests ermittle, dass „auf ein Mädchen mit einem überdurchschnittlich hohen IQ mehr als acht Jungen“ (ebd.) kämen. Bei der Rezeption von empirischen Ergebnissen zur Geschlechterunterschiedsforschung jedoch werden – nach einschlägigen Befunden – nur in wenigen Bereichen signifikante Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Untersuchungsgruppen und dies in geringen Ausmaßen (vgl. Hyde & Plant 1995, Alfermann 2005) zitiert. Auch hätten diese zwischen den 1960er und den 1990er Jahren stets weiter abgenommen (Feingold 1988; zit. n. Amelang et al. 2006: 519). Schließlich werden im Lehrbuch vorwiegend biologische „Erklärungsansätze“ der Zweigeschlechtlichkeit vorgestellt, wobei unter anderem experimentelle Befunde, die an Nagetieren gewonnen wurden, auf den Menschen übertragen werden. Beispielsweise kommt es durchaus zu widersprüchlichen geschlechtlichen Zuordnungen – wenn bei chromosomal weiblichen Tieren fetal sogenannte männliche Hormone zugeführt würden, so bleibe beispielsweise später der Eisprung aus. Dies käme zu einem geringen Prozentsatz auch beim Menschen vor, was als „Anomalie“ (ebd.: 522) bezeichnet wird. Demnach sei das chromosomale Geschlecht unerheblich, wenn es nicht durch fetale Hormone „bestätigt“ werde (ebd.). Nachdem im Lehrbuch auf neuronale Unterschiede in der Organisation des „männlichen und weiblichen Gehirns“ (ebd.: 523) eingegangen wird, erfolgt erst als letzter Punkt der Einfluss von Zuschreibungen und Erziehungsfaktoren (ebd.: 526), denen keine erhebliche Relevanz zugesprochen wird. Bevor im Folgenden die Befunde der Geschlechterunterschiedsforschung skizziert werden, sei zunächst noch ein grundsätzlicher erkenntnistheoretischer Gedanke formuliert, der jegliches Denken und Forschen (nicht nur) in der (Differentiellen) Psychologie betrifft. So sei vorangestellt, dass auch biologische Ansätze immer schon Interpretationen darstellen, wörtlich betrachtet, bereits das begreifende Wort, den logos (über das „Lebende“) enthalten. Eine Bemerkung aus den Feministischen Studien 1993 (zit. nach Stephan 2000: 4) lautet demnach, es sei trivial festzustellen, „dass jeder Begriff von ‚Körper‘ und ‚Natur‘ symbolisch, also Deutung ist“ (ebd.: 4). In einer Kritik am Dekonstruktivismus der Begriffe von sex und gender wird jedoch auch betont, dies solle „nicht kurzgeschlossen werden zu der Annahme, dass diese Deutung damit auf nichts anderes verweist als auf sich selbst und andere diskursiv konstruierte Interpretationen“ (ebd.). Dies mag zwar im geisteswissenschaftlichen Denken sehr wohl schon als triviale Feststellung anzusehen sein. Doch hat diese offenbar eben nicht Einzug gehalten in das oben zitierte Lehrbuch der Differentiellen Psychologie oder in populäre evolutionsbiologische Ansätze (vgl. Bischof-Köhler 2006). Allerdings wird auf die Unmöglichkeit einer trennscharfen Abgrenzung von sex und gender auch in den Neurowissenschaften hingewiesen: „Die Trennlinie zwischen biologischen und sozial vermittelten Geschlechtsunterschieden ist niemals ganz klar. […] Biologische Faktoren beeinflussen soziale Faktoren, und die soziale Umwelt hat wiederum Einfluss auf die Genexpression oder andere biologische Merkmale. Dadurch wird es faktisch unmöglich, die beiden Einflüsse vollständig zu trennen. Auch die biologischen Fragen, die wir als Wissenschaftler stellen, werden bereits durch unsere in einem sozialen Kontext geprägte Perspektive auf das Geschlecht beeinflusst“ (Arnold 2007: 20).
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Wie geht „die Differentielle Psychologie“ oder genauer die empirische Geschlechterunterschiedsforschung in der Regel vor? Ihre Ansätze sind zumeist dem naturwissenschaftlichen nomothetischen Paradigma verpflichtet und greifen auf quantitative Methoden zurück. Dies impliziert eine hypothesenprüfende, sogenannte Top-down-Strategie (vgl. z.B. Bortz: 1999). Das heißt, es werden vorab Gruppen gebildet, um diese im Hinblick auf bestimmte, zuvor festgelegte Variablen mit statistischen Methoden zu vergleichen. In der Geschlechterunterschiedsforschung werden also weibliche und männliche Personen zuvor festgelegt und „Geschlecht“ gilt als „unabhängige Variable“. Zumeist werden nun bestimmte Eigenschaften oder Einstellungen per Fragebogen erfasst oder bestimmte Aufgaben vorgelegt, deren Ergebnisse dann einem Inter-Gruppenvergleich unterzogen werden (z.B. mit einer Varianzanalyse). Schließlich werden Aussagen über „die Frauen“ und „die Männer“ getroffen (meist in westlichen Industrienationen, doch gibt es auch kulturvergleichende Studien), indem – möglichst in repräsentativen Stichproben – Mittelwertvergleiche in Bezug auf die ermittelten Variablen gezogen werden. Hierbei kann es aufgrund von methodischem Ansatz und möglichen Fragestellungen nur darum gehen, bestehende empirische – in Bezug auf verschiedene, isoliert gedachte „Variablen“, und damit vorher festzulegende – Unterschiede zu ermitteln (z.B. im Hinblick auf ihre durchschnittliche Verbreitung in bestimmten Populationen). So kritisiert auch Alfermann die Theorielosigkeit solcher differentialpsychologischen Ansätze bzw. „die häufig atheoretische Forschungsstrategie“ (Alfermann 2005: 306). Nun sei auf mit quantitativen Methoden gewonnene Ergebnisse der Geschlechterunterschiedsforschung eingegangen, wobei ich mich insbesondere auf die Zusammenfassungen von Dorothee Alfermann beziehe. Wurde historisch (im 19. und 20. Jahrhundert) Unterschiedsforschung betrieben, so deshalb, um wissenschaftlich die „‚Minderwertigkeit‘ der Frau“ (Alfermann 1996: 93) zu belegen. Im Zuge feministischer Strömungen wurden in den 1970er Jahren schließlich Ähnlichkeiten (Maccoby & Jacklin 1974) ins Blickfeld gerückt. In diesem Kontext entstand das Konzept der „Androgynie“ (Bierhoff-Alfermann 1977), ein „quantitatives Unterschiedsmodell“ der differentiellen Psychologie im Gegensatz zu einem qualitativen (ebd.: 169). Demnach sind Männer und Frauen „auf denselben Dimensionen vergleichbar“ (ebd.), was sich auch in den Vergleichskurven der differenzielle Psychologie visualisieren lasse, indem in jedem Bereich überlappende Kurven, nicht dichotome, entstehen. In den 1980er Jahren (vgl. Eagly 1987) wurden, v. a. mit statistischen Verfahren der Meta-Analyse3, wiederum Unterschiede betont (Deaux 1985: 74, Alfermann 1996). Jedoch, so lässt sich zusammenfassend zitieren: „Unbestreitbar ist, dass die Publikationspraxis generell eher signifikante denn nicht signifikante Unterschiede bevorzugt. Trotzdem kann man feststellen, dass sich empirisch ein Trend zu einer Verringerung von Geschlechterunterschieden zeigt und dass psychologische Geschlechterunterschiede häufig gering ausfallen […]. Während in der Psychologie insgesamt signifikante Effektgrößen von Treatmentvariablen in 25% der Fälle berichtet werden, sind es für den Bereich der Ge-
3 Verfahren, das einzelne quantitativ-statistische Untersuchungsergebnisse zusammenfasst und aus den – oftmals differierenden, teils widersprüchlichen Ergebnissen, einen Schluss zu ziehen: Zumeist werden die verschiedenen Ergebnisse in sogenannte Effektgrößen übersetzt und schließlich eine durchschnittliche Effektgröße ermittelt.
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schlechterunterschiede nur 6%. Und in diesen 6% der Fälle sind die durch Geschlecht erklärten Varianzen meist nur 5 bis 10%, selten einmal 15% (Hyde & Plant, 1995)“ (Alfermann 2005: 307).
Signifikante Unterschiede sind nach diesen zusammengefassten Ergebnissen (Alfermann 2005: 315-317) lediglich im Hinblick auf folgende Aspekte auszumachen: Bei kognitiven Fähigkeiten in Bezug auf bestimmte Aspekte räumlichen Denkens (gedankliches Rotieren), bei motorischen Fähigkeiten vor allem hinsichtlich der Körperkraft, der Schnelligkeit und Ausdauer (je ab der Pubertät), wobei Männer jeweils im Schnitt höhere Werte als Frauen erzielen. Bei Persönlichkeitsmerkmalen werden signifikante Unterschiede lediglich in der Fürsorglichkeit, die im Schnitt bei Frauen und der Durchsetzungsfähigkeit, die im Schnitt bei Männern stärker ausgeprägt sei, ebenso wie Unterschiede in der Aggression bzw. Aggressivität. Ebenso werden Unterschiede berichtet bei einigen Aspekten nonverbaler Kommunikation, sowie des beruflichen Interesses, das bei Frauen stärker im Umgang mit Menschen, bei Männern im Umgang mit Material liege. Schließlich lassen sich noch eine durchschnittlich höhere Selbstmordrate sowie frühere Mortalität von Männern zitieren und Unterschiede im Hinblick auf psychische Krankheiten wie Depressivität, Essstörungen und Kreislaufstörungen, die häufiger bei Frauen diagnostiziert werden (Alfermann 2005: 317 u. 2009). Zur Erklärung werden in der Differentiellen Psychologie (und der Sozialpsychologie) vorwiegend lerntheoretische und rollentheoretische sowie neurophysiologische und evolutionsbiologische Ansätze diskutiert. Die Unterscheidung zwischen sex und gender wird in der Psychologie zumeist vorausgesetzt (vgl. z.B. Deaux 1985: 51). Beispielsweise differenziert Alfermann (1996) unabhängig vom „biologischen Geschlecht“ (ebd.: 59) die Geschlechtsrollenidentität oder -orientierung als psychologische und soziale Dimension. Auf dieser Dimension unterscheidet sie zwischen maskuliner und femininer Identität bzw. „Maskulinität“ und „Femininität“ (ebd.), die auf einem Kontinuum liegen. Ein bekannter evolutionsbiologischer Ansatz (Bischof-Köhler 1993) geht davon aus, dass die heutige gesellschaftliche Arbeitsteilung auf verschiedene ‚biologisch determinierte Funktionen‘ im Fortpflanzungsprozess von Frauen und Männern zurückgehe. Frauen werden dabei vorwiegend als Mütter betrachtet und seien zuständig für das Aufziehen von Nachwuchs, während Männer auszögen, zum Beispiel zur Jagd. Aus psychoanalytischer Sicht könnte als Kritik an solchen Ansätzen formuliert werden, dass heutige Vorstellungen einer (nach wie vor bestehenden) Arbeitsteilung in die menschliche Frühzeit projiziert und in einem Zirkelschluss als biologisch gegeben interpretiert werden. Auch aus sozialpsychologischer Perspektive sind evolutionsbiologische Ansätze kritisiert worden. Der evolutionsbiologischen Position sind ebenfalls kulturvergleichende Untersuchungen entgegengehalten worden, z.B. indem auf Kulturen aufmerksam gemacht wurde, in denen eine im Vergleich zur westlichen Kultur teilweise umgekehrte Geschlechtsrollenverteilung bestehe (vgl. Wickler & Seibt, 1983). Die AutorInnen argumentieren ebenfalls, dass „die genetische Evolution in ihrer Bedeutung inzwischen hinter die kulturelle Evolution zurückgetreten sei“ (zit. n. Alfermann 1996: 91). Auch lässt sich ‚Natur‘ und ‚Gesellschaft‘ im Menschen nicht trennscharf bestimmen, sind, psychologischer formuliert, „Anlage und Umwelt untrennbar miteinander verwoben“ (Alfermann 1996: 92). Interaktionistische Modelle (vgl. Ehrhardt: 1985) gehen von einer Interaktion von körperlichen Prozessen und Umwelteinflüssen aus.
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Ansätze der sozialen Lerntheorie (Mischel 1970, Bandura 1977) begründen die Geschlechtsrollenentwicklung vor allem durch Lernen von beobachtbarem Verhalten. Die soziale Rollentheorie (Eagly 1987) betont dagegen stärker früh gelernte kognitive Schemata in sozialen Interaktionen, in denen Geschlecht immer auch bedeutsam sei. Aus diesen Schemata resultieren Erwartungen, die wiederum das Verhalten in sozialen Interaktionen beeinflussen (Alfermann 1996: 79); so werde geschlechtstypisches Rollenverhalten reproduziert. Alfermann weitet diese Theorie auf kognitive Fähigkeiten und Temperamenteigenschaften aus (ebd.: 80) und bezieht ebenfalls das Konzept der sich-selbst-erfüllenden Prophezeiung, der „self-fulfilling prophecy“ (Merton 1968) mit ein. Geschlechtstypisches Verhalten lässt sich demnach mit einem „Erwartungs-Verhaltens-Zirkel“ (Alfermann 1996: 82) erklären. Solche Zirkel ließen sich allerdings auch durchbrechen; durch aktives Dagegenhandeln und durch Aufklärung. Allerdings, so lässt sich mit der Sozialpsychologie des Vorurteils (Allport 1954) entgegenhalten, zeichnet sich dieses eben durch seine Resistenz aus; es wird aufrechterhalten, auch wenn gegenteilige Erfahrungen gemacht werden. Schließlich lasse sich bei der geschlechtstypischen Arbeitsteilung ansetzen (Alfermann 1996: 85), denn die zitierten signifikanten Unterschiede entsprechen der in unserer Gesellschaft tief verankerten Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern: „Was wir hier vor uns haben [ – den geschlechtssegregierten Arbeitsmarkt – K.R.], ist auch ein Musterbeispiel dafür, daß und wie in zweigeschlechtlich strukturierten Gesellschaften die alltägliche soziale Konstruktion von Geschlechtszugehörigkeit und die Vergeschlechtlichung von Berufsarbeit einander wechselseitig bestätigen, verstärken und damit letztlich auch naturalisieren“ (Wetterer 1995: 203, zit. n. Alfermann 1996: 164).
Was jedoch über rollentheoretische Ansätze hinaus zu denken bleibt, ist, was jeweils nicht aufgeht in Rollen, sich nicht operationalisieren lässt. Dies ist Ansatzpunkt sowohl der Psychoanalyse als auch der Kritischen Theorie und soll im Folgenden näher betrachtet werden.
Geschlecht und Geschlechtsidentität in der Psychoanalyse Ich möchte nun psychoanalytische Ansätze der Geschlechterforschung vorstellen. Im Mittelpunkt soll dabei die Frage stehen, ob und wie die Psychoanalyse etwas zum Verständnis der Entstehung von Geschlecht und Geschlechtsidentitäten beitragen kann. (Wie) trägt das psychoanalytische Denken das Potential in sich, jenseits der Trennung von sex und gender zu denken? Vera King grenzt den psychoanalytischen Zugang zur Geschlechterdifferenz von sozialwissenschaftlichen Studien ab: „Sozialwissenschaftliche Studien haben die Notwendigkeit deutlich gemacht, die kulturellen Hervorbringungen von Geschlechterdifferenzen zu analysieren, während die psychoanalytische Forschung untersuchen kann, wie die geschlechtliche Leiblichkeit verarbeitet wird und wie sich Phantasien über den Körper mit kulturellen Vorstellungen von Geschlechterdifferenzen verknüpfen […], wobei sie an die Freudschen „Einsichten über die konflikthaft leibliche Fundierung des Sexuellen“ anknüpft“ (King 2002: 242).
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Seit Sigmund Freud gehe es um die „psychische Verarbeitung des anatomischen Geschlechtsunterschieds4„ (ebd.: 240). Seit der Einführung der Unterscheidung von sex und gender wird im deutschen psychoanalytischen Kontext meist der Begriff „Geschlechtsidentität“ verwendet, der bei Freud nicht explizit auftaucht. Die „Geschlechtsidentität“ wird gefasst als „Kontinuität des Selbsterlebens eines Individuums in Hinblick auf sein Geschlecht […] [Sie, K.R.] umfasst die Gesamtheit jener Aspekte des Selbst oder der Identität, die als mit dem Geschlecht genuin verbunden angesehen werden“ (King 2002: 245).
Kann die mit dem Fokus auf die subjektive und leibliche bis hin zur unbewussten Verarbeitung von Geschlechtlichkeit – ohne sex und gender auseinanderzureißen oder ohne zu versuchen „Natur“ und „Gesellschaft“ im Individuum trennscharf auseinanderzuhalten – etwas zum Verständnis ihrer Entstehung, eingedenk der Verwobenheit von beiden, beitragen? Grundlegend für die Psychoanalyse ist die Freudsche Entdeckung des Unbewussten, genauer die Annahme eines dynamisch Unbewussten, das Freud aus seiner klinischen Arbeit entwickelt hat. ‚Dynamisch‘ bedeutet im Lichte der Triebtheorie, dass seine Inhalte, die vor allem aus dem Verdrängten (aus dem Bewusstsein ausgeschlossenen Inhalten) bestehen, stets ins Bewusstsein drängen, in einer „Wiederkehr des Verdrängten“ (Freud 1915). Sie kehren aber als Ergebnis von Zensur, Kompromissbildung und mithilfe von Abwehrmechanismen in entstellter Form wieder, wie im Traum (Freud 1900) oder auch im psychischen Symptom. Neben dem Begriff des Unbewussten möchte ich an dieser Stelle einige weitere psychoanalytische Begriffe einführen, die in den Geschlechtertheorien eine wichtige Rolle spielen. Dabei bin ich mir des Wagnisses bewusst, einer vorwiegend nicht psychoanalytischen Leserschaft mit psychoanalytischer Theorie zu begegnen; doch sei versucht, die Begriffe möglichst verständlich kurz zu umreißen. Ödipuskomplex Freud prägte diesen Begriff in Anlehnung an das antike Drama, um zunächst die Liebe des Jungen zur Mutter und die Rivalität mit dem Vater und Aggression gegen ihn zu verstehen. Schließlich, im ‚reifen‘ Ausgang des Komplexes, identifiziere sich der Junge mit dem Vater und verschiebe sexuelle Befriedigung auf später und sein Begehren auf andere Frauen als die Mutter. Mit der Einführung der Strukturtheorie (psychische Struktur im Modell der Instanzen „Es“, „Ich“ und „Über-Ich“) (Freud 1923a) beschreibt Freud diesen Vorgang in seiner komplexen Form, in der das Kind sowohl dem ‚gleich-‘ also auch dem ‚gegengeschlechtlichen‘ Elternteil ambivalente Gefühle von Liebe und Hass entgegenbringt. Freud formuliert hier einen „vollständigeren Ödipuskomplex“ als einen ‚positiven’ und einen ‚negativen’ (Freud, 1923a: 299f). So identifizieren sich Junge wie Mädchen schließlich mit Anteilen von Vater sowie Mutter.
4 Vgl. Freud (1925b): Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds. GW XIV, S. 19-30.
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Identifizierung Dies ist, wie viele andere psychoanalytische Begriffe, ein ‚schillernder’, der sich in psychoanalytischer Theorie in mehrfacher Hinsicht als bedeutsam erweist: So bezeichnet er erstens den Mechanismus, „durch den das menschliche Subjekt sich konstituiert“5 (Laplanche & Pontalis 1973: 220) und lässt sich dabei als Oberbegriff denken, der in verschiedene Modi ausdifferenziert werden kann: „Das ursprüngliche Lust-Ich will [...] alles Gute sich introjizieren, alles Schlechte von sich werfen“ (Freud, 1925a: 374). „In der Sprache der ältesten, oralen Triebregungen ausgedrückt: das will ich essen oder will es ausspucken, und in weitergehender Übertragung: das will ich in mich einführen und das aus mir ausschließen“ (ebd.).
Zunächst geht es also primär darum, alles ‚Gute’ in sich einzuführen, alles ‘Schlechte’ auszuschließen, was als Introjektion bezeichnet wird. Schließlich lässt sich mit Freud die Identifizierung im engeren Sinne als Resultat bzw. ‚reife Lösung’ des Ödipuskomplexes fassen: als Ersetzung der ambivalenten Objektbesetzungen der Eltern durch Identifizierungen (Laplanche & Pontalis 1973: 221). Dabei bildet sich letztlich im Innern des Subjekts (über das Verbot des Inzest) das Über-Ich als eine (‚reife’) normative, gewissenhafte Instanz heraus, in dessen Folge der Ödipuskomplex schließlich ‚untergehen’ könne. Zweitens ist für das psychoanalytische Denken der Gedanke der Regression zentral, das heißt, dass wir immer auf lebensgeschichtlich frühere Formen des Erlebens und Verhaltens ‚zurückfallen‘, bzw. dass wir diese stets in uns tragen. So stellt Freud mehrfach heraus, dass auch die frühen Modi der Identifizierung qua Regression immer wieder hergestellt werden können. „Einerseits „trägt die Identifizierung immer die Kennzeichen ihrer primitiven Vorbilder [...]. Andererseits, und das ist wesentlich, bildet die Gesamtheit der Identifizierung nichts weniger als ein kohärentes Beziehungssystem […]“ (Laplanche & Pontalis 1973: 223).
Drittens beinhaltet der Begriff der Identifizierung immer auch eine Identifizierung ‚von außen’, durch den/die Anderen. So geht dem (in großen Teilen unbewussten) Mechanismus der Identifizierung eines Subjektes mit den ersten bedeutsamen Anderen des Kindes immer schon die Identifizierung durch diese Anderen voraus (Chodorow 1978, Laplanche 2004, s.u.). Bevor nun auf einzelne Facetten der Freudschen Konzeption der „Weiblichkeit“ eingegangen wird, sei vorangestellt, dass Freud eine „radikale Öffnung, […] zu verdanken ist mit seinem Verständnis von Geschlechtsidentität als Trieb-, Konflikt- und Identifizierungsschicksal“ (Löchel 2009: 7). Doch schließe sie sich wieder, wenn sie missverstanden wird als „Defizitmodell des Weiblichen“ (ebd.), das immer wieder das Freudsche Denken durchkreuzt. Insgesamt durchziehen die Freudschen Konzeptionen von Geschlechtsidentität 5 So bezeichnet Freud in „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ die Identifizierung als „die ursprünglichste Form der Gefühlsbindung an ein Objekt“ (Freud 1921: 99) und führt den Begriff der ‚primären Identifizierung’ ein. Doch sind „[u]ranfänglich in der primitiven oralen Phase des Individuums [...] Objektbesetzung und Identifizierung wohl nicht voneinander zu unterscheiden“ (Freud 1923a: 296f).
