Amicus und Amelius: Kriegerfreundschaft und Gewalt in mittelalterlicher Erzähltradition
Silke Winst
Walter de Gruyter ...
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Amicus und Amelius: Kriegerfreundschaft und Gewalt in mittelalterlicher Erzähltradition
Silke Winst
Walter de Gruyter
Silke Winst Amicus und Amelius
Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer
Herausgegeben von
Ernst Osterkamp und Werner Röcke
57 ( 291 )
≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York
Amicus und Amelius Kriegerfreundschaft und Gewalt in mittelalterlicher Erzähltradition
von
Silke Winst
≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-021263-1 ISSN 0946-9419 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Sigurd Wendland, Berlin
Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Wintersemester 2007/08 vom Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen. Bei der Überarbeitung für die Drucklegung habe ich den neuen Forschungsstand berücksichtigt. Während meines Studiums erwähnte Judith Klinger einmal, dass es einen mittelenglischen Text gibt, in dem der gleiche Stoff bearbeitet wird wie in Konrads von Würzburg Engelhard. Wir beide ahnten nicht, welch eine Textlawine sie damit ins Rollen brachte. Judith Klinger war für mich eine stetige Inspiration. Hans-Jürgen Bachorski konnte leider nur noch die Idee und die Anfänge dieser Arbeit miterleben. An ihn erinnere ich mich in tiefer Dankbarkeit. Herzlich danken möchte ich Ingrid Kasten und Ute von Bloh, die mit vielfältiger Unterstützung und hilfreicher Kritik die Entstehung der Arbeit begleitet haben. Mein besonderer Dank gilt Wolfgang Maaz für sein Interesse und seine Hinweise auf dem Gebiet der mittellateinischen Philologie. Auch Sebastian Neumeister danke ich herzlich. Meine Freunde Patrick Brückner und Sandra Schramm waren jederzeit bereit, mit mir Ideen auszutauschen und Gedankenexperimente vorzunehmen. Regine Reck war so freundlich, die Übersetzungen aus dem Kymrischen anzufertigen. Armin Schneider danke ich für die Korrektur. Nicht zuletzt möchte ich mich bei den Herausgebern und dem Verlag dafür bedanken, dass sie meine Arbeit in die Reihe „Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte“ aufgenommen haben. Mein Kriegergefährte Jörn Budde war und ist mein Fels in der Brandung. Meiner Mutter Gerda Winst, die mich stets in allem unterstützt hat, ist dieses Buch gewidmet. Göttingen, im Juli 2009
Silke Winst
Inhalt Einleitung: Die Amicus-Amelius-Texte im europäischen Mittelalter.... 1 1. Terminologisches zu Freundschaft und Liebe .................................. 1 2. Die Klassifizierung des Textkorpus .................................................... 5 3. Methodische und theoretische Grundlagen: Homosoziales Begehren – Männlichkeit – Identität ......................32 4. Zum Aufbau der Arbeit ......................................................................42
I. Der Kampf gegen die Differenz: Gleichheit und Gewalt als konstitutive Bestandteile des Freundschaftsmodells ...............46 1. Admissio: Gründung der Freundschaft ..............................................52 1.1. Gleichheit...............................................................................................52 1.2. Freundschaftsschwur ...........................................................................65 1.3. Lebensgemeinschaft.............................................................................80 1.4. Admissio: Öffentliche Inszenierungen von Gleichheit und Nähe..................88 2. Probatio: Prüfung der Freundschaft....................................................99 2.1. Trennung: Abschied und Aufnahme anderer sozialer Beziehungen ...............99 Abschied ................................................................................................99 Die sexuelle Inbesitznahme der Herrschertochter........................106 Die Beziehung zu Ardericus.............................................................108 2.2. Gottesurteilskampf: Petitum und Identitätentausch.....................119 Petitum.................................................................................................119 Körpersubstitution im Zweikampf..................................................126 Körpersubstitution im Ehebett........................................................149 2.3. Kindesopfer: Aussatz und Heilung .................................................163 Motivierung des Aussatzes................................................................164 Verstoßung – Wiedererkennung – Aufnahme...............................179 Kindesopfer und Aussatzheilung.....................................................194 2.4. Probatio: Heimlichkeit und identische Morphologie......................216 3. Unio: Endgültige Vereinigung vs. abstrakte Verbundenheit........224 3.1. Gemeinsames Leben..........................................................................224 3.2. Gemeinsamer Tod..............................................................................230 3.3. Gemeinsames Grab............................................................................232 3.4. Unio: Konkretisierung und Abstraktion von Freundschaft .........239
VIII
Inhalt
4. Begehren und Emotionalität in der Kriegerfreundschaft ............243 4.1. Begehren und Emotionen: Körperliche Manifestationen und verbale Expression.................245 4.2. Bewegungen im Raum: Die gegenseitige Suche der Gefährten..253 4.3. Der Sonderfall der chanson de geste Ami et Amile: Die Treffen auf der Blumenwiese....................................................258 4.4. Der Sonderfall des Engelhard Konrads von Würzburg: Reflexion – Emotion – Körper........................................................266
II. Formen von Vergesellschaftung: Zwischen Identitätsbedrohung und Herrschaftsbildung ............274 1. Verwandtschaft...................................................................................275 1.1. Väter und Söhne I: Abstammung und Einordnung .....................277 1.2. Väter und Söhne II: Das Opfer und die Krise der Gleichheit....287 1.3. Der Sonderfall der chanson de geste Ami et Amile: Der Verräterclan als Bedrohung ......................................................291 1.4. Der Sonderfall der Historia Septem Sapientum: Verwandtschaftsformationen und Herrschaftszuwachs ..............298 2. Herrschaft............................................................................................306 2.1. Herrscher und Dienstmannen: Treuepflicht und Zuneigung .....308 2.2. Die Texte mit vertauschten Freundespositionen: Der Herrscher zwischen liebe und haz .............................................312 2.3. Der Gewaltausbruch und die Krise der Gleichheit ......................321 3. Geschlechterverhältnisse...................................................................331 3.1. Belixenda: Von der Vergewaltigung zur Minnekrankheit: Transformationen zwischengeschlechtlichen Begehrens.............334 Vergewaltigung und sexueller Akt: Punktuelle Geschlechterbegegnungen (Textgruppe 2) ................334 Erzwungene, erlistete und krankhafte Liebe: Variationen der Geschlechterbeziehung (Textgruppen 1 und 3).......................................................................341 Radulfus Tortarius’ mittellateinische Verserzählung: Das ‚männliche‘ Begehren der Prinzessin ......................................341 Die Frau des Potiphar: Amys und der Zwang zur zwischengeschlechtlichen Liebe (Mittelenglische romance und anglonormannische Verserzählung)...........................344 Erlisteter Beischlaf: Das unbezwingbare weibliche Begehren (Lille 130, die chanson de geste und das Miracle).................................352
Inhalt
IX
Zwischengeschlechtliche Minnekrankheit (Konrads von Würzburg Engelhard und die Historia septem sapientum).......................................................361 3.2. Obias und Lubias: Verkörperungen des Bösen und eigenständige Herrscherinnen ..................................................374 Obias: Frauentausch und Frauentod...............................................374 Lubias: Aggressive Kontrahentin der Freundschaft (Die chanson de geste Ami et Amile)......................................................385 3.3. Geschlechterverhältnisse und der Ursprung von Gewalt............399
III. Konzeptionen von Liebe, Herrschaft und Heiligkeit in den Amicus-Amelius-Texten..............................................................406 1. Identitäts- und herrschaftsstiftende Wirksamkeit einzelner Beziehungstypen.................................................................................406 2. Terminologische Implikationen: Liebe und Freundschaft ..........414 3. ‚Freundschaftsheilige’? Heiligkeit durch Gleichheit und Gewalt.........................................434
IV. Ergebnisse und Ausblick: Identitätsbildende Modelle von Gleichheit und ihre Ablösung ....................................................439 Anhang ..............................................................................................................452 I. Klassifizierung nach Deutungs- und Sinngebungsmodellen.......452 II. Klassifizierung nach den narrativen Positionen der Freunde .....459 III. Klassifizierung nach den Namen der Freunde ..............................459
Abkürzungsverzeichnis ................................................................................460 Literaturverzeichnis .......................................................................................461 Verzeichnis der Primärtexte .....................................................................461 Verzeichnis der Forschungsliteratur .......................................................467 Verzeichnis der Nachschlagewerke.........................................................491
Einleitung: Die Amicus-Amelius-Texte im europäischen Mittelalter 1. Terminologisches zu Freundschaft und Liebe Cest darmes et damours de boine compagnie1: So beschreibt die zum AmicusAmelius-Korpus gehörige mittelfranzösische Handschrift 12547 der Bibliothèque Nationale, Paris, aus dem 15. Jahrhundert2 im Prolog die Akzentsetzungen der nun folgenden Geschichte. Im Mittelpunkt steht die Freundschaft zweier ritterlicher Helden, die einander zum Verwechseln ähneln und deren emotionale Bindung sich gegen alle anderen sozialen Anforderungen und Verhaltensregeln behauptet. Die Verszeile exponiert heroische Waffentaten und innige Freundschaft und Liebe als thematische Schwerpunkte, die eng miteinander verknüpft sind: Die besten Krieger unterhalten eine intensive Freundschaft, die durch ein großes Ausmaß an Zuneigung und Emotionalität gekennzeichnet ist. Die nebeneinander gestellten Begriffe amour und compagnie verweisen auf die für die AmicusAmelius-Geschichte zentralen Konzeptionen der Freundschaft und der Liebe. Diese sind – wie im Folgenden deutlich werden wird – nicht klar voneinander abgegrenzt und können alternativ sowohl die Beziehung zwischen den Helden als auch weitere Formen der Vergesellschaftung bezeichnen, die auf friedlicher Anerkennung eines anderen beruhen.3 Diese terminologischen Fluktuationen verweisen bereits auf eine Organisation der mittelalterlichen Beziehungskultur, die von der der Moderne gänzlich abweicht. Sie soll Gegenstand dieser Arbeit sein. Da verschiedene Bindungen mit gleichen Begriffen bezeichnet werden, liegt die Vermutung _____________ 1 2 3
„[In dieser Geschichte] geht es um Waffen und Liebe, um vorbildliche Freundschaft.“ Das Zitat befindet sich auf Bl. 1r. Kurze Beschreibungen der Hs. liefern Neufang 1914, S. 7, und Matsumura 1999, S. xviii. Vgl. z.B. compagnie / compagnon / compain für die Beziehung zwischen Ami und Amille Bl. 1r, Bl. 83v; für zwischengeschlechtliche Beziehungen: Antiaume und Orable Bl. 160r; amour: Ami und Amille Bl. 18r; zwischengeschlechtliche Beziehungen: Amille und Belissant Bl. 19r; amisté: Verwandtschaftsbeziehungen: Marie und Amille Bl. 25v; zwischengeschlechtliche Beziehungen: Amille und Belissant Bl. 56v; druerie / dru: Ami und Amille Bl. 45v; Amille und Belissant Bl. 61r; Ricier und der edle Affe Bl. 100r. Zur näheren Untersuchung des Beziehungsvokabulars in den Amicus-Amelius-Texten vgl. Kap. III.2. dieser Studie.
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Einleitung
nahe, dass ein prinzipielles Beziehungsmodell jeglichen Allianzen zugrundeliegt. Gleichzeitig aber arbeiten die Amicus-Amelius-Texte an einer Differenzierung von Sozialbindungen, denn sie entwerfen ein spezifisches Freundschaftsmodell, das alle anderen Relationen an Nähe und Bedeutsamkeit übertrifft. Wenn ich im Folgenden die Gemeinschaft der Protagonisten meist als ‚Freundschaft‘ und bestimmte zwischengeschlechtliche Beziehungen als ‚Liebe‘ bezeichne, dann ist dies ein Zugeständnis an Vereindeutigungstendenzen der modernen Sprache, die dem polyvalenten mittelalterlichen Beziehungsvokabular diametral gegenüberstehen. Um die Spezifik der Amicus-Amelius-Konzeption greifbarer zu machen, habe ich den Begriff der ‚Kriegerfreundschaft‘ gewählt. Auch dies ist nicht unproblematisch, werden doch mit diesem Terminus meist Freunde wie Roland und Olivier assoziiert, die im Rolandslied als Waffengefährten Seite an Seite kämpfen. In einigen hagiographischen Bearbeitungen werden Amicus und Amelius ebenfalls als vorbildliche Streiter in Karls Heer dargestellt.4 Ich bezeichne die Verbindung zwischen Amicus und Amelius aber nicht nur aufgrund dieser Kampfgemeinschaft als Kriegerfreundschaft, sondern wegen der zentralen gegenseitigen „Waffenhilfe“5 der Gefährten. Die „Hilfeleistung durch Arm und Schwert“,6 die als prinzipielles Element von Kriegerfreundschaften zu veranschlagen ist, nimmt in den Amicus-Amelius-Texten eine besondere Form an. Die Freundschaft beruht auf wechselseitigen Treuebeweisen, die jeweils an gewaltsame Aktivitäten gekoppelt sind: Ein Freund kämpft für den anderen im gerichtlichen Zweikampf; der andere tötet für den ersten seine Kinder. Damit rückt die grundsätzliche Dominanz der Gewalt in diesem Freundschaftsmodell in den Blick. Die Ausübung von Gewalt und das Tragen von Waffen kennzeichnen die Gefährten als adlige Krieger, als „companions in arms“.7 Als ritterliche oder gar höfische Freundschaft kann die Allianz der Gefährten hingegen nur in eingeschränktem Maße etikettiert werden, da die Gemeinschaft sich über höfische Normen hinwegsetzt.8 _____________ 4
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Diese Episode befindet sich in den elaborierten und einigen mittellangen legendenhaften Amicus-Amelius-Texten. Vgl. für die lateinische elaborierte Fassung Kölbing 1884, S. cvii-cx, für die französische Moland / D’Héricault 1856, S. 73-82, und für die kymrische Williams 1982, Z. 662-823, bzw. die französische Übersetzung aus dem Kymrischen von Gaidoz 1879/80, S. 236-244. Zur Klassifizierung des Textkorpus siehe Einleitung 2. Braun 2001, S. 303. Braun beschreibt eine solche Art von Freundschaft als „handlungsbasierte Freundschaft“ (S. 328). Lugowski 21994, S. 89. Vgl. auch Braun 2001, S. 317. Kay 1995, S. 147. Dies wäre etwa für den Zeitraum der höfischen Erziehung und Betätigung der gesellen in Konrads von Würzburg Engelhard möglich; vgl. Reiffenstein 1982, V. 747-761.
Terminologisches
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Insofern unterscheidet sich das hier zugrundeliegende Verständnis von Kriegerfreundschaft von den Existenzformen der höfischen Freundschaft, wie sie Xenia von Ertzdorff untersucht hat, da diese Freundschaftskonzepte stets jeweils vollständig in das geltende Wertesystem integriert zu sein scheinen.9 Hinsichtlich gattungsspezifischer Darstellungsmodi differenziert von Ertzdorff zwischen heldenepischer und höfischer Freundschaft nach der „Intensität des gegenseitigen Bezogenseins“,10 die bei jener in viel stärkerem Maße als bei dieser vorliege. Das Merkmal der Intensität gilt auch für die Amicus-Amelius-Texte: Da das Textkorpus Bearbeitungen verschiedenster Gattungsprovenienz in sich vereint, bildet dies hier aber keine genretypische, sondern eine konzeptuelle Besonderheit, die die Freundschaft zwischen Amicus und Amelius kennzeichnet. Von Ertzdorff trennt weiter zwischen der praktischen Lebensgemeinschaft der höfischen Freundschaft und dem „geistigen, diskutierenden Austausch“,11 der in antiker und mittelalterlicher geistlicher Freundschaft vorherrsche.12 Andreas Kraß hat auf die Problematik einer solchen „Opposition von Lebenspraxis und Selbstreflexion“ hingewiesen, da „auch dem geistlichen Konzept eine pragmatische Ebene (monastische Lebenspraxis) und dem höfischen Konzept eine diskursive Ebene (im Medium der Narration)“13 zuzuordnen sei. Andreas Kraß hat eine Typologie der höfischen Freundschaft vorgeschlagen, die sowohl gattungs- als auch geschlechtsspezifisch ausgerichtet ist. Er differenziert zwischen einem homosozialen14 und einem heterosozialen Typus von Freundschaft, die jeweils in bestimmten Genres dominierten. Im homosozialen Typus herrsche „Freundschaft als Code der Intimität“15 vor, im heterosozialen dagegen die zwischengeschlechtliche Liebe, so dass die Freundschaft zwischen Männern hier von untergeordneter Bedeutung sei. Die Differenz zwischen den Typen manifestiere sich vor allem darin, dass im homosozialen Freundschaftsentwurf der „Situationstyp der Klage um den verstorbenen Freund“16 zu finden sei, während sich die Schilderung der zwischenmännlichen Freundschaft im heterosozialen Typus „in Situationen des praktischen Lebensvollzugs, die nicht vom _____________ 9 10 11 12 13 14 15 16
Von Ertzdorff 1962, S. 36, versteht die Freundschaft in der Heldenepik als „literarische ‚Vorstufe‘“ der Freundschaft im höfischen Roman. Von Ertzdorff 1962, S. 38. Von Ertzdorff 1962, S. 44. Dem folgt auch Freytag 1986. Zum Zusammenhang der Amicus-Amelius-Freundschaft und geistlichen Freundschaftskonzepten vgl. den Beginn von Kap. I. Beide Zitate in Kraß 1999, S. 67. Zum Begriff der Homosozialität vgl. Einleitung 3. Kraß 2006a, S. 102. Kraß 2006a, S. 102.
4
Einleitung
Tode bedroht sind“,17 erschöpfe und demzufolge weniger intensiv dargestellt sei. So fruchtbar diese Typologie für andere Texte und Gattungen auch sein mag, für die Konstellation im Amicus-Amelius-Korpus ist sie nicht erhellend: Die Freundschaft ist zwar grundsätzlich als homosozial zu kennzeichnen, da die Allianz zwischen Männern als zentral und identitätskonstituierend gedacht wird. Dies gilt aber auch für die Amicus-AmeliusTexte, in denen der Männerbund von bedeutsamen zwischengeschlechtlichen Bindungen flankiert wird: Diese nehmen – trotz gewisser Konkurrenzen – dem Freundschaftsmodell nichts von seiner Gültigkeit. So ist der Terminus der homosozialen Freundschaft zwar grundlegend, gleichzeitig aber zu unspezifisch, um das Erzählmodell der Amicus-Amelius-Freundschaft näher zu beleuchten. Hinzu kommt, dass es keine Klage um einen verstorbenen Freund gibt, da die finale Zusammengehörigkeit der Freunde sich darin endgültig manifestiert, dass beide gemeinsam sterben oder gemeinsam – wenn auch räumlich getrennt – herrschen. Es existiert gerade keine Mangelsituation, die aus dem Tode eines der Gefährten resultiert. Stattdessen basiert die Freundschaft auf sich spiegelnder Gleichheit der Freunde auch hinsichtlich ihrer Körperzustände. Anschließend an diese Überlegungen bezeichne ich die Bindung zwischen Amicus und Amelius als Kriegerfreundschaft, wobei der homosoziale Bezugsrahmen stets als grundsätzlich mitzudenken ist. Der Begriff der ‚Kriegerfreundschaft‘ soll die zentralen Elemente von Liebe und Gewalt betonen, die den narrativen Freundschaftsentwurf der Amicus-AmeliusTexte gattungsübergreifend strukturieren und maßgeblich zur Identitätsstiftung der Freunde beitragen. Der Zusammenschluss von armes und amour in dieser Freundschaftskonzeption, wie ihn die eingangs zitierte Pariser Hs. 12547 verdeutlicht, beschreibt ein spezifisches Muster zur Konstitution mittelalterlicher Männlichkeit, das Gewaltsamkeit als ureigenstes Privileg adliger Herren mit der innigen Zuneigung der Gefährten verbindet. Ferner bezieht das Amicus-Amelius-Textkorpus sein Erzählprogramm und seine Identität aus den spezifischen Komponenten der Kriegerfreundschaft, die im Folgenden dargelegt werden.
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Kraß 2006a, S. 103.
Klassifizierung
5
2. Die Klassifizierung des Textkorpus Die Geschichte von Amicus und Amelius18 erfreute sich im mittelalterlichen Europa großer Beliebtheit, wie die beträchtliche Anzahl der Bearbeitungen dieses Stoffes in verschiedenen Sprachen und literarischen Formen zeigt. Die Stofftradition setzt ein mit der mittellateinischen Versbearbeitung des Radulfus Tortarius vom Ende des 11. Jahrhunderts und sie reicht bis über den Ausgang des Mittelalters hinaus, wie z.B. die nordischen Amícus Rímur ok Amilíus19 aus dem 17. Jahrhundert zeigen, die einen späten Ausläufer der Tradition bilden.20 Dazwischen siedeln sich so diverse Texte an wie die altfranzösische chanson de geste Ami et Amile, Konrads von Würzburg Engelhard, mittelenglische und anglonormannische Verserzählungen sowie ein mittelfranzösisches Mysterienspiel und zahlreiche lateinische und volkssprachliche legendenhafte Fassungen. Das umfangreiche Amicus-Amelius-Textkorpus bezieht seine Identität aus einer narrativen Grundstruktur, die allen Varianten zugrundeliegt.21 Die textübergreifende erzählerische Syntax ist an den Freundschaftsentwurf zwischen den beiden Protagonisten gekoppelt und lässt sich in aller Kürze durch folgendes Erzählprogramm beschreiben: Die auf Gleichheit basierende und zielende Freundschaft wird durch zwei aufeinander bezogene Treuebeweise befestigt bzw. durch diese erst als solche konstituiert: Ein Freund springt für den anderen im Gottesurteilskampf ein, um ihn vor der sicheren Niederlage zu retten. Der andere Freund tötet seine eigenen Kinder, um den aussätzig gewordenen Freund mit ihrem Blut zu heilen. Es handelt sich also um folgende Erzählsegmente: 1. Konstruktion von Gleichheit 2. Identitätentausch im Gottesurteilskampf 3. Kindesopfer zur Aussatzheilung
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Ich benutze bei textübergreifenden Aussagen die lateinischen Namen der Protagonisten. Bei rímur handelt es sich um umfangreiche Verserzählungen in stabreimenden Strophen, die vier- oder auch dreizeilig sind. Vgl. Simek / Pálsson 1987, S. 296f. – Aufgrund des späten Entstehungsdatums werde ich die nordischen Amícus Rímur ok Amilíus in dieser Arbeit vernachlässigen. Zu modernen Bearbeitungen, die im Rahmen dieser Arbeit nicht berücksichtigt werden, siehe etwa Bauerfeld 1914, S. 99-105, Planche 1977, S. 237f., und Frenzel 81992, S. 40. Es verhält sich also nicht so, dass die Namen der Freunde das ausschlaggebende Kriterium sind, wie Planche 1977, S. 241, vorschlägt. Sie berücksichtigt demzufolge weder Konrads Engelhard noch die Historia septem sapientum, obwohl diese Texte zweifelsohne die AmicusAmelius-Erzählstruktur reproduzieren. Die deutlich unterscheidbaren Namen der Helden (Engelhard und Dietrich; Alexander und Lodovicus) ergeben sich aus einer spezifischen Konstellation der Beziehungsmodelle in diesen Texten.
6
Einleitung
Diese drei recht komplexen erzählerischen Einheiten22 sind von unterschiedlicher Qualität: Während 2. und 3. narrationslogische Relevanz besitzen, bezieht sich 1. vor allem auf ein thematisches Muster. Die Konstituierung von Gleichheit bildet die „semantische Grundkonstellation“,23 die allen Amicus-Amelius-Texten zugrundeliegt und die somit auch die Handlungsprogramme von 2. und 3. strukturiert. Segment 1 funktioniert zusätzlich ebenfalls auf der Ebene der Handlungssegmente: Gleichheit wird in der Tat zunächst durch eine – mehr oder minder ausgeprägte – syntagmatische Organisation der Handlung hergestellt, an die sich 2. und 3. anschließen; gleichzeitig aber ist die Ununterschiedenheit der Protagonisten das thematische Erzählprogramm, das „als primärer Generationsfaktor des Textes“ die „textmodellierende Dominanz“ 24 besitzt.25 Auf der Grundlage dieses spezifischen Themen- und Handlungsgefüges kann eine Aussage über die Zugehörigkeit verschiedener Texte zum Amicus-Amelius-Korpus getroffen werden: Freundschaftsgeschichten mit Abweichungen von der spezifischen Stofforganisation und -anordnung – wie die Jakobsbrüder 26 und Olivier und Artus 27 – sind auszuschließen. Bei den Jakobsbrüdern stimmt nur Segment 3 – das Kindesopfer – mit der Amicus-Amelius-Struktur überein. Die erste Freundschaftsprobe ist eine andere: Der Freund bringt seinen unterwegs verstorbenen Gefährten nach Santiago de Compostela, woraufhin dieser wieder zum Leben erwacht. In Olivier und Artus dagegen sind im Vergleich zu Amicus und Amelius trotz vielfältiger Übereinstimmungen Differenzen hinsichtlich des ersten Freundschaftsbeweises zu verzeichnen. Sowohl Gleichheit als auch Kindesopfer sind zwar parallel zu den Amicus-Amelius-Texten entworfen, der Identitätentausch ist jedoch ein einseitiger und anders inszeniert. Amicus und Amelius tauschen ihre Identitäten, der eine besteht für den anderen den Zweikampf und der andere verbleibt an Stelle des ersten Freundes an dessen Hof. Artus dagegen gibt sich zwar als Olivier aus, während dieser _____________ 22
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Vgl. dagegen Oettli 1986a, S. 47, der nur 2. und 3. als konstituierende Elemente festhält. Dagegen untergliedert Baldwin 1980 das Geschehen der mittelenglischen romance sogar in sechs Treuebeweise, was jedoch den Blick auf die inneren Zusammenhänge der beiden grundsätzlich zu unterscheidenden Prüfungen eher verstellt. Simon 1990, S. 103. Zur Unterscheidung von handlungsrelevanter vs. thematischer Strukturierung von Texten vgl. ebd., bes. S. 1-14 und S. 102-105. Simon bezieht sich auf die Gattungsschemata von Artusroman und Feenerzählungen in höfischen Romanen. Simon 1990, S. 104. Zur näheren Analyse dieser erzählerischen Einheiten siehe Kap. I. Vgl. etwa Kunz Kisteners Bearbeitung aus dem 14. Jahrhundert in der Ausgabe von Euling 1899/1977. Vgl. dazu Reiffenstein 21983. Wilhelm Zielys Olivier und Artus (Erstdruck 1521 in Basel) ist in Auszügen ediert von Kindermann 1942, S. 278-302. Hans Sachs’ Comedi findet sich in Kellers Ausgabe von 1964 auf S. 219-260.
Klassifizierung
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in Gefangenschaft ist, und nimmt für einige Tage seinen Platz am englischen Hof ein. Dann befreit er Olivier, ohne seine Identität zu verschleiern. Demnach findet nur ein einseitiger, nicht aber ein wechselseitiger Austausch der Freundesidentitäten statt, den ich als zentrales Moment der Amicus-Amelius-Konzeption betrachte. Das Prinzip der gegenseitigen Treuebeweise wird allerdings auch in Olivier und Artus erfüllt, da Olivier später seine Kinder für den Freund opfert. So sind in der Tat starke Parallelen zwischen Amicus und Amelius und Olivier und Artus zu verzeichnen, aber die Differenzen beim ersten Freundschaftstest zeigen ein abweichendes Erzählmodell, so dass Olivier und Artus nicht unter den Amicus-AmeliusTexten zu subsumieren ist. In der mittelenglischen Freundschaftsgeschichte von Eger and Grime aus dem 15. Jahrhundert findet ein Identitätentausch zwischen den Gefährten statt: Grime kämpft an der Stelle seines kranken Freundes gegen einen übermächtigen Widersacher, den er schließlich besiegen kann. Eger hütet in dieser Zeit mit zugezogenen Vorhängen das Bett und gibt vor, Grime zu sein.28 Der gemeinsame Identitätentausch geht jedoch weder mit Leibesgleichheit noch mit einem Kindesopfer einher, wie es in den Amicus-Amelius-Texten der Fall ist. Andere Freundschaftsgeschichten, wie die von Athis und Prophilias29 bzw. Titus und Gisippus, weisen andere Freundschaftsbeweise als Amicus und Amelius auf: Hier sind es die Abtretung der Braut und die Errettung des zum Tode verurteilten Gefährten, die als Prüfungssituationen fungieren.30 Hinzu kommt, dass die Freunde hier nicht explizit über körperliche Ähnlichkeit verfügen.31 Auch in Lantfrid und Cobbo werden Treue- bzw. Freundschaftsbeweise erbracht, allerdings wiederum andere als in Amicus und Amelius: Lantfrid übereignet Cobbo auf dessen Wunsch seine eigene Frau, erhält sie aber unversehrt zurück.32 _____________ 28 29
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Vgl. Eger and Grime in der Edition von Caldwell 1933, MS. Huntington V. 689-2366 und MS. Percy V. 485-1336. Vgl. die mittelhochdeutschen Fragmente von Athis und Prophilias, die von Kraus 1926 herausgegeben hat, sowie den altfranzösischen Text Li romanz d’Athis et Prophilias (L’estoire d’Athenes) in der Ausgabe von Hilka 1912 und 1916. Der Geschichte von Athis und Prophilias entspricht die von Titus und Gisippus, deren bekannteste Form die von Boccaccio (8. Geschichte des 10. Tages des Decamerone) ist. Für die Übersetzung der Geschichte von Heinrich Steinhöwel siehe in seinem Decameron in der Ausgabe von Keller 1860/1968, S. 626-641. Vgl. auch Frenzel 81992, S. 786-791. Zum frühneuzeitlichen Titus-Gisippus-Freundschaftsmodell siehe Hutson 1994, S. 52f., S. 56-64, S. 77f. und S. 84f. Dafür werden andere Gemeinsamkeiten ausführlich beschrieben. Vgl. etwa in Steinhöwels Erzählung S. 626,32-627,9. Hutson 1994, S. 57, weist darauf hin, dass in der mittelenglischen Fassung von Titus und Gisippus von Sir Thomas Elyot die Freunde auch gleich aussehen. Vgl. Vollmann 21985.
8
Einleitung
Ebenfalls auszunehmen sind stark komprimierte Zusammenfassungen der Amicus-Amelius-Geschichte wie die in Hartmann Schedels weltchronik (1493),33 wo zwar die Namen der Helden auf außergewöhnliche geselschaft rekurrieren, von der Spezifik der Geschichte aber fast nichts übriggeblieben ist.34 Desgleichen können bloße Erwähnungen von Amicus und Amelius nicht berücksichtigt werden, wie in De sancto Pelagio papa der Legenda Aurea,35 im Karl Meinet36 oder in der französischen chanson de geste Jourdain de Blaye (um 1200), die die Geschichte von Amis Enkel erzählt.37 Um die – trotz dieser Ausschließungen – umfangreiche Ansammlung verschiedenster Amicus-Amelius-Texte zu ordnen, hat sich in der Forschung neben der Einteilung hinsichtlich zeitlicher und regionaler Herkunft ein grundlegender Klassifizierungsansatz durchgesetzt: die gattungsspezifische Kategorisierung. Die immer noch grundlegende Studie zu dieser Thematik hat MacEdward Leach 1937 vorgelegt.38 Er unterteilt die Amicus-Amelius-Texte hinsichtlich ihrer Gattungszugehörigkeit in zwei Gruppen: die romantic und die hagiographic group.39 Diese Begrifflichkeit ist jedoch irreführend, denn Leachs Unterscheidung beruht weniger auf einer _____________ 33 34
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Vgl. Schedels Weltchronik, Bl. 164v. Die Handlungsorganisation wird reduziert auf: Die haben darnach in irem leben wunderliche henndel geFbt (Bl. 164v). Einzig einige Elemente der hagiographischen Versionen wie die Papsttaufe und das gemeinsame Grab sind übriggeblieben; bei diesen handelt es sich jedoch um fakultative Elemente der Narration. De sancto Pelagio papa ist an dieser Stelle an den Kampfhandlungen Karls gegen den Langobardenkönig Desiderius interessiert. Diese tauchen in einigen elaborierten Amicus-AmeliusViten ebenfalls auf. Erant tunc in exercitu Caroli Amicus et Amelius strenuissimi milites Christi, quorum miri actus leguntur, qui apud Mortariam, ubi Langobardos Carolus superavit, ceciderunt [...] (Jacobus de Voragine, De sancto Pelagio papa, Cap. clxxxi, S. 834f.). („Zu der Zeit waren in Caroli Heer auch die beiden tapfern Streiter Christi Amicus und Amelius, von denen man wundersame Taten lieset; die fielen bei Mortaria, da Carolus die Longobarden schlug“, Benz 131999, S. 746.) Für die gesamte deutsche Übersetzung Von Sanct Pelagius dem Papst siehe Benz 131999, S. 958-984. Vgl. in der Ausgabe von Keller 1858/1971, A 306,46-309,62; siehe ferner Oettli 1986a, S. 73. Allerdings wird auf diese chanson de geste im Zusammenhang des Strukturwandels der Beziehungsmodelle und hinsichtlich der Doppelgängerkonzeption zurückzukommen sein. Vgl. Kap. IV. Leach 1937/1990, S. ix-xxxii. Kölbing spricht bereits 1884 von der romantischen vs. der legendarischen Auffassung einzelner Texte (S. cxix). Die deutsche Übersetzung des ersten Terminus mit ‚romanhaft‘ (vgl. Schnell 1984, S. 44, Anm. 51) ist terminologisch problematisch, da das englische romantic von romance abgeleitet ist, einem Gattungsbegriff, der auf viele Texte der mittelenglischen Literatur appliziert wird, ohne dass in der Forschung eine einheitliche Definition dieses Genres vorhanden wäre. Allerdings scheint der Terminus der romance sich zumindest teilweise mit dem germanistischen Gattungsbegriff des höfischen Romans zu decken, weshalb die Übersetzung ‚romanhaft‘ auf dieser Ebene dann wieder zulässig wäre. Vgl. exemplarisch zum mediävistischen romance-Begriff Calin 1994, S. 427-457; zur mittelenglischen romance Amys and Amylion unter Gattungsaspekten vgl. Kratins 1966 und Hume 1973.
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tatsächlichen Genre-Analyse als vielmehr auf der Basis elementarer narrativer Varianten und damit verbundener Deutungsmuster. Leach beschreibt die romantic versions als prinzipiell säkulare, didaktische Entwürfe idealer Freundschaft,40 die hagiographischen Bearbeitungen dagegen als „exposition of the loyalty of the friends“, die mit der Bindung der Freunde an den Karlshof sowie ihrer Darstellung als „pious sons of the Church and martyrs“41 einhergeht. Das maßgebliche Kriterium der Zuordnung eines Textes zur legendenhaften Gruppe scheint für Leach seine Abhängigkeit von der mittellateinischen Vita sanctorum Amici et Amelii (12. Jahrhundert) zu sein. Diese Fassung bildet gleichermaßen mastertext und „ultimate source“42 aller späteren hagiographischen Versionen. Spezifische narrative Schemata wie die Taufe der Helden durch den Papst und ihr glorreicher Tod im Feldzug gegen den Langobardenkönig Desiderius stellen die Zugehörigkeit zur hagiographischen Gruppe her,43 während sich die romantic group durch die Abwesenheit derartiger gemeinsamer Erzählelemente zu konstituieren scheint. Der recht einheitlichen hagiographischen Gruppe können somit die heterogenen ‚romanhaften‘ Texte gegenübergestellt werden.44 Grundsätzlich bildet diese Zweiteilung des Amicus-Amelius-Korpus zwar eine praktikable Grundlage für eine Klassifizierung der Texte,45 allerdings ist die Gattungszugehörigkeit gerade kein durchgängig geeignetes Einteilungs- bzw. Bezeichnungskriterium,46 da sie eine Einheitlichkeit suggeriert, die so nicht existiert. Stattdessen zeichnet sich eher eine Gruppierung der Texte hinsichtlich ihrer Verortung innerhalb bestimmter _____________ 40 41 42 43
44 45
46
Leach 1937/1990, S. xiv. Beide Zitate in Leach 1937/1990, S. xvi. Leach 1937/1990, S. xvi. Leach 1937/1990, S. xvi. Zur Kritik an dieser Annahme vgl. Hume 1970 mit einer Analyse der beiden altnordischen Fassungen. Anhand der Untersuchungsparameter structure und perspective will sie die Inadäquatheit der klassischen Einteilung zeigen, da die beiden von ihr untersuchten Texte eher eine romance-Struktur bzw. eine weltliche Perspektive aufweisen. Leach 1937/1990, S. xiv, erweckt den Eindruck, die Struktur der mittelenglischen Fassung gelte für alle romantic versions, obwohl dies nicht zutrifft. Die Mehrheit der Forschung folgt dieser Einteilung, weil sie sich eingebürgert hat, obwohl eine grundsätzliche Skepsis zu verzeichnen ist, da alle Texte mit christlichen bzw. religiösen Kategorien operieren. Zuweilen werden andere Bezeichnungen der Gruppen gewählt. Planche 1977 stellt die Zweiteilung der Texte in romanhafte und hagiographische in Frage. Sie sortiert die Texte in sechs Gruppen ein und analysiert 52 Motive in den einzelnen Gruppen. Diese große Anzahl von Erzählelementen verspricht zunächst zwar detaillierte Untersuchungsergebnisse, wird diesem Anspruch aber infolge von Unübersichtlichkeit und daraus resultierender Ungenauigkeit nicht gerecht. Wie bereits angedeutet, beruht Leachs Einteilung nicht wirklich auf Gattungsspezifika, die Gattungsbezeichnungen werden stattdessen einfach benutzt, um die beiden Gruppen zu bezeichnen.
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Einleitung
Weltdeutungsmodelle ab.47 Gedachte Ordnungen und Ideensysteme organisieren als Formen kulturellen Wissens Realitätserfahrungen und ermöglichen durch ihre Strukturierung von Wirklichkeit die Lesbarkeit der Welt. Bei diesen „imaginären Mustern der Wahrnehmung“48 handelt es sich um ein Ensemble von Deutungsmustern, Sinngebungsmodellen oder Selbstverständigungsformen, „in denen ‚Wirklichkeit‘ jeweils ‚gewusst‘“, angeeignet, gedeutet, reflektiert und verstanden wird und die besonderen Regeln ihrer Bauform und Funktionsweisen folgen. Die spezifische Leistung dieser imaginären Ordnungen besteht darin, daß sie die Wahrnehmung und Deutung unterschiedlicher Bereiche von Wirklichkeit vorstrukturieren, sie damit erfahrbar und verstehbar machen. Sie dienen, anders gesagt, der Orientierung im diffusen Feld der ‚Wirklichkeit‘, d.h. der Wissensüberlieferung, der objektiven Gegebenheiten und materiellen Strukturen, sind aber ihrerseits ebenfalls an die historischen Möglichkeiten des Denkens gebunden.49
Aufs Engste mit diesen Denkmustern verbunden sind die Kategorie des Imaginären50 sowie die symbolischen Ordnungen des Wissens:51 Während sich diese stark mit den Sinnstiftungsmodellen überschneiden und als „historische Symbolformen“52 die Wahrnehmbarkeit der Welt gewährleisten sollen, bezieht sich jene sich vor allem auf „das kreative Vermögen des Menschen“53 und aktive Prozesse der Sinnbildung. Jan-Dirk Müller beschreibt als das Imaginäre „nicht nur Phantasmen, die aus der gewöhnlichen Alltagswelt hinausführen, sondern im Gegenteil die Muster, in denen wir diese Alltagswelt erfahren, mental organisieren, mit denen wir sie zu beeinflussen suchen, sie zum Ziel unserer Erwartungen machen“.54 Castoriadis bestimmt das Imaginäre als „wesentlich indeterminierte Schöpfung von Gestalten/Formen/Bildern, die jeder Rede von ‚etwas‘ zugrundeliegen“.55 Hans-Jürgen Bachorski präzisiert, indem er Diskurse, die sich ihrerseits aus „Praktiken des Handelns, Denkens und Fühlens“ formieren, als Konstituenten des Imaginären identifiziert: „Die Gesamtheit der Dis_____________ 47 48 49 50 51
52 53 54 55
Implizit ist diese Einteilung bereits in Leachs Ausführungen angelegt. Friedrich 2002, S. 98. Bachorski / Röcke 1995, S. 10. Vgl. zur Kategorie des Imaginären Le Goff 1990, S. 7-14 und passim, sowie Jöckel 1987. Vgl. Friedrich 2002. Friedrich beschreibt die symbolischen Ordnungen des Wissens als eine spezifische Form der Ordnung von Wissen. Als weitere Wissensordnungen analysiert Friedrich soziale Ordnungen des Wissens, Ordnungen der Wissenschaften und Ordnungen des Textes. Friedrich 2002, S. 98. Jöckel 1987, S. 152. Müller 2003, S. 41. Castoriadis 1984, S. 12; Hervorhebung getilgt.
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kurse einer Gesellschaft wäre dann als ihr ideologisches Weltmodell oder ihr ‚Imaginäres‘ zu beschreiben.“56 Mit dem Diskursbegriff,57 der auf institutionell verankerte und sozial wirksame Aussagensysteme verweist, die an spezifische diskursive Praktiken gebunden sind, rückt der Aspekt der Erzeugung von ‚Realität‘ in den Blick: Diskurse bringen Sinnzusammenhänge hervor, die Wirklichkeit produzieren. Insgesamt strukturieren die hier besprochenen Kategorien in ihrer spezifischen historischen Ausprägung die gesellschaftliche Wirklichkeit ebenso wie die Kulturproduktion. Die ständige Wechselbeziehung zwischen der Produktivität kollektiver Logiken und Dispositionen sowie der Modellierungskraft literarischer Texte, die ihrerseits auf die Verstehensmodelle und Deutungsmuster von Welt einwirken, ist als komplexer Prozess der Wirklichkeitsproduktion und -aneignung zu betrachten, der auch literarische Entwürfe miteinschließt. Selbst wenn – wie in den Amicus-Amelius-Texten – ein vorgegebener literarischer Stoff bearbeitet und je neu modelliert wird, so werden auch hier Vorstellungen und Bilder verhandelt, die in historischen Bedeutungssystemen verankert sind, auf ‚Realität‘ einwirken und selbst eine eigene Wirklichkeit bilden. Die Varianten des Amicus-Amelius-Freundschaftsmodells, Momente des Handlungsverlaufs bis hin zum gesamten textuellen Sinnhorizont der einzelnen Texte entsprechen zwei verschiedenen kollektiven Deutungssystemen: Einige Texte sind vornehmlich innerhalb einer adlig-feudalen, bisweilen höfischen Zeichenordnung58 angesiedelt, andere dagegen favorisieren das Modell religiöser Deutung.59 Diese beiden Sinnsysteme bilden _____________ 56 57
58
59
Bachorski 2006, beide Zitate auf S. 23. Bachorksi betont vor allem die Diskontinuitäten, nicht die Geschlossenheit eines solchen Modells. Siehe zur historischen Diskursanalyse etwa Foucault 1974 und Foucault 1998. Vgl. grundsätzlich zum Diskursbegriff mit seinen jeweiligen theoretischen Voraussetzungen Mills 1997. Wenn im Folgenden von dieser Textgruppe als ‚adlig-höfische‘ die Rede ist, dann heißt dies, dass sowohl Texte mit eher feudaladligen, als auch Texte mit eher höfischen Sinngebungsmodellen sich in dieser Gruppe befinden. Differenzen zwischen den Texten bleiben selbstverständlich trotz der Zuweisung zu einer Gruppe bestehen. In der Forschung finden sich bereits ähnliche Benennungen: So wählen Rosenberg / Danon 1996, S. 3, die Bezeichnung secular statt romantic. Feistner 1989 spricht von „höfisch akzentuierenden Texten“ (S. 119) und der „höfische[n] Rezeptionsweise dieser Werke, die der ästhetisch-künstlerischen Gestaltung der Geschichte den Primat vor einer dominant geistlichen oder exempelhaften Stilisierung einräumen“ (S. 117f.). Grundsätzlich stellt Feistner aber die Leach folgende Einteilung der Amicus-Amelius-Texte in Frage und erprobt in ihrem Aufsatz die Analyse der Texte hinsichtlich gattungs- und rezeptionsspezifischer Aspekte, wobei sie von einer Gruppenbildung weitgehend absieht und die Besonderheiten der Einzeltexte in den Mittelpunkt stellt. In einem anderen Beitrag untersucht Feistner (2001) die Gattungsspezifika von Legende vs. Märchen hinsichtlich der Wirklichkeitskonzepte, die diesen Genres zugrundeliegen, und stellt die Vita Amici et Amelii ihren märchenhaften Verwandten, wie Der getreue Johannes, gegenüber.
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Einleitung
die zentralen Modelle mittelalterlicher Gesellschaften zur Wahrnehmung und Deutung von Wirklichkeit60 und liegen auch den Varianten der Amicus-Amelius-Geschichte zugrunde. Die unterschiedlichen Formen kultureller Wissensorganisation strukturieren sowohl die narrative Welt der Texte als auch die Gliederung des Textkorpus. Zugleich ordnen und formen die Amicus-Amelius-Texte die aufgegriffenen Deutungsmodelle, literarisieren sie durch spezifische Erzählstrategien und perspektivieren sie hinsichtlich ihrer narrativen Interessen. Innerhalb des Amicus-Amelius-Textkorpus generieren der adlig-höfische wie der religiös-christliche systematische Zusammenhang historischer Deutungs- und Verstehensmuster jeweils spezifische Erzählstrukturen und thematische Fokussierungen, die als formale Indikatoren auf narrativer Ebene eine Unterscheidung und Einteilung der Texte ermöglichen. Das allen Texten des Korpus gemeinsame Erzählgerüst erfährt jeweils signifikante Ausprägungen und Schwerpunktverlagerungen hinsichtlich der je unterschiedlichen kollektiven Logiken, die sie aufgreifen und mitkonstituieren. So verknüpfen die Texte innerhalb eines religiös deutenden Sinnhorizontes die Freundschaft zwischen den Helden mit spezifischen Erzählstrukturen, die religiöse Bedeutung transportieren: Die Reise nach Rom, die gemeinsame Taufe der Knaben durch den Papst und die identischen Taufgeschenke (Becher), die später zu Erkennungszeichen umfunktioniert werden, sowie die Begegnung mit einem Pilger, der die Zusammenführung der sich verzweifelt suchenden Freunde einleitet, produzieren eine wesensmäßige Verbindung der Freundschaft mit religiösen Praktiken und Verhaltensmodellen. Diesen grundlegenden Formen der narrativen Verkopplung ritterlicher Freundschaft und christlicher Elemente können weitere narrative Strukturelemente zugeordnet werden. So bilden der Tod der Protagonisten im Kampf gegen die Langobarden und das Grabwunder die abschließende Erzählsequenz der elaborierten und einiger mittellanger religiös deutender Texte. Hinzu treten in einigen Texten weitere christlichreligiöse Handlungsmuster und mehr oder weniger deutlich markierte didaktische Passagen, die die Kriegerfreundschaft als christliche Beziehungsform kennzeichnen.61 In den adlig-höfischen Texten fehlen diese narrativen Schemata: Weder die Romreise noch die Papsttaufe werden durchgeführt; die identischen Becher sind – sofern vorhanden – Freundschaftszeichen und keine Taufgeschenke. Die jahrelange Suche und der Pilger fehlen ebenso wie _____________ 60 61
Vgl. Duby 1990d, S. 61. Dazu gehören die Ausführungen zum Verhaltenscodex der militia Christi, die Amicus von seinem sterbenden Vater vorgetragen werden, und die christlich überformten Freundschaftsschließungsrituale im Erwachsenenalter. Vgl. Kap. I.1.2 und II.1.1.
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Langobardenkreuzzug und Tod im Kampf.62 Generell ist nahezu eine Absenz von zusätzlichen Erzählstrukturen zu beobachten, die diese Textgruppe als solche konstituieren könnten. Es gibt zwar durchgehende Erzähllinien: So konstituieren nicht der Weg nach Rom oder die Taufe durch den Papst die Freundschaft, stattdessen führen der gemeinsame Dienst und die ritterliche Ausbildung am Hofe eines Herrschers Amicus und Amelius zusammen. Der Aufenthalt am Herrscherhof existiert jedoch auch in den religiös deutenden Texten, nur dass dort diese Sequenz nicht den topographischen Beginn der Freundschaft markiert, sondern an die Papsttaufe und die spätere soziale Isolation der Helden anschließt. Die Texte, die in einem eher adlig-höfischen Universum angesiedelt sind, sind demnach nicht durch übergreifende spezifische narrative Strukturen gekennzeichnet.63 Diese Textgruppe lässt sich dagegen durch bestimmte thematische Setzungen charakterisieren: Im Gegensatz zu den religiösen Bearbeitungen werden neben dem Modell der Männerfreundschaft auch andere Beziehungsformen sehr detailliert und in den einzelnen Texten überdies stark voneinander abweichend dargestellt.64 Neben den literarischen Entwürfen verwandtschaftlicher und herrschaftlicher Vergesellschaftungsmodelle bilden die – diskontinuierlichen und inkohärenten – Imaginationen des Geschlechterverhältnisses ein zentrales Element der dieser Gruppe zugehörigen Texte, das in den Fassungen mit religiösem Sinnhorizont praktisch inexistent ist. Grundsätzlich ist in fast allen Texten eine Vermischung adliger und religiöser Diskurse, die auf spezifische Weise literarisiert werden, zu beobachten: So sind die Helden einerseits stets Ritter und so – auch in den religiös deutenden Texten – mit der Formierung adliger Identität befasst. Andererseits ist auch in den Bearbeitungen, die ein vorrangig adliges Universum entwerfen, fast ausnahmslos Gott vonnöten, um das Heilmittel für den Aussatz zu offenbaren und die getöteten Kinder auferstehen zu lassen.65 Hinsichtlich der Erzählstruktur, der Sinnkonstitution und der Iden_____________ 62
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65
Allerdings erzählen einige Texte dieser Gruppe trotzdem über den gemeinsamen Tod der Freunde, der an religiöse Handlungsmodelle geknüpft sein kann, so etwa die anglonormannische Fassung und die mittelenglische romance. Vgl. Kap. I.3.2 und I.3.3. Zwar bilden die einzelnen Texte sehr wohl spezifische Erzählstrukturen aus; diese wirken aber nicht gruppenbildend. Eine Ausnahme bildet die H-Redaktion der Historia septem sapientum, die innerhalb dieser Textgruppe aufgrund eigener narrativer Modellbildung als eigenständige Untergruppe beschrieben werden kann. Außerdem lässt sich – nicht überraschend – ein größeres Interesse dieser Textgruppe an Aktivitäten wie der ritterlichen Ausbildung oder dem Kampf beobachten. Die spezifisch adlig-höfische Handlungslogik schlägt sich mithin in der größeren Gewichtung einzelner Komponenten der ritterlichen Freundschaft nieder. Die mittellateinische Version des Radulfus Tortarius sowie eine lateinische und eine deutsche Bearbeitung der Historia septem sapientum (die zur lateinischen Gruppe IV gehörende Hs. München, Universitätsbibliothek, 2° Cod. ms. 672 und Gießen 104) kommen ohne
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Einleitung
titätsbildung der Protagonisten dominiert jedoch meist jeweils ein Sinnsystem. Der sehr heterogenen adlig-höfischen Textgruppe (Gruppe 1) steht somit eine homogenere, religiös deutende gegenüber (Gruppe 2).66 Die Heterogenität der ersten Gruppe resultiert sowohl aus den varianten Erzählstrukturen als auch aus der differierenden Gattungszugehörigkeit der einzelnen Bearbeitungen. Demgegenüber schlägt sich die Homogenität der zweiten Gruppe nicht nur in den bereits erwähnten übereinstimmenden narrativen Bauprinzipien nieder, sondern damit einhergehend auch in einer ‚hagiographischen Tendenz‘: Mit der Vita sanctorum Amici et Amelii steht am Anfang dieser Gruppe ein legendarischer Text, dessen Gattungszugehörigkeit sich über die wiederkehrenden Strukturelemente zumindest implizit auf die anderen Fassungen auswirkt. Insofern ist eine genremäßige Kennzeichnung der Texte dieser Gruppe als ‚hagiographisch‘ oder ‚legendenhaft‘ statthaft. Die beiden Textgruppen entwickeln jeweils unterschiedliche literarische Strategien zur Stiftung und Deutung der Kriegerfreundschaft und weiterer Beziehungsformen. Das Textkorpus, das ich im Folgenden vorstelle und auf das sich meine Untersuchungen beziehen, bildet eine repräsentative Auswahl von Amicus-Amelius-Texten. Die einzelnen Textzeugen sind bislang nur unvollständig aufgearbeitet, so dass die gesamte Überlieferungssituation unzureichend geklärt ist.67 Zur ersten Gruppe, also zu den adlig-höfischen Texten, die untereinander zum Teil stark differieren, gehört als erstes die im späten 11. Jahrhundert entstandene mittellateinische Versfassung von Radulfus Tortarius, einem Mönch aus dem Kloster Fleury an der Loire. Die Amicus-AmeliusGeschichte bildet den Hauptteil seiner Epistula II Ad Bernardum.68 Obgleich dies der älteste überlieferte Text ist, geht die Forschung davon aus, dass die Amicus-Amelius-Tradition älter ist. Man glaubt, einen zusammenfassenden Erzählstil zu erkennen, der auf eine bereits bekannte Geschich_____________
66 67
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Gott aus, da ein nicht christlich konnotiertes Wunder bzw. medizinisches Wissen den Tod der Kinder abwendet. Vgl. Ogle / Schullian 1933, V. 303-320, Roth 2004, S. 652, Z. 242249, und Steinmetz 2001, S. 72f., Z. 390-441. Die Bezeichnungen Gruppe 1, 2 und 3 dienen ausschließlich der Vereinfachung, sie sollen keinesfalls eine wie auch immer geartete Priorität abbilden. Eine solche Klärung kann im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden. Zu weiteren Hss. siehe die Zusammenstellungen der Amicus-Amelius-Texte bei Leach 1937/1990, S. ixxiv, Oettli 1986a, S. 131-139, und Woledge 1939, S. 433-444. Siehe ferner Denecke 1977 und Feistner 22004. – Hinzu kommt, dass einige der Texte nur in sehr alten Ausgaben, die modernen Editionsprinzipien nicht mehr entsprechen dürften, zugänglich sind. Insgesamt sind – neben anderen Schriften – elf Briefe von Radulfus Tortarius in der Hs. Vatikan, Vat. lat. Reginensis 1357 überliefert. Vgl. Ogle / Schullian 1933, S. xiii; zur Beschreibung der Hs. vgl. S. xxxvi-xxxix. Eine Zusammenfassung des zweiten Briefes findet sich auf S. xvf., die Edition auf S. 251-267. Die Ausgabe von Hofmann 1882, S. xxi-xxxii, weicht etwas ab, da er die 116 einleitenden Verse des Briefes fortlässt und erst direkt mit der Amicus-Amelius-Geschichte beginnt.
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te verweist.69 Die anglonormannische Verserzählung Amys e Amillyoun ist ebenfalls der ersten Gruppe zuzuordnen. Die älteste Handschrift stammt aus der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts.70 Kölbing und Fukui gehen von einem Entstehungsdatum dieser Amicus-Amelius-Fassung um 1200 aus.71 Die anglonormannische Bearbeitung72 verfügt über inhaltliche Ähnlichkeiten mit der mittelenglischen romance Amys and Amylion: Beide Texte greifen Erzählmuster auf, die im Amicus-Amelius-Korpus nur ihnen eignen. Das älteste Manuskript, in dem die mittelenglische romance überliefert ist, wird in die 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts datiert.73 Leach geht davon aus, dass diese Fassung der Amicus-Amelius-Geschichte bereits aus dem 12. Jahrhundert stammt, Fukui dagegen datiert sie ins späte 13. Jahrhundert.74 Weiterhin ist eine kurze französische Prosafassung aus dem 14. Jahrhundert, die unter ihrer Signatur Lille 130 bekannt ist,75 der ersten Gruppe _____________ 69 70
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75
Vgl. etwa Brockington 1998, S. 311. Vgl. Fukui 1990, S. 1. – De facto sind es zwei unterschiedliche Versionen, in die die drei Handschriften zerfallen. Vgl. Kölbing 1884, S. lxxiv, und Oettli 1986a, S. 106f. und S. 138. Die von Fukui 1990 besorgte Edition der Hs. London, British Library, Royal 12. c. XII, fol. 69ra-76rb, Ende des 13. oder Anfang des 14. Jahrhunderts, gehört mit der Hs. Cambridge, Corpus Christi College, 50, fol. 94vb-102ra, 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts, die die Grundlage für Kölbings Edition (1884, S. 109-187, vgl. S. lxxxvi) bildet, in eine Gruppe. Das Fragment Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, 345 (olim Durlach 38), fol. 52ra-61vb, Ende des 14. Jahrhunderts, ist nicht vollständig ediert, allerdings druckt Kölbing im Apparat umfangreiche Teile aus dieser Hs. ab. Im Folgenden beziehe ich mich auf die erste – da zugängliche – Version, verweise aber an gegebener Stelle nach Kölbing 1884 auf Varianten der zweiten Version. Für einen ausführlichen Vergleich der narrativen Strukturen beider Versionen vgl. Kölbing 1884, S. cxxi-cxxix. Vgl. Kölbing 1884, S. lxxiii, und Fukui 1990, S. 1. Die Begriffe ‚Fassung‘, ‚Bearbeitung‘ u.ä. verwende ich synonym. Leach 1937/1990, S. lxxxixf.; vgl. auch Le Saux 1993, S. 15f. Bei dieser Hs. handelt es sich um (A) Edinburgh, National Library of Scotland, MS Auchinleck W.4.1. (Adv. 19.2.1.), fol. 48d-61a. Leach 1937/1990 ediert die Hs. A, von der sowohl der Beginn als auch das Ende fehlen. Die fehlenden Stellen ergänzt Leach aus den übrigen Hss. (S) London, British Library, MS Egerton 2862, fol. 135a-147c (Ende des 14. Jahrhunderts), und (D) Oxford, Bodleian Library, MS Douce 326 (Bodleian 21900), fol. 1-13 (2. Hälfte des 15. Jahrhunderts). Die Hs. (H) London, British Library, MS Harley 2386, fol. 131a-137d und 138 (15. Jahrhundert), vernachlässigt er weitgehend. Le Saux 1993 ediert die Hs. D, die als einzige einen kompletten Text liefert. Im Apparat bietet sie Varianten aus den anderen Hss. Zu den Hss. und weiteren Editionen siehe Leach 1937/1990, S. lxxxix-cii, und Le Saux 1993, S. 12-23. – Im Folgenden zitiere ich nach der Ausgabe von Le Saux 1993. An Stellen, an denen die Hs. A zusätzliche Strophen bietet, ziehe ich Leachs Ausgabe heran. Die romance ist in zwölfzeilige stanzas gegliedert. Zu Metrik und Reimschema vgl. Le Saux 1993, S. 1214. Leach ist davon überzeugt, dass die englische Form der Geschichte mindestens so alt ist wie die lateinische Vita (12. Jahrhundert), vgl. Leach 1937/1990, S. xx. Vgl. zu Fukuis Datierung Fukui 1990, S. 1. Lille, Bibliothèque Municipale 130, fol. 75-78. Vgl. Planche 1977, S. 243. Eine Edition liegt mit Woledge 1939, S. 452-456, vor. Eine frühere Edition von Lille 130 hat bereits Mone 1836, Sp. 161-167, vorgelegt. Leach 1937/1990, S. xii, ordnet Lille 130 der hagiographi-
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Einleitung
zuzuweisen. Sie beginnt mit den Worten: Ici parole de la grant amour qui fu entre Amiles et Amis.76 Schließlich sind auch Konrads von Würzburg Engelhard aus der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts77 und die in der Historia septem sapientum enthaltene Version der Amicus-Amelius-Geschichte78 zu dieser Gruppe zu zählen.79 Die Historia septem sapientum ist ein Erzählzyklus, in dem einzelne Geschichten durch einen erzählerischen Rahmen miteinander verknüpft sind.80 Die Rahmengeschichte ist wohl bereits um 900 im persischen Raum entstanden.81 In der Redaktion H, die in der europäischen Literatur am weitesten verbreitet war,82 findet sich die Amicus-Amelius-Geschichte. In der Forschung wird sie in diesem Zusammenhang gemeinhin mit Amici betitelt.83 Sie wurde in die bereits bestehende Geschichte Vaticinium eingefügt. Das heißt, dass die Freundschaftsgeschichte mit einer Rahmenerzählung versehen wurde; zudem existiert die größere Rahmenerzählung, die _____________ 76 77
78 79
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81 82 83
schen Gruppe zu, obgleich dieser Text keine der spezifischen Erzählstrukturen aufweist, die diese Gruppe kennzeichnen. Woledge 1939, S. 452. „Hier wird von der großen Liebe, die zwischen Amiles und Amis war, gesprochen.“ Die grundsätzliche Problematik der Überlieferungssituation des Engelhard ist zu bedenken: Bekanntlich ist dieser Text ausschließlich in einem Druck von Kilian Han aus dem Jahre 1573 überliefert und durch eine Rückübersetzung ins Mittelhochdeutsche rekonstruiert worden. Ute von Bloh 1998, S. 317, spricht sich gegen den rekonstruierten Text aus, da diverse Texteingriffe durch „druckspezifische Konventionen der Textpräsentation [...] der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts“ Konrads Text stark verändert haben dürften. Dieses ernst zu nehmende Problem ist sicher im Blick zu behalten, nichtsdestotrotz folge ich der Konvention, den rekonstruierten Engelhard als Textgrundlage (in der Edition von Reiffenstein 1982) zu benutzen, da ich ihn innerhalb der Amicus-Amelius-Tradition als spezifisch (spät)höfischen Entwurf des 13. Jahrhunderts lese und nicht als frühneuzeitlichen Reflex auf ein vergangenes Wertesystem. Die Angemessenheit rekonstruierter Texte als Arbeitsgrundlage ist ein grundsätzliches Problem, das noch zu klären bleibt. Steinhoff 1987 hat den Druck nach dem Exemplar Berlin, SBB-PK, Yg 2861 R, in Abbildungen zugänglich gemacht. Zur überlieferungsgeschichtlichen Situation und zur Texttradition vgl. Gerdes 21992, Steinmetz 2000, S. 1-60, sowie Roth 2004, S. 1-204. Rein mutmaßlich würde wohl zusätzlich ein Text zur ersten Gruppe gehören, den Simon 2003, S. 252, erwähnt. Im Schafferbuch der Lübeckischen Zirkelgesellschaft wird in einer Spielliste für das Jahr 1460 ein Fastnachtspiel genannt, in dem die Freundschaftsgeschichte Van Amylgus unde Amycaz dramatisiert wurde. Die Bearbeitungen nennen die Einzelgeschichten narracio (Roth 2004, S. 427, Z. 1), exempel (Heidelberg, Cpg 149, Bl. 91v) oder bispel (Steinmetz 2001, S. 60, Z. 2). Zur Gattungsthematik vgl. Lundt 2002, S. 15-23. Vgl. Roth 2008, S. ix. Vgl. Roth 2004, S. 7. Goedeke 1864 hat die Titel der Binnenerzählungen der Historia septem sapientum eingeführt, allerdings noch ohne Amici.
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alle fünfzehn Binnenerzählungen miteinander verknüpft.84 In den anderen Versionen der Sieben Weisen Meister, die nicht zur H-Redaktion gehören, steht die Vaticinium-Geschichte für sich, also ohne die Amici-Erzählung. Die Vaticinium / Amici-Geschichte der H-Redaktion ist stets die letzte der verschiedenen Geschichten, die in der Historia septem sapientum erzählt wird. Die Protagonisten tragen hier die Namen Alexander und Lodovicus (bzw. volkssprachige Varianten).85 Diese Amicus-Amelius-Geschichte bildet im Amicus-Amelius-Korpus gleichsam eine eigene Untergruppe.86 Die älteste Handschrift, in der die Version H überliefert ist, ist Innsbruck, Universitätsbibliothek, Cod. 310, aus dem Jahre 1342. Sie ist in lateinischer Sprache verfasst.87 Detlef Roth hat gezeigt, dass sich die lateinischen Texte in vier Gruppen einteilen lassen.88 In vielen der lateinischen Handschriften finden sich – z.T. voneinander abweichende – geistliche Auslegungen zu den einzelnen Geschichten.89 Zur H-Redaktion der Historia septem sapientum gehörende deutschsprachige Texte90 sind etwa Hans von Bühels Dyocletianus Leben (1412)91 und die Fassung eines Anonymus aus dem 15. Jahrhundert;92 beides sind Versfassungen. Hinzu kommen _____________ 84
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90 91 92
Steinmetz 2000, S. 21, wirft die grundsätzliche Problematik der Herauslösung von Einzelgeschichten aus Sammlungen auf. Er geht davon aus, dass die Einzelerzählungen als „autonome Texte“ betrachtet werden können, die indes „durch den Bezug auf die Rahmenerzählung ihre Bedeutung ändern können“. Ich werde im Rahmen dieser Arbeit den Erzählrahmen der Historia septem sapientum sowie die anderen in ihr versammelten Geschichten außer Acht lassen müssen. Die Vaticinium / Amici-Geschichte betrachte ich ausschließlich innerhalb des Amicus-Amelius-Korpus. Ich benutze bei textübergreifenden Aussagen die lateinischen Namen der Protagonisten. Oettli betrachtet die Historia-septem-sapientum-Bearbeitungen als eigenständige Gruppe neben der romantic und der hagiographic group. Vgl. Oettli 1986a, S. 64, S. 74, S. 139 und passim, und Oettli 1976. Diese Hs. wurde von Roth 2004 als Leithandschrift der Gruppe I/II ediert. Vgl. Roth 2004. Er ediert drei Leithandschriften der Gruppen I/II, III und IV sowie die abweichende Hs. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 939. Laut Roth 2004, S. 139-199, verfügt Gruppe I über geistliche Auslegungen, in Gruppe II sind diese in etwa einem Drittel der Hss. zu finden, in Gruppe IV dagegen gibt es keine solchen Reductiones. Gruppe III überliefert abweichende Auslegungen. Ein Unterschied zwischen den Gruppen besteht auch in der Position, an der die Reductiones in den Text eingefügt sind. Eine Ausnahme bildet die Hs. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 939, 15. Jh., die ausschließlich geistliche Auslegungen, aber nicht die einzelnen Exempel selbst aufweist. – Die jeweiligen Vaticinium / Amici-Geschichten befinden sich Roths Ausgabe auf S. 427-475 (Gruppe I / II, Reductio S. 477-481), S. 528-539 (Gruppe III, mit integrierter dreimaliger Moralitas) und S. 637-656 (Gruppe IV). Die Reductio in der St. Gallener Hs. steht auf S. 669671. – In seiner älteren Edition der Innsbrucker Hs. hat Buchner 1889 die geistlichen Auslegungen der Erzählungen weggelassen. Die folgenden Texte sind eine Auswahl. Vgl. Gerdes 21992 und Roth 2008, S. ix-xxvi. Die Edition der Hs. Basel, Universitätsbibliothek, cod. O. III. 14 stammt von Keller 1841. Die Vaticinium / Amici-Geschichte befindet sich in V. 7238-9336. Keller 1846 hat den Text nach der Hs. Erlangen, UB, B 11, Bl. 22r –154v ediert. In dieser Ausgabe befindet sich die Vaticinium / Amici-Geschichte auf S. 198, V. 9 – S. 238, V. 8.
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Einleitung
mehrere Prosabearbeitungen, so die deutsche Historia septem sapientum in der Heidelberger Hs. Cpg 149 aus der Mitte des 15. Jahrhunderts,93 die hystoria von den syben wisen maistren vnd dem kaiser Dyocleciano in der Gießener Hs. 104 aus dem 15. Jahrhundert94 und Die Hystorij von Diocleciano im Codex 407 des Wiener Schottenstifts, der um 1470 entstanden ist.95 Eine bairische und eine elsässische Fassung, beide aus dem 15. Jahrhundert, gehören ebenfalls zu dieser Textgruppe.96 Paris hat 1876 die französische Prosafassung L’Ystoire des Sept Sages nach einem Druck von 1492 aus Genf ediert.97 Alle Amici-Fassungen der Historia septem sapientum weisen auf der Handlungsebene kaum Abweichungen voneinander auf, wenn sie auch sprachlich in unterschiedlichen Formen umgesetzt worden sind.98 Die Texte innerhalb eines vornehmlich christlich-religiösen Deutungszusammenhangs konstituieren – hinsichtlich Figurenkonstellation und Handlungsführung – eine sehr viel einheitlichere Textgruppe. Alle Texte, die zu dieser Gruppe gehören (Gruppe 2), verfügen über folgende zusätzliche Erzählkomplexe: 1. Kindheitsgeschichte mit religiöser Legitimation der Freundschaft: Geburt zweier gleicher Kinder von unterschiedlichen Eltern mit Statusdifferenz: Grafensohn (Amelius) und Rittersohn (Amicus); Treffen auf einer Romreise; gemeinsame Papsttaufe mit identischen Bechern als Taufgeschenken; Konstituierung der Freundschaft und temporäre Lebensgemeinschaft der Knaben.
_____________ 93 94 95 96
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Die Reihenfolge der Blätter dieser Hs. ist gestört. Die Vaticinium / Amici-Geschichte befindet sich auf Bl. 91v-106v, 60v-67v und 107r-108r. Diese Hs. liegt in einer Edition von Steinmetz 2001 vor. Die Vaticinium / Amici-Geschichte trägt die Nr. XV und befindet sich auf S. 60-75. Steinmetz 1999 hat diese Hs. in Abbildungen zugänglich gemacht. Die Vaticinium / AmiciGeschichte befindet sich auf Bl. 25v-39r. Beide hat Roth 2008 ediert, und zwar nach den Hss. Brno, Moravská knihovna / Universitní knihovna, Rkp 84 4°, und Colmar, Bibliothèque de la ville, ms. 55. Die Vaticinium / Amici-Geschichten befinden sich auf S. 148-189. Die Vaticinium / Amici-Geschichte befindet sich auf S. 162-196 in Paris 1876. Der andere in dieser Ausgabe abgedruckte Text gehört nicht zur H-Redaktion, enthält also nicht die betreffende Geschichte. Die lateinische Gruppe IV und die Gießener Hs. 104 weisen allerdings eine bedeutsame Abweichung auf, nicht nur von der Untergruppe, sondern auch hinsichtlich des gesamten Textkorpus: In der lateinischen Textgruppe IV, die gegenüber der Gruppe I/II einen gekürzten Text enthält, fehlen einige Passagen, so etwa das Blutopfer. Die Ärzte heilen Alexander, ohne dass Lodovicus einen Kindsmord begehen müsste; vgl. Roth 2004, S. 652, Z. 242-249. Streng genommen gehört diese Bearbeitung nach den oben aufgestellten Kriterien nicht mehr zu den Amicus-Amelius-Texten. – In Gießen 104 tötet Ludwig seine Kinder nicht, sondern nimmt ihnen jeweils die Hälfte ihres Blutes ab. Er versorgt sie, so dass sich die Kinder wieder erholen; vgl. die Ausgabe von Steinmetz 2001, S. 72f., Z. 390-441, sowie zu anderen kleineren Abweichungen dieser Handschrift ebd., S. xv.
Klassifizierung
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2. Langjährige Suche: Soziale Isolation beider Freunde: Amicus’ Herrschaftsverlust nach dem Tode seines Vaters und Amelius’ freiwilliger Fortgang aus seinem Verwandtschaftskollektiv; Amicus’ Ersatzfamilie: Heirat einer Ritterstochter; Hilfe des Pilgers; Zusammentreffen der Freunde; (nochmalige) Freundschaftsschließung.
Die Gruppe der religiös deutenden Texte kann ihrerseits in mehrere Untergruppen unterteilt werden. Unterschiede bestehen hier vor allem in der Ausführlichkeit der Stoffentfaltung. Die erste Untergruppe der religiösen Texte bilden die elaborierten Legenden. Die Entstehungszeit des ältesten Textes wird in das 12. Jahrhundert datiert.99 Als Modell für diese längere Fassung gilt die von Kölbing edierte Vita Amici et Amelii carissimorum in lateinischer Prosa nach der Handschrift Paris, Bibliothèque Nationale, anc. fonds lat. 6188, fol. 48-61, aus dem 14. Jahrhundert.100 Weiterhin sind auch die französische Prosabearbeitung Li Amitiez de Ami et Amile aus dem 13. Jahrhundert101 und die kymrische Prosafassung Kedymdeithyas Amlyn ac Amic aus dem 14. Jahrhundert102 zur längeren Vitaversion zu zählen. Hinzu kommen die beiden von Rosenfeld edierten Eichstätter Fragmente einer mittelhochdeutschen Verslegende aus dem 13. Jahrhundert.103 Mit Ausnahme dieser Fragmente bieten alle elaborierten hagiographischen Texte eine ausführlichere Schilderung der Erzählkomplexe, die für die religiös deutenden Texte konstitutiv sind. Zusätzlich enthalten diese Viten eine Nachgeschichte über Karls Krieg gegen die Langobarden, in dem Amicus und Amelius getötet werden, sowie ein Grabwunder, das die beiden separat beerdigten Körper der Freunde im Tode endgültig vereint.104 _____________ 99 Vgl. Bédier 1885 und Leach 1937/1990, S. xvi und S. xix. 100 Kölbing 1884, S. xcvii-cx. Eine leicht davon abweichende Fassung der Hs. St. Bertin 776 in St. Omer aus dem 13. Jahrhundert hat Mone 1836, Sp. 145-160, herausgegeben. 101 Diese wurde 1856 von Moland / D’Héricault nach der Hs. Paris, Bibliothèque Nationale, anc. pet. f. fr. 25438 (La Vallière 86), fol. 194-202, ediert (S. 35-82). 102 Vgl. die Edition des Roten Buchs von Hergest (Llyfr Coch o Hergest), Jesus College, Bodleian Library, Oxford, MS. 111, von Williams 1982, dort S. xxviif. zur Hs. Huws 2000, S. 60, datiert das Llyfr Coch in das Jahr 1382 oder etwas später. Gaidoz 1879/80 liefert in seiner Ausgabe eine neufranzösische Übersetzung des Textes. 103 Rosenfeld 1968, S. 46-50 (Eichstätt, Stadtbibliothek N II No. 167). Die Fragmente befinden sich auf zwei Pergamentstreifen (Falzstreifen), die um den Rücken der ersten und letzten Papierlage einer Inkunabel gefaltet wurden; vgl. Rosenfeld 1968, S. 45. Das erste Fragment setzt mit dem Ende des Gespräches ein, in dem die Freunde ihren Identitätentausch beschließen, berichtet vom keuschen Beilager mit Schwert und endet mit dem Beginn der Zweikampfepisode. Das zweite Fragment beinhaltet das Gespräch, in dem Amicus Amelius das vom Erzengel Raphael offenbarte Heilmittel gegen den Aussatz anvertraut. 104 Vgl. Kap. I.3. – Weitere Zusätze der elaborierten Vitaversion sind z.B. eine die Papsttaufe antizipierende Vision von Amelius’ Vater, eine längere didaktische Unterweisung des sterbenden Vaters an seinen Sohn Amicus sowie die Abwendung eines militärischen Zusammenstoßes zwischen Amicus und Amelius vor Paris.