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„Brüche“ (Löchel 1990: 830) und Widersprüche, die nicht zu überbrücken oder aufzulösen sind. So ist ein Schwanken auszumachen zwischen der seinerzeit revolutionären Entdeckung, dass Geschlechtsidentitäten nicht naturgegeben bestehen, sondern sich erst über komplizierte Wege herausbilden einerseits, und dem „Männlichen“ als grundlegende „Matrix“ (Löchel 1990: 833) andererseits: Bis 1923 hatte Freud die Position vertreten, „das Primat der Genitalien sei in der früh-infantilen Periode nicht oder nur sehr unvollkommen durchgeführt“ (Freud 1923b: 294). Sein Konzept der „polymorph-perversen“ infantilen Sexualität besagte, dass die „einzelnen Partialtriebe im ganzen unverknüpft und unabhängig voneinander dem Lusterwerb nachstreben“ (ebd.: 298) und noch nicht „im Dienst der Fortpflanzungsfunktion“ stehen (ebd.). Im ersten Lebensjahr (in Freudscher entwicklungspsychologischer Terminologie: in der oralen Phase) sei das Sexualziel die Einverleibung des Objekts, wobei die Sexualität noch nicht von der Nahrungsaufnahme getrennt sei. Erst ungefähr ab dem 2. Lebensjahr (der analen Phase) seien die Strebungen bereits ambivalent und bewegten sich zwischen den Polen aktiv und passiv. Erst 1923 führt Freud aus, dass „auf der Höhe des Entwicklungsganges der infantilen Sexualität das Interesse an den Genitalien und die Genitalbetätigung eine dominierende Bedeutung“ (Freud 1923b: 294) erhalte, die nicht mehr stark von der reifen Genitalorganisation abweiche. Es gebe aber für „beide Geschlechter nur ein Genitale, das männliche“, es herrsche „ein Primat des Phallus“ (ebd.: 295). Wie Löchel (1990: 831f) hervorhebt, wird somit nachträglich den bereits 1905 eingeführten Begriffen des „Kastrationskomplex[es]“ (Freud 1905: 96) und des „Penisneid[es] (ebd.) eine grundlegende identitätsstiftende Bedeutung beigemessen. Zunächst wurde die Vorstellung der „weiblichen Kastration“ als Phantasie im Zusammenhang der infantilen Sexualneugier und -forschung eingeführt (ebd.: 95f). Nun werden sie mit der ‚phallischen Phase’ konstitutiv, bringen Differenz hervor. In der Folge wird die weibliche Sexualentwicklung durch den „Penismangel“ begründet; der Geschlechtergegensatz lautet nun „männliches Genitale oder kastriert“ (Freud 1923b: 297). Die Entwicklung zur Weiblichkeit wird stattdessen an der (verfehlten) männlichen Entwicklung gemessen (Freud: 1924 u. 1925), in der der „Penisneid“ unvermeidlich und der Ödipuskomplex beim Mädchen erst eine „sekundäre Bildung“ sei (Freud 1925b: 23): Der Peniswunsch, da nicht befriedigt, werde in Folge als „Versuch der Entschädigung“ (Freud 1924: 400) in den Wunsch, „vom Vater ein Kind als Geschenk zu erhalten“ (ebd.) umgewandelt. Beide Wünsche (nach dem Penis und nach dem Kind) blieben im Unbewussten erhalten und machten das Mädchen für seine spätere weibliche Rolle bereit (ebd.). Allerdings kann die Entwicklung der Geschlechtsidentität nach Freud auch ganz andere Wege gehen und muss nicht in die (heterosexuelle) Norm münden, ja, diese sei erst als „dritte, recht umwegige Entwicklung“ (Freud 1931: 522) anzusehen, während die erste die Möglichkeit einer völligen Sexualhemmung sei, die zweite in eine homosexuelle Objektwahl münden könne (ebd.). Parallel zu dieser Konzeption der „Weiblichkeit“ (Freud 1925b: 23) zeichnet sich bereits seit 1905 das Konzept der Bisexualität ab, das sowohl für Jungen als auch für Mädchen gelten soll. Zunächst stellt Freud die Vermutung auf, dass es neben dem „anatomischen Hermaphroditismus“ (Freud 1905: 40) auch einen „psychischen Hermaphroditismus“ (ebd.:) geben könne, ein Gedanke, den er zur Erklärung von Homosexualität heranzieht. 1923 und 1924 weitet Freud die These der psychischen Bisexualität jedoch aus zu einer grundlegenden menschlichen Konstitution, wenn er den „vollständigeren Ödipuskomplex“ als einen
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‚positiven’ und einen ‚negativen’ einführt, (1923a: 299f), im Laufe dessen sich Junge wie Mädchen schließlich mit Anteilen von Vater sowie Mutter identifizieren. 1925 macht Freud den Objektwechsel beim später heterosexuellen Mädchen zum Problem. Hier taucht also bereits im Freudschen Werk die Crux auf, dass (nach wie vor zumeist) die Mutter die erste Person für das Kind und damit, in psychoanalytischer Terminologie, zum ersten Objekt6 wird: „Die Mutter war anfänglich beiden [Mädchen und Jungen, K.R.] das erste Objekt, wir haben uns nicht zu verwundern, wenn der Knabe es für den Ödipus-Komplex beibehält. Aber wie kommt das Mädchen dazu, es aufzugeben und dafür den Vater zum Objekt zu nehmen?“ (Freud 1925b: 22).
Auch diese Frage beantwortet Freud mit dem grundlegenden Penisneid des Mädchens, für den fast immer die Mutter verantwortlich gemacht werde (ebd.: 26). Nach und nach gewönnen „lange angesammelte[..] Motive zur Feindseligkeit die Oberhand“ (Freud 1933: 135f) und führten schließlich zur Hinwendung zum Vater. Freuds Konzeption der Weiblichkeit ist nicht ohne Widerspruch geblieben. Bereits in den 1920er und 1930er Jahren setzte u. a. Karen Horney (1923, 1926, 1923 1933) Freuds Postulat der weiblichen Minderwertigkeit die Vorstellung einer genuinen, aber nicht minderwertigen Weiblichkeit entgegen. Allerdings ‚fiel‘ sie insofern ‚hinter Freud zurück‘, als sie eine naturgegebene Weiblichkeit setzte sowie ein „biologisches[s] Prinzip der gegengeschlechtlichen Anziehung“ (Horney 1926: 45). Auch widerspricht sie Freud, nach dem für das Kind die Vagina unentdeckt ist und sich die Klitoris wie ein kleiner Penis benehme (Freud 1924: 400), indem sie vermutet, dass die Vagina bereits frühkindlich erspürt wird. Diese Kenntnis werde später verdrängt, nachdem das Mädchen einen Liebesakt mit dem Vater phantasiert habe (Horney 1923: 30), was mit Angst vor Zerstörung und Schuldgefühl einhergehe. Das Mädchen wolle von „Natur“ aus „empfangen“, „aufnehmen“ (Horney 1932: 119), fühle aber, dass der väterliche Phallus zu groß für es sei (ebd.). Der Junge dagegen wolle von Natur aus eindringen (ebd.: 12), erahne die Vagina der Mutter und fühle, dass sein Penis zu klein ist für diese. Somit sei seine ursprüngliche Angst vor der Frau zu versagen, die Kastrationsangst erst „eine Reaktion auf die Bedrohung seines Selbstgefühls“ (ebd.). Nach Flaake (2006) setzten sowohl Horney als auch spätere Freud-Kontrahentinnen in den 1960er bis 1980er Jahren gegen die „Defizitperspektive“ eine „Differenzperspektive“ (Flaake 2006: 164). Diese berge grundsätzlich die Gefahr einer „Polarisierung der Geschlechter festschreibenden Verallgemeinerung von Aussagen für ‚die Frauen‘ und ‚die Männer‘„ (ebd.: 166). Auch Janine Chasseguet-Smirgel (1964) greift Aspekte aus der Freudschen Theoriebildung auf (wie den Begriff des Kastrationskomplexes und des Penisneids), um anderen zu widersprechen. Mit Freud macht sie für den Objektwechsel des Mädchens präödipale Versagungen durch die Mutter verantwortlich, doch betont sie, dass damit gleichzeitig eine Idealisierung des Vaters einhergehe: Es käme nur zum Objektwechsel, wenn vorübergehend alle „guten“ Aspekte des ersten Objekts auf das zweite projiziert werden, während gleich-
6 Objekt in der Psychoanalyse: Innere Repräsentationen von bedeutsamen Anderen oder auch nur Teilen von diesen (Partialobjekte).
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zeitig alle „bösen“ Aspekte des zweiten auf das erste Objekt projiziert würden.7 Ohne diese Spaltung gäbe es kein Motiv für den Objektwechsel (ebd.: 138). Der Penisneid ist nach Chasseguet-Smirgel weiter eng mit einer gewünschten (und notwendigen) Ablösung eines Kindes von der Mutter im Zuge der Autonomieentwicklung verknüpft und mit einem weiteren Charakteristikum der frühkindlichen Phantasien über die Mutter: Die ersten MutterImagines – also unbewusste innere Bilder – zeichneten sich durch ihre Omnipotenz aus, da der Säugling gänzlich von der Mutter (oder mindestens einem anderen Menschen) abhängig ist. Das Kind erfährt somit durch sie sowohl die ersten Bedürfnisbefriedigungen als auch die ersten Versagungen und narzisstischen Kränkungen. So räumte die Psychoanalytikerin Melanie Klein der mütterlichen Brust als ‚erstes Objekt‘ des Kindes einen zentralen Raum in ihrer Theorie ein (vgl. Klein 1927, 1946). Die entscheidende These Chasseguet-Smirgels ist, dass sich beide Geschlechter aus der Abhängigkeit der „Urmutter“ (Chasseguet-Smirgel 1964: 159) befreien wollen und dies dem Jungen durch den Penis gelinge. Er habe somit etwas, mit dem er sich von der Mutter distanzieren könne, das Mädchen jedoch nicht (ebd.). Die Abwertung „des Weiblichen“ – auch in der (psychoanalytischen) Theoriebildung – lasse sich demnach als Abwehr gegen die frühen Imagines der allmächtigen Mutter verstehen. Da sich das Mädchen jedoch zugleich mit diesen Imagines identifiziere, führe dies zu spezifisch weiblichen Schuldgefühlen. Dass sich Mädchen und Junge mit der Mutter identifizieren und der Penis zum Symbol der Abgrenzung und damit erst zum ‚Phallus‘ wird, taucht im Zusammenhang mit dieser Identifizierung nicht mehr auf. Doch geht aus der Theorie hervor, dass sich das Mädchen schwieriger von der Mutter abgrenzen könne: So entstehe der Penisneid als Neid auf ein Symbol der Abgrenzung und der Entmachtung der Mutter: „In diesem Organ verdichten sich sämtliche mit der Macht zusammenhängenden Bedeutungen auf allen Ebenen“ (ebd.: 163). Da jedoch der Objektwechsel des Mädchens damit einhergehe, dass alles „Böse“ auf die Mutter projiziert, alles „Gute“ auf den Vater, so wird dies von der Phantasie der den Vater kastrierenden Mutter begleitet, die Schuldgefühle begründeten. Zwei weitere psychoanalytische Ansätze seien hier noch angerissen, da sie explizit eine feministische bzw. gesellschaftskritische Position einnehmen: der stärker soziologisch orientierte Ansatz von Nancy Chodorow (1978) sowie der intersubjektive Ansatz der Psychoanalytikerin Jessica Benjamin (1990). Wie die oben zitierten rollentheoretischen Ansätze erachtet auch Chodorow (1978) die gesellschaftliche Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen bzw. Müttern und Vätern als zentral für die Strukturierung der Geschlechtsidentitäten und des Geschlechterverhältnisses. Nach wie vor sind Mütter – und dies trifft weitgehend noch heute zu (vgl. Liebsch & Sommerkorn: 2002) – für die Betreuung der Kinder in den ersten Lebensmonaten und -jahren ‚zuständig‘, was auch zu verschiedenen Entwicklungsverläufen von Mädchen und Jungen führe. So formuliert sie einen Appell für eine Veränderung dieser Arbeitsteilung. Doch sei hier ein weiterer Gedanke von Chodorow betont, dass sich die Mutter mit ihrer Tochter identifiziere, den Sohn dagegen als „Anderen“, als ‚kleinen Mann‘
7 Die Bedeutung (individualpsychologisch, d. h. lebensgeschichtlich) früher Mutterbilder, die dadurch gekennzeichnet sind, dass ‚gut‘ und ‚böse‘ noch nicht integriert werden kann und ein ‚allmächtiges, nur gutes Objekt’ einem ‚allmächtigen, nur bösen’ gegenübersteht, haben vor allem Melanie Klein (1927, 1946) und ihre Schülerinnen hervorgehoben.
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erlebe. In den Fallbeispielen, die sie heranzieht, zeigen Mütter gegenüber ihren Töchtern eine „Überidentifizierung“, die sich darin äußere, dass erstere nicht auf die „wirklichen“ Bedürfnisse des Kindes eingehen, sondern auf ihre eigenen Projektionen (ebd.: 101). Meines Erachtens ist dies ein bedeutsamer Aspekt, der zentralen Raum in der allgemeinen Verführungstheorie des Psychoanalytikers Jean Laplanche (1988) einnimmt. Dieser hebt die Bedeutung der elterlichen unbewussten, (infantilen) sexuellen Phantasien in Bezug auf das Kind als zentral für die Konstitution des Subjekts hervor. Damit ergibt sich auch eine weitere Perspektive auf den Mechanismus der Identifizierung (s.o.): Wir identifizieren uns nicht nur, wir werden bereits identifiziert, noch im Werden begriffen. So folgert auch Vera King in ihrem Beitrag zur Geschlechtsidentität: „Hinsichtlich der Frage jedoch, ‚warum es nur zwei Geschlechtsmöglichkeiten gibt‘, gilt es sich zu vergegenwärtigen, dass die Figur des Elternpaares […] eine zentrale Matrix der psychosexuellen und der Geschlechtsidentitätsentwicklung bildet. Der sexuelle Ursprung kann insofern auch als ein zentraler Ursprung der Zweigeschlechtlichkeit betrachtet werden (solange, bis Reproduktion umfassend technologisiert und überhaupt nicht mehr der heterosexuellen Verbindung bedarf)“ (King 2002: 248).
Jessica Benjamin setzt sich sowohl kritisch mit dem Ansatz von Chodorow als auch mit den Theorien über „die allmächtige Mutter“ auseinander, wenn zum Beispiel nach ChasseguetSmirgel der Vater zum Symbol für die Loslösung von der frühen Abhängigkeit von der Mutter wird. „Die Mutter“ erscheine dabei als Quelle „alles Guten“ und „alles Bösen“, „der Vater“ dagegen als „Retter“ aus der Dyade. Möglicherweise zeigt sich auch hier in der Theoriebildung, was oben am Beispiel Freuds beschrieben wurde: aus dem Analysieren von unbewussten Phantasien werden Begriffe der Theoriebildung, wenn bei Chasseguet-Smirgel nicht mehr von Imagines, also Bildern, die Rede ist, sondern festschreibend: von „dem Mütterlichen“ und „dem Väterlichen“ (vgl. Chasseguet-Smirgel 1986). Die stärker soziologisch orientierten Ansätze kritisiert Benjamin dahingehend, dass sie eine ‚Lösung‘ (des Problems der Allmachtsphantasien) in der Veränderung der frühen Versorgungssituation sehen, wenn also auch Väter von früh an kleine Kinder versorgen. Doch wie Benjamin in einer Fußnote betont, übersieht dieser Ansatz zweierlei: sowohl die „kulturelle Repräsentation“ als auch die „Durchgängigkeit der Geschlechterpolarisierung“ (Benjamin 1993: 61). Sie kritisiert das Primat des sozialen Arrangements vor dem psychologischen, da hier kein Raum für eine mächtige psychologische Wirksamkeit bestehe. Auch geht sie von der „empirische[n] Evidenz“ aus, dass Veränderungen in der „sozialen Realität der Elternschaft“ die Allmachtsphantasien und die Furcht vor der Frau nicht beseitigen“ (ebd.: 63) – ein Punkt, der meines Erachtens noch keine empirische Evidenz besitzt, da sich erst langsam die Rollenverteilung der frühen Kinderversorgung (in westlichen Industrienationen) zu ändern beginnt (vgl. Liebsch & Sommerkorn: 2002, Bereswill et al., 2007). Benjamin geht nun der Frage der Hartnäckigkeit von destruktiven Allmachtsphantasien über „die Mutter“ nach. Ihre These ist, der Prozess der geschlechtlichen Differenzierung verstelle den Blick auf eine mögliche Anerkennung von Subjektivität der Mutter in der Mutter-Kind-Beziehung:
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„Die tief verwurzelte kulturelle Zweiteilung, die den einander polar entgegengesetzten Geschlechtern entspricht, perpetuiert nämlich die Allmachtsphantasie“ (ebd.: 63).
Einen Ansatz sieht sie darin, wenn gleichsam psychosozial – nämlich im nicht mehr aufzulösenden Zusammenwirken vom Leiblichen und Psychischen, vom phantasierten Anderen und der realen sozialen Realität – die Fähigkeit entsteht, die Spannung zu halten zwischen der Phantasieebene der (mütterlichen) Allmacht und der Möglichkeit der Anerkennung, der Etablierung einer intersubjektiven und nicht bloßen Objektbeziehung. Die Lösung liege also in einer Anerkennung der Mutter als eigenständige Person mit eigener Subjektivität, die in der Tat gefördert werden kann, wenn die Mutter – ebenso wie der Vater im traditionellen Rollenschema – die Außenwelt repräsentiert und ein ‚eigenes Leben‘ jenseits der Mutterschaft führt. Darüber hinaus betont Benjamin die präödipale Identifizierung von Mädchen und Jungen mit (Anteilen von) Mutter und Vater. Erst in der ödipalen Phase entwickle sich die eigentliche Geschlechteridentifizierung, wobei Jungen und Mädchen auf „ihrem eigenen Geschlecht“ beharrten und das des anderen verachteten (Mayer 1985; zit. n. Benjamin 1993: 19), während gleichzeitig „Liebe und Sehnsucht“ zum anderen bestehe (Benjamin 1993: 19). Welche Tönung überwiege, hänge von der Stärke der Identifizierung mit dem „andersgeschlechtlichen“ Elternteil ab (ebd.). Allgemein gesprochen kehrt Benjamin gegenüber Freud die Abfolge in der Entwicklung der Geschlechtsidentität um: „Nicht die genitale Differenz [ist hier] der Motor der Entwicklung von geschlechtsspezifischer und sexueller Identität […] sondern die Geschlechter-Differenzierung, die durch Identifikationen entstanden ist, [definiert] den genitalen Unterschied […], der dann große […] symbolische Bedeutung für die Repräsentationen geschlechtsspezifischer Erfahrungen und Beziehungen erhält“ (ebd.: 16).
Insgesamt setzt Benjamins Ansatz zum einen bei der Analyse des (nach wie vor in weiten Teilen) bestehenden Geschlechterverhältnisses an, zum anderen überschreitet sie es jedoch in Richtung einer möglichen Veränderung, Emanzipierung. Die skizzierten psychoanalytischen Ansätze sollen nun mit der Frage konfrontiert werden, ob sie und was sie zum Verständnis von Geschlechtlichkeit jenseits von festschreibenden Identitätssetzungen beitragen kann. Dabei erweist sich die Betrachtung als fruchtbar, was mit einem Ansatz jeweils in den Blick gerät, analysierbar wird, was dagegen ‚herausfällt‘. So wurde einerseits aus feministischer Perspektive (vgl. Rohde-Dachser 1991) das Freudsche „Primat des Phallus“ und die Gleichsetzung von weiblich und kastriert kritisiert. Andererseits ist Freud eine „radikale Öffnung“ zu verdanken Geschlechtsidentitäten nicht als fix zu begreifen (Löchel 2009: 7). Doch lässt sich auch fragen, ob nicht gerade mit der Theorie der Kastration, als Metapher verstanden, etwas Treffendes über das Geschlechterverhältnis (zumal in Westeuropa zu Beginn des 20. Jahrhunderts) und dessen psychischer Realität gefasst wurde. Autorinnen nach Freud setzten zum Teil „die Weiblichkeit“ und „die Männlichkeit“ wieder als eindeutig biologisch vorbestimmte Entwicklungen; zum Teil rückten sie die frühe Mutter-Kind-Beziehung in den Mittelpunkt, wobei ebenfalls wieder zentrale Aspekte der Geschlechterentwicklungen aufgedeckt wurden, wie destruktive All-
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machtsphantasien „des Mütterlichen“ oder „des Weiblichen.8 Allerdings werden auch hier, wie bei Freud, aus der Analyse von unbewussten Bildern Begriffe der Theoriebildung, zum Beispiel im Hinblick auf „das Mütterliche“ oder „das Väterliche“. Anhand dieser Ansätze lässt sich zeigen, dass beim Versuch geschlechtliche Entwicklungen (des Menschen) zu fassen, Dilemmata unvermeidlich scheinen. Mit Löchel (2009) lassen sich diese auf den Punkt bringen, wenn sie zunächst die Schwierigkeit der Differenzperspektive (die der Differentiellen Psychologie oder auch der Psychoanalyse) ausführt: „Will man eine gleichberechtigte Repräsentanz der Entwicklung beider Geschlechter, dann muß man den Unterschied, der doch erklärungsbedürftig ist, immer schon voraussetzen und kann ihn nicht mehr analysieren“ (Löchel 2009: 8).
Jedoch, so führt sie weiter aus: „Betrachtet man […] den Unterschied selbst als konstruierten und versucht, die Mechanismen der Konstruktion zu analysieren, so gerät man auch in ein Dilemma, nämlich, daß es dazu keine Metasprache, kein neutrales Terrain, kein Außerhalb gibt, sondern daß wir alle verstrickt sind in bewußte und unbewußte Erfahrungen und Bedeutungen, bis zurück zu unseren infantilen Erfahrungen, so daß wir, wenn wir ehrlich sind, auch nicht gefeit sind vor Vermischungen unseres wissenschaftlichen Denkens mit vorwissenschaftlichen persönlichen Ängsten, Wünschen und Konflikten“ (ebd.).
Mit anderen Worten: Es gibt keine allumfassende Theorie, die „die Wahrheit“ über „die Geschlechter“ ein für allemal ergründen könnte; allenfalls eine, die diese Dilemmata zu reflektieren vermag. Löchel vollzieht in ihrem Vortrag Denkbewegungen um Differenz mit dem Vorhaben, eine „vorgängige […]‚ Präsenz‘ von Differenz [in Frage zu stellen], ohne deren Wirkmächtigkeit und Drängen anzuzweifeln“ (Löchel 2009: 2). Mit der Theorie der Einschreibung oder Inschrift, die Derrida (1967) in Anlehnung an Freud ausgearbeitet hat, verweist sie „auf den konstitutiven Charakter von Differenz“, „nicht repräsentativ, sondern konstitutiv – also etwas erst einsetzend, hervorbringend“ (ebd.: 5). Sie schlägt vor, Differenz „nicht als etwas Vorgängiges, Fassbares, als Sache denken zu müssen, sondern sie als Prozess begreifen zu können“ (ebd.: 6). Beim Nachzeichnen der (psychoanalytischen) Kontroversen um die Geschlechterdifferenz entwickelt sie die These, dass Modelle der Differenz und das Schicksal ihrer Widerstreite […] häufig Symptome darstellen für etwas völlig anderes“ (ebd.). So seien die Kontroversen (mit und nach Freud) nie beigelegt worden, sondern immer wieder neu entfacht. Dabei gehen sie häufig mit starken Affekten einher, was psychoanalytisch als Hinweis darauf verstanden wird, dass es um etwas (auch je) „persönlich Wichtiges“ geht. Somit bleibe jedes Theoretisieren noch „affiziert von infantilen Erfahrungen“ (ebd.: 9). Als Beispiele der Abwehr von etwas Anderem in der Geschlechterforschung geht Löchel sowohl auf die psychoanalytischen Modelle ein als auch auf einen spezifischen Diskurs der 1980er Jahre über einen sogenannten „frauenspezifischen Zugang“ zum Computer. Ihre
8 Als historisches Beispiel für die Wirksamkeit solcher Bilder mag die abendländische Hexenverbrennung dienen.
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Kritik an diesem Modell von „in sich identischen und komplementär aufeinander bezogenen ‚Geschlechtscharakteren’“ lässt sich meines Erachtens ebenfalls auf einige Modelle der Differentiellen Psychologie beziehen. „So können gerade beim Verfechten von Differenzen Differenzen verloren gehen. Man kann dieses Modell der Geschlechterdifferenz geradezu als Eliminierung und Verleugnung von Differenz im Sinne von Heterogenität lesen. Denn Komplementarität setzt die Homogenität dessen, was aufeinander bezogen wird, voraus […] (Löchel 2009: 11).
Mit Horkheimer und Adorno formuliert sie, wie Aufklärung – in unserem Falle zu beziehen auf Geschlechtermodelle in der quantitativ-empirischen Differentiellen Psychologie, in denen Gruppen von „den Frauen“ und „den Männern“ gegenübergestellt werden – alles, was nicht darin aufgeht ‚weggeschnitten‘ wird; hier: zum Beispiel in Operationalisierungen oder Variablen. „Was anders wäre, wird gleichgemacht. Das ist das Verdikt, das die Grenzen möglicher Erfahrung kritisch aufrichtet. Bezahlt wird die Identität von allem mit allem damit, daß nichts zugleich mit sich selber identisch sein darf. Aufklärung zersetzt das Unrecht der alten Ungleichheit, das unvermittelte Herrentum, verewigt es aber zugleich in der universalen Vermittlung […] sie schneidet das Inkommensurable weg“ (Horkheimer & Adorno 1946: 18-19) wie von Herakles als mit „mythischer Gewalt“ (ebd.: 18) beschrieben.