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Die Grundlage für die zweite Untergruppe, die mittlere Legendenversion, bildet die lateinische Prosabearbeitung der Amicus-Amelius-Legende De duobus pueris consimilibus Amico et Amelio im Speculum Historiale des Vincenz von Beauvais aus dem 13. Jahrhundert,105 von der eine im Wesentlichen identische Variante aus dem 15. Jahrhundert106 existiert. Mehrere Bearbeitungen in verschiedenen Sprachen sind überliefert: So hat Jacob van Maerlant noch im 13. Jahrhundert Vincenz’ gesamtes Werk als Spieghel Historiael in mittelniederländische Verse übertragen, darunter auch Van Amise ende van Amelise.107 Ebenfalls wohl auf Vincenz zurückgehende Amicus-Amelius-Texte finden sich in französischer108 und altisländischer109 Prosa des 14. bzw. frühen 15. Jahrhunderts sowie in schwäbischer Prosa des 15. Jahrhunderts.110 Darüber hinaus ist die frühneuhochdeutsche legend von den czwain heilign: Amelio, ains grauen sun, vnd Amico, ains ritters sun, vnd die warn gar geleich anen tadel zu nennen, die von dem Zisterziensermönch Andreas Kurzmann (gest. vor 1431) aus dem Kloster Neuberg in der Steiermark verfasst wurde.111 Es handelt sich um eine Versfassung in südbairischem Dialekt.112 Außerdem ist eine mittelfränkische Prosafassung aus der 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts113 dieser Gruppe mittellanger Legenden zuzuordnen. Die Texte dieser Gruppe erzählen die Geschehnisse insge_____________ 105 Die Amicus-Amelius-Geschichte befindet sich im Buch 23, cap. clxii-clxvi und cap. clxix. Vincenz’ Werk ist zugänglich in einer Ausgabe von 1965, dem Nachdruck eines Drucks von 1624. Siehe Vincentius Bellovacensis 1624/1965, S. 956-959, für die Amicus-AmeliusGeschichte. 106 De sanctis Amico et Amelio, Hs. Graz 873, fol. 199b-202a, ediert von Schönbach 1877. 107 Die mittelniederländische Amicus-Amelius-Legende wurde herausgegeben von Mak 1954. 108 De Amy de Berry et Amiles le conte d’Auvergne, Hs. Toulouse 452, fol. 59v, ediert von Woledge 1939, S. 444-452. 109 Hs. Stockholm, Kungliga Biblioteket, Perg. 4° Nr 6., fol. 1-3r36. Eine Edition liegt von Kölbing 1874 vor. Ein Faksimile der gesamten Hs. hat Slay 1972 herausgegeben. Slay datiert die Hs. auf 1400 oder den Beginn des 15. Jahrhunderts (ebd., S. 21). Da der Beginn der Hs. fehlt bzw. unleserlich ist, handelt es sich bei dieser altisländischen Bearbeitung von Amicus und Amelius (Amícus saga ok Amilíus) um ein Fragment, das mit Amicus’ Abreise vom Hof einsetzt. Die passio am Ende fehlt; der Text gehört zu den mittellangen Texten, die diesen Erzählabschnitt fortlassen und mit Amicus’ Heilung und der Wiedererlangung seiner ursprünglichen Herrschaft enden. 110 Die Hs. München, Cgm 523, 92ra-96rb, ist im Anhang von Reiffensteins EngelhardAusgabe (1982, S. 241-249) zu finden und wurde auch schon von Stammler 1963, S. 27-34, ediert. – Eine weitere schwäbische Amicus-Amelius-Geschichte aus dem 15. Jahrhundert befindet sich in der Hs. Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. theol. et phil. 4° 81, 281v-286r. 111 Vgl. Morvay 21985. 112 Salzburg, Universitätsbibliothek, M I 138, 225r-248v, abgedruckt in Oettli 1986a, S. 149176. Die Hs. stammt aus der Mitte des 15. Jahrhunderts. Dieses Gedicht weicht in vielen Details von den ansonsten sehr ähnlichen Texten ab. 113 Berlin, SBB-PK, Mgq 261, 256r-263r, abgedruckt in Oettli 1986a, S. 178-185.
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samt in verknappter Form.114 Langobardenkrieg und Grabwunder finden sich nicht in allen Texten: Da bei Vincenz diese Teile nicht direkt an das Ende der Amicus-Amelius-Geschichte anschließen, sondern erst nach zwei eingeschobenen Kapiteln erzählt werden, in denen über andere Begebenheiten berichtet wird, könnte der Zusammenhang in der nachfolgenden Überlieferung durch diesen räumlichen Abstand verloren gegangen sein.115 In der dritten Untergruppe lassen sich zunächst mehrere minimale, exempelhafte Bearbeitungen zusammenfassen, die gemeinsame narrative Schemata mit der Seelentrost-Version (14. Jahrhundert)116 der AmicusAmelius-Geschichte aufweisen. Der Seelentrost ist eine Exempelsammlung, in der wichtige kirchliche Glaubenssätze anhand von einzelnen Geschichten erläutert werden. Der Teil, in dem die einzelnen Gebote des Dekalogs behandelt werden, wird der Große Seelentrost genannt.117 In der von Schmitt edierten mittelniederdeutschen Fassung aus dem 14. Jahrhundert ist das Amicus-Amelius-Exemplum die vierte von insgesamt elf Geschichten zur Erklärung des Gebotes, das hier als achtes deklariert wird. Die aus dem Gebot abgeleitete Lehre lautet Mynsche, du ne schalt nicht valschliken tugen.118 Neben den Seelentrost-Bearbeitungen selbst gehört eine niederdeutsche Prosafassung der Amicus-Amelius-Geschichte aus dem 16. Jahrhundert119 zu dieser Gruppe. Diese Fassungen sind komprimiert und weisen von vielen Amicus-Amelius-Sequenzen ausschließlich das notwendige Gerüst auf.120 Allerdings gestalten diese Texte eine eigene Form der Nachgeschichte: Der gemeinsame Tod zieht auch hier das Grabwunder der ver_____________ 114 Die Vision von Amelius’ Vater fehlt beispielsweise ganz; andere Passagen – wie die hier in indirekter Rede vorhandene väterliche Didaxe – sind sehr viel kürzer gefasst. 115 Die Amicus-Amelius-Geschichte nimmt in Vincenz’ Fassung cap. 162-166 ein, die Nachgeschichte befindet sich erst in cap. 169. – Feistner 22004, Sp. 86, unterteilt die legendenhaften Amicus-Amelius-Fassungen in Version mit passio und Versionen ohne passio. Diese Einteilung ist aufgrund der eben genannten Überlieferungsumstände jedoch nur bedingt geeignet. Zudem ist es nicht möglich, die Seelentrost-Fassungen einer der beiden Gruppen zuzuordnen, da diese zwar den gemeinsamen Tod der Freunde, nicht aber eine passio aufweisen. 116 Vgl. Palmer 21992. – Eine mitteldeutsche Seelentrost-Fassung der Geschichte von Amicus und Amelius wurde ohne Angabe der Hs. schon abgedruckt in Wackernagel 1839, Sp. 981986. Die mittelniederdeutsche Fassung hat Schmitt 1959, S. 229-33, nach der Hs. K: Kopenhagen, Det Kongelige Bibliotek, Thott. Fol. 58, fol. 96r-98r, 15. Jh., ediert. Zu den Seelentrost-Hss. und -drucken vgl. Schmitt 1959, S. 11*-34*. 117 Vgl. Schmitt 1959, S. 9*. 118 Schmitt 1959, S. 223, Z. 3. Das Gebot wird weiter umschrieben: Du schalt alle logene vnde alle valscheit vormiden vnde schalt wesen truwe vnde warafftich (Z. 4f.). 119 Hs. Hannover, Niedersächsische Landesbibliothek, I 239, 240r-245r, abgedruckt in Oettli 1986a, S. 144-146. Diese Amicus-Amelius-Geschichte entspricht weitgehend denen in den Seelentrost-Texten, so dass ich diese Bearbeitung der Seelentrost-Tradition angliedere. 120 Es fehlen unter anderem die didaktische Rede von Amicus’ Vater und der Fast-Zusammenstoß der Freunde vor Paris.
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einten Körper nach sich, die zuvor getrennt voneinander begraben wurden. Diese Episode ist nicht – wie in der elaborierten und der mittellangen legendenhaften Version – mit dem Langobardenkrieg verknüpft. Weitere sehr kurze Texte – wie das lateinische Exemplum De Amico et Amelio121 aus dem 14. Jahrhundert, das Exemplum Amicicia vera multum est laudabilis in der ins Mittelenglische übertragenen Exempelsammlung Alphabetum narrationum122 und die niederdeutsche Fassung in der Chronica novella des Lübecker Dominikaners Hermann Korner,123 beide aus dem 15. Jahrhundert, – weichen in Handlungsverläufen und -motivation geringfügig ab, so dass sie nicht zu den Seelentrost-Fassungen gezählt werden können, gleichwohl aber den sehr kurzen legendenhaften bzw. exempelhaften Texten zuzuordnen sind.124 Im Gegensatz zu den Texten, die ein adliges Universum entwerfen (Gruppe 1), verfügen die Texte mit religiösem Sinnhorizont (Gruppe 2) insgesamt über zusätzliche Erzählstrukturen, die den Kern der AmicusAmelius-Geschichte um die Kindheitsgeschichte und um die mit der Suche zusammenhängenden narrativen Ereignisse anreichern und die auf spezifische Weise die Motivation, Legitimation und Deutung der Männerfreundschaft innerhalb eines christlich-religiösen Deutungszusammenhanges steuern. Die Sequenz um den gemeinsamen Tod der beiden Freunde ist – trotz ihrer Prominenz in einzelnen Untergruppen – für das gesamte Textkorpus gesehen fakultativ. Sie ist überdies auch kein ausschließliches erzählerisches Merkmal der religiösen Texte, sondern tritt auch in der Hälfte _____________ 121 De Amico et Amelio befindet sich als 138. Exempel in der Hs. Breslau, Universitätsbibliothek, I. F. 115, Bl. 198vb-199va, (Mitte des 14. Jahrhunderts) ediert von Klapper 1914, S. 339f. Eine deutsche Übersetzung befindet sich auf S. 139-141. Dieses Exempel enthält nicht den Tod der Freunde. 122 Ein mittelenglisches Alphabet of Tales hat nach der Hs. London, British Museum, 25719 Macleod Banks 1904/05 / 1987 herausgegeben. Die Amicus-Amelius-Geschichte (Amicicia vera multum est laudabilis) befindet sich in Bd. I, S. 38-41. 123 Die niederdeutsche Übersetzung beruht auf der Fassung D von Korners lateinischer Cronica Novella. Die enthaltene Amicus-Amelius-Geschichte hat Pfeiffer 1864 neben weiteren Erzählungen nach der Wiener Hs., cod. 3048, v.J. 1500, herausgegeben. Vgl. Colberg 21985 zu weiteren Hss. und zur Datierung. 124 Feistner 1998 hat in ihrem Beitrag zur Gattungstransformation im Seelentrost dargelegt, wie Legenden durch verschiedene Erzählstrategien umformuliert und verändert werden, um den didaktischen und funktionalen Ansprüchen des Seelentrostes zu genügen. Sie erklärt, dass es hier keine Legenden mehr gibt, sondern „nur noch Exempel, die materialiter von Legenden abstammen“ (S. 117). Die von ihr gewählten Beispiele machen deutlich, dass eine Neuperspektivierung und Bearbeitung des Legendenmaterials tatsächlich zu völlig neuen Texten führen können. Da bei Amicus und Amelius im Vergleich zu den Legenden aber nur eine „Straffung“ (S. 119) vorgenommen wurde und die konstitutiven Bestandteile der Geschichte weiter existieren, halte ich es für akzeptabel – und im Rahmen meiner Klassifizierung für dienlich –, auch die exempelhaften Amicus-Amelius-Bearbeitungen der legendenhaften Textgruppe zuzuordnen.
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der Texte der ersten Gruppe125 auf: So berichtet Radulfus gleich zu Beginn der Geschichte vom gemeinsamen Grab der Freunde; auch die anglonormannische und die mittelenglische Fassung wissen vom gemeinsamen Grab in der Lombardei, jene sogar mit einem – von den religiösen Fassungen abweichenden – Grabwunder: Die Blinden können wieder sehen und die Stummen sprechen.126 Der Aufenthalt der Freunde am Karlshof findet sich in den Bearbeitungen der ersten Gruppe ausschließlich in Lille 130, ansonsten handelt es sich jeweils um andere Herrscherhöfe. Auf der Grundlage dieser Klassifizierung der Texte hinsichtlich der Zeichenordnungen und Organisationsmodelle von Welt zeichnet sich die Existenz einer weiteren Textgruppe (Gruppe 3) ab. Außerhalb der recht klar voneinander getrennten adligen vs. religiösen Diskursformationen besteht ein textuelles Zwischengebiet, das beide symbolische Wissensordnungen gleichwertig in sich vereint. Die Grenzfälle unterliegen weder ausschließlich einem adlig-höfischen noch einem religiös-christlichen Organisationsprinzip erzählter Wirklichkeit und sind demnach keiner der beiden auf dieser Grundlage beschriebenen Textgruppen eindeutig zuzuordnen. Sie bilden stattdessen eine eigene Einheit, die durch die Hybridität der Zeichenordnungen sowie durch eigene narrative Muster gekennzeichnet ist. Zu dieser Gruppe gehören die französische chanson de geste Ami et Amile (um 1200)127 sowie das Mysterienspiel Miracle de Nostre Dame d’Amis et d’Amille aus dem 15. Jahrhundert.128 Diese Texte sind zwei Grenzfälle, da sie zwar ganz dezidiert adlige Sinnhorizonte aufrufen und kriegerische Aktivitäten verherrlichen, aber fast durchgängig religiöse Deutungsangebote für diese bereithalten. Die Anbindung feudalgesellschaftlicher Problematik an heilsgeschichtliche und religiöse Sinnkonstitution ist für den Bereich der Karlsepik, zu dem die chanson de geste Ami et Amile gehört, gattungsspezifisch.129 Nachdrückliches Interesse an adligen Aktivitäten des Karlshofes, zu denen Karls kriegerische Unternehmungen gegen benachbarte Feinde ebenso gehören wie Amis Zweikampf gegen den Verräter Hardré, geht stets mit der Einbindung all dieser adligen Betätigungen in religiöse Deutungsmuster einher. Das Miracle teilt mit der chanson de geste spezifische narrative Strukturen, die im Amicus-Amelius-Korpus einzigartig _____________ 125 Vgl. Kap. I.3.3. 126 Vgl. Fukui 1990, V. 1239. 127 Die Handschrift datiert Dembowski 1987, S. vii, in die 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts. Die Standardedition liefert Dembowski 1987; eine frühere Ausgabe nahm Hofmann 1882, S. 1101, vor. Die chanson de geste ist in Laissen gegliedert. 128 Ediert von Paris / Robert 1879, S. 1-67. 129 Vgl. etwa Jauss 1977c.
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sind, und weist ebenfalls sowohl adlige als auch religiöse Sinnstiftungsmöglichkeiten auf.130 Zu dieser Gruppe der Grenzfälle gehört gleichermaßen ein – ebenfalls französischsprachiger – Überlieferungsstrang, der im 15. Jahrhundert einsetzt und sich spezifisch spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Erzählstrategien zunutze macht: Mit der von Stierle geprägten Kategorie der ‚Verwilderung‘131 lässt sich die Anhäufung verschiedenster Geschichten beschreiben, die an den ursprünglichen Amicus-Amelius-Kern angegliedert werden. Die ursprüngliche Geschichte wird zu einem Generationenroman um Ami und Amille ausgedehnt. Nicht nur die Amicus-Amelius-Geschichte selbst wird mit vielen Ereignissen angereichert; zusätzlich werden auch noch die Abenteuer der Eltern, der Kinder sowie – ansatzweise – des Enkels des Heldenpaares, Jourdain de Blaye,132 erzählt. Sowohl adlige als auch religiöse Prinzipien organisieren hier gleichermaßen den narrativen Weltentwurf der Texte. Kriegerischen und höfischen Handlungsmustern sind legendenhaft-christliche Elemente beigeordnet, die ein Nebeneinander von Deutungsmöglichkeiten generieren. Die vier Handschriften dieser Gruppe stammen aus dem 15. Jahrhundert.133 Zudem existiert eine Vielzahl von Drucken, bei denen es sich um Prosaauflösungen ab dem 16. Jahrhundert handelt.134 Die handschriftlich überlieferten Texte sind metrisch als Alexandrinerversionen beschreibbar und damit der Gattung der chanson de geste verwandt. Tatsächlich teilen die ‚verwilderten‘ AmicusAmelius-Texte mit der chanson de geste Ami et Amile – und damit auch mit dem Miracle – spezifische Handlungsstrukturen und Personenkonstellationen, die so nur in dieser Textgruppe vorhanden sind. _____________ 130 Trotz einiger Unterschiede im Vergleich mit der chanson de geste besteht aufgrund der Ähnlichkeiten generell die Annahme, das Miracle gehe auf die chanson de geste Ami et Amile zurück. Vgl. z.B. Dembowski 1987, S. x, Leach 1937/1990, S. xiv, und Kölbing 1877, S. 307311. 131 Vgl. Stierle 1980. Siehe zu diesen Amicus-Amelius-Texten Kap. IV. 132 Jourdains Abenteuer bilden eine eigenständige Texttradition. Irreführend ist dagegen die Behauptung von Hofmann 1882, S. xv, es gäbe einen Text oder eine Texttradition, die eine eigene Geschichte Girarts – Amis Sohn – entwürfe und damit die Generationslücke zwischen Ami und seinem Enkel schlösse. Tatsächlich handelt es sich bei dem von Hofmann angesprochenen Text um eine erweiterte Jourdain-de-Blaye-Fassung, die sich zu der ursprünglichen chanson de geste Jourdain de Blaye verhält wie die verwilderten Ami-Amille-Texte zur primären chanson de geste Ami et Amile. Die (kurze) Geschichte von Girart, der bald ermordet wird, wird hier Jourdains Geschichte vorangestellt. Vgl. die Edition von Matsumura 1999. 133 Arras, Bibliothèque municipale, 696 (704) (a); Basel: Universitätsbibliothek, F.IV.44 (b); Chantilly, Musée Condé, 471 (618) (c); Paris, Bibliothèque Nationale de France, fonds français 12547 (p). Siglen nach Matsumura 1999, S. xviif. 134 Zu den Inkunabeln siehe Woledge 1939, S. 442f., ferner Moland / D’Héricault 1856, S. xxviii.
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Wie die legendenhaften Bearbeitungen berichten auch die Grenzfälle über die religiöse Kindheitsgeschichte mit Papsttaufe; das Element der Suche findet sich – wenn auch in veränderter Form – ebenso wie der christlich eingebettete Tod der Helden.135 Zudem werden militärische Kampagnen und Waffentaten ausführlich und detailreich dargestellt, bis hin zu den zahllosen Gemetzeln und blutigen Kämpfen in den ‚verwilderten‘ Fassungen, für die allerdings meist eine christliche Notwendigkeit oder Legitimation besteht. Zudem wird ein spezifisches Interesse an Geschlechterverhältnissen sichtbar: Amis Ehe mit Lubias und Amiles Liaison und spätere Ehe mit Belissant, der Tochter Karls, gehören zu den narrativen Elementen, die diese Textgruppe konstituieren. Ausführlich werden auch Verwandtschaftsbeziehungen (vor allem am Beispiel des Verräterclans) und Dienstverhältnisse (zwischen Karl und seinen Rittern) diskutiert, so dass die Grenzfall-Texte wie die Texte mit adligen Sinngebungsdiskursen (Gruppe 1) durch die zusätzliche Fokussierung auch anderer Vergesellschaftungsformen neben der Kriegerfreundschaft zu charakterisieren sind. Die Vielzahl der über das grundlegende narrative Amicus-AmeliusMuster hinausgehenden Sequenzen in der ‚verwilderten‘ Untergruppe resultiert u.a. darin, dass eine ‚Doppelgängerdynastie‘ entworfen wird. Damit wird das Amicus-Amelius-Erzählprojekt weiter ausformuliert. Der Freundschaftsentwurf wird so einerseits potenziert; andererseits ist die Ausdifferenzierung eines neuen Deutungszusammenhangs zu beobachten, der vom ‚ursprünglichen‘ abweicht. Dieser diskutiert die Umstrukturierung von Vergesellschaftungsmodellen, illustriert die Prozesshaftigkeit derartiger Vorgänge und arbeitet an der Modellierung differenter Muster von Identitätsbildung. Das spezifische Modell, das in den Amicus-AmeliusTexten konzipiert wird, löst sich auf. Obgleich das erzählerische Gerüst der Amicus-Amelius-Texte noch immer Bestand hat, wird es durch die Einführung weiterer Strukturen in seiner Bedeutung relativiert und verweist auf neuartige Imaginationen von Identitätsformierung und Gleichheit. Deshalb werde ich diese Texte in meiner Arbeit nicht dazu heranziehen, um das Freundschaftsmodell zu erarbeiten und es zu anderen Vergesellschaftungsformen in Beziehung zu setzen. Am Schluss werde ich auf diese Bearbeitungen zurückkommen, da sie gewissermaßen auch den Schluss einer stofflichen Entwicklung bilden und damit bereits über den AmicusAmelius-Stoff hinausweisen.136 In gewissem Sinne inszenieren diese Texte _____________ 135 Beides gilt nicht für das Miracle, das wohl aufgrund seiner Gebundenheit an die Aufführungssituation von derartigen Vor- und Nachgeschichten absieht und sich ganz dem Kern der Erzählung widmet. 136 Vgl. Kap. IV.
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das Ende sowohl eines literarischen als auch eines identitären Modells, das über Jahrhunderte wirkmächtig war. Die ältere Forschung hat die verschiedenen Sinnsysteme, denen die einzelnen Amicus-Amelius-Texte verpflichtet sind, hinsichtlich ihrer Bedeutung für die quellengeschichtliche Priorität untersucht. Die Auseinandersetzung mit diesem Thema verlief teilweise kontrovers: So nimmt Mone 1836 einen deutschen Ursprung der burgundischen Sage an. Durch den Vergleich mit dem Nibelungenlied versucht er zu zeigen, dass ihre Komponenten genuin aus der Heldensage hervorgegangen sind.137 Kölbing vertritt 1877 zunächst die These eines lateinischen Urtextes, wohl hagiographisch, bezweifelt später aber, dass die legendarische Version die ursprüngliche ist.138 Bédier vermutet 1885 eine ursprünglich doppelte Form der Geschichte, die sowohl als hagiographische Legende als auch als französische chanson de geste existierte.139 Leach geht von einer ursprünglichen „non-Christian and non-hagiographic“140 chanson de geste aus, die dann bald eine hagiographische Version hervorbrachte. Leach identifiziert zudem Die zwei Brüder und Der getreue Johannes141 als „folkloristisches Substrat“,142 das in der Amicus-Amelius-Geschichte zusammengefasst und umgeformt wurde. Diese types of international folktales143 und ihr Zusammenhang mit den Amicus-Amelius-Texten sind auch von anderen Forschern untersucht worden.144 Krappe legt einen dioskurischen Ursprung zugrunde, der schließlich christlich umgedeutet wurde.145 Ähnlich geht zuletzt auch Shapiro von einer indoeuropäischen „legend of divine twinship“146 aus, die Amicus und Amelius beeinflusst hätte.147
_____________ 137 138 139 140 141 142 143 144 145 146 147
Vgl. Mone 1836, Sp. 420f. Vgl. Kölbing 1877 und Kölbing 1884, S. cxxxf. Vgl. Bédier 1885. Leach 1937/1990, S. xxxii. Diese Annahme teilt z.B. Oettli 1986a, S. 56. Vgl. Leach 1937/1990, S. xxxii-lxv. Feistner 1989, S. 97. Vgl. Uther 2004, Part I, der Amicus and Amelius als eigenen type (516A) auflistet und die Verbindung zu The Two Brothers (303) und Faithful John (516) benennt. So z.B. von Huét 1919, Calin 1966, S. 59-68, und Oettli 1986a, S. 48-55. Vgl. Krappe 1923. Shapiro 1990, S.131. Zusätzlich existiert ein historisierender Ansatz, der die Amicus-Amelius-Geschichte in der Existenz zweier historischer Persönlichkeiten aus dem Anfang des 11. Jahrhunderts begründet sehen will. So vertreten einige Forscher die Ansicht, die Freundschaft zwischen Herzog Wilhelm V. von Aquitanien und Graf Wilhelm von Angoulême sei die Vorlage für die literarische Amicus-Amelius-Bearbeitung gewesen. Vgl. dazu Hofmann 1882, S. xxxiii, Anm. 1, und Bar 1937, S. 65-74.
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Es überwiegt die Annahme, eine rein weltlich-laikale Ausformung der Amicus-Amelius-Geschichte als ursprüngliche zu betrachten.148 Dass der älteste Text – die mittellateinische Verserzählung von Radulfus Tortarius – jeglicher christlicher Deutungsmodi entbehrt, stützt diese Theorie. In der überwiegenden Zahl der Amicus-Amelius-Texte aber werden stets sowohl religiöse als auch adlige Verstehensmuster aufgerufen. Das allen Amicus-Amelius-Texten zugrundeliegende Erzählprogramm sowie seine Realisierung in verschiedenen Sinnsystemen und Diskursen verdeutlicht allenfalls eine – rein theoretische – narrationslogische Priorität einer feudaladligen Zeichenordnung: Die Erfüllung der narrativen Grundstruktur ist gleichzeitig eine Demonstration adliger Identitätsbildung, auch in den hagiographischen Texten. Wie aus meiner Klassifizierung der Texte hervorgegangen ist, ist ein adlig-höfischer Sinnhorizont in den AmicusAmelius-Texten nicht als einfache Abwesenheit christlich-religiöser Deutungsmodi beschreibbar. Stattdessen ist es die Darstellung weiterer Formen von Vergesellschaftung, die diese Textgruppe kennzeichnet. Insofern nimmt auch eine adlig-höfische Perspektivierung spezifische Veränderungen der Geschichte vor und stellt gerade keinen ursprünglichen Kern bereit. Bestenfalls ist ein stofflicher Kern der Amicus-Amelius-Geschichte anzusetzen, der aus den oben extrahierten, konstitutiven Erzählsegmenten besteht. Dieser Kern wird durch zusätzliche christliche Erzählstrukturen und adlige Deutungsmuster modelliert, die einander auch überlagern können. So besteht die Möglichkeit, dass ein adliger Deutungszusammenhang in einen religiösen überführt bzw. adlige Verhaltensweisen so sehr potenziert werden, dass sie plötzlich als genuin christliche definiert werden können.149 Die Verortung der Geschichte in verschiedenen Sinnhorizonten, die miteinander verschränkt werden und die gleichwohl mit der Dominanz nur eines der Muster einhergehen können, erscheint geradezu als Spezifikum der Amicus-Amelius-Texte. In dieser Arbeit werden deshalb die verschiedenen Sinngebungsmodelle hinsichtlich ihrer bedeutungsstiftenden Kraft für die Einzeltexte, die Textgruppen und das Amicus-AmeliusUniversum insgesamt untersucht, nicht aber in Bezug auf quellengeschichtliche oder stemmatische Fragestellungen. Zusätzlich zur Einteilung des Amicus-Amelius-Textkorpus hinsichtlich der sie strukturierenden symbolischen Ordnungen des Wissens kann eine Klassifizierung der Texte bezüglich der Namen der zentralen Protagonis_____________ 148 Vgl. etwa Oettli 1986a, S. 56, der davon ausgeht, dass „specifically Christian and hagiographic elements“ an den „basic plot“ angelagert werden. 149 Damit meine ich sowohl kämpferische Verhaltensmodi, die die Freunde zu Kriegsheiligen werden lassen, als auch die weltlichen Zusammenhänge der Freundschaftsprüfungen, die dann als Exemplifizierung spezifisch christlicher Tugenden gelten können. Im Begriff der fides überlagern sich genau diese Bedeutungskomponenten der Treue und des Glaubens.
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ten vorgenommen werden. In einem Erzählprogramm, in dem die Konstruktion der Gleichheit zwischen den Helden sowohl als durchgängige semantische Konstituente operiert als auch narrationslogische Dynamik generiert, besitzen Verteilung und Gestaltung der Namen fundamentale Bedeutung. Zunächst ist dabei zwischen den Bearbeitungen mit ähnlichen Namen der Freunde und denen mit deutlich voneinander unterschiedenen Namen zu differenzieren. In die erste Gruppe gehören all die Texte, in denen die Helden die Namen Amicus und Amelius bzw. eine volkssprachliche Variante davon tragen. Diese Namensgebung verweist über die Ähnlichkeit der Namen auf die Similarität der Freunde. Das die Texte strukturierende Prinzip der Gleichheit wird auch über die ähnlichen Namen transportiert. Gleichzeitig stellt sie bereits einen direkten Zusammenhang zum Freundschaftsmodell her, an das die Namen bzw. die Protagonisten gekoppelt sind, da der Name ‚Amicus‘ – ebenso wie das französische ‚Ami‘ – mit der Bedeutung ‚Freund‘ zusammenfällt.150 Zugleich wird die wesensmäßige Verbindung der Gleichheit mit der Freundschaftskonzeption als zentrales Phänomen dieser Textgruppe durch die verwendeten Namen symbolisiert.151 Anders funktioniert dagegen die andere Gruppe, die den Helden deutlich unterscheidbare Namen zuordnet. Sie konstituiert sich aus Konrads Engelhard, in dem die Freunde Engelhard und Dietrich heißen, sowie aus der H-Redaktion der Historia septem sapientum, in der die Namen Alexander und Lodovicus bzw. die jeweiligen volkssprachlichen Varianten auftauchen. Diese Namengebung verweist auf eine Differenzierung der Freunde, die für diese Bearbeitungen der Geschichte programmatisch ist: In diesen Texten gibt es mehr vordergründige Unterschiede zwischen den Freunden.152 Dabei spielt nicht nur die jeweilige Statusdifferenz eine Rolle, die in den Texten mit adligem Sinnhorizont sonst nicht vorkommt, sondern vor allem die Einführung eines zwischengeschlechtlichen Minne-Diskurses, der jeweils nur an einen der Freunde – an Engelhard und an Lodovicus – gekoppelt ist. Die Historia septem sapientum entwickelt zudem ein äußerst _____________ 150 Elena Real 2000, S. 45, bemerkt dazu: „L’amour, l’amitié, ou le compagnonnage sont comme la qualité ou la caractéristique commune aux deux personnages.“ 151 Anders Kuefler 2000, S. 442, der Amelius in Zusammenhang mit lat. melius (‚besser‘) bringt und behauptet: „Amelius turns out to be the better friend“. Diese Annahme entbehrt indes jeglicher Grundlage im Text. Allenfalls ließe sich die Bedeutungskomponente der Verbesserung mit lat. amelioro (‚verbessern‘) ansetzen, die aber nicht auf genau einen der beiden Freunde verweist, sondern auf die grundsätzliche Annahme einer ‚Besserung‘ durch Partizipation an einer Freundschaft. Tatsächlich suggerieren die Amicus-Amelius-Texte die Erhöhung der Qualität der Freundschaft durch die Freundschaftsbeweise. 152 Allerdings können die vordergründigen Differenzen auf der narrativen Ebene in eine symbolisch komplexe Konstruktion von Gleichheit überführt werden. Vgl. für den Engelhard Klinger / Winst 2003.
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dominantes, vielschichtiges Verwandtschaftskonzept, das ebenfalls nur auf einen der Freunde – auf Alexander – bezogen ist. Die Unterschiedenheit der Protagonisten in diesen Texten ist mithin nicht nur an eine Relativierung der Gleichheit geknüpft, sondern darüber hinaus an eine Verlagerung des Interesses vom – allerdings immer noch zentralen – Freundschaftsmodell auf weitere Formen der Vergesellschaftung. Hinzu kommt, dass jeweils auf einen der Freunde gesteigerte narrative Aufmerksamkeit gerichtet wird, da Engelhard und Alexander über eine Geschichte vor bzw. vor und nach der Freundschaftsgeschichte verfügen: Über Engelhards familiäre Situation und seine sich daraus ergebende Abreise wird knapp berichtet; Alexanders Verhältnis zu seinen leiblichen Eltern wird noch breiter thematisiert und bildet eine eigene Rahmenerzählung (Vaticinium). Die Gruppe der Texte, in denen die Freunde die Namen Amicus und Amelius tragen, lässt sich nochmals gliedern. In der Mehrzahl der Texte sind die narrativen Positionen der Freunde hinsichtlich der Freundschaftsbeweise folgendermaßen verteilt: Amicus vertritt als Gerichtskämpfer seinen Freund und Amelius tötet seine Kinder, um seinen Freund vom Aussatz zu heilen. Es existieren drei Texte, die diese Zuordnungen vertauschen: Nun ist es Amelius, der als Gerichtskämpfer fungiert, während Amicus das Kindesopfer erbringt. Bei dieser Auswechslung der Positionen von einem simplen Fehler auszugehen, hieße, die Eigenheit dieser kleinen Textgruppe zu verkennen.153 Die abweichende Situierung der Freunde operiert mit einer zusätzlichen thematischen Fokussierung und einer dadurch generierten narrativen Struktur, die sich ausschließlich in diesen drei Texten findet. Die mittelenglische romance, die anglonormannische Verserzählung und die mittelfranzösische Prosafassung Lille 130 sind durch ihr gemeinsames Interesse an der Herrschaftsthematik gekennzeichnet. Dieses äußert sich einerseits in der prominenten Beziehung der Freunde zum Herrscher, an dessen Hof sie zusammenleben, und andererseits in der Inszenierung gelungenen, unproblematischen Herrschaftserwerbs. So geht der duke des mittelenglischen Textes mit dem in die Heimat zurückkehrenden Amiloun eine Treueverpflichtung ein, ihm im Notfall zu helfen,154 und auch in den anderen beiden Bearbeitungen ist die Treueverpflichtung zum Herrn der Grund dafür, dass Amys die Prinzessin abweist. Damit gerät ein weiteres konstitutives Element dieser kleinen Textgruppe in den Blick: das aggressive Begehren der Prinzessin. In der mittelenglischen romance und in der anglonormannischen Verserzählung droht die Herrschertochter damit, Amys im Falle ihrer Ablehnung zu verleumden. Dies _____________ 153 Darauf hat bereits Planche 1977, S. 239f. hingewiesen. Sie glaubt allerdings an einen „accident de mémoire que l’ecriture a fixé“, der dann eine eigene Nebentradition entwickelt hat, und verortet diesen noch innerhalb „un stade de transmission orale“ (S. 240). 154 Vgl. Le Saux 1993, st. 19.
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führt schließlich gegen den ausdrücklichen Willen Amys’ zum illegitimen Beischlaf. Den ausgedehnteren homosozialen Beziehungen dieser Textgruppe entspricht somit ein als bedrohlich entworfenes Geschlechterverhältnis. Die Inszenierung gelungener Herrschaftserlangung vollzieht sich in Lille 130, indem Amiles in Spanien durch kriegerische Überlegenheit eine contessa zur Ehefrau erringt. In den anderen Texten der ersten Gruppe findet sich ein problemloser Übergang personaler Herrschaft von einer Generation zur nächsten, der an Amelius demonstriert wird. Dies gelingt in den religiös deutenden Texten (Gruppe 2) nie ohne Weiteres und kann deshalb als Besonderheit der Texte mit adligem Sinnhorizont (Gruppe 1) gelten. Neben dem besonderen thematischen Interesse, das die kleine Textgruppe mit vertauschten Freundespositionen kennzeichnet, ist das identitätsverwirrende Potential dieser Strategie nicht außer Acht zu lassen: Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Amicus-Amelius-Texte es darauf anlegen, dass die Freunde verwechselt werden. Die Existenz zweier Parallelgeschichten, in denen die Freunde die narrativen Positionen tauschen, erscheint demnach eher als folgerichtig denn als fehlerhaft. Während es den Rezipientinnen und Rezipienten ermöglicht wird, die Manöver und Identitätswechsel der Freunde im jeweiligen Einzeltext nachzuvollziehen, wird auf textübergreifender Ebene bzw. auf Ebene des Textkorpus Verwirrung geschaffen, da die Freunde nicht nur innerhalb der Handlung ihre Plätze tauschen, sondern auch zwischen den Texten. Das Projekt der Amicus-Amelius-Texte, eine größtmögliche Gleichheit der Freunde zu schaffen, erstreckt sich demnach auch über die einzelnen Texte hinaus auf eine Meta-Ebene, da Amicus und Amelius nicht bestimmten Handlungen oder Freundschaftsprüfungen zugeordnet sind, sondern sich – auf das gesamte Korpus hin perspektiviert – gegenseitig ersetzen können.155 Alle Texte, die von der vorherrschenden Grundkonstellation der Namen ‚Amicus‘ (als Gerichtskämpfer) und ‚Amelius‘ (als Kindsmörder) abweichen – entweder hinsichtlich der Veränderung der narrativen Positionen der Freunde oder bezüglich der Auswahl anderer Namen –, sind in der ersten Textgruppe, die vornehmlich mit adligen Denksystemen arbeitet, angesiedelt. Sowohl die unverhohlene Differenzierung der Freunde durch ihre Namen als auch die Vertauschung ihrer Positionen156 sind je_____________ 155 Dies führt dazu, dass in der Forschungsliteratur z.T. Fehler hinsichtlich der Namen der Freunde auftauchen. 156 Um das Ganze noch zu verkomplizieren, sind die Positionen der Freunde innerhalb der Gruppe mit deutlich unterscheidbaren Namen ebenfalls vertauscht: Während in der Historia septem sapientum die Positionen der Freunde denen der großen Gruppe (Amicus als Gerichtskämpfer; Amelius als Kindsmörder) entsprechen, ist es im Engelhard genau umgekehrt. Diese mögliche Zuordnung der beiden Texte ist indes insgesamt von geringerer
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weils an die Diskussion spezifischer Vergesellschaftungsmodelle gekoppelt, die in diesen Texten neben der Kriegerfreundschaft Bedeutung erlangen. In der großen Gruppe der Texte, in denen die Freunde ähnliche Namen tragen und die vorherrschende Positionierung einnehmen, befinden sich sowohl alle Texte mit religiöser Zeichenordnung (Gruppe 2) als auch die Grenzfälle (Gruppe 3). Wie bereits angedeutet, bildet die Kriegerfreundschaft das alleinige Vergesellschaftungsmodell, an dem die religiös deutenden Texte interessiert sind. Bei den Grenzfällen zeigt sich ein umgekehrtes Phänomen: Zwar steht die Freundschaftskonzeption auch hier im Zentrum, doch diese Texte betrachten ebenso alle anderen mittelalterlichen Beziehungsmodelle (Verwandtschaft, Herrschaft, Geschlechterverhältnisse), zeigen aber kein gesondertes Interesse an ganz bestimmten Bindungen. Nur ein einziger Text aus der ersten Gruppe, also der Gruppe mit adligen Organisationsprinzipien, gehört zu der Gruppe, in der die Freunde ähnliche Namen haben und die Gefährten narrativ so positioniert sind wie in Gruppe 2 und 3: die mittellateinische Verserzählung von Radulfus Tortarius. Sie bildet nicht nur in diesem Klassifikationsmodell eine Ausnahme, sondern auch hinsichtlich der Tatsache, dass sie trotz des adlig-feudalen Sinnzusammenhangs keinerlei Interesse an Vergesellschaftungsformen außerhalb der Kriegerfreundschaft aufweist. Radulfus entwirft stattdessen ein Modell so ausschließlicher Homosozialität, dass auch die zwischengeschlechtliche Beziehung, die es hier im Gegensatz zu den Texten des christlichen Diskurses (Gruppe 2) durchaus gibt, in homosozialen Termini gedeutet wird.157 Durch das Verschränken der Klassifikationsmöglichkeiten – hinsichtlich der symbolischen Ordnungen von Wissen und hinsichtlich der Namensverteilung – entsteht ein Raster, in dem die einzelnen Texte des Amicus-Amelius-Textkorpus verortet werden können.158 Beide Einteilungskriterien sind miteinander verschränkt: Während die christlich-religiös deutenden Texte (Gruppe 2) die Kriegerfreundschaft als alleiniges ideales Vergesellschaftungsmodell betrachten, situieren die Texte mit adligfeudalem bzw. höfischem Denksystem (Gruppe 1) die Freundschaft zwar als zentrale Konzeption, diese wird jedoch vorwiegend im Kontext anderer sozialer Beziehungen gedeutet. Die Zusammenhänge dieser Konstellationen sollen in dieser Arbeit herausgearbeitet werden.
_____________ Bedeutung als ihre Zugehörigkeit zu einer Textgruppe gemäß der unterschiedlichen Namen der Freunde und dem höfisch akzentuierten Wertesystem, das vorherrscht. 157 Vgl. Kap. II.3.1. 158 Siehe Anhang.
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3. Methodische und theoretische Grundlagen: Homosoziales Begehren – Männlichkeit – Identität Grundsätzlich gliedern sich die Amicus-Amelius-Texte in ein mâle Moyen Âge (Duby159) ein, also in den Entwurf eines Sozialsystems, das auf zwischenmännlichen Bindungen basiert. Der zentrale Bund im Textkorpus ist die Freundschaft zwischen zwei adligen Herren. Neben dieser Kriegerfreundschaft existieren andere Relationen wie verwandtschaftliche und vasallitische Beziehungen, die ebenfalls fast ausschließlich homosozial konturiert sind. Bilden Männerbündnisse die Grundlage mittelalterlicher Vergesellschaftung, gilt dies in besonderem Maße für das literarische AmicusAmelius-Universum: Die Identität der Protagonisten wie die des Textkorpus formiert sich vor allem im Rekurs auf zwischenmännliche Allianzen, wobei dem Freundschaftsmodell die entscheidende Rolle zukommt. Eve Kosofsky Sedgwick hat für derartige historische wie literarische Konstellationen den Terminus des homosozialen Begehrens geprägt. Das Konzept der Homosozialität verweist auf privilegierte soziale Beziehungen zwischen Männern, die Gesellschaftlichkeit konstituieren: Dieses Konzept wird mit dem Begriff des Begehrens zusammengeschlossen, den Sedgwick nicht in erster Linie als „a particular affective state or emotion“ definiert, sondern als „the affective or social force, the glue, even when its manifestation is hostility or hatred or something less emotively charged, that shapes an important relationship“.160 Die von Sedgwick vorgenommene Trennung affektiver oder emotionaler Zustände von sozialer Wirkmächtigkeit zwischenmännlicher Beziehungen beschreibt allerdings eine spezifisch moderne Organisation von Homosozialität. Für die Beschreibung vormoderner Gesellschaftlichkeit eröffnet das Konzept des homosozialen Begehrens indes einen Zugang, da sich die gesellschaftskonstituierende Kraft einer Bindung auch und gerade in einem emotionalen Verhältnis manifestieren kann: Durch den begrifflichen Zusammenschluss von sozialer und politischer Relevanz mit Zuneigung und Zusammengehörigkeit werden zwei gewichtige Komponenten sichtbar, die mittelalterliche Männerbeziehungen strukturieren können. Dies zeigt sich besonders an adligen Freundschaftsbündnissen, in denen personale Beziehungen rechtlich fixiert und von politischer Konsequenz waren. Enger, freundschaftlicher Kontakt bildete geradezu die „Basis für politische Aktionsgemeinschaft“.161 Verwandtschaftliche und herrschaftlich strukturierte Bindungen können ebenfalls über emotionales Potential ver_____________ 159 So der Titel von Duby 1990b. 160 Sedgwick 1985, S. 2. 161 Althoff 1990, S. 115.
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fügen, das sich in Umgangsformen und „Ritualhandlungen“162 manifestiert. Zudem ist es möglich, auch antagonistische oder konfliktuelle Sozialzusammenhänge zwischen Männern sowohl als konkrete emotionale Verhältnisse als auch als soziokulturelle Kraft, die spezifische Formen von Gesellschaftlichkeit stiftet, zu betrachten. Homosoziale Bindungen sind Grundlage von Soziabilität und von männlicher Identität. C. Stephen Jaeger bezeichnet die Verknüpfung von politischer Wirksamkeit und ausgeprägt formulierter und gezeigter Emotionalität in Beziehungen zwischen Adligen im Mittelalter mit dem Terminus ennobling love.163 Charismatische Liebe und Freundschaft zwischen adligen Herren bilden grundlegende Formen von ennobling love: Die Liebe, die einem König oder anderen Adligen entgegengebracht wird, beruht auf der Anziehungskraft von Macht und Charisma. Diese öffentlich inszenierte Liebe „increases worth and prestige“:164 In der Liebe manifestiert sich die Anerkennung der Vollkommenheit des geliebten Herrn. Sie wirkt sich positiv auf den Liebenden aus. Sein Ansehen und sein Adel werden gesteigert, da die Liebe zum einen die eigene Vorbildlichkeit herausstellt und zum anderen tatsächliche materielle Belohnungen nach sich zieht. „Ennobling love is an important strain because it links politics, the social life, and the emotions. It is a means of peace-making, treaty-making, and treaty-keeping, of giving and receiving prestige, rank, and standing, and of recognizing ‚virtue‘.“165 Gesten und Sprache, derer sich die adelnde Liebe bedient, können gleichzeitig enge Zuneigung ausdrücken und soziopolitisch effektiv sein. Charismatische Liebe ist in den weiteren Kontext einer charismatic culture einzuordnen: Reale, charismatische Präsenz bildet in diesem kulturellen Zusammenhang die Grundlage von Herrschaft und Kultur. Charisma unterstreicht die Bedeutsamkeit des Körpers, der emotionale Reaktionen hervorruft: „Both charismatic rulers and teachers bind their disciples by strong emotional ties that grant them god-like authority over the individual.“166 _____________
162 Althoff 1990, S. 106. Zum symbolischen Wert rituellen Handelns beim Eingehen von Lehnsverhältnissen vgl. Le Goff 1991, S. 349-420. 163 Jaeger 1999, S. ix-81. 164 Jaeger 1999, S. 150. 165 Jaeger 1999, S. ix. 166 Jaeger 1994, S. 7. Jaeger versteht ‚charismatische Kultur‘ in Opposition zu ‚intellektueller Kultur‘: Im Übergang vom 11. zum 12. Jahrhundert veranschlagt er eine Periode, in der beide Kulturformen sich „in a productive, dynamic contest“ (S. 5) befinden, wobei charismatische Kultur das historisch ältere, intellektuelle Kultur das neuere Modell ist, das „[is] aimed at capturing in symbolic representation the fading charisma that the previous age enjoyed“ (S. 9). Da die charismatischen Körper von Amicus und Amelius ‚nur‘ textuell greifbar sind, könnten die Amicus-Amelius-Texte Teil des von Jaeger beschriebenen Projekts der ‚intellektuellen Kultur‘ sein, die verlorene ‚charismatische Kultur‘ in der Kunst zu konservieren.
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Aus einem anderen Sichtwinkel geht Gerd Althoff den öffentlichen Funktionen von emotionaler Sprache und Handlungen nach und unterstreicht deren Zeichenhaftigkeit im Kommunikationsprozess. Die rational angewendete „Sprache der Emotionen“167 eröffnet einen Kommunikationsraum, in dem nonverbale Botschaften und Konfliktlösungsmechanismen zur Anwendung kommen konnten. Trotz dieses politisch-öffentlichen Wirkungsraumes von Gefühlsäußerungen ist keine moderne Dichotomie von ‚echten‘ vs. ‚aufgeführten‘ Emotionen zu veranschlagen: Adäquate Kommunikationsformen in einem repräsentativ-politischen Zusammenhang sind ‚wirklich‘ und effektiv.168 Niklas Luhmann hat bereits auf die kulturelle Verfasstheit von Gefühlsäußerungen hingewiesen. Diese sind in Regelsysteme eingebettet und nur innerhalb spezifischer Codes verständlich. „Die Funktionen und Effekte der Medien lassen sich daher auch nicht auf dieser Ebene der faktisch lokalisierten Qualitäten, Gefühle, Ursächlichkeiten erfassen, sondern sie sind in sich selbst immer schon sozial vermittelt durch eine Verständigung über Möglichkeiten der Kommunikation.“169 Dass Emotionen codiert sind, also medial vermittelt und in Zeichensystemen verankert, wird auch in der historischen Emotionalitätsforschung betont.170 Dabei ist von unterschiedlichen Kommunikationszusammenhängen und Bedeutungsebenen auszugehen, in die Darstellungen von Emotionen eingebettet sind: So ist der Gefühlsausdruck oft an eine politische, soziokulturelle Bedeutungsdimension gekoppelt.171 C. Stephen Jaeger unterscheidet zwischen sensibilities und emotions, indem er diesen Begriff einer quasi privaten Sphäre von Gefühlsäußerungen zuordnet, jenen aber einem Bereich öffentlicher Kommunikation. „Sensibilities are agreed-on modes of feeling, widely shared by consensus, not by nature. They have social and political significance beyond individual feelings.“172 _____________ 167 Althoff 1997b, S. 280. Althoff problematisiert in diesem Zusammenhang die Sicht Elias’scher Prägung, der zufolge im historischen Zeitraum des Mittelalters Verhaltensweisen durch ungedämpfte Affektäußerungen zu charakterisieren seien. Zur Kritik an Elias aus der Sicht der historischen Emotionalitätsforschung siehe Eming 2006b, S. 32-52. 168 Jutta Eming 2006b, S. 42, hat darauf hingewiesen, dass für literarische Texte „die Frage, ob ‚hinter‘ dem Ausdruck ein ‚echtes‘ Gefühl gestanden habe“, nicht sinnvoll ist. „Für fiktionale Texte kann die Frage, ob eine Emotion als simuliert oder als authentisch zu verstehen ist, aber aus dem Kontext erschlossen werden. Damit wird auch die Möglichkeit eröffnet, Einblicke in das Verhältnis von Authentisierung und Stilisierung des Emotionsausdrucks zu erhalten.“ 169 Luhmann 41998, S. 23. – Zur Anwendung des theoretischen Konzepts von Liebe bzw. Freundschaft als symbolisch generalisiertem Kommunikationsmedium für die Analyse mittelalterlicher bzw. frühneuzeitlicher Texte vgl. Braun 2001 und Kraß 2006a. 170 Vgl. Jaeger / Kasten 2003. 171 Vgl. Kap. I.4. 172 Jaeger 2003, S. viii.
Methodische und theoretische Grundlagen
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Diese Unterscheidung darf aber nicht den Blick dafür verstellen, dass gerade hinsichtlich mittelalterlicher Homosozialität die Grenzen beider Konzepte leicht verschwimmen können: Enge Beziehungen zwischen Männern, in denen Zuneigung geäußert wird, sind eben nicht als ‚private‘ Bindung von ihrer politischen Relevanz zu trennen. Vor diesem Hintergrund kann die Verknüpfung von politischer Effektivität – als gesellschaftsstrukturierendes Feld von Macht und Herrschaft – und emotionaler Expressivität – als leiblich oder verbal geäußerte Zuneigung, die auf kulturellen Codierungen beruht, – geradezu als Begriffsbestimmung mittelalterlicher Homosozialität gelten.173 In diesem Zusammenhang ist auch der von Simon Gaunt geprägte Terminus der monologic masculinity verortbar.174 Gaunt etabliert den Begriff, um ein Spezifikum der literarischen Organisation von chansons de geste zu bezeichnen: In dieser Textgattung werde ideale Männlichkeit nicht in Relation zum Weiblichen konstruiert, sondern in Beziehung zu anderen Modellen von Männlichkeit. Zugleich würden die heldenepischen Texte „a strong and pervasive myth of brotherhood, of the unity of the masculine“175 entwerfen. Dies führe zu einer Männlichkeitskonstruktion, die zwischenmännliche Differenzen und Alteritäten zu unterdrücken suche und die demzufolge als „a ‚monologic‘ construction of gender“176 zu beschreiben sei.177 Sarah Kay beschreibt für eine Gruppe von chansons de geste, zu denen auch Ami et Amile zählt, eben dieses Verlangen nach Gleichheit, das Homogenität zwischen Männern Vorschub leistet: „The urge towards similitude“178 strukturiert demnach den Gesellschaftsentwurf dieser Texte. Sowohl Gaunt als auch Kay argumentieren gattungsspezifisch und benennen die chanson de geste als Genre, in dem männlich bestimmte Monologizität und Homogenität verhandelt werden. Für das Amicus-AmeliusKorpus aber gilt dieser Befund über die Gattungsgrenzen der einzelnen Texte hinweg. Gaunt veranschlagt etwa für die Gattung der romance litera_____________ 173 Oschema 2006 hat diesen Zusammenhang in seiner Studie über Freundschaft im spätmittelalterlichen Burgund beschrieben. Er verweist grundsätzlich darauf, „dass zeremonielle Elemente der Herrschaftsrepräsentation in seiner Person [= des Fürsten in der spätmittelalterlichen Adelsgesellschaft; S.W.] und seinem Handeln mit rechtsverbindlichen und herrschaftlichen Handlungen sowie dem genuinen Ausdruck individueller Emotionalität verschmelzen konnten“ (S. 68). 174 Gaunt 1995, S. 22-70. In seiner Studie untersucht Gaunt gattungsspezifische GenderKonstruktionen. 175 Gaunt 1995, S. 23. Die chanson de geste Ami et Amile sieht er als utopischen Gipfel literarisch konstruierter monologischer Männlichkeit; vgl. ebd. S. 51f. 176 Gaunt 1995, S. 23. 177 Zur Modifizierung von Gaunts Konzept vgl. Meyer 2003, der dialogische Spannungen in verschiedenen Rolandsliedfassungen herausarbeitet. 178 Kay 1995, S. 145.
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rische Konstruktionsprinzipien männlicher Identität, die von denen der chanson de geste abweichen, da hier Männlichkeit in Beziehung zu Weiblichkeit gesetzt werde und zwischengeschlechtliche Liebe zum Generator ritterlicher Identität avanciere.179 Dies trifft zwar für die erste Gruppe der Amicus-Amelius-Texte zu, wie etwa Konrads Engelhard eindringlich zeigt. Allerdings existiert zugleich das auf Gleichheit ausgerichtete Freundschaftsmodell, das – so meine These – auch hier den entscheidenden Anteil an der Identitätsbildung der männlichen Protagonisten trägt. Hinzu kommt, dass auch in der chanson de geste Ami et Amile die Freundesidentitäten mit unterschiedlichen Entwürfen von Weiblichkeit konfrontiert werden, so dass das angeblich rein männliche Universum der chanson de geste als solches gar nicht existiert. Dagegen sind die Texte der zweiten Gruppe, die mit einem legendarischen Erzählmodell180 arbeiten, viel eher dem Entwurf einer monologischen Männlichkeit verpflichtet, da hier die Beziehung zu Frauen bzw. die Relationierung zu Weiblichkeit für die Männlichkeitskonstitution der Protagonisten fast keinerlei Bedeutung hat. Insofern ist für das Amicus-Amelius-Korpus von einer gattungsübergreifenden Relevanz des Konzepts der monologic masculinity auszugehen. Dieses Konzept kann von weiteren Männlichkeitsdarstellungen (z.B. des Herrschers) und – besonders in der ersten und dritten Textgruppe – Imaginationen von Weiblichkeit flankiert werden. Männlich bestimmte Homogenität und Monologizität muss demnach nicht unbedingt – zumindest nicht für die Amicus-Amelius-Texte – dahingehend bestimmt werden, dass sie grundsätzlich mit dem Projekt „to repress and marginalize alterity“181 einhergeht. Für das hier im Mittelpunkt stehende Textkorpus ist primär die Entdifferenzierung der beiden Freunde von Bedeutung, die in einen umfassenderen Entwurf von Homosozialität eingebettet wird. Das Modell einer männlich bestimmten Monologizität kann in einem weiteren Sinne veranschlagt werden, um nicht nur literarische Entwürfe, sondern auch die grundsätzliche Organisation mittelalterlicher Beziehungskulturen zu veranschaulichen. Da Allianzen zwischen Männern die Grundlage von Gesellschaftlichkeit bilden, lässt sich der Terminus der monologic masculinity auf diese soziale Situation übertragen: Monologisch ist diese Sozialstruktur dann nicht hinsichtlich ihres Bestrebens, einheitliche _____________ 179 Vgl. Gaunt 1995, S. 71-121. Einen weiteren Aspekt der Gender-Entwürfe einiger romances sieht Gaunt darin, dass konkurrierende männliche Subjektpositionen (chevalerie und clergie) existieren; vgl. ebd. S. 93f. 180 Für die von ihm analysierten hagiographischen Texte postuliert Gaunt 1995, S. 180-233, bewegliche Gender-Konstruktionen, die Geschlecht als hierarchische Konstruktion mit variierenden Bedeutungen inszenieren. Dies trifft für die legendenhaften Amicus-AmeliusTexte nicht zu. 181 Gaunt 1995, S. 23.
Methodische und theoretische Grundlagen
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Männlichkeit zu formieren, sondern durch den Ausschluss von Frauen. In den Amicus-Amelius-Texten findet sich ‚monologische Männlichkeit‘ in beiden Existenzformen: Zum einen wird eine Gesellschaftsstruktur entworfen, in der Homosozialität dominiert, zum anderen wird das Konzept dahingehend literarisch konkretisiert, dass die Protagonisten tatsächlich ‚identisch‘ sind und Unterschiede zwischen ihnen im narrativen Verlauf relativiert werden. Mit dem Rekurs auf Männlichkeit und Weiblichkeit ist eine weitere wichtige Kategorie der Textanalyse benannt: Die Gender-Kategorie bezeichnet die soziokulturelle Konstitution von Geschlechterdifferenzen, die sich kulturellen Zeichenordnungen einschreibt und stets in Machtverhältnissen verankert ist.182 Geschlechterkonstruktionen und mit ihnen verbundene Differenzierungsprozesse zwischen den Geschlechtern rücken in den Blick.183 Spezifische Formationen von Körperlichkeit, die in verschiedenen Zeiträumen je unterschiedlich konstituiert und wahrgenommen werden, Handlungsmöglichkeiten und Begehrensstrukturen erzeugen performativ Gender-Identitäten, die nicht nur historisch und kulturell variabel sind, sondern auch auf synchroner Ebene heterogene und miteinander konkurrierende Modelle von Männlichkeiten184 und Weiblichkeiten185 hervorbringen können. Literarische Texte sind im Zusammenspiel mit weiteren kulturellen Äußerungen und Diskursen an der Produktion eines komplexen kulturellen Bedeutungsgewebes beteiligt, so auch an Entwürfen und Verhandlungen von Gender und Geschlechterdifferenz. Judith Butler hat die Struktur moderner Geschlechtsidentitäten dargestellt, die auf einer inneren „Kohärenz von anatomischem Geschlecht (sex), Geschlechtsidentität (gender) und Begehren“186 beruht und Heteronormativität sowie einen Binarismus von Männlichkeit und Weiblichkeit hervorbringt. Mittelalterliche Gender-Konstruktionen sowie gleich- und zwischengeschlechtliche Beziehungsgefüge differieren indes von modernen Konstellationen, so dass die Übertragbarkeit moderner Geschlechternormen und Konstruktionsprinzipien in einen mittelalterlichen Kontext stets zu überprüfen ist. Die mittelalterlichen Gender-Konstruktionen und Geschlechterverhältnisse, die im hier betrachteten Textkorpus entworfen werden, stellen sich quer zu modernen Ordnungsmechanismen von Gen_____________ 182 Vgl. grundsätzlich Butler 1991, Butler 1997 und Butler 2004 und Scott 1994. 183 Klinger 2002, S. 267. Siehe dort zu Gender-Theorien und ihrer Anwendung in der literaturwissenschaftlichen Mediävistik. 184 Studien zu mittelalterlichen Männlichkeiten liegen vor mit Lees 1994, Dinges 1998, Hadley 1999, Cohen / Wheeler 2000 und Baisch et al. 2003. 185 Vgl. etwa Bennewitz 1989. Zu Geschlechtsidentitäten und Körpern vgl. nur Bennewitz / Tervooren 1999 und Bennewitz / Kasten 2002. 186 Butler 1991, S. 46.
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Einleitung
der. Bilden homosoziale Beziehungen und darauf basierende männliche Identität zentrale Bezugspunkte mittelalterlicher Vergesellschaftung, scheinen zwischengeschlechtliche Bindungen und Weiblichkeiten zunächst von sekundärer Bedeutung zu sein: Die Ausbildung vorbildlicher Männlichkeit bezieht sich im Amicus-Amelius-Universum nicht notwendigerweise auf Weiblichkeit, sondern beruht vielmehr auf der Spiegelung gleicher Männlichkeit. Diese Anordnung verweist auf die Alterität mittelalterlicher Organisationsprinzipien von Gender.187 Adlige Männlichkeit kann sich primär über das männliche Privileg der Gewalt- und Rechtsfähigkeit formieren und innerhalb eines homosozial strukturierten Systems situieren. Für diese spezifische Formierung adliger, männlicher Identität ist eine Relationierung zu Weiblichkeit nicht unbedingt erforderlich, da zur identitären Abgrenzung auch Mönche und Bauern fungieren können. Die Stellung der Geschlechtsidentität als grundlegende Struktur jedweder kulturellen Bedeutungskonstitution muss demnach hinterfragt werden: Andere Hierarchien wie etwa die Ständeordnung können in der vormodernen Gesellschaft die Gender-Zuordnung dominieren, überlagern oder außer Kraft setzen. Damit rückt die grundsätzliche Bedeutsamkeit der Kategorie der Identität in den Blick. Identität ist ebenfalls als kulturell und historisch veränderbar zu begreifen: Die Wahrnehmung personaler Wesenseinheit sowie die Prinzipien, die als Konstituenten einer solchen Einheit gewertet werden, unterliegen historisch je spezifischen Ordnungsmustern und -kriterien, die zu bestimmen sind.188 Auf die Notwendigkeit der Historisierung des Identitätsbegriffs hat Judith Klinger hingewiesen: „Personale Identität als ein Deutungsmuster zu bestimmen, das als spezifisches Raster Wirklichkeit organisiert, bedeutet zugleich, historische Erkenntnisbedingungen und Ordnungen des Wissens einzubeziehen.“189 Als soziale Ordnung des Wissens bildet die Einordnung des Einzelnen in ein Kollektiv eine Grundlage jeglicher mittelalterlicher Identitätsbildung: Ständisches Kollektiv und verwandtschaftliche Strukturen sind die grundlegenden Gemeinschaften, innerhalb derer eine Person sich situiert. „Status als Primärkategorie für innerweltliche Identitätsthematisierung ist ein wesentliches Moment der Selbststabilisierung stratifikatorisch differenzierter Ge_____________ 187 Zum Begriff der Alterität vgl. Jauss 1977b. 188 Obgleich der Begriff ‚Identität‘ der Vormoderne fremd ist und der theoretische Themenkomplex personaler Identität fast ausschließlich in einem theologischen Fragehorizont existiert, wird die Konstituierung vormoderner Identität auch in anderen Diskursen und Textsorten allenthalben verhandelt. Vgl. Klinger 2001, S. 19-35, und von Moos 2004b. 189 Klinger 2001, S. 26. Vgl. ebd., S. 19-35, sowie Klinger 1999, S. 130-133, zu einer umfassenden Diskussion des Identitätsbegriffs aus erkenntnistheoretischer und historisierender Perspektive.
Methodische und theoretische Grundlagen
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sellschaften.“190 Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe verleiht Identität. Alois Hahn nennt diese Form von Identität ‚partizipative Identität‘:191 „Man macht in diesem Falle eine Identität geltend, die man mit anderen gemeinsam hat.“192 Mit Identifikation und Inklusion als Anspruch auf und Ausdruck von Zugehörigkeit wird aber zugleich eine Differenz aktiviert: Exklusion, also der Ausschluss anderer von dieser Zugehörigkeit, bildet die notwendige Kehrseite dieses Identitätskonzepts. Literarische Texte sind an der Produktion, Reflexion und Modifikation derartiger gedachter Ordnungen beteiligt: Die Amicus-Amelius-Texte verhandeln auf spezifische Weise die partizipative Identität der Protagonisten.193 Wenn im Folgenden von Identitätsbildung oder -steigerung die Rede ist, dann bezieht sich dies auf den Umstand, dass die Zugehörigkeit zum Freundschaftsbund sowie die daraus resultierenden Handlungen und sozialen Situierungen Identität konstituieren bzw. verstärken. Der zentrale Stellenwert der Freundschaft und die narrativen Imaginationen von Identität in diesem Textkorpus orientieren sich an einer Ästhetik, die Identität nicht nur als personale Wesensbestimmung, sondern auch im Sinne von ‚Gleichheit‘ entwirft: Dass die semantischen Differenzierungen zwischen ‚Identität‘ und ‚Gleichheit‘ in den Amicus-Amelius-Texten zuweilen verschwimmen, verweist auf die identitätsbildende Kraft des auf körperlicher Ununterscheidbarkeit basierenden Freundschaftsmodells. Identität wird auch hergestellt durch Identisch-sein: Gleichheit stiftet Identität. Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass auch die Termini ‚Subjekt‘ und ‚Subjektivität‘ zu historisieren sind: Sie stehen hier nicht in einem subjektphilosophischen Kontext, sondern sind ebenfalls an historisch je variante Möglichkeiten von Erkenntnis und Wahrnehmung gebunden. „Subjektivität als Untersuchungsgegenstand zielt primär auf das sich wandelnde Selbstverständnis des Menschen und dessen Versuch, sich seiner selbst unter veränderten kulturellen Bedingungen immer wieder neu zu vergewissern“.194 Judith Klinger hat herausgearbeitet, dass Subjektivität als _____________
190 Hahn / Bohn 2002, S. 5. Zur Unterscheidung von segmentär, stratifikatorisch und funktional differenzierten Gesellschaften vgl. Luhmann 1996. 191 Während Hahn / Bohn 2002 von partizipativer Identität in der Einzahl sprechen, geht Hahn 2000, S. 13-79, im Plural von partizipativen Identitäten aus. Damit beschreibt er die (moderne) „Identifikation über eine Reihe von Identitäten“, die „stets eine Pluralität von in Anspruch genommenen Selbsten“ (S. 13) impliziere. Partizipative Identität im Singular bezieht sich stärker auf ein identitätsstiftendes Modell, das bedeutsam wird. 192 Hahn 2000, S. 13. Vgl auch Hahn / Bohn 2002. 193 „Narrative Identität [als in erzählenden Texten produzierte Identität; S.W.] wäre demnach zu begreifen als spezifisches Verfahren von Texten, einem Gegenstand eine endliche Summe relevanter Eigenschaften zuzuordnen“ (Klinger 2001, S. 20). – Vgl. zu narrativer Identität auch Sieber 2008, S. 57-62, bzw. zu fiktionaler Identität Sosna 2003. 194 Hagenbüchle 1998, S. 9. Vgl. auch Kasten 1998, S. 394f. sowie den Sammelband von Baisch et al. 2005.
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Einleitung
Selbstbezug und -vergewisserung nicht notwendig mit Abgrenzung oder Autonomsetzung des Subjekts (wie dies in der Moderne der Fall ist) einhergehen muss. ‚Subjektivität‘ als Thematisierung des Selbst ist ferner von ‚Individualität‘ abzugrenzen: Letztere verweist im modernen Sinne auf die postulierte Einzigartigkeit der Person, die gesellschaftlicher Verfasstheit vorausgeht. ‚Mittelalterliche Individualität‘ dagegen ergibt sich als „sekundäres Produkt“195 aus den Zugehörigkeitsrelationen des Einzelnen und beschreibt den spezifischen Platz des Einzelnen im Kollektiv.196 In den Amicus-Amelius-Texten wird nur sporadisch subjektive Selbstbezüglichkeit entfaltet: Um die partizipative Identität als Freunde herzustellen, dominiert Handlungsdynamik; Selbstthematisierung und reflektierende Verortung im Freundschaftsmodell bleiben die Ausnahme. Der in einigen Texten integrierte zwischengeschlechtliche Minne-Diskurs bietet eine weitere Möglichkeit, weibliche wie männliche Subjektivität hervorzubringen. Die Differenzierung der männlichen Protagonisten wird allerdings zugunsten eines Entwurfs vernachlässigt, der die Besonderheit des Einzelnen geradezu auszulöschen sucht: Die Verähnlichung der Freunde wird vorangetrieben, so dass spiegelnde Zweiheit und nicht Unverwechselbarkeit197 für die Identitätsbildung zentral erscheint. Ausübung von Gewalt198 bildet ein zentrales mittelalterliches Handlungsmuster, das Identität männlicher Adliger stiftet. Insofern kann René Girards Kulturtheorie, die er in Das Heilige und die Gewalt199 entwickelt, nach ihrem Klärungspotential für die Amicus-Amelius-Texte befragt werden. Im Zentrum dieses Kulturmodells steht die Gewalt: Als Auslöser der Gewalt beschreibt Girard ein mimetisches, reziprokes Begehren zweier Subjekte, das sich auf ein Objekt richtet. Diesem Objekt wird aber nur deshalb Wert zugeschrieben, weil es der Rivale ebenfalls begehrt; durch den gewalttätigen Konflikt um das Objekt wird dieses weiter aufgewertet. Die konstitutive Bindung besteht zwischen den rivalisierenden Subjekten:200 „Der Rivale ist das Modell des Subjekts [...] auf der Ebene des _____________ 195 Klinger 1999, S. 132. Vgl. Klinger 1999 und Klinger 2001, die nicht nur einen historisierten Subjektbegriff vorstellt, sondern ihn zudem definitorisch von den Termini ‚Individuum‘ und ‚Individualität‘ abgrenzt. Zu Individualität in funktional differenzierten Gesellschaften vgl. Luhmann 1989. 196 Vgl. Hahn / Bohn 2002, S. 5. 197 Vgl. von Moos 2004b. 198 Vgl. grundsätzlich zur Gewalt im Mittelalter Braun / Herberichs 2005. Vgl. zum Gewaltdiskurs im 12. Jahrhundert Friedrich 1999. Zur Unterscheidung von violentia und potestas vgl. HWbPh III, Sp. 562, und Braun 2005. 199 Girard 1992. Die Seitenangaben hinter den folgenden Zitaten beziehen sich auf diese Ausgabe. 200 Das starke Begehren, das Rivalen miteinander verbindet, betrachtet Eve Kosofsky Sedgwick 1985 als eine Manifestation homosozialen Begehrens.
Methodische und theoretische Grundlagen
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Wunsches“ (S. 214). Die Konvergenz der rivalisierenden Begehren mündet in reziproke Gewalt, die potentiell unendlich ist. Da die Rivalen hinsichtlich ihres Begehrens und der daraus resultierenden Gewaltsamkeit identisch sind, begreift Girard die Entdifferenzierung, die „Krise der Unterschiede“ (S. 77), als Prozess, der Kultur und Ordnung zerstört. Denn kulturelle Ordnung ist in diesem Modell an das Vorhandensein von Differenzen gebunden: Ein geregeltes System von Differenzen ist erforderlich, um dem Einzelnen Identität zuzuweisen und ihn in Beziehung zu anderen zu setzen. Fehlende Differenzierung führt zu Gewalt und Zerstörung. Eingedämmt werden kann ein Zustand eskalierender, kulturfeindlicher, „wesenhafte[r]“ (S. 49) Gewalt durch einen Gewaltakt, der die Gewalt aus der Gesellschaft auf ein versöhnendes Opfer ableitet und beendet, etwa durch die ‚Bestrafung‘ eines Sündenbocks. Der hier vollzogene Gewaltakt ist qualitativ von den ihm vorausgehenden, kontinuierlichen Gewaltakten unterschieden: Heilige, legitime Gewalt dämmt zerstörerische, illegitime Gewalt ein. Derartige „sich selbst eliminierende Gewalt“ (S. 222) nennt Girard Gründungsgewalt, da sie Gemeinschaft und Kultur stiftet. Eine Strategie, Gewalt zu unterbinden, bildet die Opferung, die die Gründungsgewalt rituell wiederholt und so wirksam bleiben lässt. Die Gründungsgewalt fixiert und stabilisiert die Unterschiede, die Kultur konstituieren, und auch der Opfermechanismus beruht auf sozialen Differenzen zwischen dem Opfer und den Mitgliedern der Gemeinschaft. Eine Krise des Opferkultes ist in diesem Modell gleichzusetzen mit einer Krise der kulturellen Ordnung. Girards Modell benennt Gewalt und mimetische Rivalität als gefährdende Momente von Kultur, begreift differenzierende Gewalt aber als Gesellschaftlichkeit stiftend. Damit wird die Doppelnatur der Gewalt deutlich, die sowohl heilig als auch schädlich sein kann und gleichzeitig die Basis jeglicher kultureller Ordnung wie auch deren vernichtender Widerpart sein kann. Girard bestimmt diese Verfasstheit von Kultur als allgemeingültige Konstante: Ob den von ihm analysierten Strukturen tatsächlich eine derartige Universalität eingeräumt werden kann, muss zweifelhaft bleiben.201 In Bezug auf die Amicus-Amelius-Texte erweist sich dieser Ansatz jedoch als fruchtbarer Ausgangspunkt, um die Verflechtungen der Gewalttaten, die die Gefährten im Zeichen der Freundschaft ausführen, näher zu beleuchten. Die Handlungskette verweist in der Tat auf eine Abfolge von Gewalt und Versuchen ihrer Eindämmung, allerdings folgen die Hintergründe und Funktionen nicht immer der gleichen Logik wie im Girardschen Modell. Während hier Entdifferenzierung eine auf Unter_____________ 201 Zur Kritik an reduktionistischen und mythisierenden Tendenzen Girards vgl. etwa Kellner 2004, S. 118f., Braun 2005, S. 441, und Braun / Herberichs 2005, S. 10.
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Einleitung
schieden basierende Kultur gefährdet, entwirft das Amicus-AmeliusUniversum eine ideale Gleichheit zwischen den Freunden, die durch Differenzen bedroht wird.202 Ebenfalls als diametral entgegengesetzt zu Girards Prämissen ist das Begehren der Protagonisten zu beschreiben, das die homosoziale Bindung mitkonstituiert und die Textgruppe strukturiert: Das wechselseitige Begehren der gleichen Subjekte richtet sich nicht in gewaltsamer Konkurrenz auf ein Objekt, sondern ohne jegliche Rivalität auf den gleichen Anderen. Dadurch erlangt diese Bindung eine Stärke, die ihresgleichen sucht. Gewalt resultiert nicht aus der Reziprozität der Männer, sondern aus deren Gefährdung von außen. Nichtsdestotrotz bleiben die Girardschen Prämissen auch hier präsent, da etwa der Konkurrent der Freunde das Konzept des feindlichen Begehrens aufruft. Schließlich wird in den Amicus-Amelius-Texten der von Girard postulierte Zusammenhang von Heiligkeit und Gewalt virulent, wird doch den Gefährten in der hagiographischen Textgruppe Heiligkeit zugesprochen.203
4. Zum Aufbau der Arbeit Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Überlegungen möchte ich das Beziehungsgefüge, das in den Amicus-Amelius-Texten entworfen wird, untersuchen. Im ersten Teil steht die für das Textkorpus spezifische Kriegerfreundschaft zwischen den Protagonisten im Zentrum: Die Analyse der einzelnen Freundschaftsphasen admissio, probatio und unio beleuchtet die Konstituenten des Männerbündnisses sowie seine Wirkmächtigkeit für die Identitäts- und Herrschaftskonstitution der Kameraden. Die erarbeitete Klassifikation der Texte in Gruppen fungiert als Grundlage für den Vergleich der einzelnen Texte. Gleichwohl werden stets die Besonderheiten der Einzeltexte herausgearbeitet.204 Die Aufschlüsselung der narrativen Freundschaftsstruktur zeigt, wie Gleichheit zwischen den Gefährten durchgängig privilegiert und Differenzen zwischen ihnen sukzessive und mit z.T. radikalen Maßnahmen ausgelöscht werden. Dabei spielt die Aus_____________ 202 Vgl. Kap. II.1.2, II.2.3 und II.3.3. 203 Vgl. Kap. III.3. 204 Von den Zitaten aus fremdsprachigen Primärtexten füge ich in den Fußnoten Übersetzungen hinzu. Finden sich keine weiteren Angaben, sind die Übersetzungen von mir. Von Radulfus Tortarius und von der elaborierten lateinischen Vita gibt es Übersetzungen ins moderne Englisch; um Irritationen beim Lesen zu vermeiden, übertrage ich diese – mit genauer Stellenangabe der englischen Übersetzungen – ins Deutsche. Von der chanson de geste Ami et Amile benutze ich hauptsächlich die Übersetzung von Vielhauer 1979. Vielhauers Übertragung ist von Kürzungen geprägt, zudem gibt es z.T. Ungenauigkeiten bei den Zeitformen und den grammatischen Kategorien Person und Numerus. Deshalb bevorzuge ich an einigen Stellen meine eigene Übersetzung.
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schieden basierende Kultur gefährdet, entwirft das Amicus-AmeliusUniversum eine ideale Gleichheit zwischen den Freunden, die durch Differenzen bedroht wird.202 Ebenfalls als diametral entgegengesetzt zu Girards Prämissen ist das Begehren der Protagonisten zu beschreiben, das die homosoziale Bindung mitkonstituiert und die Textgruppe strukturiert: Das wechselseitige Begehren der gleichen Subjekte richtet sich nicht in gewaltsamer Konkurrenz auf ein Objekt, sondern ohne jegliche Rivalität auf den gleichen Anderen. Dadurch erlangt diese Bindung eine Stärke, die ihresgleichen sucht. Gewalt resultiert nicht aus der Reziprozität der Männer, sondern aus deren Gefährdung von außen. Nichtsdestotrotz bleiben die Girardschen Prämissen auch hier präsent, da etwa der Konkurrent der Freunde das Konzept des feindlichen Begehrens aufruft. Schließlich wird in den Amicus-Amelius-Texten der von Girard postulierte Zusammenhang von Heiligkeit und Gewalt virulent, wird doch den Gefährten in der hagiographischen Textgruppe Heiligkeit zugesprochen.203
4. Zum Aufbau der Arbeit Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Überlegungen möchte ich das Beziehungsgefüge, das in den Amicus-Amelius-Texten entworfen wird, untersuchen. Im ersten Teil steht die für das Textkorpus spezifische Kriegerfreundschaft zwischen den Protagonisten im Zentrum: Die Analyse der einzelnen Freundschaftsphasen admissio, probatio und unio beleuchtet die Konstituenten des Männerbündnisses sowie seine Wirkmächtigkeit für die Identitäts- und Herrschaftskonstitution der Kameraden. Die erarbeitete Klassifikation der Texte in Gruppen fungiert als Grundlage für den Vergleich der einzelnen Texte. Gleichwohl werden stets die Besonderheiten der Einzeltexte herausgearbeitet.204 Die Aufschlüsselung der narrativen Freundschaftsstruktur zeigt, wie Gleichheit zwischen den Gefährten durchgängig privilegiert und Differenzen zwischen ihnen sukzessive und mit z.T. radikalen Maßnahmen ausgelöscht werden. Dabei spielt die Aus_____________ 202 Vgl. Kap. II.1.2, II.2.3 und II.3.3. 203 Vgl. Kap. III.3. 204 Von den Zitaten aus fremdsprachigen Primärtexten füge ich in den Fußnoten Übersetzungen hinzu. Finden sich keine weiteren Angaben, sind die Übersetzungen von mir. Von Radulfus Tortarius und von der elaborierten lateinischen Vita gibt es Übersetzungen ins moderne Englisch; um Irritationen beim Lesen zu vermeiden, übertrage ich diese – mit genauer Stellenangabe der englischen Übersetzungen – ins Deutsche. Von der chanson de geste Ami et Amile benutze ich hauptsächlich die Übersetzung von Vielhauer 1979. Vielhauers Übertragung ist von Kürzungen geprägt, zudem gibt es z.T. Ungenauigkeiten bei den Zeitformen und den grammatischen Kategorien Person und Numerus. Deshalb bevorzuge ich an einigen Stellen meine eigene Übersetzung.
Aufbau der Arbeit
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übung von Gewalt eine zentrale Rolle. Die einzelnen Stufen des Freundschaftsmodells mit den jeweiligen Prüfungssituationen entwerfen verschiedene Facetten von Similarität und gemeinschaftlicher Identität der Freunde, die eine kontinuierliche Steigerung erfahren. Nach diesem Durchgang durch die Texte werden Formen von Emotionalität beschrieben, die an das Amicus-Amelius-Modell gekoppelt sind: Gesten und Sprache, die Zuneigung transportieren, werden zunächst im Überblick, dann mit dem Fokus auf zwei Einzeltexte dargestellt: In der chanson de geste Ami et Amile und in Konrads von Würzburg Engelhard wird die Freundschaft über die narrative Struktur hinaus an Handlungen respektive Reflexionen geknüpft, die die Zusammengehörigkeit der Freunde auf je spezifische Weise körperlich bzw. sprachlich inszenieren und den Zusammenhang zwischen soziopolitischer Effektivität und emotionaler Verbundenheit noch deutlicher hervortreten lassen. Im zweiten Teil der Arbeit werden die Vergesellschaftungsformen Verwandtschaft, Herrschaft und Geschlechterverhältnisse behandelt, die neben der Kriegerfreundschaft die Beziehungskultur des Amicus-AmeliusUniversums strukturieren. Die einzelnen Beziehungstypen werden nacheinander untersucht und hinsichtlich ihrer Bedeutsamkeit für die Identitätsbildung der Protagonisten beleuchtet. Es werden sowohl vorherrschende Erzählstrukturen als auch spezifische Einzelfälle betrachtet, da die Amicus-Amelius-Texte sehr unterschiedliche Entwürfe der jeweiligen Bündnisse aufweisen. Dies gilt besonders hinsichtlich der Repräsentation des Geschlechterverhältnisses, das die Einzeltexte in stark voneinander abweichenden Variationen imaginieren. Verwandtschaftliche, herrschaftliche und Geschlechterverhältnisse können neben der Freundschaft einen zentralen Stellenwert für die Konstitution männlicher Identität besitzen. Gleichzeitig aber wird die Gefahr deutlich, die von der Kriegerfreundschaft für die anderen Vergesellschaftungsformen ausgeht: Wird die Freundschaft zwischen Amicus und Amelius durch äußere Umstände bedroht, schrecken die Freunde nicht davor zurück, andere Allianzen zu opfern und Blut zu vergießen. Durch diese physische Gewaltausübung205 kann die Freundschaft stets gerettet und gefestigt werden, die anderen Bindungen aber werden zumindest temporär stark beschädigt. Die Struktur und Logik der Gewalt, wie sie die Amicus-Amelius-Texte durchdringt, kann anhand des Modells heiliger Gewalt, das René Girard _____________ 205 Meine Analyse der Gewalt in den Amicus-Amelius-Texten bezieht sich hauptsächlich auf die Ausübung körperlicher Gewalt (violentia). Dieser Aspekt von Gewalt dominiert deutlich den Freundschaftsentwurf. Allerdings hängt die überlegene Gewaltausübung – wie grundsätzlich in mittelalterlichen Texten – immer auch mit Herrschaftsfähigkeit und -legitimation (potestas) zusammen, wie Machtzuwachs bzw. -rückerlangung der Freunde durch die Gewalttaten zeigen.
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entwickelt hat, entschlüsselt werden. Dabei folge ich diesem Modell, indem zunächst die Beendigung der Gewalt durch das Kindesopfer thematisiert wird. Es folgt die Analyse ambivalenter Gewaltsamkeit im Zweikampf: Gewalt wird nur temporär eingedämmt, während gleichzeitig ihr Weiterbestehen gesichert wird. In einem letzten Schritt wird der Ursprung der Gewalt ermittelt, der in der Vergewaltigung bzw. der sexuellen Inbesitznahme der Prinzessin besteht: Männliche Gewaltausübung und die Bedrohung idealer Homosozialität wird so an Geschlechterdifferenz zurückgebunden. Dass die einzelnen ‚Stationen‘ des Gewaltmodells jeweils an verwandtschaftliche, herrschaftliche und zwischengeschlechtliche Vergesellschaftungsformen gekoppelt sind, verdeutlicht nicht nur die grundsätzliche Bedrohung, die von der Freundschaft für die Sozialordnung ausgeht, sondern vor allem die gezielte Logik, mit der alle anderen Bindungen beschädigt werden. Legt man das Girardsche Gewaltmodell an die Freundschaftskonzeption der Amicus-Amelius-Texte an, wird sichtbar, dass für dieses Textkorpus nicht nur die Struktur des Girardschen Modells umformuliert werden muss, sondern auch die ihm zugrundeliegenden Annahmen über die Konstruktion von Kultur und Gesellschaftlichkeit: Wie bereits erwähnt, bedingt nicht die Auflösung der Differenzen hier den Zerfall der Ordnung und die Eskalation der Gewalt, sondern die Störung der Gleichheit der Protagonisten ist es, von der eine Bedrohung ausgeht. Gleichheit – und nicht ein System von Unterschieden – bildet die Grundlage kultureller Ordnung des Amicus-Amelius-Universums, das auf das Freundespaar hin perspektiviert ist. Im dritten Teil werden die einzelnen Fäden der Untersuchung zusammengeführt, indem die identitäts- und herrschaftsbildende Wirksamkeit der einzelnen Bündnisse für die Protagonisten systematisierend verdeutlicht wird. Eine Untersuchung zur Terminologie der Beziehungsformen schließt sich an, die Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen den sozialen Bündnissen, besonders von Kriegerfreundschaft und zwischengeschlechtlicher Liebe, auf begrifflicher Ebene illustriert. Dabei wird auch die Frage nach der Beschaffenheit körperlichen Begehrens und Nähe in den Blick genommen. Schließlich erfolgt eine abschließende Anbindung der Konzepte von Gewalt und Gleichheit an die in der religiös deutenden Textgruppe postulierte Heiligkeit der Freunde. In Ergebnissen und Ausblick wird das von den Amicus-Amelius-Texten entworfene Muster von Gleichheit resümiert, das hier das zentrale Modell zur Konstituierung von männlicher Identität und Herrschaft bildet. Die historisch begrenzte Wirksamkeit dieser Konzeption zeigt sich u.a. darin, dass die späten, ‚verwilderten‘ Amicus-Amelius-Texte zumindest implizit auf eine Ablösung dieses Modells verweisen, indem sie Anschlussstellen an
Aufbau der Arbeit
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andere Traditionen mit anderen identitätsbildenden Konzeptionen herausstellen. Zu sagen bleibt, dass ich die Amicus-Amelius-Texte als Erzählraum in den Blick nehme, in dem ein spezifisches Freundschaftsmodell mit variierenden Fokussierungen entsteht. Dabei manifestiert sich im Korpus, das Bearbeitungen aus mehreren Jahrhunderten und unterschiedlichen Sprachen zusammenschließt, die longue durée der Amicus-Amelius-Konzeption und der mit ihr verknüpften Muster von Bedeutungs- und Identitätsstiftung. Eine solche synchrone Perspektivierung der Texte machte es – angesichts des Rahmens dieser Arbeit – erforderlich, die diachrone Dimension und damit zeitlich bedingte Differenzen zwischen den Texten zu vernachlässigen, obgleich ein solcher Ansatz ebenfalls lohnend wäre.
I. Der Kampf gegen die Differenz: Gleichheit und Gewalt als konstitutive Bestandteile des Freundschaftsmodells Die literarische Gestaltung von Homosozialität im Amicus-Amelius-Textkorpus ist dadurch gekennzeichnet, dass die Kriegerfreundschaft zwischen den Protagonisten die zentrale Beziehungsform bildet. Sie lässt die Bedeutsamkeit anderer grundlegender mittelalterlicher Vergesellschaftungsformen verblassen. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive ist Freundschaft von Verena Epp als „wechselseitige, wertbezogene und moralisch bindende Verpflichtung“ definiert worden, „die von zwei oder mehreren Partnern – Individuen oder Kollektiven – geschlossen wird, affektive und kontraktuelle Elemente enthält und sich in gegenseitigen Diensten äußert“.1 Gerd Althoff betont die „‚Gleichordnung‘ und Gleichberechtigung der Mitglieder“2 eines solchen Bundes. Diese grundlegenden Annahmen gelten auch für die Freundschaft in den Amicus-AmeliusTexten. Ihre genaue Beschaffenheit und spezifisch literarische Gestaltung sind im Folgenden zu untersuchen. Die textübergreifende Grundkonstellation der Freundschaft zwischen Amicus und Amelius, die der narrativen Struktur – trotz verschiedenartiger Gewichtung und Ausgestaltung in den einzelnen Versionen – zugrundeliegt und so das Korpus von anderen Texten abgrenzt, besteht aus den Komponenten der Gleichheit und der beiden aufeinander bezogenen Treuebeweise der Freunde.3 Dieses narrative Grundgerüst wird in den unterschiedlichen Bearbeitungen auf je spezifische Weise gestaltet und z.T. erweitert. Die genauere Analyse des Freundschaftsmodells erfordert es nun, die einzelnen Bestandteile exakter zu beschreiben sowie die diskurs- und gattungsspezifischen Differenzen zwischen den einzelnen Tex_____________ 1 2
3
Epp 1999, S. 299; Hervorhebung getilgt. Epps Ausführungen beziehen sich auf das frühe Mittelalter. Althoff 1990, S. 85. Althoff spricht an dieser Stelle über genossenschaftliche Bindungen im Mittelalter, denen er die Freundschaft subsumiert. – Vgl. für einen Überblick über antike und mittelalterliche Freundschaftsdiskurse Oschema 2006, S. 109-167. Vgl. grundsätzlich zur Freundschaft besonders im Spätmittelalter auch Oschema 2007a und die Beiträge in Oschema 2007b. Vgl. Einleitung 2.
Konstitutive Bestandteile des Freundschaftsmodells
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ten und Textgruppen zu beleuchten. Trotz variierender Erscheinungsformen beansprucht die Kriegerfreundschaft als diskursübergreifendes Modell Gültigkeit. Gleichwohl entwerfen die diversen Texte alternative Angebote von Identitätsbildung und sinnhaften Handlungsmustern. Das erzählerische Grundgefüge aus den Elementen Gleichheit und reziproke Treuebeweise integriert sich dergestalt in das Amicus-AmeliusFreundschaftsmodell, dass die Treueproben den handlungsdynamisch sehr ausgeprägten Mittelteil bilden, während die Gleichheit der Helden zum einen als Basis der Freundschaft im ersten Teil fungiert, zum anderen als Text generierende und handlungsstrukturierende Kraft sämtliche Sequenzen bestimmt. Zusätzliche Ingredienzien des Freundschaftsmodells resultieren aus dem chronologischen Ablauf, der sowohl den Beginn als auch das glorreiche Ende der Kriegerfreundschaft näher beleuchten kann und der zudem die räumliche Bewegung der Protagonisten in ihrer Bedeutsamkeit für die Freundschaftskonzeption erhellt. Hinsichtlich dieser Bestandteile bestehen indes teils beträchtliche Abweichungen. Insgesamt setzt sich das Freundschaftsmodell aus drei Konstituenten zusammen, die ihrerseits wiederum mehrere Komponenten umfassen.4 1. Gründung der Freundschaft (admissio): a) Gleichheit b) Freundschaftsschwur c) Lebensgemeinschaft 2. Prüfung (probatio) a) Trennung b) Gottesurteilskampf c) Kindesopfer 3. Vereinigung (unio) a) Gemeinsames Leben b) Gemeinsamer Tod c) Gemeinsames Grab
_____________ 4
Abweichende – und umständlichere – Strukturschemata bieten etwa Planche 1977, S. 244247, und Oettli 1986a. Oettli arbeitet 17 Motive heraus, anhand derer er zunächst die Besonderheiten der Historia septem sapientum (S. 59-62), dann die des Engelhard herausarbeitet (S. 108-125). Zur näheren Untersuchung des Engelhard isoliert er acht weitere Motive, die nur dieser Text aufweist (S. 80-93). Zusätzlich listet er 33 Motive auf, die auf ihr Vorhandensein in einigen romanhaften Fassungen überprüft werden.
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Der Kampf gegen die Differenz
Die lateinischen Termini admissio, probatio und unio sind nicht den AmicusAmelius-Texten entnommen, sondern in Anlehnung an Aelreds von Rievaulx Amicitia spiritalis auf das hier besprochene Freundschaftsmodell übertragen. Aelred, Abt von Rievaulx, schrieb in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts einen geistlichen Traktat über die Freundschaft, in dem er sich sowohl auf Ciceros Laelius de amicitia5 als auch auf die Bibel bezog und so antike und christliche Positionen miteinander vereinte.6 Damit leistete Aelred einen bedeutsamen Beitrag zu dem verstärkten Interesse, das der Freundschaft als „Thema monastischer Erörterungen“7 im 12. Jahrhundert zuteil wurde. In dem in Gesprächsform ausformulierten Traktat kennzeichnet Aelred die geistige Freundschaft (amicitia spiritalis) als wahre Freundschaft, die neben anderen, unvollkommenen Formen der Freundschaft wie der fleischlichen und der weltlichen Freundschaft (amicitia carnalis und amicitia mundialis) existiere.8 Die anstrebenswerte geistige Freundschaft beschreibt er als Stufenleiter zur Liebe und Erkenntnis Gottes.9 Sie beruht auf der Gleichartigkeit der Freunde und auf ihrer Übereinstimmung in menschlichen und göttlichen Dingen, die an Liebe und Wohlwollen geknüpft ist.10 Aelred unterscheidet in der Freundschaft die Stufen Auswahl, Erprobung, Annahme und gänzliche Übereinstimmung (electio, probatio, admissio und consensio), die z.T. mit der Amicus-Amelius-Freundschaft übereinstim_____________ 5
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Vgl. Ziolkowski 1995 zur Bedeutung der Laelius-Rezeption in der Freundschaftstheorie und -literatur im späten 11. und im 12. Jahrhundert. Vgl. Zeikowitz 2003, S. 27-35, zu Ciceros, Aelreds und weiteren Freundschaftraktaten, die in dieser Tradition stehen. – Classen 2006 bezieht Konrads Engelhard auf Ciceros Laelius, ignoriert allerdings die Ambivalenzen im Amicus-Amelius-Freundschaftsmodell und sieht den Engelhard als unproblematischen Entwurf vorbildlicher Freundschaft, der „ethical, moral, and philosophical ideals“ (S. 246) verpflichtet sei. – Vgl. auch Virchow 2007 zum Bezug zwischen Laelius und Engelhard, allerdings nur in den Fußnoten ihres Aufsatzes. Vgl. Aelred von Rieval, Freundschaft, Prologus. Zur Einordnung Aelreds und seines Werkes vgl. die Einleitung zur englischen Übersetzung: Aelred of Rievaulx, Spiritual friendship. Zu Aelreds Freundschaftsentwurf siehe etwa Boswell 1980, bes. S. 221-226, und Hyatte 1994, S. 43-86, vgl. ebd. auch S. 1-42 zu antiken Vorläufern. Köpf 2006, S. 32. Vgl. Aelred von Rieval, Freundschaft, I, 38-49. Eine minderwertige Freundschaft, die etwa auf dem Begehren nach Besitz beruht, kann gleichwohl – zumindest bis zu einem gewissen Grad – zu einer wahren Freundschaft werden. Vgl. ebd. I, 44. Ähnlich klassifiziert Aelred die Arten der Küsse als osculum corporale, osculum spiritale und osculum intellectuale (II, 24) („den körperlichen Kuß, den geistigen und den seelischen Kuß“, S. 37), wobei auffällt, dass die Bezeichnung spiritale hier – anders als bei den Freundschaftsbezeichnungen – nicht den höchsten Wert anzeigt. Vgl. Aelred von Rieval, Freundschaft, II, 18. Das erste Buch beginnt damit, dass Aelred in seinem Gespräch mit Ivo Christus als Dritten der Gesprächsrunde aufruft; vgl. ebd. I, 1. Vgl. Aelred von Rieval, Freundschaft, I, 46. Vgl. dazu auch Jaeger 1999, S. 110-114, und Kraß 2006b, S. 309-311.
Konstitutive Bestandteile des Freundschaftsmodells
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men, z.T. aber auch von dieser divergieren können.11 Bei Aelred steht am Beginn der Freundschaft die Auswahl des Freundes: Charakterliche Disposition und Lebenswandel der erwählten Person müssen so beschaffen sein, dass sie der Freundschaft nicht entgegenstehen.12 Für die anschließende Phase der probatio führt Aelred vier Eigenschaften auf, die beim Freund zu prüfen sind: fides, intentio, discretio und patientia.13 Die weiteren Ausführungen zur Freundschaft beziehen sich nicht explizit auf admissio und consensio, sondern rücken grundlegende Begriffe – wie den der Gleichheit (aequalitas)14 – und Verhaltensmodelle in den Vordergrund.15 Dabei wird ganz explizit ein ähnliches Aussehen der Freunde thematisiert: Sic enim conformari sibi debent amici, ut statim cum alter alterum uiderit, etiam similitudo uultus unius in alterum transfundatur; siue fuerit deiectus tristitia, siue iucunditate serenus.16 Zudem wird die Freundschaft mit Christus verknüpft.17 Gleichheit und Christusbezug erscheinen damit implizit als Konstituenten der consensio-Phase. Erfolgt bei Aelred die Prüfung des Freundes, noch bevor die Freundschaft geschlossen wird, ist in den Amicus-Amelius-Texten eine derartige rationale Untersuchung positiver Eigenschaften meist nicht nötig, da die Übereinstimmung der Freunde mit ihrer körperlichen Gleichheit auf der Hand liegt. Die Amicus-Amelius-Texte situieren die – hier auch handlungsdynamisch bedeutsame – probatio erst nach der Gründung der Freundschaft. Die Freundschaft erlangt hier eine neue, höhere Qualität, indem die verschiedenen Prüfungen absolviert werden. Allerdings nimmt Aelred die rationale Komponente seiner electio etwas zurück, als er von zwei verstorbenen Freunden berichtet. Die Beschreibung der sehr innigen Freund_____________ 11
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Vgl. Aelred von Rieval, Freundschaft, III, 8, wo er die quatuor gradus, die vier Stufen der Freundschaft nennt. Das gesamte III. Buch dient der Erläuterung der Stufen. Vgl. auch Langer 1994, S. 182-186. Petrus von Blois, der nach Aelred noch im 12. Jahrhunderts einen weiteren Freundschaftstraktat (De amicitia christiana et de dilectione Dei et proximi) verfasst, erwähnt ebenfalls diese vier Stufen: Amicitiam enim firmant atque perficiunt electio, probatio, admissio, rerum divinarum et humanarum cum benevolentia et charitate plena consensio (Pierre de Blois, De amicitia, I, c. 12, S. 162f.). („Denn die Freundschaft wird geschlossen und sogar vollendet durch Auswahl, Erprobung, Annahme und die vollständige Übereinstimmung in allen göttlichen und menschlichen Dingen, zusammen mit Liebe und Wohlwollen.“) Vgl. Aelred von Rieval, Freundschaft, III, 14-59. Aelred von Rieval, Freundschaft, III, 61 („Treue, Absicht, Takt, Geduld“, S. 75). Korrespondierend gibt es vier Eigenschaften, die die Freundschaft als solche charakterisieren: dilectio, affectio, securitas und iucunditas (III, 51) („Liebe und Anhänglichkeit, Verlaß und Vertrautheit“, S. 71). Zur Gleichheit vgl. etwa Aelred von Rieval, Freundschaft, III, 90f. und 97. Vgl. Aelred von Rieval, Freundschaft, III, 88-134. Aelred von Rieval, Freundschaft, III, 131 („Echte Freunde passen sich einander so sehr an, daß, wenn sie einander sehen, sie sich ähnlich sehen, sei ihr Antlitz traurig, sei es froh und heiter“, S. 109). Vgl. Aelred von Rieval, Freundschaft, III, 132-134.
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Der Kampf gegen die Differenz
schaft zum ersten Freund mündet in die Einsicht, dass er diesen nicht habe prüfen können, da er ihm zu früh genommen wurde. Die rationale Betrachtung des Freundes trifft nur auf die zweite Freundschaft zu, die als stetig wachsende Zuneigung charakterisiert wird.18 Aufgrund dieser unterschiedlichen Konkretisierungen des Aelredschen Freundschaftsmodells wäre auch eine Bezeichnung der ersten Phase der Amicus-Amelius-Freundschaft als electio möglich, da die sachliche Einschätzung des Freundes kein notwendiger Bestandteil dieses Abschnitts zu sein scheint. Allerdings verschwimmen beim Wegfall der vernunftmäßigen Analyse die unterscheidenden Kriterien von electio und admissio. Da in den Amicus-Amelius-Texten die eigentliche Freundschaftsschließung (fast) nie von einer möglichen rationalen Auswahl eindeutig dominiert wird (letztere kommt explizit nur in der Apfelprobe des Engelhard vor), habe ich für die erste Freundschaftsphase den Terminus admissio gewählt; die electio entfällt.19 Die probatio-Phase steht wie in Aelreds Modell an zweiter Stelle. Aelred spezifiziert die letzte Stufe seines Modells als rerum diuinarum et humanarum cum quadam caritate et beneuolentia summa consensio.20 Consensio bedeutet in diesem Zusammenhang nicht nur ‚Übereinstimmung‘, sondern auch „im genuin christlichen Verständnis [...] Einheit“.21 Die von mir gewählte Bezeichnung der unio für die letzte Phase des Amicus-Amelius-Freundschaftsmodells soll stärker auf die (auch konkret körperliche) Einheit bzw. Vereinigung der Freunde abheben.22 Gleichheit und Gottesbezug können – wie bei Aelred – wichtige Elemente dieses Stadiums bilden, allerdings sind sie in den Amicus-Amelius-Texten schon vorher bedeutsam und kennzeichnen auch andere Freundschaftsetappen. Obgleich Aelreds Traktat und das Amicus-Amelius-Korpus verschiedenen Diskurssystemen, Redetraditionen und Textsorten angehören,23 gibt _____________ 18 19
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Vgl. Aelred von Rieval, Freundschaft, III, 119-127. Langers Behauptung einer „durchgängige[n] Tendenz zur Rationalisierung der Personenbeziehungen“ bei Aelred, in denen „der Affekt lediglich Begleitphänomen der richtigen rationalen Wahl“ (1994, S. 182) ist, greift nicht nur aufgrund der eben aufgezeigten unterschiedlichen Bedeutsamkeit der Rationalität bei der Freundeswahl zu kurz, sondern auch hinsichtlich der sehr emotionalen und innigen Komponente von Freundschaft bei Aelred. Vgl etwa Aelred von Rieval, Freundschaft, II, 26f. Aelred von Rieval, Freundschaft, III, 8 („die gänzliche Übereinstimmung in allen göttlichen und menschlichen Dingen, gepaart mit inniger Liebe und aufrichtigem Wohlwollen“, S. 57). Langer 1994, S. 178. Peter Oettli hat den Terminus der unio zur grundsätzlichen Beschreibung des Freundesbundes zwischen Engelhard und Dietrich in Konrads Engelhard herangezogen, ohne damit auf eine spezifische Phase zu verweisen. Vgl. Oettli 1986b, S. 74 und 76. Ziolkowski 1995 unterstreicht das grundsätzliche Interesse des 12. Jahrhunderts an Freundschaftstheorie und -literatur. Er geht davon aus, dass es zwischen „monasteries and courts“ „thriving interchanges of men and ideas“ (S. 61) gab.
Konstitutive Bestandteile des Freundschaftsmodells
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es deutliche Übereinstimmungen in den Freundschaftskonzeptionen, die es ermöglichen, die Stufen von Aelreds Freundschaftsmodell auf das Amicus-Amelius-Erzählmuster zu übertragen. Die Vorstellung von verschiedenen zu absolvierenden Stationen, die den Bund stärken, aber auch das Postulat der Gleichheit und der zu prüfenden Treue zwischen den Gefährten finden sich in beiden Entwürfen. Aelred begreift Freundschaft in Zusammenhang mit der Liebe und Erkenntnis Gottes. Dies klingt nachdrücklich auch in einigen Amicus-Amelius-Texten an, die zur Gruppe der legendenhaften Texte (Gruppe 2) gehören. So werden etwa in der Fassung von Andreas Kurzmann, die zu den mittellangen Legenden gehört, die Freunde nach ihrem Tode in der englischen stat (Oettli 1986a, S. 175, V. 1158) von Christus gekrönt. Die Verbindung zu Gott ist in den meisten Bearbeitungen durch die Auferstehung der Kinder gegeben, durch die Gott sein Wohlwollen gegenüber den Freunden und ihrer Treue beweist. Trotz der unterschiedlichen Situierung existieren mithin diverse Übereinstimmungen zwischen dem Aelredschen Entwurf und der Amicus-AmeliusErzähltradition, die es erlauben, beide Freundschaftsmodelle in einem Kontinuum von Freundschaftstheorie und -literatur anzusiedeln und Aelreds Begrifflichkeiten auf die literarische Freundschaft zu übertragen. Die Konstituenten der Kriegerfreundschaft gilt es nun näher zu bestimmen.
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Der Kampf gegen die Differenz
1. Admissio: Gründung der Freundschaft Die Entstehung der Freundschaft zwischen Amicus und Amelius gründet textübergreifend in der Gleichartigkeit der beiden Helden. Diese wird jedoch innerhalb des Textkorpus durch alternative Strategien konstruiert. Die Freundschaft wird überdies mit einem Eid geschlossen und schließlich durch eine temporäre Lebensgemeinschaft der Freunde bekräftigt. 1.1. Gleichheit In allen Texten bildet die außergewöhnliche Ähnlichkeit der beiden Protagonisten das zentrale Faszinosum. Gemeinsam ist allen Texten, dass zunächst diejenigen Faktoren beseitigt werden, die auf quasi ‚natürliche‘ Weise die Gleichartigkeit der Helden bedingen würden, etwa verwandtschaftliche Beziehungen. Stattdessen erfordert die Konstruktion der Gleichheit von Amicus und Amelius paradoxerweise den Hintergrund einer Differenz, damit sie dann um so wunderbarer hervortreten kann: Die Helden sind nicht miteinander verwandt24 und stehen auch sonst zunächst in keinerlei Beziehung zueinander. Trotzdem sind sie sich in allem so ähnlich, dass sie von ihrer Umgebung nicht unterschieden werden können. Die Auswahl der Konstituenten dieser außerordentlichen Gleichheit variiert zwischen den Textgruppen. Adlige und religiöse Deutungssysteme präsentieren jeweils unterschiedliche Strategien der Herstellung von Gleichheit sowie verschiedenartige Vorstellungen über den Stellenwert bestimmter Konstituenten. Im ältesten Text des gesamten Korpus, der mittellateinische Verserzählung von Radulfus Tortarius, die zur ersten Gruppe gehört, entsteht die Gleichheit von Amicus und Amelius durch die Schönheit ihrer adligen Körper, durch die Beherrschung adliger Verhaltensweisen sowie durch hervorragende Herkunft. Corpore proceri specieque nitente venusti, Armis terribiles, moribus et placidi, Lampade pollentes praeclarae nobilitatis, Inque suis primi civibus a proavis. (Ogle / Schullian 1933, V. 127-30)25
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Zur Ambivalenz von Gleichheit zwischen Zwillingen in mittelalterlicher Literatur vgl. Kooper 1994 und von Bloh 2007. „Groß war ihre Statur, herrlich ihr Aussehen. Schrecklich waren sie in Waffen, vornehm in vortrefflichem Verhalten. Ihre Vorfahren waren Anführer seit mehreren Generationen“ (nach Leach 1937/1990, S. 101).
Admissio
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Auffällig ist allerdings, dass die physiognomische Ununterscheidbarkeit der Freunde erst zu einem späteren Zeitpunkt – nämlich als Amicus an Amelius’ Stelle den Zweikampf bestehen soll – in den Blick gerät,26 aber durch die eben zitierte Textstelle ausreichend motiviert erscheint. Auch in der mittelenglischen romance manifestiert sich die Gleichheit der Helden in übereinstimmender adliger Herkunft, Schönheit und Vorbildhaftigkeit. Während ihre Väter angesehene Adlige (barons, Le Saux 1993, st. 1, V. 7) sind, werden die Protagonisten selbst als fayrer were there non alyve, / Both curteys, hende and guode (st. 5, V. 2f.)27 beschrieben. Die Erzählstrategie der gleichzeitigen sowie gleichartigen Beschreibung der Similarität der Helden konstituiert schon vor ihrem ersten Treffen ihre Zusammengehörigkeit und virtuelle Lebensgemeinschaft, die auf narrativer Ebene erst später eingegangen wird. Nicht nur dieses gestalterische Verfahren greift somit den eigentlichen Ereignissen vor, in der mittelenglischen romance nimmt auch der adlige Hof, an dem Amys und Amylion anlässlich eines Hoffestes zum ersten Mal zusammentreffen, die beiden aufgrund ihrer Schönheit und äußeren Ununterscheidbarkeit als kollektive Einheit wahr. Gleichheit wird hier – gegen Radulfus Tortarius aber mit den meisten anderen Amicus-Amelius-Texten – recht früh explizit thematisiert. Das Hauptaugenmerk liegt auf dem Umstand, dass die beiden für andere nicht unterscheidbar sind, außer durch die Kleidung. In all thing thei were lyche – Ther was nother power ne ryche Who that beheld hem both Ffayrer never more ne cowde say, Ne knew thet oon of the childern tway, Bote be colowr of here cloth. (st. 8, V. 7-12)28
Die Fremdwahrnehmung produziert aufgrund ihrer – nicht näher ausgeführten – Gestaltgleichheit bereits die Gemeinschaft der Helden, die von den beiden selbst erst danach eingegangen wird.29 _____________ 26
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Moribus hii similes forma linguaque fuere, / Secerni poterant nullius inditio (Ogle / Schullian 1933, V. 165f.). („Amicus und Amelius waren sich ähnlich in Verhalten, Aussehen und Redeweise; niemand konnte sie auseinanderhalten“, nach Leach 1937/1990, S. 102.) „Es gab keine schöneren [Kinder] unter den Lebenden, beide waren sie höfisch, tapfer und vorbildlich.“ „In jeglicher Hinsicht glichen sie sich. Niemand, ob arm, ob reich, der die beiden betrachtete, konnte sagen, welches das schönere [Kind] war, geschweige denn, die beiden voneinander unterscheiden, außer durch die Farbe ihrer Kleidung.“ Bei Radulfus Tortarius schließen die beiden Helden ohne die Beschreibung einer Reaktion des Hofes Freundschaft, sobald sie gemeinsam am Hof des Königs Gaiferus dienen; vgl. Ogle / Schullian 1933, V. 133-136.
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Der Kampf gegen die Differenz
In der anglonormannischen Verserzählung sind alle diese Voraussetzungen synchron zusammengefasst: Die beiden Freunde sind von adliger Herkunft (Moult furent de grant vassalage, / Gentils et de grant parage; / Fiz estoient de barons, Fukui 1990, V. 9-11)30 und von engelsgleicher Schönheit (Angeles resembleient de faiture, V. 16).31 Amys und Amillyoun werden als gleich und ununterscheidbar eingeführt, als sie schon am Hofe eines Grafen dienen und in Liebe (amur, V. 1) miteinander verbunden sind.32 De cors de visage bien resembleyent: Si de une robe vestu estoient, N’est home el mound qe les avisast Qe l’un de l’autre desceverast. E si furent de une estature, De une forme e de une nature. (V. 25-30)33
Körperliche Gleichheit, die durch mehrere Elemente hergestellt wird (Leib, Gesicht und Gestalt) wird komplementiert durch die gleiche nature der Freunde. Da die Geschichte mit der schon bestehenden Gemeinschaft der Gefährten einsetzt, wird jegliche Identität der Helden ausgeblendet, die der Freundschaft vorgängig wäre.34 Die immer schon gemeinsame Identität, die auf Ununterscheidbarkeit und Vorbildlichkeit beruht und wesenhaft mit dem Freundschaftsbündnis verknüpft ist, bildet den Ausgangspunkt der Erzählung. Gleichheit wird in den bisher betrachteten Texten immer auch über gleichen Rang konstituiert. Der Engelhard Konrads von Würzburg sowie die Geschichte Vaticinium / Amici in der Historia septem sapientum, die ebenfalls zu dieser Textgruppe gehören, produzieren dagegen einen Rangunterschied. Für die Schließung der Freundschaft ist dieser im Engelhard allerdings völlig bedeutungslos, da die äußerliche Gleichheit im Vordergrund steht: si wâren ungesundert / an allen dingen beide (Reiffenstein 1982, V. 456f.).35 Äußere Gleichheit, die sich auch in Gebärden und Sprache manifestiert (ouch flôz ein sprâche von in zwein, / und was ouch ein gebærde an in, V. 464f.), entspricht der Gleichheit positiver Eigenschaften und Werteho_____________ 30 31 32 33 34 35
„Sie waren von großer Tapferkeit, edel und von hoher Geburt, sie waren Söhne von Edelleuten.“ „In Art und Aussehen glichen sie Engeln.“ Die gleiche Vorgehensweise findet sich in Lille 130; vgl. Woledge 1939, S. 452. „An Körper und Gesicht waren sie sich sehr ähnlich: Wenn sie mit dem gleichen Gewand bekleidet waren, konnte kein Mensch auf der Welt, der sie ansah, einen vom anderen unterscheiden. Sie waren von einer Statur, von einer Gestalt und von einer Wesensart.“ Vgl. Combarieu du Grès 1987, S. 17. Auch hier taucht das Motiv der unterscheidenden Kleider auf; vgl. Reiffenstein 1982, V. 458-461.
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rizonte: gelîche stuont ir beider sin / ûf tugent unde ûf êre (V. 466f.).36 Identische Gesinnung und Höfischheit werden an äußerliche Gleichheit zurückgebunden: sô anelîche gebildet wâren diu vil werden kint als dâ zwei wahs gedrücket sint in ein vil schœnes ingesigel. (V. 470-473)
Dass die Gefährten ununterscheidbar und zugleich dem höfischen Wertesystem verpflichtet sind, gehört unlösbar zusammen. Ute von Bloh hat darauf hingewiesen, dass im Engelhard keine physiognomischen Merkmale genauer beschrieben werden, die die außerordentliche Ähnlichkeit der Protagonisten verdeutlichen. Stattdessen sind es „idealtypische, literarisch vermittelte Vorstellungen von adelsmäßiger Vorbildlichkeit“,37 die Gleichheit produzieren. Der Rangunterschied zwischen Engelhard aus dem niederen Adel und dem Herzogsohn Dietrich wird zu diesem Zeitpunkt nicht thematisiert und durch die Gleichheitsbeschreibung überspielt. Die Differenz produziert erst dann eine Spannung, als sie für die Trennung der beiden sorgt. Für die Gründung der Freundschaft sind jedoch ausschließlich adlige Tugenden und Verhaltensweisen erforderlich, deren Übereinstimmung in der äußeren Similarität der Helden augenfällig wird. Die in der Historia bestehende Rangdifferenz wird beseitigt, bevor Lodovicus und Alexander sich begegnen: Alexander hat zum Zeitpunkt des Kennenlernens bereits seine ursprüngliche Identität als Sohn eines Ritters abgelegt, da er aufgrund seiner Weisheit (ein weiteres Unterscheidungsmerkmal) vom König von Ägypten38 als zukünftiger Schwiegersohn angenommen wurde. Somit steht er Lodovicus, dem Sohn des Königs von Israel,39 rangmäßig in nichts nach, als sich beide am Hof des Kaisers Titus treffen. Die Freundschaft scheint hier durch das zeitlich nah beieinander liegende Eintreffen der beiden am Hofe bedingt, wodurch sie jeweils in _____________ 36 37 38 39
Vgl. auch Reiffenstein 1982, V. 474f. Von Bloh 2005, S. 346. In der Hs. Heidelberg, Cpg 149 ist es der König von Calabrien; vgl. Bl. 97r. Die Herkunft variiert in den einzelnen Bearbeitungen. So ist Ludwig in der Gießener Hs. 104 der Sohn des Königs von Zipperland (Zypern) (Steinmetz 2001, S. 64, Z. 150), in der Heidelberger Hs. Cpg 149 der Sohn des Königs von Frankreich (vgl. Bl. 97v) und im Codex 407 des Wiener Schottenstifts der Sohn des Königs von Jerusalem (Steinmetz 1999, Bl. 28r). Auch die Namen der nicht zum Freundespaar gehörenden Figuren sind nicht in allen Historia-septem-sapientum-Texten einheitlich. So kann z.B. der Kaiser, an dessen Hof sich die Freunde kennenlernen, Tytus (in der Fassung Hans von Bühels, Keller 1841, V. 7567), Siccus (anonyme Versfassung, Keller 1846, S. 204, V. 12) oder Cirus (Gießen 104, Steinmetz 2001, S. 64, Z. 128) heißen.
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Der Kampf gegen die Differenz
der Nähe des anderen Dienst tun und schlafen.40 In der Historia septem sapientum findet sich die größte Abweichung hinsichtlich der Ähnlichkeit der Helden: Die körperliche Gleichheit in Aussehen, Gebärden und Sprache lässt sich nicht mehr umstandslos auf die Übereinstimmung der adligen Tugenden und Verhaltensweisen übertragen. Isti duo, scilicet Allexander et Lodouicus, in tantum per omnia erant similes in vultu, in gestu, in loquendo, in omnibus, quod vix cum difficultate vnus ab alio poterat discerni. Isti duo multum se mutuo dilexerunt. Allexander erat strennuus, agilis; Lodouicus debilis ac ponderosus: in hoc tantum differebant. (Innsbruck, Cod. 310, Roth 2004, S. 436, Z. 114-118)41
In Lodovicus’ Fall zerfällt die Einheit von adliger Schönheit und personaler Gewaltsamkeit: Die Gleichheit der Protagonisten ist hier in erheblichem Maße durch unterschiedliche Körperstärke und Kampfeskraft eingeschränkt. Sowohl im Engelhard als auch in der Historia geht die Inszenierung einer Differenz mit der Tendenz einher, bis zur Freundschaftsschließung ausschließlich die Geschichte eines der beiden Freunde, und zwar jeweils des Rangniederen – eines Rittersohnes – zu berücksichtigen. Während bei Konrad die Engelhard-Vorgeschichte relativ knapp gehalten ist,42 ist Alexander in der Historia die eigentliche Hauptfigur: Nicht nur die überaus umfangreiche Vorgeschichte ist ihm und seinem sozialen Aufstieg gewidmet, auch der Schluss der Geschichte erzählt von seinem weiteren Leben ohne Lodovicus.43 So ergibt sich eine sehr unterschiedliche Gewichtung der Helden, die die Gleichheit und kollektive Einheit der Freunde auflöst und ansatzweise zur Erzählung über einen Einzelnen gerät. Diese Differenzierung der Freunde stellt jedoch eine Ausnahmeerscheinung innerhalb des Amicus-Amelius-Textkorpus dar. In den Bearbeitungen der zweiten Textgruppe, die vorrangig in einem religiösen Deutungssystem angesiedelt sind, finden sich ganz andere Kon_____________ 40
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In der Bearbeitung von Hans von Bühel wird bereits direkt bei Ludwigs Ankunft – und nicht erst nach Begrüßung, Amtszuteilung und Einquartierung – auf die Gleichheit der (künftigen) Freunde verwiesen. Vgl. Hans von Bühel, Dyocletianus Leben, Keller 1841, V. 7622-7628. „Diese zwei, also Alexander und Lodovius, waren sich in allem so ähnlich – im Aussehen, im Gebaren, in der Art zu sprechen, in allem –, dass man kaum und nur mit Schwierigkeiten den einen vom anderen unterscheiden konnte. Diese zwei liebten einander sehr. Alexander war stark und behend, Lodovicus war schwach und langsam. Darin unterschieden sie sich sehr.“ Vgl. Reiffenstein 1982, V. 217-444. Diese Verse berichten von Engelhards Herkunft, seinem Beschluss, an den Hof König Fruotes von Dänemark zu reiten sowie vom Versagen der ersten beiden Reisebekanntschaften beim Apfeltest. Für Dietrich fehlt jegliche Entsprechung, außer, dass er den Test besteht und somit seine Zugehörigkeit zu Engelhard beweist. Die ausschließlich von Alexander erzählende Rahmengeschichte macht fast ein Drittel des Textes aus.
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stituenten von Gleichheit. Den bedeutsamsten Faktor, durch den Ähnlichkeit zwischen den Freunden hergestellt wird, bildet in diesen Texten die gemeinsame Taufe durch den Papst. Damit steht hier nicht adlige Vorbildhaftigkeit, sondern ein religiöses Ritual im Mittelpunkt. In den elaborierteren Vitafassungen wird dies verstärkt, indem die Gottesfürchtigkeit von Amicus’ Eltern dargestellt wird: Sie wollen ihren Sohn in Rom taufen lassen, damit ihm Gottes Gnade gewährt wird. Hinzu kommt eine Vision, die der Vater des noch ungeborenen Amelius schaut: Er sieht eine Taufe, die der Papst vornimmt, und beschließt nach ordnungsgemäßer Auslegung des Traumes durch einen Weisen, seinen Sohn nach Rom zur Taufe zu bringen. In denselben Fassungen wird zusätzlich nochmals ausdrücklich auf die Heiligkeit des Taufrituals sowie auf seine immense religiöse Bedeutung verwiesen.44 Auch Amicus’ Vater bringt seinen Sohn nach Rom. Bereits während der gemeinschaftlichen Reise45 entsteht zwischen den noch sehr kleinen Knaben eine enge Freundschaft.46 Als Amicus und Amelius vom Papst nicht nur zwei ähnliche Namen, sondern zusätzlich zwei identische Becher als Taufgeschenke erhalten, werden sowohl die Bindung der beiden Freunde an Gott als auch ihre enge Freundschaft und ihr gleiches Aussehen sinnfällig.47 Post expletum vero sacre regenerationis officium duos sciphos ligneos, cumpositos auro et gemmis, Romanus pontifex, vir venerande sanctitatis, jussit afferi, pari amplitudine, pari magnitudine et arte factos, deditque illis dicens: Accipite hoc donum, quod in eternum sit vobis in testimonium, quia ego in basilica sancti Salvatoris vos baptizavi! (elaborierte Vita, Kölbing 1884, S. xcviii, Z. 29-35)48
Freundschaft und Gleichheit der Freunde werden somit kirchlich-religiös bestätigt und als gottgegeben beglaubigt. Die adlige Legitimation fehlt nicht: Die Taufe wird mit beträchtlichem öffentlichen Aufwand inszeniert; zahlreiche römische Ritter heben die Knaben aus der Taufe. Trotz all _____________ 44 45
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Vgl. etwa für die elaborierte Vita Kölbing 1884, S. xcviii, Z. 23-25. In den minimalen Fassungen der Amicus-Amelius-Geschichte in der Seelentrost-Tradition fehlt die gemeinsame Reise allerdings. Vgl. etwa Hs. Hannover I 239 Oettli 1986a, S. 144, Z. 1-6. Diese äußert sich in einer praktischen Lebensgemeinschaft und wird im übernächsten Abschnitt genauer behandelt. Zwei gleiche Becher existieren auch in einigen Texten der ersten Gruppe. Sie sind hier jedoch Freundschaftsgeschenke, die sich die Gefährten untereinander machen, und treten erst zu späteren Zeitpunkten in der Geschichte auf. „Nachdem die Feier der heiligen Wiedergeburt abgeschlossen war, befahl der Römische Papst, ein Mann von verehrungswürdiger Heiligkeit, zwei hölzerne Trinkgefäße herbeizubringen, verziert mit Gold und Juwelen, gleich in Umfang und Größe und auf kunstvolle Weise angefertigt. Er gab sie ihnen und sagte: ‚Empfangt dieses Geschenk, es soll euch ein ewiges Zeugnis dafür sein, dass ich euch in der Basilika des heiligen Erlösers getauft habe‘“ (nach Kuefler 2000, S. 446).
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dieser Gleichheit konstituierender Elemente existiert in allen Fassungen mit religiösem Sinngebungssystem eine Rangdifferenz zwischen den Protagonisten, die Amelius als Grafensohn einen höheren Rang als dem Rittersohn Amicus zuweist. Diese anfangs postulierte Differenz tritt allerdings zunächst gänzlich in den Hintergrund und wird von den eben beschriebenen erzählerischen Strategien der Gleichheitskonstitution überlagert. Für die Freundschaft selbst spielt sie – im Gegensatz zum Engelhard – überhaupt keine Rolle. Letztlich wird die Statusdifferenz – wie jede Differenz zwischen den Freunden – gänzlich beseitigt.49 Identisches Aussehen prägt auch in dieser Textgruppe die Vorstellung von Gleichheit. Im Unterschied zu den Texten der ersten Gruppe ist diese Gleichheit aber nicht die Konsequenz aus dem Besitz bzw. der Beherrschung adliger identitätsstiftender Wesensmerkmale und Verhaltensweisen. Die Gleichheit der Freunde ist vielmehr durch den Willen Gottes bedingt, der sich in den vom Papst durchgeführten religiösen Ritualen manifestiert. Die große Ähnlichkeit der Knaben wird in den meisten Fassungen schon vor der Taufe thematisiert, in einigen der längeren Legendenfassungen scheint die Similarität der Helden indessen direkt auf die Taufe und die identischen Becher bezogen zu sein.50 Im folgenden Ausschnitt der elaborierten französischen Vita thematisiert Amicus’ sterbender Vater zum ersten Mal das gleichartige Aussehen der Freunde, das eng an die – mittlerweile fast dreißig Jahre zurückliegende – Taufe und die Geschenke des Papstes gekoppelt ist. Et n’oblier pas la société et l’amitié dou fil à qonte de Alverne, quar l’Apostoile de Rome vos baptiza en un jor et de un dom vos honorai. Vos estes samblant de beauté, de forme, et de quantité et qui vos varoit il diroit que vos estes frère (Moland / D’Héricault 1856, S. 41f.).51 In diesem Sprechakt werden die Leibesgleichheit der Protagonisten und ihre Freundschaft direkt an die gemeinsame Taufe und die identischen Geschenke gekoppelt.52 Die alternative Strategie, die wundersame Gleichheit der Helden bereits vor der Taufe zu beschreiben, ist die bevorzugte Variante der religiös _____________ 49 50
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Vgl. Kap. I.3. Die lateinische und die französische elaborierte Legendenfassung verweisen als einzige nicht von Anfang an auf die Gleichheit, sondern erst mit der Erinnerung des sterbenden Vaters an die Taufe. „Und vergiss nicht das Bündnis und die Freundschaft des Sohns des Grafen von Auvergne, denn der Papst von Rom hat euch an einem Tag getauft und euch mit einem Geschenk geehrt. Ihr seid euch ähnlich an Schönheit, an Gestalt und an Größe und wer euch sähe, würde sagen, ihr seid Brüder.“ – Sehr ähnlich geht die lateinische Vita vor; vgl. Kölbing 1884, S. xcix. Zudem unterscheidet sich die Deutung der Ähnlichkeit von der in anderen Texten, da hier – wie auch in der lateinischen Vita – die Gleichheit auf Verwandtschaft rekurriert und noch nicht auf Ununterscheidbarkeit, die in vielen anderen Texten von Anfang an zentral ist.
Admissio
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deutenden Texte, so etwa in der schwäbischen Hs. München, Cgm 523, aus dem 15. Jahrhundert, die die Ununterscheidbarkeit zu Beginn gleich zweimal hintereinander betont.53 Andreas Kurzmann nennt mit haubt vnd har sowie mund vnd nas (Oettli 1986a, S. 149, V. 19) spezifische Körpermerkmale bzw. Gesichtszüge, in denen Amicus und Amelius sich gleichen.54 In jedem Fall wird anschließend die Auserwähltheit der Protagonisten sowie die Liebe Gottes zu ihnen demonstriert. Gelegentlich wird die Wahrnehmung der wunderbaren Gleichheit in direktem Zusammenhang mit der Taufe beschrieben: Plusieur chevaliers de Romme y vindrent pour les tenir et lever des fons, et toute la cité ne se povoit assés merveiller, car oncques maiz n’avoient veü si grant semblance entre deux hommes (mittellange Legende, Woledge 1939, S. 444).55 Im lateinischen Exempel heißt es: Quos papa cum nobilibus Romanis de fonte leuans, et quia similimi erant, eis cyphos duos similimos preciosos et deauratos pro munere est largitus (Klapper 1914, S. 339, Z. 21-24).56 Insgesamt sind die Papsttaufe, identische Becher und die äußere Ununterscheidbarkeit als Konstituenten von Gleichheit in allen Bearbeitungen dieser Gruppe zu finden, auch wenn sie in den mittellangen und kürzeren Texten viel weniger ausführlich dargeboten werden als in der längeren Version. Nicht nur Papsttaufe und -geschenke situieren Freundschaft und Gleichheit in einem religiösen Sinnsystem. Es kommt ein weiterer Repräsentant des christlichen Glaubens hinzu, der aufs Neue körperliche Übereinstimmung und Vorbildlichkeit der Freunde bestätigt.57 Nach langer Trennung verlassen die Freunde jeweils ihre Familie und ihren Herrschaftsbereich, um sich mit dem gleichen Anderen zu vereinen. Dieser Wunsch führt indes nicht zum sofortigen Erfolg: Es soll Jahre dauern, bis die beiden sich endlich wiedersehen. Dass die Zusammenführung glückt, ist einem Pilger zu verdanken, den die Helden kurz nacheinander treffen _____________ 53
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Vgl. Reiffenstein 1982, S. 241, Z. 1-7. Gleich darauf wird die Gleichheit nochmals beim Zusammentreffen in Lucca hervorgehoben, bei dem die Väter die Ununterscheidbarkeit der Söhne als ain groß dingk [...] von got (S. 241, Z. 13) beschreiben. [I]n seinem [=Pippins] lannd geparn sind / zway hercznschone degn chind, / dew warn czart vnd wolgeuar / an jerm leichnam also gar / das nichts nicht was vnderschaidn / mit der gestalt czwar an jn baiden, / wenn haubt vnd har, auch mund vnd nas, / vnd alles das an in do was, / das was geleich in ainer weis, / als wie got wolt nach allem fleis (Oettli 1986a, S. 149, V. 13-22). In diesem Text sind die Knaben ebenfalls bereits vor der Taufe identisch. „Mehrere Ritter aus Rom kamen dorthin, um sie zu halten und sie aus der Taufe zu heben. Und die ganze Stadt konnte sich nicht genug darüber wundern, denn noch niemand hatte bisher eine so große Ähnlichkeit zwischen zwei Menschen gesehen.“ – Vincenz von Beauvais etwa weist diese Verknüpfung nicht auf. „Der Papst hob sie selbst mit römischen Adligen aus der Taufe, und da sie einander so überaus ähnlich waren, gab er ihnen zwei vollkommen gleiche kostbar vergoldete Becher zum Geschenk“ (Klapper 1914, S. 139). Im lateinischen Exempel fehlt diese Episode; vgl. Klapper 1914, S. 339.
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und jeweils nach dem Aufenthaltsort des Freundes befragen. Ist es in der elaborierten und der mittellangen Legendenversion Amelius, der zuerst mit dem Pilger kommuniziert und eine negative Antwort auf seine Frage erhält, trifft in den Seelentrost-Bearbeitungen Amicus als erster auf den Pilger.58 Der erste Freund gibt dem Pilger jeweils seinen Rock59 und bittet ihn um Fürsprache bei Gott und den Heiligen, der Suche endlich ein Ende zu bereiten. Der zweite Freund erscheint kurz darauf und fragt seinerseits nach dem vermissten Gefährten. Der Pilger glaubt sich nun verspottet, habe doch derselbe Mann sich bereits bei ihm erkundigt. Der Pilger beglaubigt so erneut die Gleichheit der Freunde, die zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt ist. Zudem wird die Gleichheit erneut in einem religiösen Kontext verortet, da sie mit vorbildlichem christlichem Verhalten verknüpft wird. Signifikant ist auch die Hilfe des Pilgers, der dem zweiten Freund den Weg weisen kann und damit dazu beiträgt, dass die Gefährten zusammentreffen und ihren Freundschaftsbund erneuern. In der Pilgerepisode wird die religiöse Legitimation der Freundschaft und die Inszenierung der Gleichheit verdoppelt, die bereits mit der Papsttaufe und den gleichen Bechern vorgenommen wurden. In der französischen chanson de geste Ami et Amile, die aufgrund einer Vermischung der sie bestimmenden Zeichenordnungen zu den Grenzfällen, also zur dritten Textgruppe, gehört, ufert die Inszenierung der Auserwähltheit und die religiöse Legitimation der Freundschaft der beiden Helden geradezu aus: Neben der gemeinsamen Taufe durch den Papst und den Bechern als Taufgeschenken werden weitere Momente angehäuft, um Similarität und Freundschaft herzustellen. So verkündet ein von Gott gesandter Engel bereits vor ihrer Geburt die außergewöhnliche Treue, die die beiden Freunde verbinden wird. Ansoiz qu’Amiles et Amis fussent né, / Si ot uns angres de par Deu devisé / La compaingnie par moult grant loiauté (Dembowski 1987, V. 19-21).60 Damit jedoch nicht genug: Sie werden in der gleichen Nacht gezeugt, am gleichen Tag geboren und am gleichen Tag _____________ 58
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Vgl. etwa für die französische elaborierte Vita Moland / D’Héricault 1856, S. 46f., die Stuttgarter mittellange schwäbische Legende Hs. Stuttgart, Cod. theol. et phil. 4° 81, Bl. 282v, und die Große-Seelentrost-Fassung Schmitt 1959, S. 229, Z. 28 – S. 230, Z. 10. In den Minimalfassungen, in denen Amicus seinen Rock weggibt, spendet Amelius keinerlei Almosen. Eine Begründung bietet vielleicht der Verweis auf Amelius’ bôse[] snôde[] kleider[] (Wackernagel 1839, Sp. 982, Z. 17), in denen sich seine momentane Armut manifestiert. In der mittelenglischen Fassung des Alphabet of Tales trifft Amelius als erster auf den Pilger und gibt ihm seinen Rock, Amicus aber gibt nichts; vgl. Macleod Banks 1904/05 /1987, S. 38, Z. 21-32. Dies ist eine Reminiszenz an den Hl. Martin, der mit einem Bettler – bei dem es sich um Jesus handelte – seinen Rock teilte. So wird das religiöse Verweissystem dieser Textgruppe weiter ausdifferenziert. „Schon vor ihrer Geburt war ihre Freundschaft und ihre große gegenseitige Treue von einem Engel geweissagt worden“ (Vielhauer 1979, S. 34).
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getauft; sie erhalten nicht nur die Becher, sondern werden vom Papst mit weiteren kostbaren Taufgeschenken nur so überschüttet. 61 Außer dem Papst fungiert auch in diesem Text der Pilger als zusätzlicher religiöser Bürge der Gleichheit. Hier kann der Pilger aber sehr wohl zwischen Amile, der ihm einen Ring übergibt, und Ami, der zwei Goldmünzen spendet, unterscheiden, allerdings eher aufgrund rationaler Fähigkeiten als wegen etwaiger Differenzen der Freunde.62 Eine Verwechslung ist hier nicht mit der religiösen Autorität des Pilgers vereinbar.63 Die Gleichheit bezeichnet der Pilger als Wunder.64 Das Element der Verwechslung wird in der anschließenden Szene gleichwohl zum nochmaligen Verweis auf die Gleichheit der Freunde genutzt: Nicht der Pilger ist es, der die sukzessive an ihn herantretenden Freunde für ein und denselben Mann hält, sondern ein Schweinehirt.65 Neben der religiösen Ebene,66 auf der die Ähnlichkeit hergestellt wird, existiert eine weitere. Die Texte beschreiben das gleiche Aussehen der Freunde zusammen mit ihren adligen Betätigungen: Beide Freunde sind zu diesem Zeitpunkt bereits zum Ritter geschlagen worden.67 Die Gefährten sind zudem durch unvorstellbare Schönheit gekennzeichnet. All dies wird als ein Wunder Gottes deklariert, so dass adlig und religiös konnotierte Konstituenten von Gleichheit einander angenähert werden: Il s’entresamblent de venir et d’aller Et de la bouche et dou vis et dou nés, Dou chevauchier et des armes porter, Que nus plus biax ne puet on deviser. Dex les fist par miracle. (V. 39-43)68
Das Wunder äußert sich in gleichen Gesichtszügen und im gleichen Gebaren. Die Gleichheit der Freunde wird so zum einen religiös aufgeladen _____________ 61
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Vgl. Dembowski 1987, V. 13-31. Arráez / Celdrán 2001, S. 10, betonen „l’origine divine de la naissance des deux chevaliers“. Vgl. ebd. und Arráez 2001/02 zu biblischen Parallelen respektive christlicher Symbolik in der chanson de geste Ami et Amile. Vgl. Dembowski 1987, L. 8. Hinzu kommt, dass der Pilger bereits Amile, der zuerst zu ihm kommt, Auskunft über seinen Freund geben kann, denn er ist diesem auf seinen Reisen zu einem früheren Zeitpunkt begegnet; vgl. Dembowski 1987, V. 95-103. Vgl. Dembowski 1987, V. 130. Erzählerisch ausgestaltet ist nur seine Begegnung mit Ami, während der man von der vorhergehenden mit Amile erfährt. Vgl. grundsätzlich zu religiösen Elementen in Ami et Amile Madika 1987. Vgl. Dembowski 1987, V. 37. „Sie gleichen einander in allem: in der Art sich zu bewegen, in Mund, Gesicht und Nase, in der Art zu Pferde zu sitzen und die Waffen zu tragen, so dass man weit und breit nichts Schöneres sehen kann. Als ein Wunder hatte Gott sie erschaffen“ (nach Vielhauer 1979, S. 35).
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und zum anderen mit Konstituenten adliger Identitätsbildung kombiniert. Die Ununterscheidbarkeit der Freunde wird folglich in diesem Text nicht nur durch Gott und religiöse Handlungsabläufe bedingt. Mit dem Verweis auf adlige Verhaltensweisen, die im Zitat explizit an die Schönheit der Protagonisten geknüpft sind, wird gleichzeitig ein adliges Deutungssystem aufgerufen und anschließend noch weit stärker ausgebaut als in den adlighöfischen Texten (Gruppe 1). So sind die Freunde in der chanson de geste tapfere Krieger in Karls Heer.69 Beide kollektiven Deutungsmuster sind in diesem Text so prominent, dass sie die Konstruktion der Gleichheit in der chanson de geste gleichermaßen bestimmen und daher eine spezifische Formation der Ähnlichkeit hervorbringen. Hinsichtlich des Ranges der Freunde bleibt die chanson de geste merkwürdig ambivalent: Während zunächst nur Ami als Graf bezeichnet wird,70 ohne dass explizit von ihren Vätern gesprochen wird, ist im weiteren Verlauf auch von cuens Amiles71 die Rede, obwohl kein erkennbarer Statuswechsel – etwa durch eine Heirat – stattgefunden hat. In diesem Phänomen sind demnach ebenfalls beide Tendenzen erkennbar: der klare Rangunterschied der zweiten sowie die gleichermaßen hervorragende Herkunft der Freunde in den Texten der ersten Gruppe. Das Miracle de Nostre Dame d’Amis et d’Amille generiert als szenischer Text72 eine massive Diskursivierung der Freundschaft in dem Sinne, dass die Protagonisten ausführlich über ihre Bindung sprechen.73 Nirgendwo sonst ist in den Texten eine derart umfangreiche (Selbst-)Reflexion und Artikulation von Emotionen durch die Freunde zu finden.74 In diesem Text wird die enge Verbindung von Gleichheit und Freundschaft besonders deutlich. Im Gegensatz zu den Texten der zweiten Gruppe und auch im Unterschied zur chanson de geste fehlt hier die Reise nach Rom und somit die Stiftung von Gleichheit und Freundschaft durch Reisegemeinschaft und religiöse Rituale. Doch auch das Hoffest der Texte mit adligem Sinnhorizont (Gruppe 1), das strukturell der Reise nach Rom entspricht und der Zusammenführung der Protagonisten dient, ist im Miracle nicht vorhanden. Stattdessen beginnt das Miracle mit einem Monolog, in dem Amis die Beweggründe seiner bislang siebenjährigen Suche nach Amille darlegt, den er noch nie gesehen hat, von dem ihm aber viel erzählt wurde. Das _____________ 69 70 71 72 73 74
Vgl. Dembowski 1987, L. 14 und 22. Vgl. Dembowski 1987, V. 34f. „Graf Amiles“; siehe Dembowski 1987, V. 1918. Zu Aufführungssituation und „écriture dramatique“ des Miracle vgl. Henrard-Warnier 1992. Eine Diskursivierung im Sinne der Narration über Freundschaft mit bestimmten Figurenund Handlungskonstellationen findet natürlich in allen Texten statt. Allerdings finden sich auch im Engelhard z.T. umfangreiche Monologe der Helden, die über die Freundschaft und ihre damit verbundenen Gefühle reflektieren. Vgl. Kap. I.4.4.
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Wissen um die Gleichheit von Körper und Gebaren der beiden Adligen (Il me ressamble de corsage, / D’aler, de venir, de langage, / D’estat, de parler, de maintieng. Paris / Robert 1879, V. 11-13)75 löst in Amis ein starkes Begehren (Mon desir, V. 16) aus, den ihm gleichenden Mann zu finden.76 Die Gleichheit wird auch in diesem Text dadurch greifbar gemacht, dass die (künftigen) Freunde äußerlich nicht zu unterscheiden sind.77 Diese Ununterscheidbarkeit ist der Grund für Amis’ Liebe (amour, V. 27) zu Amile, obgleich er ihn noch nie gesehen hat. Zur gleichen Zeit sucht auch Amille nach Amis, so dass die Similarität beider sich nicht nur in ihrem gleichen Aussehen, sondern auch in der parallelen Suche78 äußert, über die er mit ähnlichen Worten spricht.79 Im Miracle werden die Freunde zwar nicht vom Papst getauft, trotzdem fehlt es nicht an religiöser Beglaubigung der Gleichheit. Der Pilger leistet auch hier seinen Beitrag zur Zusammenführung der Freunde, allerdings trifft er im Text selbst nur auf Amis, dem er erzählt, dass Amille bereits bei ihm war. Dabei beschreibt er nochmals die Gleichheit beider: Ne vi humaine creature Qui vous ressamblast de faiture Si bien conme un que je vi hier, Car de vostre grant, sire chier, Estoit et de vostre façon. (V. 57-61)80
Mit dem Sprechakt des Pilgers wird die Gleichheit der Freunde implizit – durch den Status des Sprechenden – an ein religiöses Deutungssystem angebunden. Auffällig ist, dass Schönheit in den Texten der ersten Gruppe eine größere Rolle spielt als in denen der zweiten: Die chanson de geste, einer der beiden aus diesem Interpretationsraster herausfallenden Texte, konstituiert Gleichheit über eine Kombination beider Möglichkeiten. Sowohl die Elemente adliger Identitätsstiftung als auch die religiösen Rituale werden aufgegriffen und sogar noch gesteigert, so dass ein Überschuss entsteht, _____________ 75 76 77 78 79
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„Er gleicht mir im Körperbau und in den Bewegungen, in Redeweise, Statur, in der Art zu sprechen und im Verhalten.“ Vgl. Paris / Robert 1879, V. 14-17. Vgl. Paris / Robert 1879, V. 19-26. Die gegenseitige Suche ist Bestandteil aller Texte der zweiten und der dritten Gruppe. Vgl. näher zur Suche Kap. I.4.2. E! Diex, fineray je jamais / De celui querir ou j’ay mis / Mon cuer et m’amour? (Paris / Robert 1879, V. 88-90) („Ach Gott, werde ich niemals aufhören, nach dem zu suchen, dem ich mein Herz und meine Liebe gegeben habe?“) „Noch nie habe ich ein menschliches Wesen gesehen, das Euch in jeglicher Art so ähnelte wie einer, den ich gestern gesehen habe, denn er war von Eurer Größe, lieber Herr, und von Eurem Aussehen.“
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der die Außergewöhnlichkeit und Auserwähltheit der Helden nochmals unterstreicht. Das Miracle koppelt Gleichheit an das Handlungselement der Suche, indem es Imaginationen von äußerer Ununterscheidbarkeit im gegenseitigen Begehren der Protagonisten nach der Nähe des jeweils Anderen verdichtet. Hier wird zunächst nicht auf spezifische Deutungssysteme rekurriert, stattdessen wird die äußere Ununterscheidbarkeit, die in allen Texten des Amicus-Amelius-Korpus zentral ist, an das Begehren nach dem gleichen Mann gekoppelt. Insgesamt wird Gleichheit auf verschiedenen Ebenen hergestellt, die in den einzelnen Texten und Gruppen unterschiedlich gewichtet werden: auf körperlicher Ebene, (mit Einschränkungen) auf sozialer Ebene, weiter auf der handlungsstrukturellen Ebene (z.B. die gegenseitige Suche) und auf der Ebene der Bezeichnungen (Namen) und Gegenstände (Becher). Trotz aller Varianten manifestiert sich in allen Texten die Gleichheit von Amicus und Amelius in der Identität ihrer äußeren Erscheinungen: In den gleichen, sich spiegelnden Körpern materialisiert sich das Gleichheitskonzept des Textkorpus.81 Dass die Freunde in der anglonormannischen Verserzählung und in Konrads Engelhard, also in Texten der ersten Gruppe, mit Engeln verglichen werden,82 zeigt, dass Schönheit nicht nur als Marker von Adel fungiert, sondern auch christlich-religiös codiert sein kann. Gleichwohl findet sich ein expliziter Verweis auf die Schönheit der Gefährten eher in den Texten der ersten Gruppe und geht meist mit dem Adelsausweis einher.83 Auch in den Grenzfall-Texten, also der dritten Gruppe, ist von der Wohlgestalt der Freunde die Rede.84 Die Bearbeitungen der zweiten Gruppe thematisieren nur vereinzelt Schönheit.85 Stets aber wird hier die Gleichheit der Freunde als so positiver und außergewöhnlicher Zustand betont, dass diese Gleichheit – vor dem Hintergrund mittelalterlicher Vorstellungen von Schönheit – als Synonym für Schönheit gelesen werden kann. Liegen der Auffassung von künstlerischer Schönheit und Ästhetik die Prinzipien von Symmetrie, Verdoppelung und Gleichheit zugrunde,86 so _____________ 81
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McCaffrey 1998 entwickelt für diese spezifische Konstellation (in Ami et Amile und Floire et Blancheflor) das Konzept der paradoxical identity. Mit diesem Terminus soll sowohl die Gleichheit der Protagonisten gekennzeichnet werden wie auch die Tatsache, dass es mindestens ein differenzierendes Merkmal geben muss, um die Protagonisten zu unterscheiden. si solten engel beide sant / und niht menschen sîn genant (Reiffenstein 1982, V. 783f.). – Vgl. für die anglonormannische Verserzählung Fukui 1990, V. 16. Dies gilt für die anglonormannische Verserzählung, die mittelenglische romance, Lille 130, und Konrads Engelhard, zumindest implizit auch für Radulfus Tortarius’ Erzählung. Vgl. für das Miracle nur Paris / Robert 1879, V. 531. So die französische elaborierte Vita, vgl. Moland / D’Héricault 1856, S. 41f., und Andreas Kurzmanns Text, vgl. Oettli 1986a, S. 149, V. 14-16. Vgl. Eco 1993, bes. S. 63f. und S. 67.
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können diese Prinzipien auch in einem literarischen Textkorpus Schönheit bedeuten. Die gleichen Körper der Gefährten signifizieren demnach Schönheit: Diese kann sich in der wechselseitigen Spiegelung von Amicus und Amelius entfalten. Diese Konstruktion von Schönheit ist nicht ausschließlich dem adligen Körper verhaftet, sondern verfügt über eine Bedeutungsdimension, die über die Demonstration von Herrschaftsfähigkeit hinausgeht. Wahrnehmbare Schönheit verweist auf spirituelle, transzendente Schönheit:87 Die Gestaltgleichheit der Freunde wird so auch auf einer übersinnlichen Ebene verankert und kann ihre Nähe zu Gott bedeuten. Ähnlich postuliert der in einigen Texten der ersten Gruppe vorhandene Engelsvergleich die Gottesnähe der Gefährten. Finn Sinclair beschreibt die Gleichheit der Protagonisten in der chanson de geste Ami et Amile als „the marker of their state of grace“.88 So sind hinsichtlich der Einordnung von Schönheit zum einen recht deutlich zu unterscheidende Strategien der einzelnen Textgruppen festzustellen: Schönheit als Adelsattribut in der ersten und als transzendent-religiöse Kategorie der zweiten Gruppe. Zum anderen aber überschneiden sich die Bedeutungsebenen, wie etwa die Engelsgleichheit der Kameraden in der ersten oder die ausgewiesene adlige Identität der Freunde in der zweiten Gruppe zeigen.89 Zentral ist im gesamten Amicus-Amelius-Textkorpus, dass Schönheit stets mit körperlicher Gleichheit zusammengedacht wird. Die besondere Schönheit der Freunde resultiert immer auch daraus, dass eine Doppelung des einzelnen schönen Körpers vorliegt.90 1.2. Freundschaftsschwur Bündnisse können mit einem Eid geschlossen werden. Dem Eid als Ritual oder Teil eines Rituals eignet mithin eine gemeinschaftsstiftende Funktion.91 Der Freundschaftsschwur markiert den Beginn einer Bindung, die in einen rechtlichen Kontext gestellt wird. Der Eid konstituiert nicht nur das Bündnis, sondern transportiert – explizit oder implizit – Verhaltensvorgaben, die für die Beteiligten fortan gelten. Der Eid als Ritual verfügt zudem über eine identifikatorische Funktion, da die Identität der Partizipierenden _____________
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Vgl. Assunto 1982 und Eco 1993. Sinclair 2008, S. 194. Zur Ausbildung der adligen Identität der Freunde vgl. die folgenden Unterkapitel. Die Vorstellung, dass ‚gleich‘ ‚schön‘ ist, findet sich etwa auch im Gotischen. Das Adjektiv ibna-skauns, ‚gleichgestaltet‘, setzt sich zusammen aus den Komponenten ibns, ‚eben; gleich‘, und skauns, ‚wohlgestaltet, schön‘. Gleichgestaltetheit bedeutet damit immer auch Schönheit. Vgl. den Eintrag im Gothischen Glossar, S. 313. Zu dieser zentralen Annahme der Ritualforschung vgl. etwa Belliger / Krieger 22003 und Wulf / Zirfas 2004.
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durch die Aufnahme in die Gemeinschaft neu definiert wird.92 Überdies kommt den Körpern der Teilnehmenden besondere Bedeutung zu: Da jegliches Ritual an bestimmte Gesten und Handlungsabläufe geknüpft ist, wird der Körper stets in Szene gesetzt.93 Während die Gleichheit der Protagonisten in allen Amicus-AmeliusTexten herausgearbeitet wird, werden dem Schwur oder ähnlichen Ritualen in den verschiedenen Bearbeitungen sehr unterschiedliche Bedeutung zugemessen. Die jeweiligen Sinnhorizonte der Textgruppen sagen zunächst noch nichts über vorhandenes oder fehlendes Interesse am Eid aus: In der ersten und zweiten Gruppe gibt es jeweils Bearbeitungen, die ausführlich Umstände und Inhalt des Freundschaftsversprechens darlegen, während in einigen der Schwur oder eine entsprechende ritualisierte Handlung, mit der Freundschaft geschlossen wird, völlig fehlt. Der älteste Text, Radulfus Tortarius’ Verserzählung vom Ende des 11. Jahrhunderts, enthält eine recht komprimierte Darstellung vom Beginn der Freundschaft. Dort wird vom unauflöslichen Freundschaftsband gesprochen, das Amicus und Amelius verbindet. Dum famulantur ei, sunt arto glutine iuncti Indissolvendae prorsus amiciciae, Ex illo valuit quam tempore solvere nemo, Nec mors, namque locus continet unus eos. (Ogle / Schullian 1933, V. 133-136)94
Der Ausdruck sunt arto glutine iuncti [...] amiciciae erinnert an die Formel Facti sunt amici, die laut Althoff in mittelalterlichen rechtlichen Texten den Abschluss eines Freundschaftsbündnisses bezeichnete.95 Obwohl in der mittellateinischen Verserzählung von Radulfus Tortarius nicht explizit von einem Eid gesprochen wird, kann von einem quasi rechtlichen Charakter der Bindung ausgegangen werden, die durch die Formulierung ‚sie waren durch das enge Band unauflöslicher Freundschaft verbunden‘ beschrieben wird. Freundschaft wird als lebenslange Verbindung aufgefasst, die nicht einmal der Tod trennen kann: Im gemeinsamen Grab,96 das an den Anfang der Erzählung tritt, materialisiert sich die Exklusivität und Unauflöslichkeit der Freundschaft sowie die Vorstellung von ewiger körperlicher Nähe als endgültigem Idealzustand. _____________ 92 93 94 95 96
Vgl. dazu Wulf / Zirfas 2004, S. 18 und S. 20f. Vgl. zu Formen und Funktionen von Ritualen auch Kap. I.1.4. „Als sie sich dort aufhielten, schlossen sie einen Bund unauflöslicher Freundschaft, einen Bund, den niemand zu ihren Lebzeiten lösen konnte. Auch der Tod konnte es nicht lösen, denn die beiden Männer wurden zusammen begraben“ (nach Leach 1937/1990, S. 101). Vgl. Althoff 1990, S. 87. Er beschreibt den Zeitraum vom frühen Mittelalter bis zum 12. Jahrhundert. Zum gemeinsamen Grab von Amicus und Amelius siehe Kap. I.3.3.