Löchel spricht sich schließlich dafür aus, in der Theoriebildung das „Nichtwissen[..]“, die „Unentscheidbarkeit“ offenzuhalten, um „vor Identitätsfixierungen und -verhärtungen gefeit“ zu sein (ebd.). So möchte ich diesen Beitrag ausklingen lassen mit Überlegungen sowohl zur (psychoanalytischen) Theoriebildung über die Geschlechterdifferenz als auch zu methodischen Ansätzen, die die bisher genannten Schwierigkeiten und Dilemmata reflektieren könn(t)en. Die Psychoanalyse ist seit Freud mehrfach verankert: als klinisches Verfahren, als Theorie und als Erkenntnismethode, die sich ebenso fruchtbar machen lässt für die Kultur- und Sozialwissenschaften. Was kann sie zur (Differentiellen) Psychologie der Geschlechter beitragen? Meines Erachtens ist ihre Theoriebildung fruchtbar, sofern sie nicht missverstanden wird als ein festes und starres Gebäude, das es einfach auf psychische oder kulturelle Phänomene als Erklärung anzuwenden gelte. Denn sie zeichnet sich gerade dadurch aus, dass ihre wichtigsten Begriffe erstens oft ‚schillernd‘ sind (und damit das Gegenteil vom Ideal der trennscharfen und ‚operationalisierbaren’ Definition von ‚Variablen’) und zweitens alles andere als feststehend: so ist das Freudsche Werk selbst durch Brüche und Widersprüche gekennzeichnet (z.B. zwischen naturwissenschaftlichem und geisteswissenschaftlich philosophischem Denken), die mit dem Versuch sie in eine Richtung aufzulösen, oft eher hinter den Erkenntnisgewinn zurückfallen. Darüber hinaus zeichnet sich die Theoriebildung gerade dadurch aus, dass sie von Kontroversen begleitet ist. Löchel (2009, s.o.) argumentiert nun, dass gerade das Aufrechterhalten dieser Spannung, des Nicht-Lösbaren für das Begreifen von Differenz fruchtbar ist, nämlich als etwas, das sich konstituiert und das nicht einfach repräsentiert werden kann. Aus der Perspektive der Kritischen Theorie lässt sich noch hinzufügen, dass psychoanalytische Theoriebildung eine Spannung im Individuum zu fas-
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sen vermag zwischen ‚Natur‘ auf der einen und ‚Gesellschaft‘ auf der anderen Seite: eine Spannung, die im oben skizzierten Auseinanderfallen – zwischen diskurstheoretischen Ansätzen auf der einen und naturwissenschaftlich orientierten auf der anderen Seite – aufgelöst wird. Parallel zu diesem Auseinanderfallen lässt sich auch die alte psychologische Debatte um ‚Erbe oder Umwelt‘ nennen. Das Projekt der Kritischen Theorie (vgl. Horkheimer & Adorno 1946) war/ist es, sowohl das immer schon Verwobene von ‚Natur‘ und ‚Gesellschaft‘ im Individuum9 zu denken als auch zugleich zu betonen, dass beides nicht ineinander aufgeht, nicht aufzulösen ist, immer ein unauflösbarer ‚Rest‘ bleibt.
Psychoanalytische Methode und psychoanalytisches Denken in der Sozialwissenschaft Über die Theoriebildung hinaus ist die Psychoanalyse als Erkenntnismethode in den Kulturund Sozialwissenschaften verankert (Lorenzer 1988, Leithäuser & Volmerg 1988, Löchel 1997, Flaake 2006, Decker et al. 2008, Rothe 2009), vorwiegend „zum Entschlüsseln unbewusster Gehalte der Produkte menschlichen Handelns und Verhaltens, z.B. von wissenschaftlichen und literarischen Texten, künstlerischen Produktionen, institutionellen Strukturen […]“ (Flaake 2006: 163), wobei als zentral „das Nachspüren von Irritierendem und die Reflexion der eigenen subjektiven Reaktionen auf das zu Untersuchende“ (ebd.) anzusehen ist. Der Psychoanalyse ist nach Löchel und Härtel (2006) die Einsicht zu verdanken, dass „Objekt und Subjekt der Forschung sich wechselseitig konstituieren“ (ebd.: 6). Sie kehre die „Blickrichtung der Aufklärung um“, indem sie auf „die triebhafte Grundlage aller intellektuellen Leistungen“ verweist, „die jegliche Denkanstrengung auch mit halluzinatorischwunscherfüllenden Beimischungen durchsetzt“ (ebd.: 6). Letztlich wollen die Autorinnen die Frage offenhalten, ob die Psychoanalyse, die einmal als „Wissenschaft zwischen den Wissenschaften“ (Modell 1984) bezeichnet wurde, als Wissenschaft anzusehen sei. Die Herausgeberinnen knüpfen hieran ein Plädoyer für einen Blick von außen, das heißt, für einen wissenschaftlichen Blick auf die Psychoanalyse als Theorie und Methode. Dies ist verbunden mit der Argumentation für eine Verknüpfung von wissenschaftlicher Forschung und Psychoanalyse auch außerhalb der psychoanalytischen Institutionen10. Doch was bedeutet dies für eine psychoanalytisch orientierte Methode in der Geschlechterforschung? In einer psychoanalytisch orientierten Sozialforschung wird Geschlecht nicht als „unabhängige Variable“ erhoben. Vielmehr kann sich den (unbewussten) Bedeutungen genähert werden, die mit Geschlechtlichkeit für verschiedene Subjekte in verschiedenen Lebenslagen, Situationen oder auch verschiedenen historischen Zeiten verknüpft sind. Zudem nimmt eine solche Forschung die Perspektive ein, dass die Subjektivität der Forschenden nicht aus dem Forschungsprozess herauszuhalten ist. Im Gegensatz zum oben skizzierten 9 Ein Ansatzpunkt der Verknüpfung von Psychoanalyse und Kritischer Theorie liegt beispielsweise in der Analyse von individuellen und kollektiven Mutterbildern: Wenn „die Mutter“ für die eigene Verbundenheit mit Natur und Abhängigkeit von Natur steht, könnte hier eine bedeutsame Verknüpfung von individuellen und kollektiven Phantasien im Hinblick auf „die Weiblichkeit“ liegen. 10 So war sie über Jahrzehnte beispielsweise an der Universität Bremen vertreten; doch wurde ihr Wirken mit der Streichung des Lehrstuhls für Psychoanalyse ebenso wie der Streichung des Lehrstuhls für Sozialpsychologie stark beschnitten.
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Ansatz der Differentiellen Psychologie wird diese Subjektivität nicht versucht auszuschalten. Stattdessen wird sie mit erhoben und in die Analyse einbezogen. So forderte bereits in den 1960er Jahren der psychoanalytische Forscher Devereux, den Affekt wieder einzuführen in die Forschung (Devereux 1967) mit dem Gedanken, dass erst seine Anerkennung und Analyse zu Erkenntnis von Subjektivität (mithilfe der eigenen Subjektivität) verhelfen kann. Er entwickelte daraus eine Methode der Analyse der Gegenübertragung11 jenseits der klinischen Psychoanalyse. In einem Transfer der psychoanalytischen Methode in der Sozialforschung (vgl. Lorenzer 1988) lässt sich das Begriffspaar von Übertragung und Gegenübertragung fruchtbar machen, um damit über die bewussten Beziehungen im Forschungsfeld hinaus, sich unbewussten Bedeutungen zu nähern (zur ausführlichen Darstellung vgl. z. B. Lorenzer 1988, Leithäuser & Volmerg 1988, Löchel 1997, Decker et al. 2008, Rothe 2009). Auf dem Gedanken fußend bedeutete dies in Bezug auf eine psychoanalytisch orientierte Geschlechterforschung, die eigene, persönliche Verstricktheit einzubeziehen anstatt sie auszublenden. Ebenso scheint mir konstruktiv, auch die Selbstreflexion und -kritik auf mögliche eigene (kompensatorische) Allmachtsphantasien zu richten, zum Beispiel, eine allumfassende Theorie der Geschlechter zu verfassen. Darüber hinaus scheint mir zentral, jeweils zu reflektieren, was es bedeutet, welche Perspektive auf den Untersuchungsgegenstand ich jeweils einnehme. Wenn ich Geschlecht als „unabhängige Variable“ fasse, ist von vornherein die Möglichkeit verbaut, ein Werden, einen Prozess, die Konstituierung von geschlechtlichen Subjekten zu untersuchen. Wenn ich kritisch historisch die Diskurse betrachte, in denen Geschlecht entworfen wird, gerät das Leibliche nicht zufällig aus dem Blick. Wenn „weiblich“ und „männlich“ als Dichotomie vorweggenommen wird, so kann sie gar nicht anders als in den Ergebnissen reproduziert zu werden; dies gilt sowohl für quantitative als auch für qualitative Methoden. Es bedarf also nicht nur einer reflektierten Methode sondern auch einer Vermittlung mit Theorie. Ich plädiere für einen Ansatz, in dem changiert werden kann zwischen Theorie, Denken, Abstraktion auf der einen Seite und der Begegnung mit konkreten Individuen, Subjekten auf der anderen, in denen nie „die Frau“ oder „der Mann“ zu finden ist. Um ein Beispiel aus einem aktuellen Projekt zu nennen, einer qualitativen (Teil-)Studie zu „Karriereverläufen und Karrierebrüchen bei Ärztinnen und Ärzten während der fachärztlichen Weiterbildung12„: Was kann ich in Erfahrung bringen, wenn ich mich – meiner geschlechtlichen Subjektivität eingedenk – anderen Subjekten nähere und diese sprechen lasse über ihr subjektives Erleben, ihre Erfahrungen zum Beispiel im beruflichen Kontext? Aus psychoanalytischer Perspektive erhasche ich einen Blick und ein Ohr, ein Hören auf die immer auch von bewussten und unbewussten Wünschen, Ängsten, Phantasien, Affekten mitbestimmten, getönten Erfahrungen. Gleichzeitig erfahre ich die Vermittlung von äußerer Struktur (z. B. institutionelle Organisation der Kliniken) in den Individuen. Untersuche ich in diesem Kontext beispielsweise geschlechtliche und berufliche 11 Verkürzt formuliert bezieht sich das Begriffspaar Übertragung/Gegenübertragung in der therapeutischen Psychoanalyse auf die Beziehungen zwischen Analytikerin oder Analytiker und Analysandin/en, die – so eine zentrale Annahme – immer auch unbewusste Beziehungsmuster enthält, die auf lebensgeschichtlich frühe(re) Beziehungserfahrungen zurückgehen. 12 Verbundprojekt: Dorothee Alfermann, Katharina Rothe (Universität Leipzig), Hendrik v. d. Bussche, Benjamin Gedrose, Kathrin Kromark (Universitätsklinikum Hamburg) gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und dem Europäischen Sozialfonds.
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‚Identitäten’, so erhalte ich nie eine trennscharfe Bestimmung der einen oder der anderen ‚Seite‘. So möchte ich für eine differentielle Psychologie im wahrsten Sinne des Wortes plädoyieren, in der eben auch Differenzen, die sich nicht ‚auf den Begriff bringen‘ lassen, erfahrbar bleiben.
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20. Kritische Psychologie Dark Continent. Über das Unbewusste von Sexismus und Rassismus Martina Tißberger
In diesem Beitrag geht es um eine subjektwissenschaftliche Perspektive auf Gender als interdependente Kategorie. Gender wird hier als ein Merkmal der Differenz zwischen Subjekten verstanden, das nicht isoliert, sondern nur in seiner Verschränkung mit anderen Merkmalen wie etwa Ethnizität, Klasse oder ‚Rasse’ untersucht werden kann. Am Beispiel der Psychoanalyse soll verdeutlicht werden, dass Gender als auch ‚Rasse’ bereits eine konstitutive Rolle in der Genese psychologischer Epistemologien und Methoden hat.1
Geschlecht/Gender als interdependente und intersektionale Kategorie Wenn wir über ‚Geschlechterforschung’ in der Psychologie sprechen, dann denken wir primär an die Bedeutung der Differenz zwischen weiblichen und männlichen Subjekten. Wir glauben zudem, mit den Genus-Gruppen über das wesentliche Unterscheidungsmerkmal zwischen Menschen zu sprechen, der Differenz, die Jungen von Mädchen oder Frauen von Männern trennt und unterscheidet. Damit simplifizieren wir die Bedeutung dessen, was wir ‚Geschlecht’ nennen. Zum einen lassen sich Menschen nicht in Frauen und Männer aufteilen. Nicht alle Menschen werden mit eindeutigen ‚primären Geschlechtsmerkmalen’ geboren und nicht alle Menschen fügen sich in die zweigeschlechtliche Ordnung. Sie leben als Transgender, Transsexuelle oder sonst irgendwo auf dem Kontinuum der Geschlechterverhältnisse – quer – zur Achse der Zweigeschlechtlichkeit.2 Der Geschlechter-Binarismus Mann/Frau wird oft parallelisiert mit anderen Binarisemen wie Kultur/Natur, Geist/Körper oder Diskurs/Materie und von diesen abgeleitet dann auch Norm/Abweichung. Im Versuch, den Binarismus aufzulösen, entwickelten einige Autor_innen die Schreibweise des Unterstrichs, der zum einen Geschlecht als Kontinuum symbolisieren soll, zum anderen als Leerstelle gelesen werden kann, die quere Positionen in heteronormativen Gesellschaften einnehmen. Je größer die Akzeptanz einer Gesellschaft für ‚quere Lebensweisen’ ist, desto mehr Menschen wagen ein ‚coming out’ und desto größer wird daher die Zahl der Gesell-
Für inhaltliche Anmerkungen zum Text danke ich Ingrid Jungwirth und Birgit Herz. Judith Butler (1991, 1997) gab die wesentlichen Impulse für das Umdenken von Zweigeschlechtlichkeit, wie sie bis dahin die feministische Theorie prägte, zu Gender als soziale Konstruktion von Geschlecht, die performativ hervorgebracht wird. 1 2
G. Steins (Hrsg.), Handbuch Psychologie und Geschlechterforschung DOI 10.1007/978-3-531-92180-8_20, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010
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Martina Tißberger
schaftsmitglieder, die quer zur Heteronormativität stehen. Ihre Existenz und die Tatsache, dass sie in allen Kulturen und zu allen Zeiten leb(t)en, verdeutlichen, dass die Zweigeschlechtlichkeit ein Konstrukt ist, das der Aufrechterhaltung bedarf – eines ständigen ‚Doing Gender’. Zum anderen tritt kein Subjekt jemals nur durch seine ‚Geschlechtsidentität’ in Erscheinung. Die Art und Weise wie ich Frau, Mann oder ein anderes Geschlecht bin, mich als solcheR fühle, denke, handle oder von anderen wahrgenommen werde, wird immer auch durch Zuschreibungen oder Zugehörigkeiten zu einer bestimmten Klasse oder Schicht, Ethnizität, Nationalität, ‚Rasse’, Religion, sexuellen Orientierung oder Behinderung/Befähigung bestimmt, um nur einige Kategorien zu nennen, mit denen weitere Differenzierungen zwischen Subjekten vorgenommen werden, die sich mit der Kategorie Geschlecht/Gender überkreuzen oder überlagern. Eine schwarze Migrantin wird ihr Frausein in Deutschland anders erleben als eine weiße Deutsche. Die soziokulturellen Vorstellungen von ‚Rasse’ lassen (nicht nur) Mehrheitsdeutsche anders über die schwarze Frau denken als über weiße Frauen. Was all diese sich verkreuzenden und überlappenden Differenz-Kategorien gemeinsam haben ist, dass durch sie gesellschaftliche Ein- und Ausschlüsse vorgenommen werden. Sie können nicht losgelöst von den Machtverhältnissen untersucht werden, in denen sie entstanden sind und in denen sie zur Erhaltung dieser Machtverhältnisse reproduziert werden. Diese Differenzen können allesamt Ausgangspunkt für Diskriminierungen sein.3 Der Zugang eines Subjekts zu den Ressourcen und Möglichkeiten in einer Gesellschaft ist wesentlich von seiner Situiertheit in diesem Netz von Ungleichheitssträngen und -feldern abhängig und nicht von seinem ‚Wesen’. Von ‚Feldern’ der Differenz ist die Rede weil durch diese Differenzen identitäre Gruppen gebildet werden; die Bezeichnung von Differenz‚Linien’, ‚Achsen’ oder ‚Strängen’ verweist auf die Tatsache, dass die Subjekte durch diese Differenzkonstruktionen wie durch Scheidelinien getrennt und im gesellschaftlichen Gefüge angeordnet werden. Diese sich verkreuzenden Scheidelinien stellen selbst häufig Skalen mit zwei Polen dar, deren Extreme männlich/weiblich, weiß/schwarz, gesund/behindert oder hetero/homosexuell heißen können. Die Korrelation zu Norm/ativität und Abweichung dieser Differenzachsen besteht dann darin, dass sich der eine Pol innerhalb, der andere außerhalb einer kulturellen symbolischen Ordnung befindet. Im Anschluss an psychoanalytisch/anthropologische Ansätze4 benennt Judith Butler (1997) die von der Gesellschaft aus-
3 Ilse Lenz und Ute Luig (1995) argumentieren allerdings in ihren anthropologischen Arbeiten, dass es geschlechtersymmetrische Gesellschaften gibt, in denen die Geschlechter zwar in einem interdependenten, jedoch herrschaftsfreien Verhältnis leben. 4 Sigmund Freud geht in seiner kulturtheoretischen Arbeit „Totem und Tabu“ (1912-13, GW, Studienausgabe, Bd. IX) von einer Urhorde als ursprünglich menschlicher Gemeinschaft aus (wie er selbst zugibt, ein anthropologischer Mythos, der jeglicher empirischen Basis entbehrt) und behauptet, dass in dieser durch das Ereignis des Vatermordes das Inzest- und Tötungstabu als Grundlagen von Kultur und Sozialität etabliert wurden. Im Anschluss an die Idee des Inzesttabus – also einem Ausschlussprinzip – als anthropologischer Konstante und als Kultur und Subjekt konstituierend, entwickelt dann der Anthropologe und Linguist Claude Lévi-Strauss (1949/1993) eine Theorie über die elementaren Strukturen der Verwandtschaft (Exogamie/Frauentausch), deren Prinzip über ein linguistisches System transportiert wird. Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan entwickelt dann wiederum im Anschluss an Lévi-Strauss linguistische Theorie seine Subjekttheorie, der zufolge mit dem Schnitt des
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geschlossenen Bereiche – ihr konstitutives Außen – ‚Zonen der Unlebbarkeit’ (S. 23), also Orte, die von ‚abjekten’ (ausgestoßenen/verworfenen) Subjekten bewohnt werden. So gesehen konstituiert Abweichung die Norm. Die Wahrscheinlichkeit, in einer Gesellschaft wie beispielsweise der deutschen ‚erfolgreich’ zu sein, steigt mit den Attributen Männlichkeit, Weißsein, Bildungsnähe, familiärer Hintergrund in der Mittel- oder Oberschicht, Nichtbehinderung, Heterosexualität, kein Migrationshintergrund und sinkt mit den Attributen Weiblichkeit, rassistisch markiert sein5, Bildungsferne, familiärer Hintergrund in unteren Gesellschaftsschichten, Behinderung, homo- oder transsexuelle Orientierung und Migrationshintergrund.6 Eine Frau ist also nicht gleich eine Frau und ein Mann nicht gleich ein Mann. Geschlecht/Gender ist eine interdependente und intersektionale Kategorie und wie Regina Becker-Schmidt (2007) schreibt, enthält der Begriff der Intersektionalität die „Prämisse, dass sich keine der … Ungleichheitslagen angemessen erfassen lässt, wenn man sie jeweils isoliert betrachtet. Das ganze Spektrum von Diskriminierungen wird erst einsichtig, wenn man den Implikationen nachgeht, die sich aus ihrer Verschränkung mit anderen ergeben“ (S. 56).
Zur Geschichte der Interdependenz und Intersektionalität von Gender Das Thema der Intersektionalität wurde erst in den 1980er Jahren Gegenstand fundierter Theoretisierung in der Genderforschung.7 Aufgetaucht ist es viel früher. Die afroamerikanische Aktivistin Sojourner Truth, die sich für die Abschaffung der Sklaverei (in der sie selbst noch gelebt hatte) und für das Frauenwahlrecht in den USA einsetzte, brachte in ihrer berühmt gewordenen Rede bereits 1851 mit ihrer Frage „Ain’t I a woman?” das Problem pointiert zum Ausdruck und damit das Thema der Intersektionalität in die Öffentlichkeit. Sie Signifikanten (Kastrationsdrohung), welcher die ontogenetische Rekapitulation des phylogenetischen Vatermordes darstellt, – eine Phantasie – ‚Phallus’ als die subjektkonstituierende Leerstelle, der ‚Hauptsignifikant’ entsteht. Über Lacan gelangt dieses Ausschlussprinzip schließlich in die feministische- und Gendertheorie, etwa über die Psychoanalytikerin (und Lacanianerin) Julia Kristeva mit ihrer Abjektionstheorie (1982) zu Judith Butlers kritischer Diskussion derselben (1991). 5 Wie später im Text noch näher erläutert wird, liegt dem Rassismus, mit dem wir es in den meisten westlichen Gesellschaften zu tun haben, eine Ideologie zugrunde, die das Weißsein zur Norm macht, die als ‚rassisch’ neutral gilt und von der aus phänotypische Alterität als rassische Markierung gelesen wird. 6 Die Geschichte der Intelligenzmessung verdeutlicht, wie stark psychologisches Instrumentarium für gesellschaftliche Ein- und Ausschlüsse genutzt werden kann, indem beispielsweise kulturelle Differenzen an der Norm westlicher Bildungsinhalte gemessen als Minderwertigkeit abgebildet und naturalisiert werden (vgl. Tißberger, 2006a). 7 Die Literatur dazu ist zu umfangreich um hier wiedergegeben zu werden. Es gibt zahlreiche Publikationen, in denen Geschlecht/Gender in seinem Verhältnis zu anderen Differenzkategorien thematisiert wird. Den Begriff der Intersektionalität brachte vor allem die us-amerikanische Rechtstheoretikerin Kimberle Crenshaw (1989, 1995) in den Diskurs. In Deutschland wurde der Begriff der Intersektionalität dann mit etwa zehn Jahren Verspätung aus dem angloamerikanischen Raum (wo er zwischenzeitlich bereits als abgegriffen gilt) aufgenommen und zu einem neuen Leitbegriff in der Genderforschung gemacht (vgl. Klinger, Knapp & Sauer, 2007; Walgenbach et al. (2007).
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machte ihren weißen MitstreiterInnen ganz deutlich, dass sie mit ihrem Kampf für die Frauenrechte längst nicht alle Frauen berücksichtigen und zeigte ihnen mit zahlreichen Beispielen aus ihrem Leben als schwarze Frau – ehemalige Sklavin – dass es sehr unterschiedliche Existenzweisen von Frauen gibt und dass Rassismus weiße und schwarze Frauen strukturell trennt. Anne McClintock (1995) hat in ihrer umfangreichen Studie „Imperial Leather“ aufgezeigt, wie stark ‚Rasse’, Klasse, Gender und Sexualität in der globalen Wirtschaft verstrickt sind – ihren ‚Stoff’ und ihr ‚Gewebe’ bilden – und zugleich historisch und kontextuell ganz unterschiedlich verfasst waren. Während sich etwa weiße Weiblichkeit der Mittel- und Oberschicht im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts durch das Nichtstun auszeichnete und dadurch die vermeintliche Autonomie der Männer durch deren Besitztum unterstrich, übernahmen in den Haushalten dieser Schicht Frauen und Männer der unteren Schichten alle Arbeit. Weiblichkeitsideale wie Zierlichkeit, Grazie und Müßiggang galten also nur für weiße Frauen der Mittel- und Oberschicht, diese konnten allerdings als Frauen über den Besitz ihrer Schicht nicht verfügen. Europäerinnen der unteren Schichten sollten dagegen kräftig und fleißig sein, um körperliche Arbeit zu leisten – nicht zuletzt um die Kinder ihrer ‚Herrschaft’ groß zu ziehen und deren Haushalte zu führen – reproduktive Arbeit, für die sie allerdings bezahlt wurden. In Europa und im Besonderen bei den europäischen Kolonialmächten waren die einheimischen Ökonomien eng mit der Sklaverei verwoben. Rohstoffe aus den Kolonien wie Baumwolle oder Kohle aber auch Gold und Silber aus den Minen Lateinamerikas, und damit Sklavenarbeit, erlaubten erst die Industrialisierung in den Ökonomien Europas. ‚Rasse’, Klasse und Geschlecht fanden sich als Machtverhältnisse sowohl in der globalen- wie in den häuslichen Ökonomien Europas wieder. Die von Sklaven produzierte, in den Textilfabriken Europas von den unteren Schichten zu Tuch verarbeitete und von den häuslichen Arbeiterinnen der oberen Schichten weiß gewaschene Baumwolle, verlieh der Oberschicht erst ihr reines und edles Antlitz, durch welches sie sich von den unteren Schichten und ‚Rassen’ abzuheben suchte. Der auf imperialer Sklavenarbeit basierende Industrialismus wurde weniger aufgelöst als dass er in einen industriellen Imperialismus der Lohnarbeit überging (McClintock, S. 112). „Mining“ schreibt McClintock, wurde zugleich „the metaphor for the scientific and philosophic mastery of the world … mining also became the metaphor for the male sexual mastery of the world“ (S. 115). Die Rede von der Entdeckung und Eroberung ‚jungfräulichen Landes’ allegorisierte bereits die Feminisierung der BewohnerInnen dieser Territorien und unterstrich die Maskulinität der weißen Männer, die ‚entdeckten’ und ‚eroberten’. Während die Sexualität weißer Frauen der Mittel- und Oberschicht kontrolliert wurde – eine eigene Sexualität wurde ihnen entweder abgesprochen oder es wurde ihnen lediglich eine passive Rolle darin zugesprochen – wurden kolonisierte Frauen sexualisiert und galten als zügellos. Zugleich wurden sie als ‚vermännlicht’ wahrgenommen – ein Attribut, das auch Europäerinnen der unteren Schichten, genauer: der arbeitenden Schichten, angehängt wurde. Juden wurden als die Kolonisierten innerhalb Europas häufig mit sexueller Devianz in Verbindung gebracht, die Männer feminisiert, die Frauen maskulinisiert und beide mit sexueller Virilität, Krankheit und Prostitution in Verbindung gebracht (Gilman, 1985, 1994; Boyarin, 1997, 1998; McClintock, 1995). Die Kolonien boten Europäerinnen Emanzipations-
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potenziale, da die imperialistische Ordnung und der mit ihr einher gehende Rassismus weiße Frauen (ebenso wie weiße Männern der unteren Schichten) mit Macht ausstattete, die ihnen in Europa verwehrt war. Gleichzeitig galten diese Kolonistinnen als Garantinnen für die ‚Rassenreinheit’ und sollten die weißen Kolonisten vor dem ‚Verkaffern’ bewahren (Mamozai, 1982; Kundrus, 1997, 2003; Zantop, 1999; Wildenthal, 2001; Schneider, 2003; Geulen, 2004; Dietrich, 2007; Walgenbach, 2007a). Differenzen zwischen Frauen waren auch schon Thema einiger Feministinnen der ersten Frauenbewegung in Deutschland. Clara Zetkin beispielsweise – von 1891 bis 1920 Anführerin der proletarischen Frauenbewegung – thematisierte die Zusammenhänge zwischen Geschlechter- und Klassenverhältnissen und kritisierte die bürgerliche Frauenbewegung für ihre Ausblendung der Ausbeutung von Frauen durch die Klassenverhältnisse. Gleichzeitig verdeutlichte sie mit ihren Parolen von „Klassensklaverei“ und „Geschlechtersklaverei“ (Bauer, 1978), wie wenig sie die Ausbeutung von Frauen durch Rassismus im Blick hatte. ‚Rasse’ ist in den deutschsprachigen Gender-Debatten bis vor kurzem eine Leerstelle geblieben, was sich durch solcherlei Gleichsetzung von Sexismus/Frauenunterdrückung und der Sklaverei artikuliert. Bis in die zweite Frauenbewegung hinein und zum Teil bis heute noch finden wir etwa die Rede von ‚Frauen als Neger der Welt’ (vgl. dazu kritisch: Kerner, 2009, S. 315-328). Weiße FeministInnen blenden durch derlei Analogien die Herrschaftsverhältnisse aus, für die sie selbst mitverantwortlich sind, bzw. von denen sie profitieren wie etwa ein rassistischer Arbeitsmarkt oder die Ausbeutung der Arbeitskraft von Menschen in der so genannten Dritten Welt, welche den Wohlstand in der ‚Ersten Welt’ ermöglicht. Die Intersektionen und Interdependenzen diskriminierender Differenzkonstruktionen zu untersuchen, heißt gerade nicht, sie gleichzusetzen oder die eine Form der Unterdrückung durch die vereinnahmende begriffliche Anrufung einer anderen zu priorisieren und dabei die Differenzen unterschiedlicher Ausbeutungsformen zu nivellieren. Vielmehr geht es darum, zu verstehen, in welchem Verhältnis diese Differenzen zueinander stehen und wie sie sich gegenseitig beeinflussen. Darauf hatte bereits Sojourner Truth hingewiesen. Eine wichtige Intervention gegen diese Form der Vereinnahmung während der zweiten Welle der Frauenbewegung und der Geschlechterforschung nahm 1979 Audre Lorde vor, als sie in letzter Minute als eine von zwei schwarzen Frauen auf einen feministischen wissenschaftlichen Kongress nach New York eingeladen wurde. Der Feminismus in den USA war gerade wegen seines Weißseins unter Kritik geraten, also suchte man den Vorwurf zu entkräften, indem man schnell ein paar schwarze Wissenschaftlerinenn aufzutreiben versuchte. Lorde addressierte dieses Vorgehen direkt und warnte weiße Feministinnen davor, ‚Women of Color’ beziehungsweise ‚Third World Women’ unter den Frauen-Begriff des weißen Feminismus zu vereinnahmen. Sie plädierte statt dessen für die Anerkennung der Differenz zwischen Frauen. Statt allein auf die westliche, androzentrische Episteme zu bauen, sollten weiße Frauen aus der Interdependenz und aus der Differenz zwischen Frauen – zwischen Menschen allgemein – Erkenntnis gewinnen. Aus der Tatsache etwa, dass auf jenem Kongress wo Lorde eingeladen wurde, um vor einem Publikum fast ausschließlich weißer Akademikerinnen zu reden, deren akademische Karrieren dadurch gewährleistet werden, dass arme Women of Color ihren Haushalt führen und ihre Kinder groß ziehen, könne viel über die Lebensverhältnisse von Frauen gelernt werden und noch mehr über Interdependenzen zwischen ihnen, so Lorde (1984, S. 112).
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Wie Toni Morrison (1994) in Bezug auf Orlando Patterson bemerkt, „sollten wir uns nicht darüber wundern, dass die Aufklärung sich mit der Sklaverei abfinden konnte; wir müssten uns eher wundern, wenn dies nicht der Fall gewesen wäre. Das Konzept der Freiheit entstand nicht in einem Vakuum. Nichts rückte die Freiheit derart ins Licht wie die Sklaverei – wenn sie sie nicht überhaupt erst erschuf. . . . . Denn in jener Konstruktion von schwarzer Hautfarbe und Sklaverei ließ sich nicht nur das Nicht-frei-Sein finden, sondern auch, in der dramatischen Polarität, die durch die Hautfarbe entsteht, die Projektion des Nichtichs“ (S. 65).
Der Emanzipationsgedanke des weißen Feminismus gründet auf dem Freiheitsbegriff der Aufklärung und er hat dieses Erbe im Gepäck. ‚Rasse’, Klasse oder Ethnizität können also nicht als ‚Nebenwiderspruch’ behandelt und der Kategorie Gender in der Analyse nachgeordnet werden. Vielmehr muss untersucht werden, in welchem Verhältnis etwa schwarze und weiße Frauen in einer bestimmten Gesellschaft stehen. Was lernen wir über den Zusammenhang von Klasse, Ethnizität, Nationalität, Gender und der Emanzipation von Frauen, wenn wir an die Beschäftigung osteuropäischer häuslicher Dienstleisterinnen denken, die es deutschen Frauen ermöglichen, Karriere zu machen, ohne schwierige Auseinandersetzungen mit ihren Männern über die Arbeitsteilung im Haushalt, die Pflege der Älteren und die Kindererziehung zu führen (vgl. auch Lutz, 2007)? Wie müssen wir den Zusammenhang von Gender, Sexualität, ‚Rasse’/Ethnizität und vor allem Klasse und Nationalität denken, wenn eine pro-natalistische Familienpolitik wie die gegenwärtig in Deutschland praktizierte, durch finanzielle Anreize und den Ausbau von Kinderbetreuungsplätzen das Bevölkerungswachstum fördern will und im Effekt mit ihren Maßnahmen vor allem BürgerInnen der weißen Mittelschicht begünstigt, wenn gleichzeitig eine Einwanderungspolitik praktiziert wird, die – meist rassistisch markierten – ausländischen Müttern und Vätern die Zuwanderung erschwert (vgl. Randeria, 2007; Kerner, 2009)? Solcherlei Bio-Politik8 verdeutlicht nicht nur die Interdependenz von ‚Rasse’, Ethnizität, Gender und Sexualität, sondern auch, wie an der Schnittstelle zwischen Gesellschaft und Individuum über identitätsstiftende Markierungen Ein- und Ausschlüsse vorgenommen und dadurch Machtverhältnisse geschaffen werden (vgl. auch Jungwirth, 2007). Der feministische Slogan der zweiten Frauenbewegung, dass das Private politisch sei, gilt also nicht nur für die Geschlechterverhältnisse sondern für diese Geschlechterverhältnisse als ethnifizierte, rassifizierte und Klassen-Verhältnisse. Für die psychologische Genderforschung heißt das, dass sie ihren Gegenstand, etwa die Auswirkung von Geschlechterstereotypen auf soziale Interaktionen, die Entwicklung von Selbst-Konzepten, das Verhalten im Straßenverkehr oder Kommunikationsstile, nicht isoliert vom Einfluss des Rassismus oder der Schichtzugehörigkeit untersuchen sollte (vgl. auch bspw. Bhavnani & Phoenix, 1994; Howitt & Owusu-Bempah, 1994; Carter, 1995; Terkessidis, 1998; Burman, 1998 oder Castro Varela, Schulze, Vorgelmann & Weiß, 1998; ). Die Bedeutung für ein Subjekt, als Muslima in einer okzidentalistischen und womöglich islamophoben Gesellschaft zu leben, ist dafür, was wir an dieser Person als ‚Gender’ untersu8 Der Begriff – auch Bio-Macht genannt – wurde von Michel Foucault entwickelt und meint die Regulation der Bevölkerung durch (sozial)politische Maßnahmen – hier im Rückgriff auf das Sexualitätsdispositiv und Rassismus.
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chen, wesentlich. Es ist die eine Frage, ob eine Sportlehrerin die Erwartung hat, dass ein Mädchen über einen Bock springen kann (um ein Beispiel aus dem Beitrag von Hannover in diesem Band zu nehmen), die andere, ob sie es einem Mädchen mit Kopftuch zutraut. Wie sich das Geschlecht eines Klienten auf das Verhalten eines Berufsberaters auswirkt, ist die eine Forschungsfrage, die andere, ob er seinem männlichen Klienten auch zu einem Informatik-Studium rät wenn dieser ‚Deutsch-Türke’ ist. Auch wenn die Schülerin, die über den Bock springen soll, eine einheimische weiße Deutsche ist, sind die Gender-Codes, die wir an ihrem Verhalten beschreiben, keine universalen sondern die eines Subjekts, das im Kontext partikularer nationaler, ‚rassischer’ und kultureller (etc.) Einflüsse ‚gegendert’ ist. Gender als Untersuchungsgegenstand kann daher, wie eingangs bereits mit Becker-Schmidt argumentiert wurde, nicht isoliert untersucht werden.
Episteme: zur Genese des ‚Wissens’ über Differenz Mit ihrer Intervention auf jenem Kongress in New York formulierte Audre Lorde ein Diktum, das für feministische Epistemologie wegweisend wurde: „The master’s tools will never dismantle the master’s house.“ Mit den Werkzeugen eines rassistischen Patriarchats könnten nicht die Effekte desselben dekonstruiert, geschweige denn abgeschafft werden. Sie könnten einem zwar kurzfristig ermöglichen, ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, jedoch keine grundsätzliche Veränderung herbeiführen und Lorde fügt hinzu: „[a]nd this fact is only threatening to those women who still define the master’s house as their only source of support“ (1984, S. 112). Wer sich also allein auf die Erkenntnisweisen der bestehenden und das hieß damals noch weitgehend, der androzentrischen und eurozentrischen Wissenschaft verlässt, kann nicht Erkenntnis über die Effekte dieser Episteme gewinnen, etwa was unter dem Forschungsgegenstand ‚Frauen’, ‚MigrantInnen’, oder ‚Schwarze’ zu verstehen ist. Feministische Wissenschaftskritik hat zwischenzeitlich Tradition und es wurden Forschungsmethoden entwickelt, die ihrem Gegenstand gerecht werden und Erkenntnis über das Leben (Denken, Fühlen, Handeln) weiblicher (und männlicher) Subjekte gewinnen lassen, ohne bei der Datenerhebung und -auswertung Filter und Muster zu verwenden, durch die genau das produziert wird, was die Methode aufzudecken vorgibt (vgl. Harding & Hintikka, 1983; Harding, 1987, 1990, 1994, 1998; Narayan & Harding, 2000; McCarl Nielsen, 1990; Althoff, Bereswill & Riegraf, 2001; Smith, 1998; Haug, 1990, 1999; Tißberger, 2005). Aber nicht nur Sexismus ist als konstitutives Moment dominanter Epistemologien zu benennen. Postkoloniale KritikerInnen haben deutlich gemacht, wie auch der Eurozentrismus und Rassismus das ‚Wissen des Westens’ strukturieren.9 Gayatri Chakravorty Spivak (1985, 1993) benennt als Teil des Imperialismus die durch den Kolonialismus hervorgebrachte und durch neokoloniale Machtverhältnisse perpetuierte „epistemische Gewalt“. Mit Begriffen wie ‚Afrikaner’ oder ‚Inderin’ beispielsweise sind Subjektpositionen benannt, die der
9 Zur Kritik an Rassismus und Eurozentrismus in Epistemologie und Methodik siehe bspw. Tuhiwai Smith (1999), Harding (1998), Narayan & Harding (2000), Winddance Twine & Warren (2000), Tißberger (2004, 2005, 2006b).
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europäische Imperialismus erst hervorgebracht hat. ‚Afrika’ und ‚Indien’ sind nicht nur begrifflich von Europäern erfunden worden, die „Fetischisierung solcher Bezeichnungen wie ‚Inderin’ oder ‚Asiatin’ homogenisier[t] unvergleichbare Lebenserfahrungen“ (Castro Varela; Dhawan, 2005, S. 56). Als Methode des Widerstandes gegen solcherlei Vereinnahmungen kam nicht nur im Feminismus die Strategie der Identitätspolitik auf, also das Operieren aus der Position heraus, in die man durch bestimmte Zuschreibungen hinein geraten ist und das in Solidarität mit anderen, die gleich positioniert sind, also bspw. als ‚Frauen’, ‚Schwule’, ‚Migrantinnen’, oder ‚Afrodeutsche’. Eine umstrittene Politik, denn sie erschwert die Bildung von Koalitionen. Es war wiederum Spivak, die 1988 den Begriff des ‚strategischen Essenzialismus’ (S. 205) in die Diskussion einbrachte. Damit meinte sie die Notwendigkeit, auf die eigene Position überhaupt aufmerksam zu machen, etwa die als subalterne Arbeiterin im Migrationskontext, also jener ‚brauner’ Hausarbeiterinnen beispielsweise, die in westlichen Haushalten die Arbeit weißer Frauen übernehmen, nicht zuletzt um deutlich zu machen, welche Differenzen es zwischen Frauen gibt und in welchem Verhältnis, beziehungsweise welcher Abhängigkeit die so verschieden Positionierten zueinander stehen. Es kann jedoch keine langfristige Strategie sein, dass identitäre Gruppen für sich und womöglich gegeneinander agieren. Nicht zuletzt deshalb folgen Intersektionalitäts- und Interdependenzdebatten auf Ansätze wie Gender Mainstreaming oder Diversity-Programme, wobei letztere bereits in manchen Anwendungsbereichen integrativ konzipiert sind, also verschiedene Differenzkonstruktionen wie Behinderung, sexuelle Orientierung, Ethnizität oder Gender gleichermaßen thematisieren. Ich habe die ‚Achsen der Differenz’10 bisher ohne bestimmte Gewichtung in ihren Intersektionen und Interdependenzen thematisiert, also Ethnizität, Gender, ‚Rasse’ oder sexuelle Orientierung gleichwertig behandelt. Während in den englischsprachigen Publikationen – meist in den USA oder Großbritannien kontextualisiert – die Trias Gender, Race, Class dominiert, tauchte in deutschsprachigen Publikationen bis in die 1990er Jahre nur die Intersektion von Gender und Klasse auf. Bezüglich der Ausblendung von ‚Rasse’ als mächtiger Differenzkategorie hat sich also nach Zetkin im Feminismus bzw. in der Genderforschung in Deutschland bis vor kurzem wenig geändert. Erst in den 1990er Jahren kam zögerlich Ethnizität hinzu. ‚Rasse’ wird bis heute von den meisten AutorInnen ausgeblendet. Das ist sicherlich auch damit zu begründen, dass die USA ein Einwanderungsland ist und die weiße Dominanzkultur11 als solche von rassistisch markierten AmerikanerInnen kritisiert wurde. Auch in Großbritannien waren es vor allem die ‚postkolonialen’ MigrantInnen, die den Feminismus und andere kritische Theorien in ihren Rassismen kritisierten. Die Einwanderungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland ist von der Anwerbung billiger Arbeitskräfte geprägt. Zugang zu Bildung wurde und wird den meisten MigrantInnen strukturell erschwert und damit politische und intellektuelle Einflussnahme (vgl. Gutiérrez Rodríguez, 1999). Dass der Begriff ‚Rasse’ im deutschsprachigen Raum bis vor kurzem allgemein vermieden wurde, ist außerdem dadurch begründet, dass nach dem Nationalso-
10 Diese Formulierung wurde durch Gudrun-Axeli Knapp und Angelika Wetterer (2003) im deutschsprachigen Raum verbreitet. 11 Der Begriff wurde von Birgit Rommelspacher (1998) geprägt.
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zialismus der Begriff (auch infolge der Empfehlung einer Expertengruppe der UNESCO in ihrem „Statement on Race“ von 1950) in der Hoffnung tabuisiert wurde, mit dem Begriff auch den Rassismus aus den Köpfen zu vertreiben. Es ist nicht gelungen, wie wir wissen. ‚Rasse’ und ‚Rassismus’ als Begriffe tauchen selten auf, das Denken von ‚Rasse’ und entsprechend Rassismus sind dagegen omnipräsent. Die begriffliche Verschiebung von ‚Rasse’ zu Ethnizität oder das Problem des Rassismus zu ‚Fremdenfeindlichkeit’ verschleiern lediglich ihren Gegenstand. Die historische Amnesie zum deutschen Kolonialismus ist Teil dieser Symptomatik, ebenso wie die allgemeine Unfähigkeit in Deutschland, Antisemitismus oder Rassismus jenseits ihrer offenkundigen Erscheinungen zu erkennen. Ethnizität wird i.d.R. als kulturelle Kategorie verstanden, ‚Rasse’ wird biologisch gedacht. Es sind allerdings nicht ‚Ausländerinnen’ wie weiße Norwegerinnen oder weiße Kanadier, die in Deutschland ‚fremdenfeindlichen’ Übergriffen zum Opfer fallen sondern schwarze Deutsche oder so genannte ‚Deutsch-TürkInnen’. Es sind Menschen, die nicht ‚weiß’ sind. Nationale Zugehörigkeit wird in Deutschland von den meisten Menschen nach wie vor ‚rassisch’ gedacht. Phänotypische Differenzen machen den Unterschied. ‚Rasse’ und Geschlecht/Gender haben dadurch etwas gemeinsam, was sie von den anderen Kategorien, aus denen ‚Achsen der Differenz’ werden, unterscheidet: sie werden in den Körper eingeschrieben. Gender/Geschlecht und ‚Rasse’ sind soziale Konstruktionen, die dadurch funktionieren, dass von körperlichen Markierungen (Geschlechtsorgane, Haut, Haar, Knochenbau etc.) psychische ‚Eigenschaften’ abgeleitet werden und das daraus generierte ‚Wissen’ als Denken in ‚Fleisch und Blut’ übergeht. ‚Rasse’ und Geschlecht werden i.d.R. essenzialistisch gedacht. Aufgrund des Glaubens, dass ‚rassische’ und geschlechtliche ‚Eigenschaften’ auf Körperliches/Biologisches zurückzuführen sind, ist Diskursen über Geschlecht und ‚Rasse’ ein Essenzialismus immanent, der auf der Diskursebene schwer zu dekonstruieren ist. Durch diesen Essenzialismus immunisieren sich Diskurse über ‚Rasse’ und Geschlecht.
Eingefleischtes Wissen Kratzt man an der Oberfläche von Diskursen über ‚Kultur’ oder ‚Ethnizität,’ taucht ‚Rasse’ darunter auf, schreibt Seshadri-Crooks (2000, S. 4). Religion, Klasse, Ethnizität oder Nationalität sind keine ‚Eigenschaften’, die in den Körper eingeschrieben sind. Sie sind flexible Kategorien. Ethnizität wird zwar manchmal wie ‚Rasse’ gedacht, sie ist allerdings als ‚kulturelle Identität’ definiert. Religionen können angenommen und abgelegt werden ebenso wie Ethnizität, Nationalität oder eine Klassenzugehörigkeit. Selbst Diskriminierungsgründe wie Behinderung, sexuelle Orientierung oder Alter sind flexibel. Jeder ‚befähigte’ Mensch kann durch Unfall oder Krankheit ‚behindert’ werden. Niemand bleibt ewig jung. Alte sind in westlichen Gesellschaften ‚ärmer’ dran als Junge, sie können dieses ‚Defizit’ wiederum mit Geld ausgleichen. ‚Rasse’ und Geschlecht sind Kategorien, die durch eine Naturalisierung – die Ableitung von physischen auf psychische Merkmale – also die Ontologisierung phänotypischer Merkmale entstehen. Dass sich Frauen und Männer durch sichtbare körperliche Merkmale unterscheiden und die Menschen sich hinsichtlich Hautfarbe, Haarstruktur oder Knochenbau unterscheiden, sei unbestritten. Die Frage ist, wie diese ‚sichtbaren’, also äußer-
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lichen – an den Körpergrenzen verortete – Merkmale zu psychischen/‚Seins’-Merkmalen gemacht werden. Was macht ‚Rasse’ und Geschlecht so ahistorisch und unflexibel? Weil die zwischenmenschlichen Differenzen, die durch ‚Rasse’ und Geschlecht begründet werden, biologisch konstruiert sind, haben beide eine lange Geschichte der naturwissenschaftlichen Beforschung. Auch das unterscheidet sie von Ethnizität, Religion, Klasse oder anderen Differenzkategorien.12 Geschlecht als biologische Differenz wurde hierbei vor allem in den reproduktiven Organen des Körpers und natürlich im Gehirn verortet. Nachweise für ‚Rasse’ wurden mal in den Körpersäften, dann in der Physiognomie, mittels Kraniometrie in der Schädelform oder dem Gewicht des Gehirns, in den Genen, der ‚Intelligenz’ – was immer man darunter verstehen möchte – oder neurowissenschaftlich gesucht. Trotzdem es an Bemühungen nicht mangelte, konnte bis heute kein haltbarer Nachweis für ‚Rasse’ in den Naturwissenschaften gefunden werden. Es gibt zwar einzelne Gene, auf welche die Struktur der Haare, die Hautfarbe oder die Form der Augen zurückzuführen ist, es gibt aber keine genetische Kombination, welche eine ‚Rasse’, so wie wir sie uns vorstellen, also ‚Asiaten’, ‚Schwarze’, ‚Weiße’ oder gar ‚Indianer’, hervorbrächte. Obgleich sämtliche naturwissenschaftlichen ‚Beweise’ für ‚Rasse’ über kurz oder lang widerlegt wurden, tauchen immer neue Forschungsprojekte auf. Bis heute wird ‚Rasse’ für Unterschiede in der ‚Intelligenz’, der Wirkung von Medikamenten, der Leistungsfähigkeit oder dem Vorkommen bestimmter Krankheiten verantwortlich gemacht. Geschlecht und ‚Rasse’ als unveränderliche Differenzkategorien wurden durch die Wissenschaft erst geschaffen. Was wir an dem Verhalten, ja selbst an körperlichen Eigenschaften mit der Geschlechtszugehörigkeit oder einer ‚Rasse’ begründen, ist meist der Effekt von Rassismus und geschlechtsspezifischer Sozialisation/Sexismus sowie den entsprechenden Identifizierungen der Subjekte und nicht durch Geschlecht oder ‚Rasse’ begründet. Jenseits der reproduktiven Organe der verschiedenen Geschlechter ist nach wie vor völlig fraglich, was aus den organischen Differenzen abgeleitet werden kann. Gerade die jüngere Hirnforschung verdeutlicht, dass viel mehr als bisher angenommen, die Nutzungsbedingungen über die Entwicklung des Gehirns bestimmen als etwa die Genetik. Erst mit der Systematik wissenschaftlicher Rassentheorien wird eine Korrelation von Physis und Psyche hergestellt, werden körperliche Merkmale mit geistigen ‚Eigenschaften’ belegt, Kulturelles und Soziales als Natur konstruiert, historisch Gewordenes zu Archaischem erklärt und horizontale Differenzen durch eine evolutionistische Entwicklungsideologie in eine hierarchische Ordnung gebracht, kurz: gesellschaftliche Verhältnisse und soziale Ungleichheit werden zur natürlichen Ordnung erklärt und das Ganze durch wissenschaftliche Untermauerung autorisiert (vgl. Priester, 2003; Jahoda, 1999; Gould, 1983/2007; Brickman, 2003). Der wissenschaftliche Rassismus beförderte eine hegemoniale Ordnung, die durch ‚Rasse’ strukturiert ist. Mit den Rassentheorien, die im Zeitalter der Aufklärung entstehen, wird eine Systematik fabriziert, in der zwischenmenschliche Unterschiede in eine hegemoniale Ordnung gebracht werden, die gegen ihre Historisierung und gegen strukturelle Veränderungen immun ist. Entlang phänotypischer Differenzen werden Menschen zu ‚Rassen’ gruppiert und auf einer evolutionistischen Zeitachse zwischen Primitivität und 12 Sexuelle Orientierung mag hier eine Ausnahme bilden, allerdings fand sie als Kategorie nicht annähernd so viel Aufmerksamkeit in der naturwissenschaftlichen Forschung wie ‚Rasse’ oder Geschlecht.