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Knapp fällt auch die Information in der anglonormannischen Verserzählung aus. Der Schwur, der in diesem Fall Amys und Amillyoun zu Brüdern macht, wird in der einleitenden Schilderung nur kurz erwähnt. Die Protagonisten werden bereits als Freunde am Hof eines Grafen eingeführt. Taunt s’amerent fierement / Que freres se firent par serement (Fukui 1990, V. 17f.).97 Die Spezifik des Bruderschaftsbündnisses manifestiert sich vornehmlich auf der terminologischen Ebene, die auch die Bezeichnungen und gegenseitigen Anreden der Helden prägt: Beau frere (V. 495)98 ist die Alternativanrede zu beau compaignoun (V. 74).99 Insgesamt vermischt die anglonormannische Fassung Freundschafts- und Schwurbruderschaftsterminologie und partizipiert so an der grundsätzlichen Vermischung mittelalterlicher Begriffsfelder von Freundschaft und Verwandtschaft.100 Die Freundschaftskonzeption rückt mithin in einen explizit verwandtschaftlichen Kontext: Freundschaft erscheint als selbst gewählte, freiwillig eingegangene Form von Verwandtschaft. Während die im mittelalterlichen Kontext als primärer Vergesellschaftungsmodus wahrgenommene Verwandtschaft Ursprünglichkeit und Blutsgemeinschaft bedeutet, rekurriert die Freundschaft auf Gleichheit und Freiwilligkeit, so dass durch die Verbindung beider Modelle die Idee von Unverbrüchlichkeit und Wirksamkeit verstärkt wird. In Konrads Engelhard treffen sich die zukünftigen Freunde ûf einer wilden heide (Reiffenstein 1982, V. 488).101 Nachdem Engelhard bereits zwei potentielle Freundschaftsanwärter aufgrund mangelnder tugent verschmäht hat, wird Dietrich als dritter Fremder dem Apfeltest unterzogen.102 Indem er – im Gegensatz zu den vorherigen Kandidaten – den ihm angebotenen Apfel mit Engelhard teilt, hat er seine Zugehörigkeit zu ihm bewiesen.103 _____________ 97 98 99 100
„Sie liebten einander so stark, dass sie sich Bruderschaft schworen.“ „schöner Bruder“ „schöner Freund“ Dies wird etwa an der französischen Bezeichnung amis charnels für Verwandte und Alliierte sichtbar; vgl. Bloch 1999, S. 175-178. – Vgl. zur Verwandtschaftsthematik Kap. II.1. und genauer zu terminologischen Überschneidungen Kap. III.2. 101 Dieses unwahrscheinliche Ereignis wird als Wille Gottes deklariert, so wie auch spätere Geschehnisse an dieser Stelle bereits in einen wunderbar-göttlichen Zusammenhang gestellt werden: des wolte got entberen niht, / der an in wunderte ouch dar nâch (Reiffenstein 1982, V. 490f.). 102 Auch die von Pfeiffer 1886 herausgegebene Fassung der Legende von den beiden treuen Jacobsbrüdern aus dem 14. Jahrhundert weist einen Apfeltest auf: Hier ist es nicht der Vater, sondern die Mutter, die ihren Sohn instruiert, potentielle gesellen zu prüfen. Es ist hier ebenfalls der dritte Mann, der den Apfel schält und teilt, allerdings ohne sich über körperliche Gleichheit zusätzlich zu qualifizieren; vgl. S. 197, Z. 29 – S. 198, Z. 19. Vgl. zum Apfeltest Spengler 1977. 103 sus bôt er im den apfel dar / den er dannoch hæte. / den nam der knabe stæte / mit blanken henden snêwîz / und tete dar zuo sînen flîz / daz er in gar geschelte. / dar nâch der ûz erwelte / spielt in ebene
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Anders als mit den doppelten Bechern, die als kulturelle Artefakte die Gleichheit der Freunde reproduzieren und die Gefährten fortan begleiten, wird mit der Teilung des Apfels die Vorstellung zweier zusammengehöriger Hälften transportiert, die „in der Freundeswahl zu erneuter und bewusster Einheit“104 gelangen. Das gemeinsame Essen des Apfels, der nicht nur geteilt, sondern auch geschält wird, demonstriert neben ‚zivilisiertem‘ Umgang mit Natur die Beherrschung höfischer Verhaltensweisen105 und verweist zusätzlich auf den gemeinschaftsstiftenden Charakter gemeinsamen Essens.106 In symbolischer Verdichtung wird im Apfeltest – so Christiane Witthöft – die „Bereitschaft zur Reziprozität“107 deutlich, die Engelhard und Dietrich für ihre Freundschaft aufbringen müssen. Mit dem Verspeisen des Apfels manifestiert sich überdies ein Verständnis von Freundschaft, das nicht auf die veräußerlichten Memorialzeichen der Becher rekurriert, sondern auf der konkreten Einverleibung des Freundschaftszeichens beruht.108 Der geselleschaft-Eid wird geschlossen, nachdem Dietrich den Apfeltest109 bestanden hat. _____________
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als ein ei / mit einem mezzersnite enzwei / und bôt daz eine stücke dar / mit hovelicher zühte gar / Engelharte bî der stunt (Reiffenstein 1982, V. 550-561). Unklar bleibt in diesem Zusammenhang die Bedeutung des kriutels, das Dietrich schon vorher aus seinem Gewürzbeutel zieht und Engelhard übergibt (vgl. V. 516-521). Die Analogie zum Apfeltest alludiert auf einen etwaigen Paralleltest, den Dietrich seinerseits anwendet, um den richtigen Gefährten auszuwählen. Engelhard nimmt jedoch nur an, ohne seinerseits zu teilen und etwaige Tugenden zu demonstrieren, es sei denn, man liest Engelhards Apfel als Gegengabe zum kriutel; vgl. Virchow 2007, S. 294. Klinger / Winst 2003, S. 260. Ähnlich Müller 1998, der die Apfelprobe vor dem Hintergrund der Verifizierung „von Interaktionsregeln innerhalb der gleichen Gesellschaftsschicht“ (S. 309) situiert. Vgl. auch Müller 1984/85, S. 301f., der im Apfeltest bereits die Mechanismen der späteren Freundschaftsproben erkennt. Vgl. nur Althoff 1990, S. 203-211. Witthöft 2005, S. 391. Sie untersucht den Engelhard hinsichtlich der Strategien der Vertrauensbildung zwischen den Freunden und beschreibt die Apfelprobe als „Vertrauensbildung durch symbolisches Handeln“ (S. 392). Kokott 1989, S. 47f. und ähnlich S. 55, beschreibt den Apfeltest als bewusstes Auswahlverfahren des Gefährten im Gegensatz zu Zufall oder göttlicher Fügung, die in den meisten (religiösen) Amicus-Amelius-Texten vorherrsche. Weiter sieht Kokott den Egoismus des potentiellen Freundes auf dem Prüfstand: Im Zusammenhang mit seiner Interpretation des Engelhard als Aufsteigergeschichte, die den aus dem niederen Adel stammenden Engelhard letztlich in die Position des Königs von Dänemark katapultiert, glaubt Kokott, in der Apfelprobe werde der Begleiter ausgewählt, dessen Egoismus am geringsten ausprägt ist und damit die Gefahr künftiger Konkurrenz für Engelhard minimiert. Dieser Ansatz verschärft die – sicher im Engelhard angelegte – Perspektivierung auf einen der beiden Freunde, verabsolutiert diese jedoch und verliert das auf Wechselseitigkeit ausgerichtete Freundschaftsmodell aus den Augen. Die Teilung des Apfels rekurriert nicht nur auf den wenig ausgeprägten Egoismus Dietrichs, der dann – in Kokotts Lesart – dem Egoismus Engelhards zugute kommen muss, indem er Dietrich als „Werkzeug“ (S. 51) für seine Karriere benutzt,
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Dem Schwur gehen Reflexionen voran, in denen die zukünftigen Freunde jeweils das große Begehren nach einem Gefährten sowie die Bewunderung von Schönheit und Vollkommenheit des Anderen thematisieren. Ein gedanklicher ‚Innenraum‘ wird jeweils entfaltet, der dem Kameraden jedoch je verschlossen bleibt. Durch die parallelen Gedankenabläufe werden die Freunde einander indes wieder angenähert. Die Nähe dieser Reflexionen zur Apfelprobe ist nicht zufällig: Dass der geteilte Apfel gemeinsam verspeist wird, lese ich als literarisches Bild, das die quasi ‚verinnerlichende‘ Tendenz des Freundschaftsmodells auf einer materiellkörperlichen Ebene demonstrativ in Szene setzt. Die ‚Verinnerlichung‘ erfolgt auf gastro-digestivem Weg, nämlich gegenständlich über die Einverleibung des (essbaren) Freundschaftsmarkers. Dieses ‚verinnerlichte‘ Begehren wird in gedanklichen Operationen – also einem ‚Innenraum‘ der Protagonisten – sichtbar.110 Engelhard und Dietrich tauschen ihre Namen aus, legen ein gemeinsames Reiseziel fest und si lobeten mit dem eide / ein ander dô geselleschaft. (V. 626f.) Dass ein Freundschaftseid abgelegt wird, erscheint als logische Konsequenz der vorhergehenden Ereignisse. Dem detaillierten Beweis der Zusammengehörigkeit der Helden durch die Apfelprobe wird weit mehr Bedeutung zugemessen als dem Eid selbst: Der Text hält sich nicht damit auf, das Versprechen oder die aus ihm entstehenden erforderlichen Verhaltensweisen zu spezifizieren. Der Schwur bildet hier lediglich den formalen Abschluss der Zusammenführung der Freunde. Die triuwe, die im Prolog Konrads ausführlich behandelt wird, wird zwar im Eid selbst nicht thematisiert, erscheint jedoch in vorhergehenden Betrachtungen: So werden die einander gleichenden juvenes bereits zu Beginn ihrer Begegnung mit triuwe assoziiert111 und Engelhard spricht schon vor dem Apfeltest von brüederlîche[r] triuwe (V. 541), die ihn mit Dietrich verbinden könnte.112 Insofern wird trotz der sehr allgemeinen Beschreibung des Freundschaftseides die geselleschaft als triuwe-Bündnis markiert. In Konrads Engelhard ist der Umstand, dass Freundschaft geschlossen wird, mit der sozialen Isolation der Protagonisten verknüpft: Engelhard _____________ 109
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sondern vor allem auf die Eignung zur Freundschaft, die eben auf Wechselseitigkeit basiert: Aus einem Apfel werden zwei Hälften, aus zwei Adligen ein Freundespaar. Feistner 2000 interpretiert den Apfeltest und weitere Szenen aus dem Engelhard, die mit dem Essen verknüpft sind, als Gegenstücke zum Märe Die halbe Birne: Beide Texte arbeiten mit kulinarischen Motiven, die mit spezifischen Bedeutungen aufgeladen sind. Triebregulierung und -ausbruch, höfische Verhaltensnormen und deren Verletzung werden so diskutiert. Vgl. Kap. I.4.4. Vgl. etwa Reiffenstein 1982, V. 474. Zu Konrads Ausführungen zur triuwe vgl. Koch 1999. Vgl. zu Semantik und Verwendung des Terminus triuwe Schultz-Balluff 2009.
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hat sein – wohl dem niederen Adel angehörendes – Elternhaus verlassen, um bei König Fruote von Dänemark durch Dienst vil rîchiu swertlêhen (V. 317) zu erlangen und so die Armut seiner Eltern zu kompensieren. Auch Dietrich ist allein unterwegs. Ute von Bloh schätzt diesen Umstand folgendermaßen ein: Das Freundschaftsbündnis im Engelhart kompensiert dabei wie im Prosa-Lancelot und im Loher und Maller nicht vorhandene Gruppenbindungen, wenn es stets in der außerordentlichen Situation geschlossen wird, die durch den Verlust anderer Bindungen gekennzeichnet ist. Freundschaftsbündnisse fungieren als ein unübertrefflicher Ersatz, was im Engelhart noch durch die absolute ‚Verähnlichung‘ der Freunde veranschaulicht ist.113
Diese spezifische Komponente eignet in der adlig-höfischen Textgruppe indes nur dem Engelhard, in allen anderen Texten entsteht die Freundschaft am Hofe des Herrschers (Radulfus Tortarius, Historia septem sapientum und mittelenglische romance) bzw. ist es nicht mehr zu entscheiden, ob die Freundschaft dem gemeinsamen Dienst vorgängig war oder nicht (anglonormannische Verserzählung und Lille 130). Insofern ist sie eingebettet in bereits bestehende Beziehungen zum Herrscher und zu anderen Gefolgsleuten, stellt also keinen Ersatz oder Ausgleich dar, sondern bildet vielmehr eine exklusive Zweierbeziehung innerhalb des höfischen Kollektivs. Die mittelenglische romance beschreibt als einziger Text der ersten Gruppe ein ausführliches Freundschaftsversprechen, das explizit auf das zukünftige Treueverhältnis zwischen den Helden abhebt und die Pflichten darlegt, die aus dieser Beziehung erwachsen.114 Der Schwur schließt sich hier an eine Phase an, in der sich die Freundschaft entwickelt. Am Hofe des Herzogs gehen die beiden jungen Herren gemeinsamen Betätigungen – Jagen und Reiten – nach.115 Es existiert bereits eine enge Bindung: Ne betuene men of flesche and bone / Trewer love was never none (Le Saux 1993, st. 12, V. 10f.).116 Dieses wird durch ein Treueversprechen besiegelt: the childerin […] / Togeder were trouth plight (st. 13, V. 1f.).117 Mit dem gegenseitigen Treueversprechen entsteht ein Freundschafts- und Treueverhältnis, das als personale und rechtlich wirksame Bindung beschrieben wird. Der Inhalt wird folgendermaßen beschrieben: _____________ 113 Von Bloh 1998, S. 321. 114 Die mittelenglische romance zeigt ein grundsätzliches Interesse an Treueversprechen: So legt der Herzog gegenüber dem abreisenden Amiloun ebenfalls ein Treue- und Hilfeversprechen ab (vgl. Le Saux 1993, st. 19, V. 7-12). Bei der Trennung erneuern Amys und Amylion ihr gegenseitiges Versprechen z.T. wörtlich (vgl. st. 24, V. 5-12). 115 Vgl. Le Saux 1993, st. 12, V. 3-6. 116 „Zwischen Männern aus Fleisch und Knochen gab es niemals treuere Liebe.“ 117 „Die Kinder gelobten einander Treue.“
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Bote be dai and be nyght, In wele, wo, wrong and ryght Fferly scholde hem fonde, Hold togeder at every nede, In wele, woo, word and dede, While thei myght stonde, Ffro that dai forward ever moo, Nether faile other for wele ne woo: Therto thei halde up honde. (st. 13, V. 4-12)118
Die reziproke Verpflichtung besteht also darin, bis ans Lebensende zu jeder Zeit und in jeder Lage den Freund zu unterstützen und ihm jegliche Hilfeleistung zukommen zu lassen. Beständigkeit und Standhaftigkeit, implizit auch Exklusivität und Superiorität der Freundschaftsbindung gegenüber anderen Verpflichtungen, werden herausgestellt. Mit der Wendung in wrong and ryght wird bereits auf mögliche Konflikte der Freundestreue mit anderen Bindungen verwiesen. Die hier geschworene Treue gilt als absolut einzuhaltende.119 Der ritualisierte Sprechakt des Treueschwurs wird abgeschlossen, indem die Hände gehoben werden. Auffällig ist der – trotz aller Ausführlichkeit – sehr allgemein gehaltene Inhalt des Treueversprechens. Althoff begründet die bis ins 12. Jahrhundert verbreitete unbestimmte Formulierung derartiger Verpflichtungen damit, dass ein Konsens darüber existierte, welche Rechte und Pflichten mit bestimmten Gruppenbildungen einhergingen und welche Verhaltensweisen in konkreten Situationen erforderlich waren.120 Noch stärker als in der anglonormannischen Verserzählung werden in der romance Begrifflichkeiten des Treuebündnisses mit Bruderschaftsterminologie kombiniert: Brother ist die bevorzugte wechselseitige Bezeichnung der Freunde,121 so dass auch hier ein verwandtschaftlicher Bedeutungshorizont aufgerufen wird.122 _____________ 118 „Sowohl bei Tag als auch bei Nacht, in Freud und Leid, in Unrecht und Recht würden sie einander stets unterstützen und in jeder Notlage zusammenhalten, in Freud und Leid, in Wort und Tat, so lange sie aushalten konnten, von diesem Tag an für immer sollte keiner den anderen im Stich lassen, weder in Freud noch Leid. Dazu erhoben sie die Hände.“ 119 Vgl. Baldwin 1980 zur Zentralität des Treuekonzepts in der mittelenglischen romance sowie zur Entstehung von Konfliktsituationen durch den Absolutheitsanspruch der Treue zwischen den Freunden. 120 Ab dem 12. Jahrhundert beobachtet Althoff die Zunahme von konkretisierten Bündnissen; vgl. Althoff 1990, S. 117f. 121 Vgl. etwa Le Saux 1993, st. 21, V. 11; st. 24, V. 5; st. 25, V. 1; st. 88, V. 1, V. 11; st. 89, V. 1; st. 92, V. 1, V. 12; st. 93, V. 8 etc. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass der Herzog Amys und Amylion jeweils mit frend anredet, dem Wort mithin eine Bedeutung zuordnet, die auf friedliche, gelingende, herrschaftlich organisierte Bindungen gerichtet ist. Vgl. st. 19, V. 5 und st. 22, V. 4. 122 Vgl. Kap. II.1.
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Die Rituale werden in den jeweiligen Texten unterschiedlich platziert: So schwören sich Engelhard und Dietrich bereits vor ihrer Ankunft am Hofe König Fruotes geselleschaft; die mittelenglischen Helden Amys und Amylion dagegen legen ihr Treueversprechen erst nach geraumer Zeit gemeinsamer Unternehmungen am Hofe des duke ab. Radulfus Tortarius und die anglonormannische Verserzählung lassen die Freundschaftsschließung zu unbestimmter Zeit vor oder nach dem Eintreffen am Hof stattfinden. Damit treffen die Texte je unterschiedliche Aussagen zum Grad der sozialen Integration der Kriegerfreundschaft: Ist der Bund in der mittelenglischen romance eng mit der Beziehung der Gefährten zum Herrscher verbunden,123 zeigt die räumliche Abgrenzung vom Hof im Engelhard neben dem göttlichen Wirken den gesonderten Status der geselleschaft. In den verbleibenden Texten erfolgt keine solche Zuordnung der Freundschaft. Radulfus’ Text und die anglonormannische Verserzählung scheinen das enge Männerbündnis wesenhaft mit einem – einerlei wann – geschworenen Eid zu verbinden, die Historia septem sapientum und Lille 130 aber verzichten auf ein derartiges Ritual:124 Gleichwohl funktioniert die Freundschaft mit ihren aufeinander bezogenen Treuebeweisen auch in diesen Texten. Freundschaftliches Verhalten bedarf hier keiner vorhergehenden rituellen Versicherung. Aufgrund der größeren Homogenität der narrativen Strukturen und Handlungsmuster innerhalb der zweiten Textgruppe, die vorrangig über religiöse Deutungsmuster verfügt, befindet sich der Freundschaftsschwur – bzw. ein Ritual, das eine ähnliche Funktion erfüllt, – in fast allen Texten an der gleichen Stelle: Amicus und Amelius finden sich nach mehrjähriger Suche durch die Hilfe eines armen Pilgers endlich wieder, erkennen sich zunächst aber nicht, so dass es fast zu einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen ihnen kommt. Auf einer Wiese vor Paris treffen Amicus’ und Amelius’ Ritter aufeinander: sie reckten die sper / vnd zugen uß die swert / also / du hettest gemeint das ir keiner möcht entrunnen sin (Stuttgart, Cod. theol. et phil. 4° 81, Bl. 283r), heißt es in der schwäbischen mittellangen Prosalegende der Stuttgarter Handschrift. Als Amicus die angreifenden Fremden anspricht, erkennt Amelius ihn an diser stymme (Bl. 283r). Dass die Kampfhandlungen abgewendet werden, wird Gott zugeschrieben. Es folgen Ausbrüche der Freude, die sich körperlich in gegenseitigen Umarmungen und Küssen manifestieren. Diese emotionale Begrüßung leitet das _____________ 123 Vgl. Kap. II.2.2. 124 Die narrativen Kontexte dieser Auslassung gestalten sich sehr unterschiedlich: Lille 130 setzt zu einem Zeitpunkt ein, an dem die Freundschaft bereits geschlossen ist, und diskutiert nicht, wie sie zustande gekommen ist. In den Historia-septem-sapientum-Fassungen wird zwar beschrieben, dass und wie die Freunde am Hofe des Kaisers zusammentreffen, ein Eid o.ä. wird jedoch nicht erwähnt.
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Ritual des Freundschaftsschwurs ein. Daraufhin begeben sich die Freunde zusammen an den Karlshof. Dieses Erzählmuster entspricht den längeren und den mittellangen Vitafassungen. In der Mehrheit der längeren hagiographischen Bearbeitungen wird das gemeinschaftsstiftende Ritual auf spezifische Weise beschrieben: Der Eid wird über Amelius’ Schwert geschworen, in dem sich heilige Reliquien befinden. Et tantost il descendire de chevaus et se embracèrent, et bassèrent, et randirent Deu graces de ce qu’il s’estoient trové. Et jurèrent feauté, amitié, et perpetuas compaignie li uns à l’autre sus l’espée Amile où avoit reliques (Moland / D’Héricault 1856, S. 49f.).125 Körperliche Gesten, wie Umarmen und Küssen, die in Textgruppe 1 weitgehend fehlen, gehen dem eigentlichen Ritual voran. Dieses wird durch christliche Elemente ergänzt: Die konkrete Heiligkeit der Reliquien im Schwert überträgt sich auf die neu geschlossene Freundschaft. Diese christliche Überformung einer Freundschaft, die zwischen Kriegern geschlossen wird, steht in der historischen Tradition der Aufwertung und Neudefinition von Formen militärischer Praxis durch die Kirche ab dem 10. Jahrhundert. Diese mit der Gottesfriedensbewegung zusammenhängenden Veränderungen bewirkten, dass Kriegshandlungen eingeschränkt wurden, beförderten jedoch gleichzeitig den Gedanken der Rechtmäßigkeit kriegerischer Aktionen zum Schutz von Recht und Frieden sowie zur Verteidigung von Schutzbedürftigen. Die Konzeption religiös motivierter Kriegsführung mündete im Kreuzzugsgedanken.126 All diese Vorstellungen werden in den langen und mittellangen Vitabearbeitungen aufgerufen: Amicus wird von seinem Vater dazu aufgefordert, die Ritterschaft Christi auszuüben (miliciam Christi exercere, elaborierte Vita, Kölbing 1884, S. xcviii, Z. 43), indem er seine Pflichten als miles Christi beschreibt. Dazu gehört der Schutz der Waisen, Witwen und Notleidenden, aber auch die Hilfeleistung für Gefährten und Freunde, speziell Amelius.127 Während sich in mittelalterlichen liturgischen Formelsammlungen sowie in literarischen Texten die neue Anerkennung bestimmter militärischer Betätigungen in kirchlichen Segnungen von Schwertern und ihrer Träger äußert, wird in den Amicus-Amelius-Viten ein bereits geheiligtes Schwert benutzt, um dieses Konzept weiterzuführen: _____________ 125 „Und sofort saßen sie von den Pferden ab und umarmten und küssten sich und dankten Gott dafür, dass sie sich gefunden hatten. Und sie schworen sich gegenseitig Treue und Freundschaft und immerwährende Gemeinschaft auf Amiles Schwert, in dem Reliquien waren.“ – In der lateinischen Fassung schwören sie sich nur Treue; vgl. Kölbing 1884, S. ci, Z. 6. 126 Vgl. Bumke 1964, S. 109-114, und Duby 1990b, S. 117-132. 127 Vgl. z.B. für die lateinische elaborierte Vita Kölbing 1884, S. xcviii, Z. 42 – S. xcix, Z. 6; für die französische elaborierte Vita Moland / D’Héricault 1856, S. 41; für Vinzenz’ mittellange Legende Vincentius 1624/1965 cap. clxii, S. 956, Sp.1.
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Die Kriegerfreundschaft wird in das christliche Rittertum integriert. Der Kreuzzugsgedanke wird von den Amicus-Amelius-Texten der zweiten Gruppe ebenfalls aufgegriffen. Die Helden erfüllen später auch diese Anforderung an die militia Christi: Sie kämpfen mit Karl gegen den Langobardenkönig Desiderius, der sich gegen Papst und Kirche auflehnt, und kommen im Kampf glorreich um.128 In diesen Viten wird mithin ein religiöses Ritterkonzept129 mit dem Freundschaftsmodell verknüpft. Die kymrische Bearbeitung, die zur längeren Vitaversion gehört, stellt eine andere religiös eingebundene Form des Eides vor: Ac yna yd aethant y gadarnhau eu kedymdeithyas a duundeb y ryngthunt drwy lw ac aruoll ym Manachloc Seint Iermin, uchbenn yr allawr vawr a’r creiryeu gwynnyaeithyat a oedynt yno, na phallei neb ohonunt y’w gilyd, nac o garyat nac o gynghor, nac o ganhorthwy tra vei vyw, herwyd kyfyawnder kyfreith Duw o bop peth a berthynei ar gedymdeithyas gywir. (Williams 1982, Z. 257-262)130
Die kriegerische Dimension der Freundschaft zwischen adligen, Waffen tragenden Herren wird hier fortgelassen, stattdessen wird das Ritual in einen kirchlichen Raum transportiert. Der Eid, der hier über den geheiligten Reliquien im Altar eines Klosters geschworen wird, scheint zunächst eine rein religiöse Bedeutung zu besitzen. Durch die Taufe wurde die Gleichheit zwischen Amlyn und Amic bereits in einen religiösen Zusammenhang gebracht, der ihre Freundschaft legitimierte sowie die Beziehung der Freunde zu Gott demonstrierte. Dieses Deutungsmuster wird hier erneut aufgerufen und fortgesetzt. Die christlich legitimierte Freundschaft wird durch die näheren Bestimmungen dann wieder in der adligen Lebenswelt verankert: Einander Rat und Hilfe zukommen zu lassen, das entspricht dem consilium und auxilium131 nicht nur freundschaftlicher,132 sondern auch vasallitischer Terminologie, mit der gegenseitige Verpflichtungen zwischen Lehnsherrn und Vasall beschrieben werden.133 Diese Obliegenheiten gelten in den Amicus-Amelius-Texten für die nicht_____________ 128 In diesem Zusammenhang ergeben sich auffällige Parallelen zum Rolandslied: In Rolands Schwert, das im Krieg gegen die Heiden zum Einsatz kommt, befinden sich ebenfalls heilige Reliquien. Vgl. Das Rolandslied des Pfaffen Konrad, V. 6805-6894, besonders V. 6874-6880. 129 Dieser wird am Schluss noch überhöht durch das Grabwunder und die damit einhergehende Stilisierung der Helden als Kriegsheilige und Märtyrer für den Glauben. 130 „Und dann gingen sie, um ihre Freundschaft und die Einigkeit zwischen ihnen durch einen Schwur und einen Eid im Kloster von Seint Iermin zu bestärken, über dem großen Altar und den heiligen Reliquien, die dort waren, so dass keiner von ihnen den anderen im Stich ließe, weder in Liebe noch in Rat, noch in Hilfe, so lange sie lebten, nach der Rechtmäßigkeit der Gebote Gottes über alle Dinge, die eine wahre Freundschaft betrafen“ (Übersetzung Regine Reck). 131 [H]ulpe und râd heißt es in Hermann Korners Fassung (Pfeiffer 1864, S. 263, Z. 18), allerdings erst, als Amelius Amicus zu einem späteren Zeitpunkt um Unterstützung bittet. 132 Vgl. Garnier 2006, S. 119-123, zu consilium et auxilium in der „politischen Freundschaft“. 133 Vgl. z.B. Bloch 1999, S. 295-301.
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hierarchische Beziehung der Kriegerfreundschaft. Der anschließende Bezug dieser vertraglich festgelegten Pflichten auf das Gesetz Gottes bindet das Ganze erneut in einen religiösen Kontext ein, so dass sich feudalgesellschaftliche und theologische Denkmuster überlagern. Die abschließende Formel, dass die freundschaftlichen Verpflichtungen für „alle Dinge, die eine wahre Freundschaft betrafen“, gelten, deckt sich wiederum mit dem von Althoff beschriebenen Phänomen der „unspezifischen Bindung für alle Fälle und in alle Zukunft“.134 Gemeinsam ist den Eiden in den längeren Vitatexten, dass Amicus und Amelius sich umarmen und weinen,135 das Treueversprechen also an körperliche Gesten gekoppelt ist.136 Die mittellangen Vitafassungen verfolgen das oben beschriebene Grundschema von abgewendeter Aggression und anschließender Wiedererkennungsszene. Hier gibt es jedoch kein Schwert mit heiligen Reliquien, sondern eine einfachere, nicht religiös eingebundene Form der Freundschaftsstiftung: Amicus und Amelius versprechen sich gegenseitig die Treue, bevor es zum Karlshof geht, so in der schwäbischen Fassung der Münchener Handschrift: Zehand vielen sy ain ander an vnd kußten aneinander vnd danckten got seiner gnaden, daz ez in also ergangen was vnd gelobten an einander, das furbaß all treU zů einander haben wollten, vnd komend miteinander jn dez künigs hoff von Franckreich (Cgm 523, Reiffenstein 1982, S. 243, Z. 94-98).137 In den minimalen Bearbeitungen erzählt nur das lateinische Exempel an dieser Stelle explizit, dass ein Freundschafts- bzw. Liebesbund (fedus amoris, Klapper 1914, S. 339, Z. 32) geschlossen wird. Eine Ausnahme bilden zudem die in der Tradition des Seelentrostes stehenden Texte: Sie verlegen den Freundschaftsschwur auf einen viel früheren Zeitpunkt. Hier wird nach der Taufe ein Freundschafts- und Treuegelöbnis geleistet, das eine immerwährende Gemeinschaft begründet.138 Desse twe kindere loueden truwe kumpanige to samne. De wile dat sie leueden, so ne scholde de eyne des anderen nicht vortigen (Schmitt 1959, S. 229, Z. 17f.). Da Amicus und Amelius in den Seelentrost-Bearbeitungen hier bereits eine verbindliche, lebenslange Freundschafts- und Treuebindung eingehen, fällt der Freundschafts_____________ 134 Althoff 1990, S. 118. 135 In der französischen Fassung wird – wie in der lateinischen – nicht geweint, dafür aber umarmt und geküsst. 136 In der politischen Freundschaft identifiziert Garnier 2006 Eid, Umarmung und Kuss jeweils als „ostentativen Freundschafts- und Friedensbeweis“ (S. 123). 137 Dies entspricht fast wörtlich der Passage in Vincentius 1624/1965, cap. clxiii, S. 956, Sp. 2. Die etwas freiere Versbearbeitung von Andreas Kurzmann folgt zwar dem Handlungsschema recht genau, hat jedoch keinerlei Treueversprechen. Vgl. Oettli 1986a, S. 156, V. 309-315. 138 Zwar berichten alle Texte mit religiösem Sinnzusammenhang an dieser Stelle über die beginnende Freundschaft der Knaben, aber ausschließlich in den Seelentrost-Fassungen wird von einem Gelöbnis berichtet.
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schwur an der oben genannten Textposition weg.139 Gleichwohl beschreiben alle diese Texte an dieser Stelle die Wiedersehensfreude, die hier strukturell den Platz des Versprechens einnimmt, wie in der mitteldeutschen Seelentrost-Fassung: Und dâ fant er in, und in wart beiden wal zu mude; sie helsten und kosten sich einander, und zogen beid in konig Karulus hoif (Wackernagel 1839, Sp. 982, Z. 32 – Sp. 983, Z. 2). Ein weiteres Charakteristikum der ganz kurzen Bearbeitungen besteht darin, dass es – anders als in den elaborierten und mittellangen Vitafassungen – keine anfängliche Aggression zwischen den Freunden gibt. In den Texten mit religiösem Deutungsmuster (Gruppe 2) kann das Freundschaftsversprechen vor oder nach der Taufe durch den Papst oder beim Wiedersehen nach langen Jahren abgelegt werden, wobei die zweite _____________ 139 Generell besteht in der zweiten Textgruppe neben der bereits beschriebenen Textposition die Möglichkeit der Existenz einer weiteren, und zwar früheren Freundschaftsschließung. Dies entspricht der zweimaligen Lebensgemeinschaft in dieser Textgruppe, während die Texte der ersten Gruppe nur eine Lebensgemeinschaft aufweisen. Bei dieser ersten möglichen Stelle handelt es sich um das Zusammentreffen der Eltern in Lucca, die mit ihren Kindern unterwegs nach Rom zur Taufe sind. Einige Fassungen beschreiben hier eine erste Freundschaftsschließung, wenn auch sehr kurz und meist ohne Eid, so z.B. die elaborierten Vitaversion und einige kürzere Legendenfassungen, wie z.B. Andreas Kurzmann in seiner Bearbeitung: sy wurden sich da schon verainen / vnd liebleich aneinander maynen (Oettli 1986a, S. 149, V. 37f.). Teilweise bleibt an diesen Stellen jedoch unklar, ob sich der Freundschaftsschluss tatsächlich auf die Kinder und nicht eher auf ihre Väter bezieht: societate inter se firmata (mittellange Vita, Vincentius 1624/1965, cap. clxii, S. 956, Sp. 1) („sie schlossen Freundschaft zwischen sich“) oder invicem familiaritate firmata (elaborierte Legende, Kölbing 1884, S. xcviii, Z. 7) („sie versicherten einander ihre gegenseitige Freundschaft“, nach Kuefler 2000, S. 445) beschreiben nicht präzise die Träger der Freundschaft. Der kymrische Text vereindeutigt diese Situation, indem zunächst die Väter in Freundschaft verbunden sind, was dann analog auch bei den Knaben zu beobachten ist. […] a diruawr gedymdeithyas a vu y ryngthunt, drwy gywir garyat. A pha beth bynnac a vei o garyat y rwng y gwyrda, ti a welut gedymdeithyas ryued y rwyng y meibyon, yn gymeint ac na mynnei yr vn onadunt na bwyta nac yvet na chysgu heb y gilyd (Williams 1982, Z. 40-44). („Und eine sehr große Freundschaft war zwischen ihnen, durch wahre Liebe. Und was auch immer an Liebe zwischen den Edelmännern war, du solltest die wunderbare Freundschaft zwischen den Söhnen sehen: so groß [war sie], dass keiner von ihnen ohne den anderen weder essen noch trinken noch schlafen wollte“, Übersetzung Regine Reck.) Aufgrund der Uneindeutigkeiten einiger Texte sowie der geringeren Bedeutsamkeit dieser Textstellen im Vergleich zu den späteren Freundschaftsschwüren kann diese erste Freundschaftsschließung in den meisten Texten vernachlässigt werden. Der einzige Text, der nur die Anspielung auf die frühe Freundschaftsbildung vor der Taufe hat und kein Versprechen beim späteren Wiedersehen, ist der Text von Andreas Kurzmann. Alle anderen Fassungen, die eine frühe Freundschaftsschließung aufweisen, besitzen noch die spätere, ausführlichere, die im Erwachsenenalter stattfindet. Signifikant erscheint mir, dass in den Bearbeitungen, in denen die frühere Freundschaftsschließung relevant ist – nämlich in den Seelentrost-Fassungen –, die Position leicht variiert wird, d.h. hinter die Taufe verschoben wird, wo die Gemeinschaft bereits vom Papst legitimiert worden ist. Im Gegensatz zu den anderen Texten präzisieren die Seelentrost-Fassungen diese frühe Freundschaftsschließung zwischen den Kindern durch den Treueeid und die damit verbundenen Verhaltensanforderungen.
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Variante favorisiert wird.140 Freundschaftsstiftende Rituale werden in dieser Textgruppe an Emotionen gekoppelt, die sich körperlich manifestieren. Diese können in einigen Texten nicht nur strukturell die Position des Freundschaftsversprechens besetzen, sondern es faktisch erneuern. Die Verbindung der Freundschaftsschließung mit Gesten, über die Emotionen transportiert werden, wird auch vom narrativen Zusammenhang bedingt: Die Gefährten sehen sich nach langjähriger Trennung und Suche wieder. Dabei überlagern sich die unterschiedlichen Bedeutungen des Kusses:141 Es handelt sich hier sowohl um einen Begrüßungskuss als auch um einen Friedenskuss (in Bezug auf die vorangegangene Aggression). Weiterhin bildet der Kuss Teil eines Rituals, mit dem eine Gemeinschaft konstituiert oder aufrechterhalten wird. Mit dem Kuss verbinden die Amicus-AmeliusTexte sowohl eine körperliche Annäherung der Freunde als auch eine emotionale Dimension. Schließlich kennzeichnet besonders die elaborierten Vitafassungen der Umstand, dass die Kriegerfreundschaft mit religiöser Bedeutung angereichert wird: Das Treueversprechen zwischen adligen Herren wird durch den Schwur über den heiligen Reliquien explizit mit der Vorstellung von religiösem Rittertum verknüpft. Die noch verbleibenden Texte, die als Grenzfälle hinsichtlich der Einordnung in die kollektiven Imaginationen zu beschreiben sind und damit die dritte Textgruppe bilden, weisen eine ähnliche Erzählstruktur wie die zweite Textgruppe auf. In der chanson de geste begegnen sich die Gefährten ohne Erkennungsprobleme auf einer Blumenwiese.142 Bevor sich Ami und Amile auf den Weg zu Karl machen, schwören sie einen Freundschaftseid: Il s’entr’afient compaingnie nouvelle. / Li dui baron ont remises lor selles, / En lors mains tiennent les espees nouvelles (Dembowski 1987, V. 200-202).143 Der Schwur wird nur kurz erwähnt, bevor die Freunde wieder zu den Waffen greifen, um Karl im Krieg zu dienen. Im Miracle de Nostre Dame d’Amis et d’Amille erkennen sich die Protagonisten nicht sofort; dies führt indes nicht zu aggressiven Annäherungen. Nach dem Austausch von Namen und Vorhaben umarmen sich die Gefährten und Amis gelobt foy et loyauté / Jusqu’a la mort (Paris / Robert 1879, _____________ 140 Nur ein einziger Text der zweiten Gruppe – die mittelenglische Fassung aus dem 15. Jahrhundert im Alphabet of Tales – hat überhaupt keinen Freundschaftseid oder ein entsprechendes Ritual, mit dem Freundschaft geschlossen wird. Hier küssen sich die Freunde bei ihrem Wiedersehen nach langjähriger Trennung; ob es sich hierbei um mehr als Begrüßung und körperlichen Ausdruck von Wiedersehensfreude oder Freundschaftsbekundung handelt, wird nicht deutlich. 141 Siehe Schreiner 1980 und Carré 1992 zur Polysemie des Kusses auf den Mund im Mittelalter. Vgl. zum Kuss als ‚Geste der Nähe‘ in der Freundschaft Oschema 2006, S. 491-538. 142 Vgl. zu dieser Szene Kap. I.4.3. 143 „Sie schwören einander neue Freundschaft. Die beiden Herren haben ihre Sattel wieder aufgelegt, in ihren Händen halten sie die neuen Schwerter.“
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V. 142f.).144 Amille schwört seinerseits: jusques au perdre la vie / Ce vous jur, ne vous faudray mie (V. 145f.).145 Da das Miracle aus aneinander gereihten Sprechsequenzen der einzelnen Figuren besteht, gibt es hier keine narrativen Beschreibungen der Sprechsituationen. Trotz dieser fehlenden Hinweise lassen sich die in der Figurenrede verwendeten Formulierungen in einen eindeutigen Kontext einordnen. Zwei gegenseitige Treueversprechen werden abgelegt: avoir en convenant (V. 142) und jurer (V. 145), zwei Begriffe für ‚schwören, versprechen‘, dienen alternativ zur Kennzeichnung dieses performativen Sprechaktes. Die Freunde benutzen jeweils unterschiedliche Formeln, die jedoch hinsichtlich der durch sie eingegangenen Verpflichtungen offenbar gleichwertig sind. Zudem werden durch Amis’ Aufforderung acolez moy (V. 134)146 sowie durch die wechselseitige Anrede der Freunde mit Chiers amis (V. 144)147 oder biaux compains (V. 157)148 auch die Dimensionen körperlicher und sprachlicher Gefühlsbezeugung greifbar. Wie in der chanson de geste handelt es sich auch im Mirakelspiel um ein Ritual, das ausschließlich in einem adligen Bedeutungskontext verankert und nur insofern mit christlicher Motivation verknüpft ist, als das Treffen der Freunde durch die Hilfe des Pilger zustande kommt. Der Eid bzw. das Treueversprechen treten als freundschaftsstiftende Rituale fast durchgängig in den Texten der Amicus-Amelius-Tradition in Erscheinung. Der Schwur kann in einem ausschließlich adlig-höfischen Kontext stehen oder in eine religiöse Bedeutungsebene überführt werden. Er markiert die exklusive Freundschaft zwischen adligen Männern als ein quasi rechtlich fixiertes Bündnis, aus dem Verpflichtungen hervorgehen. Das Ritual zeigt einerseits Parallelen mit der Bildung anderer homosozialer Beziehungen, wie z.B. vasallitischer Bindungen, bei denen ebenfalls ein Treueeid abgelegt wird.149 Andererseits wird die Gleichheit zwischen den Protagonisten vordergründig, da Freundschaft eine nicht-hierarchische Verbindung zwischen Gleichgestellten bedeutet. Der in einigen Texten besonders deutliche Vertragscharakter der Freundschaft, der zu Treue und gegenseitiger Hilfe verpflichtet, schließt Emotionalität und körperliche Manifestationen von Zuneigung zwischen den Freunden keinesfalls aus: Die Freundschaft wird als personale Bindung und emotionale Zweierbeziehung inszeniert. _____________ 144 „Treue und Redlichkeit bis zum Tode“ 145 „Bis ich mein Leben verliere, das schwöre ich Euch, werde ich Euch niemals im Stich lassen.“ 146 „Umarmt mich!“ 147 „lieber Freund“ 148 „schöner Gefährte“ 149 Vgl. zum rituellen Eingehen vasallitischer Beziehungen z.B. Le Goff 1977 und Bloch 1999, S. 201-318.
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Die französische Prosaerzählung Lille 130 sowie die gesamte HistoriaGruppe innerhalb der ersten Textgruppe und die mittelenglische Fassung im Alphabet of Tales, die zur zweiten Gruppe gehört, weisen keinen Eid auf. Sowohl das bindungsstiftende Ritual als auch die juristische Ebene der Freundschaft scheinen somit fakultative Elemente zu bilden, die hier fortgelassen werden. Diese Texte bieten simultan ein modifiziertes Modell der Freundschaftsgründung, das aber der unbedingten gegenseitigen Treue keinerlei Abbruch tut. Obgleich die formale rechtliche Wirkmacht der Gleichheit fehlt, bestehen die Kameraden später jeweils die Freundschaftsprüfungen: Freundschaftliche Treue kann sich auch ohne Eid bewähren. Allerdings hegt Lodovicus in einigen Fassungen der Historia septem sapientum Zweifel, ob Alexander ihm aus der Notsituation des bevorstehenden Zweikampfes mit einem unbezwingbaren Gegner helfen wird.150 Dies könnte tendenziell auf die mangelnde Rechtsverbindlichkeit der Freundschaft verweisen. In den Fassungen der zweiten Textgruppe ist zu beobachten, dass die freundschaftliche Verbindung mit einer emotionale Ebene verquickt wird. Oftmals werden diese Affekte151 als ambivalent inszeniert: Das Begehren nach dem Gleichen äußert sich zunächst in Aggression und Kampfbereitschaft, um dann jäh in Ausbrüche von Freude mit Küssen und Umarmungen umzuschlagen. Dies verweist bereits auf die grundsätzliche Bedeutsamkeit, die der Gewalt innerhalb des Amicus-Amelius-Modells zukommt, auch wenn sie sich später nach außen kehrt und nicht innerhalb des Freundschaftsbündnisses virulent wird. In den Freundschaftsbeweisen wird nach außen gerichtete Gewalt zu einem zentralen und erfolgreichen Modus von Freundschaftshandeln. Dass die mittellangen legendenhaften Fassungen den Beginn der Freundschaft an Aggression koppeln, zeigt nicht nur die gewaltsame Basis des Männerbundes, sondern auch, dass die äquivalente Ausübung von Gewalt ebenfalls ein Konstituens der Freundesgleichheit ist.152
_____________ 150 Vgl. etwa für die Innsbrucker Hs. Roth 2004, S. 448, Z. 269f., und für die Bearbeitung von Hans von Bühel Keller 1841, V. 8181. In der Gießener Hs. 104 werden allerdings keine Zweifel thematisiert, vgl. Steinmetz 2001, S. 68, Z. 276-288, und auch in der Heidelberger Hs. nicht (vgl. Cpg 149, Bl. 103r). 151 Zur terminologischen Differenzierungen von Emotionen, Affekten und verwandten Begrifflichkeiten siehe Eming 2006b, Kap. 3. 152 Im Großen Wolfdietrich D macht sich der Titelheld auf die Suche nach König Ortnit, um ihn als geselle (564,1) zu gewinnen. Nach seiner Ankunft kommt es zunächst zum Kampf zwischen den beiden, bevor sie dann Freundschaft schließen. In dieser Konstellation wird noch deutlicher, dass Kriegerfreundschaft auf ebenbürtiger Gewaltsamkeit beruht.
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1.3. Lebensgemeinschaft Die praktische Lebensgemeinschaft153 bildet neben der Gleichheit der Helden und dem Freundschaftsschwur ein weiteres Element, mit dem Freundschaft geschlossen wird. Im – zeitlich begrenzten – Zusammenleben der Freunde wird ihre Zusammengehörigkeit und Einheit gefestigt, für die Umgebung sichtbar und somit öffentlich gemacht. Wiederum bieten die verschiedenen Texte variierende Entwürfe einer im Grunde übergreifenden Komponente der Kriegerfreundschaft. In der ersten Textgruppe vollziehen Amicus und Amelius ihre Lebensgemeinschaft am Hofe des Herrschers, dem sie dienen. In der Hälfte dieser Fassungen wird das konkrete Zusammenleben sehr komprimiert dargestellt: So streifen Radulfus Tortarius und Lille 130 nur ganz kurz den Dienst am Hofe des Königs,154 um dann jeweils von anderen Unternehmungen zu berichten.155 Die anglonormannische Verserzählung stellt diese Episode sehr gestrafft dar, liefert aber zusätzliche Informationen über die Schwertleite von Amys und Amillyoun156 sowie über die von ihnen bekleideten Hofämter.157 Die verbleibenden Texte erzählen von der höfischen Erziehung und von diversen Betätigungen der Helden und zeigen so die Vervollkommnung ihrer höfischen und kriegerischen Fähigkeiten. In den einzelnen Versionen werden dabei unterschiedliche Akzente gesetzt. Die mittelenglische romance schildert zwei komplementäre Stationen der Lebensgemeinschaft: Nach der gemeinsamen Schwertleite erwerben die Freunde gemeinschaftlich Ruhm, indem sie erfolgreich an Tjosten und Turnieren teilnehmen.158 Nachdem Amys und Amylion militärische Verhaltensweisen erlernt und perfektioniert haben, werden sie aufgrund ihrer Klugheit und Weisheit vom wohlwollenden Herzog mit den Ämtern betraut. Die Integration der Ritter in den Hof erfordert gewaltlose Kommunikationsformen: Gewaltsamkeit und friedliche Eingliederung bilden somit zwei komplementäre Anforderungen an die Helden der mittelenglischen romance. _____________ 153 Bereits von Ertzdorff 1962, S. 39 und 44, hat die praktische Lebensgemeinschaft als Konstituens von Freundschaften in Heldenepik und höfischem Roman herausgestellt. 154 In Radulfus’ Text dienen Amicus und Amelius dem König Gaiferus; vgl. Ogle / Schullian 1933, V. 131f., V. 180. In Lille 130 ist es Karl, an dessen Hof sich die Freunde aufhalten; vgl. Woledge 1939, S. 452. 155 Lille 130 berichtet zunächst ausführlich von Amiles’ Abenteuern in Spanien, die ausschließlich in diesem Text zu finden sind; vgl. Woledge 1939, S. 452. Radulfus geht gleich zu den verhängnisvollen Geschehnissen zwischen Amicus und der Königstochter über; vgl. Ogle / Schullian 1933, ab V. 141. 156 Vgl. Fukui 1990, V. 35f. 157 Siehe zu den Hofämtern Kap. II.2.1. 158 Vgl. Le Saux 1993, st. 15, V. 4-12.
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Der Engelhard dagegen berichtet ausschließlich davon, welche nichtkriegerischen, höfischen Fertigkeiten von den Freunden erworben werden. Dies geschieht auf den Wunsch der Protagonisten, die sich so lange am Hofe aufhalten wollen, biz sich gebezzert unser jugent (Reiffenstein 1982, V. 709). Obwohl dies scheinbar auf die ‚Zivilisierung‘ gewaltsamer Tendenzen junger Männer verweist,159 haben bis zu diesem Zeitpunkt weder Engelhard noch Dietrich etwaige aggressive Neigungen erkennen lassen oder eine kriegerische Ausbildung genossen, von der die Rezipientinnen und Rezipienten wissen. Die Erziehung der Freunde am Hof konzentriert sich auf das Lesen, Schreiben, Tanzen, Singen und weitere höfische Techniken.160 Das Hauptaugenmerk dieses Textes liegt jedoch nicht so sehr auf dem intellektuellen Erziehungsprogramm, als vielmehr auf der Beziehung zwischen Engelhard und Dietrich. Drei zentrale Konzepte werden sprachlich immer wieder miteinander verknüpft, um zu beschreiben, wie sich die Freundschaft entfaltet. Die geselleschaft äußert sich im konkreten Zusammenleben der Freunde, das durch triuwe und stæte gekennzeichnet ist. Die Dreierfigur geselleschaft – triuwe – stæte erscheint in leicht abgewandelter Form dreimal in dieser Passage,161 so etwa in folgender Konstellation: Hie enzwischen flîzic wâren die süezen und die klâren daz si geselleschefte mit ganzer triuwen krefte vil stæteclichen wielten. (V. 785-91)
Die geselleschaft wird durch triuwe und stæticlichez Handeln bewahrt und vorangetrieben; worin speziell aber diese Aktivitäten bestehen, wird nicht deutlich. Stattdessen wird durch die mehrfache Verknüpfung der Begriffe ein terminologisches Feld geschaffen, das die Freundschaft beschreiben soll. Die Kategorien werden stets in abstraktem Sinn benutzt, so dass die Entwicklung der Freundschaft nicht so sehr konkret beschrieben, als vielmehr fast ausschließlich hinsichtlich begrifflicher Bezüge und abstrakter Qualitäten gestaltet wird. Praktisch äußert sich die einzigartige und mit Wertvorstellungen angereicherte Freundschaft im Zusammenleben der Protagonisten. Die Vorbildlichkeit der Freundesgemeinschaft wird unterstrichen, indem die Freundschaft nicht nur beschrieben, sondern in den Lobpreis des Hofes, _____________ 159 Vgl. Duby 1990a. 160 Vgl. Reiffenstein 1982, V. 747-761. Der Engelhard ist der einzige Amicus-Amelius-Text, in dem die Helden diese Dinge erlernen. 161 Vgl. Reiffenstein 1982, V. 785-819.
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ja sogar des ganzen Reiches, eingebettet wird.162 Die Lobpreisung bezieht sich zunächst auf Engelhards und Dietrichs Schönheit, Adel und Vollkommenheit (ach süezer got, wie was sô breit / ir schœne, ir adel unde ir tugent, V. 820f.) und gipfelt in der Darstellung der äußeren Ununterscheidbarkeit der Freunde. vil lîhte man daz allez wac, engegen disem dinge daz die jungelinge ein ander wâren sô gelîch. (V. 824-27)
Damit wird an die Ankunft der Helden am Hofe König Fruotes angeknüpft, bei der König und Königin über die wundersame Gleichheit der Jungen staunen.163 In der praktischen Lebensgemeinschaft der Freunde werden im Engelhard somit drei Bereiche miteinander verschränkt: Inszenierung von Gleichheit, Entwicklung der Freundschaft, Lobpreis des Hofes. Durchgängig werden Vorbildhaftigkeit, Einzigartigkeit, ja das Wunderbare der exklusiven Beziehung zwischen den Protagonisten herausgehoben. Im zweiten Teil der Passage, in der das Freundschaftskonzept ausformuliert wird, wird zur Beschreibung von geselleschaft Minne-Terminologie herangezogen. Si wâren zallen stunden zesamene gebunden mit hôher minnen stricke, daz si des jâhen dicke, geschæhe ir eime sterbens nôt, der ander læge für in tôt und wolte harte gerne ligen. ir wille was dar ûf gedigen daz si dâ liep unde leit mit willeclicher arebeit bi einander lîden wollten unz si nû leben solten. (V. 805-816)
Nach der Verknüpfung der zentralen Werte von triuwe und stæte wird hier die Macht einer Minne-Bindung, die an Leid gekoppelt ist, entworfen. Mit hôher minnen stricke sind auch Tristan und Isolde164 zusammengebunden: _____________ 162 Die beiden Lobpreisungen der Freunde durch ihre Umgebung befinden sich in Reiffenstein 1982, V. 762-784 sowie V. 817-837. 163 Vgl. Reiffenstein 1982, V. 666-80. 164 Vgl. für den Tristan: Minne diu strickaerinne / diu stricte zwei herze an in zwein / mit dem stricke ir süeze in ein / mit alsô grôzer meisterschaft, / mit alsô wunderlîcher craft, / daz si unreloeset wâren / in allen ir jâren (V. 12176-12182).
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Gottfrieds Tristan ist von der Forschung bereits als Referenztext für Konrads Engelhard identifiziert worden.165 Der nicht auf zwischengeschlechtliches Begehren beschränkte Begriffs- und Bildkomplex evoziert auch im Engelhard Nähe und Zusammengehörigkeit als unabwendbar und lebenslang. Als Höhepunkt der engen Verbindung wird die Bereitwilligkeit, für den Anderen zu sterben, imaginiert. Die Lebensgemeinschaft wird auch als Leidensgemeinschaft gedacht: Die Verbindung der Freundschaft mit Leiden und arebeit verweist bereits auf die späteren Ereignisse.166 Die Historia septem sapientum verwendet – ebenso wie Konrads Engelhard – deutlich voneinander abweichende Freundesnamen: Im Gegensatz zu Amicus und Amelius wird so auf eine Unterschiedenheit der Freunde rekurriert, die sich hier etwa in der körperlichen Konstitution niederschlägt. Anders als im Engelhard entfaltet sich die Differenzierungstendenz bereits in der Phase der Lebensgemeinschaft am Hofe des Kaisers. Zunächst rufen auch diese Bearbeitungen das konstitutive Element einer – zumindest äußerlich – bestehenden Gleichheit zwischen den Freunden auf. Diese kommt allerdings meist erst zur Sprache, nachdem der Kaiser Lodovicus das Amt des Mundschenks – korrespondierend zu Alexanders Tätigkeit als Truchsess – zugewiesen hat.167 Zudem werden die beiden zusammen in einem Schlafgemach untergebracht:168 Er [= Ludwicus] ward [...] geordnet in die kamern, do Alexander jnnen lag (Gießener Hs. 104, Steinmetz 2001, S. 64, Z. 153-155). Die räumliche Nähe, die durch gemeinsames Wohnen und Dienen entsteht, sowie die äußerliche Gleichheit begünstigen die Entstehung der Freundschaft. Bereits an dieser Stelle erzählt die Historia septem sapientum von einer Körpersubstitution mit Folgen: Lodovicus nimmt – von der Hofgesellschaft unbemerkt – Alexanders Platz ein und muss nun die Kaisertochter Florentina bedienen, die in einem abgetrennten Bereich residiert. Lodovicus wird nach dem Zusammentreffen mit der Prinzessin liebeskrank. Damit Lodovicus nicht stirbt, bewerk_____________ 165 Vgl. Behr 1988/89. 166 Grundsätzlich spricht der Text hinsichtlich der Freundschaft zwischen Engelhard und Dietrich von minne und geselleschaft, wobei der Begriff minne nur an dieser Stelle ausgeführt wird. In der Ausgabe des Frankfurter Drucks von 1573 von Steinhoff 1987, S. 42*, wird in diesem Passus nicht das Wort minne sondern Liebe benutzt. Zu den Beziehungen zwischen Tristan und Engelhard vgl. Behr 1988/89, der Konrads Freundschaftsentwurf als Gegenkonzeption zu Gottfrieds minne liest und somit gerade nicht die „Liebe-Leid-Antithetik“ (S. 326) bestätigen will. 167 Einzig in Hans von Bühels Dyocletianus Leben wird schon bei Ludwigs Ankunft darauf hingewiesen, dass die beiden Ein lip vnd zwo sele (Keller 1841, V. 7622) seien und Man kant ir keinen sicherlich / Fúr den andern wissent das (V. 7626f.); vgl. V. 7622-7629. 168 In Gruppe IV der lateinischen Texte erhält Ludwicus cameram et stabulum iuxta Allexandrum (Roth 2004, S. 641, Z. 71) („eine Kammer und Unterkunft neben Alexander“).
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stelligt Alexander es, dass Florentina Lodovicus Zuneigung entgegenbringt.169 Auffällig ist an dieser Passage zweierlei: Erstens weiß Florentina von Anfang an um die gesonderten Identitäten der Freunde. Im Gegensatz zum restlichen Hof erkennt sie sofort, dass es nicht Alexander, sondern jemand anderes ist, der ihr das Essen bringt.170 Durch ihre Differenzierungsfähigkeit werden die Konsequenzen des Körpertausches der Freunde abgeschwächt, da in der Werbungssequenz für die Beteiligten immer klar ist, um wen es sich handelt. Zweitens korrespondiert Lodovicus’ allgemeine körperliche Schwäche mit dem Ausbruch der Liebeskrankheit, während Alexanders Körperstärke und -kondition nicht mit Krankheit in Verbindung gebracht wird. Die Texte weisen explizit darauf hin, dass Alexander der Prinzessin lieb geworden ist171 und dass auch er durch ihren Anblick [g]rosz fröude [...] gewan (Hans von Bühel, Keller 1841, V. 7688). Doch während Lodovicus durch eben diesen Anblick krank wird (Du [...] hast su zů faste begirlich an gesehen vnd hast din hertz gegen ir ser verwunt, elsässische Fassung, Roth 2008, S. 159, Z. 3-5), nimmt Alexander keinen derartigen Schaden.172 Das aus der ungleichen Körperkonstitution hervorgehende Problem der Minnekrankheit wird als erste Freundschaftsprobe gedeutet, die Alexander bestehen muss. Damit werden Körperzustände und Beziehungsformen klar zwischen den Kameraden verteilt: Der eher schwache und furchtsame Lodovicus fällt dem zwischengeschlechtlichen Begehren anheim, der starke und tapfere Alexander dagegen agiert ausschließlich innerhalb der homosozialen Männerfreundschaft.173 Die Historia septem sapientum ist die einzige Amicus-Amelius-Version, in der die zwischengeschlechtliche Beziehung eines der Freunde bereits vor der Trennung des Freundespaares beginnt und sogar in die Freundschaftsgeschichte integriert wird, indem einer der Freunde die Frau für den Gefährten erringt und dies als Freundschaftsdienst deklariert wird. Die unterscheidbaren Namen der Freunde korrespondieren mit den differierenden Eigenschaften der Gefährten. Die Differenzen verweisen darauf, dass das Konzept des exklusiven Freundespaares – im Vergleich mit den anderen Amicus_____________ 169 Vgl. Kap. II.3.1. 170 Dieses – unerklärte – Wissen der Prinzessin um eigentlich exklusive Dinge durchzieht den ganzen Text. 171 Allexander a puella multum erat dilectus (Innsbruck, Cod. 310, Roth 2004, S. 75). („Alexander wurde von dem Mädchen sehr geliebt.“) 172 Darüber wundert sich auch Florentina; vgl. etwa für die Gießener Hs. 104, Steinmetz 2001, S. 66, Z. 206-209. 173 In einem französischsprachigen Druck von 1492 wird Loys als ung petit femenyn (Paris 1876, S. 169) („ein bisschen weiblich“) charakterisiert, was in der Logik der Historia septem sapientum seine Affinität zum weiblichen Geschlecht begründet.
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Amelius-Texten – aufgeweicht wird. Mit Florentina wird Lodovicus eine Person zur Seite gestellt, die seine Wissensdefizite ausgleichen muss.174 Die Gleichheit der Freunde bezieht sich hier ausschließlich auf ein ununterscheidbares Äußeres, das nicht mehr an innere Qualitäten gekoppelt ist. Und selbst die äußerliche Übereinstimmung der Freunde ist nicht mehr durchgängig vorhanden, da Florentina die beiden Gefährten unterscheiden kann.175 Die Auflösung der Gleichheit wird damit in den Historiaseptem-sapientum-Texten am weitesten vorangetrieben. Ganz anders präsentieren die Texte der zweiten Gruppe die Lebensgemeinschaft von Amicus und Amelius. Das Besondere dieser Textgruppe besteht darin, dass die Gefährten gleich zweimal temporär zusammenleben: Die Freunde dienen nicht nur vereint an Karls Hof, sondern haben bereits in ihrer Kindheit – und zwar auf der Romreise – Zeit gemeinsam verbracht. In der elaborierten Vita sind die Knaben bereits vor ihrer Taufe durch den Papst unzertrennbar. Sed o ineffabilem societatem, quam inter parvulos cerneres, et utriusque voluntatis idemptitatem! Unus namque sine alio cybum et nis eiusdem fere modi nolebat suscipere neque uti requie sompni nisi in eodem cubiculo (Kölbing 1884, S. xcviii, Z. 8-12).176 In den mittellangen legendenhaften Texten praktizieren die Knaben eine ebensolche Lebensgemeinschaft,177 nur in den Seelentrost-Minimalfassungen wird der Vollzug der Freundschaft nicht weiter präzisiert: Und disse zwey kinder gelobten getrûe geselschaft zu sîn: diwîl das sie lebten, sô solden sie sich nit scheiden178 (Wackernagel 1839, Sp. 981, Z. 20-23). Hier wird die Freundschaft erst nach der Taufe geschlossen. Das lateinische Exemplum berichtet, dass die Knaben bei ihrer Rückkehr in die Heimat nur durch List (dolosa: Klapper 1914, S. 339, Z. 25) voneinander getrennt werden können. Die Fassung im Alphabet of Tales bezieht sich – wie die elaborierten Vitafassungen – auf gemeinsames Essen und Schlafen, allerdings erst nach der Taufe.179 _____________ 174 Lodovicus ist vor allem nach Alexanders Abreise auf die Prinzessin angewiesen, ohne deren Klugheit es zu keinerlei Lösung der heiklen Situationen gekommen wäre. 175 Diesen privilegierten Erkenntniszugang haben die Frauenfiguren in den anderen AmicusAmelius-Texten nicht: Sie können die Freunde nicht voneinander unterscheiden. 176 „Welch unaussprechliche Freundschaft war zwischen den beiden Jungen zu sehen, und welche Gleichheit des Willens zwischen ihnen beiden! Keiner von beiden wollte eine Mahlzeit zu sich nehmen, wenn sie nicht von der gleichen Menge war wie die des anderen, und keiner von beiden erfreute sich der Ruhe des Schlafes, wenn er sich nicht im selben Bett wie der andere befand“ (nach Kuefler 2000, S. 445). 177 Allerdings ist in Andreas Kurzmanns Fassung nicht vom gemeinsamen Schlafen und Essen die Rede, vgl. Oettli 1986a, S. 149, 37f. 178 Damit ist die Auflösung der Freundschaft und nicht etwa die räumliche Trennung gemeint, denn schon im nächsten Satz sind die Freunde nicht mehr zusammen. 179 Vgl. Macleod Banks 1904/05 / 1987, S. 38, Z. 12-14.
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Diesem ersten Abschnitt folgt in den Texten der zweiten Gruppe eine langjährige Trennung und gegenseitige Suche der Freunde, die – nach dem glücklichen Wiedersehen – durch die Lebensgemeinschaft am Hof kompensiert wird. Auf den Dienst am Hofe, der meist mit der Bekleidung hoher Ämter und der allgemeinen Anerkennung und Liebe aller anderen Anwesenden einhergeht, wird nur kurz verwiesen, bevor eine weitere Trennung folgt: Vnd da ward Amicus dez künigs hofmaister vnd Amelius der ward truchseß. Vnd da man sach, daz sy ainander allz gleich w"rend, do hett sy yederman schon vnd erlich (mittellange schwäbische Vita, München Cgm 523, Reiffenstein 1982, S. 243, Z. 98-102). Die doppelte Lebensgemeinschaft der religiös deutenden Texte verbindet die gemeinsame Ausübung körperlicher Bedürfnisse (Essen und Schlafen) mit einem zivilisatorisch überformenden Gestus, in dem kulturelle Fähigkeiten (Integration in die Hofgemeinschaft; Ehrerwerb) eingeübt werden. Des Weiteren erzeugt die chronologische Anordnung in verschiedenen Lebensabschnitten bereits hier den Effekt einer Freundschaft, die das ganze Leben durchzieht. Das Modell der Vita erzählt die Geschichte der beiden Freunde von der Geburt bis zum Tod.180 Mit der Doppelung der Lebensgemeinschaft wird zudem eine Trennungsphase eingeführt. Insgesamt wird so die Freundschaft in der admissio-Sequenz dieser Textgruppe stärker hinsichtlich der Komponenten von Nähe und Distanz strukturiert. Das Begehren nach der Nähe des Anderen wird besonders in der Distanzerfahrung deutlich. Die als Grenzfälle zu klassifizierenden Texte wählen eine weitere Möglichkeit, von der Lebensgemeinschaft zu erzählen. Die chanson de geste Ami et Amile erzählt nicht explizit auf gemeinschaftsstiftende Rituale im Kindesalter, obwohl die Knaben in Rom gemeinsam getauft werden. Trennung und anschließende Suche fungieren gleichwohl als Auslöser bzw. Anzeiger des Begehrens nach dem Anderen. Die Lebensgemeinschaft am Karlshof ist hier nicht so sehr durch friedliche Integration als vielmehr durch kriegerische Aktivitäten gekennzeichnet. An zwei Kriegszügen beteiligen sich Ami und Amile: zum einen gegen die Bretonen, die Karls Land plündern, und zum anderen gegen Gombaut, den Lothringer. Die beiden Freunde stellen ihre hervorragenden kämpferischen Fähigkeiten unter Beweis, machen viele Gefangene und tragen maßgeblich zu den jeweiligen Siegen bei. Stärke und Vorbildlichkeit der Kameraden motivieren in der chanson de geste den Neid des Verräters Hardré, aber auch das Wohlwollen Karls und der Prinzessin Belissant. Aus den Zwistigkeiten um Ehre und Verrat erwächst Hardrés Angebot, Amile mit der Tochter seines Bruders, Lubias, zu verheiraten. Amile lehnt ab und gibt Lubias an Ami _____________ 180 Vgl. zu den Ausnahmen Kap. I.3.
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weiter. Auf die Hochzeit folgt auch hier eine Trennung der Freunde; nicht lange danach kehrt Ami allerdings an den Karlshof zurück, weil er es bei seiner bösartigen Frau (la male fame, Dembowski 1987, V. 500) nicht aushalten kann: Stammt sie doch aus dem Verräterclan Hardrés und verleumdet überdies ständig Amile. So ist den Freunden eine weitere gemeinsame Zeit beschieden. Die chanson de geste arbeitet – wie die Texte der zweiten Gruppe – mit dem Prinzip der strukturellen Doppelung: Zwei Abschnitte der Lebensgemeinschaft, die zum einen kriegerische Taten, zum anderen friedliches Hofleben thematisieren, sowie zwei Schlachten, in denen Ami und Amile erst zwei, dann zwei mal zwei Gefangene machen, nehmen immer wieder das Motiv der Verdoppelung auf, das auch das Freundespaar charakterisiert. Der Handlungsaufbau des Miracle korrespondiert zwar grundsätzlich mit dem der chanson de geste, allerdings ist bei der Beschreibung der Lebensgemeinschaft – ebenso wie in anderen Passagen – eine Tendenz zur Kürzung und Vereinfachung zu beobachten, die vermutlich der Gattung des Miracle geschuldet ist. Ausschließlich die Kampfhandlungen gegen Gombaut finden sich hier:181 Sie werden in einem Gespräch zwischen dem König und einem Boten näher beschrieben. Auch der zweite Abschnitt der Lebensgemeinschaft nach Amis’ Hochzeit fehlt in dieser Bearbeitung. In der Ausgestaltung der Lebensgemeinschaft lassen sich mithin sehr unterschiedliche Fokussierungen der Texte erkennen: In den Texten der ersten Gruppe, die also in einem adligen Deutungssystem verankert sind, wird generell auf die kriegerische und/oder höfische Ausbildung der Freunde verwiesen, die mit gemeinsamem Ehrgewinn sowie der Integration am Hof verknüpft ist. Die Bearbeitungen der Textuntergruppe mit differenzierenden Namen der Freunde verhandeln indes noch ausgedehntere Problemstellungen: Während im Engelhard die praktische Lebensgemeinschaft der Freunde von qualitativen Überlegungen und terminologischen Verknüpfungen flankiert wird, wird in der Historia septem sapientum die Einheit der Freunde bereits von Anfang an aufgebrochen, da die Gefährten voneinander differenziert werden und eine zwischengeschlechtliche Beziehung eingeführt wird. Die Texte der zweiten Gruppe erzählen von zwei Lebensgemeinschaften der Freunde, die in unterschiedlichen Lebensphasen angesiedelt sind und verschiedene Aspekte des Freundschaftsmodells behandeln.
_____________ 181 Auch hier nehmen Amis und Amille zwei Gefangene; vgl. Paris /Robert 1879, V. 258-277.
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1.4. Admissio: Öffentliche Inszenierungen von Gleichheit und Nähe Von den drei Segmenten der admissio-Phase im Amicus-Amelius-Freundschaftsmodell bilden zwei – nämlich der Freundschaftseid und die Lebensgemeinschaft – so offensichtliche wie öffentliche Handlungen bzw. Handlungssequenzen, mit denen Freundschaft geschlossen bzw. bekräftigt wird. Diese zielen darauf, die Beziehung sichtbar und wahrnehmbar zu machen. Im Ritual der Eidablegung dominiert die Funktion, eine Gemeinschaft allererst zu stiften. Der Eid bezeichnet als formalisierter Akt den Beginn der Freundschaft. Als regelgeleitetes, symbolisch durchgestaltetes Handlungsgefüge, das bedeutungstragend ist, begründet der Schwur die zentrale Vergesellschaftungsform des Textkorpus. Sprachliche und körperliche Handlungen bringen in ihrer Verknüpfung eine bestimmte Bedeutung hervor: den Zusammenschluss der Protagonisten. Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang, dass in der zweiten Textgruppe neben dem weltlichen Ritual ein kirchliches steht: Die Taufe hatte Gleichheit und Freundschaft bereits in einem religiösen (Bedeutungs-)Raum verortet. Um Wirksamkeit zu erlangen, setzt ein Ritual eine Form von Öffentlichkeit voraus. Diese ist in den Amicus-Amelius-Texten indes nicht immer explizit vorhanden: Fungiert in den elaborierten und mittellangen Legendenversionen das Gefolge der Titelhelden als wahrnehmendes Kollektiv, so scheint in anderen Bearbeitungen ein Publikum nicht vonnöten zu sein. So ist in den Minimalfassungen der Vita von einem Gefolge keine Rede; Engelhard und Dietrich treffen sich im ‚unzivilisierten‘ Raum der Wildnis, der eher das Wunderbare der Zusammenkunft betont und so den öffentlichen Aspekt der Freundschaftsschließung völlig zurückstellt. Auch die chanson de geste Ami et Amile entwirft mit dem locus amoenus des ersten Treffens182 einen Raum, der vornehmlich die ideale Zweisamkeit der Helden umrahmt. In diesen Fällen scheint der Fokus nicht so sehr auf der öffentlichen Aktivität, sondern auf der Freundesgemeinschaft selbst zu liegen. Der Eid kann somit sowohl eine (ver)öffentlich(end)e als auch eine eingrenzende Funktion innehaben, die jeweils auf der Gemeinschaftsstiftung beruht, aber unterschiedliche Prioritäten setzt. Die das Ritual wahrnehmende – und ihm damit Wirksamkeit verleihende – Gemeinschaft besteht hier aus dem Freundespaar selbst, das sich in diesem Akt konstituiert. Einen wesentlichen Bestandteil dieser sozial wirksamen Aktivität bildet die körperlich-emotionale Dimension: Das Eingehen der Freundschaft ist innerhalb der zweiten Amicus-Amelius-Textgruppe an – ebenfalls rituali_____________ 182 Vgl. Dembowski 1987, V. 169f.: uns prés, / Touz fu floris si comme el mois d’esté („eine Wiese, die voller Blumen stand, wie im Sommer“, Vielhauer 1979, S. 37).
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sierte – körperliche Bezeugungen der Zuneigung gekoppelt, die sich im Kuss und in der Umarmung manifestieren.183 Ritualisiertes Verhalten weist Elemente rituellen Handelns auf, ohne bereits zu tatsächlichen Ritualen verfestigt zu sein. Wiederholung und Formelhaftigkeit, Körperbezogenheit und Gemeinschaftsstiftung sind solche Elemente.184 In den Amicus-Amelius-Texten können Kuss und Umarmung so bedeutungsstark sein, dass durch sie – etwa in den Minimalbearbeitungen – allein Freundschaft geschlossen bzw. bekräftigt wird. Die Demonstrationen von Zuneigung transportieren eine verbindliche Bedeutung, sind als Bestandteil eines „System[s] von Zeichen und demonstrativen Akten“185 lesbar. Die Grenzen zwischen Ritual und Ritualisierung verschwimmen.186 Die Lebensgemeinschaft am Herrscherhof schließt nicht nur chronologisch, sondern auch funktional an das Treueversprechen an. Sie macht ebenfalls die Zusammengehörigkeit der Freunde sichtbar und dient der Veröffentlichung der Freundschaft, gleich ob die Öffentlichkeit bereits an der Freundschaftsschließung teilhatte oder nicht. Das Element der Sichtbarkeit korrespondiert zum einen mit der höfischen Ausbildung bzw. mit der Integration der Freunde an den Hof, an dem sie als exklusiver Teil einer größeren adligen Gemeinschaft gefeiert werden. Die Einübung adliger Kultur kann zum anderen von der gemeinsamen Ausübung vitaler Lebensfunktionen ergänzt werden: Das gemeinsame Schlafen und Essen der Freunde kann als weitere Form ritualisierten Handelns betrachtet werden, die an öffentliche Wahrnehmung gekoppelt sein kann. Gerd Althoff hat auf den rituellen, gemeinschaftsstärkenden Charakter gemeinsamer Mähler hingewiesen.187 Das Interesse an dieser spezifischen Form freundschaftlichen Agierens eignet fast ausschließlich den Texten der zweiten Gruppe: Hier findet sich nicht nur die bereits erwähnte erste Phase der Lebensgemeinschaft im Kindesalter, die ganz explizit das gemeinsame Schlafen und Essen als konstitutives Moment der Freundschaftsschließung zelebriert, sondern in den elaborierten Fassungen wird das gemeinsame Schlafen überdies als Bestandteil auch der späteren Freundschafts_____________ 183 Zur bildlichen Darstellung von Freundschaft, etwa durch Umarmung und Kuss, vgl. Wipfler 2006. 184 Vgl. etwa Gebauer / Wulf 1998, S. 150, und Eming 2006b, S. 102-112. 185 Althoff 1997a, S. 252. 186 Dieser grundsätzlichen Problematik trägt die neuere Ritualforschung Rechnung, indem sie einen erweiterten Ritualbegriff ansetzt. Dieser geht nicht allein von streng institutionalisierten Riten aus, sondern überträgt Elemente und Funktionen von rituellem und ritualisiertem Verhalten in andere Kontexte und erweitert so den Ritualbegriff auf alle Formen sozialen Handelns, die durch bestimmte Charakteristika (etwa formalisierte Handlungsabläufe, soziale Wirksamkeit) gekennzeichnet sind. Vgl. die Beiträge in Belliger / Krieger 22003 und zusammenfassend Koch 2006, S. 63-68. 187 Althoff 1990, S. 203-211.