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Zivilisiertheit verortet. Es entsteht eine Abstufung von weniger zu mehr entwickelt, die mit der Hautfarbe korreliert. Primitivität wird durch Dunkelheit und ‚schwarze’ Haut, Zivilisation durch Licht und helle Hautfarbe codiert und alle ‚Anderen’: Asiaten, Orientalen, Slawen etc., finden sich irgendwo zwischen beiden. Schwarze stehen am niedrigsten Punkt dieser Skala, Weiße an ihrer Spitze. Mit dem evolutionistischen Gedanken entsteht eine Achse, die Zeit als Entwicklung darstellt und Horizontales mit Vertikalem auf einer Linie verschmilzt – eine Diagonale, die durch Zeit und Raum führt. ‚Rasse’ wird von da an als unveränderbare menschliche Eigenschaft gedacht. Man wird in sie hinein geboren und kann sie nicht hinter sich lassen. Ethnizität oder Kultur hat man, ‘Rasse’ ist man, so die Ideologie. Entscheidend ist, dass ‚Rasse’, genauso wie Geschlecht, in den Körper eingeschrieben wird, ‚Rasse’ und Geschlecht sind Kultur, die als Natur gedacht werden. An der Oberfläche des Körpers wird sein ‚Wesen’ ablesbar (Brickman, 2003). Mit dem Evolutionismus in den Rassentheorien wird das Weißsein zum Referenzpunkt für Vollkommenheit, Ganzheit und das wahrhaftige Menschsein. Homi Bhabhas (1994) Formulierung: ‚not quite/not white’ verweist auf die Assoziation von Weißsein als Ganzheit, das – an der Spitze einer Entwicklung gedacht – alles Andere als mangelhaft erscheinen lässt, ‚off-white’13. Alle Nichtweißen sind mehr oder weniger schwarz – durch den evolutionistischen Gedanken werden sie ‚angeschwärzt.’ Der Ausdruck des Anschwärzens in der deutschen Sprache verdeutlicht die Synthetisierung von Dunkelheit und Negativität. Schwarzsein heißt illegal, verboten, klandestin, heimlich, unheimlich14 zu sein. Begriffe wie ‚Schwarzfahren’, ‚schwarze Kassen’, ‚eine weiße Weste haben’ oder ‚Schwarzarbeit’ verdeutlichen, wie sich Rassismus in die deutschen Sprache eingefleischt hat. Antisemitische Stereotypen sind zu orientalistischen Stereotypen verschoben worden, etwa der des Schwindlers, was im Begriff ‚getürkt’ zum Ausdruck kommt. Wenn ich in diesem Beitrag von Schwarzen schreibe, meine ich deshalb nicht nur Menschen mit dunkler Hautfarbe sondern Menschen, die durch Rassismus ‚angeschwärzt’ werden. In der deutschen Geschichte waren (beziehungsweise sind) das unter anderen Juden, Sinti und Roma, Süd- oder auch OsteuropäerInnen sowie ‚DeutschTürkInnen’ und ‚Deutsch-AraberInnen’. Wer als weiß ‚durchgeht’, ist historisch und kontextuell sehr unterschiedlich. Auch dieses Phänomen ist der Tatsache geschuldet, dass ‚Rasse’ ein Artefakt ist und keine Substanz hat. Sie erlaubt unendlich viele Interpretationen und das macht sie zu einem effektiven Werkzeug der Macht. Wer immer die Definitionsmacht hat, kann beliebige (beziehungsweise missliebige) Andere ‚anschwärzen’. So werden Juden zu Weltverschwörern, Moslems zu Terroristen oder Schwarze zu Kriminellen.
Das Unbewusste: Geschlecht und ‚Rasse’ als Fetisch Die Markierungen, welche die Körper nach ‚Rasse’ und Geschlecht unterscheiden, sind wie Fetische – Objekte, an denen sich Materie vergeistigt und Geist verkörpert. Sie sind Orte, an
13 Das ist der Titel eines Sammelbandes über ‚Rasse’, Macht und Gesellschaft von Fine, Weis, Powell & Wong (1997) herausgegeben. 14 Freuds Spiel mit dem Begriff der Un/Heimlichkeit ist hier von besonderer Bedeutung die später noch ausgeführt wird.
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denen sich Körperliches der Subjekte vom naturwissenschaftlichen zum geistes- bzw. sozialwissenschaftlichen Gegenstand wendet, wo die Ontologisierung des Körpers stattfindet. Anne McClintock nennt den Fetisch einen ‚switchboard-term’. Er hat als Begriff eine lange Geschichte. Etymologisch betrachtet ‚reiste’ der Begriff des Fetisches aus dem europäischen Mittelalter nach Afrika und von dort aus zurück nach Europa. Erstmals tauchte der Begriff ‚feitiço’ bei den Klerikern Portugals im Mittelalter zur Bezeichnung von Zauberei, Magie und Hexerei sowie ‚gesetzeswidriger’ weiblicher Sexualität auf. Die Katholiken nutzten den Begriff, wie McClintock schreibt, „to condemn the charms and magical arts practiced by the restive populace and also to discipline wayward female sexuality“ (S. 186). Wie McClintock weiter schreibt, war der Begriff anfänglich also mit exzessiver weiblicher Sexualität assoziiert und wurde später von Sigmund Freud für das Gegenteil benutzt: weiblicher Mangel (ebda.). Im 15. Jahrhundert brachten die portugiesischen Seefahrer den Begriff in ihr koloniales Imperium ein. Sie benutzen ihn zur Bezeichnung für die ihnen mysteriös erscheinenden Amulette und Ritualobjekte von AfrikanerInnen, mit denen sie an der Westküste Afrikas Handel betrieben. Aus dem portugiesischen feitiço wurde das Hybrid fetisso und als die Zentren von Europas maritimer Macht von Portugal nach Norden zogen, reiste der fetisso mit ihnen erst in die Niederlande, dann nach Frankreich und erreichte 1625 England. 1880 übersetzte Alfred Binet den Fetisch aus dem anthropologischen Diskurs wieder in den Bereich der Sexualität wo er nun ‚Perversion’ bedeuten sollte. Der Fetisch gehört also zu keinem bestimmten Kontext sondern kam immer dann zum Einsatz, wenn ganz Widersprüchliches aufeinander prallte, wenn zwei Kulturen füreinander völlig unverständlich waren (ebda). Der Fetisch verdeckt Widersprüche. Während der Aufklärung wurde die Idee des Fetischismus zum organisierenden Faktor: er galt paradigmatisch für alles, was die Aufklärung nicht sein sollte. Das ist, was Toni Morrison über den Zusammenhang von Aufklärung und Sklaverei schreibt. Mit ihrem Freiheitsbegriff bringen die Aufklärer nicht nur das Ich hervor sondern auch die Sklaverei und das Nichtich als ihr konstitutives Anderes. Für Rousseau markierte der Fetisch-Glaube das kindliche Stadium menschlicher Entwicklung, für Kant stellte Fetischismus das Fehlen logischer Kausalität dar, dessen Gegenteil das rationale Denken sein sollte und Hegel behauptete, dass die Fetischkultur Afrikas genau jenes verworfene Moment der Zeit bewohnte, ehe die wahre Geschichte begann (McClintock, S. 187, vgl. auch Purtschert, 2006). Der Fetisch als Begriff für Verschleiertes, Verdrängtes oder Unbekanntes hat also bereits eine Bedeutung im Gepäck ehe er bei Sigmund Freud an der Stelle des Rätsels weiblicher Sexualität und rassifiziert als ‚the riddle of the dark continent’ auftaucht. Als Begriff verbindet der Fetisch Afrika, Weiblichkeit und Wert, bzw. ‚Rasse’, Gender und Kapital. In Freuds Allegorisierung weiblicher Sexualität als Dark Continent verdichtet sich die Fetischisierung von Geschlecht, ‚Rasse’ und Sexualität. Der Kastrationskomplex – die Leerstelle Frau – als zentrales Moment der Freudschen Subjektgenese ist auch der Ort, wo sich bewusst in unbewusst, Prädiskursives in Diskursives, Materie in Geist wendet und umgekehrt. Der Fetisch – ein ‚switchboard-term’.
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Dark Continent. Psychoanalyse, Gender, ‚Rasse’. Die Psychoanalyse Sigmund Freuds ist nicht zufällig zu einem wesentlichen Bezugspunkt für die Gender- und postkoloniale Theoriebildung geworden. Auf meiner Suche nach Erklärungen dafür, was den Rassismus so langlebig macht und warum die Subjekte ihn trotz aller Aufklärung, also wider Willen und gegen besseres Wissen, reproduzieren, wurde deutlich, dass sich Rassismus vor allem auf der Ebene des Unbewussten abspielt und von dort aus reproduziert wird (vgl. Tißberger, 2005, 2006b). ‚Rasse’ reproduziert sich nicht nur diskursiv sondern sind es Elemente, die wir als essentiell, eingefleischt und unveränderbar – die wir ontologisch denken – welche den Rassismus so langlebig machen. Zwar wird die Essenz, das Fleisch und das Sein des Rassischen durch die Sprache fabriziert und transportiert, diese Sprache bezeichnet allerdings lediglich, was wir jenseits der Sprache verorten – dieses Körperliche des Rassismus. Es ist entsprechend notwendig, über diskursanalytische Verfahren hinaus Instrumentarien zur Rassismusanalyse zu finden. Das psychoanalytische Verständnis für die Psychodynamik erscheint mir daher als unentbehrlich. Aufgrund von Freuds ambivalenter Situation als Jude in einer antisemitischen Gesellschaft zum Zeitpunkt des Herannahens des Nationalsozialismus und zugleich als weißer Mann in einer kolonialistischen und sexistischen Gesellschaft, hat er eine Subjekt- und Kulturtheorie formuliert, die ein ebenso revolutionäres wie reaktionäres Potenzial hat (vgl. Brickman, 2003; Boyarin, 1998). Die Traumdeutung Sigmund Freuds gilt als eine der Initiationsgeschichten der Moderne. Freuds kolonialistische Metapher des ‚dunklen Kontinents’ mit der er die Sexualität und – mit ihr – die Psyche der Frau als Gegenstand allegorisiert, dessen Erkenntnis sich seinem forschenden Geist beständig zu entziehen scheint, verstehe ich als Verdichtung nicht nur von ‚Rasse’ und Gender als Fetisch dieser Moderne, sondern auch als Begriff für die konstitutive Leerstelle ihrer Episteme – ihren ‚weißen’ Fleck. Mit Freuds Bezeichnung weiblicher Sexualität als „dark continent“ weil sie sich seiner Er/ Kenntnis entzieht, verweist er unbeabsichtigt auf zwei konstitutive Figuren der Psychoanalyse: Geschlecht und ‚Rasse’. Sie sind beide Differenz-Figuren, mit deren Hilfe Ausschlüsse vorgenommen werden, damit das Subjekt der Psychoanalyse hervortreten kann. Freuds Metapher weiblicher Sexualität als dunkler Kontinent epitomisiert zudem die Konfluenz evolutionistischer Vorstellungen von Afrika als primitiv und dunkel mit ‚Rasse’ und Geschlecht, die sich wiederum durch Primitivität und Weiblichkeit gegenseitig bezeichnen und in ein Netzwerk evolutionistischer Korrespondenzen einfließen (Brickman, S. 104). Freud benutzt die Formulierung des dunklen Kontinents erstmals in seinen Ausführungen über „Die Frage der Laienanalyse“ 1926 und dort heißt es: „Vom Geschlechtsleben des kleinen Mädchens wissen wir weniger als von dem des Knaben. Wir brauchen uns dieser Differenz nicht zu schämen; ist doch auch das Geschlechtsleben des erwachsenen Weibes ein dark continent für die Psychologie“ (Freud, GW, Studienausgabe, Ergänzungsband, S. 303). Die weibliche Sexualität, die Freud mit der weiblichen Anatomie gleichsetzt, markiert auch die Geschlechterdifferenz, die Freud vor allem im Mangel des Penis bei der Frau sieht. Dieser Mangel ist es, der beim männlichen Kind in der ödipalen Phase den Kastrationskomplex auslöst, dessen Überwindung von Freud als Zivilisationsmoment in der Ontogenese gelesen wird.
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Bei Freud stellt der Ödipuskonflikt mit seiner Kastrationsdrohung das zentrale Moment der Subjektgenese dar. Wenn der kleine Junge, auf den sich Freuds subjektwissenschaftliches Interesse primär konzentriert, in der so genannten phallischen oder ödipalen Phase (zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr, also zeitgleich zum Spracherwerb), sein Genital als Lustquelle entdeckt, beginnt er, dieser Körperregion seine gesteigerte Aufmerksamkeit zu schenken. Im Zuge der Sittlichkeitserziehung hat er bereits gelernt, dass Masturbation verwerflich ist und sucht nun ängstlich den Beweis für die väterliche Strafe seiner verbotenen Taten. Diesen findet er schließlich in der Entdeckung der nackten Mutter, die er als kastriert begreift, weil sie sich wohl unerlaubter Regungen (Masturbation) schuldig gemacht haben muss und dadurch das Genital eingebüßt hat. Bei Freud gilt das Primat des Penis für die psychosexuelle Entwicklung beider Geschlechter. Für ihn ist die Klitoris „der reale kleine Penis des Weibes“ (GW, Studienausgabe, Bd. III, S. 388). Sie gilt ihm als minderwertiges Organ und zwar das „einzige ‚minderwertige’ Organ, das ohne Zweideutigkeit diesen Namen verdient“ (GW, Studienausgabe, Bd. V, S. 262, FN 1) und als solches sei es der Prototyp minderwertiger Organe. In der englischen Übersetzung heißt es, die weiblichen Genitalien seien „more primitive“ als die des Mannes (zit. bei McClintock, S. 42). Freud geht davon aus, dass Kinder in der phallischen/ödipalen Phase den gegengeschlechtlichen Elternteil als Sexualobjekt begehren. Die Masturbation stellt gewissermaßen die Triebabfuhr hierzu dar. Während die Mutter inzestuös begehrt wird, richten sich gegen den Vater als Konkurrenten Vernichtungswünsche. Der Junge gibt schließlich durch die Kastrationsangst das begehrte Objekt (die Mutter) auf, akzeptiert die Vorherrschaft des Vaters (beispielsweise sein Besitzrecht über die Mutter) und internalisiert die väterliche Autorität, welche zugleich für die gesellschaftlichen Normen und Verbote steht (das Über-Ich). Durch die Internalisierung des väterlichen Gesetztes bildet sich das Ich und damit das wesentliche Merkmal des Subjekts der Kultur (beziehungsweise der Zivilisation) und der Sprache und damit des Bewusstseins.15 Damit ist Weiblichkeit durch Primitivität und das Unbewusste codiert, Männlichkeit durch Zivilisiertheit (Enkulturation in der Subjektgenese) und Bewusstsein. Das Subjekt der Psychoanalyse lässt in seiner psychosexuellen Entwicklung Weiblichkeit, Primitivität und das Unbewusste zurück. Geschlecht, bzw. die sexuelle Differenz stellen bei Freud die Anfangs-Figur dar, von der aus er die Subjektgenese denkt. Der dunkle Kontinent als Allegorisierung Afrikas, das für ‚Rasse’ steht, ist ein verschobener – verdrängter – Anfang. Afrika, welches durch ‚Rasse’ codiert ist, wird abjektiert – als verworfene Vergangenheit zurückgelassen. Der Beginn des Subjekts in der Psychoanalyse liegt mit Ödipus in Griechenland. Mit dem dunklen Kontinent sind unbewusst koloniale Phantasiereiche gemeint, welche sich die Europäer gerade einverleiben, als Freud die Psychoanalyse entwickelt – ein Prozess der Bemächtigung, der von ihnen sexuell allegorisiert wird. Die Begrifflichkeiten, die Freud in seiner Theoretisierung des Subjekts verwendet, sind also Bestandteil der zeitgenössischen Kolonialdiskurse.
15 Diese Elemente von Freuds Psychoanalyse der Subjektgenese sind vor allem in seinen Texten zum Sexualleben im Band V der Gesammelten Werke (Studienausgabe) nachzulesen, darin vor allem „Der Untergang des Ödipuskomplexes“ (1924), „Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds“ (1925), sowie die Texte zum Fetischismus: „Fetischismus“ (1927) und „Die sexuellen Abirrungen“ (ein Abschnitt aus „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie,1905).
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‚Afrika’ bildet gewissermaßen diskursiv die Peripherie im Wien des fin de siècle, in dem Freud mit der Psychoanalyse eine Theorie über Subjekt und Kultur seiner Zeit entwickelt, die bis heute prominent geblieben ist. Der dunkle Kontinent war bereits vorhanden, wie die Syntax des Zitats von Freud verdeutlicht, ehe das ‚Geschlechtsleben des Weibes’ als Leerstelle in der Psychoanalyse erscheint („Wir brauchen uns dieser Differenz nicht zu schämen; ist doch auch das Geschlechtsleben des erwachsenen Weibes ein dark continent für die Psychologie“). Dieser ‚Kontinent weiblicher Sexualität’ ist ein weißer Fleck in der Erkenntnislandschaft Freuds, denn er scheint sich ihm zu entziehen: Die ‚Scham’ über diese Unkenntnis besorgt Freud allerdings nicht sehr. Er nimmt sie recht selbstverständlich hin, lässt sich von ihr aus doch ein nahtloser Übergang zur Frau als Leerstelle finden, die den Penismangel und damit die Kastrationsdrohung symbolisiert. Diese ‚Scham’ (der Unkenntnis) sollte uns viel lieber sein als ihr Gegenstück, so legt Freud nahe: der kleine Knabe, wenn er sich weigert, „die Tatsache seiner Wahrnehmung, dass das Weib keinen Penis besitzt, zur Kenntnis zu nehmen“ und damit vielleicht eine „ähnliche Panik“ wie „der Erwachsene später erleb[t], wenn der Schrei ausgegeben wird, Thron und Altar sind in Gefahr …. „ (GW, Studienausgabe, Bd. III, S. 384). Das männliche Genital als Repräsentant von Macht und Gesetz steht hier also im Zentrum der psychischen Entwicklung. Der Knabe „skotomisiert“ jedoch nicht die Wahrnehmung des Penismangels beim ‚Weibe’, „so dass das Ergebnis dasselbe wäre, wie wenn ein Gesichtseindruck auf den blinden Fleck der Netzhaut fiele“ (ebd., Hervorh. M.T.) sondern rettet seine Illusion und schützt sich damit vor der Kastrationsdrohung indem er einen Fetisch bildet. Dieser „erspart es dem Fetischisten auch, ein Homosexueller zu werden …“ (S. 385).16 Der ‚Fetischist’ ist für Freud ein solcher geworden, weil er als Junge beim ersten Anblick der Genitalien einer Frau die ‚Leerstelle’, also den Mangel eines Penis, nicht realisieren wollte und ein ‚Ersatzobjekt’ gebildet hat. Das ist in der Regel von dem Objekt abgeleitet, das er zuletzt sah, ehe sein Blick auf die ‚traumatisierende’ Leerstelle traf, etwa Frauenschuhe oder Unterwäsche. Freud gilt dies offensichtlich als weniger ‚pathologisch’ als das, was er als Genese männlicher Homosexualität denkt. Der Fetischist schützt sich durch seinen Fetisch vor der Kastrationsdrohung. Er behält die Illusion, dass auch die Mutter einen Penis hat. Für Homosexualität bietet Freud verschiedene Genealogien an, die Kernpunkte sind dabei eine übermäßige Fixierung auf die Mutter als Liebesobjekt, was die libidinöse Besetzung anderer Frauen erschwert und in der Identifikation mit der Mutter als Ausgang dieser Objektbindung mündet. Es folgt schließlich eine narzisstische Objektwahl weil sie leichter ist, als die Wendung zum ‚anderen’ Geschlecht. Der Knabe, der, wie Freud glaubt, einen Fetisch bildet, um die Differenz zwischen Frauen und Männern nicht realisieren zu müssen und sich damit vor der Kastrationsdrohung schützt, scheint etwas gemeinsam mit Freud selbst zu haben, der die weibliche Sexualität nicht an/zu/erkennen vermag und an dieser ‚Leerstelle’ einen ‚dark continent’ formuliert.
Wie schon angedeutet wurde und später noch genauer ausgeführt wird, waren Juden (zur Zeit Freuds) selbst mit sexueller Devianz assoziiert, zu der auch Homosexualität zählte. Bis heute wird in der klinischen Psychologie – nicht nur bei psychodynamischen Ansätzen – Homosexualität manchmal als sexuelle Fehlentwicklung und Psychopathologie beschrieben.
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Der wissenschaftliche Zeitgeist des Kolonialismus war nicht allein Grund für den Eingang kolonialistischer Fragmente und mit ihnen ‚Rasse’ in die Psychoanalyse. Daniel Boyarin (1997, 1998) und Sander Gilman (1985, 1994) erkennen, dass es Freuds Erfahrung als Jude und damit zugehörig zur Gruppe der Kolonisierten innerhalb Europas ist, die den Anfang aller Differenzkonstruktion in der Psychoanalyse darstellt. Die sexuelle Differenz steht in der Psychoanalyse am Ende einer Reihe von Verschiebungen innerhalb der Theoriebildung Freuds. Der Fetisch ist gewissermaßen die Brücke zwischen dem beschnittenen Penis, der weiblichen Sexualität und dem ‚dark continent’ bei Freud. Er transportiert das Zeichen der Differenz, die Leerstelle, zwischen ‚Arier’ und Jude über die sexuelle Differenz von Phallus/Kastration in den kolonialen Diskurs mit seiner rassistischen Differenz zwischen Weiß und Schwarz bzw. zwischen Europa und seinen kolonisierten Anderen. Es ist das rassische Objekt, das Freud selbst markiert – die Beschneidung – die am Anfang aller Differenzkonstruktionen in der Psychoanalyse steht, ein Zeichen, das von Freud in die sexuelle Differenz von Phallus haben/sein verschoben wird. Freud hatte zeitlebens gegen den Antisemitismus anzukämpfen, durch den ihm immer wieder seine wissenschaftlichen Leistungen und sein bürgerlicher Subjekt/Status aberkannt wurden. Durch die Verschiebung der antisemitischen Differenz in die sexuelle kann er antisemitische Angriffe auf sich und seine Wissenschaft abwehren – allerdings zum Preis von Sexismus und Kolonialrassismus in seiner Theoriebildung. Aus einer homosozialen Differenz von Nicht/Beschneidung zwischen weißen und ‚angeschwärzten’ Männern in ihrem Streben nach ‚Thron und Altar’, wird bei Freud die heterosoziale sexuelle Differenz, die alle Menschen gleichermaßen konstituieren soll. In diesem Vorgang sieht Boyarin das Unbewusste der Psychoanalyse. Die Leerstelle ‚Phallus’ (Kastration) als Ort der Übertragung ist damit nicht nur Ort der Erkenntnisgewinnung in der Psychoanalyse sondern auch ihrer Amnesien.