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phasen beschrieben. So berichten diese Texte zu einem sehr viel späteren Zeitpunkt vom gemeinsamen Schlafgemach bzw. Bett (in eodem [...] thalamo,188 elaborierte Legende, Kölbing 1884, S. cv, Z. 18; yn yr vn gwely’,189 kymrische elaborierte Legende, Williams 1982, Z. 517; en une chambre,190 französische elaborierte Legende, Moland / D’Héricault 1856, S. 65) der Freunde im Hause des Amelius, und zwar in Zusammenhang mit der ausdrücklich erwähnten Abwesenheit von Amelius’ Ehefrau.191 Von den Grenzfall-Texten berichten sowohl die chanson de geste als auch die ‚verwilderten‘ Romane davon, dass der aussätzige Ami bei Amile und seiner Frau im Bett schlafen soll bzw. auch tatsächlich schläft.192 Aus den Texten der ersten Gruppe erwähnt die Amici-Geschichte der Historia septem sapientum für die Zeit des Dienstes am Herrscherhof entweder ein gemeinsames Schlafgemach der Freunde (Ludewicus bekommt etwa in der bairischen Fassung ein pettstat pey dem Allexander in seyner camer, Roth 2008, S. 156, Z. 3) oder getrennte Kammern, die sich allerdings nebeneinander befinden (Neben Alexandersz kammer [...] ein kamer [...] gar nahe by, Hans von Bühel, Dyocletianus Leben, Keller 1841, V. 7651f.).193 Nach den Ergebnissen der Geschichtswissenschaft wurde gemeinsames Schlafen und Essen unter Freunden bereits seit dem frühen Mittelalter praktiziert.194 Gerd Althoff beschreibt diese Ausprägungen des Zu_____________ 188 189 190 191
„im gleichen Schlafgemach“ (nach Kuefler 2000, S. 452) „in dem einem Bett“ (Übersetzung Regine Reck) „in einem Gemach“ Diese Schlafgewohnheiten sind bei der Offenbarung des Heilmittels wichtig: Die elaborierten Legendenfassungen heben darauf ab, dass das Gespräch, das der Engel Raphael nachts mit Amicus führt, zwar von Amelius mitangehört, aber nicht verstanden wird. Daraufhin drängt Amelius seinen Freund, ihm alles Gesagte und Geschehene mitzuteilen. In den anderen Texten der zweiten Gruppe wird diese Sequenz etwas anders ausgestaltet: Raphael klärt Amicus nachts über das Heilmittel auf und dieser sagt es am nächsten Morgen Amelius. Ein gemeinsames Schlafgemach wird nicht erwähnt, ist aber auch nicht ausgeschlossen. In anderen Texten wird ausdrücklich auf Amicus’ eigene Kammer verwiesen, wie z.B. in der deutschen Fassung der Historia septem sapientum von Hans von Bühel Keller 1841, V. 8739f. 192 In der chanson de geste sagt Belissant zu Ami: Voz et mes sires estiiéz compaignon, / Ne gerréz mais en lit s’avec noz non; / Que de mort noz garistez (Dembowski 1987, V. 2761-63). („Ihr und mein Gebieter Amiles, Ihr habt einen Freundschaftsbund geschlossen. Ihr müsst bei uns bleiben, und Euch bei uns zu Bett legen, anders werdet Ihr nicht gesund werden; denn Ihr habt uns beide vom Tode errettet“, Vielhauer 1979, S. 92.) 193 Lille 130 beschreibt erst nach der Trennung der Freunde, dass die Ordnung des Hofes vorsieht, dass Karls Ritter zusammen in einem Saal schlafen: Ore avoit il une ordenance a la court que tous les chevaliers du segré le roy gesoient en une sale ensembles, et s’entrepovoient bien veoir [...] (Woledge 1939, S. 453). („Nun gab es am Hof die Regel, dass alle Ritter aus des Königs engster Umgebung in einem Saal zusammen lagen und sich gegenseitig gut sehen konnten.“) 194 Vgl. z.B. van Eickels 1997, van Eickels 2002, S. 368-393, Oschema 2006, S. 538-554, und Garnier 2006.
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sammenlebens als festen Bestandteil eines Freundschaftsbündnisses, das „brüderliche oder verwandtschaftliche Eintracht“195 demonstrierte. Es konnte ebenfalls als Geste der Versöhnung oder Gunstbezeugung eingesetzt werden.196 Jan-Dirk Müller charakterisiert für das Nibelungenlied im Besonderen das gemeinsame Mahl als „Ort ursprünglicher Gemeinschaftlichkeit“, ja als „Zeichen intakter Gemeinschaft“.197 Welche konkrete Bedeutung diesem gemeinschaftsstiftenden Handeln im jeweiligen Fall auch zukam, ganz gewiss „zeigt man seine Bereitschaft zu friedlich-freundschaftlichem Verhältnis zu dem Partner“.198 Klaus van Eickels betont, dass das gemeinsame Schlafen in einem Bett „keineswegs eines belanglose Umgangsform“,199 sondern von hohem symbolischen Kommunikationswert und von bindender Kraft war. Eine derartige Ausstellung von friedlichem Verhalten und Einmütigkeit wird im literarischen Entwurf des Amicus-Amelius-Korpus durch spezifische Signifikationen angereichert, die die Zusammengehörigkeit und wechselseitige Bezogenheit der Freunde thematisieren.200 In den Texten, die auf gemeinsames Schlafen und Essen im Kindesalter rekurrieren, wird diese Gemeinschaft als Ausdruck der Freundschaft (societa[s], elaborierte Legende, Kölbing 1884, S. xcviii, Z. 9), als Übereinstimmung ihrer Wünsche (idemptita[s] voluntatis, Kölbing 1884, S. xcviii, Z. 9f.) sowie als Inszenierung von Freundschaft und Begehren (societas & voluntas, Vincentius 1624/1965, cap. clxii, S. 956, Sp. 1) gedeutet. Die Lebensgemeinschaft repräsentiert das Freundschaftsbündnis sowie Gleichartigkeit der Gesinnung und des Begehrens (nach dem gleichen Anderen), indem vereint konkrete Tätigkeiten ausgeübt werden.201 _____________ 195 196 197 198 199 200
Althoff 1990, S. 100. Vgl. Jaeger 1999, S. 128. Müller 1998, S. 424. Althoff 1997a, S. 243. Van Eickels 2002, S. 390. In eklatanter Weise setzt die Geschichte von den Jakobsbrüdern die Bedeutung von gemeinsamem Schlafen und Essen in Szene: Obgleich einer der Gefährten auf dem Wege nach Santiago de Compostela gestorben ist, nimmt der andere den Toten nicht nur auf der Reise weiter mit, sondern setzt ihm auch Essen vor und legt ihn nachts neben sich: Vnd wenne er sloffen gie so nam er aber sinen gesellen v] leite in nebent sine site an sin bette als sú do vor alle zit byenander gelegen hettent die wile er lebete w$ne nie zwene gesellen nie so holt annander hettent als sú zwene ein ander hettent (Die Legende von den beiden treuen Jacobsbrüdern, S. 198, Z. 31-35). Dieser Aufwand lohnt sich, denn der tote Freund wacht auf, sobald die beiden am Zielort ihrer Pilgerreise angekommen sind. 201 Eine signifikante Opposition zum gemeinsamen Essen und Schlafen stellt die spätere Aufkündigung des ehelichen Bündnisses durch die Ehefrau des am Aussatz erkrankten Freundes dar, wie etwa in der anglonormannischen Verserzählung: Ne voleit entrer en son lit, / Ne voleit auxi od lui parler,/ Ne od li beivre ne manger (Fukui 1990, V. 812-814). („Sie wollte sich nicht in sein Bett begeben, sie wollte zudem weder mit ihm sprechen noch mit ihm trinken oder essen.“)
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Die Inszenierung der Freundesgleichheit übergreift einzelne narrative Segmente. Die Ununterschiedenheit der Freunde bildet neben den beschriebenen Ritualen bzw. ritualisierten Handlungen gleichfalls einen grundlegenden Bestandteil der admissio und der mit dieser Phase verknüpften Sichtbarmachung der Freundschaft. Nicht nur Eid und Lebensgemeinschaft verfügen über „Demonstrationspotential“,202 das (den Beginn der) Freundschaft öffentlich erkennbar werden lässt. Die Sichtbarkeit der Freundschaft bezieht ihre Kraft insbesondere aus der körperlichen Gleichheit der Freunde,203 die als nach außen wahrnehmbare Form der gegenseitigen Entsprechung das Bündnis augenfällig macht. Eignet dem Ritual – in weiterem Sinne als „Form sozialen Handelns“204 – zum einen die zentrale Kategorie der Körperbezogenheit, zum anderen „eine ästhetische Dimension“,205 so verbindet beides sie mit dem Begriff der Inszenierung.206 Als (literarische) Strategien sind Inszenierungen zu beschreiben „als Arrangements von Sprache, Körper, Material in Relation zu Zeit und Raum zur Erzeugung bestimmter Effekte oder im Dienste bestimmter Darstellungsprinzipien“.207 In den Amicus-Amelius-Texten erfährt der Zusammenhang zwischen ästhetischen Techniken und körperlicher Stilisierung208 eine besondere Ausprägung: Die Gleichheit der Freunde bildet die spezifische ästhetische Dimension, an die der Freundschaftsentwurf gekoppelt ist. Die ununterscheidbaren Körper bezeichnen Schönheit und Idealität, sie sind in einer Kultur der Sichtbarkeit lesbar als Zusammengehörigkeit und Entsprechung, die zentrale Signifikate des hier entworfenen Freundschaftsmodells bilden. Von Bedeutung ist in diesem erstem Stadium die räumliche Anordnung der beiden Freunde: Die Nähe zueinander, die die gemeinsame Wahrnehmung der gleichen Männer als Freundespaar – und damit als Inhaber einer gemeinsamen Identität – allererst ermöglicht, bildet ein unabdingbares Konstituens. Ist die Nähe in den Texten der ersten Gruppe
_____________ 202 Althoff 1990, S. 204. 203 Die körperliche Gleichheit verweist auf die „Übereinstimmung des gemeinsamen Wertehorizontes“ (von Bloh 1998, S. 331). Die Vorbildlichkeit der Freunde, die ihrer gleichartigen Schönheit entspricht, ist somit stets als eine Bedeutung der nach außen wahrnehmbaren Similarität der Freunde vorhanden. 204 Eming et al. 2001, S. 218. 205 Vgl. Eming et al. 2001, S. 219. 206 Vgl. zum Begriff der Inszenierung Eming 2006b, S. 80-92. 207 Eming et al. 2001, S. 225. 208 Vgl. weiter Eming et al. 2001, S. 224f. Im dortigen Zusammenhang wird die Verknüpfung von Ritual und Inszenierung mit Emotionalität und Performativität beschrieben. Vgl. weiter Eming 2006b, Kap. 4.
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als Folge des gemeinsamen Dienstes am Hofe immer schon gegeben,209 muss sie in den Bearbeitungen der zweiten Textgruppe zweimal aufwendig hergestellt werden. Entsteht Nähe in der ersten Textgruppe über gesicherte reziproke Zuordnung der gleichwertigen, adligen Protagonisten am herrscherlichen Hof, gilt es in der zweiten Gruppe, sie zum einen durch religiöse Motivationen und zum anderen durch personales Begehren nach der Nähe des gleichen Anderen aktiv herzustellen. Dieses Verlangen äußert sich zunächst in der Mangelsituation der Abwesenheit und bedingt die Bewegung in Raum und Zeit, um die Distanz zu überwinden. In der Lebensgemeinschaft, die den gleichen Körpern gleiche Verhaltensweisen zuordnet (societas als voluntas), manifestiert sich dieses Begehren in vollendeter, da vollzogener Form. Wahrnehmung von Gleichheit beruht auf räumlicher Nähe: Letztere bedingt erstere nicht nur, sondern erhöht sie gleichermaßen, da durch den Kontakt die Ähnlichkeit der Freunde weiter vorangetrieben wird (z.B. durch die gemeinsame Ausbildung bzw. Vervollkommnung kriegerischer oder höfischer Fertigkeiten). Die Ununterscheidbarkeit wird zudem als sichtbarer Ausdruck einer beiden Freunden eignenden, gemeinsamen Identität wahrgenommen. Die auf Gleichheit beruhende Freundschaft, die durch Rituale und gemeinsames Leben gestiftet wird und in der admissio-Phase an räumliche Nähe gekoppelt ist, bezeichnet die absolute Gleichwertigkeit der adligen Freunde. Darin offenbart sich die reziproke „Anerkennung gleichwertiger Körper und damit [...] eine ideale freundschaftliche Beziehung“.210 Peter Czerwinski beschreibt, wie ständischer Rang an die sichtbare „Nähe eines ebenbürtigen Körpers“211 gekoppelt ist. Ebenbürtigkeit wird greifbar „in der allen erkennbaren, einzigartigen Affektivität“,212 mit der diese Körper sich begegnen. In den Amicus-Amelius-Texten ist es nicht immer die tat_____________ 209 Etwas anders verhält es sich im Engelhard, in dem Gleichheit und Nähe auf eine eigene, innerhalb der Textgruppe einzigartige Weise konstituiert werden. 210 Niederhäuser 2001, S. 59. Niederhäuser behauptet allerdings, dass die wechselseitige Anerkennung als gleichwertige Körper „keine Form innerer Zuneigung“ (S. 59) sei, da „Gefühl und Körper [...] hier noch nicht getrennt [sind] und Gefühlsbeziehungen daher immer schon Körperbeziehungen, die in Form von Gebärden als konventionalisierte Verhaltensmuster soziale Bindungen vor der höfischen Öffentlichkeit präsentieren“ (S. 67). Stattdessen ist mit Jaeger 1999 von einer grundsätzlichen Einheit von politisch-sozialer Relevanz einer Beziehung und emotionaler Zuneigung auszugehen: „Social gesture is the fundamental act of a nonprivate love; it is the public manifestation of a sanctioned, idealized way of feeling. [...] That of course does not mean that social gesture is empty, ceremonial posturing. Just the opposite: in order to have weight and meaning, the gesture must be grounded in experienced emotion“ (S. 18f.). 211 Czerwinski 1989, S. 270; Hervorhebung getilgt. Czerwinskis Ausführungen beziehen sich auf zwischengeschlechtliche Minne-Affekte, gelten jedoch uneingeschränkt auch für gleichgeschlechtliche Beziehungen. Vgl. dazu auch Niederhäuser 2001, S. 66. 212 Czerwinski 1989, S. 273.
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sächliche ständische Ebenbürtigkeit, sondern im weiteren Sinne Parität, die auf körperliche Ununterscheidbarkeit und Freundschaft bezogen ist. Diese Konzepte steigern sich zudem gegenseitig deutlich: Unbedingte Gleichwertigkeit offenbart sich sowohl in gegenseitiger Zuneigung als auch in (fast) uneingeschränkter Ähnlichkeit, während gleichzeitig – aufgrund dieser auf allen Ebenen sichtbaren Gleichheit und Wechselseitigkeit – die ‚Wertigkeit‘ der Freunde – also ihre wahrgenommene Vorbildlichkeit und Idealität – zunimmt. Die in den Freundeskörpern sichtbar verdoppelte Schönheit übertrifft offenbar ‚einfache‘ Schönheit. ‚sich, herre [...] wunder / schœne an disen kinden. / wer möhte ûf erden vinden / zwêne knaben sô gar gelich?‘ (Reiffenstein 1982, V. 666-669): So verknüpft der Engelhard die Schönheit der Knaben unmittelbar mit ihrer Gleichheit, und damit mit der Verdoppelung (zwêne knaben). Diese verdoppelte Schönheit könnte auf einen verdoppelten Adel verweisen, der von höherer Potenz ist als ‚einfacher‘ Adel. Im Engelhard werden mehrmals schœne, adel und tugent zusammengeschlossen.213 Wenn aber das Freundespaar in besonderem Maße über schœne und tugent verfügt, dann muss auch der über Körper und Verhalten wahrnehmbare adel ein besonderer sein, der nicht nur als Geblüts- oder Tugendadel zu identifizieren ist, sondern ebenso an Gleichheit und Zweiheit gekoppelt ist. Diese Sichtbarkeit bzw. gemeinsame Präsenz etabliert zudem das spezifische charismatische Modell, mit dem die gleichen Freundeskörper beschrieben werden können.214 Die als charismatisch zu bezeichnende Freundschaft zwischen Amicus und Amelius steigert nicht nur die Identität des einzelnen Freundes, der an der Vorbildlichkeit des Gefährten teilhat.215 Die körpergebundene Ausstrahlungskraft des einzelnen Adligen erfährt im Freundespaar eine identische Verdoppelung. In der wechselseitigen Reflektierung des identischen perfekten Körpers wird das Charisma verzweifacht: Die doppelte Präsenz des Gleichen aktiviert einen Spiegelungsprozess, der das Charisma und die ‚Körper-Magie‘216 der Freunde potenziert. Die gleichen Körper werden als zusammengehörig wahrgenommen; insofern besitzen die Freunde eine gemeinsame Identität. Die Konstruktion von Gleichheit bildet in der admissio-Phase der Freundschaft demnach sowohl ein erzählerisches Syntagma (als erstes narrationslogisches Element) als auch ein semantisches Programm, das die Elemente Eid und Lebensgemeinschaft mit Bedeutung auflädt. Umgekehrt zielen diese Elemente ihrerseits darauf, die Similarität zu intensivieren. Diese wechselseitigen Verstärkungen, die eine Überdeterminierung _____________
213 214 215 216
Vgl. etwa Reiffenstein 1982, V. 821. Vgl. Jaeger 1994, S. 1-17. Vgl. Jaeger 1999, S. 36-53 und passim. Zu diesem Begriff vgl. Jaeger 1994, S. 15.
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von Gleichheit bewirken, führen zu einer zweifachen Inszenierung der Doppelung: Die Ununterscheidbarkeit der Freunde wird in den beiden gleichen Bechern gespiegelt.217 Die jeweilige Ähnlichkeit der Freunde und der Becher wird oftmals mit ähnlichen Worten und Wendungen beschrieben: In der französischen elaborierten Legendenfassung sind die Becher d’un grant et d’un large et d’une faicture (Moland / D’Héricault 1856, S. 40)218, die Freunde aber samblant de beauté, de forme, et de quantité (S. 41f.),219 in der zur ersten Textgruppe gehörenden kurzen französischen Prosafassung Lille 130 sind die Freunde tous deux d’une fachon et d’une semblance et d’une biauté et d’une force (Woledge 1939, S. 452),220 die Becher schließlich tous d’un pris et d’une façon et d’une semblance (Woledge 1939, S. 455).221 In der mittelenglischen romance werden Becher und Gefährten ganz direkt miteinander verglichen: So quentelye thei [= golde cuppys twoo] were wrought, / In all thing thei were like, ywis, / As Amylion and sire Amys (Le Saux 1993, st. 20, V. 9-11).222 In den Bechern wird Gleichheit nochmals konkretisiert und zugleich ‚objektiviert‘, also an spezifische Objekte gebunden und damit – auch losgelöst von den gleichen Freundeskörpern – sichtbar und verfügbar gemacht. Dies wird zu einem späteren Zeitpunkt wichtig, als die körperliche Gleichheit der Freunde schwer beschädigt und ein Wiedererkennungszeichen vonnöten ist. Zudem verweisen diese Objekte erneut auf den Zusammenhang von Freundschaft (als Freundschaftsgaben) und den gemeinsamen Mählern der Lebensgemeinschaft, da sie als Trinkgeräte fungieren.223 Auffällig ist in diesem Zusammenhang, wann und wie die Becher jeweils übergeben werden: Sie sind nicht in allen Texten der ersten Gruppe vorhanden, sondern nur in der Untergruppe, in denen die Positionen der Freunde vertauscht sind. Anders als in der zweiten Textgruppe sind die Becher hier keine Taufgeschenke vom Papst, sondern dienen als Freundschaftsgeschenke. Die Becher werden zudem zu einem späteren Zeitpunkt _____________ 217 Dies gilt uneingeschränkt jedoch nur für die zweite Textgruppe, in denen stets von den Bechern erzählt wird. In der ersten Textgruppe sind die Becher, wie bereits gesagt, kein notwendiger Bestandteil des Freundschaftsmodells. 218 „von einer Größe und von einer Breite und von einer Machart“ 219 „ähnlich an Schönheit, an Gestalt und an Größe“ 220 „alle beide von einer Beschaffenheit und von einem Aussehen und von einer Schönheit und von einer Kraft“ 221 „gänzlich von einem Wert und von einer Beschaffenheit und von einem Aussehen“ 222 „So kunstvoll waren sie [die zwei goldenen Becher] gefertigt, dass sie sich wahrlich in allem glichen, wie Amylion und Herr Amys.“ 223 Die Beschädigung dieses Zusammenhangs wird ebenfalls in der Wiedererkennungsszene wichtig. Die Freunde speisen hier nicht zusammen, da einer von ihnen aussätzig ist: Er wird nicht erkannt und hat gleichzeitig keinen Anspruch, am Tisch des Herrn – der der Freund ist – zu speisen. Während des Mahls aber führt der Austausch der Becher zur Wiedererkennung. Siehe Kap. I.2.3.
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verschenkt und mit einer anderen Bedeutung erfüllt. Die mittelenglische romance platziert das Becher-Geschenk zwischen admissio- und probatioPhase: Amylion lässt vor seiner Abreise an den elterlichen Hof von einem Goldschmied zwei goldene Becher anfertigen, von denen er einen In tokne of oure parting (Le Saux 1993, st. 26, V. 12)224 Amys schenkt. In Lille 130 übergibt Amis Amiles einen von zwei silbernen Bechern, den dieser por l’amor de li (Woledge 1939, S. 455)225 behalten soll. Dies geschieht, als Amiles nach der ersten Freundschaftsprobe den Karlshof verlässt, also kurz vor Beginn der zweiten Freundschaftsbeweis-Sequenz.226 In der anglonormannischen Verserzählung wird erst kurz vor der Wiedererkennungsszene in der zweiten Freundschaftsprobe berichtet, dass Amillyoun Amys zu einem früheren Zeitpunkt einen Becher geschenkt hatte, von dem er selbst einen gleichen besitzt.227 Die Becher sind hier ganz und gar weltliches Zeichen für die Freundschaft und fungieren zunächst als nochmalige verdoppelte Inszenierung der Freundschaft, die indes erst bei der Trennung vonnöten ist. Hinzu kommt, dass sie in den letzten beiden Beispielen erst kurz vor ihrem Einsatz als Wiedererkennungszeichen eingeführt werden: Damit dominiert zunächst die handlungsdynamische über die versinnbildlichende Funktion. Beide Funktionen fallen in der Wiedererkennungsszene zusammen: Das Erkennen ist an die Re-Inszenierung der Gleichheit gekoppelt. In den verbleibenden Texten, die der ersten Gruppe zugeordnet werden können, ist eine Verdoppelung der Freunde durch zwei Artefakte nicht nötig: Wie_____________ 224 „zum Zeichen unserer Trennung“ 225 „aus Liebe zu ihm“ 226 Kokott 1989, S. 304, Anm. 100, glaubt, Lille 130 bewahre in den Bechern Reste der Kindheitsgeschichte der Helden (und damit der religiös deutenden Variante der Freundschaft). Er übersieht, dass auch andere Texte mit adligem Sinnhorizont die Becher aufweisen und sie in einen anderen handlungsdynamischen Zusammenhang als den der Kindheitsgeschichte stellen. 227 Vgl. Fukui 1990, V. 956-967. – Die Historia septem sapientum ersetzt die zwei Becher durch einen einzelnen Ring, den Lodovicus Alexander beim Abschied (nach der admissio-Phase) überreicht; in Konrads Engelhard sowie in Radulfus Tortarius’ Verserzählung fehlen die Becher ganz. Der Engelhard verweist gleichwohl mit dem geteilten Apfel auf ein äußeres Objekt, das die Freundschaft versinnbildlicht. Allerdings liegt der Akzent nun auf der Teilung eines Gegenstandes in zwei Hälften und nicht mehr auf der Verdoppelung. – Die Grenzfall-Texte (Gruppe 3) verteilen die Becher einmal wie die religiöse Textgruppe als Taufgeschenk des Papstes (chanson de geste) und einmal wie die adlige Textgruppe als Freundschaftsgeschenk zu einem späteren Zeitpunkt: Im Miracle überreicht Amis seinem Freund einen der beiden gleichen Becher, nachdem er den Zweikampf für ihn ausgetragen hat und ihm bereits vom Erzengel Gabriel die Aussatzerkrankung offenbart worden ist. Dieser späte Moment für die Übergabe steht ganz im Zeichen der offenbar bereits antizipierten Wiedererkennungsfunktion und verweist so bereits auf die kommenden Ereignisse: Amille soll seinen Becher nicht nur aus Liebe (vgl. Paris / Robert 1879, V. 1259) aufbewahren, sondern Amis deutet hier bereits die Funktion als Erkennungszeichen an (vgl. V. 1256-1267).
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dererkennung und Freundschaft funktionieren ohne Dingsymbole.228 Dabei ist nicht immer von einem ‚einfacheren‘ Gelingen der adligen Freundschaft auszugehen, die unkomplizierter – im Sinne von literarischerzählerischer Motivation – zustande kommt,229 sondern zuweilen auch von komplexen Verinnerlichungsstrategien, die die Becher ablösen.230 Lorna Hutson hat die Becher in der mittelenglischen romance Amys and Amylion mittels der Gabelogik analysiert, wie Marcel Mauss231 sie erarbeitet hat. Sie sieht die Freundschaftsgeschichte ganz im Zeichen einer „instrumental loyalty guaranteed by material tokens“.232 Die Becher fungieren in diesem Interpretationsansatz als Pfänder für die Freundschaftstreue: Sie machen die in die Zukunft transferierte Verpflichtung, etwas zurückzugeben, greifbar. Hutson geht davon aus, dass die gesamte Geschichte von der gegenseitigen Hilfeverpflichtung strukturiert sei, „the expansiveness of its narrative representing the temporality of deferral in which the truth of friendship, as the obligation to reciprocate in times of need, may be tried“.233 Der letzten Beobachtung ist zuzustimmen, allerdings basiert die Struktur der Erzählung nicht auf dem gegenseitigen Austausch der Becher als Freundschaftspfänder: Die Trinkgeräte stellen in der mittelenglischen romance gerade keine wechselseitigen Geschenke dar, sondern sind eine einseitige Gabe von Amylion.234 Auch in den anderen Texten der ersten und der dritten Gruppe, in denen die Becher zwischen den Freunden ausgetauscht werden, kommt das Geschenk stets von nur einem der Kameraden, der den zweiten, identischen Gegenstand für sich behält. In der zweiten Textgruppe sind die Becher Taufgeschenke des Papstes, also Zeugen spiritueller Verwandtschaft und religiöser Legitimation der Freundschaft. Insofern verkörpern die Becher die gegenseitige Treueverpflichtung zwischen den Freunden – die gleichwohl existiert – nicht.235 Sie _____________ 228 In der Historia septem sapientum erfüllt der Ring zwar eine Wiedererkennungsfunktion, die aber von der der Becher abweicht, allein schon wegen der Einseitigkeit des Pfandes. 229 ‚Einfaches Gelingen‘ gilt uneingeschränkt für Radulfus Tortarius. 230 Dies beschreibt auf spezifische Weise der Engelhard mit der Apfelteilung. Vgl. Kap. I.1.2. und I.4.4. 231 Mauss 1978. 232 Hutson 1994, S. 5. 233 Hutson 1994, S. 5. 234 Der Text sperrt sich auch einer Interpretation, wonach Amylion die Verpflichtungskette der Treuebeweise durch die Gabe in Gang setzen würde. Denn dann müsste auf seine Gabe nun eine Gegengabe von Amys folgen. Stattdessen ist in der ersten Treueprüfung erneut Amylion aktiv, der für Amys den Zweikampf bestreitet. Auch könnte die Bedeutung des zweiten Bechers, den Amylion für sich behält, nicht erklärt werden. 235 Vgl. Oswald 2004, die darauf hinweist, dass mittelalterliche Texte von Gaben erzählen können, „die sich ökonomischen Regeln und Logiken entziehen oder zumindest versuchen, solche zu verschleiern“ (S. 42). Zwei Schwerpunkte, auf die sie sich in ihrer Studie konzentriert, sind Zeichenstatus und Memorialcharakter von Gaben.
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sind stattdessen vornehmlich als Teil einer erzählerischen Strategie zu betrachten, mit der Gleichheit inszeniert wird. Die Körpergleichheit der Freunde wird verdoppelt und nach außen verlagert. Die Becher bilden eine Verbindung zwischen den Freunden, die auf der Kraft der Objekte beruht, die Freundesgleichheit zu replizieren und (relativ) störungsunanfällig auch in Gefahrensituationen zu repräsentieren.236 Die körperliche Ausstrahlungskraft des charismatischen Freundschaftsmodells wird demnach in den Bechern eingefangen, deren Verdoppelung und Präsenz die Freundeskörper reflektiert und damit eine sekundäre Ebene eröffnet, auf der Charisma gespiegelt wird. Der die Freundschaft ‚verinnerlichende‘ Apfeltest dagegen beleuchtet eine körperlich veranschaulichte, intellektualisierende Tendenz, die die Bewegung des charismatischen Widerscheins unterbricht, indem das Freundschaftssymbol einverleibt wird. Diese diskursiven Unterschiede im Freundschaftsmodell werden auch in den nächsten Freundschaftsphasen reflektiert.
_____________ 236 In der mittelenglischen romance wird die Bedeutungskraft der Becher allerdings problematisiert. Vgl. Kap. I.2.3.
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2. Probatio: Prüfung der Freundschaft Auf die Entstehungsphase der Freundschaft folgt eine Sequenz, in der die Beziehung hinsichtlich ihrer Stärke und der gegenseitigen Freundesloyalität beleuchtet und damit auf ihre Beständigkeit und Vorbildlichkeit überprüft wird. Die Prüfungen nehmen in der Trennung der Protagonisten ihren Ausgangspunkt. Daran schließen sich die zwei aufeinander bezogenen Freundschaftstests des Gottesurteilskampfes und des Kinderopfers an. 2.1. Trennung: Abschied und Aufnahme anderer sozialer Beziehungen Ist die körperliche Nähe der Freunde ein konstitutiver Bestandteil der Entstehungsphase ihrer Freundschaft, verursacht die Aufhebung des räumlichen Kontakts erhebliche Schwierigkeiten, die schließlich zu den Prüfungssituationen führen. Während der admissio-Abschnitt einen idealen Zustand demonstriert, in dem das Freundespaar gleichsam in makelloser Intaktheit strahlt, wird diese Vollkommenheit durch die Trennung der Freunde durchbrochen. Erst durch die räumliche Distanznahme werden die Geschehnisse denkbar, die in den Freundschaftsprüfungen resultieren:237 Der am Herrscherhof zurückbleibende Freund nimmt sexuelle Beziehungen zur Herrschertochter auf und differenziert sein Verhältnis zum Verräter Ardericus aus. Abschied Die zur ersten Gruppe der Amicus-Amelius-Texte gehörenden Bearbeitungen imaginieren die (Auswirkungen der) Trennung auf recht unterschiedliche Weise. In dieser Phase – wie in der gesamten probatio-Sequenz – entfalten die Texte narrative Varianten: In den Bearbeitungen, in denen die Namen der Freunde vertauscht sind, reitet Amelius nach Hause. In den Fassungen, in denen die Positionen der Protagonisten mit denen der zweiten, legendenhaften Textgruppe zusammenstimmen, verlässt dagegen Amicus den Hof des Herrschers. In der Mehrzahl dieser insgesamt zahlenmäßig dominierenden Texte möchte Amicus zu seiner Frau heimkehren, die er in der Zeit geheiratet hat, als er nach seinem Freund suchte. In der zweiten, selteneren Variante muss Amelius entweder nach dem Tode _____________
237 Eine Ausnahme bildet hier neben dem lateinischen Exempel die Historia septem sapientum, die zumindest einen Teil der Ereignisse – und zwar die Aufnahme sexueller Beziehungen zur Herrschertochter – in die admissio-Phase der Freundschaft transferiert und sie im Bereich des Freundschaftsdienstes ansiedelt. Vgl. Kap. II.3.1.
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seiner Eltern Herrscherpflichten in der Heimat wahrnehmen (mittelenglische romance, anglonormannische Verserzählung, Engelhard) oder reitet ohne äußeren Anlass aus, um eine Herrschaft allererst zu erlangen (Lille 130). Auch diese erzählerische Möglichkeit mündet in die Heirat einer angemessenen Ehefrau, wodurch die neue Herrscheridentität des betreffenden Freundes komplettiert wird.238 Beide narrativen Varianten erzählen von verwandtschaftlichen bzw. herrschaftlichen Verpflichtungen, die von einem der Freunde erfüllt werden müssen, da sie mit der Ausbildung einer vorbildlichen adligen Identität einhergehen. Dies bedingt jedoch die Trennung und räumliche Distanznahme der Gefährten, so dass die Einheit des Freundespaares aufbricht. Dies kann sich zerstörerisch auf die Freundschaft auswirken. Die eigentliche Trennung wird von den einzelnen Texten ganz unterschiedlich ausgestaltet. So erzählen Radulfus Tortarius und Lille 130 von einer ganz unproblematischen Aufspaltung des Männerpaares. In der lateinischen Verserzählung wird die Trennung verschwiegen und erst zu dem Zeitpunkt thematisiert, als Amelius die räumliche Distanz überbrücken muss, um seinen Freund um Hilfe zu bitten.239 Nähe und Distanz erscheinen in diesem Text demnach als zwei räumliche Modi der Freundschaft, von denen weder der erste als präferierter, noch der zweite als heikler Zustand herausgestellt wird. Ganz schlicht berichtet Lille 130 von der Trennung, die nicht einmal eine Abschiednahme der Freunde beinhaltet. Die beiden verschiedenen Wege der Freunde werden als zwei nebeneinander existierende Möglichkeiten ritterlichen Lebens gezeigt.240 Das erste Handlungsmodell – Amiles’ Auszug – resultiert im Erwerb einer Gräfin mit dazugehöriger Herrschaft in Spanien. Die Trennung wird hier ganz unkompliziert von der Freundschaft ausgehalten. In weiteren Texten der ersten Gruppe erscheint die Trennung dagegen als ernsthafter Einschnitt in die Freundschaft. Meist beinhalten die Bearbeitungen eine emotionale Trennungsszene,241 in der eine Warnung _____________ 238 Die Historia septem sapientum, die ebenfalls zu dieser Gruppe gerechnet werden kann, verknüpft die Variationsmöglichkeiten, indem Tod des Ersatzvaters und bevorstehende Heirat mit seiner Tochter zusammenfallen. Vgl. etwa für die Gießener Hs. 104 Steinmetz 2001, S. 66, Z. 224-226. 239 His aberat rebus praedicto fidus Amicus, / Fertur nativum tunc habitasse solum, / Quem petit Amelius suffragari sibi poscens (Ogle / Schullian 1933, V. 159-161). („Der treue Amicus war bei diesen Ereignissen nicht anwesend. Man sagt, er habe zu diesem Zeitpunkt zu Hause gelegen. Amelius suchte ihn und bat ihn um Hilfe“, nach Leach 1937/1990, S. 101f.) Es wird nicht deutlich, was der Anlass für die Trennung war und wann Amicus seine Frau erlangt hat. 240 Et [...] Amiles […] priest congié a Charlemainne et s’en ala par pluseurs terres querant aventures […]. Et Amis demoura a la court Charlemainne […] (Woledge 1939, S. 452). („Und Amiles nahm Abschied von Karl und begab sich in mehrere Länder, um nach âventiure zu suchen. [...] Und Amis blieb an Karls Hof.“) 241 Vgl. Kap. I.4.1.
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vor dem Neider Ardericus ausgesprochen wird. Zudem werden Freundschaftszeichen ausgetauscht. In der mittelenglischen romance verlässt Amylion den Hof, um nach dem Tode seiner Eltern die Herrschaft anzutreten. Abschiedsschmerz und -kuss werden erwähnt,242 während der eigentliche Trennungsakt ganz im Zeichen der Erneuerung des Freundschaftsschwurs steht. Amylion erinnert seinen Freund: Brother, we are trowth-plyght, Both in word and dede. Ffro this dai forward ever moo, Nother faile other, for well ne woo, To helpe other at nede. Brother, be now trew to me, And y schall be as trew to the. (Le Saux 1993, st. 24, V. 5-11)243
Daran schließt sich die Warnung vor dem fals steward (st. 25, V. 11)244 an. Überdies werden die goldenen Becher ausgetauscht, die Amylion hat anfertigen lassen. Die Becher dienen als „Zeichen der Trennung“ (tokne of oure parting, st. 26, V. 12) und sind mit der Aufforderung des Gedenkens und der stetigen Mitführung verbunden: Lette never this couppe fro the, / But loke heron and thenk on me (st. 26, V. 10f.).245 Dass Amylion beim Abschied seinem Freund einen der gleichen Becher übergibt, zeigt nicht nur die Funktion der Becher als Trennungs- und Memorialzeichen, sondern auch, dass die Trennung nur durch die Re-Inszenierung der Freundesgleichheit erduldet werden kann. Das Becherpaar wird jedoch ebenso wie die Freunde getrennt, so dass nun jeweils ein Freund und ein Becher das ursprüngliche Freundespaar repräsentieren. In der anglonormannischen Verserzählung ist es ebenfalls Amillyoun, der nach dem Tode seines Vaters heimgerufen wird, um Herrschaftsaufgaben zu erfüllen. Nachdem der Graf, an dessen Hof sie dienen, die gemeinsame Abreise der Freunde auch hier abgelehnt hat, warnt Amillyoun beim Abschied ebenfalls vor dem verräterischen Seneschall. Zudem wird Amys – wie auch in der mittelenglischen romance – von seinem Freund ermahnt, die Treuebeziehung zum Grafen zu wahren.246 Dass Freund_____________ 242 Vgl. Le Saux 1993, st. 27, V. 1f. 243 „Bruder, wir haben einander Treue in Wort und Tat geschworen. Von diesem Tag an für immer soll keiner den anderen im Stich lassen, ob in Freud oder Leid, um ihm in der Not zu helfen. Bruder, halte mir nun die Treue, dann werde ich dir die Treue ebenso halten.“ – Fast alle Elemente des ersten, eigentlichen Freundschaftseides werden, z.T. mit wörtlichen Wiederholungen, hier wiederaufgenommen; vgl. Le Saux 1993, st. 13. und Kap. I.1.2. 244 „unaufrichtigen Steward“ 245 „Trage diesen Becher immer bei dir, schau ihn an und denke an mich.“ 246 Vgl. Fukui 1990, V. 75f.
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schaftszeichen ausgetauscht werden, wird hier allerdings nicht erzählt; erst zu einem späteren Zeitpunkt wird die Existenz der Becher offenbar.247 Die Historia septem sapientum erzählt, dass Alexander nach dem Tode seines Ersatzvaters, des Königs von Ägypten, heimreisen und die Königstochter heiraten muss. Die Warnung vor dem gefährlichen Neuankömmling Gydo248 wird auch hier mit der Übergabe eines Freundschaftszeichens verbunden. Allerdings sind Abweichungen von den anderen AmicusAmelius-Texten zu verzeichnen: Zum einen wird nur ein einzelnes Freundschaftszeichen – ein Ring – getauscht, zum anderen nimmt Lodovicus’ Geliebte Florentina am Abschied teil. Beide Elemente stören die Aufeinanderbezogenheit und Gleichheit der Freunde und erhalten die bereits eingeführten Differenzen weiter aufrecht. Auf Lodovicus’ Bitte hin, Alexander möge das kospar vingerlin (Hans von Bühel, Dyocletianus Leben, Keller 1841, V. 8025), das er einst von seiner Mutter erhielt, an seinem Finger tragen, antwortet jener: Geselle vil gern ich es nym Aber myn munt dir vergicht Ich wil din ?ne dez vergessen niht Vnd der lieben juncfrowen myn.249 (V. 8031-8034)
Während Lodovicus einem äußerlichen Modell der Repräsentation von Freundschaft verhaftet ist, das an die konkrete Gegenständlichkeit von Memorialzeichen gebunden ist, hat Alexander bereits einen Verinnerlichungsprozess absolviert, der – ähnlich wie der Engelhard – keinerlei äußerer Dingsymbole bedarf. Ganz anders gestaltet sich die Abschiednahme der Freunde im Engelhard: Mit der Ankunft des Boten, der Dietrich vom Tode seines Vaters berichtet und ihn zur Heimfahrt mahnt, wird für die Protagonisten erstmals ihre Statusdifferenz offenbar: Dietrich ist frischgebackener Herrscher von Brabant. Während Dietrich um seinen Vater trauert und den bevorstehenden Verlust seines Gefährten beklagt, stürzt Engelhard in eine Krise, als er erkennen muss, dass die für ihre Beziehung konstitutive Ebenbürtigkeit nicht existiert. Dietrich unterbreitet Engelhard drei Angebote, um räumliche Nähe aufrechtzuerhalten: Er schlägt ihm zunächst vor, mit ihm nach Brabant zu kommen, wo er ihm lîp unde guot (Reiffenstein 1982, V. 1425) unterwerfen will; weiter bietet er an, selbst nicht heimzukehren und lieber liut und lant (V. 1512) zu verlieren als den herzetrût geselle mîn (V. 1489); und schließlich eröffnet er die Möglichkeit, Engelhard selbst in _____________ 247 Vgl. Fukui 1990, V. 956-967. 248 Zu den Namen in den einzelnen Fassungen siehe Anm. 266. 249 Damit ist Florentina gemeint, die ebenfalls anwesend ist. Der Ring verweist somit nicht nur auf den Freund Lodovicus, sondern auch auf seine Geliebte.
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Brabant zum Ritter zu schlagen. Engelhard lehnt alle drei Angebote ab und beharrt auf seinem niederen Status. Er entschuldigt sich zunächst, Dietrich nicht ehrerbietiger behandelt zu haben, und fasst Dietrichs Freundschaft zu ihm als dessen Statusminderung auf: daz dû, junger fürste guot, sô nider ie gemachtest dich daz dû geselleschafte mich sô lûterlîche hâst gewert, wand ich enwart des nie sô wert daz eines landes herre grôz ze hove solte mîn genoz an geselleschefte sîn. (V. 1458-1465)
Als Grund, am Hofe König Fruotes zu bleiben, nennt er den antizipierten Lohn und seine Loyalität gegenüber seinem vorbildlichen Herrn. Die Trennung wird von Engelhard als unvermeidbare Konsequenz erzwungen, die sich für ihn aus der Offenbarung der Statusdifferenz ergibt. Implizit beinhaltet sie die Aussicht auf Engelhards Statussteigerung durch weiteren Dienst an Fruotes Hof. Als Dietrich die Aussichtslosigkeit seiner Bemühungen erkennt, willigt er in die Trennung ein und nimmt Engelhard das Versprechen ab, ihn aufzusuchen, sollte er den Hof verlassen. Dieses Zugeständnis kann Engelhard machen: nim des ze pfande mînen eit (V. 1581). Der Eid verweist in dieser prekären Situation darauf, dass der Bund fortbesteht. Gleichwohl ist die Freundschaft zwischen Engelhard und Dietrich in ihrer Grundfeste – der Gleichheit – erschüttert. In der Trennung manifestiert sich diese Störung räumlich. Insgesamt durchspielen die Texte der ersten Gruppe ganz unterschiedliche Abschieds-Szenarien: Auffällig ist zunächst, dass die Positionen der Freunde in den Textuntergruppen an dieser Stelle ausgetauscht werden können. Überdies stehen die unkomplizierten Varianten Radulfus’ – der die Trennung nicht einmal für erwähnenswert befindet – und Lilles 130 – wo die Trennung eine notwendige Voraussetzung für die Formierung adliger Identität bildet – den Formen gegenüber, die die Auflösung des Freundespaares als massiven Einschnitt in die Beziehung deuten, dem es durch vorbeugende und ausgleichende Maßnahmen beizukommen gilt. Dabei handelt es sich zum einen um die Warnung vor dem Neider und Verräter, für dessen Manipulationen der vereinzelte, zurückbleibende Freund besonders anfällig zu sein scheint, nachdem er aus der quasi unantastbaren Zweisamkeit herausgelöst ist. Zum anderen sollen Freundschafts- und Memorialzeichen die Trennung lindern, indem sie bis zu einem gewissen Maße den Platz des Freundes einnehmen. Einige Texte deuten die Trennung als unheilvolle Zäsur. Der Engelhard, der weder Memorialzeichen noch Warnung besitzt, deutet den Abschied als Bedrohung
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der intensiven Zweierbeziehung und versprachlicht dies in einer Weise, die an Extensität ihresgleichen sucht. Dialog und Überlegungen der Freunde ziehen sich über mehr als 200 Verse hin (V. 1379-1591) und diskursivieren so nochmals Freundschafts-Konstituenten, Emotionalität und Handlungsspielräume. Der Engelhard, der wie die Historia septem sapientum zur Textgruppe mit deutlich unterschiedenen Freundesnamen gehört und damit die Unterschiedenheit der Freunde programmatisch macht, führt somit an dieser Stelle eine schwerwiegende Differenzierung ein, die die Gleichheit der Freunde abschwächt. Die zweite, religiös deutende Textgruppe beurteilt und inszeniert den Abschied anders. Grundsätzlich ist es Amicus, der den Karlshof nach drei Jahren250 verlässt, da er zu seiner Frau heimkehren möchte. Dieser Wunsch entsteht ohne äußeren Zwang und verweist darauf, dass die Freunde hinsichtlich weiterer, bereits eingegangener sozialer Beziehungen, die Obligationen nach sich ziehen, differenziert werden. In den elaborierten und mittellangen legendenhaften Bearbeitungen warnt Amicus vor seiner Abreise – wie in einigen Texten, die zur ersten Gruppe gehören, – vor der falschen Freundschaft mit Ardericus sowie zusätzlich vor der Königstochter. So heißt es in der lateinischen elaborierten Vita: cave tibi a filia regis et maxime a nequissimi comitis Arderici fallaci amicicia (Kölbing 1884, S. ci, Z. 14f.).251 Im Zusammenhang mit den ausgesprochenen Warnungen wird die Trennung der Freunde als bedrohliche und – im Hinblick auf die daraus resultierenden Ereignisse – unheilvolle Aktion bewertet. „Trennungen konnotieren gemäß der Erzähllogik in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Texten gewöhnlich – wie auch hier – eine Störung oder Irritation; Nähe bedeutet dagegen Sicherheit, die zumal auf dem Prinzip von Gegenseitigkeit basiert.“252 Gilt Nähe nicht nur als „Zeichen von Einvernehmen“,253 sondern noch viel grundlegender als „Zeichen intakter Rechtsbe_____________ 250 Diese Zeitangabe findet sich in den elaborierten und mittellangen Fassungen. Vgl. etwa für die lateinische elaborierte Vita Kölbing 1884, S. ci, Z. 11. Die Bearbeitung von Andreas Kurzmann weiß nur von ettleich czeit (Oettli 1986a, S. 157, V. 353). Die minimalen Viten spezifizieren die Zeit nicht. Vgl. etwa für die Fassung im Großen Seelentrost Schmitt 1959, S. 230, Z. 14f. 251 „Nimm dich vor der Tochter des Königs ins Acht und besonders vor der falschen Freundschaft des äußerst nichtsnutzigen Grafen Ardericus“ (nach Kuefler 2000, S. 448). – Die minimalen Fassungen berichten nicht vom warnenden Rat. Die von Wackernagel edierte Seelentrost-Bearbeitung der Amicus-Amelius-Geschichte lässt nur Folgendes verlauten: Dar nâch zu einer zyt zôch Amicus heim zu sîner hûsfrauwen, und ließ Amelius blîben in des koninges hoif (Wackernagel 1839, Sp. 983, Z. 6-8). – Das lateinische Exempel erzählt nicht von einer Trennung. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass die Freunde bis zum Zeitpunkt der Bitte zeitweilig getrennt waren. Vgl. Klapper 1914, S. 340, Z. 1f. und 4f. 252 Von Bloh 2005, S. 353. 253 Müller 1998, S. 318.
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ziehungen“,254 wird Distanz hier als Gefahr für den sozialen Zusammenhalt gedeutet. Nicht nur der Abschied an sich, sondern auch andere soziale Beziehungen, vor denen ausdrücklich gewarnt wird, erscheinen als unmittelbare Gefährdung der exklusiven Freundschaft. Die Texte der zweiten Gruppe hatten zunächst mit Taufe und Suche eine zweifache handlungsdynamische Anstrengung unternommen, um die Helden zusammenzuführen; ihr Abschied wird nun nur skizziert. Entwerfen die Texte zunächst sowohl ein textuelles als auch ein an die Figuren gekoppeltes Begehren nach der Nähe des Gleichen, das schließlich in der ersehnten Zusammenführung der Freunde mündet, werden die Trennung und die an sie geknüpften Gefahren nur kurz erwähnt. Dem Handlungsprogramm, mit dem die körperliche Nähe zwischen den Gefährten hergestellt wird, steht die minimalistische Darstellung der Trennung diametral gegenüber. Der aufwendig hergestellten und positiv bewerteten Nähe entspricht innerhalb dieses Modells eine in der Distanz begründete Bedrohung. Insofern bilden die zwei unterschiedlichen Erzählstrategien, mit denen der Abschied entweder aufwendig inszeniert oder zurückhaltend angedeutet wird, zwei Möglichkeiten, Bedrohung zu bedeuten. Wie im Folgenden deutlich werden wird, entsprechen den verschiedenen Taktiken divergierende Auswirkungen der Trennung: Bedroht die Distanz in der ersten Textgruppe zwar die Existenz des am Hofe verbliebenen Freundes, gefährdet die räumliche Distanz in den Texten der zweiten Gruppe die Existenz der Freunde in einem viel grundsätzlicheren Sinne, da es die Freundschaft selbst ist, die zu zerbrechen droht. Die Grenzfälle erzählen auf spezifische Weise von der Trennung der Freunde. Anders als in den anderen Texten erwirbt Ami sowohl in der chanson de geste als auch im Miracle seine Ehefrau Lubias aufgrund hervorragender kriegerischer Leistungen in Karls Heer. In der chanson de geste sind die Kameraden nach der Hochzeit im fernen Blaye zeitweilig getrennt. Dieser Trennung setzt Lubias durch ihre Boshaftigkeit ein schnelles Ende: Als sie Amile vor Ami verleumdet, entschließt dieser sich, Lubias zu verlassen und seinen Freund, den meillor home qui onques fust soz ciel (Dembowski 1987, V. 507),255 aufzusuchen. Nach einer weiteren Zeit glücklichen Zusammenlebens, die sieben Jahre dauert, findet dann die Trennung statt, die mit der in den anderen Texten besprochenen Abschiednahme korrespondiert. Ami unterbreitet seinem Freund unter Tränen den Wunsch, seine Frau und seinen kleinen Sohn wiederzusehen. Auch hier warnt Ami vor einem Freundschaftsbündnis (compaingnie, V. 562) mit Hardré sowie vor einer Liebschaft mit der Königstochter. Das Miracle _____________ 254 Müller 1998, S. 313. 255 „den besten Mann, den es jemals unter dem Himmel gab“
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verzichtet auf die Verdoppelung von Trennungen und Gemeinschaften und betrachtet Amis’ Ehe als so triftigen Trennungsgrund, dass darüber kaum ein Wort verloren wird. Die Verbindung der Freunde wird einfach aufgelöst, indem sie nicht mehr zusammen auftreten, von Dritten über die Hochzeit geredet wird und die Prinzessin sich schließlich für den verbleibenden Amille zu interessieren beginnt. Die Freundschaft wird ohne Trennungsszene, Warnung oder ähnliche Handlungskonstituenten ausgeblendet. Die sexuelle Inbesitznahme der Herrschertochter Die Texte der zweiten Gruppe hatten mit der Abschiednahme der Freunde bereits einen verhängnisvollen Verlauf der zu erwartenden Geschehnisse antizipiert. Dieser Verdacht bewahrheitet sich schnell. Der am Karlshof verbleibende Amelius verstößt gegen beide Warnungen, die Amicus ausgesprochen hatte. Zunächst überschreitet er das Verbot, sich von der Königstochter256 fernzuhalten:257 Amelius vero super Regis filiam oculos iniecit, & eam quamcitius potuit oppressit (mittellange Vita, Vincentius 1624/1965, cap. clxiiii, S. 956, Sp. 2),258 heißt es knapp und unverhohlen. In allen Bearbeitungen dieser Textgruppe wird ähnlich kurz beschrieben, wie Amelius sich der Prinzessin bemächtigt, wenn auch das Moment der Gewalt in einigen Texten abgemildert oder in einverständliches Handeln umgewandelt wird.259 Das punktuelle Interesse, das Amelius und darüber hinaus die Texte selbst der Herrschertochter entgegenbringen, besitzt eine grundsätzliche handlungsdynamische Funktion, da der Beischlaf die probatio-Kette auslöst. Für das Freundschaftsmodell ist zudem bedeutsam, dass Amelius sich nicht gemäß den Anordnungen seines Freundes verhält. Dies bezieht sich nicht auf eine wie auch immer geartete Vorstellung der Konkurrenz beider Beziehungsmodelle: Die Kürze der Darstellung und das zeitlich sehr begrenzte Verlangen nach der Königstochter bestätigen zweifellos, dass der meist vereinzelt bleibende zwischengeschlechtliche Akt mitnichten mit dem innigen Freundschaftsverhältnis vergleichbar ist. Amelius’ _____________ 256 Einzig in Hermann Korners Bearbeitung ist es nicht die Prinzessin, sondern ênes vorsten dochter (Pfeiffer 1864, S. 263, Z. 6f.), mit der Amelius zusammenkommt. 257 An dieser Stelle wird die Beziehung zur Königstochter ausschließlich in ihrer handlungsdynamischen bzw. erzählstrategischen Bedeutung sowie in ihrer Stellung zum Freundschaftsmodell betrachtet. In Kap. II.3. werden die spezifischen Geschlechterverhältnisse genauer analysiert und in die von den Amicus-Amelius-Texten entworfene Beziehungs- und Gefühlskultur eingeordnet. 258 „Amicus aber warf ein Auge auf die Tochter des Königs und sobald er konnte, vergewaltigte er sie.“ 259 Ausführlicher dazu Kap. II.3.1.
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Verfehlung besteht darin, dass er den Rat bzw. die Verhaltensvorgaben seines Freundes missachtet: Aber Amelius der hielt der gebot Amico nit (Reiffenstein 1982, S. 244, Z. 112).260 Damit verletzt er das Freundschaftsbündnis. Mit consilium wurde – je nach Text – mehr oder minder explizit ein „Verpflichtungshorizont“261 freundschaftlichen Verhaltens vorgegeben: Dass diese Handlungsanweisungen eingehalten werden, erweist sich als ebenso wichtig für das Bündnis. Der Verstoß gegen die Vorgaben des Freundes führt rechtliche Konsequenzen nach sich, denn der Bruch situiert sich nicht nur auf der Ebene des Freundschaftsbundes, sondern ist zusätzlich ein Bruch des Treueverhältnisses zum Dienstherren. Da Amelius sich den Prinzessinnenkörper unrechtmäßig angeeignet hat, droht ihm nicht nur öffentlicher Ehrverlust, sondern auch Gefahr für Leib und Leben. Diese Bedrohung wird allerdings erst mit der öffentlichen Anklage durch Ardericus virulent. Die Texte der ersten Gruppe, die ein adliges narratives Universum entwerfen, sowie die als Grenzfälle zu bezeichnenden Amicus-AmeliusBearbeitungen zeigen ein weitaus größeres Interesse an der Herrschertochter als die religiöse Textgruppe. Die rechtswidrige sexuelle Handlung zwischen ihr und dem am Hof weilenden Freund wird ausführlicher motiviert. Da in den meisten dieser Texte kein Verbot existiert, das der abreisende Freund hinsichtlich ihrer Person ausgesprochen hätte,262 wird die Verbindung auch nicht als die Freundschaft bedrohende Übertretung beurteilt. Auffallend ist in diesem Zusammenhang die erzählstrategische Tendenz der ersten Textgruppe, das zwischengeschlechtliche Begehren nicht vom betroffenen Freund ausgehen zu lassen, sondern es stattdessen der Prinzessin zu implantieren. Die verschiedenen Versionen entwerfen unterschiedliche Modelle weiblichen Begehrens sowie daran geknüpfte Strategien, den vereinzelten Freund als Geliebten zu gewinnen.263 Wie divergierend diese Konzeptionen zwischengeschlechtlichen Begehrens auch sein mögen, sie haben eines gemeinsam: Die Initiierung der illegitimen Geschlechterbeziehung kommt nun nicht mehr dem verblei_____________ 260 Legros 1988, S. 117, beschreibt für die chanson de geste die Warnung vor Hardré und Belissant als „devoir de conseil“. 261 Garnier 2006, S. 119. 262 In der chanson de geste warnt der abreisende Ami allerdings vor einer Liebschaft mit der Prinzessin und vor Hardré; vgl. Dembowksi 1987, L. 34. In der mittelenglischen und der anglonormannischen Bearbeitung ermahnt der abreisende Amylion seinen Freund, keinen Verrat an seinem Herrn zu begehen; vgl. Le Saux 1993, st. 25; Fukui 1990, V. 73-102. Dies kann als indirekte Warnung vor einer Beziehung mit der Herrschertochter gedeutet werden. 263 Nur die Historia septem sapientum und Konrads Engelhard konstruieren ein gegenseitiges zwischengeschlechtliches Begehren, das Liebeskrankheit mit Minnedienst verbindet. Siehe zu allen diesen Modellen Kap. II.3.
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benden Freund zuschulden, sondern seiner weiblichen Gegenspielerin. Obwohl der vereinzelte Freund rein rechtlich für den dennoch vollzogenen Normenverstoß zur Verantwortung gezogen wird, unternehmen die Texte alles, um ihn – zumindest moralisch – soweit wie möglich zu exkulpieren. Hinzu kommt die bereits erwähnte Abwesenheit einer Warnung bezüglich der Prinzessin, so dass in den Texten der ersten Gruppe und – bedingt – in den Grenzfällen das zwischengeschlechtliche Verhältnis und der sexuelle Akt von der Freundschaft gänzlich abgekoppelt sind, so dass von einem Treue- oder Bündnisbruch auf dieser Ebene keine Rede sein kann. Der Freund wird moralisch und rechtlich entlastet, was dazu führt, dass das Delikt auf eine andere rechtliche Ebene verlagert wird: auf die des Treuebruchs gegenüber dem Dienstherren.264 Gleich aber, auf welch unterschiedliche Weise die jeweiligen Texte die sexuelle Inbesitznahme der Herrschertochter inszenieren: Insgesamt ist der rechtliche Normenverstoß eine handlungsdynamische Notwendigkeit, der die Prüfungsstationen nicht nur vorantreibt, sondern sie letztlich bedingt. Dies bedeutet gleichzeitig, dass die probatio-Phase – und damit das ganze Freundschaftsmodell – grundsätzlich auf einer rechtlichen, z.T. auch moralischen Übertretung eines der Freunde gründet und damit sowohl die Vorbildlichkeit des Freundes als auch die Legitimation der anschließenden Konfliktlösungsstrategien in ein ambivalentes Licht setzt.265 Die Beziehung zu Ardericus Nicht nur in der Ausformulierung der zwischengeschlechtlichen Verbindung gibt es diskursspezifische Variationen, dasselbe gilt für die Gestaltung der alternativen homosozialen Beziehung in den Amicus-AmeliusTexten. Der dritte Mann, der die zentrale Freundschaft flankiert, ist Ardericus.266 Sowohl in einigen Texten der ersten Gruppe (nämlich in der mittelenglischen, der anglonormannischen sowie in der Historia-septem_____________ 264 Siehe Kap. II.2. 265 Die Texte verfolgen aber gleichzeitig die sehr viel stärker wahrnehmbare Tendenz, diese Ambivalenz zurückzunehmen bzw. zu verschleiern. Dies wird nicht nur an den eben beschriebenen narrativen Versuchen der Exkulpierung sichtbar, sondern z.B. auch bei den Texten der zweiten Gruppe, die keine derartigen Entlastungsversuche unternehmen: Hier geschieht dies vornehmlich, indem der Text in einen hagiographischen Kontext eingebettet wird, der zumindest im Nachhinein die Verfehlungen minimiert bzw. als notwendige Stationen auf einem exemplarisch-vorbildlichen Weg markiert. 266 Ardericus (bei Andreas Kurzmann Ardecius, bei Hermann Korner Andericus) heißt in den französischen Texten Hardré oder Ardry, bei Radulfus Ardradus, in dem von Rosenfeld edierten mittelhochdeutschen Legendenfragment aus dem 13. Jahrhundert Derderich, in der Historia septem sapientum Gydo, Guy oder Cůnrât, im Engelhard Ritschier. In einigen Texten hat er keinen eigenen Namen und wird ausschließlich mit seiner höfischen Funktion bezeichnet (steward, seneschall).
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sapientum-Fassung) als auch in denen der zweiten (und zwar in den elaborierten und mittellangen legendenhaften Fassungen) und in der chanson de geste wird der vereinsamende Freund vor einem Bündnis mit dem falschen Ardericus gewarnt. In den Texten der zweiten Gruppe handelt Amelius dieser zweiten Anweisung seines Freundes ebenso schnell zuwider wie der ersten. Kaum hat er sich die Königstochter unterworfen, geht er auch schon einen Freundschaftsbund mit Ardericus ein. Dieser wird als negativer Gegenspieler entworfen, dem im Gegensatz zu den vorbildlichen Verhaltensweisen des Freundespaares verwerfliche Handlungsmuster zugeordnet werden, z.B. in der mittellangen französischen Bearbeitung: Ardry [...] se esjouissoit de mal dire et de iniquité et avoit envie sur homme preux et vertuex (Woledge 1939, S. 447).267 Dass Ardericus Amelius dazu bewegen kann, mit ihm Freundschaft zu schließen, beruht auf der Vorspiegelung falscher Tatsachen: Ardericus behauptet, Amicus sei vom Hof geflohen, da er den Schatz des Königs gestohlen habe.268 Aus diesem erfundenen Grund bittet Ardericus Amelius: Nunc autem ini mecum fedus amicicie et meam fidem et inconvulsam societatem super sanctorum reliquias sine mora accipe (elaborierte Vita, Kölbing 1884, S. ci, Z. 27-29).269 Amelius willigt ohne Zögern ein: Jurejurando facto ab utroque, comes Amelius iniquo Arderico sua secreta pandere non timuit (S. ci, Z. 29f.).270 Die Sequenz entfaltet die Vorstellung, dass es neben einer bereits geschlossenen Freundschaft keine weitere geben kann. Die Exklusivität des ersten Bündnisses kann in dieser Logik nur aufgelöst werden, da Amicus durch sein angebliches schändliches Verhalten die Freundschaft hat hinfällig werden lassen.271 Da Amelius einen weiteren Freundschaftsbund eingeht und die Verleumdung nicht hinterfragt, scheint er den zuvor geschlossenen Freundschaftsbund offenbar als gegenstandslos einzuschätzen. Der zweite Freundschaftsschwur wird – wie der erste – über den Reliquien der Heiligen geschworen,272 allerdings mangelt es an physischen _____________ 267 „Ardry erfreute sich daran, Schlechtes zu sagen und bösartig zu sein und er war neidisch auf tapfere und ehrenhafte Männer.“ 268 Amicus übte zuvor die Funktion des Schatzmeisters aus. 269 „Nun, schließe einen Freundschaftsbund mit mir und nimm meine Treue und unteilbare Freundschaft über den Reliquien der Heiligen entgegen“ (nach Kuefler 2000, S. 448f.). 270 „Sobald sie beide ihre Eide geschworen hatten, zögerte Graf Amelius nicht, dem boshaften Ardericus seine Geheimnisse zu enthüllen“ (nach Kuefler 2000, S. 449). 271 Vor diesem Hintergrund erscheinen die Freundschaftsprüfungen als noch dramatischer, da sie ja von einem zweifachen Normenverstoß Amelius’ ausgehen. 272 Es besteht auch die Variante des Schwurs über dem Heiligen Evangelium in den französischen Fassungen; vgl. für die elaborierte französische Legende Moland / D’Héricault 1856, S. 52. Andreas Kurzmann verzichtet auf Reliquien, macht aber die rechtliche Qualität des eingegangenen Verhältnisses deutlich; vgl. Oettli 1986a, S. 158, V. 413-420. Die Münchener Hs. Cgm 523 lässt die Beziehung etwas im Unklaren; vgl. Reiffenstein 1982, S. 244, Z. 119-124.
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Manifestationen von Emotionen: Küsse und Umarmungen fehlen gänzlich. Dieser emotionale Mangel markiert neben der unehrlichen Basis zusätzlich eine minderwertige Qualität des zweiten Freundschaftsbundes.273 Die Minimalfassungen verzichten darauf, Ardericus negativ einzuführen oder vor ihm zu warnen. Stattdessen stellen sie ihn als weiteren Freund von Amelius vor, nachdem Amicus abgereist ist:274 Do was dar in deme houe eyn greue, de was Amelius sunderlike frunt, de hadde eme truwe kumpanie gelouet. [...] Do bewisede eme de greue vntruwe vnde wrogede ene to deme konninge (Großer Seelentrost, Schmitt 1959, S. 230, Z. 21f., Z. 24f.). Diese Variante illustriert mithin ein abweichendes Verständnis von exklusiver Freundschaft: Der vereinsamte Amelius ist offensichtlich befugt, sich einen neuen sunderlike[n] frunt zu wählen, allerdings erweist sich dieser im Anschluss als untreu. Es scheinen demnach zwei diametral entgegengesetzte Freundschaftskonzeptionen in den legendenhaften Amicus-Amelius-Texten zu existieren: Der Ausschließlichkeitsanspruch der elaborierten und mittellangen Bearbeitungen ist in den sehr kurzen Texten zugunsten einer Erweiterung aufgehoben. Der ausschließende Charakter von Freundschaft ist hier an räumliche Nähe gebunden. Mit ihrer Aufhebung können auch weitere Personen in den Freundschaftsbund eintreten, um wiederum ein Paar zu bilden.275 Zwar wird die Priorität der Freundschaft zwischen Amicus und Amelius aufgrund der Untreue des Grafen, die den mangelnden Wert dieses Bündnisses markiert, nicht hinterfragt.276 Gleichwohl wird das _____________ 273 Das zur mittellangen Vitaversion gehörige altnordische Fragment Amícus ok Amilíus Saga setzt an dieser Stelle ein und bietet gleich eine etwas abweichende Version der Geschehnisse: Arderícus erzählt Amilíus nach der Abreise seines Freundes, dieser hätte nicht nur die Flucht ergriffen, weil er den Schatz gestohlen hätte, sondern hätte zudem auch noch mit ihm, Arderícus, einen Freundschaftsbund geschlossen: En hann gerñi vináttu viñ mik ok gaf ek hánum þar til trú mína, ok því trúñi hann, at ek sór viñ heilaga dóma, at ek skyldi þat halda viñ hann (Kölbing 1874, S. 185). („Aber er schloss Freundschaft mit mir und ich schenkte ihm außerdem meine Treue, und daher glaubte er es, da ich über Reliquien schwor, dass ich sie ihm gegenüber bewahren würde.“) Kölbing merkt an, dass der Übersetzer wohl die ursprüngliche Stelle missverstanden hätte, da der Satz so nicht in den Zusammenhang passe. Indes passt das Folgende so schlecht nicht, denn dass Amílius nun Arderícus seine Geheimnisse offenbart, geschieht vor dem Hintergrund, dass er ihn für den Freund seines Freundes hält. 274 Dies gilt nicht für das lateinische Exempel, das lediglich von einem Ritter berichtet, der Amelius anklagt; vgl. Klapper 1914, S. 339, Z. 34f. 275 Eine Dreierbeziehung scheint indes nicht denkbar zu sein: Die spiegelbildliche Aufeinanderbezogenheit funktioniert nur innerhalb eines Paares, nicht darüber hinaus. 276 Eine Begründung für diese Variation des Freundschaftsmodells ergibt sich für die Seelentrost-Fassungen daraus, dass hier ein Gebot oder eine Verhaltensmaxime durch die Freundschaftserzählung veranschaulicht werden soll. Der Große Seelentrost diskutiert das – hier – achte Gebot: du ne schalt nicht valschliken tugen, dessen Lehre in der Amicus-AmeliusGeschichte durch folgenden Wortlaut modifiziert wird zu: du neschalt nicht vntruwe wesen noch valsch. Weme du truwe louest, deme schaltu truwe leisten wente in den dot (Schmitt 1959, S. 229, Z. 8f.). Es wäre denkbar, dass Ardericus als schlechter Freund diese nicht erfüllte Hand-
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exklusive Freundschaftsmodell der Amicus-Amelius-Texte, das auf spiegelnder Gleichheit gründet, zumindest ansatzweise verwässert, wenn auch eine Freundschaft mit einem nicht gleichen Mann in Erwägung gezogen werden kann. Gleich, ob das Verhältnis zu Ardericus als illegitime oder legitime Negativfolie zum Freundschaftsmodell entworfen wird, es beleuchtet eine spezifische Funktion von Freundschaft, die die Amicus-Amelius-Texte benennen: den Austausch von Geheimnissen, eme zo offenbaren syn heynlicht (mittellange Legende, Berlin, Mgq 261, Oettli 1986a, S. 181, Z. 113).277 Dies wird Amelius zum Verhängnis: Nachdem er dem neuen Gefährten vertrauensvoll von seinem Beischlaf mit der Prinzessin erzählt hat, klagt dieser ihn öffentlich vor Karl an. Obwohl Ardericus sich auf einer Ebene rechtlich korrekt verhält,278 verstößt er gleichzeitig gegen die Freundschaft. Amelius reagiert darauf mit einem körperlichen Zusammenbruch: Ad hec comes Amelius tremens cecidit et stupidus nichil respondit (elaborierte Vita, Kölbing 1884, S. ci, Z. 34f.).279 Dass Ardericus Amelius’ Rechtsbruch publik macht, wird innerhalb des Freundschaftscodes als schweres Delikt markiert. Die lateinische elaborierte Fassung bezeichnet Ardericus neben proditor, also ‚Verräter‘ (Kölbing 1884, S. cii, Z. 20), auch als Ankläger, als delator (S. ci, Z. 38).280 Diese negativen Benennungen verknüpfen den Verrat mit der Ebene der öffentlichen Bekanntgabe bzw. Anklage und situie_____________
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lungsvorgabe besser verdeutlichen kann als Ardericus der Verräter. Die von Wackernagel edierte Fassung gibt das zu diskutierende vorbildliche Verhalten mit ähnlichen Worten wieder wie die von Schmitt. – Damit ist indes nichts über die Beweggründe der Hannoverschen Handschrift und der mittelenglischen Alphabet-of-Tales-Fassung gesagt, die das gleiche Freundschaftsmodell zeigen, aber keinerlei thematische Einbindung aufweisen. Auch Aelred von Rievaulx und Petrus von Blois benennen dies als ein Merkmal von Freundschaft. Vgl. Aelred von Rieval, Freundschaft, I, 32 und II, 11: At quae felicitas, quae securitas, quae iucunditas habere cum quo aeque audeas loqui ut tibi; [...] cui cordis tui omnia secreta committas [...]? („Jedoch, welches Glück, welche Geborgenheit, welche Seligkeit, wenn jemand dir zuhört, zu dem zu sprechen du wagen darfst, als sprächest du zu dir selbst [...] dem du alle Herzensgeheimnisse anvertrauen [...] kannst“, S. 31.) Vgl. auch Pierre de Blois, De amicitia, I, c. 12 (S. 162). Dieser Kontext der Rechtswahrung oder des Treuebündnisses zum Herrn wird aber eben nicht zur Erklärung von Ardericus’ Vorgehen herangezogen, sondern durchweg als Untreue gegen den Freund interpretiert. „Daraufhin fiel Graf Amelius nieder, zitternd und bestürzt, und erwiderte nichts“ (nach Kuefler 2000, S. 449). Die französischen Entsprechungen sind rapourteur (mittellange Legendenfassung, Woldege 1939, S. 447) und traitor (elaborierte Fassung, Moland / D’Héricault 1856, S. 55). Die mittellange lateinische Fassung von Vincenz von Beauvais hat wie die elaborierte Fassung delator (Vincentius 1624/1965, cap. clxiiii, S. 956, Sp. 2) und proditor (cap. clxiiii, S. 957, Sp. 1). – Die semantische Verbindung von proditor und ‚Teufel‘ lädt nicht nur die Figuren mit einer weiteren religiösen Bedeutung auf (von Gott legitimiertes Freundespaar Amicus und Amelius vs. der teuflische Versucher dieser Freundschaft), sondern funktioniert in der chanson de geste ganz konkret, indem Hardré zum Teufelsbündner wird.