Das Un/heimliche … doppelte Bewusstsein Für Boyarin (1998) ist folgende Stelle bei Freud das Schlüsselmoment dafür, dass es neben Phallus und Kastration einen dritten Begriff bei Freud gibt. In „Das Unheimliche“ (1919) (GW, Studienausgabe, Bd. IV) beschreibt Freud den Horror als er zufällig in den Spiegel blickt und imaginiert, jemand anderen zu sehen: „Ich weiß noch, dass mir die Erscheinung gründlich missfallen hatte … Ob aber das Missfallen dabei nicht doch ein Rest jener archaischen Reaktion war, die den Doppelgänger als unheimlich empfindet?“ (S. 270, FN 1). Die Erfahrung, die Freud beim Blick in den Spiegel macht, ist, was der afroamerikanische Philosoph W.E.B. Du Bois als doppeltes Bewusstsein beschreibt. Du Bois hatte in seiner Auseinandersetzung mit Hegels „Phänomenologie des Geistes“ festgestellt, dass er als Schwarzer in einer unmöglichen Subjektposition gefangen genommen wird: „Um sich als Selbst erkennen zu können, muss er sich aus jener weißen Position betrachten, die ihm verweigert wird, die sich ihm mit Verachtung zuwendet, und von der er wie durch einen Schleier getrennt bleibt“ (Purtschert, S. 59). Zwei Seiten von Du Bois’ Existenz: Amerikaner und Schwarzer zu sein, „bleiben unvermittelt und unvermittelbar“ (ebda.). Das sich daraus ergebende doppelte Bewusstsein ist „this sense of always looking at one’s self through the eyes of others, of measuring one’s soul by the tape of a world that
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looks on in amused contempt and pity …“ (Du Bois zit. bei Purtschert, S. 59). Frantz Fanon greift den Begriff des doppelten Bewusstseins in seiner Untersuchung kolonisierter Subjektivität auf und schreibt in „Black Skin, White Masks“ (1967) dass „the ‚other within’“ (zit. bei Boyarin, 1998, S. 213) das gedoppelte Selbst des Kolonialismus sei. Fanons Lesart kolonisierter Subjektivität, glaubt Boyarin, sei bereits bei Freud angelegt. „Black Skin, White Masks“ stelle den wichtigsten Kommentar zu Freuds angefangener, zum Greifen naher RassismusTheorie dar und Fanons Einsicht werfe damit ein neues Licht auf die Psychoanalyse als Instrument, die jüdische Geschichte zu interpretieren (ebda.). Freud bezeichnete diese innere Alterität einmal als den Staat innerhalb des Staates – eine abschätzige Formulierung für die Zwillings-Anderen des deutschen Staates: Frauen und Juden (ebda.). Anders ausgedrückt, sind Juden die Kolonisierten innerhalb des deutschen/europäischen Staates. Dieses doppelte Bewusstsein – nicht mehr ganz oder noch nicht zu ‚sein’, bzw. mit dem bereits erwähnten Homi Bhabha ausgedrückt: ‚not quite/not white’ – ist ein Symptom der Krise, in welchem sich emanzipierende/assimilierende Juden in Europa, genauso wie sich ‚modernisierende’ postkoloniale Subjekte befinden (ebda.). Die kolonisierte Subjektivität, die Fanon so brillant und schmerzhaft anatomisiert und ausagiert: ‚noch nicht weiß, nicht mehr ganz schwarz, ich war verdammt’ (Fanon zit. bei Boyarin, S. 217), versteht Boyarin analog zur Subjektivität der jüdischen Wiener zur Jahrhundertwende. Der Jude, den Freud im Spiegel ausblendet, verschwindet auch aus seiner berühmten Analyse des kleinen (jüdischen) Hans ebenso wie in seinen Kommentaren zu Otto Weininger. Letzterer – ein Jude, der sich hatte taufen lassen – veröffentlichte seinerzeit ein viel beachtetes Buch: „Geschlecht und Charakter“, das gleichermaßen sexistisch wie antisemitisch war und nicht lange danach beging er Selbstmord. Die erste Erwähnung des ‚Kastrationskomplexes’, die sich in Freuds Texten überhaupt finden lässt, ist die Stelle, an der er erklärt, dass die Mutter dem kleinen Hans mit Kastration drohte, sollte er nicht aufhören, mit seinem ‚Wiwimacher’ zu spielen (zu masturbieren) („Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben [‚Der kleine Hans’]“, 1909, GW, Studienausgabe, Bd. VIII). Das allerdings scheint Hans wenig zu beeindrucken. Freud will es mit dem Phänomen der Nachträglichkeit erklärt wissen, dass die Symptome, die Freud mit der Kastrationsangst assoziiert, mehr als ein Jahr nach diesem Ereignis beim kleinen Hans auftreten und zwar als sein Vater ihn über die Geschlechterdifferenz aufklärt (dass seine Mutter keinen Penis habe und seiner Schwester auch keiner wachsen würde).17 Hans mobilisiert gemäß Freud die Angst, welche die Drohung durch seine Mutter initiierte, als verschobenes Wissen um die sexuelle (/Geschlechter-) Differenz. In abgeschwächter Form, so gibt Boyarin Freud wieder, habe die ‚Aus/Sicht’ auf die Genitalien der Mutter den Kastrationskomplex ausgelöst (Boyarin, S. 213-214). Genau an der Stelle des Textes, wo Freud mit dem verschobenen Wissen um die sexuelle Differenz argumentiert, bietet er allerdings noch eine ganz andere Ätiologie für den Auslöser der Kastrationsangst an, eine Art verschobener Anfang des Wissens (Boyarin). Der kleine Junge höre bereits in der Kinderstube, dass „dem Juden etwas am Penis … abge-
17 Die Erwähnung dessen, was Frauen ‚haben’ und Männer nicht, bleibt eine ‚Leerstelle’ in der ‚Aufklärung’ des kleinen Hans bzw. von Freuds Darstellung der sexuellen Differenz, etwa Gebärmutter und Brüste, die auch für alle Kinder sichtbare Zeichen (stillende oder schwangere Frauen) der ‚reproduktiven Sexualität’ sind, um die es Freud mit der ‚genitalen Phase’ geht.
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schnitten werde … und dies gibt ihm das Recht, den Juden zu verachten. Auch die Überhebung über das Weib hat keine stärkere unbewusste Wurzel“ (GW, Studienausgabe, Bd. VIII, S. 36). Anstatt jedoch seinem eigenen unbewussten „Gedankengang“ zu folgen und zu postulieren, dass der Antisemitismus der eigentliche Grund für seine Theorie der Kastrationsdrohung darstellt, formuliert er durch die Analyse des kleinen Hans: „Der Kastrationskomplex ist die tiefste unbewusste Wurzel des Antisemitismus …“ (ebd.). Das Wissen über die ‚Kastriertheit’ der Juden, das bereits in der Kinderstube vermittelt wird, also Teil des kulturellen Symbolischen in Freuds Wien ist, interagiere mit dem Kastrationskomplex aller Knaben, so argumentiert Freud. Das nennt er die tiefste Wurzel des Antisemitismus und fügt gleich im nächsten Satz mit derselben Formulierung hinzu, dass die Unterlegenheit von Frauen dieselbe Wurzel habe. Der Besitz eines Penis löst das Gefühl der Überlegenheit über Frauen aus und die Abneigung gegen Juden resultiert aus ihrem Mangel an einem Penis, wäre die eine Interpretation der gemeinsamen Wurzel von Antisemitismus und Überlegenheitsgefühl über Frauen. Wenn Juden beschnitten wurden, so können alle Knaben annehmen, waren sie einmal Männer und sind nun Frauen und damit verächtlich. Das ist die reale Kastrationsdrohung – die tatsächliche Entmannung. Da die Feminisierung von Juden eine lange Tradition in Europa hat, fügt sich die Vorstellung ihrer realen Kastration leicht ins kulturelle Symbolische der Knaben ein (Boyarin, S. 214-215). Männliche Juden wurden in zentraleuropäischen kulturellen Imaginationen aufgrund ihrer Beschneidung als Männer ohne Penis identifiziert, also als Frauen. Die Klitoris wurde in Wien zu Freuds Zeit „Jude“ genannt, weibliche Masturbation „mit dem Juden spielen“ (Boyarin im Rekurs auf Gilman und Freud, S. 224). Schwarze Männer wurden ebenfalls feminisiert, zugleich jedoch hypervirilisiert. Wie Fanon immer wieder fordert, „Der Neger ist das Genital“. Dem rassisch Anderen ermangelt es am Phallus; ‚er’ ist diesbezüglich immer schon kastriert. In dieser Hinsicht bedeutet Männlichkeit den Besitz des Phallus, während die Kondition der ‚Frau’ ist, der Phallus zu sein. Der schwarze Mann ist der Penis; der männliche Jude ist eine Klitoris. Keiner hat den Phallus (Boyarin S. 223-224). Der Phallus ist immer weiß. Wie Boyarin verdeutlicht, zitiert Freud Weiningers These über dieselbe Beziehung von Frauen und Juden zum Kastrationskomplex nicht, um dessen Antisemitismus oder Sexismus aufzuzeigen, sondern weil er im Grunde Weiningers These zustimmt. Kastration ruft die gefürchtete Beschneidung in Erinnerung – gefürchtet, weil sie den Mann in einen Juden verwandelt (S. 211-212). Das ist, was Freud heimsucht, was er verheimlicht und auch beim kleinen Hans und Weininger als Leerstelle hinterlässt: ihr Jüdischsein. Wenn wir die zwei ‚unheimlichen’ Momente zusammen lesen: Beschneidung und Freuds flüchtiger Blick in den Spiegel, können wir daraus schließen, dass Freud mit seinem Blick in den Spiegel dasselbe unheimliche Gefühl hatte, das – wie Freud darlegt – ein Antisemit erfährt, der einen beschnittenen Juden ansieht (Boyarin S. 212). Das Zeichen für rassische und sexuelle Differenz ist, wie Boyarin zeigt, bei Freud fast identisch. Der beschnittene Penis ähnelt der Kastration einer Frau und ‚Rasse’ und Gender konvergieren in der Subjektivität des christlichen, heterosexuellen, maskulinen Subjekts – der strafende Besitzer des Phallus (Boyarin, S. 216). Freud reproduziert genauso wie Weininger den Antisemitismus durch seine Identifikation mit den nichtjüdischen Antisemiten der Dominanzkultur. Während Gilman Freud so versteht, dass er auf den Antisemitismus reagiert indem er die rassi-
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schen Differenzen auf eine absolute, universale Differenz zwischen Männern und Frauen verschiebt und dabei ‚Rasse’ als Gender recodiert, argumentiert Boyarin, dass Freud die Charakterisierung jüdischer Männlichkeit als anders vergeschlechtlicht – als tatsächlich weiblich – akzeptiert und diese Differenz zu überwinden sucht (Boyarin, S. 218). In Freuds Anmerkungen zum kleinen Hans finden wir nicht nur eine misogyne und antisemitische Anatomie – beide als Produkte des Unbewussten interpretiert – sondern auch eine als unausweichlich konstruierte jüdische und (post)koloniale Selbst-Verachtung (Boyarin, S. 217). Boyarins bedeutsame Erkenntnis in seiner Untersuchung der Bedeutung des Phallus bei Freud und Fanon ist, dass Freud statt den Antisemitismus zu pathologisieren, ihn durch den Kastrationskomplex naturalisierte (S. 216) und mit ihm die Frauenfeindlichkeit („die Abwehr der Weiblichkeit ist der Grundstein der Psychoanalyse“ heißt es in Freuds „Die endliche und die unendliche Analyse“ (1937, GW, Studienausgabe, Ergänzungsband). Die Verschiebung des ‚leeren Signifikanten’ von der rassischen auf die sexuelle Differenz ist bereits Effekt des Rassismus in Form von Antisemitismus in der Psychoanalyse, ja sie ist der Grundstein der Psychoanalyse.
Die Leerstelle als Ort der Übertragung Zentrales Instrument der Psychoanalyse als Methode für Therapie und Forschung ist die Analyse des Unbewussten. ForscherInnen oder TherapeutInnen gewinnen Erkenntnis, indem sie ihre eigene Subjektivität zum Einsatz bringen und Inhalte unbewusster Übertragungen und Gegenübertragungen zu Bewusstsein führen. Als das Jüdische Museum in Berlin im Jahr 2005 zum Anlass von Sigmund Freuds 150stem Geburtstag eine Ausstellung zu seinem Lebenswerk machte, thematisierten die KuratorInnen die ‚Leerstelle’ als Ort, in den hinein übertragen wird, in einer bemerkenswerten Weise. Nachdem die AusstellungsbesucherInnen im ersten Raum anhand einer riesigen Geburtstagstorte die einzelnen Lebensstationen Freuds betrachten konnten und ihnen in Form von verschiedenen Installationen von Freuds berühmtesten Fällen seine wesentlichen Theorien vorgestellt wurden, beschreiten sie den so genannten ‚leeren Raum’ des Jüdischen Museums. Es ist ein schmaler, langer, dunkler, leerer Raum, in dem – wenn es keine Sonderausstellung wie die über Freud gibt – auf einer Stelle Totenmasken aufgehäuft liegen – metallene Räder, welche die Gesichter der Ermordeten des Holocaust symbolisieren. Die BesucherInnen waren zuvor an einer Wand entlang geführt worden, auf der Fotos von Berliner Psychotherapie-Praxen zu sehen waren. Auf einer Seite dieser Wand waren die Perspektiven der TherapeutInnen auf ihre Couch und auf der ‚anderen Seite’ der Wand im ‚leeren Raum’ – sind dieselben Therapiezimmer aus der Perspektive der KlientInnen, die auf der Couch liegen, zu sehen. An der gegenüberliegenden Wand des ‚leeren Raumes’ ist ein Foto von Sigmund Freuds Therapeuten-Stuhl zu sehen. Auf einer großen, leeren Betonwand hängt er als kleines Foto, schwach von einem Lichtstrahl beleuchtet – der leere Stuhl Sigmund Freuds.
390 Abbildung:
Martina Tißberger Die Leerstelle als Ort der Übertragung
Wie die Ausstellungsführerin erzählte, symbolisiert der leere Stuhl den Analytiker in der Therapie als Leerstelle, in die hinein die PatientInnen übertragen. Mit dem Foto des leeren Stuhls von Freud in diesem Raum wollten die KuratorInnen auch zum Ausdruck bringen, dass der Nationalsozialismus mit dem Holocaust eine Leerstelle in der Psychoanalyse hinterlassen hat, dass die Wissenschaft in Deutschland allgemein durch die Vertreibung und Ermordung der Juden einen großen Verlust erlitten hat. Wie also hängen Antisemitismus, die Leerstelle (in) der Psychoanalyse und ‚Verlust’ zusammen? Die Leerstelle, die der Nationalsozialismus durch seinen Antisemitismus in die Geschichte, das Leben von Millionen von Menschen, in die Wissenschaften und sämtliche Bereiche des Lebens gerissen hat, ist eine Geschichte unvorstellbarer Gewalt, gerade weil sie so real ist. Die Leerstelle in der (klinischen) Psychoanalyse des deutschsprachigen Raumes, die durch intendierten oder kollaborierenden Ausschluss der jüdischen Mitglieder aus den psychoanalytischen Vereinigungen während des NS durch ihre ‚arischen’ KollegInnen produziert wurde, ist aufgrund kaum nennenswerter Bearbeitung durch die deutschen PsychoanalytikerInnen selbst eine Leerstelle geblieben. Die Leerstelle der Psychoanalyse, welche Jacques Lacan im Bereich des Realen verortet, hat – so behaupte ich – mit dem Vorgängigen zu tun. Das Verständnis der Psychodynamik, das die Psychoanalyse durch ihren Begriff des Unbewussten wie keine andere psychologische Theorie ausgearbeitet hat, ist also für das Verständnis von Machtverhältnissen durch Differenzkonstruktionen unentbehrlich. Die Psychoanalyse als Erkenntnistheorie und als Methode muss allerdings selbst einer Dekonstruktion unterzogen werden, ehe sie auf den Gegenstand dieser Differenzkonstruktionen angewendet wird (Butler, 1991, 1997). Celia Brickman liest deshalb die Texte Freuds als
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‚Geschichte der Gegenwart’ in Foucault’schem Sinn, um die bisher unberücksichtigten ‚Wurzeln’ dieser Texte zu untersuchen (S. 7). Die Psychoanalyse ist allerdings nicht die einzige psychologische Theorie und Methode, in welcher etwa evolutionistische Rekapitulationsthesen von Lamarck und Haeckel reproduziert werden und daraus abgeleitet Entwicklungstheorien, in denen Progress und Regression rassisch und geschlechtlich codiert sind. Die Psychoanalyse Freuds mit ihrem umfangreichen Textkörper hat sich zwar bis heute nicht in der akademischen Disziplin der Psychologie institutionalisieren können, sie ist dafür jenseits der Psychologie (und als Therapeutik natürlich auch in der angewandten Psychologie) weit verbreitet. In den letzten Jahren wird sie gar von naturwissenschaftlich forschenden Psychologien neu entdeckt (vgl. Kandel, 2008; Leuzinger-Bohleber, 2007). Mein Vorschlag wäre, nicht nur die Psychoanalyse, sondern auch andere psychologische Theorien auf ihre rassistischen und sexistischen Momente hin zu untersuchen. Nicht zuletzt Bereiche wie die Evolutionspsychologie, Genetik, Neurowissenschaft oder andere im Trend liegende Forschungsfelder, in denen die Psychologie engagiert ist, laufen Gefahr, durch die in ihnen reproduzierte Rekapitulationshypotese und andere evolutionistische Annahmen, auch die Kolonisierung der Subjekte zu reproduzieren.
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21. Überdisziplinäre Reflexion Die Beteiligung von Frauen an der Entwicklung der wissenschaftlichen Psychologie – ein historischer Rückblick Elfriede Billmann-Mahecha „Das gelehrte Frauenzimmer wird immer eine achtbare, aber nicht sehr verbreitete Varietät der Menschenspezies bilden, die man im allgemeinen nicht heiratet und die darum keine Aussicht hat, die übrigen Varietäten zu verdrängen.“ (Carl Stumpf 1887)
Einleitung Carl Stumpf war nicht irgendwer, sondern ein führender Intellektueller und namhafter Wegbereiter unseres Faches, der das Psychologische Institut in Berlin gegründet hat und Lehrer der Gestaltpsychologen Köhler, Koffka und Wertheimer war. Mit dem dieser Arbeit vorangestellten Zitat aus einer Umfrage von Arthur Kirchhoff zum Frauenstudium (in Kirchhoff 1887, zit. nach Lind 2004: 18 f.) lag er auf der Höhe der Zeit und argumentierte biologistisch – unverkennlich unter dem Eindruck der damals neuen Darwinschen Lehre. Als guter Empiriker schrieb Stumpf aber auch: „Die akademische Frauenfrage ist im Stadium des Experiments. Da heißt es weniger reden als aufmerken und abwarten“ (ebd.). Wenn er hätte ahnen können, dass heute mehr als die Hälfte der Universitätsabsolventen Frauen sind und speziell in der Psychologie über 60% der Dissertationen von Frauen geschrieben werden, hätte er – als guter Empiriker – seine eingangs zitierte Prognose wohl verschämt zurückgenommen. Im diesem Beitrag geht es um Frauen als Akteurinnen der wissenschaftlichen Psychologie. Frauen waren – mehr oder weniger – immer beteiligt, seit sich die Psychologie nach und nach als eigenständige Wissenschaft zu etablieren begann. Bereits in der ersten psychologischen Fachzeitschrift „Magazin der Erfahrungsseelenkunde“, von 1783-1793 von Karl Philipp Moritz herausgegeben, findet sich der eine oder andere Beitrag einer „Madam“. Im Folgenden wird zunächst kurz auf die aktuelle Lage von Frauen in den Wissenschaften in Deutschland eingegangen, bevor auf die Beteiligung von Frauen seit der Etablierung der Psychologie als eigenständige Disziplin zurückgeblickt wird. Schließlich wird in exemplarischer Weise noch auf den inhaltlichen Beitrag von Frauen zur Entwicklung der wissenschaftlichen Psychologie aufmerksam gemacht.1
Einige Abschnitte der folgenden Ausführungen sind einem früheren Aufsatz der Autorin entnommen (Billmann-Mahecha 2004), wurden aber überarbeitet und aktualisiert. Für die Unterstützung bei den Recherchen danke ich Anna-Lena Rohde.