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ren so Ardericus’ Vergehen in der unzulässigen Überschreitung der Sphären von Heimlichkeit und Öffentlichkeit. Die Anklage bezieht sich auf den (gewaltsamen) illegitimen, sexuellen Kontakt zur Herrschertochter281 bzw. ganz konkret auf die unerwünschte Veränderung des jungfräulichen Körpers der Prinzessin: er hat die blume der Juncfrauschafft diner tochter genumen (Stuttgart, Cod. theol. et phil. 4° 81, Bl. 283v).282 Entwerfen die Texte mit religiösem Sinnzusammenhang (Gruppe 2) mithin ein Freundschaftsbündnis mit Ardericus, das dieser schließlich bricht, weichen die Texte mit adligem Verstehensmodell (Gruppe 1) grundsätzlich von dieser Deutung des Verhältnisses zu Ardericus ab. Nie kommt eine derartige Beziehung zustande: In Radulfus Tortarius’ Text, im Engelhard und in Lille 130 ist der Widersacher gar nicht an einer solchen Beziehung interessiert und sorgt offen aus der Gegenposition für die Anklage.283 Die mittelenglische romance und die anglonormannische Verserzählung berichten zwar davon, dass der hier namenlose Ritter versucht, Kontakt herzustellen; Amys schmettert diesen Versuch allerdings ab. Da der Ritter bereits als übelwollender Neider und Verräter eingeführt ist,284 scheint das Freundschaftsgesuch kein redliches zu sein. Gleichwohl ist es in der mittelenglischen romance nicht an eine direkte Verleumdung Amylions gekoppelt. Der Steward nimmt die Trauer und Einsamkeit des verlassenen Amys zum Anlass, ihm seine Freundschaft anzutragen: Sire Amys, the ys woo That thi brother ys went the froo; […] Y schall be to the a better frend Than ever ryght was he. (Le Saux 1993, st. 29, V. 4f., V. 11f.)285
_____________ 281 Vgl. etwa für die französische mittellange Fassung Woledge 1939, S. 447. 282 Die Minimalfassungen verweisen einzig auf den Vorgang der Anklage, z.B. he [...] accusid hym vnto þe kyng (Macleod Banks 1904/05 / 1987, S. 39, Z. 12) („er klagte ihn vor dem König an“), nicht aber auf den spezifischen Inhalt des Vorwurfs. – Von den Texten der ersten Gruppe haben Radulfus und die anglonormannische Verserzählung eine ebensolche Reduktion; Lille 130 bezieht sich auf den sexuellen Vorgang, die mittelenglische romance und Engelhard verbinden den Vorwurf des illegitimen Beischlafs dezidiert mit dem des Verrats am Herrscher. Die verschiedenen Bearbeitungen der Historia septem sapientum folgen dem teils (wenn auch in sehr abgeschwächter Form), verzichten teils aber auf den ausdrücklichen Verweis auf die herrschaftlich-politische Dimension. 283 Vgl. Ogle / Schullian 1933, V. 148-158; Woledge 1939, S. 453. Im Gegensatz zu Radulfus und Lille 130 führt Konrads Engelhard Ritschier recht ausführlich ein. Vgl. Reiffenstein 1982, V. 1662-1695. 284 Vgl. für die mittelenglische romance Le Saux 1993, st. 17. Dort plant der neidische Steward bereits vor Amylions Abreise, die Freunde aufgrund ihrer Vorbildlichkeit und engen Beziehung zum Herzog ins Verderben zu stürzen. Für die anglonormannische Verserzählung vgl. ausschließlich Amylions Warnung (Fukui 1990, V. 74-98). 285 „Herr Amys, du bist betrübt, dass dein Bruder dich verlassen hat. […] Ich werde dir ein besserer Freund sein als er es jemals war.“
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Der Steward bedient sich einer subtileren Schmähung als Ardericus, indem er auf den Verlust der räumlichen Nähe verweist. Anschließend erklärt er seinen Wunsch nach einem Treuegelöbnis: And we schull be brotherede, / And plight oure trouthes twoo (st. 30, V. 2f.).286 Amys ist aber keineswegs bereit, den fernen Gefährten durch einen nahen zu ersetzen. Er formuliert den Exklusivitätsanspruch des bereits geschlossenen Bündnisses: My trouht ys plyght To sire Amylion, that gentyl knyght, When he went me froo; And while that y may go and speke, My trouth will y noght breke, Nether for well ne woo. (st. 30, V. 7-12)287
Mit dem Steward Freundschaft zu schließen, käme einem Treuebruch an Amylion gleich. Da Amys dies strikt ablehnt, wird seine Vorbildlichkeit nicht beeinträchtigt. Ein ähnliches Szenario entwirft die anglonormannische Verserzählung. Der Seneschall gibt nur vor, Amys zu lieben: Li seneschal li encontra / Qe semlaunt d’amur li fesoyt, / Mes de quer poy li ameit (Fukui 1990, V. 116118).288 Bisher stand Amillyoun unangefochten im Zentrum von Amys’ Aufmerksamkeit und Liebe: Ne volez unke nul autre amer (V. 123).289 Nach Amillyouns Abreise jedoch sieht der Seneschall seine Chance gekommen: Mes quant s’en est departi, / Requer qe soyez mon amy, / Mon ami e mon bien voilant (V. 125-127).290 Doch Amys lehnt ab: Si Amilliouns soit alé, Son quer me est abandoné, E jeo ly aym e ameray; Pur nul autre ne li lerray Par [ceo] qu’il est chose esprouvé Pur promesse saunz seurté. (V. 133-138)291
_____________ 286 „Und wir werden (Schwur-)Brüder werden und uns Treue geloben.“ 287 „Meine Treue habe ich Herrn Amylion, dem vornehmen Ritter, geschworen, als er mich verließ. Und solange ich gehen und sprechen kann, werde ich meine Treue nicht brechen, weder in Freud noch Leid.“ – Die ablehnende Stellungnahme zieht sich noch über eine weitere stanza hin; vgl. Le Saux 1993, st. 31. 288 „Der Seneschall trat ihm mit dem Anschein von Liebe entgegen, aber von Herzen liebte er ihn wenig.“ 289 „Niemals will ich einen anderen lieben.“ 290 „Aber da er Euch verlassen hat, bitte ich Euch, mein Freund zu sein, mein Freund und mein Geliebter.“ 291 „Auch wenn Amillyoun gegangen sein sollte, so hat er mir doch sein Herz überlassen. Und ich liebe ihn und werde ihn lieben, für keinen anderen werde ich ihn aufgeben, denn dies ist eine sichere Tatsache, die mit einem Versprechen bekräftigt wurde.“
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Amys’ Argumentation stützt sich vornehmlich auf die Konzeption einer exklusiven Liebe, die durch den Eid beglaubigt wurde. Die Problematik der Trennung wird in dieser Sequenz aufgelöst, indem auf die Unendlichkeit der Liebe unabhängig von Zeit und Raum rekurriert wird. Auf diese Ablehnung hin wird der Konflikt zwischen Amys und dem Verräter in spe virulent: In der anglonormannischen Verserzählung sinnt der abgewiesene Seneschall auf Rache292 und in der mittelenglischen romance sagt der zornige Steward Amys offen die Feindschaft an: y am thi strong foman (Le Saux 1993, st. 32, V. 8).293 In der Historia septem sapientum soll sich Lodovicus aus einem ganz praktischen Grund vor Gydo in Acht nehmen: Dieser soll nichts von der illegitimen Beziehung zur Prinzessin erfahren. Gydo, der den Platz des abwesenden Alexander sowohl in seiner höfischen Funktion als auch als Lodovicus’ Schlafgenosse besetzt, nimmt Lodovicus’ ablehnende Haltung ihm gegenüber wahr und beginnt erst daraufhin, sich als Antagonist zu betätigen.294 Die Grenzfälle ordnen Hardré anders ein: Das Miracle weiß von keinerlei Ambitionen Hardrés. In der chanson de geste dagegen legt Hardré, der sich zu diesem Zeitpunkt bereits mehrerer Intrigen gegen die Freunde schuldig gemacht hat, Amile eine Freundschaft nahe (Compaing serons, Dembowski 1987, V. 596)295, die dieser jedoch – erneut aufgrund des Ausschließlichkeitsanspruchs des bereits eingegangenen Bundes – abweist: Mon compaingnon le plevi ge l’autrier / Qu’a compaingnie n’avrai home soz ciel (V. 598f.).296 Als Hardré dann aber gemeinsame Aktivitäten vorschlägt,297 stimmt Amile zu. Dieses harmlos erscheinende Zugeständnis wird indes _____________ 292 Vgl. Fukui 1990, V. 143-146. 293 „Ich bin dein mächtiger Feind.“ – Foman (‚Feind‘) fungiert als Gegenbegriff zu leman (‚Freund, Geliebter‘); vgl. etwa Le Saux 1993, st. 47, V. 10. 294 Im Übrigen scheint viel eher Gydo und nicht der schwache Lodovicus die eigentliche Entsprechung Alexanders zu sein. So übertrifft Gydos Waffenstärke die aller anderen mit Ausnahme der Alexanders. Das Hemmnis scheint einzig in der zeitlichen Inkompatibilität zu liegen: Nicht Alexander und Gydo, sondern Alexander und Lodovicus dienen und leben gemeinsam am Kaiserhof. Gydo trifft erst später ein. 295 „[L]asst uns also ein Bündnis schließen“ (Vielhauer 1979, S. 46). 296 „[N]och gestern habe ich meinem Freunde versprochen, dass ich mit keinem anderen [unter dem Himmel; S.W.] einen Freundschaftsbund schließen will“ (Vielhauer 1979, S. 46). 297 Der genaue Wortlaut ist: Sire, de voz me voldroie acointier / Et le pais et la terre enseingnier (Dembowski 1987, V. 601f.). Die Bedeutung dieser Verse ist umstritten: Während Blanchard / Quereuil 1985 mit: „Ich möchte mich mit Euch liieren und Euch mit der Region und dem ganzen Land bekannt machen“ (L. 35, S. 27) übersetzen, schlägt Vielhauer 1979 vor: „ich möchte mich ja nur erkenntlich zeigen und Euch ein Stück Land als Lehen zuteilen“ (S. 46). Rosenberg / Danon 1996 favorisieren eine unverbindliche Variante: „Herr, Ich möchte mit Euch wenigstens auf gutem Fuß stehen und Euch dabei helfen, das Land besser kennenzulernen“ (L. 35, S. 49).
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von außen als Liebesbezeugung wahrgenommen, wie Belissants Reaktion zeigt: Bien voz seüstez de m’amor escondire. / Envers Hardré nel feïstez voz mie (V. 615f.).298 Sie vergleicht direkt den von ihr angebotenen Liebesdienst (mon service / Dedens ma chambre en pure ma chemise, V. 613f.)299 mit Amiles Verhältnis zu Hardré. Diese von Belissant konstruierte unmittelbare Konkurrenz von gleich- und zwischengeschlechtlicher Beziehung widerspricht dem Text insofern, als zum einen das Bündnis mit Hardré als solches nicht deutlich fassbar wird und zum anderen Amiles Verweigerung gegenüber der Prinzessin einer anderen Argumentation unterliegt als die Ablehnung Hardrés. Dort geht es nicht um die einzigartige Beziehung zu Ami, die keine weitere Bindung duldet, sondern um die Statusdifferenz, die Amile von Belissant trennt.300 Der Text lässt also die Qualität der Beziehung zwischen Amile und Hardré im Unklaren. Sicher ist aber, dass Amile Hardré keine Geheimnisse anvertraut, denn hier – ebenso wie in den anderen Texten, in denen keine Freundschaft zustande kommt, – muss sich der Verräter als Lauscher, sonst meist als Voyeur,301 betätigen, um an den Beweis für den Beischlaf der Landeserbin mit dem am Hofe verweilenden Freunde zu gelangen.302 In der mittelenglischen romance bedient er sich eines Loches in _____________ 298 „Ihr habt meine Liebe zurückgewiesen. Hardré gegenüber habt Ihr Euch ganz anders verhalten“ (Vielhauer 1979, S. 46). 299 „[M]eine Liebesdienste [...] in meinem Schlafgemach und ich war nur mit einem Hemd bekleidet“ (Vielhauer 1979, S. 46). 300 Vgl. Dembowski 1987, V. 628-642. 301 Der Begriff bezieht sich in diesem Zusammenhang nicht so sehr auf eine – sei es eine Freudsche oder eine mittelalterliche Vorstellung der – Lust am Blick (concupiscentia oculorum, vgl. Schleusener-Eichholz 1985, S. 805f.), sondern ist vielmehr in Relation zur hier praktizierten Beschaffung von Beweisen gegen den vereinsamten Freund und die Herrschertochter zu sehen: „According to feudal law, the chief evidence for adultery, evidence sufficient to permit and require public action to be taken within the bounds of justice, was that of sight. Circumstancial evidence is insufficient; the offending couple must be witnessed in flagrante delicto if they are to be legally punishable“ (Spearing 1993, S. 19). Für den voyeuristischen Blick der Prinzessin in der chanson de geste gilt indes ein expliziter Bezug zum Begehren: Dass Belissant Amile heimlich beobachtet, resultiert in ihrem Entschluss, sich heimlich zu ihm legen. Zu weiterführenden Überlegungen zur weiblichen Lust am Schauen und zur situativen Machtverteilung vgl. Kap. II.3. – Spearing 1993 bietet eine Übersicht über verschiedene Theorien des Blicks und nutzt sie für eine Analyse mittelalterlicher Texte, in denen der voyeuristische Blick des mittelalterlichen Dichters sowie seine Komplizenschaft mit dem Rezipienten, der ebenfalls zum heimlichen Beobachter wird, im Zentrum stehen. 302 Radulfus und die Historia septem sapientum – ferner auch das lateinische Exempel der zweiten Textgruppe – sprechen nur unspezifisch davon, dass der Gegenspieler es herausfindet, aber nicht wie. In der mittelenglischen und der anglonormannischen Bearbeitung sowie in Lille 130 und im Miracle folgt Ardericus dem Paar absichtlich, in der chanson de geste und in Konrads Engelhard wird das Minnespiel zufällig entdeckt. In den letzten drei Texten offenbart sich Ardericus, nachdem er genug gesehen – bzw. in der chanson de geste: gehört – hat, und lässt das Paar in Verzweiflung zurück.
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der Wand, um das Paar zu beobachten.303 Situiert sich Ardericus vornehmlich im Handlungsfeld des Spionierens und am Übergang zwischen Öffentlichkeit und Heimlichkeit, bildet das inszenierte ‚Begehren der Augen‘ (bzw. Ohren) einen zusätzlichen Subtext, der vor allem vor dem Hintergrund des verschmähten Bündnisses sichtbar wird. Damit ist Ardericus’ Begehren in der voyeuristischen Szene eindeutig als homosoziales zu identifizieren: Sarah Kay beschreibt das Gefüge des Begehrens in der chanson de geste als „unambiguously motivated by homosocial desire: it is unquestionably Amile to whom Hardré is drawn, not Belissant.“304 Kay begreift den doppelten Zweck des Lauschens als „an ironic conflation of desire and aggression“,305 die von Anfang an Hardrés Handlungsmotivation gegenüber dem Freundespaar bildete.306 Hinzuzufügen ist, dass Hardrés Begehren in der chanson de geste zwar insbesondere durch die ‚voyeuristische‘ Rückbindung an die zwischengeschlechtliche Beziehung greifbar wird, in anderen Amicus-Amelius-Texten aber, die diese Szene nicht aufweisen, ebenfalls aufscheint. Auch hier vermischen sich Aggression und Begehren, allerdings in einem ausschließlich homosozialen Kontext: In der hagiographischen Texten zeigen Ardericus’ Begehren nach einem Freund und sein anschließender Verrat ebenfalls eine widersprüchliche Struktur von Zuneigung und Bedrohung. Grundsätzlich ist Ardericus ein Rivale der Freunde hinsichtlich des Freundschaftsstatus männlicher Bindungen, nicht aber ein Nebenbuhler um die Gunst der Prinzessin: Das Begehren nach (Zerstörung von) Homosozialität treibt Ardericus an, nicht etwa ein ‚heterosexuelles‘ Interesse.307 Die in einigen Texten sehr deutlich aufscheinende Ambivalenz zwischen rechtlich verwendbarem Augenzeugnis und Lust am Blick wird meist in den expliziten Kontext der Beweisbeschaffung zurücktransferiert, indem die Situation abbricht.308 Der folgenden Anklage, die auf dem so erworbenen Beweis beruht, wird indes vom betroffenen Gefährten widersprochen. In der so entstandenen Pattsituation wird ein Zweikampf zwischen den widerstreitenden Parteien vereinbart. Diese Übereinkunft mar_____________ 303 304 305 306
Vgl. Le Saux 1993, st. 63. Kay 1995, S. 153. Kay 1995, S. 153. Zu ihrer Interpretation Hardrés als monströsem Doppelgänger der Freunde siehe Kap. II.2.3. 307 Ein solches unterstellt Vielhauer 1979, S. 17. 308 Der Steward der mittelenglischen romance verlässt, nachdem er das intime Beisammensein gesehen hat, zornig den Ort des Geschehens, um Meldung zu machen; vgl. Le Saux, st. 63. In der chanson de geste (vgl. Dembowski 1987, L. 41), im Miracle (vgl. Paris / Robert 1879, V. 652-669) und im Engelhard (vgl. Reiffenstein 1982, V. 3276-3285) gibt der Lauscher bzw. Voyeur sich zu erkennen und schmäht bzw. droht dem Paar, besonders jedoch dem betroffenen Freund.
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kiert grundsätzlich die Ausweglosigkeit der Situation, in die der vereinsamte Freund sich manövriert hat. Trotz allen Leugnens wurde der Normenverstoß vollzogen: In einer Gottesurteilssituation bedeutet dies die sichere Niederlage. Der Kampftermin wird für einen späteren Zeitpunkt anberaumt, so dass der verzweifelte Gefährte die noch verbleibende Zeit nutzen kann, seinen Freund um Rat und Hilfe zu bitten. Bürgen werden gestellt309 und der in Bedrängnis geratene Freund macht sich auf den Weg zu seinem Kameraden. Insgesamt entfalten die verschiedenen Textgruppen und Bearbeitungen stark voneinander abweichende Deutungen der Ardericus-Figur und damit auch der gesamten Freundschaftskonzeption. Der Name ‚Ardericus‘ beinhaltet bereits eine zweifache Bedeutungsdimension. Er verweist sowohl auf die Gefahr, die von dieser Figur ausgeht,310 als auch auf das Begehren, das sie einem der Freunde bzw. dem Freundespaar entgegenbringt.311 Selbst wenn dieses Begehren negativ gerichtet und an der Zerstörung der Freundschaft orientiert ist, erscheint Rivalität als starkes agonales Begehren. Eve Kosofsky Sedgwick hat beschrieben, dass das Band zwischen zwei Rivalen äußerst intensiv und machtvoll sein kann.312 Deshalb kann es als Begehren klassifiziert werden. Insofern verkörpert Ardericus neben der Freundschaft eine weitere Form des homosozialen Begehrens, das die Wirksamkeit dieses Begehrens für das Amicus-AmeliusTextkorpus erneut unterstreicht.313 Zwei Formen homosozialen Begeh_____________ 309 Einige Texte berichten davon, dass der angeklagte Gefährte Schwierigkeiten hat, Bürgen zu finden, während Ardericus problemlos auf einen großen Personenkreis zurückgreifen kann. Vgl. etwa für die mittelenglische romance Le Saux 1993, st. 71-74, und für die chanson de geste Dembowski 1987, L. 45-47. Erneut wird so die Vereinzelung des Freundes ohne seinen Gefährten sichtbar. 310 Vgl. ardeo: ‚brennen, glühen‘; ardor: ‚Brand‘. 311 Vgl. ardor: auch ‚Leidenschaft‘. – Kuefler 2000, S. 442, schlägt stattdessen folgende Bedeutungsebene vor: „Ardericus [...] is the Latinized form of a Germanic name, Hardrich, which means ‚cruel ruler‘. Ralph had called him Hardradus, or ‚cruel counsel‘.“ 312 Sedgwick 1985, S. 21, spricht allerdings über Rivalen im erotischen Dreieck, also über Rivalen um eine Geliebte. Hier geht es dagegen um männlich-adlige Rivalität, die nicht auf eine weibliche Figur hin orientiert ist. Eine Dreieckskonstellation existiert aber insofern, als die Freunde Ardericus gegenüberstehen. 313 Wie dicht diese Formen des Begehrens beieinander liegen können, obgleich sie gegensätzlich gerichtet sind, zeigt die mittelenglische Freundschaftsgeschichte Athelston aus der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts; vgl. die Ausgabe von Trounce 1951/1987. Hier geht es nicht nur um zwei, sondern um vier Freunde bzw. Schwurbrüder (weddyd breþeryn, z.B. st. 1, V. 10). Hier verleumdet einer der Freunde – Wymound – einen anderen – Sere Egeland – bei König Athelston, was erst durch Eingreifen des vierten Freundes – Alryke, Erzbischof von Canterbury – offenbar wird. Als Wymound überführt ist, antwortet er auf die Frage nach dem Grund des Verrats: He (= Athelston) louyd hym (= Sir Egeland) to mekyl and me to lyte; / Þerfore enuye I hadde (st. 74, V. 799f.). („Er liebte ihn zu sehr und mich zu wenig, deshalb war ich neidisch.“) – Liebe und Verrat bedingen einander.
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rens, nämlich das agonale, das die Vernichtung, und das freundschaftliche, das die Zugehörigkeit zu einem Freundespaar anstrebt, konstituieren die Ardericus-Figur in der zweiten Textgruppe.314 Wird Ardericus in den hagiographischen Texten fast ausnahmslos zu Amelius’ (falschem) Freund, ist diese Variante in den Texten der ersten Gruppe undenkbar. Selbst wenn sich der Verräter um die Freundschaft bewirbt, wird er umstandslos abgewiesen, z.T. ist aber selbst dieser Freundschaftswunsch nicht denkbar und die Konkurrenz entsteht einzig aus dem agonalen Begehren. Die Exklusivität der Freundschaft erscheint als unantastbar, das homosoziale Bündnis als unauflösbar und lebenslang. Die Freundschaft wird in dieser Textgruppe durch die Trennung der Gefährten viel weniger gefährdet: Die Distanz kann der Beziehung selbst nichts anhaben, obgleich die Existenz des am Hofe verbliebenen Freundes auf dem Spiel steht. Die zweite Textgruppe nimmt die Auflösung räumlicher Nähe als viel bedrohlicher wahr: Der falsche Freund kann sich aufgrund der Trennung des Freundespaares einschleichen, gleich ob dies nun als Absage an den ursprünglichen Freundschaftsbund gewertet wird (elaborierte und mittellange Fassungen) oder ob die Schließung eines Bundes mit einem weiteren Mann grundsätzlich als möglich erachtet wird (Minimalfassungen). Dies eröffnet auch divergierende Bewertungsmöglichkeiten für das Verhalten des isolierten Freundes: Er kann sich eines Treuebruchs gegenüber dem Freund schuldig machen oder vorbildlich die Treue bewahren, je nachdem wie seine Handlungen gegenüber der Prinzessin und Ardericus bewertet werden. Wirken sich in den Texten mit religiösem Deutungszusammenhang (Gruppe 2) die beiden neuen Beziehungen zerstörerisch auf die Freundschaft auf, ist es in den Texten, die ein adliges Universum entwerfen (Gruppe 1), das agonale Begehren eines dritten Mannes,315 das lebensbedrohlich wirkt. Für die Handlungsdynamik sind diese Variationen indes zweitrangig: Der Verräter ist stets der Ankläger, gleich ob er vertrauliche Informationen seines Freundes öffentlich macht oder als Spion fungiert. Er bringt den Freund in Lebensgefahr. Der vereinsamte Gefährte aber macht sich stets – trotz aller narrativer Entlastungsstrategien – einer Rechtsübertretung schuldig.
_____________ 314 Wie die Voyeur-Szene gezeigt hat, ist dieses Begehren auch auf der Ebene der Wahrnehmung körperlicher ‚Liebesaktivitäten‘ angesiedelt. 315 Das aggressive sexuelle Begehren der Prinzessin kommt hinzu.
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2.2. Gottesurteilskampf: Petitum und Identitätentausch Die aus der Trennung resultierenden Komplikationen führen zur ersten tatsächlichen Prüfung316 der Freundschaft. Diese besteht aus der zentralen Komponente des stellvertretend für den schuldigen Freund ausgetragenen Gottesurteilskampfes. Der Kampf wird flankiert von der parallelen Inszenierung einer Körpersubstitution im Ehebett des kämpfenden Freundes. Während der schuldlose Freund von allen anderen unerkannt an der Stelle seines Kameraden kämpft, legt der schuldige, der sich seinerseits für seinen Freund ausgibt, ein trennendes Schwert zwischen sich und die Gemahlin seines Gefährten. Der Identitätentausch kann erst nach dem Ratund Hilfegesuch des schuldhaften Freundes vorgenommen werden. Petitum Von außerordentlicher Bedeutung ist die Bitte um Rat (consilium, conseil, rat) in den legendenhaften Texten (Gruppe 2). Amelius hatte den ersten Freundesrat missachtet und hatte zwei unzulässige Beziehungen aufgenommen, die als schwerwiegende Verfehlung gedeutet wurden. Indem er einen weiteren Freundesrat einholt, der in der Notsituation angenommen und nach dem gehandelt wird, wird bereits ein Schritt des Ausgleichs vorgenommen. Nachdem Amelius den Hof verlassen hat, trifft er in den elaborierten und den meisten der mittellangen hagiographischen Bearbeitungen auf seiner Reise auf Amicus, der an den Hof zurückkehrt.317 Amelius wirft sich zu Amicus’ Füßen nieder (prostratus ad pedes, elaborierte Legende, Kölbing 1884, S. cii, Z. 12f.) und beichtet ihm seinen Treuebruch (fidem meam male servavi,318 S. cii, Z. 13f., oder auch Jch en han dir den gelouuen neit gehalden, mittellange Fassung, Berlin, Mgq 261, Oettli 1986a, S. 181, Z. 132f.). Dieses Schuldbekenntnis findet nicht nur vor Amicus, sondern auch vor dessen Männern statt, die ihn begleiten. Amicus initiiert daraufhin in der elaborierten Vitaversion ein nichtöffentliches Gespräch, indem _____________
316 Das Verhalten während der Abwesenheit des Freundes könnte zumindest in den Texten, in denen Amicus seinem Freund klare Verhaltensanweisungen erteilt, schon als eine Art Prüfung betrachtet werden. Diese darf aber nicht bestanden werden, da – wie bereits gesagt – ein rechtlicher Verstoß des Freundes zur Motivierung der weiteren Handlungssequenzen nötig ist. – Im Engelhard könnte die Apfelprobe bereits als erster Test, den allerdings nur Dietrich zu bestehen hat, gelesen werden. 317 In der Fassung von Andreas Kurzmann und im altnordischen Fragment kehrt Amicus zu dieser Zeit an den Karlshof zurück; vgl. Oettli 1986a, S. 160, V. 489f. und Kölbing 1874, S. 186. In Cgm 523 dagegen reitet Amelius zu Amicus (vgl. Reiffenstein 1982, S. 245, Z. 140). Die Seelentrost-Fassungen und die mittelenglische Alphabet-of-Tales-Bearbeitung lassen – wie Kurzmann und das altisländische Fragment – Amicus an den Hof zurückkehren; vgl. nur Schmitt 1959, S. 230, Z. 28f. 318 „Ich habe meine Treue schlecht bewahrt.“
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er seine Begleiter warten lässt und mit Amelius in den Wald geht (secreta huius nemoris ingrediamur, elaborierte Legende, Kölbing 1884, S. cii, Z. 16f.).319 Erst in dieser heimlichen Situation tadelt er seinen Freund streng für seine Vergehen (duriter eum increpasset, S. cii, Z. 17)320 und rät anschließend zum Identitätentausch: Da Amelius sich des Vergehens, dessen er angeklagt wird, tatsächlich schuldig gemacht hat, würde er im Zweikampf unterliegen. Deshalb wird die Möglichkeit eines Identitätswechsels herangezogen: Während Amicus an seines Gefährten statt den Kampf absolvieren wird, soll sein Kamerad den Platz bei seiner Ehefrau einnehmen. Die Herstellung von Heimlichkeit ist für die Besprechung dieses Plans unerlässlich, da niemand eingeweiht sein darf, wenn er gelingen soll.321 Signifikant erscheint zudem, dass die Rüge ebenfalls in den heimlichen Raum verlagert und Amelius’ Demütigung entschärft wird. Auf den Kleidertausch und die Besprechung der Details folgt ein tränenreicher Abschied. In den mittellangen legendenhaften Texten wird keinerlei Heimlichkeit erzeugt, aber auch kein Begleiter erwähnt. Dem Tadel folgt stets der Vorschlag zur Körpersubstitution, so dass von einer nichtöffentlichen, heimlichen Situation ausgegangen werden kann.322 Insgesamt zeigt die Petitum-Szene in den hagiographischen Texten, dass für diese Textgruppe die Geste der Vergebung zentral ist. Die Bedrohung der Freundschaft durch andere, zerstörerische Beziehungen kann durch den Akt des Verzeihens ausgeglichen werden. Obwohl Amelius sich des Verrats an der Freundschaft schuldig gemacht hat, bietet Amicus den Einsatz seinen eigenen Körpers als Hilfeleistung an und demonstriert so, wie ein vorbildliches Treueverhältnis funktioniert.323 Der sprachliche Ausdruck, mit dem Amelius seinen Freund anspricht – O eynich hoffen myns heils! (mittellange Vita, Berlin, Mgq 261, Oettli 1986a, S. 181, Z. 132) – unter_____________ 319 „Lass uns jetzt die Abgeschiedenheit des Waldes betreten.“ 320 „Er tadelte ihn streng“ (nach Kuefler 2000, S. 449). 321 Zur Terminologie von Heimlichkeit, Nichtöffentlichkeit und weiteren damit verknüpften Begriffen und Konzeptionen vgl. etwa Melville / von Moos 1998, Rau / Schwerhoff 2004, Freise 2004, die Beiträge in Emmelius et al. 2004 und von Moos 2004a. Zu den vielfältigen damit verbundenen Implikationen von zugänglichem und unzugänglichem Wissen vgl. Brandt 1993. 322 Die Minimalfassungen folgen dieser Konstellation. In der Hannoverschen Handschrift und in der von Wackernagel edierten Seelentrost-Fassung der Freundschaftsgeschichte wird nicht explizit davon gesprochen, dass Amicus Amelius tadelt, allerdings sagt er zu ihm: sô hâstu bôse fechten, wan du schuldig bist (Wackernagel 1839, Sp. 983, Z. 26f.). In Hermann Korners Fassung tadelt Amicus seinen Freund deutlich: Amîcus wart bôse uppe sînen brôder Amêlium und strâffede ene sêre umme sîne missedât und hêt ene bûchten sîne sunde (Pfeiffer 1864, S. 263, Z. 18-20). – Die Minimalfassungen kennen gegen die mittellangen Fassungen keinen Fußfall. 323 Liest man die Trennungsphase als ersten ‚kleinen‘ Freundschaftstest, der in der religiösen Textgruppe nicht bestanden wird, bildet die Bitte um Hilfe den zweiten: Da Vergebung und Hilfe gewährt werden, bleibt die Freundschaft weiter bestehen.
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streicht die wechselseitige Beziehung und Verwobenheit ihrer Schicksale.324 In den Texten der ersten Gruppe ist die grundsätzliche Bedeutung dieser Sequenz deutlich anders gelagert, da hier gar kein Vergehen des Freundes hinsichtlich des gemeinsamen Bündnisses vorliegt. Der rechtliche Normenverstoß bezieht sich nicht auf einen Treuebruch innerhalb der Freundschaft, weshalb auch kein Grund zum Tadel vorliegt. Während die meisten Texte den Hilfe suchenden Freund zu seinem Gefährten reiten lassen,325 wird in einigen Bearbeitungen die Notlage des Gefährten seinem Freund in einem Traum offenbart. In der mittelenglischen romance träumt Amylion einen Bären- und Wolfstraum:326 Him thought he saw sire Amys with syght, His brother that was trowth plyght, Lapped among his fon, With beres that were egre of mode, [And wolves that were wyld and wode: Beset he was to slon, And he alon among hem stode] (Le Saux 1993, st. 83, V. 4-10)327
Die schreckliche Vision, dass Amys von Bären und Wölfen angegriffen wird, deutet Amylion folgendermaßen: My brother ys in perell strong; / Of blysse he ys all bare (st. 84, V. 8f.).328 Dieser Zustand überträgt sich auf Amylion, der sich sofort zur Abreise entschließt: I schall never have blysse / Tell y wytte how that he fare (st. 84, V. 11f.).329 Der Traum offenbart eine Gefahr, in der sich der Freund befindet, und lässt so eine innere Verbindung der Gefährten sichtbar werden, die ihre zusammengehörige Identität auch jenseits räumlicher Nähe bekräftigt.330 _____________ 324 Diese Anrede findet sich nicht in den minimalen hagiographischen Texten und fehlt auch in einigen mittellangen Texten. 325 Dies gilt für Radulfus Tortarius, Lille 130, Konrads Engelhard und die Historia septem sapientum. 326 Die Wölfe kommen in der Hs. S hinzu; A hat einen Bären & oþer bestes (Leach 1937/1990, V. 1016) („und andere wilde Tiere“) und D hat ausschließlich Bären. Vgl. Le Saux 1993, st. 83, und Leach 1937/1990, V. 1009-1020. 327 „Ihm schien es, als sähe er Herrn Amys, seinen Bruder, dem er Treue gelobt hatte, im Traum, umzingelt von seinen Feinden. Von Bären im Zornesrausch und von Wölfen, die wild und tollwütig waren, war er eingekreist. Sie wollten ihn töten. Und er stand ganz allein unter ihnen.“ 328 „Mein Bruder befindet sich in großer Gefahr. Der Glückseligkeit ist er ganz und gar beraubt.“ 329 „Ich werde nicht eher glücklich sein, bis ich weiß, wie es ihm geht.“ 330 In der anglonormannischen Verserzählung hat Amillyoun einen Löwentraum: Si s’avint en avisioun / Ke sir Amys son compaignoun / D’un leon fust assailli / Qe li fuist mortel enemy (Fukui 1990, V. 467-470). („Da sah er in einer Traumvision, dass Herr Amys, sein Gefährte, von einem Löwen angegriffen wurde, der sein tödlicher Feind war.“) Hier erfolgt keine an-
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Wie die anglonormannische Verserzählung wissen die Grenzfall-Texte von einem Löwentraum.331 Gegen die allgemeine Gefahrensymbolik des Angriffs eines wilden Tieres aber präzisieren sowohl die chanson de geste als auch das Miracle die bedrohliche Situation und ihre Bewältigung. Im Miracle berichtet Amis seinem Gefährten beim Treffen vom Traumbild:332 un lion, ce me sembloit, Le costé fondu vous avoit, Dont issoit sanc a tel foison Qu’i estiés jusqu’au talon; Et puis ce lion devenoit Un homme que l’en appelloit Hardré, si com il me sembla; Et tantost je venoie la Pour vous oster de ce meschief, Et si li copoie le chief. (Paris / Robert 1879, V. 865-874)333
Mit der Verwandlung des Löwen in Hardré wird im prophetischen Traum der Antagonist genau identifiziert. Die aufgerissene Seite und das fließende Blut konkretisieren die Gefahr für Leib und Leben, der Amille ausgesetzt ist. Der Traum offenbart gleichzeitig eine Handlungsvorgabe, die die letale Bedrängnis bannt: Amis muss Hardré den Kopf abschlagen. Sowohl _____________ schließende Deutung, aber Amillyouns Entsetzen und sein sofortiger Aufbruch zeigen, dass er seinem Freund in der Gefahrensituation zu Hilfe kommen will. – In Olivier und Artus hinterlässt der heimlich abreisende Olwier seinem Freunde Artus ein Glas mit Wasser und einen Abschiedsbrief, in dem er die Funktion desselben erklärt: Das Wasserglas dient als Lebens- und Gesundheitszeichen. Artus wird beauftragt, das Glas jeden Tag aufmerksam zu betrachten und Olwier zu Hilfe zu eilen, wenn das Wasser schwarz wird und so die Not Olwiers anzeigt. Vgl. den von Wilhelm Ziely aus dem Französischen übertragenen Prosaroman Olivier und Artus in der Druckfassung von 1521 von Adam Petry zu Basel, teilweise abgedruckt in Kindermann 1942, S. 278-302, hier: S. 299f.; und vgl. auch die Comedi von Hans Sachs in Keller 1874 / 1964, S. 219-260, hier S. 224, Z. 15-24. Im Gegensatz zu dem hier veräußerlichten, konkreten Gegenstand, der auf magische Weise mit der Lebenskraft des abwesenden Freundes verbunden ist und so räumliche Distanz überwinden kann, ist in den Amicus-Amelius-Träumen die Verbindung zum Gefährten restlos verinnerlicht und bedarf keines weiteren Gegenstandes. Der Becher als Wiedererkennungszeichen sagt hier nichts über den gesundheitlichen Zustand oder die vitale Lage des auswärtigen Freundes aus. 331 Einen Drachentraum träumt Amícus in den nordischen rímur aus dem 17. Jahrhundert. Vgl. Kölbing 1884, 4. ríma, 31-36. 332 In der chanson de geste erfahren die Rezipientinnen und Rezipienten schon früher von dem Traum, nämlich am Morgen danach, als Ami Lubias davon erzählt und so seinen überstürzten Aufbruch erklärt; vgl. Dembowski 1987, L. 49. In der mittelenglischen und der anglonormannischen Bearbeitung wird der Traum zum Zeitpunkt des Träumens gezeigt. 333 „Ein Löwe, so erschien es mir, hatte Euch die Seite aufgerissen, aus der eine so große Menge Blut herausquoll, dass Ihr bis zu den Fersen im Blut standet. Und dann wurde dieser Löwe zu einem Mann, den man Hardré nannte, wie mir schien. Und sofort kam ich dorthin, um Euch aus dieser Bedrängnis zu befreien, und schlug ihm den Kopf ab.“
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die symbolische als auch die konkretisierende Traumvariante demonstrieren, dass die Gefährten über räumlichen Abstand hinweg verbunden sind. Entgegen der Vorstellung einer unmittelbaren Bedrohung der Freundschaft durch die Aufhebung körperlicher Nähe, wie sie den religiös deutenden Texten inhärent ist, findet sich hier die Auffassung unzerstörbarer Beständigkeit über Zeit und Raum hinweg. Bildet das Freundschaftsbündnis in allen Textgruppen das primäre identitätsstiftende Element der Helden, kann die Identität brüchig werden, sobald der greifbare, körperliche Bezug verloren ist (wie in der zweiten, hagiographischen Textgruppe). Die Freundschaft kann aber auch als derart massive Konstituente der Identitätsformation imaginiert werden, dass sie jedweder Komplikation trotzt (wie in der ersten Textgruppe und den Grenzfall-Texten334). Die Vision bewirkt den raschen Aufbruch des Träumers, der seinem Freund in der Gefahr beistehen will. Die Freunde treffen sich unterwegs.335 In der mittelenglischen romance und in der anglonormannischen Verserzählung wird die Dringlichkeit der Hilfe durch die Mühsal des unablässigen Reitens Amys’336 deutlich. Völlig erschöpft liegt Amys unter einem Baum, wo ihn der heranreitende Amylion findet. Ähnlich erzählt auch die chanson de geste das Wiedertreffen: Der im Gras schlafende Amile wird von seinem Freund geweckt. Die in diesem Text besonders ausgeprägte Semantik des Raums lässt diese Begegnung der Gefährten zwar wie sonst auf einer blühenden Sommerwiese stattfinden,337 begrenzt den locus amoenus aber mit düsteren Mauern, so dass eine äußere Bedrohung verbildlicht wird.338 Für (fast) alle Texte der ersten Gruppe, besonders aber für _____________ 334 Obgleich die chanson de geste eine – wie auch immer geartete – freundschaftliche Beziehung Amiles zu Hardré entwirft, vor der Ami ihn gewarnt hatte und wegen der er von ihm auch gerügt wird, scheint in diesem Text keine grundsätzliche Bedrohung der Freundschaft vorzuliegen und der Gedanke der Beständigkeit im Mittelpunkt zu stehen. 335 Das gegenseitige Entgegenkommen auf halbem Wege ist auch eine räumliche Inszenierung von Wechselseitigkeit und Freundschaft. Deshalb enthalten auch die elaborierte und die mittellange Vitaversion, die ebenfalls ein Zusammentreffen auf halbem Wege aufweisen (obgleich nicht aus dem gleichen Grunde), in der räumlichen Symbolik einen Hinweis auf die immer noch vorhandene Verbindung zwischen den Freunden, obwohl sie auf der Handlungsebene als gestört erscheint. 336 In diesen Texten ist es Amys, der Hilfe benötigt. 337 Und zwar auf der derselben Wiese, auf der sich die Freunde allererst die Treue geschworen haben. Vgl. Dembowski 1987, V. 910-921 und Kap. I.4.3. 338 Vgl. Dembowski 1987, V. 937-940. Die zerfallenen Klostermauern bescheren indes zusätzlich den einsamen Ort, der für die Besprechung des geheimen Plans nötig ist. Hier wird das Gefolge des zu Hilfe eilenden Freundes beschrieben, das Ami etwas abseits warten lässt; vgl. V. 945f. In der mittelenglischen romance reitet Amylion alleine, vgl. Le Saux 1993, st. 85f.; in der anglonormannischen Verserzählung hat er sein Gefolge dabei, lässt es aber vorreiten, vgl. Fukui 1990, V. 487f. – Im Miracle hat Amis seinen Knappen Ytier bei sich, der in alles eingeweiht und um Stillschweigen gebeten wird; vgl. Paris / Robert 1879, V. 916924.
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die eben beschriebenen Texte, die mit der Traumsequenz eine ausnehmend enge Verbindung zwischen den Freunden konstruieren, wird Hilfe im Rahmen des Treuebündnisses unproblematisch zugesichert. Nachdem der Hilfe Suchende verzweifelt über die Geschehnisse berichtet hat, schlägt – wie auch in den Texten der zweiten Gruppe – der Hilfe leistende Freund den Identitätentausch vor.339 Auch in dieser Textgruppe muss eine direkte Bitte nicht unbedingt ausgesprochen werden.340 Die Situation spricht für sich selbst: Dem Rat suchenden, in Bedrängnis geratenen Freund muss gemäß dem Freundschaftscode unbedingt Beistand geleistet werden. Die Körpersubstitution, also der Wechsel der jeweiligen Einzelidentitäten der Freunde, bildet nun sowohl das naheliegendste Vorgehen als auch die denkbar spektakulärste Aktion: naheliegend wegen des identischen Aussehens der Freunde, in dem sich auch die damit verbundene Vorstellung einer gemeinsamen Identität der Gefährten materialisiert; und spektakulär wegen der Manipulation geltenden Rechts.341 Den ersten Aspekt benennen einige der Texte dieser Gruppe an dieser Stelle noch einmal deutlich, so z.B. der Engelhard: sô wænet man daz ich sî dû, / wan wir gelîch ein ander sîn (Reiffenstein 1982, V. 4478f.).342 Die Grenzfall-Texte verfolgen eine ähnliche Strategie: Auch das Miracle lässt Amis noch einmal auf die Ununterscheidbarkeit verweisen (N’est homme nul, tant ait science, / Qui sache mettre difference / De moy a vous, Paris / Robert 1879, V. 931-933).343 Die chanson de geste dagegen beschwört die Gleichheit der Freunde in einem Monolog, den Ami führt, ausführlich herauf. Auf Amiles Einwand, dass kein Kämpfer außer ihm selbst zugelassen sei, rollt Ami die ganze Geschichte ihrer Freundschaft von ihrer Geburt an auf, lässt den Papst und _____________ 339 Eine Ausnahme bildet die Historia septem sapientum: Lodovicus war der Plan bereits von der Prinzessin unterbreitet worden, bevor er ihn Alexander vorträgt; vgl. etwa Roth 2004, S. 448, Z. 263-268. – In der mittelenglischen romance scheint Amys zwar schon vor dem Zusammentreffen der Freunde eine genaue Vorstellung davon zu haben, wie die Hilfe aussehen soll, um die er seinen Freund bittet, da er bereits mit Belisaunt darüber gesprochen hat. In der Petitum-Situation selbst bringt er diesen Vorschlag jedoch nicht vor, stattdessen empfiehlt Amylion die Körpersubstitution; vgl. Le Saux 1993, st. 78 und st. 91f.. 340 In der mittelenglischen romance wird die Hilfe direkt thematisiert: And but thou help me at this nede, / Certes, brother, y can no rede. / My lyffe y have forloren (Le Saux 1993, st. 88, V. 10-12). („Und wenn du mir nicht in dieser Notlage hilfst, gewiss, Bruder, dann habe ich mein Leben verwirkt. Ich kann nicht [in den Kampf] reiten.“) 341 Beide Aspekte werden im nächsten Unterkapitel genauer behandelt. 342 Ähnlich knapp verfährt die Historia septem sapientum. Radulfus Tortarius dagegen benennt an dieser Stelle erstmals die körperliche Ununterscheidbarkeit der Freunde. Lille 130, die mittelenglische romance und die anglonormannische Verserzählung verzichten auf den nochmaligen Ausweis der Gleichheit, ebenso wie die gesamte religiös deutende Textgruppe. 343 „Es gibt keinen Mann, so gelehrt er auch sein mag, der einen Unterschied zwischen mir und Euch benennen könnte.“
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die Taufgeschenke ebenso Revue passieren wie eine genaue Beschreibung des gleichen Äußeren: Noz noz samblons de venir et d’aller Et de la bouche et dou vis et dou nés, Dou chevauchier et des armes porter. Dex ne fist home, qui de mere soit nés, Se l’uns de noz a en un lieu esté, Se l’autre i vient, que ja soit aviséz. (Dembowski 1987, V. 1048-1053)344
Dieser Appell erzeugt eine Legitimationsstrategie auf zwei Ebenen: Zum einen wird die Freundschaft als konstitutiver Bestandteil der Identität beider Männer gekennzeichnet. Die lebenslange Beziehung wird sie nicht nur als besonders enge bestätigt, zudem impliziert die zeitliche Dauer ihre Priorität gegenüber allen anderen – späteren – Bindungen. Zum anderen bewirkt die detailgenaue, sprachliche Darlegung der sichtbaren Gleichheit der Freunde, dass sie als Anzeiger einer gemeinsamen Identität erscheint. Zudem bildet sie die Voraussetzung, dass der Identitätentausch der Freunde erfolgreich ist. Gleichzeitig ist die erneute Bestätigung der Gleichheit an dieser Stelle unlösbar an die Vereinzelung der Freunde gekoppelt, da der Plan nur in Anwesenheit des einen und in Abwesenheit des anderen durchführbar ist. Gemeinsame Identität ist im Modus der Substitution an räumliche Distanz geknüpft: Die Gefährten tauschen ihre Identitäten, müssen sich danach aber trennen, um ihr Vorhaben in die Tat umsetzen zu können. Gleich, ob die Situation des Freundesrats aufgrund des vorgängigen Treuebruchs durch Amelius eine prekäre ist (in den Texten der zweiten Gruppe) oder ob keinerlei Idee einer Verfehlung den Freundschaftsbund trübt (in den Texten der ersten Gruppe), immer gibt der Freund Rat und bietet die konkrete Hilfeleistung an, die Identitäten zu tauschen. Die damit demonstrierte Treue, die das Bündnis konstituiert, kommt dabei entweder trotz der Verfehlung zum Tragen und wird so mit der Komponente der Vergebung verknüpft, der ebenfalls freundschaftskonstituierende Bedeutung eignet, oder aber Rat und Treuenachweis fügen sich nahtlos in den unantastbaren Freundschaftsentwurf ein. Das Freundschaftsmodell fokussiert mithin in seiner jeweiligen diskursiven Ausformung voneinander abweichende Handlungsprogramme, die von unterschiedlichen Prämissen _____________ 344 „Wir gleichen uns in unseren Bewegungen, im Aussehen, [...] Mund, [Gesicht; S.W.] und Nase sind ganz ähnlich, und in der gleichen Art sitzen wir zu Pferde und tragen die Waffen. Und wenn einer von uns an einem bestimmten Ort war, und der andere kommt dann dorthin, so gibt es keinen Menschen, das weißt du wohl, der diesen Tausch bemerkte“ (Vielhauer 1979, S. 55). Vgl. auch schon Dembowski 1987, L. 60, ab V. 1039. Die Beschreibung entspricht z.T. wörtlich den früheren Gleichheitsbeschreibungen, vgl. etwa L. 2, V. 39-42.
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ausgehen: Die Variante, die die Texte mit vornehmlich adligen Sinnhorizont entfalten, hebt auf absolute Unfehlbarkeit und bewahrte Exklusivität ab, während die Texte mit stärkerer religiöser Konzeption einen Treuebruch als integrierbar begreifen und – innerhalb dieser Logik – den Treuebeweis des Freundes aufwerten. Die erste Form dagegen behauptet die Priorität des Freundschaftsbündnisses als Konsequenz unantastbarer Treue. Körpersubstitution im Zweikampf Nachdem das Freundschaftsbündnis bestätigt, der Rat erteilt und Hilfe angeboten wurde, tauschen die Freunde Kleider und Pferde oder – wie in der chanson de geste – zusätzlich noch die Waffen, um den Identitätentausch zu bewerkstelligen: Ostéz vos dras, aiéz les miens vestus, / Et je panrai cel bon destrier quernu, / Toutes ces armes et cel pezant escu (Dembowski 1987, V. 10311033).345 Während der Hilfe suchende Freund an den Hof seines Gefährten geschickt wird, um dort dessen Platz einzunehmen, reitet der helfende Freund an den Hof des Herrschers, um erfolgreich den Zweikampf346 zu bestehen.347 Das Hilfeangebot wird spätestens in diesem Moment ambivalent: Galt es eben noch hinsichtlich der Maßstäbe einer besonderen Freundschaft als einzige und positive Möglichkeit, dem Freund zu helfen und dabei die Unverbrüchlichkeit der Treuebindung zu demonstrieren, für die sogar das eigene Leben aufs Spiel gesetzt wird, erscheint der Identitätentausch im rechtlichen Kontext des Gerichtskampfes als illegitime Handlungsweise. Der vom Herrscher anberaumte Gottesgerichtskampf soll die unentschiedene Situation auflösen, die entstanden ist, da eine Partei anklagt und die andere das Verbrechen leugnet. „Im 12. und 13. Jahrhundert stellte das Gottesurteil [...] ein rechtsförmliches Verfahren zur Ermittlung der Wahrheit bzw. zur Feststellung der Unschuld oder Schuld eines Beklagten in einem Rechtsstreit dar.“348 Der Zweikampf bildet eine spezifische Form des Gottesurteils349 mit einer agonalen Struktur, die auf der Ausübung von Gewalt beruht. Das im Konzept des Gottesurteils sich manifestierende _____________ 345 „[L]egt Eure Kleider ab und zieht die meinen an, und ich werde dieses brave Pferd mit der kräftigen Mähne, all die Waffen und den schweren Schild nehmen“ (nach Vielhauer 1979, S. 55). 346 Vgl. grundsätzlich zum Zweikampf in mittelalterlicher Literatur Friedrich 2005. 347 In den meisten Texten wird zuerst die Passage über den Aufenthalt des Freundes am Hofe seines Gefährten beschrieben und erst danach der Zweikampf. Vgl. etwa für die mittellange legendenhafte Fassung München Cgm 523 Reiffenstein 1982, S. 245, Z. 155-164. 348 Schnell 1984, S. 25. 349 Zu weiteren Formen vgl. HRG I, Sp. 1770-1772, und Dinzelbacher 2006.
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„leibliche Rechtsverständnis“350 kristallisiert sich im gerichtlichen Zweikampf als Recht des Stärkeren. Ist eine Stellvertretung der streitenden Parteien durch ausgewählte Kämpfer rechtlich grundsätzlich möglich,351 so gilt dies nicht für die Amicus-Amelius-Texte: Die Ersetzung des Freundes durch den unschuldigen Gefährten findet heimlich statt. In den Amicus-Amelius-Texten scheint der Zweikampf sowohl als Mittel der Streitentscheidung als auch als Beweismittel zu dienen.352 Letztere Bedeutung formiert sich im historischen Zusammenhang stärkerer Verrechtlichung und formaler Reglementierung: Dem ritualisierten Zweikampf wird nun ein Platz innerhalb der Rechtsfindung zugewiesen, nachdem er zunächst selbst als alleiniges ‚Urteil‘ fungierte. In den Texten des Amicus-AmeliusKorpus verschwimmt diese Unterscheidung wiederholt, allerdings ist zumindest implizit von einem gerichtlichen Verfahren auszugehen, dessen Vorsitz der Herrscher innehat, an dessen Hof die Freunde gedient haben und dessen Tochter in die Ereignisse verwickelt ist.353 Die Amicus-AmeliusTexte verweisen meist auf einen eingegrenzten Kampfplatz (campus, champ, veld, ringch, völl), auf dem der Zweikampf vor Herrscher und breitem Publikum, z.T. auch vor Bürgen,354 stattfindet.355 Während historisch der Zweikampf zugunsten des Zeugenbeweises verdrängt wird,356 wird in den Amicus-Amelius-Texten der Zweikampf vereinbart, da über die Qualität von Ardericus’ Zeugenbeweis keine endgültige Aussage getroffen werden kann. _____________ 350 HRG V, Sp. 1837. 351 Vgl. etwa den Gottesgerichtskampf im Rolandslied (V. 8739-9016), in dem Binabel für Genelun und Tirrich für Roland antritt. 352 Vgl. HRG V, Sp. 1835-1844, und Schnell 1984, S. 25. Siehe hier auch die umfangreichen Angaben zur Forschungsliteratur. 353 In der mittelenglischen romance ist ausdrücklich davon die Rede, dass die beiden Parteien – Amylion und der Steward – before the justys (Le Saux 1993, st. 106, V. 5), also vor den Richter bzw. vor das Gericht gebracht werden. 354 In der mittelenglischen romance, in der anglonormannischen Verserzählung, in Lille 130 und in der chanson de geste ist das Leben der Bürgen – nämlich der Prinzessin, der Königin sowie in der chanson de geste des Prinzen Bovo (in Lille 130 ist es nur die Prinzessin allein) – akut gefährdet, da sie bei Nichterscheinen des angeklagten Freundes verbrannt werden sollen. Da Amylion bzw. Ami erst in letzter Minute eintrifft, brennt das Feuer schon und die Bürgen wähnen sich dem Tode nahe. Vgl. Le Saux 1993, st. 98-100, Fukui 1990, V. 547-573, Woledge 1939, S. 453f. (hier soll die Prinzessin im Falle von Amis bzw. Amiles Niederlage verbrannt werden) und Dembowski 1987, L. 68-71. In der elaborierten legendenhaften Version erscheint eine abgeschwächte Variante der Bedrohung der Bürgin: Königin Hildegard ist es verboten, das Bett mit dem König zu teilen, solange Amelius abwesend ist; vgl. für die französische Vita Moland / D’Héricault 1856, S. 54. 355 In einigen Texten wird dies nicht erwähnt, wie z.B. in den minimalen legendenhaften Bearbeitungen. 356 Vgl. HRG V, Sp. 1841.
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Die rechtsförmliche Prozedur des Zweikampfes – sowie weiterer Formen des Gottesurteils – ist in eine Matrix religiöser Sinn- und Rechtskonstitution eingebettet. „Die Voraussetzung dieser Rechtsinstitution Gottesurteil bildete der Glaube, Gott stehe auf der Seite des Rechts und lasse nicht zu, daß Unschuldige verurteilt oder gar getötet werden.“357 Dabei ist nicht immer von einem offiziell-christlichen, sondern z.T. auch von einem archaisch-magischen Gottesverständnis auszugehen.358 Die Zentrierung um die göttliche Instanz situiert die leibliche Rechtsauffassung in einem transzendenten Bedeutungszusammenhang und markiert die Körper der Kämpfenden als Vollstrecker göttlichen Willens. Historisch gab es jedoch schon ab dem 9. Jahrhundert Zweifel und Kritik an der Institution des Gottesurteils,359 die letztlich in ein Verbot desselben sowohl im kirchlichen wie auch im weltlichen Recht zu Beginn des 13. Jahrhunderts mündeten.360 Zweifel und Verbot gründeten u.a. in einer Deutung der Gottesurteile als Versuchung Gottes.361 In den Amicus-Amelius-Texten handelt es sich beim Zweikampf wegen des unzulässigen362 Identitätentausches um ein manipuliertes Gottesurteil363 bzw. um ein tricked ordeal.364 Ralph J. Hexter nennt derartige Ordale equivocal, da sie innerhalb eines Denksystems operieren, in dem „the supernatural power invoked is responsible for the outcome“.365 Ein tricked ordeal rekurriert nicht (mehr) ausschließlich auf göttliche Macht, sondern hinterfragt grundsätzlich die Effizienz eines Gottesurteils, situiert sich dabei häufig an der Schwelle unterschiedlicher Denkmodelle und Deutungssysteme und kann neben einem weiter bestehenden Glauben existieren. In diesem Zusammenhang diskutieren die literarischen Texte, die über manipulierte Gottesurteile erzählen, neben der Praktikabilität dieser _____________ 357 Schnell 1984, S. 25. 358 Vgl. etwa Mickel 1985, S. 23, der in dieser Hinsicht von „innate popular wisdom“ spricht, bzw. die vorchristlichen Ordalien, die als Vorläufer der mittelalterlichen Gottesurteile gelten, anführt (HRG I, Sp. 1769f.). 359 Vgl. HRG I, Sp. 1772, und Mickel 1985, S. 22-24. 360 Vgl. HRG I, Sp. 1772f., Schnell 1984, S. 26, und Ziegler 2004, S. 1-19, die zwischen dem Verbot anderer Ordalien und dem Festhalten am Zweikampf differenziert. Vgl. auch Dinzelbacher 2006, S. 81-89. Zu den paganen Vorläufern des Gottesurteils vgl. z.B. Hexter 1975, S. 4-9, und Mickel 1985, S. 21f. 361 Vgl. Mickel 1985, S. 24. 362 Unzulässig in der hier dominierenden Rechtsauffassung, da die beiden Konkurrenten persönlich gegeneinander kämpfen müssen. 363 So Schnell 1984. 364 So Leach 1937/1990, S. lxxxv. Siehe dort auch zu weiteren literarischen Beispielen. 365 Hexter 1975, S.2. Isoldes gelüppeter eit (Tristan, V. 15748) im wohl berühmtesten gefälschten Gottesurteil der deutschsprachigen mittelalterlichen Literatur gehört nach Hexter ebenfalls in die Kategorie der equivocal oaths and ordeals. Siehe dort auch zu weiteren literarischen Beispielen.
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Institution zumindest auch implizit die Bedenken, die dem Gottesurteil entgegengebracht wurden.366 In den Amicus-Amelius-Texten wird das Gottesurteil nicht explizit hinterfragt. Durch verschiedene narrative Strategien aber werden die rechtlich unzulässigen Praktiken zur Bewahrung der Freundschaft diskutiert und so auch die Frage gestellt, wie ein derartiger Verstoß gegen geltende Normen mit der von den Texten postulierten Vorbildlichkeit der Freunde vereinbar ist. Obgleich der Zweikampf in den einzelnen Amicus-Amelius-Texten stets ausschließlich als solcher bezeichnet wird (duellum, pugna)367 und nicht etwa als Gottesurteil (judicium Dei), scheint letztere Bedeutung dem Wort Zweikampf fast durchgängig inhärent zu sein. Eine Ausnahme bildet zum einen die lateinische Fassung von Radulfus Tortarius, die eher in einem antiken, vorchristlichen Kontext situiert ist, aber trotzdem die Vorstellung einer höheren Instanz transportiert.368 Zum anderen ist die Historia septem sapientum zu nennen, die keinen Schuld-Unschuld-Diskurs führt. Dass Lodovicus den Zweikampf nicht selbst bestehen kann, liegt nicht am Schuldverständnis oder am Wahrheitsprinzip. Nur aufgrund seiner körperlichen Schwäche veranlasst er Alexander, für ihn zu kämpfen. Cůnrad ist der sterckest man Der in disem lande ist [...]. Ich förchte er bring mich in not Oder er slacht mich sicher zů tot. (Hans von Bühel, Dyocletianus Leben, Keller 1841, V. 8137f., V. 8140f.)
In allen anderen Texten herrscht eine christliche Sinnebene vor. Auch wenn zuweilen nicht direkt auf Gottes Hilfe für den Unschuldigen bzw. für den, der im Recht ist, rekurriert wird, eignet allen Texten ein deutliches Verständnis eines unabwendbaren Kampfausganges. Dieses orientiert sich an jeweiligen Positionen der Kämpfenden hinsichtlich des Rechts oder Unrechts bzw. der Schuld oder Unschuld: Du bist schuldich; du nemachst nicht sekerlichen vechten den kamp (Großer Seelentrost, Schmitt 1959, S. 230, Z. 31f.). Allen Texten liegt die unhinterfragbare Vorstellung zugrunde, dass man in einem Zweikampf keinesfalls auf einer Unrechts- bzw. Schuldposition siegen kann; ebenso wenig kann mit einem falschen Eid der Sieg errungen werden. Dem steht die Idee eines heimlichen Identitätentausches gegenüber, für die mit Gottes Hilfe gerechnet wird. Die Körpersubstitution _____________ 366 Anders dazu die ältere Forschung, die keine Reflexion dieses Problems zu erkennen glaubt bzw. den Texten grundsätzlich die Wahrnehmung des manipulierten Gottesurteils als Problem nicht zutraut. Vgl. speziell zum Engelhard den Forschungsbericht in Brandt 1987, S. 141-144, und Brandt 2000, S. 137f. 367 Vgl. auch die volkssprachlichen Entsprechungen bataille, fyght, kamp(f), strît, holmganga. 368 Davon weicht indes die Einführung von Rolands Schwert ab, das in einem christlichen Zusammenhang situiert ist. Vgl. dazu Kap. II.3.1.: Es ist Beliardis, die dieses Schwert ins Spiel bringt.
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erscheint meist als recht sicherer Plan und trotz eines sich später manifestierenden, mehr oder minder diffusen Unrechtsbewusstseins hinsichtlich der Beugung des Rechts wird die Praktikabilität des Identitätswechsels nie grundsätzlich hinterfragt: ob mir es got der herre gan, so getriuwe ich wol daz ich gesige: wande ich bin an dem gezige unschuldic aller dinge (Konrads Engelhard, Reiffenstein 1982, V. 4492-4495).
In den Seelentrost-Fassungen benennt Amicus dagegen sowohl die Möglichkeit, dass Gott ihm im Kampf hilft und ihm so zum Sieg verhilft (ist das mir got hilft, Wackernagel 1839, Sp. 983, Z. 33), als auch die Aussicht, [i]st das ich sterben (Sp. 983, Z. 32). Die einzelnen Texte reflektieren mithin unterschiedliche Auffassungen davon, wie Gott sich zum Verhalten der Freunde positionieren wird. Die grundsätzliche Verbindung von Zweikampf und göttlicher Instanz wird in den verschiedenen Bearbeitungen sehr unterschiedlich ausgeführt. Bisweilen reicht ein allgemeiner Verweis auf Gottes Hilfe, wenn der Freund sich zum Kampf an des Freundes statt bereit erklärt: cum proditore comite bellum Deo juvante pro te faciam (elaborierte Vita, Kölbing 1884, S. cii, Z. 20f.).369 Mehrere Texte ziehen indes eine explizit religiöse Dimension in die Gestaltung des Zweikampfes ein, indem sie ihn z.B. mit frommen Ritualen flankieren. In der elaborierten Vitaversion etwa kommt es den Frauen zu, mit gläubigen Praktiken Amicus’ Sieg – nur für ihn beten sie, kämpft er doch für die Prinzessin – zu befördern.370 Von den Grenzfällen häuft die chanson de geste diverse Verfahren und Zeichen an, die den Zweikampf als religiöses Schauspiel kennzeichnen. Nicht nur durchziehen ausgedehnte Gebete den Text, die die gesamte Heilsgeschichte in Kurzform Revue passieren lassen,371 es läuten auch die Glocken aller Kirchen der ganzen Stadt vor Beginn des Gottesgerichtskampfes, und Karl lässt zudem ein Tablett mit kostbarsten Reliquien herbeibringen, die den bevorstehenden Kampf in einen christlichen Kontext einlagern und den _____________ 369 „Lass mich mit Gottes Hilfe gegen den verräterischen Grafen an deiner statt Krieg führen“ (nach Kuefler 2000, S. 449). 370 Et li Roine, et grant compaignie de virges, de vaves et de mariées, alet d’englise en englise, facent prières por le champion sa fille, et donai dons, offrandes et luminaires (elaborierte Vita, Moland / D’Héricault 1856, S. 57). („Und die Königin und eine große Anzahl von Jungfrauen, Witwen und verheirateten Frauen gingen von Kirche zu Kirche, sie beten für den Kämpfer ihrer Tochter und sie [die Königin] brachte Geschenke, Opfergaben und Lichter dar.“) – Alle drei klerikalen Kategorien von Frauen treten – geordnet nach der Vorbildlichkeit ihres Standes – auf. 371 Vgl. Dembowski 1987, V. 1276-1321.
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korrekten Ablauf gewährleisten sollen.372 Während des Kampfes kann Ami mit Gottes Hilfe Hardrés Schwert ausweichen.373 Der Engelhard verweist im Verlauf des Zweikampfes ebenfalls auf Gott als Entscheidungsträger über Sieg und Niederlage:374 Zum einen tragen Dietrich und Ritschier schlichte Rüstungen ohne höfischen Prunk durch daz in guot gelinge / von gotes helfe würde schîn (Reiffenstein 1982, V. 4684f.). Zum anderen beten viele Zuschauer, dass Gott dem vermeintlichen Engelhard den Sieg zuteilen möge.375 Parallel übermittelt der Text die Vorstellung einer grundsätzlich erforderlichen Einstellung zum Kampf, die keine explizit christlich-religiöse ist, doch ohne die kein Sieg möglich ist.376 Insgesamt scheint demnach eher darauf rekurriert zu werden, dass Gott prinzipiell eingreift, dass seine Entscheidung aber nicht von vornherein feststeht, da sie durch spezifische Haltungen und Verhaltensweisen beeinflusst werden kann.377 Nicht nur die konkret zu entscheidende Rechtsposition ist mithin ausschlaggebend, sondern auch aktuelle Umstände und Einstellungen. Eine unmittelbare Verbindung zwischen Gott und Zweikampf stellt die mittelenglische romance her: Eine Stimme aus dem Himmel, die sich als von Gott gesandt erklärt, warnt Amylion vor den schrecklichen Konsequenzen, sollte er den Kampf wagen. Innerhalb von drei Jahren würde er körperlich dahinsiechen und sozial völlig isoliert sein.378 Wichtiger Bestandteil des Gottesurteils bzw. des Zweikampfes ist der eingangs zu schwörende Eid, in dem die Gegner ihren Rechtsstandpunkt nochmals offiziell formulieren. Es handelt sich um einen assertorischen _____________ 372 Vgl. V. 1388-1391. Feistner 1989, S. 114, hat bereits darauf hingewiesen, dass die chanson de geste „streckenweise sogar die Vita in der geistlichen Stilisierung [überbietet].“ Die herbeigebrachten Reliquien sollen eine spezifische Funktion erfüllen: Qui s’i parjure malemant est baillies, / N’istra dou champ tant qu’estera honnis (Dembowski 1987, V. 1392f.). („Wer bei ihrem Anblick einen falschen Schwur tut, der muss es bitter büßen, er verlässt den Kampfplatz nicht, bis er seine Ehre verloren hat“, Vielhauer 1979, S. 62.) 373 Vgl. Dembowski 1987, V. 1512. 374 Auch in der mittelenglischen romance tritt ein solches Denkmuster zutage, wenn etwa nach dem Zweikampf Belisaunt und ihre Mutter Gott danken, dass der Steward erschlagen wurde; vgl. Le Saux 1993, st. 115, V. 10-12. 375 Vgl. Reiffenstein 1982, V. 4888-4892. 376 sêle, lîp, êr unde guot, / diu lâgen ûf der wâge dâ / und müezen weizgot anderswâ / vil dicke noch dar ûfe ligen / swâ man mit kampfe wil gesigen. / wan swer dar under eines wil / an strîte fürhten alze vil, / der hât si dâ vil schiere / verloren alle viere (Reiffenstein 1982, V. 4786-4794). 377 Vgl. ähnlich Schnell 1984, S. 53-55, der historische und weitere literarische Beispiele dafür liefert. Hinsichtlich des Engelhard ist seine Argumentation allerdings nicht ganz korrekt: Er führt als Beispiel dafür, sich von anderen Sünden freizumachen, Engelhards Ausrede an, die Zeit bis zum Kampf in einem Kloster verbringen zu wollen, „um nicht wegen früherer Sünden von Gott im Kampf bestraft zu werden“ (S. 54). Damit ist zwar das Denkmodell bestätigt, aber weder Engelhard noch Dietrich setzen dies in die Tat um und unterlaufen so die Reinigungsvorgabe. 378 Vgl. Le Saux 1993, st. 103f. – Vgl. Kap. I.2.3. zur Motivation des Aussatzes.
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bzw. Wahrheitseid,379 der „in der Regel die Richtigkeit behaupteter und bereits eingetretener Tatsachen [betrifft].“380 Der gerichtliche Eid ist rituell eingebunden und strengen formalen Richtlinien unterworfen.381 Grundsätzlich bildet er das Kernstück des Gottesgerichtskampfes: „Der gerichtliche Zweikampf hat ‚lediglich‘ die Wahrheit bzw. Unwahrheit des vorangegangenen Eides zu erweisen.“382 Der Eid verweist ähnlich wie die gesamte Konzeption des Gottesurteils auf eine übergeordnete, göttliche Instanz, mit deren Anrufung der „Einsatz des Seelenheils“383 vorgenommen wurde. In vielen Amicus-Amelius-Texten wird ein Eid von beiden Gegnern geschworen. Ardericus beeidet zunächst seine bereits vorgebrachte Anklage, dass sein Gegenüber sich der Prinzessin sexuell bemächtigt habe. Der Freund, den alle für seinen Gefährten halten, schwört dagegen, dass dies eine Lüge sei bzw. dass er sich der Prinzessin nie genähert habe. In einigen Texten wird allerdings kein Eid geschworen: So fehlt er in sämtlichen Minimalfassungen der Vita sowie in der zur mittellangen hagiographischen Textgruppe gehörigen Hs. München, Cgm 523. Die minimalen Bearbeitungen scheinen den Eid nicht nur im Zuge der starken Verkürzung der Amicus-Amelius-Geschichte eliminiert zu haben, sondern auch durch die Reduktion der Gottesgerichtsszene auf einen einzigen kurzen Satz:384 Under des gewan Amicus den kamp (Seelentrost, Wackernagel 1839, Sp. 983, Z. 38). In München, Cgm 523, fehlt nicht nur der Eid, sondern auch Amicus’ vorhergehender Versuch, Ardericus umzustimmen. Ebenso ist der Eid zu Beginn des Kampfes in Konrads Engelhard und in der anglonormannischen Verserzählung absent. In dieser Bearbeitung wird allerdings ein bereits geschworener Eid thematisiert, der die Veranlassung für den Identitätswechsel bildet. Beau frere, quant avez forfait E le serment avez fet, Jeo me doute qe pur pecché Del serment serrez encombré. Pur vous la bataille fray,
_____________ 379 Daneben existiert der promissorische oder Versprechenseid bei der Schließung der Freundschaft. Zur Unterscheidung von promissorischem und assertorischem Eid vgl. HRG I, Sp. 866. 380 HRG I, Sp. 862. 381 Vgl. Mickel 1985, S. 24f., sowie HRG I, Sp. 861 und 863. 382 Schnell 1984, S. 48. 383 HRG I, Sp. 869. 384 Die Interpretationsbasis der Länge und nicht der Logik des Textes (die an dieser Stelle keine Anhaltspunkte bietet) benutzt auch Schnell 1984, S. 44, Anm. 52, zur Erklärung der Abwesenheit der Eide.
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E le serment lealment juray. (Fukui 1990, V. 495-500)385
Im Anschluss wird scheinbar kein Eid mehr geschworen, denn die gegnerischen Parteien stürzen sich sogleich in den Zweikampf. In verschiedenen Rechtsvorstellungen wurde der im Zweikampf Unterlegene quasi der Schuld des Meineides überführt.386 Die Angst vor einem Meineid situiert sich gleichfalls eher innerhalb einer „magischreligiöse[n] Vorstellung“387 statt in einer rein strafrechtlichen Dimension. Auch in einigen Amicus-Amelius-Texten steht neben dem allgemeinen Wissen, wegen des tatsächlich begangenen Vergehens nicht siegen zu können, die konkrete Besorgnis, einen falschen Eid zu schwören. Dieses spezifische Problem wird außer in der anglonormannischen Verserzählung auch in Lille 130 und in der mittelenglischen romance erörtert. In diesem Text denkt Amys schon vor der Reise zu Amylion ausführlich über die Rechtspraxis und die Eventualität eines falschen Eides nach: Ffor he thought he moste nede, Ere than to the batell he yede, Swere an oth beforn, As wissely God schuld him spede As he were gyltles of that dede That on him was boren; Than thought he withoute wrong He had lever be drawe and hong Than to be forsworn. (Le Saux 1993, st. 75, V. 1-9)388
Der in Aussicht stehende Meineid zöge folgenschwere Konsequenzen nach sich: And yef y swore, y am foresworn: / Lyffe and soule y am forloren (st. 77, V. 10f.).389 Leben und Seelenheil sind aufgrund des antizipierten Meineides gefährdet. Auch im späteren Gespräch mit Amylion wird der falsche Schwur ähnlich diskutiert.390 Die Entscheidung, dass Amylion für Amys _____________ 385 „Schöner Bruder, da Ihr schuldig seid und den Eid geschworen habt, fürchte ich, dass Ihr wegen der Sünde des Meineides Schwierigkeiten bekommen werdet. Ich werde für Euch den Kampf durchführen und den Eid wahrheitsgemäß schwören.“ 386 Vgl. HRG III, Sp. 450, und Schnell 1984, S. 48. 387 HRG III, Sp. 449. 388 „Denn er dachte darüber nach, dass er dazu gezwungen war, einen Eid zu schwören, bevor er in den Kampf ging. Und ganz gewiss würde Gott den beschützen, der unschuldig an der Sache war, die ihm angelastet wurde. Dann dachte er ohne Falsch, dass er lieber geschleift und gehängt werden würde, als einen Meineid zu schwören.“ – Amys kehrt seine Schuld mehrmals hervor: I have the wrong and he the ryght (Le Saux 1993, st. 77, V. 4). („Ich habe das Unrecht und er das Recht.“) 389 „Und wenn ich schwören würde, dann würde ich einen Meineid schwören, Leben und Seele hätte ich dann verloren.“ 390 Vgl. Le Saux 1993, st. 90-92.
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kämpft, ist gleichfalls mit diesem Sachverhalt verknüpft: Er kann den Verräter besiegen, und er kann seine Schuldlosigkeit beeiden, um Gottes Unterstützung zu erlangen: And y schall swere, so God me spede, / That y am gyltles of that dede (st. 92, V. 4f.).391 Auch in Lille 130 reflektiert Amis Bedenken wegen des falschen Eides.392 Bei diesen drei Bearbeitungen handelt es sich übrigens um sämtliche Vertreter der kleinen Textgruppe, die die Positionen von Amicus und Amelius vertauscht.393 Sie stellen nicht so sehr das oben diskutierte grundsätzliche Verständnis von Schuld als Hindernis für den Sieg im Zweikampf in den Mittelpunkt, sondern begreifen den falschen Eid als maßgebliche Hürde im bevorstehenden Kampf. Lille 130 und die chanson de geste berichten zusätzlich von der verzweifelnden Prinzessin, die den Meineid ihres mutmaßlichen Geliebten beklagt, nachdem beide Parteien einen Eid geschworen haben.394 Dass im Engelhard kein Eid geschworen wird, ist von Rüdiger Schnell ausführlich untersucht worden. Er kommt zu dem Ergebnis, dass sich der Fokus der Konfrontation verschiebt, indem die Eid-Szene gestrichen wird: Nicht nur werde „der formaljuristische Automatismus von Eid/Meineid und Zweikampfausgang“ reduziert und „Bedenken“ gegen den erlisteten Eid ausgeschaltet, auch ein „Befremden“ über die Manipulierbarkeit Gottes durch einen solchen Eid entfalle. Ins Zentrum der Entscheidung rücke nunmehr „die Kraft der triuwe“: „Nicht Eid bzw. Meineid entscheiden über den Sieg im Zweikampf, sondern die moralische Disposition der zwei Gegner. Das Gewicht der eigentlichen Auseinandersetzung verlagert sich von der Wahrheitsproblematik zu einem Wettstreit zwischen triuwe und untriuwe.“395 Konrad habe indes diese Strategie nicht durchgehalten, da Ritschier während der kämpferischen Aktivitäten einen formlosen Eid gleichsam nachreicht: daz Engetrût ist iuwer wîp / [...] daz bewæret hie mîn hant / oder aber ich belîbe tôt (Reiffenstein 1982, V. 4914, V. 4916f.). Der zuvor schwer verwundete Dietrich vermag kurz nach diesem Meineid Ritschier die linke Hand396 abzuschlagen. Damit werde der _____________ 391 „Und ich werde schwören, wenn Gott mir hilft, dass ich an dieser Sache unschuldig bin.“ 392 [I]l couvendroit que il jurast et que il se parjurast, si se douta moult que par le faus serement que il feroit que Dieu ne li neüst et qu’il ne fust vaincu (Woledge 1939, S. 453). („Es war aber nötig, dass er einen Eid ablegte, und da er einen falschen Eid ablegen musste, hatte er große Befürchtungen, dass Gott ihm wegen des Meineides schaden würde und er besiegt werden würde.“) 393 Hier wird erneut deutlich, dass diese kleine Textgruppe eigene Fokussierungen aufweist. Besonders auffällig ist die breite Diskussion des Eides in der mittelenglischen romance: Dort wird sowohl dem Eid als freundschaftsstiftendem Ritual als auch dem Eid als gerichtlichem Beweismittel ein starkes Interesse entgegengebracht. 394 Vgl. Woledge 1939, S. 454, und Dembowski 1987, V. 1431-1441. 395 Alle Zitate aus Schnell 1984, S. 53. 396 Dass Ritschier die linke und nicht die rechte (Schwur-)Hand abgeschlagen wird, wertet Schnell als ‚Verunklärungsversuch‘ Konrads, obwohl er einen „engen Zusammenhang von
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zunächst eingeschränkte „Automatismus von Kampfeid und Kampfausgang“397 wieder aufgerufen, so dass im Zweikampf des Engelhard die Bedeutsamkeit von faktischer Wahrheit und von triuwe nebeneinander existieren. Schnell situiert Konrads Deutungsangebot zum einen innerhalb einer historisch älteren, frühmittelalterlichen Vorstellung, in der die „Erfolgshaftung noch nicht durch die Lehre von der ethischen Verantwortlichkeit überwunden war“398 (Ritschier unterliegt automatisch nach dem – unwissentlichen – falschen Eid), zum anderen in einer geistesgeschichtlichen Tendenz des 11. bis 13. Jahrhunderts, „deren Kennzeichen das Abrücken von äußerlichen, formalisierten, generellen Normen und (Rechts-)Bindungen und eine immer stärkere Berücksichtigung persönlicher Umstände und Einstellungen (intentio)“399 sind. Grundsätzlich ist den Beobachtungen Schnells bezüglich des Engelhard zuzustimmen, wenn er spezifische Entlastungsstrategien beschreibt: Diese sollen die Aktionen des Freundespaares, die nach den zugrundeliegenden Rechtsvorstellungen durchaus als bedenklich oder unzulässig zu bewerten sind, rechtfertigen. Dass gleichzeitig mehrere parallele Handlungslogiken herausgearbeitet werden, die die Ambivalenz der Vorgehensweise mehrfach hervorbrechen lassen, verdeutlicht die konfliktträchtige Situation, in der der erste Freundschaftsbeweis durchgeführt wird.400 All diese Überlegungen treffen nicht nur auf Konrads Engelhard, sondern auch auf einen Großteil weiterer Amicus-Amelius-Texte zu, ohne dass _____________ 397 398 399 400
Schwur (Meineid) und Abschlagen der Hand“ einräumt (1984, S. 56f.). Zum Verlust einer Hand als Standardstrafe bei Meineid vgl. Ziegler 2004, S. 4. Schnell 1984, S. 57. Vgl. dort auch die ausführlichen Einblicke in zeitgenössische Rechtsanschauungen. Schnell 1984, S. 58. Schnell 1984, S. 59. Den historischen Fall eines Gottesurteils, in dem die Problematik von zwei quasi identischen Männern verhandelt wird, beschreibt Mickel 1985, S. 29-31: Hincmar von Reims berichtet, wie Teutberge, die Ehefrau König Lothars II., 858 einem Gottesurteil unterzogen wurde. Sie wurde beschuldigt, inzestuöse Beziehungen mit ihrem Bruder Hucbert unterhalten zu haben, welche einen Schwangerschaftsabbruch nach sich zogen. Obwohl sie das Gottesurteil bestand, gestand sie später ihr Vergehen. Die anschließende geistliche Debatte, wie Teutberge das Gottesurteil bestehen konnte, konzentrierte sich auf zwei Möglichkeiten: Die erste bestand darin, dass sie sich bereits durch Buße von ihren Sünden gereinigt hatte, so dass Gott sie als unschuldig ansah und sie demzufolge das Gottesurteil unbeschadet überstehen ließ. Die zweite Möglichkeit bezog sich darauf, dass Teutberge nicht nur einen, sondern zwei Brüder namens Hucbert hatte, so dass sie während des Gottesurteils an den denken konnte, mit dem sie keinen Inzest vollzogen hatte, und Gott demzufolge auch kein Vergehen zu strafen hatte. Die Parallele zu Amicus und Amelius liegt auf der Hand: Auch wenn der – rein spekulative – Austausch der beiden Hucberts ausschließlich in Teutberges Gedanken stattgefunden hatte, so wird doch eine erfolgreiche Substitution erörtert, die rechtlich ambivalent, gleichwohl aber praktikabel ist.
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sie stets an die Eid-Szene zu koppeln wären:401 Ähnliches leistet die Sorge um das Seelenheil, die ein Schuldbewusstsein offenbart, in der elaborierten und der mittellangen Vitaversion.402 Die elaborierten und die mittellangen Fassungen403 weisen diese handlungsdynamische Besonderheit auf, die eine Form christlicher Geisteshaltung anzeigt. Durch diese wird der Identitätentausch mit seinen Konsequenzen problematisiert. Amicus wird durch das schlechte Gewissen und das gedenkchn [an sein sel] (Andreas Kurzmann, Oettli 1986a, S. 161, V. 563) dazu veranlasst, den Kampf in letzter Sekunde abwenden zu wollen. Dies geschieht nicht etwa aus Angst vor einer Niederlage, sondern gerade aus der Perspektive des Sieges. Heu michi, qui mortem huius comitis tam fraudulentur cupio! Scio enim, quod si illum interfecero, reus ero ante supernum judicem, si vero meam vitam tulerit, de me semper obprobrium narrabitur perpetuum (elaborierte Vita, Kölbing 1884, S. ciii, Z. 1417).404 Amicus schätzt seine Kampfesabsicht als betrügerisch ein. Damit steht sie dem gleichzeitig antizipierten Sieg mit Gottes Hilfe diametral gegenüber. Das Unrechtsbewusstsein, das sich paradoxerweise gerade wegen des zu erwartenden Sieges einstellt, zieht Amicus’ Angebot von dienst und früntschafft (Stuttgart, Cod. theol. et phil. °4 81, Bl. 284r) an Ardericus nach sich, sofern dieser von seiner Anklage abließe und damit den Zweikampf gegenstandslos werden ließe. Ardericus ist indessen keineswegs bereit einzulenken: Je ne voil t’amitié ne tun servise, mas jurerai la verité ausi cum ele est, et te trancherai la teste (Moland / D’Héricault 1856, S. 58).405 Er demonstriert nochmals seine untriuwe, als er dieses Freundschaftsangebot ablehnt und auf seiner Position beharrt. Amicus’ ambivalenter rechtlicher und moralischer Status hingegen wird entschärft, seine zuvor durch den Text erklärte Schuld durch den – fehlgeschlagenen – Versuch, den Kampf abzuwenden, gemildert. Ardericus gerät so nochmals in den Orbit der Freundschaft, nur dieses Mal – freilich unwissentlich – durch den anderen Freund: Damit wird Ardericus’ – ebenfalls zwiespältige – Stellung als das
_____________ 401 Im übrigen müsste der anglonormannischen Verserzählung, in der – wie Schnell bereits bemerkt hat – ebenfalls der Eid am Kampfesbeginn fehlt, obwohl er zuvor thematisiert wurde, eine ähnliche Zurückhaltung hinsichtlich fragwürdiger rechtlicher Automatismen bescheinigt werden. 402 Die Minimalfassungen weisen keine derartige Strategie auf. 403 Die Münchener Hs. Cgm 523 bildet eine Ausnahme. 404 „Wehe mir, der ich den Tod dieses Grafen so arglistig begehre! Ich weiß nämlich: Wenn ich ihn töte, werde ich wegen dieses Verbrechens vor dem Höchsten Richter angeklagt, wenn er tatsächlich den Fall meines Lebens hört. Ihm wird von (dem Verbrechen begangen von) mir auf immer mit ewigem Hass erzählt werden“ (nach Kuefler 2000, S. 450). 405 „Ich will weder deine Freundschaft noch deine Dienste, stattdessen werde ich die Wahrheit schwören, wie sie ist, und dir den Kopf abschlagen.“
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Freundespaar umkreisender Dritter nochmals verdeutlicht.406 Er verspielt die zweite Chance, eine Freundschaft mit einem der Gefährten einzugehen.407 Die Wertung der Kontrahenten wird vereindeutigt: Da der ungetreue Ardericus am Zweikampf festhält, zudem mit Enthauptung droht und ohne Verzögerung den Eid schwört, bleibt Amicus keine andere Wahl, als es ihm gleichzutun und sein Leben zu verteidigen. Ardericus’ Ablehnung einer Freundschaft und Amicus’ Zugehörigkeit zu einem Freundespaar erscheinen an dieser Stelle als Indizien, die die ambivalenten Standpunkte der Gegner klären. Rechtliche Gesichtspunkte hinsichtlich des zu klärenden Sachverhalts werden von einer Beurteilung freundschaftlicher Treuebeziehungen überblendet. Die daraus resultierende unanfechtbare Verteilung von Recht- und Unrechtmäßigkeit führt in sofortiger Konsequenz zum Tode des Anklägers durch Enthauptung. Jnd als sy alsus streden, wart Hardericus verwunnen jnd Amicus sloich eme off syn haufft (Berlin, Mgq 261, Oettli 1986a, S. 182, Z. 169f.): so oder ähnlich heißt es sehr knapp in den religiös deutenden Texten.408 Als einziger Text vereindeutigt die AmicusAmelius-Geschichte von Hermann Korner die eigentlich ambivalenten Rechtsstandpunkte der Kämpfer. Er trifft eine deutliche Aussage darüber, warum Gott Amicus zur Seite steht: men god sach an de trûwen lêve Amîci und ok de valschen vorrêtnisse Anderîci und gaf den sege deme vrunde Amêlii (Pfeiffer 1864, S. 263, Z. 32-34). Amicus’ Einstellung und sein daraus resultierendes Verhalten wird als trûwe lêve gekennzeichnet, Andericus dagegen ausschließlich zu vorrêtnisse in Beziehung gesetzt. Im überwiegenden Teil der Texte der ersten Gruppe und in der chanson de geste findet sich eine weitere erzählerische Möglichkeit, die wahrgenommene Problematik zu inszenieren und zu entschärfen.409 Ein Schuldverständnis wird hier nicht explizit artikuliert, sondern narrativ inszeniert: Der Gottesgerichtskampf wird nicht wie in den legendenhaften Fassungen in einem einzigen Satz ausgetragen, der Amicus’ Sieg als quasi zwingende Konsequenz der zuvor entworfenen Konstellation akzentuiert. Stattdessen wird ein ausgedehnter Kampf zweier gleichwertiger Gegner in Szene ge_____________ 406 Es wird hier nochmals die Möglichkeit durchgespielt, einen Dritten in das Freundschaftsmodell zu integrieren, freilich mit geringen Erfolgschancen. – Vgl. grundsätzlich zur Figur des Dritten Koschorke 2002. 407 Die erste Chance hat Ardericus insofern verspielt, als er den Bund zwar schließen konnte, die Treue jedoch gebrochen hat. Die zweite Chance bildet eine Analogie zur ‚zweiten Chance‘ der Amicus-Amelius-Freundschaft nach Amicus’ Treuebruch. 408 Sehr knapp wird diese Stelle in den Minimalbearbeitungen gebracht, die von einer Sorge ums Seelenheil nichts wissen. Vgl. etwa Schmitt 1959, S. 231, Z. 6-8: Vnder des halpp god Amicus, dat he den seghe vacht vnde heu yenneme greuen dat houet aff. 409 Keine derartige Taktik findet sich in Lille 130 und in der Historia septem sapientum.
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setzt, der durch Dauer und kämpferische Ebenbürtigkeit die juristischen und moralischen Positionen der Konkurrenten zeitweise verschleiert. Eine ganz besondere Form dieser narrativen Variante entwickelt die zu den Grenzfällen gehörende chanson de geste. In diesem Text agiert Hardré am deutlichsten als gefährlicher Widersacher und Verräter, der schon weit vor dem Ordal gegen die Gefährten intrigiert und sogar ihren Tod plant. Trotz dieser klaren Negativzeichnung ist der Gottesgerichtskampf für Ami nicht leicht zu gewinnen: Einen ganzen Tag lang zieht sich das Gefecht hin, in dem zuerst beide Kontrahenten gleichzeitig als Lanzenreiter, dann als Schwertkämpfer auftreten. Anschließend folgen reziproke – gewaltsame wie verbale – Offensiven, die die Kämpfer je einzeln in Szene setzen. Doch während Ami stets nur zerbrochene Ringe am Panzerhemd oder einen demolierten Helm zu beklagen hat, wird Hardré ein Ohr abgeschlagen und ein Auge springt ihm aus dem Kopf. Beides sind offenbar spiegelnde Strafen für die Lausch- und Überwachungskampagne Hardrés. Doch auch Ami entgeht nur mit knapper Not dem Tode: Hardrés Schwert trifft ihn nicht ins Gesicht, sondern saust zwischen Helm und Kopf hindurch und bleibt dort stecken.410 Der Kampf muss bei Anbruch der Dämmerung abgebrochen werden, weil noch keine Entscheidung herbeigeführt werden konnte, allerdings sind die Positionen schon deutlich verteilt, da der schwer verletzte Hardré im Gegensatz zum unverwundeten Ami kaum etwas essen kann. Die Entscheidung fällt am nächsten Morgen, als Hardré sich von Gott abwendet und sich dem Teufel in der Hoffnung auf den Sieg verschreibt: Iez fiz bataille el non dou Criator, Hui la ferai el non a cel seignor Qui envers Deu nen ot onques amor. Ahi, diables! com ancui seraz prouz. (Dembowski 1987, V. 1660-1663)411
Amis Gebet steht dem diametral gegenüber. Im Anschluss schlägt er Hardré sofort den Kopf ab. Die juristische und ethische Ambivalenz des Zweikampfes vor dem Hintergrund der Körpersubstitution der Gefährten412 löst die chanson de geste handlungsdynamisch auf, indem sie Hardré _____________ 410 Vgl. Dembowski 1987, L. 75-81. Etwas abweichend übersetzt Vielhauer 1979, S. 65, vgl. dagegen aber Blanchard / Quereuil 1985, L. 78, S. 42, und Rosenberg / Danon 1996, L. 78, S. 74. 411 „Gestern kämpfte ich im Namen unsres Schöpfers, heute streite ich im Namen jenes Herrn, der noch nie Friede mit Gott hielt. He Teufel, mit Dir werde ich heute stark sein!“ (Vielhauer 1979, S. 68). 412 Dies hat die Forschung zur chanson de geste stark beschäftigt. Vgl. etwa Gaunt 1995, S. 48: „[T]he ethical framework of the text becomes extremely fluid in order to accommodate their [Ami’s and Amile’s] actions.“ Zum Gottesurteil in der chanson de geste vgl. Subrenat 1988. Ähnlich der deutschen Forschung, die ich später diskutieren werde, hat Calin 1966,
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zum Teufelsbündner werden lässt. Die Illegitimität des Identitätswechsels tritt vor dieser Ungeheuerlichkeit in den Hintergrund, so dass die relative narrative Gleichwertigkeit der Kämpfer buchstäblich schlagartig beendet ist.413 Die narrative Technik, die beiden Kämpfer als einander ebenbürtig darzustellen, findet sich bereits im ältesten Amicus-Amelius-Text, in der zur ersten Textgruppe gehörenden lateinischen Verserzählung von Radulfus Tortarius. Dieser Text bewegt sich nicht in einer christlichen Welt: Mars (laurea Marte, Ogle / Schullian 1933, V. 208),414 Ardradus’ thrakische Doppelaxt (Geticam librando bipennem, V. 217)415 sowie drei unterweltliche Flüsse, die Ardradus nach seinem Tode durchqueren wird (Erebos, Phlegeton und Styx, V. 262, V. 265, V. 266) verweisen auf einen antiken Kontext. Die Körpersubstitution wird durch die enorme Zeitdauer des Kampfes auch außerhalb eines christlichen Zusammenhangs implizit problematisiert. Der Zweikampf bildet in diesem Text bei weitem die umfangreichste Sequenz: Sie ist durchgängig als wechselseitiger Schlagabtausch gestaltet. Nacheinander werfen die Kontrahenten ihre Speere und töten darauf jeweils die gegnerischen Pferde. Daran schließt sich der Schwertkampf an, den Amicus nur mit Beliardis’ Hilfe bestehen kann, da sie seine verlorene Waffe ersetzt.416 Erzeugte die Aufeinanderbezogenheit der gegenseitigen Hiebe bereits eine Parallelität der Gegner, wird diese im Folgenden noch intensiviert, indem nun die Kämpfenden erzählerisch zu einem rasenden Knäuel verschmelzen und mit wilden Ebern verglichen werden. Unterschiede zwischen Amicus und Ardradus sind nicht mehr auszumachen: Concurrunt rapidi collatis viribus ambo, Aevo florentes atque pares animis. [...] Humectat validos hinc sudor profluus artus, Ardescunt oculis, inficit ora rubor. [...]
_____________
413
414 415 416
S. 91, zwischen „letter and spirit of the law“ unterschieden. Mickel 1985, S. 35, sieht stattdessen insgesamt eine Aussöhnung dieser beiden Konzepte: „In his omniscience and omnipotence God can reconcile the letter and the spirit of the law. The unsolvable legal dilemma which the text seems to present, wherein it would seem that no decision could bring justice, is brought to a successful resolution both as to letter and spirit.“ In der mittelenglischen romance, in der die Dinge freilich etwas anders liegen, erkennt Kratins 1966, S. 351, ein „concept of a higher and a lower justice“. Das mit der chanson de geste verwandte Miracle wählt an dieser Stelle eine andere Strategie. Hardré wird nicht zum Teufelsbündner, der Zweikampf zieht sich über einige Verse hin, bis Amis dem Ankläger den Kopf abschlagen kann. Der Kampf erscheint als verbaler Schlagabtausch der Gegner, in dem sie ihre – narrativ unsichtbar bleibenden – Aktionen beschreiben, vgl. etwa Paris / Robert 1879, V. 1070-1074. „Lorbeerkranz vom grimmigen Mars“ (nach Leach 1937/1990, S. 102). „Seine thrakische Streitaxt schwingend“ (nach Leach 1937/1990, S. 103). Vgl. dazu Kap. II.3.
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Sic quoque setigeri vastis in saltibus apri, Dentibus armati bella cient gravia: Ore vomunt spumas, rimantur vulnera seva, Dilaniant armos, hirtaque terga secant. (V. 241f., V. 245f., V. 249-252)417
Die betonte und bedrohliche Körperlichkeit der in den Kampf involvierten Rivalen feiert die hemmungslose Gewaltsamkeit bis zu einer Entdifferenzierung der Kontrahenten und damit auch ihrer divergierenden rechtlichen Positionen. Erst das Ende des ausgedehnten Kampfes stellt wieder eine klare Geschiedenheit her, wenn der unverletzte Amicus mit einem Hieb seinen Gegner quasi durchtrennt418 und so letztlich sein Recht demonstriert. Ähnlich verfahren auch die mittelenglische romance und die anglonormannische Verserzählung. Letztere beschreibt vorwiegend eine wechselseitig gestaltete Auseinandersetzung, in der jeweils ein Kämpfer auf die Aktionen des anderen reagiert.419 Wieder folgt auf den Lanzenkampf zu Pferd der Schwertkampf zu Fuß. Zwar werden die Zweikämpfer nicht zu einem unentwirrbaren Ganzen verbunden, aber ihre kämpferische Ebenbürtigkeit wird im beiderseitigen Schlagabtausch so offenbar, dass [n]e savoit [nul] des chaump juger / Lequel fuit meillour chevaler (Fukui 1990, V. 651f.).420 Damit wird gleichzeitig die juristische Parität beider Parteien sinnfällig, freilich nur bis Amillyoun den halben Körper des Seneschalls durchtrennt.421 Während Amillyoun hier ebenfalls unverletzt bleibt, entwirft die mittelenglische romance ein anderes Szenario. Mit der von Gott geschickten, himmlischen Stimme ist zwar bereits eine Entscheidung vorweggenommen: Amylion wird innerhalb von drei Jahren aussätzig werden, wenn er den Kampf aufnimmt; dies impliziert aber schon seinen Sieg, da er sonst in drei Jahren nicht mehr am Leben wäre. Gleichzeitig aber wird die Problematik dieses Textes verdeutlicht: Allein hier erscheint der Identitätentausch als explizite Motivation des Aussatzes und damit als zu bestrafende Handlung. Nichtsdestotrotz gewährt Gott Amylion den Sieg: Deutlicher _____________ 417 „Die zwei jungen Männer sammelten ihre Kraft und rannten beherzt gegeneinander an. [...] Schweiß floss und badete die starken Glieder; ihre Augen waren feurig; ihre Wangen gerötet. [...] So begegnen sich borstige Eber im Kampf in den weiten Marschen, allein mit Zähnen bewaffnet. Sie spucken Schaum aus ihren Mündern, fügen klaffende Wunden zu, reißen Schultern auf, verletzen haarige Rücken“ (nach Leach 1937/1990, S. 103). 418 Vgl. Ogle / Schullian 1933, V. 255-268. 419 Vgl. Fukui 1990, V. 595-667. 420 „Niemand auf dem Kampfplatz konnte beurteilen, welcher der bessere Ritter war.“ 421 Die Ambivalenz der Positionen wird in der Reaktion der Zuschauer nochmals deutlich: Les uns chaunterent, les autres plorerent (Fukui 1990, V. 677). („Die einen sangen, die anderen weinten.“)
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kann Gottes „legal dilemma“422 nicht sein. Zunächst wird der Kampf als gleichzeitige Aktion beschrieben, in dem die Einzelpositionen nicht herausgearbeitet werden (The knyghtes that were egre of syght / With fachons felle thei gon fyght, / And ferd as thei were wode, Le Saux 1993, st. 108, V. 1-3).423 Dann geht er in sukzessive Aktivitäten über. Amylions höfische Vollendung veranlasst ihn dazu, seinem zu Boden gegangenen Feind aufzuhelfen, nachdem er dessen Streitross getötet hat, und auf sein eigenes Pferd zu verzichten. Dieser Verhaltenscodex kann allerdings nicht verhindern, dass der Steward Amylion [i]n the scholder a grymely wounde (st. 111, V. 8)424 schlägt, die seine schöne weiße Rüstung mit Blut besudelt. An dieser Stelle ist eine Vorausdeutung auf die Funktion der Wunde als späteres Erkennungszeichen eingefügt, die neben der himmlischen Warnung die Freundschaftsbeweise narrationslogisch enger miteinander verknüpft, als dies in den anderen Amicus-Amelius-Texten der Fall ist.425 Die Wunde verweist neben der Warnung der himmlischen Stimme auf eine Schuld Amylions, die dieser durch die Körpersubstitution auf sich lädt: Dass Amylion einen körperlichen Schaden davonträgt, zeugt von seiner nicht schuldlosen Position. Das Rechtsverständnis manifestiert sich am Körper: Wird dieser in Mitleidenschaft gezogen, wird die Schuld offenbar. Obgleich Amylion mit dem Kampf selbst rechtliche Normen verletzt, gehört der Sieg im Gottesgerichtskampf ihm, als er den Steward mit einem Schlag, der ihm die Schulter bis zum Herz durchtrennt, tötet und ihm daraufhin auch noch den Kopf abschlägt. Trotz gestalterischer Ähnlichkeiten mit der Bearbeitung von Radulfus Tortarius und mit der anglonormannischen Verserzählung unterscheiden sich die Texte deutlich in der expliziten Zuweisung von Schuld: Während in den ersten beiden Texten die Ambivalenz der juristischen Positionen und damit die Fragwürdigkeit des Identitätentausches ausschließlich über die narrative Struktur und Symbolik des ausgedehnten Konflikts zwischen nahezu gleichen Kämpfern transportiert wird, formuliert letzterer Text ausdrücklich einen illegitimen Aspekt des Körperwechsels, der neben einer legitimen Sichtweise existiert, und der – einzig in diesem Text – die direkt benannte göttliche Bestrafung mit dem Aussatz nach sich zieht. Einer analogen Erzählstrategie bedient sich in modifizierter Weise auch Konrads Engelhard: Zunächst werden sukzessive Dietrichs und Ritschiers wâpenkleider (Reiffenstein 1982, V. 4681) und Gewandung beschrieben, die zwar verschiedene – von samîte blanc (V. 4688) und [von _____________ 422 Mickel 1985, S. 28. 423 „Die Ritter, die von furchterregendem Aussehen waren, gingen mit scharfen Krummschwertern im Kampf aufeinander los und benahmen sich, als seien sie von Sinnen.“ 424 „eine schreckliche Wunde in die Schulter“ 425 Vgl. Le Saux 1993, st. 111, V. 10-12.
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brûnîte] swarz (V. 4692f.) – Farben haben und so in der landläufigen Konnotierung bereits eine Wertung vornehmen. Dennoch gleichen sie sich in ihrer Schlichtheit.426 Zudem ruft sie die zu einem früheren Zeitpunkt erwähnten Kleiderfarben auf, die als einziges Unterscheidungsmerkmal zwischen Engelhard und Dietrich dienen.427 Ergänzt wird die Schilderung der Ausrüstung durch die ihrer Qualitäten, die wiederum eher die Gleichheit als die Unterschiedenheit beider Männer betont: Nicht nur Dietrich wird für sein herze (V. 4714) gepriesen, das aufgrund vorbildlicher Gesinnung den Schein seines halsberc (V. 4713) um ein Tausendfaches übertrifft, sondern auch Ritschiers herze (V. 4722) wird als kämpferisches gelobt und insgesamt erscheint er als ein helt ze manne (V. 4728). Seinen einzigen – freilich schwerwiegenden – Makel bildet sîn ungetriuwen art (V. 4724). Zudem werden die Rechtspositionen kurz dargelegt und ebenfalls als gleichberechtigt konturiert: Während Ritschier die wârheit (V. 4739) auf seiner Seite hat, ist sich Dietrich bewusst, dass er unschuldic (V. 4744) ist. Gleichzeitig wird jedoch Ritschier mit valschem muote (V. 4751) in Verbindung gebracht, Dietrich dagegen mit triuwe (V. 4750). Ist damit eine klare Differenzierung der Protagonisten vorgenommen, wird diese im anschließenden Kampf wieder verhüllt. Das agonale Paar wird vorwiegend als kämpfende Einheit, nicht aber als deutlich unterscheidbare Rivalen inszeniert. Stets ist von beiden gleichzeitig die Rede: diu swert begunden si zehant / zücken und roufen (V. 4830f.), oder: si tâten als der lewe tuot / swenn in der hunger twinget (V. 4838f.)428. Die Ritter sind gemeinsam in die martialischen Aktionen involviert, sie treten beständig gemeinsam auf, unterscheidende Handstreiche existieren nicht. Die Hitze lässt mit der Zeit gar die farbliche Unterscheidung verschwinden, denn fleckeht als ein hindenkalp / von sweize wart ir harnasch (V. 4868f.). Insgesamt dominiert eine Erzählstrategie der Entdifferenzierung, die die Helden einander annähert und unterscheidende Merkmale und Handlungen verwischt.429 Erst gegen Ende des Kampfes werden die Kämpfer deutlicher voneinander geschieden, als zunächst Ritschier Dietrich eine Seitenwunde schlägt und daraufhin seinen nachgetragenen, informellen Eid leistet. Daraufhin schlägt Dietrich Ritschier die linke Hand ab und entscheidet damit den _____________ 426 Vgl. den oben beschriebenen Verzicht auf höfischen Prunk, um Gottes Geneigtheit zu erreichen. 427 die zwêne knaben tugentrîch / ir ein dem andern ist gelîch, / wan daz si mit den kleiden / besunder sint gescheiden (Reiffenstein 1982, V. 1299-1302). Zu diesem früheren Zeitpunkt trägt Engelhard die Farbe fritschâle (V. 1304), Dietrich hingegen ein kleit von brûnîte (V. 1308). Dass Dietrichs vormals angelegter Stoff nun von Ritschier getragen wird, nähert Ritschier Dietrich an. 428 Insgesamt ist die Natur- und Engelsmetaphorik in der Zweikampfepisode des Engelhard auffällig. Zu letzterem vgl. Klinger / Winst 2003. 429 Vgl. Reiffenstein 1982, V. 4762-4904.
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Gottesgerichtskampf für sich.430 Selbst im unumgänglich differenzierenden Kampfesausgang strebt der Text eine Angleichung der Kämpfer an, indem Dietrich durch seine Verletzung dem verstümmelten Ritschier angenähert wird. Dies geschieht sowohl auf der leiblichen Ebene der versehrten Körper als auch auf der rechtlichen Ebene der Schuldzuweisung, wobei beide Ebenen miteinander verschränkt werden. Die Seitenwunde Dietrichs verweist auf einen Makel seiner Rechtsposition.431 Die einzige tatsächliche Differenzierung der Gegner wird zu Beginn des Kampfes vorgenommen, als den einzelnen Parteien triuwe und untriuwe zugeordnet werden.432 Dieses Begriffspaar ordnet die Kämpfer nach ihrer Zugehörigkeit zum Freundschaftsbündnis: Verweist der Terminus der triuwe generell auch auf andere mehr oder minder institutionell organisierte Bindungen, die bestimmte Verhaltensweisen erfordern, so ist seine Signifikanz im Engelhard sowie im gesamten Amicus-Amelius-Textkorpus auf die Freundschaft ausgerichtet. Bildet triuwe üblicherweise ein grundsätzliches „Prinzip, das den Zusammenhang des Personenverbandes garantieren sollte“,433 bezieht es sich hier ausschließlich auf die freundschaftlich organisierte Bindung. Nur in diesem Zusammenhang macht es Sinn, dass Ritschier der untriuwe bezichtigt wird: Er gehört zu keinerlei Freundespaar. Er ist ungetriuwe, weil er den Freunden mit Neid und Missgunst gegenübertritt. Seine von Beginn an negative Zeichnung bemängelt, dass er Engelhard und Dietrich Hass und Neid entgegenbringt,434 und später zorneclichen (V. 3284) Engelhard und Engeltrut verrät.435 Seine negative Einstellung den Gefährten gegenüber erscheint zwar aus der Perspektive des Textes als tadelnswert und verwerflich, rechtlich legitim ist sie aber allemal. Da ihn kein klar definiertes, rechtliches triuwe-Bündnis mit den Freunden verbindet, erscheint es nahezu logisch, den beobachteten Rechtsverstoß seinem Mutterbruder und Herrscher Fruote zu melden, mit dem ihn triuwe-Beziehungen verwandtschaftlicher und wohl auch herrschaftlich organisierter Art verbinden.436 Fruote gegenüber verhält er sich nicht ungetriuwe, sondern ermöglicht es ihm, die schanden (V. 3513) auszumerzen. Der Text verknüpft dies freilich mit einer negativen Wertung Ritschiers, da er _____________ 430 Vgl. Reiffenstein 1982, V. 4905-4960. 431 In den meisten Texten übersteht der kämpfende Gefährte den Kampf unversehrt. Eine Ausnahme bildet neben dem Engelhard die mittelenglische romance. 432 Vgl. Reiffenstein 1982, V. 4687, V. 4710 und V. 4726. 433 Müller 1998, S. 163. 434 Vgl. Reiffenstein 1982, V. 1662-1695. Von untriuwe wird in dieser Passage nicht gesprochen. 435 In dieser Sequenz (Reiffenstein 1982, V. 3276-3285 und V. 3474-3499) wird der ungetriuwe muot Ritschiers angesprochen. 436 Indem er auch Engeltrut in die Anklage verwickelt, schätzt er die (verwandtschaftliche) Bindung zu ihr als weniger wichtig ein als die zu Fruote.
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ihn nicht vorrangig aufgrund des Treuebündnisses zu Fruote so handeln lässt, sondern wegen seiner ablehnenden Haltung gegenüber dem Freundespaar. Dass eigentlich Engelhard hinsichtlich seiner rechtlichen Beziehung zu Fruote als ungetriuwe bezeichnet werden müsste, da er ein illegitimes minne spil (V. 3527) mit der Königstochter spielt, verschleiert der Text. Fruotes Reaktion auf Ritschiers Anklage alludiert zwar auf eine derartige Einschätzung, letztlich wird Engelhard selbst in dieser negativen Wertung sprachlich aber nur wieder mit triuwe in Verbindung gebracht.437 Diese Dimension im höfischen Beziehungsgeflecht wird im Weiteren jedoch geflissentlich ausgeblendet, nicht zuletzt weil Dietrich den Zweikampf austrägt.438 Da der Text einzig die freundschaftliche Bindung in den Blick nimmt,439 wird der Nicht-Freund Ritschier als ungetriuwe und deshalb letztlich als unterlegen gekennzeichnet. Dies gilt auch und vor allem für den Gottesgerichtskampf, in dem sich Gottes Präferenz für die freundschaftliche Bindung (triuwe) gegenüber der eingeräumten wârheit auf Seiten Ritschiers manifestiert. Dass auch Dietrichs Position rechtlich nicht eindeutig ist und er deshalb eine Wunde davonträgt, relativiert seine Überlegenheit zwar, stellt sie aber nicht grundsätzlich in Frage. Anders als etwa in der mittelenglischen romance wird Dietrich ausschließlich durch die Wunde belastet bzw. einer Schuld überführt, nicht aber durch einen ausdrücklichen göttlichen Bescheid. Stattdessen wird Ritschiers untriuwe als sein Mangel und tatsächlicher Grund seiner Niederlage herausgearbeitet. Der Unterschied zwischen Ritschier und Dietrich ist demzufolge je nach Perspektive einerseits sehr klein, da beide zunächst vorbildliche, dann verwundete Kämpfer sind, die sich kaum voneinander unterscheiden, und von denen jeder eine rechtliche Instanz auf seiner Seite hat (triuwe vs. wârheit). Im Deutungshorizont der Amicus-Amelius-Texte aber qualifiziert eine derartige Similarität Ritschier zum potentiellen Freund. Andererseits ist der Unterschied zwischen ihnen sehr groß, da Ritschier im Gegensatz zu Dietrich hinsichtlich triuwe und Freundschaft defizitär bleibt. Die Ambivalenz, die im Engelhard insbesondere in der Zweikampfszene erscheint, tritt in anderen Texten des Korpus offener hervor: Die mehr oder minder erfolgreichen Versuche des späteren Verräters, mit dem vereinzelten Freund zunächst ein Bündnis zu schließen, verknüpfen etwa in der mittelenglischen romance oder in der chanson de geste die Freundschafts_____________ 437 hât mir her Engelhart alsô / geswachet al mîn êre, / sô wil ich nimmer mêre / getriuwen keinem manne. / ûf wen sol ich mich danne / hôher triuwe hie versehen, / sît mir von dem ist leit geschehen / des ich ze guote nie vergaz? (Reiffenstein 1982, V. 3568-3575) 438 Ausgeblendet wird diese triuwe-Verletzung auch durch die Entlastungsstrategie der Minnekrankheit, die Engelhard quasi jeglicher intentioneller Schuld enthebt. 439 Diese wird im Engelhard zumindest temporär auf Engeltrut ausgedehnt. Vgl. dazu Kap. II.3.
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thematik direkt mit dem Gegenspieler. Dass letzterer entweder die eingegangene Beziehung bricht oder aufgrund seiner Zurückweisung dem Gefährten schadet, verdeutlicht zudem Ritschiers Position. Ritschier wird durch die narrativen Entdifferenzierungsstrategien in den Orbit der Freundschaft katapultiert, zugleich aber wegen seiner untriuwe als defizitär markiert. So entfaltet sich an seiner Figur die unumgängliche Situation des Dritten: Er muss notwendigerweise der Rivale sein, da das Freundschaftsmodell nur auf zwei sich spiegelnde Gefährten hin konzipiert ist. Dies spiegelt sich in seiner Stellung, die er in der Logik der Narration innehat. Jeglicher (männliche) Dritte bildet einen Störfaktor im exklusiven Freundschaftsmodell und kann hinsichtlich dieser Logik ausschließlich als Feind agieren.440 Insofern ist Rüdiger Schnell zuzustimmen, dass die „Funktion des Zweikampfs“441 sich zugunsten der Gegenüberstellung von triuwe und untriuwe verschiebt. Er argumentiert damit gegen die von Peter Kesting entwickelte These zweier unterschiedlicher Konzeptionen von Wahrheit, die einander gegenüberstünden. Die formaljuristische, faktische Wahrheit auf Seiten Ritschiers sei mithin minderwertiger als die auf triuwe beruhende rehtiu wârheit auf Seiten Engelhards.442 Kesting übersieht, dass die von ihm explizierte Wahrheit Engelhards nirgendwo unter Beweis gestellt wird, da nicht er es ist, der den Zweikampf besteht, sondern Dietrich. Folglich bezieht sich keiner seiner Belege auf den Zweikampf, womit die Argumentation letztlich im Sande verläuft. Immerhin identifiziert auch er die triuwe als grundsätzliches unterscheidendes Moment zwischen Ritschier und Dietrich.443 Schnell spricht sich gegen eine solche „Kontrastierung zweier unterschiedlicher Ebenen“ aus, siedelt aber nun seinerseits die rivalisierenden Konzepte von triuwe und untriuwe auf einer Ebene an, deren Existenz in diesem Zusammenhang zu bezweifeln ist, nämlich auf der „der moralischen Qualifikationen“.444 Dagegen ist aber zu betonen, dass es sich statt_____________ 440 In dieser Ausschließlichkeit trifft dies allerdings nur für gleichgeschlechtliche Beziehungen zu. In einigen Texten kann eine dritte Person – und zwar die Prinzessin – in die Beziehung eindringen. Vgl. dazu Kap. II.3. 441 Schnell 1984, S. 29. 442 Vgl. Kesting 1970, S. 250f. Ähnlich auch Göttert 1971, S. 156-162, der eine innere Wahrheit der triuwen einer objektiven Wahrheit der ungetriuwen gegenüberstellt und zudem eine Differenz zwischen äußerer Tat und innerer Gesinnung veranschlagt. 443 Bzw. Engelhard in Kestings Argumentation, was aber – wie gesagt – keinen Sinn macht. Nimmt man Kestings Argumentation ernst, ist es streng genommen Dietrich, der sich im Zweikampf der formalen Wahrheit bemächtigt: Dietrich ist schuldlos an dem Engelhard vorgeworfenen Vergehen und kann deshalb seinen Platz einnehmen, Ritschier aber bezichtigt ihn einer Unwahrheit, woraufhin er verlieren muss. 444 Beide Zitate in Schnell 1984, S. 28.
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dessen um Kategorien handelt, die in einem rechtlich organisierten, sozialen Zusammenhang stehen und an Vergesellschaftungsformen gekoppelt sind. Triuwe ist allererst ein rechtlich verbindlicher Verhaltensmaßstab gegenüber Bündnispartnern, gleich ob es sich bei diesen Beziehungen um verwandtschaftlich, herrschaftlich oder freundschaftlich organisierte Bindungen handelt. Wie bereits ausgeführt, perspektivieren die AmicusAmelius-Texte dieses umfassende Prinzip einzig auf die Kriegerfreundschaft hin, die als Treuebündnis absolute Priorität beansprucht. Bei einer Pflichtenkollision, zu der es infolge der Zugehörigkeit zu mehreren Bindungen kommen kann, wird demzufolge in diesem Textkorpus der Vorrang des Freundschaftsbundes demonstriert: Die Verpflichtung, dem Freund in einer Notsituation Hilfe zu leisten, hat höheren Wert als andere Bündnisse, weshalb Normen, die an andere Institutionen oder Bindungen gekoppelt sind, ohne zu zögern verletzt werden. Die Amicus-Amelius-Texte reflektieren die Aporien gesellschaftlicher Ordnung, wenn sie zum einen – dem narrativen Programm gemäß – die Dominanz des Freundschaftsmodells voraussetzen, zum anderen aber die sich daraus ergebenden Ambivalenzen mehr oder minder explizit diskutieren. Der Treuebruch gegenüber dem Dienstherren etwa wird in einigen Bearbeitungen zu einem großen Problem, so dass die Texte verschiedene Anstrengungen unternehmen, dieses abzuschwächen. Die von den Texten gelieferte Deutung und narrative Auflösung der Funktions- bzw. Wertungsprinzipien des konfliktträchtigen Zweikampfes funktioniert allein unter der Prämisse des Vorranges der Freundschaft gegenüber allen anderen Beziehungen und gegenüber dem Recht. Erkennt man den Vorrang der Freundschaft nicht an, muss man schließen, die Freundschaft beruhe auf Betrug. Die Texte suchen das gesetzte Prioritätsaxiom zu verschleiern, indem der Zweikampf gegen den Ankläger geführt wird, nicht aber gegen den Herrscher selbst, dessen êre ja vornehmlich geschädigt ist. Wie sich im nächsten Freundschaftsbeweis zeigen wird, werden auch verwandtschaftliche Bindungen radikal der Freundschaft untergeordnet, gleichzeitig wird dieses Vorgehen aber wieder an eine Verschleierungsstrategie geknüpft. Dass das Freundschaftsmodell favorisiert wird, wurde in der Engelhard-Forschung als Ausdruck eines gesellschaftlichen Wandels gelesen, nach dem historisch neuere, individualisierte, private Vergesellschaftungsformen und Normensysteme gegenüber überkommenen offiziellen, gesellschaftlichen Verpflichtungen präferiert werden.445 Übertragt man diese _____________ 445 So etwa Kesting 1970, S. 254, der die „Kraft der Gesellschaft“ hinter „der rehten wârheit des Einzelnen, vor dem Recht des vor sich und vor Gott habituell tugendhaften Individuums“ zurücktreten sieht. Ähnlich argumentiert Herzmann 1980, der „privates Wohl“ „‚objektiven‘“ Gesetzen gegenüberstellt und „alte[], gesellschaftsgebundene[] bzw. feudale[]“ Treue im Gegensatz zu „neue[r], ‚individualistische[r]‘“ Treue sieht (S. 397) und zuweilen von ei-
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Einschätzung auf das gesamte Amicus-Amelius-Textkorpus, ergeben sich indes zwei Probleme: Zum einen wird schlichtweg ausgeblendet, dass diese spezifische Konstellation verschieden bewerteter Bindungen und deren Kollision keine Eigenheit des Engelhard darstellt, sondern der gesamten Amicus-Amelius-Tradition bereits seit dem späten 11. Jahrhundert inhärent ist. Die These eines spezifischen historischen Wandels wird als Erklärung hinfällig, da allen Amicus-Amelius-Texten diese Erzähllogik zugrundeliegt. Zum anderen signifiziert die personale und emotionale Ebene der Freundschaft keineswegs – auch nicht im Engelhard – nur „die unverbrüchliche Treue einzelner, durch besondere Bindungen einander zugeordneter Individuen“.446 Dieser Ansatz übersieht die politische und öffentliche Effektivität des Freundschaftsbündnisses. Es ist untrennbar verbunden mit einer gesellschaftlich-politischen Dimension, die homosozialen Bündnissen insgesamt eignet. Freundschaft ist eine rechtlich wirksame Beziehung, die an Pflichten und Rechte geknüpft ist, die gleichzeitig aber auch – bzw. gerade deshalb – durch ein großes Ausmaß an Zuneigung gekennzeichnet ist. Das homosoziale Begehren, das sich in der Freundschaft besonders deutlich manifestiert, ist jedoch nicht nur in dieser Beziehungsform verankert: Auch gleichgeschlechtlichen Bindungen, die verwandtschaftlich oder vasallitisch strukturiert sind, haftet sowohl politische Wirksamkeit als auch personale Emotionalität an. Herrschaftliche Beziehungen etwa werden im Engelhard in der personalen Bindung an Fruote deutlich, die ganz und gar nicht mit der von der älteren Forschung konstatierten diffusen Gesellschaftlichkeit und Institutionalität hinreichend beschrieben ist. Auch diese Bindung – obgleich sie stärker institutionalisiert sein mag als die Freundschaft – ist an eine personale Ebene gekoppelt, an die konkrete Verbindung adliger Herren.447 Der Freundschaft eignet freilich verstärkt das Moment der Freiwilligkeit und Gleichwertigkeit: Der Freundschaftsbund in den Amicus-Amelius-Texten kennzeichnet Gleichheit, die sich in sichtbarer Ununterscheidbarkeit äußert, als zentrales Desideratum eines perfekten _____________ nem „neuen bürgerlichen Individualismus und Pragmatismus“ (S. 400) spricht. Zur Kritik an letzterem vgl. Cieslik 1998, S. 124 und 134. Cieslik geht insgesamt ebenfalls von der Trennung eines gesellschaftlichen und eines persönlichen Normensystems aus, konstatiert indes eine Parallelexistenz beider Systeme. – Koch 1999 geht von zwei verschiedenen Formen von triuwe im Engelhard aus: Die vertikale triuwe, deren Vertreter Ritschier ist, beziehe sich auf standesrechtliche Beziehungen, die eher rechtlich-verpflichtend wirken. Die horizontale triuwe, nach der die Freunde handeln, folge eher einer inneren Motivation und überwinde Standesschranken. Letztere Form der triuwe werde vom Text favorisiert. 446 Kokott 1989, S. 66. 447 Vgl. dazu Müller 1998, S. 112, der sich gegen „die Trennung in ‚private‘ und ‚öffentliche‘, ‚innere‘ und ‚äußere‘, ‚individuelle‘ und ‚soziale‘ Komponenten“ ausspricht, um eine „historisch argumentierende Anthropologie“ – hier für das Nibelungenlied – zu erarbeiten.
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Bündnisses. Aufgrund der Deutung der Gleichheit als Wesenszug des Freundschaftsmodells liegt ihr Einsatz zur Sicherung des Treuebündnisses nahe. Eine Körpersubstitution ist im Gleichheitskonzept quasi potentiell angelegt, der Identitätswechsel innerhalb einer gemeinsamen Identität erscheint naheliegend und gewissermaßen gerechtfertigt. Der gegen andere gerichtete Betrug wird innerhalb des idealisierten Freundschaftscodes als zulässiges, ja vorbildliches Verhalten gedeutet, mit dem die Treue innerhalb des Bündnisses erwiesen und anderen Treue- und Ehrvorstellungen übergeordnet wird. Zum Gottesurteil bleibt noch zu sagen, dass im Ausgang – meist wird der Verräter im Kampfgeschehen enthauptet – Beweismittel und Streitentscheidung einander angenähert werden, indem am Körper des Verlierers bereits während des Zweikampfs die endgültige Strafe vollzogen wird.448 Einzig im Engelhard wird der Kampf durch König Fruote abgebrochen, bevor es zum Tode Ritschiers kommt.449 Der Herrscher erkennt das im Kampf erwiesene Recht an, indem er dem Sieger seine Tochter als Braut anbietet.450 _____________ 448 In der zweiten Textgruppe wird in einer mittellangen (München, Cgm 523) und in drei minimalen hagiographischen Bearbeitungen (von Wackernagel ediertes Seelentrost-Exempel, Hannover I 239 und lateinisches Exempel) nichts Genaues über das Ende des Kampfes ausgesagt. Hier heißt es lediglich: Under des gewan Amicus den kamp (Wackernagel 1839, Sp. 983, Z. 38). Von der ersten Textgruppe ist es Lille 130, die nichts über den Tod Hardrés weiß, sondern lediglich den Sieg über ihn verzeichnet (Woledge 1939, S. 454). Radulfus Tortarius und die anglonormannische Verserzählung lassen den Verräter zwar sterben, allerdings nicht durch Enthauptung, sondern durch die schmerzvollere Variante durchtrennter Körperteile und Organe; vgl. Ogle / Schullian 1933, V. 255-262, und Fukui 1990, V. 664-676. In der mittelenglischen romance wird das Haupt des Stewards nach dem Kampf auf dem Speer getragen und Amylion in einer Prozession in die Stadt geleitet; vgl. Le Saux 1993, st. 113, V. 5-12. In der Historia septem sapientum wird Florentina der abgeschlagene Kopf des Widersachers präsentiert; vgl. etwa Roth 2004, S. 463, Z. 328-331, und Keller 1841, V. 8395-8402. In der chanson de geste und im Miracle wird Hardrés Leichnam zusätzlich geschändet: Im ersten Text wird von Karl angeordnet, dass er über die Felder geschleift werden soll, bis jegliche Gewandung von ihm abgefallen ist, danach soll der Kopf auf einem Pfahl ausgestellt werden, vgl. Dembowski 1987, L. 87. Im Miracle wird bestimmt, dass der Verräter aufgehängt wird, vgl. Paris / Robert 1879, V. 1111-1113. 449 Vgl. Reiffenstein 1982, V. 4954-4965. Als Grund für diesen Abbruch wird das verwandtschaftliche Verhältnis zwischen Fuote und Ritschier angeführt. 450 Dies geschieht oft bereits vor dem Kampf, wenn der König dem Freund – und nicht etwa Ardericus – seine Tochter in Aussicht stellt, falls er gewinnen sollte, so etwa in der elaborierten und der mittellangen Vitaversion: Cui Rex ait: Noli timere comes, quia si victor fueris, eandem filiam meam Belixendam pro vxore tibi tradam (mittellange Legende, Vincentius 1624/1965, cap. clxiiii, S. 957, Sp. 1). („Der König sagte zu ihm: Fürchte dich nicht, Graf, denn wenn du siegst, dann werde ich dir eben meine Tochter Belixenda zur Ehefrau geben.“) Einzig in der Historia septem sapientum passiert nichts dergleichen: Lodovicus kann Florentina erst nach dem Tode ihres Vaters heiraten und wird so zum Landesherrscher; vgl. etwa Roth 2004, S. 455, Z. 359f.
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Obgleich die literarische Gestaltung des Gottesurteilskampfes in den einzelnen Textgruppen differiert, kann man von einer allgemeinen Deutungstendenz ausgehen. Grundsätzlich steht die sehr verkürzte Erwähnung in der zweiten Textgruppe der eher ausführlichen Darstellung in den Texten der ersten Gruppe gegenüber, wobei beide Varianten ein Problembewusstsein der Texte hinsichtlich des manipulierten Gottesurteils transportieren: In der legendenhaften Textgruppe äußert es sich darin, dass eine detaillierte Besprechung des Kampfes vermieden wird und dass z.T. das gefährdete Seelenheil thematisiert wird. Die erste Textgruppe und die Grenzfälle inszenieren ähnliche Bedenken gerade durch die Ausdehnung des Zweikampfes, da die kämpferische Ebenbürtigkeit der Kontrahenten klare Rechtspositionen unterläuft. Körpersubstitution im Ehebett Die Körpersubstitution im Gottesgerichtskampf bildet nur einen Teil des Identitätentausches der Gefährten. Während einer der Freunde den Zweikampf bestreitet, befindet sich der andere sub specie Amici (elaborierte Vita, Kölbing 1884, S. cii, Z. 27) am Hofe und im Ehebett seines Freundes. In einigen Bearbeitungen hatte ihm sein Freund zuvor recht genaue Handlungsanweisungen hinsichtlich des Umgangs mit seiner Ehefrau gegeben. So verhängt Amicus in sämtlichen elaborierten und mittellangen Legendenbearbeitungen ein Beischlafverbot: vnd reit czw meinem weib hin dan, / doch soltu sey nicht ruern an (Andreas Kurzmann, Oettli 1986a, S. 160, V. 507f.). In der elaborierten Version überprüft Amicus, ob dieses Verbot eingehalten wird. Er kehrt zurück, um die Freundestreue in Augenschein zu nehmen: Amicus ex improviso rediit, volens experiri, si ei fidem de uxore sibi commissa servasset (Kölbing 1884, S. cii, Z. 35-37).451 Diese Kontrolle zeigt, in welchem Maß die Freundschaft durch Amelius’ vorangehenden Treuebruch beschädigt ist: Hatte er zuvor das Gebot seines Freundes missachtet und mit der Prinzessin geschlafen, kann Amicus nun nicht ohne Weiteres davon ausgehen, dass das Verbot bezüglich seiner Ehefrau eingehalten wird. Doch diese (erneute) Erprobung seiner Keuschheit besteht Amelius mit Bravour: Schon die Begrüßung der Ehefrau Obias, die herbeieilt, um ihn zu umarmen und zu küssen (Et la famme Ami [...] se le corrut enbracier _____________ 451 „Amicus kehrte unerwartet zurück, denn er wollte prüfen, ob Amelius das in ihn gesetzte Vertrauen in Bezug auf Amicus’ Ehefrau, die ihm anvertraut worden war, bestätigt hatte“ (nach Kuefler 2000, S. 450). – Von den zwei Fragmenten der von Rosenfeld edierten mittelhochdeutschen elaborierten Vita-Fassung aus dem 13. Jahrhundert beinhaltet eines die Szene des keuschen Beilagers. Auch hier kehrt Amicus zurück vnd wolt des vrivndes triwe besehen (Rosenfeld 1968, FI, S. 47, 29). – In der kymrischen Bearbeitung schickt Amic einen Boten, der die Treue begutachten soll; vgl. Williams 1982, Z. 373-375, und die Übersetzung von Gaidoz 1879/80, S. 222/223.
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qu’ele cuidoit que ce fust ses mariz, et le vosit bassier, elaborierte Vita, Moland / D’Hericault 1856, S. 55f.),452 schmettert er ab: Ganck van myr, want de zijt des schriens steyt nu an ind neit der vrauden (Berlin, Mgq 261, Oettli 1986a, S. 182, Z. 144f.). Der Keuschheitstest wird erschwert durch das Verhalten der Ehefrau, die körperliches Begehren nach ihrem vermeintlichen Mann zeigt und damit eine Form der Versuchung darstellt. Amelius’ abweisendes Verhalten steigert sich in der Nacht, als er ein trennendes Schwert zwischen sich und die Ehefrau des Freundes legt. Das Schwert repräsentiert keineswegs nur ein Zeichen symbolischer Trennung, Amelius verweist nachdrücklich auf seine tötende Funktion als Waffe: ne michi aliquo modo appropinques, quia statim hoc ense morieris (elaborierte Vita, Kölbing 1884, S. cii, Z. 34f.).453 Die Todesdrohung im Angesicht des Schwertes erscheint als einzig wirksames Mittel, die erforderliche körperliche Distanz zur Frau zu schaffen. Die Gefahr der Grenzüberschreitung wird in dieser Situation allerdings nicht an Amelius, sondern an die Ehefrau gekoppelt, die ihn für ihren Mann hält. Das trennende Schwert wird bis zur endgültigen Rückkehr des rechtmäßigen Gatten zum steten nächtlichen Begleiter der beiden. Die Seelentrost-Texte, die zu den legendenhaften Minimalbearbeitungen gehören, tilgen nicht nur das Beischlafverbot, sie ersetzen es, indem sie einen endgültigen Identitätentausch imaginieren, der durch den Tod bedingt ist. Nicht nur temporär soll Amelius bei Amicus’ Frau bleiben, im Falle einer Niederlage, so weist Amicus seinen Gefährten an, solle dieser seinen Platz für immer einnehmen: ryd to myner husfruwen vnde bliff bij er also lange, wente du vornympst, wu yd my gheghan is. [...] Werde ik geslagen in deme kampe, so beholt du mine husfruwen (Großer Seelentrost, Schmitt 1959, S. 230, Z. 3437).454 Innerhalb der Texte mit religiösem Sinnhorizont (Gruppe 2) ist demnach eine erneute grundsätzliche Abweichung bezüglich des Freundschaftsmodells zu verzeichnen: Erteilt Amicus in der elaborierten und mittellangen Version in dieser Sequenz bereits das zweite Enthaltsamkeitsgebot, mit dem nun erneut Amelius’ Qualitäten erprobt werden, ist _____________
452 „Und Amis Frau stürmte auf ihn zu, um ihn zu umarmen, denn sie dachte, dass dies ihr Ehemann sei, und sie wollte ihn küssen.“ 453 „Nähere dich mir nicht in irgendeiner Weise, denn sonst wirst du auf der Stelle durch dieses Schwert sterben“ (nach Kuefler 2000, S. 450). 454 Die Niederlage wird mit dem Tode gleichgesetzt, ansonsten würde diese Direktive keinen Sinn ergeben. In dem von Schmitt edierten Text wird Ardericus’ Niederlage entsprechend durch Enthauptung offenbar. Die anderen beiden Bearbeitungen in der Seelentrost-Tradition sagen ganz deutlich: Is dat ik sterue, so beholt se (Hannover I 239, Oettli 1986a, S. 145, Z. 53). Über den Ausgang des Kampfes hingegen wird nur gesagt, dass Amicus ihn gewinnt, nicht aber, dass Ardericus stirbt. – Die verbleibenden Minimalbearbeitungen (Hermann Korners Fassung, die mittelenglische Alphabet-of Tales-Fassung und das lateinische Exempel) wissen weder von einem Beischlafverbot noch von der vollständigen Überantwortung der Frau an den Freund.
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eine derartige Maßregelung des Gefährten den Seelentrost-Fassungen grundsätzlich fremd.455 In den erstgenannten Texten wird eine entscheidende Differenz zwischen den Freunden sichtbar, die den Zugriff auf Amicus’ Ehefrau reguliert. Gleichzeitig soll diese Verwehrungsgeste Amelius’ sexuelle Übergriffe gegen Frauen, die anderen Männern unterstehen, prinzipiell zügeln: Ist sein Normenverstoß mit Prinzessin Belixenda durch den Freundschaftscode noch zu bereinigen, wäre eine sexuelle Inbesitznahme der Freundesfrau untilgbar und für die Freundschaft destruktiv. Mit dieser Konstellation wird auch eine Aussage über die Wertigkeit der thematisierten Vergesellschaftungsformen getroffen: Der Treuebruch gegen den Herrscher kann durch das übergeordnete Treuebündnis der Freundschaft verborgen und letztlich ins Positive gewendet werden, da Amelius mit der Prinzessin einen großen Herrschaftsbereich und Besitztümer erhält.456 Die Ehefrau des Freundes bildet indes ein unüberschreitbares Tabu. Die Seelentrost-Gruppe hingegen deutet die Gleichheit und die gemeinsame Identität der Gefährten in einem sehr viel radikaleren Sinne: Im Identitätentausch wird die Ehefrau nicht vorenthalten, sondern – freilich nur im Todesfalle – als identitätsstiftender Teil von Amicus dem Freunde übereignet. Nichtsdestotrotz wird auch in den SeelentrostVariationen – sowie in der ebenfalls zu den Minimalbearbeitungen gehörenden mittelenglischen Alphabet-of-Tales-Fassung457 – ein keusches Beilager mit separierendem Schwert arrangiert.458 Der potentielle Übergriff geht hier gleichfalls von der Ehefrau aus: Vnd wen Amelius slapen gynck, so nam he syn swert vnd lede it twisschen em beiden vnde sprack to er: ‚Berorstu my er ik weet, wo id mynen leuen kumpane bysta, dat kostet dy dyn lif’ (Hannover, I 239, Oettli 1986a, S. 145, Z. 57-60). Aus der ersten Textgruppe kennt nur die Historia septem sapientum ein Beischlafverbot, formuliert es aber etwas anders als die hagiographischen Versionen. Während hier über das Berührungsverbot ein spezifischer _____________ 455 Schon bei der Abreise findet in den Seelentrost-Texten keinerlei Ermahnung statt. 456 Insofern ist die Aufsteigerthematik, wie sie etwa von Rohr 1999 für den Engelhard veranschlagt wird, bereits in jedem einzelnen Amicus-Amelius-Texte angelegt, da es immer zur Heirat der Herrschertochter kommt. In der elaborierten Vita und in der chanson de geste wird der Aufstieg allerdings zugunsten eines religiösen Endes abgebrochen. 457 Anders als in den meisten Texten wird im Alphabet of Tales die Ehebett-Episode erst nach dem gelungenen Zweikampf erzählt. Eine weitere Besonderheit bildet die Erzählstrategie, dass die Verweigerung einer innigen Begrüßung zwar direkt erzählt wird, das trennende Schwert und die damit verbundene Todesgefahr jedoch allein in den Erzählungen der Ehefrau den Nachbarn gegenüber auftaucht. Vgl. Macleod Banks 1904/05 / 1987, S. 39, Z. 2225. – Einzig das lateinische Exempel von den Texten mit religiösem Sinnhorizont erwähnt das keusche Beilager nicht. 458 In den Seelentrost-Fassungen findet sich anders als in der elaborierten und mittellangen Vitaversion keine Begrüßungsszene, bei der die Ehefrau ein erstes Mal zurückgewiesen wird.
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Umgang mit der Ehefrau verordnet wird, ist es dort die Aufforderung, dem Freund die Treue zu halten: Vnd wan du an das pett kumpst, so sich, das du mir getrewe seÿst (bairische Fassung, Roth 2008, S. 168, Z. 21f.). Obschon damit die gleiche Handlungsanweisung gegeben wird, ist die Fokussierung eine andere: Das Gebot bezieht sich eher darauf, die integre Freundesgemeinschaft zu bewahren, als ein illegitimes Geschlechterverhältnis zu unterbinden. Die Betonung liegt nicht auf Ehe und Keuschheit, deren Nichtanerkennung für die Freundschaft schädlich wäre, sondern auf dem exklusiven Männerbund, der nicht durch Vermischung nach außen verunreinigt werden soll.459 Die Konstellation in der Historia septem sapientum unterscheidet sich in noch einem weiteren wichtigen Punkt: Lodovicus muss nicht nur ein keusches Beilager einhalten, er muss die Tochter des Königs von Ägypten zuvor in Alexanders Namen heiraten.460 Von den anderen Texten der ersten Gruppe wissen Lille 130 und Radulfus Tortarius nichts vom Gebot einer sexuellen Einschränkung, inszenieren aber trotzdem das keusche Beilager mit trennendem Schwert.461 Die übrigen Texten wählen eine entgegengesetzte Argumentationsstrategie: In der anglonormannischen Verserzählung wird Amys gebeten, sich Amillyouns Frau gegenüber so zu verhalten [c]ome jeo memes iceo fuisse (Fukui 1990, V. 515).462 Die mittelenglische romance formuliert dies noch genauer; hier fordert Amylion seinen Freund explizit auf, mit der Landesherrin das Bett zu teilen: Lye with here abed anyght / Tyll y come agayn (Le Saux 1993, st. 93, V. 5f.).463 Auch in Konrads Text soll Engelhard neben den restlichen Herrscherpflichten die des Ehemannes übernehmen: dû solt an mîner stete sîn / und ligen zallen zîten / an mîner frouwen sîten (Reiffenstein 1982, V. 45024504). Engelhard weigert sich aber, dies zu tun (so hæte ich mîne zuht gespart _____________ 459 Nur die lateinische Gruppe IV formuliert anders: Sed in lecto serua michi fidem, ne tangas eam (München, UB, 2° Cod. ms. 672, Roth 2004, S. 647, Z. 167f.). („Aber im Bett halte mir die Treue, berühre sie nicht.“) Ein weiterer Unterschied der Texte dieser Gruppe besteht darin, dass kein trennendes Schwert erwähnt wird. 460 Dass es diesbezüglich Zweifel an der Legitimität der Ehe Alexanders geben könnte, da er selbst gar nicht an der öffentlichen Zeremonie teilgenommen hat, liegt nicht im Horizont des Textes. Immerhin führt Alexander den zweiten Bestandteil der Ehelichung – den Beischlaf – selbst aus. 461 In Lille 130 erfährt man davon allerdings erst später. Zunächst heißt es nur: Et demoura aveuques la contesse (Woledge 1939, S. 453). („Und er blieb bei der Gräfin.“) Erst nachdem Amiles den Zweikampf erfolgreich absolviert hat und sich wieder bei seiner Gemahlin befindet, wird in der Besorgnis seiner Frau ihre zweimonatige Abstinenz und das trennende Schwert offenbar: Sire, je sui toute esbahie de vostre senblant, quar il a bien deux mois que vous n’aprochastes de moi et qu’il ne fu nuit que vous ne meïssiés une espee toute nue entre vous et moi (S. 454). („Herr, ich bin völlig erschrocken wegen Eures Verhaltens, denn es sind nun schon zwei Monate, dass Ihr mir nicht berührt habt und dass Ihr nachts nicht ein bloßes Schwert zwischen Euch und mich gelegt habt.“) 462 „wie ich selbst es tun würde“ 463 „Lege dich nachts zu ihr ins Bett, bis ich wiederkomme.“
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/ und al mîn lop verhouwen, V. 4508f.). Dietrich ermutigt ihn, und spricht das Beischlafgebot erneut und sogar doppelt aus, denn nur so könne die wandelunge (V. 4525) der Freunde verborgenlich (V. 4524) bleiben: dâ von dû sicherlichen muost dich legen zuo der klâren und sô mit ir gebâren daz man wæne dû sîst ich. (V. 4520-4523)464
Außerdem ist Dietrich davon überzeugt, dass Engelhard ihm nie kein untriuwe (V. 4519) erweisen könnte.465 Da Dietrich auf das eheliche Beilager insistiert, wird es mit Nachdruck von der Vorstellung der untriuwe abgekoppelt: Dies heißt in diesem Zusammenhang, dass intimer Verkehr mit der Freundesfrau – anders als in den elaborierten und mittellangen legendenhaften Texten (Gruppe 2) – keinen Treuebruch darstellen würde. Tendenziell scheint das Gleiche für die mittelenglische romance und die anglonormannische Verserzählung zu gelten, auch wenn diese Thematik dort nicht weiter ausgeführt wird. Das nächtliche Beisammensein ist geboten, um den Identitätentausch der Freunde nicht auffliegen zu lassen. Nichtsdestotrotz legt auch in diesen Texten der Gefährte ein Schwert zwischen sich und die Ehefrau des Freundes. Im Engelhard garantiert das swert blôz unde bar (V. 4569), dass: sîn lîp von hôher art geborn beruorte nie durch minne die werden herzoginne, und lac ir doch vil nâhe bi. (V. 4576-4579)
Von den Grenzfällen besitzt das Miracle kein gemeinsames Beilager von Freund und Ehefrau und demzufolge weder ein Beischlafgebot noch verbot.466 In der chanson de geste verbietet Ami sogar zweimal sexuelle Handlungen mit Lubias: In Anwesenheit seines Freundes imaginiert Ami, wie Lubias sich Amile unter dem Pinienbaum und im Schlafgemach anbie_____________ 464 Vgl. auch Reiffenstein 1982, V. 4514f. 465 dîn herze in dînem lîbe / vor schanden ist so lûter / daz dû, geselle trûter, / mir nie kein untriuwe tuost (Reiffenstein 1982, V. 4516-4519). 466 Amis und Amiles treffen sich auf halbem Wege und Amiles nimmt nicht am Freundeshof den Platz seines Gefährten ein, sondern wartet an Ort und Stelle auf ihn. – Von den religiös deutenden Texten hat als einziger das lateinische Exempel kein keusches Beilager. Hier begibt sich Amelius zwar an den Hof des Freundes, was dort passiert, wird aber nicht genauer ausgeführt; vgl. Klapper 1914, S. 340. Auffällig ist indes die Formulierung Amicus fidelis existens Amelium reuocauit (S. 340, 7f.) („Amicus bleibt seinem Freunde treu, ruft Amelius zurück“, Klapper 1914, S. 140), die sich auf den Zweikämpfer bezieht und hier offenbar die Möglichkeit andeutet, dieser könnte die errungene Prinzessin und Position für sich behalten, was er aufgrund der Treue aber nicht tut.
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ten wird.467 Ami verlangt von Amile mit jeweils fast den gleichen Worten, seine Gattin abzulehnen: Sire compains, et voz le refuséz (Dembowski 1987, V. 1089).468 Dieses Verhalten verknüpft er mit der gegenseitigen Handlungsmaßgabe der Freundestreue: Biaus chiers compains, bonne foi me portéz / Et voz ramembre de la grant loiauté, / Que li uns l’autre se doit bien foi porter (V. 1090-1092).469 Eine Auffälligkeit dieses Textes ist es, dass diese Anweisung mit einer weiteren verquickt wird: Die körperliche Misshandlung Lubias’ erscheint Ami als absolut notwenig, um sie zu bändigen: S’elle voz dist orgoil ne faussetéz, / Hauciéz le paume et el chief l’an feréz (V. 1068f.).470 Diese Anweisungen beherzigt Amile unverzüglich: Kaum ist er unter dem Pinienbaum angekommen, will er sich nicht von Lubias sein Schwert abnehmen lassen. Als sie ihn daraufhin schmäht, schlägt er sie auf die Nase.471 Da sein Gefolge eingreift, können weitere Gewalttätigkeiten verhindert werden. Auch nachts erwehrt sich Amile ihrer – wenn auch mit Mühe – erfolgreich. Mit Ausnahme zweier Texte – des Miracles und des lateinischen Exempels – erzählen alle Amicus-Amelius-Texte vom keuschen Beilager mit trennendem Schwert als Komplement zur Körpersubstitution im Zweikampf. Anders als in der Minnegrotte-Szene in Gottfrieds Tristan, in der das trennende Schwert die Liebenden nur momentan separiert und für den Beobachter Marke die tatsächliche Konstellation verschleiert,472 existiert in den Amicus-Amelius-Texten keine hermeneutische Ambivalenz des trennenden Schwertes. „It is quite clearly a barrier to intercourse, and a mark of hostility.“473 Das trennende Schwert ist als Garantie und als Symbol für den erfolgreich vermiedenen Körperkontakt zu lesen. Dieses Schwert korrespondiert mit dem Schwert des Freundes: Im komplementären Freundschaftstest setzt ein jeder der Gefährten sein Schwert ein und konstituiert so eine Verbindung zum jeweiligen Freund. Damit wird neben dem konkreten Verweis auf Gewalt und Tod die adlige Identität der Gefährten und ihre Kriegerfreundschaft hervorgehoben.474 Während der _____________ 467 Vgl. Dembowski 1987, V. 1066 und V. 1088. 468 „Herr Freund, weist sie zurück.“ – Siehe auch Dembowski 1987, V. 1067. 469 „Schöner lieber Freund, erweist mir aufrichtige Treue und vergesst nicht das große Versprechen, dass einer dem anderen Treue leisten soll.“ 470 „Wenn sie hochfahrend und böse wird, hebt Eure Hand und schlagt sie ins Gesicht“ (nach Vielhauer 1979, S. 56). 471 Vgl. Dembowski 1987, L. 62. Vielhauer 1979, S. 56, übersetzt etwas anders. Vgl. dagegen aber Blanchard / Quereuil 1985, L. 62, S. 36, und Rosenberg / Danon 1996, L. 62, S. 64. 472 Vgl. Tristan, V. 17394-17658. Zur literarischen Verbreitung des Motivs des trennenden Schwertes vgl. etwa Leach 1937/1990, S. xliii-xlviii. 473 Kay 1995, S. 237. 474 Witthöft 2005 beschreibt die Funktion des Schwertes in den Beischlafepisoden im Engelhard als „Vertrauensgenerator“, „denn es zeigt materiell etwas an, dessen sich beide nicht
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unschuldige Gefährte mit dem Schwert sein Leben und die Ehre des Freundes verteidigt, bewahrt der schuldig gewordene Freund seinerseits mit dem Schwert, allerdings ohne es direkt als Waffe einzusetzen, die Ehre des Freundes und die Freundschaftstreue. Transportiert das Schwert in dieser Szene die Bedeutung des Verbots, so enthält es zusätzlich „an obvious reference to combat and knighthood; to the world [...] of the male companionship“.475 So werden die so unterschiedlich erscheinenden Komponenten des ersten Freundschaftstests miteinander verbunden. In der Forschung ist verschiedentlich auf die phallische Bedeutung des Schwertes hingewiesen worden. William Calin beschreibt es gleichzeitig als Symbol von „authority and masculinity“ und als „castration instrument, applicable to both husband and wife, used to enforce continence in marriage.“476 Diese Bedeutung des Schwertes verortet er in einer Gesamtinterpretation der chanson de geste innerhalb christlicher Deutungsmuster: „The sword would then serve as a willed obstacle to sensual indulgence“.477 Eine derartige Gleichsetzung von Kastration und sexueller Enthaltung ist für die Amicus-Amelius-Texte jedoch unzulässig. Sarah Kay hat ebenfalls mit Bezug auf die chanson de geste richtig bemerkt, dass selbst – und gerade – in der Askese ein männlich markiertes Handlungsmuster vorliegt: „[M]asculine potency is evoked not as sexual activity but as its proscription.“478 Stimmt dieses Deutungsmuster für die chanson de geste durchgängig, da die sexuelle Aktivität, die Identitätsbedrohung und Ehrverlust erst initiierte, von Belissant ausging, ist dieses Verhaltensprogramm zumindest in den religiös deutenden Texten nur teilweise durchgehalten, da das Verbot in der ersten zwischengeschlechtlichen Begegnung (zwischen Amelius und Prinzessin Belixenda) nicht wirkt und Amelius gerade durch den sexuellen Übergriff gekennzeichnet ist. All diese Ambivalenzen verweisen auf die zweideutigen Signifizierungen des Schwertes: „[I]t is both phallic, and a denial of phallic activity, both a mark of solidarity [...] and a threat of violence.“479 Insgesamt ist eine phallische Interpretation von mittelalterlichen Schwertern grundsätzlich zu hinterfragen: Das vormoderne Schwert bildet kein phallisches Symbol, sondern bedeutet ganz konkret männliche Macht, da nur der männliche Adel Waffenrecht besitzt. Mit dem Schwert werden jeweils auf spezifisch männliche Weise Ansprü_____________
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sicher sein konnten“ (S. 400). Diese Deutung bezieht sich darauf, dass beide Ehefrauen ihre Männer später nach dem Schwert fragen und so das jeweilige keusche Verhalten des Freundes für den Gefährten offenbar wird. Kay 1990, S. 137. Calin 1966, S. 110. Calin 1966, S. 110. Kay 1990, S. 137. Kay 1995, S. 239.
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che durchgesetzt: Gleich ob im Kampf mit tatsächlicher oder im Ehebett mit angedrohter Gewalt, gleich ob mit ungedämpften oder gezügelten Affekten werden männliche Handlungsspielräume in je unterschiedlichen Modi durch das Schwert definiert. In den verschiedenen Amicus-Amelius-Bearbeitungen werden divergierende Deutungen des potentiellen Beischlafs mit der Freundesfrau herangezogen, die von absoluter Verweigerung in den religiös deutenden Texten (Gruppe 2) bis zur denkbaren Duldung in einigen adlig deutenden Texten (Gruppe 1) reichen. Gleichwohl ist das keusche Beilager stets die präferierte Variante des Umgangs mit der Ehefrau. Christiane Witthöft hat darauf hingewiesen, dass die beiden Formen der Stellvertretung des einen Freundes durch seinen Gefährten unterschiedlich funktionieren: Während der Zweikämpfer „zum vollständigen Substitut“480 seines Kameraden wird, an dessen Stelle er kämpft, beweist das Schwert im Bett, dass gerade keine vollständige Substitution des Gefährten vorgenommen wurde. Die in den Amicus-Amelius-Texten zelebrierte Similarität der Freunde lädt zu der Frage ein, ob ein auf nahezu absoluter Gleichheit gegründetes Bündnis nicht noch verstärkt werden könnte, wenn die Ehefrau(en) geteilt würde(n).481 Diese Möglichkeit schließen die Texte aus, allerdings aus unterschiedlichen Gründen. Grundsätzlich trägt diese Episode eine Komponente von Askese in sich: Da einer der Freunde sich des Übergriffs auf die Prinzessin schuldig gemacht hat, muss er in einer konkreten Situation der Versuchung Keuschheit demonstrieren. Dies gilt insbesondere für die Texte mit religiösem Sinnzusammenhang, die Amelius’ erzwungenen Geschlechtsakt mit der Prinzessin als destruktiv für den Freundschaftsbund begreifen.482 Ist das Männerbündnis dort durch einen zwischengeschlechtlichen sexuellen Akt in Mitleidenschaft gezogen worden, wird es nun durch den Verzicht auf einen derartigen Akt erneuert. Dieser nichtöffentliche Entsagungsdiskurs geht einher mit dem öffentlich bewiesenen Dementi der ersten sexuellen Handlung im Gottesgerichtskampf. Ambivalent bleibt indes die komplexe Handlungsdynamik, die letztlich die Normenübertretung als Auslöser sozialen Aufstiegs kennzeichnet. In der zweiten Textgruppe ist dieser Verstoß ganz explizit an das Freundschaftsbündnis gekoppelt, das es zu erneuern gilt. Aus dieser Perspektive idealisiert die Geschichte die Freundschaft als identitätssteigernde Verbindung, markiert _____________ 480 Witthöft 2005, S. 395. 481 Vgl. zu dieser Möglichkeit Leachs Ausführungen zur historischen Institution der Schwurbrüderschaft: „The brotherhood involves community of possessions and often sharing of wives“ (Leach 1937/1990, S. lxviii). 482 Der Treuebruch gegen den Herrscher wird in diesen Texten ebenso ausgeblendet wie der unangemessene, gewaltsame Umgang mit der Prinzessin.