1
G. Steins (Hrsg.), Handbuch Psychologie und Geschlechterforschung DOI 10.1007/978-3-531-92180-8_21, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010
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Zur aktuellen Lage von Frauen in den Wissenschaften in Deutschland Frauen haben in Europa heute uneingeschränkt Zugang zu den Universitäten.2 In Deutschland nahmen 2002 erstmals mehr Frauen als Männer ein Studium auf, 2001 erreichten erstmals mehr Frauen als Männer einen universitären Hochschulabschluss; ihr Anteil an Promotionen nähert sich der 50%-Marke (2007: 42,2%). Damit steigt der Frauenanteil auf allen Qualifikationsstufen kontinuierlich an. Allerdings scheint es fraglich, ob mit diesem Trend mittelfristig auch die Unterrepräsentation von Frauen in der Professorenschaft (2007: 16,2%) ausgeglichen wird.3 Der mühsame Aufstieg von Frauen in den Wissenschaften ist mehrfach beschrieben worden; ebenso wurden mögliche Gründe für die Unterrepräsentation von Frauen in höheren Positionen universitärer und außeruniversitärer Forschungseinrichtungen sowie in anderen akademischen Berufen analysiert, und zwar auf der Basis von längs- und querschnittlichen Erhebungen mit qualitativen und quantitativen Methoden (vgl. z.B. Abele/ Hoff/Hohner 2003, Amodeo 2003, Gildemeister/Wetterer 2007, Krimmer/Stallmann/Behr/ Zimmer 2003, Lind 2004, Olos/Hoff 2006, von Stebut 2003) sowie sozial- und institutionsgeschichlicher Untersuchungen (z.B. Wobbe 2002). Standen zu Beginn des Frauenstudiums noch fundamentale gesellschaftliche Restriktionen und gesetzliche Barrieren im Vordergrund (vgl. z.B. Boedeker 1939), so werden heute Probleme der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und weitere, subtiler wirkende Hindernisse individueller und struktureller Art untersucht (für einen Überblick vgl. Lind 2004). Auf individueller Ebene spielt zum Beispiel die geringere beruflich Selbstwirksamkeitserwartung bei Frauen bei mindestens gleich hoher inhaltlicher Motivation und Leistung eine wichtige Rolle, auf struktureller Ebene unterschwellige Ausgrenzungen aus sozialen Netzwerken oder vom Zugang zu Forschungsressourcen. Männern scheint es frühzeitiger und leichter zu gelingen, sich sozial in das akademische Feld zu integrieren. Eine bedeutsame Differenz zwischen Männern und Frauen besteht auch in der vertraglichen Position während der Qualifikationsphase, die für Frauen prekärer ist. Promotions- und Habilitationsstipendien scheinen vor diesem Hintergrund zwar ein geeignetes Förderinstrument zu sein, aber die wenigen hierzu vorliegenden empirischen Befunde erlauben nur ein „begrenzt positives Resümee“ (ebd.: 82). Insgesamt zeigt die Forschung in diesem Bereich, dass monokausale Erklärungsmodelle zu kurz greifen. Vielmehr ist von einer Reihe kumulativ wirkender Faktoren auszugehen. So ist auch die These, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf die größte Hürde für Frauen im akademischen Feld darstellt, in dieser Form nicht haltbar. Zwar stellen Kinder durchaus ein „Karrierehindernis“ in akademischen Berufen dar (vgl. z.B. Abele et al. 2003, Abele-Brehm/Stief 2004), aber Elternschaft ist nach den vorliegenden Befunden nicht der einzige und für eine Universitätslaufbahn möglicherweise auch nicht der stärkste Hemmfaktor: Krimmer et al. (2003) fanden auf der Basis einer repräsentativen Befragung von 619 Die Entwicklung des Frauenstudiums ist vielfach dokumentiert und analysiert worden. Eine ausführliche Zeittafel von 1707-1931 findet sich in Boedeker (1939: XXII-XLVI), für die Zeit zwischen den Weltkriegen vgl. zudem Lohschelder (1994), für die NS-Zeit Scherb (2002: 173-240) sowie die jeweils dort zitierte Literatur. 3 Zahlen des Statistischen Bundesamtes (Destatis); für 2008/2009 liegen noch keine amtlichen Zahlen vor. 2
21. Überdisziplinäre Reflexion
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Professorinnen und 537 Professoren an deutschen Universitäten, dass die Hälfte aller Professorinnen kinderlos ist (bei den Professoren nur 20%). Allerdings war die deutliche zeitliche Verzögerung der Qualifikationsphase zwischen Dissertation und Habilitation bei den befragten Frauen4 nicht allein auf diejenigen zurückzuführen, die Kinder haben. Die Dauer dieser Phase erwies sich bei Männern und Frauen als statistisch unabhängig von der Zahl der Kinder. So hatten sogar 48% der Frauen, die weniger als fünf Jahre für ihre Habilitation benötigten, ein oder mehrere Kinder. Mit der Habilitation ist üblicherweise die Qualifikationsphase für eine Universitätslaufbahn erst einmal abgeschlossen. Die nächste Hürde stellt die Erlangung einer Professur dar. Abbildung.1 zeigt die absoluten Zahlen der Habilitationen und Ernennungen auf eine Professur an eine Universität über einen Zeitraum von 10 Jahren für Männer und Frauen. Bei den Frauen zeigt sich von 1997 bis 2006 eine Zunahme an Habilitationen sowohl in der absoluten Zahl als auch im Anteil an der Gesamtzahl der Habilitationen von 15,7% auf 22%. Demgegenüber blieb in diesem Zeitraum die Zahl der Ernennungen von Frauen nahezu konstant, während sie bei Männern tendenziell abnahm. Stellt man die Durchschnittswerte über den Zehnjahreszeitraum einander gegenüber, so kann man trotz einiger Unsicherheiten (Zeit zwischen Habilitation und Ernennung, Annahme zweiter Rufe, in jüngerer Zeit Ernennung zum/zur Juniorprofessor/in ohne Habilitation) die Chancen für Habilitierte ungefähr abschätzen. Sie betrug – im Durchschnitt aller Fächer – in diesem Zeitraum für Männer etwa 2 zu 1 und war für Frauen etwas geringer, nämlich 2,5 zu 1. Die Diskussion um die Probleme, die Frauen haben, in den Wissenschaften Fuß zu fassen, lässt allerdings leicht übersehen, welchen Beitrag Frauen zum Fortgang einer Wissenschaft bzw. eines Teilgebietes tatsächlich leisten (vgl. Hagengruber 2003). Über den je individuellen Beitrag von Frauen erfährt man vor allem etwas in werk-biographischen Zusammenstellungen (für die Psychologie z.B. Lindzey 1980, 1989; O’Connell/Russo 1983, 1988, 1990; Sheehy/Chapman/Conroy 1997, Volkmann-Raue/Lück 2002), in psychologiegeschichtlichen Monographien zu einzelnen Frauen (z.B. Daub 1996, Fries 1996, Salber 1985 und viele andere) sowie in Selbstdarstellungen (z.B. Jahoda 1997, Pongratz/Traxel/Wehner 1972). Weiterführende problemgeschichtliche Arbeiten, die die Begriffs-, Theorie- und Methodenentwicklung eines Fachgebietes unter besonderer Berücksichtigung des Beitrages von Frauen analysieren, sind jedoch nach wie vor ein Forschungsdesiderat.
4 Nach Krimmer et al. (2003) waren die befragten Professorinnen bei der Promotion zwar geringfügig jünger als ihre Kollegen, aber nur 16,2% habilitierten sich in einem Alter von unter 35 Jahren (bei den Männern 27,5%). 38,5% der Frauen waren bei der Habilitation 40 Jahre oder älter (bei den Männern 19,9%).
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Elfriede Billmann-Mahecha
Abbildung 1:
Habilitationen und Ernennungen auf Universitätsprofessuren von Männern und Frauen in den letzten zehn Jahren (Zahlen nach Destatis und BLK, 2007, eigene Grafik).
2000 1800 1600 1400 1200 1000 800 600 400 200 0 1997
1998
Hablitationen Männer
1999
2000
2001
Ernennungen (Univ.)
2002
2003
Habilitationen Frauen
2004
2005
2006
Ernennungen (Univ.)
Frauen in der wissenschaftlichen Psychologie seit Beginn des 20. Jahrhunderts Die deutsche Psychologie erlebte im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, insbesondere zwischen den beiden Weltkriegen, eine Blütezeit mit einer Reihe innovativer theoretischer und methodischer Ansätze, die auch heute noch – oder wieder – von Bedeutung sind. Sie konnte sich in jener Zeit trotz aller Richtungskämpfe im Inneren als eigene Disziplin an den Universitäten etablieren und einen respektablen Beitrag zur allgemeinen Wissenschaftsentwicklung leisten. 1929 betrug in Deutschland der Anteil psychologischer Dissertationen an der Gesamtzahl der Dissertationen 13,5% – ein Anteil, der später nie wieder erreicht wurde (Treuheit 1973: 190; 2006 lag er nach den Daten von Destatis bei 1,7%). An dieser lebendigen Entwicklung des Faches Anfang des 20. Jahrhunderts waren mehr Wissenschaftlerinnen beteiligt als gemeinhin vermutet wird. Fragt man im Kreis von Kolleginnen und Kollegen, die nicht psychologiegeschichtlich arbeiten, wie viele Frauen vermutlich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Psychologie promoviert haben, so erhält man Schätzungen, die – in absoluten Zahlen – zwischen 20 und maximal 50 liegen. Tatsächlich konnten wir im Zuge der Auswertung verschiedener Quellen rund 350 Frauen namentlich auflisten, die vermutlich bis 1950 eine deutschsprachi-
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ge, psychologische Dissertation vorgelegt haben.5 Als Quellen dienten vor allem Boedeker (1939) und Geuter (1986, 1987), der sein verdienstvolles Verzeichnis psychologischer Dissertationen (1987) leider mit abgekürzten Vornamen publizierte, werk-biographische Zusammenstellungen und Recherchen in diversen Datenbanken. Geuter (1987) verzeichnet bis zum Jahr 1950 insgesamt 1.943 psychologische Dissertationen. Wenn davon etwa 350 von Frauen geschrieben wurden, so entspräche das 18%. Dabei gibt es große Schwankungen zwischen den einzelnen Psychologischen Instituten. So ermittelten beispielsweise Brack, Reinhardt, Dahme und Hoffmann (1997), dass der Frauenanteil bei psychologischen Promotionen an der Universität Hamburg zwischen 1919, dem Gründungsjahr, und 1988 unverändert bei 35% lag. Auch wenn die genannten Zahlen mit einer gewissen Unsicherheit behaftet sind, dürfte deutlich geworden sein, dass allein der quantitative Anteil von Frauen in der Psychologie zumindest für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts unterschätzt wird. Damit wird vermutlich aber auch der inhaltliche Beitrag von Frauen zur Entwicklung der wissenschaftlichen Psychologie unterschätzt, wenn man berücksichtigt, dass zumindest ein Teil der Dissertationen auch für die Werkentwicklung der betreuenden Hochschullehrer dienlich waren. Ein wichtiger Hinweis auf die Integration von Frauen in die wissenschaftliche Psychologie ergibt sich aus dem Umfang ihrer Vortragsaktivitäten auf den Kongressen der Gesellschaft für experimentelle Psychologie bzw. – seit der Umbenennung im Jahre 1929 – der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. Nach der Analyse von Sprung und Sprung (1996: 210 ff.) stieg die Anzahl der von Frauen gehaltenen Vorträge in der Zeit zwischen den Weltkriegen auf 18% im Jahr 1931 an. Mit Beginn der NS-Zeit sank dieser Anteil rapide, was nur als Hinausdrängen der Frauen aus der Wissenschaft interpretiert werden kann. 1936 und 1938 war keine Frau mehr mit einem eigenen Vortrag vertreten. In der Nachkriegszeit stieg der Anteil an weiblichen Referenten nur allmählich wieder an und erreichte erst in den 1970er Jahren annähernd den Stand von 1931. Die Habilitation von Frauen wurde in Deutschland vom Grundsatz her erstmals Anfang 1920 durch das Preußische Ministerium für Wissenschaft und Kunst ermöglicht, und zwar per Erlass, der gleichzeitig eine Antwort auf eine Eingabe von Edith Stein darstellte: „Der in Ihrer Eingabe vom 12. Dezember 1919 vertretenen Auffassung, daß in der Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht kein Hindernis gegen die Habilitation erblickt werden darf, trete ich bei. [...]“ (zit. nach Boedeker und Meyer-Plath 1974: 5). Tragischerweise konnte sich Edith Stein, die 1916 bei Husserl promovierte und im Grenzgebiet zwischen Philosophie und Psychologie gearbeitet hat, schließlich doch nicht habilitieren. Sie konvertierte 1921 zum Katholizismus, war als Dozentin an Lehrerinnen-Seminaren tätig, emigrierte 1938 als Karmelitin nach Holland, wurde deportiert und 1942 im KZ Auschwitz ermordet. Die erste Frau, die sich im Fach Psychologie habilitieren konnte, war vermutlich Anneliese Argelander 1926 in Jena mit der Schrift „Über den sprachlichen Ausdruck des Schulkindes in der freien Erzählung“ (vgl. ebd.: 331; zum Werdegang vgl. Geuter 1986: 140 f.). Es folgten bis zum Zweiten Weltkrieg Martha Moers (1928), Maria Schorn (1929), Elisabeth
5 Da die Daten nicht für alle Frauen hinreichend validiert werden konnten, ist die angegebene Zahl unter Vorbehalt zu sehen. Zu den Problemen der Datenlage bis zum Jahr 1967 und der Einordnung einer Dissertation als „psychologisch“ vgl. Treuheit (1973: 180 ff.).
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Schliebe-Lippert (1932) und Maria Dorer (1933). Das sind ausgesprochen wenige im Vergleich zu den bis dahin in Psychologie promovierten Frauen. Selbst wenn man einen gewissen Zeitraum zwischen Promotion und Habilitation in Rechnung stellt, sieht das Verhältnis nicht wesentlich besser aus: Boedeker und Meyer-Plath (1974) führen für die Zeit bis 1970 (!) insgesamt nur 23 Frauen auf, die sich in Deutschland im Fach Psychologie habilitiert haben (einschließlich DDR). Selbstverständlich beinhaltet die Liste promovierter Frauen aber etliche, die nach ihrer Promotion nicht im engeren Sinne weiter wissenschaftlich, sondern z.B. psychotherapeutisch gearbeitet haben, weil bis zur Einführung der Diplomprüfungsordnung im Jahre 1941 das Studium der Psychologie nur mit der Promotion abgeschlossen werden konnte. Ebenso sind ausländische Frauen enthalten, die in Deutschland promoviert und danach in ihren Heimatländern eine wissenschaftliche Karriere gemacht haben. Hinzu kommt eine Reihe von Frauen, die in der NS-Zeit emigrieren mussten (vgl. Geuter 1986), wie z.B. Anna Berliner, geb. Meyer (1888-1977), die u. a. bei Wilhelm Wundt studiert und 1914 in Leipzig promoviert hat (vgl. Gundlach 1993). Sie war eine der ersten Psychologinnen, die – nach ihrer Promotion – kulturpsychologische Studien durchführte (in Japan). Später wurde sie eine wichtige Wahrnehmungspsychologin in den USA, deren Werk mit mehreren Preisen ausgezeichnet wurde. Den überwiegenden Teil ihres Vermögens vermachte sie – trotz der Vertreibung in der NS-Zeit – der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät in Göttingen (Berliner-Ungewitter-Stiftung: Stipendien für hochqualifizierte jüngere Wissenschaftler). Die erste Hochschullehrerin im Fach Psychologie war vermutlich Charlotte Bühler. Sie habilitierte sich 1920 an der TH Dresden bei dem Kunst- und Literaturwissenschaftler Oskar Walzel mit dem Thema „Entdeckung und Erfindung in Literatur und Kunst“ und wurde wenige Wochen nach der Verleihung der Venia Legendi zur Privatdozentin für Ästhetik und Pädagogische Psychologie ernannt (Bühring 2002: 186). Drei Jahre später folgte sie ihrem Mann Karl Bühler nach Wien, der dort seit 1922 lehrte. Nach ihrer Umhabilitierung, die 1923 erfolgte (ebd.: 187), konnte sie dort ebenfalls lehren; 1929 wurde sie schließlich zur außerordentlichen Professorin ernannt (ebd.: 189), wenn auch ohne Gehalt (Bühler 1972: 27). Heute liegt der Frauenanteil bei den Studienabschlüssen im Fach Psychologie europaweit bei rund 80% (Olos und Hoff 2006). Bei den psychologischen Promotionen ist in Deutschland ein Frauenanteil von über 60% zu verzeichnen und bei den Habilitationen von rund 40%. Der Anteil der Frauen an den Psychologie-Professuren beträgt rund 25% (Zahlen für 2007 nach Destatis). Die Zahlen von Absolventen und Promovenden lassen vermuten, dass die Psychologie im Vergleich zu den 1920er/1930er Jahren heute ein „Frauenberuf“ geworden ist. Allerdings zeigen die differenzierten Analysen von Olos & Hoff (2006), dass europaweit die abgesicherten und höheren Positionen nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in praktischen Berufsfeldern nach wie vor mehrheitlich von Männern besetzt werden. Der Frauenanteil auf den verschiedenen Qualifikationsstufen ist in der Psychologie durchweg deutlich höher als im Durchschnitt aller Wissenschaften. Allerdings zeigt sich eine auffallende Parallele im Absinken des Frauenanteils mit der Höhe der Qualifikationsstufe, d.h. in der Psychologie gelingt es bis heute nicht besser als in anderen Wissenschaften, auf höheren Qualifikationsstufen den Frauenanteil anzugleichen (vgl. Abb. 2).
21. Überdisziplinäre Reflexion Abbildung 2:
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Frauenanteile in Prozent auf verschiedenen Qualifikationsstufen im Querschnitt (2007) in den Wissenschaften allgemein und in der Psychologie (Daten von Destatis, eigene Grafik)
90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 Studienabschluss
Promotion
Gesamt
Habilitation
Professur
Psychologie
Der inhaltliche Beitrag von Frauen zur Entwicklung der wissenschaftlichen Psychologie Es gibt viele Formen der Wissenschaftsgeschichtsschreibung. Beispiele für die Psychologie wären die Formen der Problemgeschichte (Pongratz 1984), der Sozialgeschichte (Lück/Grünwald/Geuter/Miller/Rechtien 1987), der Professionsgeschichte (Geuter 1984) oder der „Great man/women“-Geschichtsschreibung (Lück/Miller/Sewz-Vosshenrich 2000), um nur einige Beispiele zu nennen. Um den inhaltlichen Beitrag von Frauen zur Entwicklung einer Wissenschaft hinreichend zu würdigen, bedürfte es einer geschlechtssensitiven Problemgeschichte, die aber für die Psychologie bis heute nicht vorliegt. Aus diesem Grunde bleibt zunächst nur, die Frauen über eine Zusammenstellung von „great women“ sichtbar zu machen (wie z.B. in Volkmann-Raue/Lück 2002 oder in Billmann-Mahecha 2004). In exemplarischer Weise soll das auch hier geschehen. Die kleine Auswahl an Psychologinnen, die im Folgenden kurz porträtiert werden, erinnert in exemplarischer Weise an Frauen, die in ganz verschiedenen Richtungen und Teilgebieten der Psychologie Bedeutendes geleistet haben.
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Für die Psychoanalyse sei Anna Freud (1895-1982) hervorgehoben. Anna Freud, zunächst Lehrerin, begann ihre Ausbildung 1918 mit einer Lehranalyse bei ihrem Vater Sigmund Freud und war von da an seine „rechte Hand“ in allen Belangen der Psychoanalyse. 1936 legte sie mit „Das Ich und die Abwehrmechanismen“ ihr wohl bedeutendstes eigenes Werk vor, das als unverzichtbar gilt, will man die Psychodynamik der Persönlichkeitsentwicklung richtig verstehen (vgl. Salber/Fitzek 2000). Nach ihrer Emigration nach London und dem Tod des Vaters gründete sie die Hampstead War Nurseries, die sie nach und nach ausbaute (vgl. Mühlleitner 2002). Anna Freud war Pionierin sowohl der Kinderanalyse als auch der Ich-Psychologie. Sie war aber nicht die einzige Frau, die Substanzielles zur Weiterentwicklung der Psychoanalyse in jener Zeit beitrug. Neben ihr sind mindestens noch Lou Andreas-Salomé, Melanie Klein, Helene Deutsch, Sabina Spielrein und Karen Horney zu erwähnen (vgl. Volkmann-Raue/Lück 2002). Als nächstes sei die Berliner Schule der Gestaltpsychologie erwähnt, die in viele Teilbereiche der Psychologie hineingewirkt hat. Auch Kurt Lewin gehörte, wenn auch am Rande, mit seinen innovativen Arbeiten zur Feldtheorie und mit seinen vielfältigen Methoden zu dieser Schule. Stellvertretend für seinen großen Schülerinnenkreis soll hier Bluma Zeigarnik (19001988), geboren im heutigen Litauen, erwähnt werden. Sie ist vor allem durch den sog. Zeigarnik-Effekt bekannt (unerledigte Handlungen werden besser erinnert; siehe Zeigarnik 1927). Zu diesem Schülerinnenkreis gehörten – um nur einige bekannte Namen zu nennen – auch Tamara Dembo, Anitra Karsten und Maria Ovsiankina. Von den 16 in der Zeit von 1925-1936 bei Lewin abgeschlossenen Dissertationen wurden allein elf von Frauen geschrieben (Wittmann 1998: 181 f.). Bluma Zeigarnik ging 1931 mit ihrem Mann nach Russland und arbeitete in Moskau bei Vygotskij, der – ebenso wie Lewin – mit mehr Frauen als andere prominente Psychologen seiner Zeit zusammenarbeitete. Nach Vygotskijs Tod übernahm Zeigarnik die Leitung der Psychoneurologischen Klinik des Instituts für experimentelle Medizin. 1976 erhielt sie einen Lehrstuhl für Pathopsychologie und kann als führende Vertreterin der Pathopsychologie in der ehemaligen Sowjetunion angesehen werden. Ihr Werk wurde bisher weder im deutschen noch im englischen Sprachraum angemessen erschlossen. Dabei könnte ihre Zusammenschau der westlichen Psychologie, die sie nie verleugnet hat, mit der theoretischen Orientierung an Vygotskij, Leont’ev und Lurija ebenso von Interesse sein wie ihre Integration der Allgemeinen und der Pathopsychologie. Zu Leben und Werk vgl. Lompscher (2002). Für den Bereich der ganz anders ausgerichteten, aber ebenso erfolgreichen Psychotechnik (heute würden wir dazu Arbeits- und Organisationspsychologie sagen) ist Franziska Baumgarten (1883-1970) hervorzuheben. Sie promovierte nach ihrem Studium in Krakau, Paris und Zürich 1911 in Philosophie. Von da an widmete sie sich zunächst in Lodz, später in Berlin der Arbeitspsychologie, machte sich mit zahlreichen Publikationen einen Namen in der Psychotechnik und engagierte sich in der Internationalen psychotechnischen Vereinigung, der Vorläuferorganisation der International Society of Applied Psychology. 1924 übersiedelte sie anlässlich ihrer Heirat mit dem Kinderpsychiater Moritz Tramer in die Schweiz. Dort konnte sie sich zwar 1929 mit ihrem wegweisenden Buch „Die Berufseignungsprüfungen. Theorie und Praxis“ an der Universität Bern habilitieren, erhielt aber erst 1954 eine Honorarprofessur. Zu Leben und Werk vgl. ausführlich Daub (1996).
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Für die Entwicklungspsychologie ist unbestritten Charlotte Bühler (1893-1974) als herausragende Persönlichkeit zu nennen. Innerhalb eines guten Jahrzehnts hat sie in Wien mit Hilfe reichhaltiger Forschungsmittel aus der Rockefeller Foundation, die sie selbst eingeworben hat, ein bedeutsames Zentrum kinder- und jugendpsychologischer Forschung aufgebaut. 1938 musste sie mit ihrer Familie emigrieren, zunächst nach Norwegen und dann in die USA. Mit ihrem 1933 erstmals publizierten Buch „Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem“ gilt sie als wichtige Wegbereiterin einer Entwicklungspsychologie der gesamten Lebensspanne. 1962 war sie Mitbegründerin der Association for Humanistic Psychology und von 1965-1966 deren Präsidentin. Zu Leben und Werk vgl. Bühler (1972) und Bühring (2002). Für die Kindheitsforschung, die eigentlich erst in den 1970er Jahren und vorwiegend in den Nachbardisziplinen entstanden ist, hat die Psychologie zwischen den beiden Weltkriegen eine wichtige Vordenkerin aufzuweisen: Martha Muchow (1892-1933), Schülerin von William Stern in Hamburg. Mit ihren auch in methodischer Hinsicht innovativen Untersuchungen zum Lebensraum des Großstadtkindes (1935 posthum von ihrem Bruder publiziert) legte sie bedeutsame und heute noch lesenswerte Feldstudien zur Kind-UmweltBeziehung vor. Bei deren theoretischer Aufbereitung stellte sie – in Orientierung an Sterns Konzept der personalen Welt und an v. Uexkülls Umwelt-Konzept – die subjektive Raumaneignung als Erlebnis- und Handlungsraum in den Mittelpunkt (vgl. Billmann-Mahecha 1994, Fries 1996, Miller 1993). Nachdem Martha Muchow 1933 gezwungen war, als verbleibende „Arierin“ das Hamburger Institut aufzulösen und an die Nazis zu übergeben, wählte sie den Freitod. Für die Pädagogische Psychologie sei an Elfriede Höhn (1915-2003) erinnert, von 1966-1970 Mitglied des Vorstandes der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. Sie war vor ihrem Psychologiestudium als Volksschullehrerin tätig, promovierte 1946 in Tübingen und absolvierte im gleichen Jahr das erste Staatsexamen für das höhere Lehramt für Englisch und Geschichte. In der Nachkriegszeit engagierte sie sich – obwohl in untergeordneter Position – erfolgreich für den Erhalt des Diplomstudiengangs in Tübingen. Ihre Habilitation aber wurde von dem bereits emeritierten Eduard Spranger, der eine Frau als Mitglied des Lehrkörpers als den Anfang allen Übels ansah, verhindert (Hofer 2003). Erst 1966 konnte sie sich mit ihren Untersuchungen zum „schlechten Schüler“ in Mannheim habilitieren – mit einer Schrift, die in acht Auflagen erschien (Höhn 1980). Im gleichen Jahr wurde sie ebendort zur Ordinaria für Erziehungswissenschaft und Pädagogische Psychologie berufen. Sie setzte sich vor allem für den Einfluss der Pädagogischen Psychologie in der Lehrerbildung ein. In der Pädagogik gilt Elfriede Höhn als Pionierin der empirischen Bildungsforschung (Tippelt 2003). Für die empirische Sozialforschung ist Marie Jahoda (1907-2001) zu nennen. Sie promovierte 1932 bei Charlotte Bühler und gilt mit ihrer an der privaten Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle (Wien) durchgeführten Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ (1933, zusammen mit Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel) als Pionierin der Sozialforschung. Diese Feldstudie war nicht nur inhaltlich die erste große Untersuchung zum Problem der Arbeitslosigkeit, sondern auch in methodischer Hinsicht innovativ (Wacker 1992), da teilnehmende Beobachtungen mit statistischen und biographischen Analysen verbunden und aus dem Material vier psychologische „Haltungstypen“ entwickelt wurden. Aufgrund ihres politischen Engagements wurde sie 1936 verhaftet und blieb neun Monate interniert, bevor
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sie des Landes verwiesen wurde. 1949 wurde sie an der New York University Professorin für Sozialpsychologie, von 1965 bis zur Emeritierung hatte sie an der University of Sussex eine Gründungsprofessur für Sozialpsychologie inne. Marie Jahoda erhielt viele Auszeichnungen, u.a. 1985 die Ehrendoktorwürde der Universität Bremen. Die Ruhr-Universität Bochum richtete 1994 eine Marie-Jahoda-Gastprofessur für Internationale Frauenforschung ein. Zu Leben und Werk vgl. Jahoda (1997) und Bauer (2002).
Ausblick Die wenigen hier namentlich genannten und nur ansatzweise gewürdigten Frauen haben aus der heutigen Sicht einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der wissenschaftlichen Psychologie geleistet. Dabei konnten viele Frauen, die es verdient hätten, nicht berücksichtigt werden. Die Auswahl bleibt – wie jede dieser Art – mit guten Argumenten anfechtbar und hat insofern vor allem exemplarischen Charakter. Der personenzentrierte Ansatz kann für weiterführende, problemgeschichtliche Analysen zwar immer nur ein Anfang sein, aber erst die explizite Hervorhebung von konkreten Frauen schafft vermutlich ein Bewusstsein für deren Beitrag zur Wissenschaftsentwicklung. Die Unterschiede der Lebenswege und Lebensformen von Frauen in der wissenschaftlichen Psychologie sind beträchtlich; es gibt auch im historischen Rückblick kein oberflächliches „Muster“ für eine erfolgreiche Karriere als Wissenschaftlerin. Wir finden Frauen ohne Kinder (z.B. Franziska Baumgarten) ebenso wie alleinerziehende Mütter in spärlichen Verhältnissen (z.B. Marie Jahoda) und Mütter mit umfangreicher Unterstützung durch Kindermädchen und Hausangestellte (z.B. Charlotte Bühler). Wir finden Frauen, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts an mehreren Orten der Welt studiert haben und ihr Leben lang „ortsflexibel“ blieben (z.B. Lillien Martin, die ab 1894 fünf Jahre bei Georg Elias Müller studierte und mit ihm publizierte, später an der Stanford University lehrte und als eine der bedeutendsten Vertreterinnen der ersten Generation von Frauen in der wissenschaftlichen Psychologie Amerikas gilt) und solche, die alle Qualifikationsstufen bis zum Ruhestand an einem Ort durchlaufen haben (z.B. Elisabeth Müller-Luckmann, die sich in der Rechtspsychologie einen Namen gemacht hat). Diese Vielfalt an möglichen Lebensformen sollte auch heutige Nachwuchswissenschaftlerinnen ermutigen, ihren Weg beharrlich weiterzuverfolgen. Abschließend sei noch ein Aspekt erwähnt, der nicht nur im historischen Rückblick von Bedeutung ist, sondern auch für den aktuellen Beitrag von Frauen zur wissenschaftlichen Psychologie Aufmerksamkeit verdient. Es geht um den vermutlich unterschätzten Beitrag von Frauen in Forschungsgruppen oder -partnerschaften, in denen sie zunächst oder aber auch dauerhaft nach außen hin nicht die führende Rolle spielen. Sprung und Sprung (1996) unterscheiden vier Modelle der wissenschaftlichen Arbeit von Frauen: a) das Partnerinnenmodell, bei dem die Frau private Mitarbeiterin ihres Mannes ist; Clara Stern gilt hierfür als prominentestes Beispiel (erinnert sei an das für die Erforschung der Sprachentwicklung bahnbrechende Werk von Clara und William Stern 1907; vgl. auch Deutsch 2002); b) das Einzelkämpfermodell, wofür Marie Jahoda mit ihrem nicht einfachen Lebensweg als Beispiel steht; c) das Mitarbeiterinnenmodell, bei dem die eigenen Beiträge von der Nachwelt oft unterschätzt werden, wie etwa bei Bärbel Inhelder als Mitarbeiterin von Jean Piaget
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(vgl. Inhelder/Piaget 1995, 1959); und d) das Teammodell als Basis für eine eigenständige wissenschaftliche Karriere, wofür die Mitarbeiterinnen von Kurt Lewin als Beispiele genannt werden können. Nicht zuletzt sind noch die Frauen besonders hervorzuheben, die mit Beginn der NaziHerrschaft allein oder mit ihren Familien zur Emigration gezwungen waren. Etliche von ihnen haben im Ausland – egal in welchem Arbeitsverhältnis sie vorher standen – ihren wissenschaftlichen Weg erfolgreich fortgesetzt, teilweise über mehrere Sprachgrenzen hinweg, wie z.B. Anneliese Argelander, Anna Berliner, Else Frenkel-Brunswik, Anna Freud, Charlotte Bühler, Marie Jahoda und Rosa Katz. Nach Hahn (2003: 186 f.) waren von den „Säuberungen“ nach der nationalsozialistischen Machtübernahme Frauen stärker als Männer betroffen: „In keinem anderen Land gibt es daher in der Geschichte intellektueller Frauen einen so tiefen Riss wie in Deutschland.“ Etliche Fakten, wie das Verschwinden von Frauen auf den Kongressen der Deutschen Gesellschaft für Psychologie während der NSZeit, deuten darauf hin, dass das auch für die Geschichte der Frauen in der wissenschaftlichen Psychologie gilt.
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22. Nicht sexistischer Sprachgebrauch Nicht sexistischer Sprachgebrauch: die stochastische Genuswahl Norbert Nothbaum & Gisela Steins
Häufig kann man in wissenschaftlichen Publikationen und Vorträgen eine Vielzahl fiktiver Personen finden. Gemeint sind zumeist keine einzelnen Individuen, sondern sie dienen als Verweise auf Berufsgruppen, soziale Gruppen oder ähnliches: Die medizinisch-praktische Ausgestaltung des Versicherungs- und Versorgungssystems in der Bundesrepublik Deutschland ist durch individualistische Begriffe geprägt wie „Therapiefreiheit“ oder „freie Arztwahl“, und das Verhältnis zwischen Arzt und Patient wird mit dem Begriff „ArztPatienten-Verhältnis“ in eine sehr persönliche individuelle Beziehung gesetzt mit Betonung der Freiheitsgrade beider Beziehungspartner. Dabei wird eine relative Unabhängigkeit des Patienten und seines Arztes von gesellschaftlichen Bindungen suggeriert. (...) Der Sozialmediziner muss mit seiner Beratung und Begutachtung vermitteln zwischen dem Mediziner, der symptom-, befund- , diagnose- und therapieorientiert vorgeht und dem rechtsanwendenden Juristen oder Verwaltungsexperten, der Krankheit im Blick auf die Rechtsfolgen, die gesetzlich aus diesem Zustand abzuleiten sind, betrachtet. (...) Mit diesem Begutachtungsergebnis wird gleichzeitig auch die Beratungsfunktion des Gutachters sowohl für den Erkrankten als auch für den Versicherer deutlich.
In diesen kurzen Ausschnitten (Seger, 1997) finden sich (in alphabetischer Reihenfolge) ein Arzt, ein Beziehungspartner, ein Erkrankter, ein Gutachter, ein Jurist, ein Patient, ein Sozialmediziner, ein Versicherer und ein Verwaltungsexperte. Alle diese fiktiven Personen werden als grammatische Maskulina benannt. Es ist denkbar, dass der Autor mit seinem Text ausdrücken wollte, dass die Gruppen, die so benannt werden, ausschließlich aus Männern bestehen. Wahrscheinlicher ist es aber, anzunehmen, dass die aufgeführten Personen jeweils auf Ärztinnen und Ärzte, Juristinnen und Juristen usw. referieren soll, also auf Gruppen, die sowohl aus Männern als auch aus Frauen bestehen. Der Umstand, dass Substantive männlichen Genus auf Gruppen verweisen, die sich nicht ausschließlich aus Männern zusammensetzen, wird sowohl von vielen Autorinnen und Autoren als auch von vielen Leserinnen und Lesern als Diskriminierung des weiblichen Geschlechts empfunden. Seit einiger Zeit werden verschiedene Vorgehensweisen diskutiert und in Texten eingesetzt, um diese Diskriminierung zu beenden. Ein aktueller Vorschlag für das Verfassen von juristischen Texten liegt von Steiger und Irmen vor (2007). Bisher kann keine Vorgehensweise restlos überzeugen. Wir stellen zunächst die wichtigsten Vorgehensweisen vor und schlagen als eine elegante Möglichkeit die stochastische Genuswahl vor.
G. Steins (Hrsg.), Handbuch Psychologie und Geschlechterforschung DOI 10.1007/978-3-531-92180-8_22, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010
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Möglichkeiten des Sprachgebrauchs in Hinblick auf die Wahl des Genus a) Den Status Quo beibehalten mit der Begründung, das grammatikalische Geschlecht eines Substantivs lasse keinen Rückschluss auf das natürliche Geschlecht des Bezeichneten zu Einige Autorinnen und Autoren weisen darauf hin, dass das grammatische Geschlecht eines Substantivs nicht identisch ist mit dem biologischen oder sozialen Geschlecht der oder des Bezeichneten. Wir kennen nur „die Fliege“ und bezeichnen damit auch die männlichen Individuen dieser Gattung („die männliche Fliege“). Das Argument „Sprachliches Genus entspricht nicht dem biologischen Geschlecht“ ist sprachlogisch zutreffend. Dennoch bleibt die allgemeine Beobachtung, dass wir in der sozialen Interaktion dem sprachlichen Genus eben doch biologische Geschlechtsinformationen entnehmen. Wenn jemand behauptet, über diese Fehlwahrnehmung erhaben zu sein, würde man erwarten, dass diese Person den folgenden Satz in keiner Weise merkwürdig findet (Pusch, 1990, S. 77 zitiert nach Irmen und Sander): Erst war ich Arbeitsgruppenleiter in einer Obstbaubrigade, danach FDJ-Sekretär, dann brauchten sie mich im Gemüsebau. Ich habe 24 Mann in der Brigade, 23 sind Frauen. (Aus einem Interview mit einer Arbeiterin aus der DDR)
Sollte eine Person diesen Text aber doch irritierend finden, so zeigt sie, dass es in ihrer Wahrnehmung sehr wohl eine gewisse Korrelation zwischen dem sprachlichen Genus des Wortes und dem vermuteten biologischen Geschlecht des Benannten gibt. Dadurch, dass ein Text überwiegend männliche Formen verwendet, werden Frauen unsichtbar gemacht und es wird implizit der Eindruck erzeugt, dass die genannten Gruppen ausschließlich aus Männern bestehen. Dieser Effekt des generischen Maskulinums ist sowohl für den englischwie für den deutschsprachigen Sprachraum empirisch nachgewiesen (Moulton et al., 1978; Stahlberg & Sczesny, 2001). Wenn ein Text nicht das Verschwinden von Frauen unter den benannten Gruppen unterstützen will, ist es nicht ausreichend, sich an die Tatsache der Differenz zwischen sprachlichem Genus und biologischem Geschlecht zu erinnern oder in der Einleitung darauf hinzuweisen, dass im Folgenden mit sprachlichen Maskulina auch Frauen gemeint sein sollen. Es ist notwendig, diesem kognitiven Fehlschluss, vom sprachlichen Genus auf das Geschlecht zu schließen, im Text aktiv entgegenzutreten (Braun et al., 2007). Auf der anderen Seite steht natürlich das primäre Anliegen des Textes, beispielsweise die im oben aufgeführten Text erläuterten Fragen der Sozialmedizin. Beim Verfassen eines verständlichen, themenorientierten, sprachlich akzeptablen Textes kann es eine ärgerliche Zusatzaufgabe sein, sich in jedem Satz mit der Frage einer nicht diskriminierenden Wortwahl auseinandersetzen zu müssen. Dies gilt besonders dann, wenn die verwendeten Methoden dazu führen, dass der Text seine sprachliche Eleganz verliert.
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b) Die explizite Nennung von weiblichen und männlichen Formen Hier eine nicht diskriminierende Variante des Beispieltextes, die an jeder sinnvollen Stelle explizit auch die Frauen in den verschiedenen Gruppen nennt. Das Ergebnis ist ein Text, bei dem die Verständlichkeit leidet und sprachlicher Fluss und Eleganz verloren gehen: Die medizinisch-praktische Ausgestaltung des Versicherungs- und Versorgungssystems in der Bundesrepublik Deutschland ist durch individualistische Begriffe geprägt wie „Therapiefreiheit“ oder „freie Ärztin- und Arztwahl“, und das Verhältnis zwischen Ärztin und Arzt und Patientin und Patient wird mit dem Begriff „Ärztin/Arzt -Patientin/Patienten-Verhältnis“ in eine sehr persönliche individuelle Beziehung gesetzt mit Betonung der Freiheitsgrade beider Beziehungspartner. Dabei wird eine relative Unabhängigkeit der Patientinnen und Patienten und ihrer beziehungsweise seiner Ärztin respektive ihres beziehungsweise seines Arztes von gesellschaftlichen Bindungen suggeriert. (...) Die Sozialmedizinerin und der Sozialmediziner müssen mit ihrer Beratung und Begutachtung vermitteln zwischen der Medizinerin bzw. dem Mediziner, die bzw. der symptom-, befund- diagnose- und therapieorientiert vorgeht und der rechtsanwendenden Juristin bzw. dem rechtsanwendenden Juristen oder Verwaltungsexpertinnen und Verwaltungsexperten, die Krankheit im Blick auf die Rechtsfolgen, die gesetzlich aus diesem Zustand abzuleiten sind, betrachten. (...) Mit diesem Begutachtungsergebnis wird gleichzeitig auch die Beratungsfunktion der Gutachterin bzw. des Gutachters sowohl für die Erkrankten bzw. den Erkrankten als auch für den Versicherer deutlich.
Bei diesem Vorgehen schiebt sich der Versuch, nicht diskriminierend zu formulieren ermüdend vor die eigentlichen Inhalte des Textes. Die Sätze blähen sich auf und es wird erhebliche Aufmerksamkeit von den Problemen der Sozialmedizin auf die Benennung der Teilgruppen umgelenkt. Einen solchen Text zu lesen ist anstrengend und verärgert viele Leserinnen und Leser, die gerne ihre Hauptaufmerksamkeit auf das zentrale Thema des Textes richten wollen. Das explizite Nennen von Männern und Frauen immer dann, wenn ein Maskulinum oder Femininum auf eine gemischtgeschlechtliche Gruppe referiert, ist sinnvoll, wenn ein solcher Verweis selten auftritt. c) Das Binnen-I und die Schrägstrich-Variante Die medizinisch-praktische Ausgestaltung des Versicherungs- und Versorgungssystems in der Bundesrepublik Deutschland ist durch individualistische Begriffe geprägt wie „Therapiefreiheit“ oder „freie ÄrztInnenwahl“, und das Verhältnis zwischen ÄrztIn und PatientIn wird mit dem Begriff „ÄrztInnen-PatientInnen-Verhältnis“ in eine sehr persönliche individuelle Beziehung gesetzt mit Betonung der Freiheitsgrade beider Beziehungspartner. Dabei wird eine relative Unabhängigkeit des/der PatientIn und ihrer/seines Ärztin/Arztes von gesellschaftlichen Bindungen suggeriert. (...) Der Sozialmediziner/die Sozialmedizinerin muss mit seiner/ihrer Beratung und Begutachtung vermitteln zwischen der/dem MedizinerIn, die/der symptom-, befund- diagnoseund therapieorientiert vorgeht und der/dem rechtsanwendenden Juristin/Juristen oder VerwaltungsexpertIn, die/der Krankheit im Blick auf die Rechtsfolgen, die gesetzlich aus diesem Zustand abzuleiten sind, betrachtet. (...) Mit diesem Begutachtungsergebnis wird gleichzeitig auch die Beratungsfunktion des Gutachters/der Gutachterin sowohl für die/den Erkrankte/n als auch für den Versicherer deutlich.
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Der Text ist kürzer, da Binnen-I und Schrägstriche die Möglichkeit bieten, die Doppelnennung weiblicher und männlicher Formen abzukürzen. Der Nachteil dieser Vorgehensweise besteht darin, dass die Texte kaum zu lesen und nur mit höchster Konzentration vorzulesen sind. Eine Leserin oder ein Leser kann entweder die Abkürzungen in die vollständigen weiblichen und männlichen Formen zurückübersetzen, und erhält dann den Text, den wir in (b) vorstellten. Alternativ kann sie oder er das Binnen-I wie ein kleines i lesen. Im letztgenannten Fall ergibt sich akustisch eine Dominanz weiblicher Formen, die dem Ziel einer ausgewogenen Referenz auf gemischtgeschlechtliche Gruppen ebenfalls nicht entspricht. Ein zweiter Nachteil besteht darin, dass einige Substantive aufgrund von Vokalumbildungen (Arzt/Ärztin) entweder nicht mit Binnen-I gebildet werden können (A/ÄrztIn?) oder aber die männliche Form nicht mehr enthalten (der Ärzt?). d) Die Verwendung geschlechtsneutraler Begriffe Aufgrund der unübersehbaren Nachteile der beiden bisher vorgestellten Verfahren wird inzwischen allgemein die Verwendung geschlechtsneutraler Begriffe favorisiert (vgl. Hellinger & Bierbach). Hier der Versuch, den Beispieltext unter Verwendung geschlechtsneutraler Begriffe zu formulieren: Die medizinisch-praktische Ausgestaltung des Versicherungs- und Versorgungssystems in der Bundesrepublik Deutschland ist durch individualistische Begriffe geprägt wie „Therapiefreiheit“ oder „freie Wahl des ärztlich Tätigen“, und das Verhältnis zwischen behandelnder und behandelter Person wird mit dem Begriff „Arzt-Patienten-Verhältnis“ in eine sehr persönliche individuelle Beziehung gesetzt mit Betonung der Freiheitsgrade beider Beziehungspartner. Dabei wird eine relative Unabhängigkeit der behandelten Person und ihres Arztes von gesellschaftlichen Bindungen suggeriert. (...) Die sozialmedizinisch tätige Person muss mit ihrer Beratung und Begutachtung vermitteln zwischen dem medizinischem Personal, das symptom-, befund- diagnose- und therapieorientiert vorgeht und dem rechtsanwendenden juristischen Personal oder Verwaltungsfachleuten, die Krankheit im Blick auf die Rechtsfolgen, die gesetzlich aus diesem Zustand abzuleiten sind, betrachten. (...) Mit diesem Begutachtungsergebnis wird gleichzeitig auch die Beratungsfunktion des gutachterlich Tätigen sowohl für die erkrankte Person als auch für die Versicherung deutlich.
Ein Problem besteht darin, dass sich nicht immer passende geschlechtsneutrale Begriffe finden lassen. Im Beispiel fiel uns etwa für den Ausdruck „Arzt-Patienten-Verhältnis“ keine geschlechtsneutrale Formulierung ein (Behandelnde-Behandelte-Verhältnis?), die verständlich und kurz wäre. Viele geschlechtsneutrale Begriffe sind sprachliche graue Mäuse. Der Text klingt im ungünstigsten Fall wie Behördendeutsch. Die Sprache wird farblos und defensiv. Ausdrücke wie „ärztlich Tätige“, „behandelte Person“ oder „Verwaltungsfachleute“ wirken, als ob sie eine Tarnkappe trügen. Neben der sprachästhetischen Frage, die manche für sekundär halten werden, stellt sich hier aber auch ein grundlegendes inhaltliches Problem dieser Vorgehensweise: Die Existenz weiblicher Personen und das Problem der sprachlichen Diskriminierung von Frauen wird durch den Einsatz geschlechtsneutraler Begriffe verdeckt. Der Text enthält nun keinen Hinweis auf die Geschlechterverteilung in den angesprochenen Gruppen. Solange
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gesellschaftliche Vorurteile und Stereotypen bestehen, die beispielsweise sagen, dass ein typisches Mitglied der Gruppe „ärztlich Tätige“ ein Mann ist, wird ein geschlechtsneutraler Text bei der Leserin oder beim Leser das innere Bild eines Manns hervorrufen. Eine sinnvolle Möglichkeit, durch eine nicht diskriminierende Sprache einen Beitrag zum Abbau von Geschlechtsstereotypen leisten zu können, wird durch geschlechtsneutrale Formulierungen verschenkt. e) Die stochastische Geschlechterwahl Unser Vorschlag, einen nicht diskriminierenden Text zu verfassen, der trotzdem sprachlich flüssig bleibt, erfordert, dass Sie eine Münze griffbereit haben. Immer, wenn ein Substantiv auf eine gemischtgeschlechtliche Gruppe verweist, entscheiden Sie mit Münzwurf, ob Sie die männliche oder die weibliche Form wählen. Die medizinisch-praktische Ausgestaltung des Versicherungs- und Versorgungssystems in der Bundesrepublik Deutschland ist durch individualistische Begriffe geprägt wie „Therapiefreiheit“ oder „freie Ärztinnenwahl“, und das Verhältnis zwischen Ärztin und Patient wird mit dem Begriff „Arzt-Patientinnen-Verhältnis“ in eine sehr persönliche individuelle Beziehung gesetzt mit Betonung der Freiheitsgrade beider Beziehungspartner. Dabei wird eine relative Unabhängigkeit der Patientinnen und ihres Arztes von gesellschaftlichen Bindungen suggeriert. (...) Die Sozialmedizinerin muss mit ihrer Beratung und Begutachtung vermitteln zwischen der Medizinerin, die symptom-, befund- diagnose- und therapieorientiert vorgeht und dem rechtsanwendenden Juristen oder der Verwaltungsexpertin, die Krankheit im Blick auf die Rechtsfolgen, die gesetzlich aus diesem Zustand abzuleiten sind, betrachtet. (...) Mit diesem Begutachtungsergebnis wird gleichzeitig auch die Beratungsfunktion des Gutachters sowohl für die Erkrankte als auch für den Versicherer deutlich.
Die Münze hat in diesem Fall die folgenden Entscheidungen getroffen: Arztwahl Arzt Patient Arzt-... ...-Patienten-Verhätlnis Patient Arzt
weiblich weiblich männlich männlich weiblich weiblich männlich
Sozialmediziner Mediziner Jurist Verwaltungsexperte Gutachter Erkrankter
weiblich weiblich männlich weiblich männlich weiblich
In unserem kurzen Beispiel ist es nicht zu einem vollständigen Ausgleich gekommen. Die verweisenden Substantive sind nun überwiegend weiblich. Bei längeren Texten und im Durchschnitt über mehrere Texte führt das mathematisch-statistische „Gesetz der großen Zahl“ aber dazu, dass ein ausgeglichenes Verhältnis erreicht wird. Der Verweis auf die Existenz von Frauen in den verschiedenen Gruppen ist deutlicher vorhanden als bei der Verwendung geschlechtsneutraler Begriffe, aber er dominiert den Inhalt nicht. Der Text bleibt lesbar und er bläht sich nicht auf. Allerdings ist es notwendig, zu Beginn einen kurzen erklärenden Hinweis auf das verwendete Verfahren zu geben:
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Norbert Nothbaum & Gisela Steins Bei allen Substantiven, bei denen eine geschlechtsneutrale Formulierung notwendig erschien, weil mit einem Maskulinum auf eine Gruppe verwiesen wird, die sowohl weibliche als auch männliche Personen umfassen kann, wurde eine Münze geworfen. Je nach Ergebnis des Münzwurfs wurde im Text die weibliche oder die männliche Form gewählt. In der Summe sollte dies zu einer ausgewogenen Nennung von Frauen oder Männern führen.
Wir setzen dieses Vorgehen seit mehreren Jahren in Studientexten eines Fernstudiengangs ein und erhalten ausschließlich positives Feedback. Niemand hat uns bisher zurückgemeldet, dass die Lesbarkeit des Textes unter diesem Vorgehen leiden würde. Die Münze kann selbstverständlich durch eine Computerunterstützung ersetzt werden. Die folgende Zeile erzeugt in Microsoft Excel eine Zufallsausgabe der Begriffe „männlich“ oder „weiblich“: =WENN(ZUFALLSZAHL()