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aber gleichzeitig die Anfälligkeit selbst dieser Bindung, durch unangemessenes Verhalten zerstört zu werden. Anders verhält es sich in der ersten Textgruppe, in der die Freundschaft als unanfechtbares Vergesellschaftungsmodell selbst den Beischlaf mit der Ehefrau bestehen würde, diesen sogar nahelegt. Trotzdem scheint die inhärente Vorstellung zu siegen, dass die Freunde zwei klar voneinander geschiedenen Dynastien angehören, deren Blutlinien nicht miteinander vermischt werden.483 Zudem werden mit dem keuschen Beilager soziale Institutionen und Abhängigkeitsverhältnisse endgültig anerkannt: Die illegitime Beziehung zur Prinzessin verletzt nicht nur das Verhältnis zum Herrscher bzw. zum Freund, sondern missachtet insgesamt die Dominanzstruktur der Feudalgesellschaft, da der Gefährte sich eine Frau aneignet, die einem anderen Mann zugehörig ist. In der Episode des trennenden Schwerts demonstriert der Freund nunmehr, dass er derartige Sozialstrukturen achtet.484 Gleich, ob das keusche Beilager nun als erfolgreiche Askese-Übung, Anerkennung eines die Freundschaft überschreitenden Beziehungsgeflechts oder als Scheidelinie zwischen getrennten adligen Geschlechtern zu deuten ist, es stellt immer eine unüberschreitbare Grenze im Identitätentausch dar, die die Vorstellung einer gemeinsamen Identität der Freunde limitiert.485 In einigen Texten findet sich nicht nur eine einzelne Passage mit keuschem Beilager: In der anglonormannischen Verserzählung, in Konrads Engelhard und in Lille 130 wird die Szene verdoppelt, indem der Zweikämpfer ebenfalls Abstand wahren muss, und zwar zur neuen Ehefrau, die er gerade für seinen Freund erworben hat.486 Unmittelbar nach dem _____________ 483 Umgekehrt scheint in der chanson de geste eine Vorstellung von Verwandtschaft auf, als Belissant zu Ami sagt: com charnex amis, / Par voz sui honoree (Dembowski 1987, V. 1967f.) („Ihr seid wie ein Blusverwandter, ich weiß, dass ihr mich ehrt“, Vielhauer 1979, S. 75). Wenn also die Bindungen zwischen Ehefrau und Gefährten des Ehemannes mit einer verwandtschaftlichen Verbindung parallelisiert werden, dann wäre dies ebenfalls ein Grund, von sexuellen Aktivitäten abzusehen. Allerdings ist zu beachten, dass nicht mit Belissant, sondern mit Lubias das keusche Beilager gehalten wird. 484 Vgl. auch Kay 1990, S. 137. 485 Vgl. weiter Kap. II.3.2 486 Unklar bleibt die Situation im Gedicht von Andreas Kurzmann: Auf das Ehe-Angebot des Herrschers antwortet Amicus positiv, besteht aber darauf, dass der die Ehe mitkonstituierende Geschlechtsakt aufgeschoben wird. Im Anschluss wird nicht deutlich, ob die Hochzeit deshalb nun ganz aufgeschoben wird und Amicus sofort losreitet, oder ob tatsächlich ein keusches Beilager stattgefunden hat. Vgl. Oettli 1986a, S. 163, V. 626-632. In den meisten anderen Texten wird dem Zweikämpfer die Prinzessin zwar in Aussicht gestellt, eine Hochzeit findet jedoch erst mit dem ‚richtigen‘ Mann statt, nachdem dieser an den Karlshof zurückgekehrt ist. In der chanson de geste und im Miracle findet keine Heirat, sondern ein Verlöbnis statt: Ami muss schwören, die Prinzessin zur Frau zu nehmen. In der Historia septem sapientum ist die Heirat nicht an den Sieg im Zweikampf geknüpft: Lodovicus heiratet Florentina erst nach dem Tode des Kaisers. In diesem Text weiß Florentina außerdem um
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Zweikampf ist dem Freund – in der Annahme, es sei sein Gefährte – die Herrschertochter zur Frau gegeben worden. Nachts soll dieses Bündnis auch im Ehebett legitimiert werden. Der Zweikämpfer entzieht sich dieser Verpflichtung und teilt nunmehr ein ausschließlich keusches Beilager mit der neuen Ehefrau seines Gefährten. In der anglonormannischen Verserzählung und in Lille 130 wird allerdings kein Schwert erwähnt: In jenem Text erwidert Amillyoun Flories Liebkosungen nicht. Er erklärt: Jeo ne suy pas celi qe vous quidez (Fukui 1990, V. 751).487 In Lille 130 muss als Ausrede eine Pilgerreise nach Saint Jaque en Galisse (Woledge 1939, S. 454), die noch vor dem nächsten Geschlechtsverkehr durchgeführt werden muss, herhalten. Das keusche Beilager dieses Freundes muss offenbar nicht vom unanzweifelbaren Symbol des Schwertes beglaubigt werden. Der Engelhard ist der einzige Text, der die Parallelepisode um ein Schwert ergänzt und zudem noch kommentiert. der fürste wol geborn [= Dietrich] leite ein swert enzwischen sich und daz wîp vil wünneclich swenn er bî ir nahtes lac. des selben sîn geselle pflac mit sîner frouwen lîbe. bî des andern wîbe lac enweder under in. ir stæte gap in kiuschen sin alsô daz an den frouwen geselleschaft verhouwen noch ir triuwe niht enwart. (Reiffenstein 1982, V. 5010-5021)
Durch diese Erzählstrategie wird nochmals die Grenze des ehefräulichen Leibes markiert, deren Überschreitung geselleschaft und triuwe gefährden würde. Zudem wird deutlich, dass der Identitätswechsel – und damit die absolute Gleichheit der Freunde – ein eingeschränkter ist. Gleichzeitig werden die Freunde durch die Parallelisierung der Szenen einander weiter angenähert und ihre Gleichheit durch gleiche Handlungsmuster mit gleichem Ergebnis gesteigert. Doch auch in den Texten, die keine derartige Zusatzstrategie aufweisen, mit der Gleichheit konstituiert wird, dient dieser Freundschaftstest, _____________ die jeweilige Identität der Freunde: Sie ist die einzige, die sie unterscheiden kann. Die Gefahr eines unkeuschen Beilagers entstünde in dieser Konstellation nicht aus dem Unwissen der Herrschertochter. 487 „Ich bin nicht der, für den Ihr mich haltet.“ – Die Hs. C weicht an dieser Stelle beträchtlich ab: Amillyoun offenbart nicht nur seine wahre Identität, sondern führt zudem noch in einem misogynen Exkurs aus, dass es bedenklich sei, eine Frau wegen ihrer Geschwätzigkeit zur Mitwisserin eines Geheimnisses zu machen; vgl. Kölbing 1884, S. 158f., Hs. C, V. 1-70.
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der die Körpersubstitution im Zweikampf komplementiert, zur weiteren Verstärkung der Gleichheit der Gefährten. In allen Texten wird nachdrücklich betont, dass die Ähnlichkeit der Gefährten so ausgeprägt ist, dass selbst die Ehefrau den Austausch nicht wahrnimmt: se entfenck ene [= Amelius] vor eren man Amicus, wente alles dinges he so geschapen was (Oettli 1986a, S. 145, Z. 55f.), heißt es etwa in der zu den Seelentrost-Texten gehörenden Hs. Hannover I 239; noch ausführlicher beschreibt die anglonormannische Verserzählung bei diesem Anlass die Ununterscheidbarkeit der Freunde: E la dame, quant li [ = Amys] veu aveit, Qe Amillioun fuit bien quideit. Les deuz furent issi d’un senblant Ne crerreit home ja si parcevant Qe l’un de l’autre sout deviser. (Fukui 1990, V. 531-535)488
Mit den sich ergänzenden Freundschaftsleistungen, die den ersten Test des Bündnisses bilden, wird explizit nochmals fast komplette Ununterscheidbarkeit demonstriert. Die jeweilige Substitution des Gleichen beruht auf körperlicher Übereinstimmung, das Gelingen der Körpersubstitution bestätigt und erzeugt erneut Gleichheit und stellt sie als Konstituens dieses spezifischen Freundschaftsmodells heraus. Zugleich findet der Identitätentausch in der Dimension der Heimlichkeit statt, die in diesem ersten Teil der probatio-Phase als weiteres grundlegendes Moment der Freundschaft etabliert und mit einem exklusiven Wissen assoziiert wird: Disse dinge verhêlten Amicus und Amelius under ine, daß iß niemants wuste (Seelentrost, Wackernagel 1839, Sp. 984, Z. 6-8). So sehr dieser erste Teil der probatio die Ähnlichkeit der Gefährten zelebriert, kann dies doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Identitätswechsel ausschließlich vor dem Hintergrund einer Differenz erforderlich wird: Der Rechtsübertritt des am Herrscherhof verbliebenen Freundes etabliert einen Gegensatz zwischen den Kameraden, der auf der Zuordnung von Schuld und Unschuld, Recht und Unrecht basiert. Durch den heimlichen Austausch der Freunde wird der schuldige Freund offiziell rehabilitiert, so dass die gegensätzlichen Positionen ausgeglichen und die Freunde einander wieder angenähert werden. Die Angleichung geschieht ebenso auf der heimlichen Ebene, indem der helfende Freund nun seinerseits gegen Normen verstößt, da er die Regeln des Gottesurteilskampfes umgeht: Die Verähnlichung der Freunde wird demnach auch darüber befördert, dass beide jeweils soziale Normen übertreten. Öffentliche Wie_____________ 488 „Und als die Dame ihn sah, dachte sie, dass es Amillyoun sei. Die beiden ähnelten sich so sehr, dass kein noch so kluger Mann glaubte, den einen vom anderen unterscheiden zu können.“
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derherstellung sozialen Ansehens und heimliche Regelverstöße bedingen einander gegenseitig, aber nur die erste Dimension ist der allgemeinen Wahrnehmung im Textuniversum zugänglich. Betrachtet man ausschließlich die öffentliche Dimension adliger Identität, in der sich Herrschaft durch unmittelbaren Nachweis körperlicher Gewaltfähigkeit jeweils neu konstituiert, so geschieht dies in ganz buchstäblichem Sinne, da Amicus als und für Amelius mit überlegener Gewalt Frau und Herrschaft erwirbt. Zugleich vermitteln die Amicus-Amelius-Texte eine Normübertretung der Gefährten, die in der Sphäre der Heimlichkeit verbleibt: Nach der öffentlichen Restauration der beschädigten Ehre des einen durch den anderen Freund erfolgt zwar gewissermaßen ein verschobener Ausgleich auf der heimlichen Ebene, indem das keusche Beilager geteilt wird und der erste, schuldige Freund den Rechtsverstoß gleichsam tilgt. Zudem wird die sexuelle Inbesitznahme der Herrschertochter nachträglich durch die Heirat legitimiert. Nichtsdestotrotz bleibt ein Bruch im Ehr- und Schuldgefüge bestehen, der durch die Manipulation des Gottesurteils durch den anderen Freund gespiegelt wird. Diese Kluft kann freilich von niemandem – außer dem Freundespaar selbst – bemerkt werden.489 Für die Ausbildung adliger, herrschaftlicher, öffentlicher Identität scheint dies ohne Belang zu sein. Hinsichtlich der Freundschaftskonzeption, die mit einer heimlichen Sphäre ausgestattet ist, können die letztlich nicht gesühnten Verstöße nur bedeuten, dass sie grundsätzlich nicht relevant sind. Bedeutsam werden sie nur in ihrer Funktion als Bedrohung des Freundespaares: Ist diese Gefahr abgewendet, werden sie unwesentlich. Radikal formuliert, erscheinen die parallelen Übertretungen geradezu als Basis des Freundschaftsmodells in den Amicus-Amelius-Texten: Sie bilden die Grundlage, auf der sich die Überlegenheit des Freundschaftsbündnisses im konkreten Nachweis manifestiert. In letzter Konsequenz muss dies heißen, dass auf den gesellschaftlichen Kontext gerichtete tugent und êre der Gefährten zweitrangig, allein Gleichheit und Freundestreue hingegen konstitutive Merkmale der Kriegerfreundschaft sind. Ununterscheidbare Schönheit und sich darin manifestierender Adel der Gefährten werden entkoppelt von entsprechender Vorbildlichkeit, die durch den Rekurs auf sozialer Regeln und Werte entsteht. Die ambivalente Position der Freunde hinsichtlich sozialer Normen wird überblendet von der triuwe, die das zentrale Verhaltensprogramm des Freundschaftsbundes bildet: Diese triuwe-Konzeption ist gänzlich auf die Freundschaft fixiert und lässt andere Treuebindungen verblassen, insofern besitzt triuwe „eine Potenz, die auch soziale Regeln außer Kraft zu setzen vermag.“490 _____________
489 „Insofern umgeht das Erzählte die Frage nach Schuld im rechtlichen Sinn“ (von Bloh 1998, S. 329). 490 Von Bloh 1998, S. 325.
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Auf der Ebene der Freundschaft können auch tugent und êre als grundlegende Bausteine adliger Identität wieder eingeführt werden, wenn sie auch ausschließlich auf das Freundschaftsmodell ausgerichtet sind.491 Insofern existieren in der Tat zwei verschiedene Normensysteme, die laut Cieslik beide „in ihrer Existenzberechtigung und Gültigkeit anerkannt werden“,492 allerdings „jeweils einen anderen Gültigkeitsbereich haben.“493 Diese sind indes nicht klar voneinander getrennt und können einander überlagern, so dass der Gottesgerichtskampf als offizielle Institution zwar anerkannt wird, mit der Körpersubstitution aber zugunsten der Freundschaft heimlich unterlaufen wird. Die Freundschaftsbindung demonstriert so nochmals ihren Anspruch auf Exklusivität und Priorität gegenüber anderen Bindungen und Einrichtungen. Ihre Rolle als Vergesellschaftungsmodell hinsichtlich der Mitorganisation sozialer Strukturen erscheint daher ambivalent. So beschreibt Ute von Bloh für den Engelhard die „ordnungsgefährdenden Elemente[]“ durch eine „Verabsolutierung von Liebe und Freundtschafft“: Neben der Preisgabe anderer Bindungen reflektiert sie „[e]minent gesellschaftsfeindliche Antriebe, die unter Ausschluß der Öffentlichkeit und im Schutz einer unverbrüchlichen Treue ausagiert werden“.494 In diesem Zusammenhang, so argumentiert von Bloh, „geraten [Liebe und Freundtschafft], unabhängig von der kollektiven Wertordnung, zu öffentlichkeitsabgewandten Bindungen.“495 Der heimliche Bereich aber, der die Freundschaft mitorganisiert, hebt keineswegs auf die soziale Isolation der Beziehung ab: Das Freundschaftsmodell differenziert über seine spezifische Struktur von Gleichheit und Verhaltenscodex neben einer öffentlichen Ebene eine heimliche aus, und erweist sich dadurch gegenüber anderen Beziehungen als überlegen. Die Exklusivität des Wissens generiert einen Vorteil, der den begangenen Rechtsübertritt ausmerzen kann. Obgleich das „destruktive[] Potential einer unverbrüchlichen Treue“496 in den Texten aufscheint, bewirkt die _____________ 491 Calin 1966, S. 87, bemerkt diese unterschiedlichen Ebenen nicht und unterstellt stattdessen eine unhinterfragbare Vortrefflichkeit des Helden, die auch von seinen Handlungen nicht in Mitleidenschaft gezogen wird bzw. seine Handlungen aufwertet: „Although in both stories [e.g. in the Tristan romances and in Ami et Amile] the heroes commit acts repugnant to society’s commonly accepted standards, the very notion of ethics is transformed. Rather than that the hero be considererd good because he conforms to given standards, his actions are proved good simply because it is he who commits them. In other words, right and wrong are determined not with reference to a moral code but by the hero himself, who embodies the secret desires and aspirations of society.“ 492 Cieslik 1998, S. 132. 493 Cieslik 1998, S. 133. 494 Von Bloh 1998, S. 328. 495 Von Bloh 1998, S. 329. 496 Von Bloh 2005, S. 358. Vgl. näher zum destruktiven Potential Kap. II.
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Körpersubstitution für den ursprünglichen Regelverletzer nicht nur den Ausgleich beschädigter Identität, sondern zudem Herrschaftserwerb. In diesen Folgen manifestiert sich gerade keine Abwendung von der Gesellschaft: ‚Gesellschaftlichkeit‘ wird nachgerade durch die Freundschaft konstituiert, da sie es ist, die (öffentliche) vorbildliche Identität und Herrschaft stiftet. Allerdings beruht diese Form sozialen Zusammenhalts auf innerfreundschaftlichen Geheimnissen: Alle desse dingk de weren so hemelijk, dat yd nement wiste wan se twe allene (Großer Seelentrost, Schmitt 1959, S. 231, Z. 12f.).497 Nachdem der Identitätentausch erfolgreich durchgeführt wurde, erfolgt der Rücktausch. Demonstriert die probatio-Episode insgesamt eine gelungene Inszenierung freundschaftlicher Treue mit außergewöhnlichen Mitteln, so verweisen einige Texte auf eine immer noch vorhandene grundsätzliche Störung der Freundschaft: In allen Bearbeitungen der elaborierten Vitaversion (Gruppe 2) flieht Amelius vor dem erfolgreich aus dem Zweikampf heimkehrenden Amicus, da er ihn nicht erkennt: Amicus [...] postea ad domum suam, ubi erat comes Amelius, quam cicius potuit festinavit. Quem ut vidit Amelius venientem cum exercitu, fugam arripuit, putans, Amicum fuisse devictum (Kölbing 1884, S. ciii, Z. 35-38).498 Die Verkennung des Freundes verweist auf Amelius’ anfänglichen Regelverstoß (seine Missachtung des Freundesrates, sich weder mit der Prinzessin noch mit dem Verräter einzulassen), der von diesen Texten als massiver Defekt, als Beschädigung der Freundschaft gedeutet wurde.499 Trotz der Angleichung der Freunde durch den Identitätentausch – Amelius muss sich der Norm gemäß keusch verhalten, Amicus hingegen einen Regelbruch begehen – scheint der Makel fortzubestehen. Dieser ist wie zuvor an Amelius gekoppelt, der als einziger der beiden Gefährten das Freundschaftsbündnis gebrochen hat.500 Die Erkennungsstörung wird jedoch leicht behoben, denn Amicus lässt nach seinem Freunde senden und übermittelt ihm die frohe Botschaft, dass der Zweikampf gewonnen sei. _____________ 497 Das heißt nicht, dass die Gesellschaft heimliches, normwidriges Verhalten anerkennt: Das soziale Umfeld weiß schlicht und einfach nichts von diesem Verhalten. Amicus und Amelius aber nutzen dieses Handlungsmuster, um ihren Status zu erhöhen und sich in die Ordnung zu integrieren. Ordnung und ordnungswidriges Verhalten bedingen einander in den Amicus-Amelius-Texten. 498 „Amicus [...] eilte dann so schnell er konnte nach Hause, wo Graf Amelius war. Als Amelius ihn mit einem Heer kommen sah, ergriff er die Flucht, denn er dachte, Amicus sei besiegt worden“ (nach Kuefler 2000, S. 451). 499 Diese Deutung findet sich auch in der mittellangen Version, dort allerdings gibt es keine Erkennungsprobleme nach dem ersten Freundschaftstest. 500 Diese Differenz zwischen den Freunden kann in der elaborierten Vitaversion letztlich nicht getilgt werden. In der mittellangen Version hingegen scheint sie bereits ausgemerzt. In allen anderen Texten liegt dieses Problem nicht vor.
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Die chanson de geste, in der das Problem des Treuebruchs im Unklaren blieb,501 erzählt an dieser Stelle ebenfalls von einer Verkennung: Auch Amile erkennt den heimkehrenden Ami mit seinem großen Gefolge nicht und hält ihn stattdessen für Karl, der ihn vernichten will. Amile flieht nicht, sondern wappnet sich, und stürzt sich – wie er glaubt – in die Schlacht.502 Ami erkennt ihn aber sofort. Die anfängliche Aggression wird in eine stürmische Begrüßungsszene umgewandelt.503 Küsse und Umarmungen schließen in unmittelbarer Folge an Kampfeswut und Gefechtsbereitschaft an. Das Nichterkennen alludiert mithin zunächst auf einen Defekt; in der gleichen Szene aber wird im Anschluss von überbordender Affektivität erzählt, die Freundschaft konstituiert, so dass der Defekt behoben zu sein scheint.504 In allen Amicus-Amelius-Texten endet die erste Freundschaftsprüfung mit einer erneuten Trennung der Freunde. Ein Freund heiratet die Prinzessin, mit der er zuvor illegitimen sexuellen Kontakt hatte, und nimmt neue herrschaftliche Pflichten wahr; der andere kehrt in seinen Herrschaftsbereich und zu seiner Ehefrau zurück. 2.3. Kindesopfer: Aussatz und Heilung Den zweiten Freundschaftsbeweis – und damit einen weiteren Bestandteil der probatio-Phase – bildet das Kindesopfer zur Aussatzheilung. Nachdem das Gottesurteil erfolgreich von einem der Freunde absolviert wurde, erkrankt der Zweikämpfer am Aussatz. Kaum ist also die Differenz zwischen den Freunden, die sich in rechtlicher Übertretung auf der einen und Makellosigkeit auf der anderen Seite manifestierte, aus dem Weg geräumt, wird nunmehr mit der Krankheit ein neuer, tödlicher Unterschied zwischen den Gefährten eingeführt. Diesen gilt es im zweiten Freundschaftstest zu beseitigen. Der Freund, der anstelle seines Gefährten den Zweikampf besteht, wird in den unterschiedlichen Fassungen aus verschiedenerlei Gründen aussätzig. Die daraus resultierende soziale Isolation wird vom gesunden Freund aufgebrochen, indem dieser ihn zunächst wiedererkennt und ihn bei sich aufnimmt. Der folgende und weitaus schwierigere Teil bezieht sich jedoch auf die Aussatzheilung des Freundes, die einzig mit dem Blut der eigenen Kinder bewerkstelligt werden kann. _____________ 501 Vgl. Kap. I.2.1. 502 Interessant an diesem Detail ist auch die darin deutlich werdende Vorstellung, dass der Freund für seinen Gefährten zur Verantwortung gezogen werden soll, wodurch auch an dieser Stelle die Konzeption einer gemeinsamen Identität der Freunde deutlich wird. 503 Vgl. Dembowski 1987, L. 95f. 504 Vgl. Kap. I.4.3.
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Motivierung des Aussatzes Der Krankheitsausbruch unterliegt in den Amicus-Amelius-Bearbeitungen keinem durchgängigen Erklärungsmuster, sondern wird an divergierende Motivierungsmöglichkeiten gekoppelt. Die Relevanz der Umstände, die den Aussatz motivieren, ergibt sich daraus, dass sie in einigen Texten direkt mit dem Männerbund verknüpft ist. Die voneinander abweichenden Kausalitätsverhältnisse rekurrieren auf je unterschiedliche handlungsdynamische Verknüpfungen und beleuchten zudem die differierenden Freundschaftsentwürfe. Die erste Textgruppe bietet diverse Erklärungen für den Ausbruch der Krankheit an. Die älteste Bearbeitung, die lateinische Verserzählung von Radulfus Tortarius, ist an keiner spezifischen Erklärung interessiert. Der Aussatz befällt Amicus – narrativ abgesetzt von den bisherigen Geschehnissen durch eine längere Zeitspanne – ohne ersichtlichen Grund: Pluribus exactis post haec feliciter annis, / Leprae fis fedis eger, Amice, notis (Ogle / Schullian 1933, V. 291f.).505 Diese schlichte, rein sukzessive Kombination der Freundschaftsbeweise bildet in den Texten mit adligem Sinnhorizont eine Ausnahme, gleichwohl ist es die früheste überlieferte Form der Verkettung. Die mittelenglische romance hingegen bietet eine Explikation, die den ersten Test der probatio-Phase (den Zweikampf) mit dem zweiten verknüpft: Nachdem Amylion von Belisaunt und ihrer Mutter mit Rüstung und Gewandung für den Gottesgerichtskampf ausgestattet worden ist, macht er sich auf den Weg zum Kampfplatz. War eben noch von der Hilfe Gottes die Rede, die viele für ihn erbitten, hört Amylion nun eine Stimme aus dem Himmel, die nur für ihn selbst wahrnehmbar ist: A voys then come fro heven adoun, That no man herde bote he, And saide: „Knyght, syre Amylion, God that suffred passion Sent the word be me: Yefe thou this batell underfong Thou schall have aventure strong Withine this yeres three. Ere than the iii yere ben agon, A ffouler man was never non, Certes, than thou schalt be.“ (Le Saux 1993, st. 103, V. 2-12)506
_____________ 505 „Nach einigen glücklichen Jahren, Amicus, wurdest du krank mit den wohlbekannten Flecken des Aussatzes“ (nach Leach 1937/1990, S. 104). 506 „Eine Stimme kam da vom Himmel herab, die niemand außer ihm hörte, und sagte: ‚Ritter, Herr Amylion, Gott, der für uns die Passion erlitten hat, sendet dir durch mich eine Bot-
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Die warnende Prophezeiung bestimmt zum einen Amylions nicht ordnungsgemäße Teilnahme am Zweikampf als Grund dafür, dass er später am Aussatz erkranken wird. Zum anderen verweist die Stimme sowohl auf die körperlichen als auch auf die sozialen Konsequenzen dieser Krankheit: Thei that are thi best frende / Schull be thi moste fon (st. 104, V. 8f).507 Die soziale Isolation wird als eine absolute imaginiert, wenn nicht nur der verwandtschaftliche Verband (thi wyffe and all here ken, st. 104, V. 10)508 sich von Amylion abwendet, sondern praktisch sämtliche Sozialbeziehungen abgebrochen werden: And forsake the everychone (st. 104, V. 12).509 Amylion wird somit eine Handlungsalternative offeriert, die ein differentes Identitätsmodell beinhaltet: Die erste Option besteht darin, dass er nicht am Zweikampf teilnimmt und so nicht nur seinen unbeschädigten Körper bewahrt, sondern auch das soziale Beziehungsgeflecht aufrechterhält, innerhalb dessen sich seine adlige Identität situiert. Gleichzeitig bedeutet diese Wahl einen Treuebruch gegenüber dem Freund. Die andere Möglichkeit stellt in Aussicht, dass der Freundschaftstest bestanden und damit das freundschaftliche Treueverhältnis beglaubigt wird; allerdings ginge dies mit körperlichem und sozialem Zerfall einher. Während die erste Alternative den Freundschaftsbund einer anderweitig sozial verankerten Identität unterordnet, favorisiert die zweite Option den Freundesbund als identitätsstiftendes Modell. Die möglichen Entscheidungen erscheinen indes nicht als gleichberechtigte Varianten, da Freundschaft hier gleichzeitig als Identitätsverlust inszeniert wird, der sich in körperlicher und sozialer Desintegration manifestiert. Amylion reflektiert die möglichen Alternativen, entscheidet sich dann nach kurzer Unentschlossenheit510 dafür, das Freundschaftsbündnis zu halten: „Certes“, he saide, „for drede of kare, / To save my trowth wyll y not spare: / Lette God do his wyll!“ (st. 105, V. 10-12).511 _____________
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schaft: Wenn du diesen Kampf durchführst, dann wird dich innerhalb von drei Jahren ein schweres Schicksal ereilen. Bevor die drei Jahre vergangen sind, wirst du ganz gewiss ein so abstoßender Mann sein, wie es noch nie einen gegeben hat.‘“ „Die, die deine besten Verbündeten sind, werden deine schlimmsten Feinde sein.“ – Der Hinweis der himmlischen Stimme verweist auch auf die potentielle Gefahr, dass das Freundschaftsbündnis in einer derartigen Extremsituation von seinem Gefährten gebrochen werden könnte. Gegen den direkten Bezug zum Freundschaftsmodell spricht die in diesem Text bevorzugte Bezeichnung des Freundes als brother. Der Terminus frend rekurriert in diesem Text eher auf Teilhabende an anderen Sozialbeziehungen auf friedlicher Basis. Letztlich bleibt aber unklar, ob mit der Aussage auch auf die Unverlässlichkeit der Freundschaft hingewiesen wird (was die Entscheidung zusätzlich erschweren würde), oder ob die Brüchigkeit jeglicher Vergesellschaftungsmodelle gemeint ist. „deine Ehefrau und ihre ganze Verwandtschaft“ „und jeder wird dich im Stich lassen“ Vgl. Le Saux 1993, st. 105, V. 4-6. „‚Gewiss‘, sagte er, ‚trotz Furcht vor Leid will ich es nicht unterlassen, meine Treue zu bewahren. Lass Gott seinen Willen tun!‘“
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Freundschaft ist in Amylions Verständnis an die unumgängliche Verpflichtung zur Treue gekoppelt, die selbst die Gefährdung des eigenen Leibes und Lebens in den Hintergrund treten lässt. Zudem wird der Verlust anderer Vergesellschaftungsformen hingenommen, so dass letztlich Amylions Identität insgesamt zur Disposition steht. In dieser Konstellation – nämlich in Zusammenhang mit dem Normverstoß – erscheint Identitätskonstitution durch Freundschaft als drohender Identitätsverlust, der in Kauf genommen wird. In der Bereitschaft, sämtliche außerfreundschaftlichen identitätsstiftenden Modelle aufzugeben, wird die Radikalität der Entscheidung für die Freundschaft sichtbar. Die Wahlmöglichkeit der Freundschaft im Angesicht des Aussatzes kommt einer nochmaligen Freundschaftsprobe gleich, die wiederum bestanden wird. Ojar Kratins sieht in dieser Treue-Prüfung den eigentlichen Sinn dieser Szene: „The angel does not threaten Amiloun with punishment (‚þou schalt haue euentour strong‘ is a morally neutral statement); rather he puts Amilouns trewþe to the test by placing him before a choice.“512 Kratins’ Verabsolutierung der probatio-Situation unterschlägt den engeren Zusammenhang: Der Aussatz erscheint in seiner unmittelbaren Verknüpfung mit dem Zweikampf als Ergebnis des Identitätentausches, so dass durchaus davon ausgegangen werden kann, dass die anschließende Rechtsüberschreitung bestraft wird. So ist Brodys Einschätzung der Szene zuzustimmen: „The warning calls upon Amiloun to assign priorities to his loyalties and being stricken with the disease is a chastisement for the choice he makes.“513 Obwohl also in Aussicht gestellt wird, dass die Wahl einer Handlungsmöglichkeit geahndet wird, wird trotzdem Amylions Subordination unter Gottes Willen verdeutlicht: Lette God do his wyll! (st. 105, V. 12)514 Ähnlich präzise, aber mit abweichender Ursache, motiviert die anglonormannische Verserzählung Amillyouns Aussatz. Auch hier verkündet eine warnende, nur für Amillyoun vernehmbare Stimme den Krankheitsausbruch als Konsequenz freundschaftlich begründeten, aber illegitimen Handelns. Allerdings bezieht sich die Warnung in diesem Text nicht auf die Teilnahme am Zweikampf, sondern auf die Heirat der Prinzessin. Während der Eheschließungszeremonie, die unmittelbar auf Amillyouns Sieg folgt, stellt die Stimme Aussatz wegen Bigamie in Aussicht: Si vous esposez la damoisele, / Einz qe soint .iii. anz passez, / Aprés de ceste leprouz serrez (Fukui 1990, V. 716-718).515 Den Stein des Anstoßes bildet nicht die Kör_____________ 512 513 514 515
Kratins 1966, S. 351. Brody 1974, S. 165. „Lass Gott seinen Willen tun!“ „Wenn Ihr die junge Dame heiratet, dann werdet Ihr aussätzig werden, noch bevor drei Jahre vergangen sind.“
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persubstitution im Zweikampf, sondern die Verbindung Amillyouns mit einer weiteren Ehefrau. Leibliche Auswirkungen werden rudimentär veranschaulicht, gesellschaftliche gar nicht. Amillyoun schwankt keine Sekunde, da die vergangenen Vorkommnisse nicht enthüllt werden dürfen.516 Trotz der knapperen Form werden auch hier Verhaltensoptionen entworfen: Handeln im Sinne des Freundschaftsbundes wird mit entstellender Krankheit assoziiert; der Treuebruch hingegen würde mit der Akzeptanz sozialer und religiöser Institutionen sowie mit körperlicher Unversehrtheit einhergehen. Das Freundschaftsmodell trägt auch hier den Sieg davon und erscheint ebenfalls als radikale Preisgabe von Identität.517 Die Grenzfälle beschreiben das den Aussatz auslösende Moment in ähnlicher Weise. In der chanson de geste und im Miracle nimmt Ami als Amile zwar nicht an der Heirat, aber am Verlöbnis teil. Dieser Unterschied wirkt sich aber nur auf die vermiedene Hochzeitsnacht aus,518 Skandalon ist der zu schwörende Eid, die Prinzessin (später) zur Frau zu nehmen: Dieser gelobte Eid kann nicht eingelöst werden, da Ami zum einen bereits eine Frau hat, zum anderen auch gar nicht beabsichtigt, den Eid einzuhalten, da er ja für den Freund abgelegt wird. In der chanson de geste versucht Ami vergeblich, den technischen Meineid abzuwenden, indem er Karl bittet, das Verlöbnis aufzuschieben, da er unbedingt seinen Freund aufsuchen müsse. Der König der Franken beharrt jedoch auf der unverzüglichen Verlobung: Sire vassax, venéz jurer ma fille (Dembowski 1987, V. 1780).519 Bereits vorher erwägt Ami die Rechtswidrigkeit und wendet sich an Gott: Ja prins je fame au los de mes barons [...] / Se je preing autre, Dex, de moi qu’iert il _____________ 516 Vgl. Fukui 1990, V. 725f. 517 Hs. C formuliert diese Sequenz viel ausgedehnter und detailreicher: Die Hochzeitszeremonie wird vom Erzbischof zu Reims abgehalten. Noch bevor die Stimme ertönt, reflektiert Amillyoun den unlösbaren Zwiespalt, in dem er sich befindet. Das Hauptproblem scheint hier darin zu liegen, dass er einen falschen Namen – nämlich den seines Freundes – als den eigenen nennen muss. Die Warnung selbst ist nicht viel umfangreicher als in der anderen Fassung, nur dass die Frist bis zum Ausbruch der Krankheit hier auf zwei Jahre reduziert wird. Allerdings setzt die in Aussicht gestellte Bestrafung Amillyoun körperlich so sehr zu, dass Karl ihn nach dem Grund seiner Indisposition befragt. Kopfschmerzen müssen als Ausrede herhalten und bewirken, dass die Zeremonie aufgeschoben wird, so dass Amillyoun vor dem Kreuz beten kann. Erst danach nennt er den Namen des Freundes als seinen eigenen und die Trauung wird vollzogen. Vgl. Kölbing 1884, S. 152-156, Hs. C, V. 1-97. 518 In der anglonormannischen Verserzählung führt die Heirat zum doppelten keuschen Beilager. Vgl. Fukui 1990, V. 744-756 und Kap. I.2.2. 519 „Herr Vasall, kommt und schwört meiner Tochter.“ – Zunächst weigert sich Ami generell, das Heiratsangebot anzunehmen. Stattdessen sagt er Karl die Fehde an, da Karl Hardré und nicht ihm Glauben geschenkt hat. Er droht mit der Verwüstung des Landes. Beim nochmaligen Angebot lehnt Ami wegen der räumlichen Nähe zu Hardrés Sippe ab, deren Rache er fürchtet. Daraufhin wird Hardrés Leichnam geschändet. Erst als Karl Ami zusätzlich zu Belissant die Stadt Rivière mit 10.000 Vasallen als Lehen übergeben will, willigt er ein; vgl. Dembowski 1987, L. 85-88.
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dont? (V. 1769, V. 1771)520 Er befürchtet eine Strafe, die er auf sich nehmen will: Or jurrerai en non mon compaingnon / La penitance en ferai (V. 1772f.).521 Das Gelöbnis ist unumgänglich, und so schwört Ami über heiligen Reliquien, die Königstochter in einem Monat zu heiraten.522 Der Erzählerkommentar weist auf die Schwere des Vergehens hin,523 ein Engel auf Amis Schulter – wiederum nur für ihn selbst wahrnehmbar – verkündet Aussatz als Vergeltung für Bigamie: Tu preïz fame au los de tes parans […]. Hui jures autre, Deu en poise forment. Moult grans martyres de ta char t’en atent: Tu seras ladres et meziaus ausiment, Ne te parront oil ne bouche ne dent, Ja n’i avraz aïde d’ami ne de parent Fors d’Yzoré et d’Amile le gent. (V. 1813, V. 1815-1820)524
Auch in diesem Text existiert eine Vorausschau auf körperliches Leiden und defizitäre Identität: Sie wird etwas abgemildert, da Amiles zukünftiges vorbildliches Verhalten vorweggenommen wird. In diesem Text besteht keine Wahlmöglichkeit unter verschiedenen Handlungsmodellen, da die Normverletzung bereits vollzogen wurde. Allerdings ist Amis vorgängigen Reflexionen die Vorstellung verschiedener Optionen inhärent, obwohl der Erwerb der Prinzessin für den Freund nie in Frage gestellt wird. Ami ergibt sich der himmlischen Strafankündigung und dem Willen Gottes: La moie char, quant tu weuls, si la prent / Et si en fai del tout a ton conmant (V. 1822f.).525 Im Miracle übergibt Amis kurz nach der Bekanntmachung des Engels einen der beiden Becher an Amille, so dass die Gabe ganz deutlich in den _____________ 520 „Mit Zustimmung meiner Herren habe ich bereits eine Frau genommen. [...] Wenn ich jetzt eine andere nehme, Gott, was wird dann aus mir?“ 521 „Nun werde ich im Namen meines Freundes schwören und die Strafe dafür auf mich nehmen.“ 522 Vgl. Dembowski 1987, V. 1792-1796. 523 Des que li hom prent fame loiaument, / Moult fait que fox quant il sa foi li ment (Dembowski 1987, V. 1804f.). („Wenn nämlich ein Mann öffentlich vor dem Gesetz eine Frau nimmt, dann muss er toll sein, wenn er bei diesem Schwure lügt“, Vielhauer 1979, S. 71.) 524 „Auf den Rat deiner Sippe hast du eine Frau genommen [...] Und heute nimmst du eine zweite Frau! Das ist eine schwere Schuld vor dem Herrn! Er wird dich an deinem Leibe dafür strafen! Ein Bettler wirst du sein und sogar als Aussätziger leben. Deine Augen, deinen Mund, deine Zähne wird man nicht mehr erkennen. Von Freunden und Verwandten brauchst du keine Hilfe zu erwarten, außer von Papst Isoré und dem einzigen Amiles“ (Vielhauer 1979, S. 71f.). 525 „Nimm meinen Leib und verfahre damit ganz nach Deinem Willen“ (Vielhauer 1979, S. 72). Das Miracle folgt der chanson de geste, lässt aber Gott selbst auftreten, der dem Erzengel Gabriel die Aufgabe überträgt, Amis mit seinem Schicksal vertraut zu machen; vgl. Paris / Robert 1879, V. 1210-1217.
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Zusammenhang der bereits antizipierten Wiedererkennungsfunktion gestellt wird. Das Miracle, die chanson de geste sowie die anglonormannische Verserzählung identifizieren demnach das meineidige Gelöbnis, die Prinzessin zu ehelichen, als zu bestrafende Rechtsübertretung und damit als Auslöser für den späteren Aussatz. „Der Bruch eines (promissorischen) Eides stand dem Meineid allgemein gleich (periurium, meineit).“526 Der Verstoß gegen die rechtsbegründende Kraft des promissorischen Eides zieht eine unverzügliche göttliche Ahndung nach sich. Das rechtskräftige Eingehen sozialer Bindungen bildet den Angelpunkt nicht nur des Freundschaftsmodells, sondern jeglicher Vergesellschaftung: Eine willentliche Missachtung wird nicht von Gott geduldet. Diese Texte illustrieren mit der Aussatzmotivierung nicht nur nochmals die zentrale Bedeutung, die dem Eid zukommt, um rituell Rechtsbeziehungen zu konstituieren. Sie heben ihn zudem von dem – offenbar geduldeten – Verstoß ab, der mit der illegitimen Körpersubstitution im Gerichtskampf vorliegt. Die göttliche Instanz toleriert den Identitätentausch der Freunde sowie den daraus resultierenden assertorischen Eid und markiert so die – rein formale – Korrektheit des geleisteten Eides, die allerdings auf der illegitimen Beugung institutioneller Regeln beruht. Die unverbrüchliche Treuebindung und die Ununterscheidbarkeit der Freunde, die allererst die Möglichkeit schufen, die Zweikampfnormen zu umgehen, werden im Deutungshorizont dieser Texte als legalisierende Umstände des zweideutigen Vorgehens bewertet: Die selbst gesetzte Priorität des Freundschaftsmodells wird – anders als in der mittelenglischen romance – von göttlicher Seite beglaubigt. Der falsche Eid gegenüber der Prinzessin gehört indes einer anderen Kategorie an: In der Hs. C des anglonormannischen Textes und in der chanson de geste kristallisiert sich die Vorstellung heraus, dass der Eid im Namen des Freundes gelobt werden soll.527 Eine derartige Substitution des Freundes ist in der Logik dieser Texte unmöglich, obgleich der Zweikämpfer seinen Freund im Gerichtskampf ebenfalls ersetzt hat. Offenbar werden hier verschiedene Konzeptionen von Identität ausdifferenziert: Der Austausch der Gefährten beruhte auf einem Unterschied hinsichtlich Schuld und Unschuld am vorgeworfenen Vergehen, _____________ 526 HRG I, Sp. 869. 527 Dies wird auch in der mittelenglischen romance angedeutet, hier aber in Bezug auf den Zweikampf: Nach der Warnung der Stimme ist es die Namensnennung, über die Amylion nachdenkt: Yf y beknow my name, / Then schall my brother go to fame - / With spyte thei wyll him spyll (Le Saux 1993, st. 105, V. 7-9). („Wenn ich meinen Namen preisgebe, dann wird mein Bruder der Schande anheimfallen. Mit Verachtung werden sie ihn überschütten.“) Die Nennung des falschen Namens steht also auch hier im Zusammenhang mit der zu bestrafenden Aktion. Der Name als mit dem Körper verhafteter Indikator von Identität erscheint als Garant der Unterschiedenheit der Freundes-Identitäten und darf nicht missbraucht werden.
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so dass eine Differenz zwischen den Freunden ebenso konstitutiv für den Identitätswechsel ist wie die Gleichheit, auf der der Tausch letztlich beruht. Gleichzeitig vollführt die Körpersubstitution eine Bewegung, die die als negativ wahrgenommene Differenz ausgleichen soll. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass dem Identitätentausch die Differenz zunächst inhärent ist: Er basiert darauf, dass der kämpfende Freund eben nicht der schuldige Freund ist. Wird diese Differenz auch nach außen verschleiert, so ist sie doch fundamental für das Gelingen des Zweikampfes. Zugleich wird der Unterschied vom straffälligen Freund anerkannt, indem er das keusche Beilager bewahrt und damit ebenfalls eine konstitutive Differenz weiter bestehen lässt. Der bei der Hochzeit bzw. beim Verlöbnis zu schwörende Eid kann nicht für den Freund geschworen werden, da damit der wesenhafte Unterschied negiert würde. Der gelobte Eid ist ein Meineid, weil zu diesem Zeitpunkt eine fundamentale Differenz zwischen den Gefährten existiert. Diese Deutung gilt zumindest für die drei Texte, die den Aussatz durch den Eid motiviert sehen, der die rechtliche Verbindung zur Prinzessin begründet. Ganz anders stellt sich die Konstellation in der Historia septem sapientum dar, in der Lodovicus für Alexander die Tochter des Königs von Ägypten ohne jegliche Sanktionen zur Frau nimmt. Lodovicus heiratet Florentina erst zu einem späteren Zeitpunkt. Auch in den Texten der zweiten Gruppe wird die Eheschließung zwischen dem bereits verheirateten Amicus und Belixenda offenbar vollzogen, ohne dass sich hieraus ein sichtbares Problem ergäbe.528 Obgleich auch in diesen Texten – wie in allen AmicusAmelius-Texten – die Körpersubstitution durch die im Rechtsübertritt entstandene Differenz begründet wurde, scheint diese das Eingehen ehelicher Beziehungen anstelle des Freundes nicht zu behindern. Der erfolgreich abgeschlossene Zweikampf löscht innerhalb dieses Deutungsmusters die zunächst bestehende Differenz aus, da die öffentliche Ehre des schuldigen Gefährten wiederhergestellt ist. Die gemeinsame Identität erstreckt sich hier demnach auch auf den Ersatz des Freundes bei der Bündnisschließung mit anderen Personen. Freilich wird in diesen Texten kein ritueller, performativer Sprechakt dargestellt, mit dem die Ehe geschlossen wird. Im Miracle, in der chanson de geste und der anglonormannischen Verserzählung ist es ja gerade das gesprochene Gelöbnis, auf das sich die Got_____________ 528 Vgl. etwa für die mittellange Version: cui rex unicam filiam suam ab infamia liberatam in uxorem tradidit et quamdam juxta morem civitatem eis ad inhabitandam dedit. qua suscepta gaudenter Amicus ad domum suam, ubi erat Amelius, rediit eique dixit: „ecce, [...] filiam regis desponsavi“ (Schönbach 1877, S. 858). („Der König gab ihm seine einzige Tochter, die nun von der Schande befreit war, zur Ehefrau und ebenso gab er ihnen gemäß der Gewohnheit eine Stadt zum Wohnen. Als Amicus sie entgegengenommen hatte, kehrte er glücklich zu seinem Hause zurück, wo Amelius war, und sagte zu ihm: ‚Siehe, [...] ich habe mich mit der Tochter des Königs vermählt.‘“)
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tesstrafe bezieht. In der mittelenglischen romance und den soeben besprochenen Texten dominiert mithin die Vorstellung einer göttlichen Bestrafung, die sich auf verschiedene rechtliche Verstöße bezieht, die wiederum auf unterschiedliche Vorstellungen der gemeinsamen Freundes-Identität rekurrieren. Lille 130 aus der ersten Textgruppe bietet als Erklärung des Aussatzes la volenté de Dieu (Woledge 1939, S. 455)529 an und stimmt so mit der religiös deutenden Textgruppe (Gruppe 2) überein.530 Auch hier ist der Wille Gottes die Ursache, allerdings wird durch ihn kein spezifischer Übertritt geahndet. In der elaborierten legendenhaften Fassung erscheint die Episode sogar als bibelexegetische Exemplifizierung: Amicum vero cum uxore sua manentem percussit Deus morbo lepræ, ita ut de lecto surgere non posset, juxta illud quod scriptum est: Omnem filium, quem Deus recipit, corripit, flagellat et castigat (Kölbing 1884, S. ciii, Z. 42 – S. civ, Z. 2).531 Etwas knapper und ohne biblischen Bezug berichten die mittellangen Fassungen: got sanndt jn ain siechtumb an, heißt es etwa bei Andreas Kurzmann (Oettli 1986a, S. 164, V. 673).532 Die Seelentrost-Fassung deutet den Aussatz als Züchtigung Gottes: Dar na ouer langk plagede god Amicus, dat he spettalesch wart (Großer Seelentrost, Schmitt 1959, S. 231, Z. 13f.). Gottes Wille – gleich ob als Liebesbeweis oder als Unheil gedeutet – bedingt den Aussatz des Freundes, der den Zweikampf erfolgreich absolviert hat, ohne explizit auf die damit verknüpften Geschehnisse bezogen zu sein. William Calin bemerkt zu dieser Form der Aussatzmotivierung: „It rests on the belief that both young men are innocent and that God is just. The Lord, in his infinite wisdom, chooses to injure Ami for the greater glory of both Ami and himself.“533 Zugleich bemerkt er die Problematik, die sich aus einer literarischen Perspektive ergibt: „From a literary point of view the Vita’s structure suffers from a lack of continuity between the trial _____________ 529 „den Willen Gottes“ 530 Zwei Ausnahmen bilden das lateinische Exempel, das eine andere Begründung offeriert, und die mittelenglische Alphabet-of-Tales-Fassung, die keinerlei Ursache aufzeigt, sondern – ähnlich wie Radulfus Tortarius – nur das Faktum an sich liefert: And belife after þis, Amicus happend to wax lepre (Macleod Banks 1904/05 / 1987, S. 39, Z. 28f.). („Und glaube es, danach geschah es, dass Amicus aussätzig wurde.“) 531 „Amicus blieb bei seiner Frau, aber Gott schlug ihn mit der Krankheit des Aussatzes, so dass er sich nicht aus dem Bett erheben konnte. Dies geschah gemäß dem, was geschrieben steht: ‚Jeden Sohn, den Gott rettet, den tadelt, geißelt und straft er‘“ (nach Kuefler 2000, S. 451). Kuefler hat diese Stelle als Bezug auf Sprichwörter 3, 12 identifiziert. Er legt weitere Bibelbezüge der Vita offen. 532 Après ces chouses, ainssi comme Dieu voult, Amy fut feru de mesellerie (Woledge 1939, S. 448) („Nach diesen Begebenheiten, so wie Gott es wollte, wurde Amy vom Aussatz geschlagen“), führt die französische mittellange Fassung aus. 533 Calin 1966, S. 88f.
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and leprosy episodes.“534 Genau dieser Blickwinkel, gekoppelt an eine beharrliche moderne Logik, bedingt die literaturwissenschaftlichen Positionen, die die unspezifische Erklärung des Aussatzes mit Gottes Willen als insuffizient beschreiben. Die Amicus-Amelius-Texte, die zur zweiten Gruppe gehören, sind indes nicht an einer literarischen Motivationsstruktur interessiert, die modernen Ansprüchen an literarische Texte genügt. Als legendenhafte Texte unterstellen sie die Geschehnisse einem grundsätzlichen Gotteswillen, der nicht näher spezifiziert und nicht an bestimmte Handlungen der Freunde geknüpft sein muss. Allerdings existieren auch in dieser Gruppe Bearbeitungen, die Gottes Beweggründe etwas genauer beschreiben. So berichtet Hermann Korner: Dar nâ nicht lange wolde god Amêlius trûwe besôken und lêd Amîcum spettelsch werden und ghans unrein (Pfeiffer 1864, S. 264, Z. 4f.). Korner perspektiviert Amicus’ Aussatz von Anfang an auf Amelius’ Treueleistung. Konrads Engelhard äußert sich ähnlich wie die Mehrzahl der Texte mit religiösem Deutungsmuster: im schuof des himels keiser / grôz leit an allen enden (Reiffenstein 1982, V. 5162f.). Trotz aller Ausführlichkeit in der Darstellung der miselsuht (V. 5147) und der stetigen Verschlechterung von Dietrichs Leibes- und Sozialzustand lässt der Text keine präzise Begründung des Aussatzes verlauten, die etwa als Bestrafung für die vorgängigen Ereignisse deutbar wäre. Weder ist sich Dietrich einer Schuld bewusst,535 noch billigt Engelhard die für ihn immerhin erkennbare kleine schult (V. 5718) als ausreichenden Grund für ein so schreckliches Verhängnis.536 Einige Zeilen später scheint für Engelhard auch diese – wie auch immer geartete – Schuld gegenstandslos geworden zu sein, denn er sagt: dâ von mich sêre wundert / waz got an dir gerochen habe (V. 5726f.). Sogar Gott selbst scheint Dietrichs Schuldlosigkeit anzuerkennen: nû wolte got bî deme tage ein wunder an im briuwen und wolte in sîner triuwen lâzen dô geniezen, wan in begunde erdriezen der bitterlichen swære die der vil triuwebære leit ân alle sîne schult. (V. 5426-5433)
_____________ 534 Calin 1966, S. 89. 535 Er fragt Gott nach dem Grund: jâ reiner unde süezer Krist, / waz hân ich gegen dir getân / dâ mite ich sô gedienet hân / dînen bitterlichen zorn? (Reiffenstein 1982, V. 5378-5381) 536 Damit ist freilich nichts über die Art der geringen Schuld gesagt, die sich nicht notwendigerweise auf den Identitätentausch beziehen muss, sondern ebenso auf einen allgemeinen Zustand verweisen kann, der bei Dietrich gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass er aufgrund seiner Vorbildlichkeit insgesamt nur geringe schult angehäuft hat.
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Hier wird gerade nicht eine Bestrafung begangener Taten, sondern Hilfe für bewiesene triuwe in den Mittelpunkt der Argumentation Gottes gerückt.537 Ob der Ausbruch der miselsuht allererst an eine Idee der Bestrafung geknüpft war, wird nicht geklärt. Beständig hat die Forschung versucht, die Ursache des Aussatzes im Engelhard aufzudecken. Während Erich Kaiser darauf hinweist, dass die Krankheit nicht in Verbindung mit dem „betrügerischen Gottesurteil“538 gebracht wird, ist Hartmut Kokott überzeugt, dass Dietrich die miselsuht trifft, da er den Gestalttausch sowohl vorgeschlagen als auch durchgeführt hatte. Diese Schuld ziehe den Aussatz nach sich.539 Rüdiger Brandt vermutet ebenfalls, dass Dietrichs Hilfe für Engelhard beim Gottesurteil ausschlaggebend für seine Krankheit sei. Er weist zwar auf die Widersprüche hin, die sich aus den eben zitierten Textstellen ergeben und die zwischen Vorstellungen von Schuldlosigkeit und Schuld changieren, setzt aber gleichwohl Dietrichs Körpereinsatz als zu bestrafende Handlung an. Um die Brüche zu klären, veranschlagt er eine Ellipse, also eine Auslassung im Text, in der Dietrichs Beistand im Kampf als Schuld thematisiert worden sei.540 Diese rein spekulative Interpretation scheitert an der Weigerung des Textes, einen spezifischen Rechtsbruch als Ursprung der miselsuht zu designieren. Da es mit der mittelenglischen romance nur einen einzigen AmicusAmelius-Text gibt, der die von der Forschung favorisierte Erklärung für den Aussatz im gesamten Korpus aufweist, ist ihre Allgemeingültigkeit schlechterdings zu bezweifeln.541 Fehlende kausale Verknüpfung der Freundschaftsbeweise muss nicht literarische oder motivatorische Unzulänglichkeit bedeuten: Die Mehrzahl der Amicus-Amelius-Texte verbindet die Stationen in der probatio-Phase ausschließlich über die demonstrierte Treue und die Parallelität der Prüfungen. Gottes Eingreifen stellt besonders in den hagiographischen Texten (Gruppe 2) keinen Fremdkörper dar, sondern situiert sich stattdessen in der strukturierenden Reihe göttlichen _____________ 537 538 539 540
Nichtsdestotrotz ist der Aussatz von Gott geschickt, was keinen Widerspruch bildet. Kaiser 1964, S. 5. Vgl. Kokott 1989, S. 60. Vgl. Brandt 2000, S. 127, Anm. 112, und S. 128, Anm. 116f. Diese Annahme bezieht sich auf Engelhards aufeinander folgende Aussagen, in der erst von der kleinen schult die Rede ist, die gleich darauf aber vergessen erscheint. 541 In seiner Analyse der mittelenglischen romance verweist Ojar Kratins 1966 umgekehrt auf die Parallelität der in diesem Text gebotenen Erklärung und der allgemeiner gehaltenen Aussage der Vita und relativiert damit – ebenfalls unzulässigerweise – die spezifische Konstellation der romance: „[T]he meaning of the disease in the English poem is no different from that in the Vita: it is a visitation of divine grace with the goal of verifying, before the tale is over, that both friends in the severest of trials ‚trew weren in all þing,‘ as the poem states at the outset“ (S. 351).
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Interesses an der Freundschaft, die sich von der gemeinsamen Taufe bis – in der elaborierten Version – zum gemeinsamen Grabwunder erstreckt.542 Grundsätzlich müssen Aussatz und göttliche Prüfung auch nicht notwendigerweise an eine Vorstellung von Strafe geknüpft sein. Obgleich in mittelalterlichen Deutungen die Assoziation von Aussätzigkeit mit Sünde und moralischer Verwerflichkeit dominiert,543 existiert daneben die diametral entgegengesetzte Sinngebung als Zeichen göttlicher Auserwähltheit und zu erlangenden Seelenheils.544 In den elaborierten hagiographischen Fassungen wird auf eben diese Gotteswahl rekurriert: Et Amis [....] devint meseaus per la permission de Nostre Seigneur, [...] quar Dex chastoie celui cui il aime (Moland / D’Héricault 1856, S. 60).545 An fortgeschrittener Stelle in der Geschichte expliziert der Erzengel Raphael dem Aussätzigen den Sinn seines Leidens, indem er biblische Vorgänge einbezieht: factus es socius supernorum civium, imitatus Job et Thobie patientiam (Kölbing 1884, S. cv, Z. 22f.).546 Indem parallele Geschichten aufgerufen werden, wird ein Deu_____________ 542 Auch in der Mehrzahl der Texte der ersten Gruppe ist Gottes Verbindung zur Freundschaft konstitutiv. 543 Vgl. etwa Cormeau / Störmer 21993, S. 146: „Der Aussatz ist im Mittelalter eine tabuisierte Krankheit; ihn als Geißel und Strafe Gottes anzusehen, lehrt schon das Alte Testament (Lv. 14; Nm. 12, 13; Aussatzheilung im Neuen Testament: Mt. 8, 2-4, Mc. 1, 40-44; Lc. 5, 12-14). Diese archaische Auffassung mischt sich mit einem bildhaft allegorischen Topos der mittelalterlichen Predigt: die Sünde als Aussatz der Seele (vgl. ‚Greg.‘ v. 3513). Daraus fällt in einem Umkehrschluß wieder auf den körperlichen Aussatz der Anschein der Sündhaftigkeit.“ – Brody 1974, S. 143, verweist auf den Zusammenhang zwischen Aussatz und Fleischeslust in geistlicher Deutungstradition. Diese spezifische Sünde ließe sich mit den Amicus-Amelius-Texten einzig hinsichtlich der sexuellen Inbesitznahme der Herrschertochter in Zusammenhang bringen, der jedoch nicht der Aussätzige, sondern sein gesunder Gefährte zu bezichtigen ist. Für diese Relation liefern die Texte aber keinerlei Anhaltspunkt. Sinclair 2008, S. 197, sieht für die chanson de geste eine Verbindung zwischen dem Aussatz „as punishment for sexual sins“ und den Übertretungen beider Freunde, bei Amile „fornication with Belissant“ und bei Ami „potential bigamy“. Da im Text aber der falsche Eid problematisiert wird und damit Bigamie im rechtlichen, nicht aber ‚sexuellen‘ Sinn, scheint mir diese Interpretation auch hier nicht zu greifen. 544 Vgl. etwa Brody 1974, S. 61, und Pichon 1987, S. 52-54 und 59. Pichon verweist auf einen Bedeutungswandel, der von der Vorstellung vom Aussatz als Verweis auf die grundsätzlich sündhafte Natur des Menschen zu einer eher persönlichen und situativen Spezifizierung der jeweiligen Sünden führte. Zur Kopplung der Vorstellungen von körperlichem Leiden zum Gewinn des Seelenheils bemerkt sie: „A partir du XIIe siècle, la lèpre est explicitement et massivement présentée comme châtiment purificatoire, c’est-à-dire comme châtiment qui, par les souffrances endurées, permet au pécheur de se purifier sur terre de ses fautes“ (S. 59). 545 „Und Amis wurde gemäß des Versprechens Unseres Herrn aussätzig [...], denn Gott straft den, den er liebt.“ 546 „Du bist zu einem Freund der Himmelbewohner gemacht worden und zu einem Nachahmer der Geduld von Hiob und Tobias“ (nach Kuefler 2000, S. 452). – In diesem Zusammenhang wirkt der in der von Mone edierten Hs. auftauchende Name von Amicus’ Ehefrau – Thobias – etwas irreführend, da sie an dem vorbildlichen Verhalten in der
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tungsrahmen von Amicus’ Krankheitssituation geschaffen, der ein Vergeltungsdenken, in dem Leid ausschließlich als Strafe interpretiert wird, zurückweist. Im Gegenteil negiert dieser Denkmodus geradezu den Zusammenhang zwischen Verfehlung und Aussatz: Fokussiert werden nicht auslösende Gründe, sondern vielmehr Verhaltensmaßregeln, die letztlich Abhilfe schaffen. Unterwerfung unter Gottes Ratschluss und Erduldung der Qualen führen dazu, dass der beklagenswerte Zustand beendet wird. Raphael unterbreitet diese Interpretation zu dem Zeitpunkt, an dem Amicus das Heilmittel offenbart wird, also erst, nachdem er das obligatorische Benehmen unter Beweis gestellt hat.547 Einen weiteren Deutungsansatz, der in christlichen Zeichenordnungen verankert ist, legt Geneviève Pichon vor: Ihre Interpretation des Aussatzes in der chanson de geste setzt zunächst mit der Idee der Strafe ein: „[L]a lèpre d’Ami est présentée comme le châtiment explicite d’une faute.“548 Ausgehend von einer Exegese der Freundschaftsgeschichte, die der Dominikaner Johann Bromyard im 14. Jahrhundert vorgelegt hat,549 zieht sie eine Verbindung zwischen Ami und Christus: Amis Kampf für seinen Freund und die daraus resultierende meselerie wird so als Nachbildung des Kampfes Christi und seiner Leiden für die Menschheit begriffen. „Le personnage d’Ami [...] est modelé d’après l’archétype du Christ ‚quasi leprosum‘ mort pour racheter les hommes.“550 Eine derartige geistliche Ausdeutung des buchstäblichen Sinns der Amicus-Amelius-Geschichte, die den Text mit einer allegorischen Ebene versieht, eröffnet eine Sinndimension, die eine Auflösung der Schuldproblematik ermöglicht. Einige der Texte der ersten Gruppe und die Grenzfälle sind jedoch, wie bereits gezeigt, daran interessiert, die narrativen Zusammenhänge zwischen Handlungsdynamik der Freundschaftskonzeption und rechtlichem Diskurs aufzudecken. Generiert die Vorstellung eines deutlich benennbaren Rechtsbruchs eine kausale Logik der Narration und eine konzeptuelle Einheitlichkeit des Freundschaftsmodells, greift die Kon_____________ 547
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Leidenssituation keinerlei Anteil hat: Im Gegenteil geht von ihr sogar eine Todesgefahr für Amicus aus, da sie sich seiner mit allen Mitteln entledigen will. Auch in Konrads Engelhard wird auf Hiob rekurriert: Dietrich vergleicht sich mit ihm, glaubt sich aber in einer besseren Situation, da Engelhard sich um ihn kümmert. Vgl. Reiffenstein 1982, V. 6086-6089. Pichon 1987, S. 53. Diese bezieht sich indes auf die Vita. Vgl. Pichon 1987, S. 55. Pichon 1987, S. 55. Vgl. dort auch (Anm. 7) zur näheren Erläuterung und Herkunft des Terminus quasi leprosum, der vom Hl. Hieronymus in seiner lateinischen Übersetzung von Jesaja 53, 3 bezüglich Christus ausgearbeitet wurde: „[L]e Christ est venu sur terre ‚in similitudine carnis peccati‘ (Ro., VIII,3), c’est-à-dire qu’il s’est incarné dans une nature humaine portant les stigmates du péché (la souffrance et la mort) sans avoir contracté le péché. Il accepte cependant d’en payer le ‚salaire‘ qui est la ‚mort‘ (Ro., VI,23) et sauve ainsi l’humanité. Dans ce contexte christique, la lèpre s’apparente aux ‚stigmates‘ du péché.“
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struktion einer christologischen Bedeutungsdimension nicht nur auf gänzlich andere Deutungsmodi zurück, sondern verortet die Homogenität des Freundschaftsbündnisses auch in einem heilsgeschichtlichen Bedeutungskontext. Innertextuelle Handlungs- und Ereignis-Motivationen werden der Orientierung am biblischen Text subordiniert: Die Konstituierung einer Christus-Figur muss zudem nachgerade auf Vorbildlichkeit und Makellosigkeit beruhen, so dass Schuld- und Rechtsaspekte irrelevant werden. Auch die Bedeutung der Freundschaft wird von einem idealen personalen Bündnis zur Manifestation des Verhältnisses zwischen Christus und den Menschen verschoben. Damit wird ein mögliches Bedeutungsspektrum beleuchtet, das mit einem schlichten Schuld-Strafe-Mechanismus nur sehr unzulänglich beschrieben wäre. Selbst in Bearbeitungen, die den körperlichen Verfall eindringlich an eine Bestrafung knüpfen, ist eine christlich verankerte Bedeutungsebene nicht per se ausgeschlossen. Pichon entwickelt ihren interpretatorischen Rahmen anhand der chanson de geste, die neben der feudalen Deutungsdimension sehr ausgeprägte religiöse Sinnstiftungen vornimmt: Neben dem klaren Verweis auf den Rechtsbruch manifestiert sich eine christlich motivierte Bedeutungsebene der Vorgänge, die die chanson de geste einmal mehr als Grenzfall erscheinen lässt, der divergierende Denkmodi zusammenbringt. Huguette Legros hat darauf hingewiesen, dass die Ambiguität der Bedeutungen, die der Aussatz im Mittelalter annehmen konnte, auch für die chanson de geste Ami et Amile gelten: Während mit dem Krankheitsausbruch zunächst das bigamistische Versprechen bestraft wird, wird der Aussatz dann mit der Vorstellung einer Reinigung, der Ami sich unterzieht, und mit dem Weg zum Heil assoziiert. Diese sind eng an die Reise geknüpft, die Ami hinter sich bringt.551 Insofern kann von einer Kombination feudaladliger und christlicher Sinndimensionen des Aussatzes und der nachfolgenden Buße ausgegangen werden. Dies zeigt erneut, wie sich verschiedene Deutungsmuster in den Amicus-Amelius-Texten überlagern können. Ralph Hexter beschreibt eine andere mögliche Verknüpfung der Zusammenhänge zwischen dem Aussatz und seinem auslösendem Moment, wodurch eine gänzlich abweichende Motivierung der Krankheit angedeutet wird. Er kritisiert die Ansicht, die direkte Verknüpfung von Körpersubstitution und Aussatz, wie sie in der mittelenglischen romance vorgenommen wird, als die gültigste und natürlichste zu betrachten: It may have been natural for a writer in the fourteenth century, after the nonChristian concept of truth had completely disappeared, but it would not have been so for the original European teller of the tale. The first redactor probably
_____________ 551 Legros 2001, S. 383.
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did not suggest any motivation for the leprosy, and it was only after many other attempts and the passage of three centuries that anyone thought of connecting Amiloun’s equivocal oath and his disease.552
Hexter konstatiert eine Konzeption, die zunächst noch parallel zur christlichen Wahrheitsauffassung existierte und innerhalb derer der Identitätswechsel im Zweikampf als vollkommen rechtmäßig gegolten hätte. Eine solche Konzeption würde eine wesensmäßige Verkettung von Körpersubstitution und Bestrafung geradezu ausschließen. Ausgehend von Hexters Überlegungen wäre ein archaischeres Modell von Kriegerfreundschaft zu veranschlagen, das die gemeinsame Identität der Gefährten befördert, ohne an bestimmte Grenzen – wie sie sich in den Amicus-Amelius-Texten abzeichnen – gekoppelt zu sein. Innerhalb eines solchen Modells wäre der Austausch der Freunde in jeglicher Hinsicht legitim und weder im Zweikampf noch in der Gelöbnissituation ambivalent. Die Spuren einer solchen Freundschaftskonzeption wären dann in den divergierenden Deutungen der einzelnen Amicus-AmeliusTexte greifbar, eine Rechtsübertretung zu bestimmen, da es in der ursprünglichen Vorstellung keinen derartigen Verstoß gab. Eine Krankheit wäre in diesem Zusammenhang keine Strafe, sondern stünde in einem gänzlich anderen Deutungsgefüge. Die Überlagerung dieses Modells durch feudaladlige und christliche Sinnstiftungsmodelle resultierte in den z.T. stark voneinander abweichenden und widersprüchlichen Entwürfen von Schuld, Recht und gemeinsamer Identität in den Amicus-Amelius-Texten. Neben den zahlreichen Amicus-Amelius-Texten, die auf christliche Bedeutungsdimensionen verweisen, gibt es einige Bearbeitungen, die sich dieser Tendenz entziehen. Außer Radulfus Tortarius und der mittelenglischen Alphabet-of-Tales-Fassung, die den Aussatz weder durch Gottes Willen noch anderweitig erklären, gibt es noch zwei weitere Texte, die keine göttliche Fügung als Krankheitsursache angeben, sondern eine völlig abweichende Erklärung beinhalten. Bei diesen Texten handelt es sich um die Historia septem sapientum (Gruppe 1) und das lateinische Exempel (Gruppe 2), die ansonsten untereinander nicht übereinstimmen, aber eine gemeinsame Ursache der Krankheit identifizieren: die Ehefrau des Aussätzigen. In der Historia septem sapientum zieht Alexander den Unmut seiner – von Lodovicus geehelichten – Frau auf sich, als er das separierende Schwert explizieren muss. Alexander erfährt erst vom keuschen Beilager, als seine Gattin nach so langer Zeit der Abstinenz ein signum dileccionis (Innsbruck, _____________ 552 Hexter 1975, S. 34. Allerdings ist seine Verbindung von Amilouns zweideutigem Eid mit dem Aussatz nicht präzise: Die Stimme markiert die Körpersubstitution insgesamt (Yefe thou this batell underfong, Le Saux 1993, st. 103, V. 7; „wenn du diesen Kampf durchführst“), nicht den Eid, als zu ahndende Aktion.
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Cod. 310, Roth 2004, S. 454f., Z. 347f.)553 einfordert. Statt dieses zu gewähren, fühlt Alexander sich bemüßigt, der Königin die Zeit der Abstinenz verständlich zu machen, freilich unter Zuhilfenahme einer Ausrede: Ich han es dir nit zü Rbel getan / wann man spricht weib sind plöder natur / vnd darumb so wollt ich dich versůchen (Wiener Schottenstift 407, Steinmetz 1999, Bl. 33r).554 Die Königin interpretiert dies eine Herabsetzung, die Vergeltung erfordert: Es sol nit vngerochen bliben (anonyme Versfassung, Keller 1846, S. 223, V. 27). Als Rache nimmt sie sich einen Ritter als Liebhaber555 und plant mit diesem einen Anschlag auf Alexanders Leben. Sie flößen ihm einen vergifteten Trank ein, der jedoch nicht zum Tode führt: Aber sin lip verdarb / Das der liebe Alexander zart / Ein sn=der vsz setzel wart (Hans von Bühel, Dyocletianus Leben, Keller 1841, V. 8509-8511). Katya SkowObenaus hat darauf hingewiesen, dass der Aussatz hier letztlich dadurch bedingt wird, dass Ludwig Alexanders Platz nicht gänzlich einnimmt, der Identitätentausch also nicht vollständig durchgeführt wird.556 Im lateinischen Exempel ist es nicht die Bosheit der Ehefrau, die den Aussatz herbeiführt, sondern ihre eigene Krankheit, die sich auf Amicus überträgt: Cui postea vxor eius intoxicata propinans lepra inficit (Klapper 1914, S. 340, Z. 9f.).557 Deutlicher können die Wertigkeiten verschiedener Vergesellschaftungsmodelle kaum herausgestellt werden: Die zwischengeschlechtliche Beziehung generiert mit dem Aussatz die tödliche Differenz zwischen den Gefährten, die es im Folgenden auszumerzen gilt. Dass die Aussatzmotivation auf der Ebene der neben der Freundschaft eingegangenen Beziehungen angesiedelt wird, akzentuiert nochmals die Bedrohung, die von ihnen ausgeht. In den anderen religiös deutenden AmicusAmelius-Texten (Gruppe 2) ist die Bedrohung, die von der Ehefrau ausgeht, verschoben: Hier löst sie nicht die Krankheit aus, sondern gefährdet mit ihrem Hass Amicus’ Leben und zwingt ihn, seinen Herrschaftsbereich zu verlassen. Die in der Historia septem sapientum und im lateinischen Ex_____________ 553 „Zeichen der Liebe“ 554 Ähnlich formuliert Hans von Bühel, Dyocletianus Leben, Keller 1841, V. 8490-8494. Und in der lateinischen Innsbrucker Prosa-Fassung von 1342 heißt es analog: Karissima, hoc non feci propter malum tuum, sed quia dicitur quod mulier sit fragilis nature. Ideo te probare volui (Roth 2004, S. 455, Z. 352f.). („Liebste, ich habe das nicht zu deinem Schaden getan, sondern weil man sagt, dass die Frau von gebrechlichem Wesen sei. Deswegen wollte ich dich prüfen.“) Nicht ganz so vordergründig misogyn geben sich die Erlangener Hs. von 1352: Wann ich wolt pruffen dich, / ob du lieb hettest mich (Keller 1846, S. 223, V. 22f.) und die Gießener Hs. 104 aus dem 15. Jahrhundert: Alexander [...] redet so süßiglichen vnd gütiglichen mit ir, ob er es möchte versúnen (Steinmetz 2001, S. 70, Z. 335-337). 555 In Gießen 104 hat sie bereits vor dieser Offenbarung mit einem Ritter die Ehe gebrochen; vgl. Steinmetz 2001, S. 70, Z. 327-343. 556 Vgl. Skow-Obenaus 1994, S. 316. 557 „Sein Weib aber wurde später vom Aussatz angesteckt, und dadurch daß sie ihm zutrank, übertrug sie auch den Aussatz auf ihn“ (Klapper 1914, S. 140).
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empel kausale Verkettung von Ehe und Aussatz verweist auf eine parallele Sinnebene: Zwischengeschlechtliche Bindungen werden strukturell mit einer (letalen) Differenz zwischen den Freunden verknüpft. Diese Verknüpfung ist grundsätzlich in allen Amicus-Amelius-Texten greifbar: Die Differenzierung der Freunde ist immer auch an ihre jeweiligen Eheschließungen bzw. ihr Verhältnis zu den Frauenfiguren gekoppelt, die unter diesem Sichtwinkel äußerst bedrohlich wirken. Insgesamt sind stark divergierende Versuche der einzelnen Bearbeitungen zu verzeichnen, den Aussatz eines der Freunde zu motivieren: Die unterschiedlichen Tendenzen stellen besonders deutlich die abweichenden Interessen der Texte an rechtlichen Fragen respektive religiösen Sinngebungsmodellen in Bezug auf den Aussatz heraus. Die differenten Strategien verdeutlichen unterschiedliche Ansprüche an die narrativen Zusammenhänge, die zum einen einer inneren Logik unterworfen werden, zum anderen aber in ein geistliches bzw. biblisches Bedeutungsuniversum transferiert werden und damit einer gänzlich anderen Logik unterstehen. Diese Deutungsmodi enthüllen zudem grundsätzliche Differenzen in der Freundschaftskonzeption, die von ganz unterschiedlichen Vorstellungen von Gleichheit und Stellvertretung, von Legitimität und Schuldhaftigkeit sowie von weltlicher und heilsgeschichtlicher Bedeutsamkeit getragen werden. Verstoßung – Wiedererkennung – Aufnahme Die Krankheit zeitigt jene Folgen, die in einigen Texten bereits vom Engel bzw. von der himmlischen Stimme prophezeit wurden: Die körperliche Degeneration zieht die soziale Vereinsamung nach sich. Als seine körperlichen Symptome offenbar werden, wird der Kranke aus seiner herrschaftlichen Position und seinem sozialem Gefüge verstoßen. Die Texte weisen ein sehr unterschiedliches Interesse an den physischen Krankheitszeichen und am generellen Gesundheitszustand auf. In der elaborierten und der mittellangen Vitaversion (Gruppe 2) wird nur auf die Bettlägerigkeit (il ne se pooit movoir dou liet, Moland / D’Héricault 1856, S. 60),558 in den Minimalfassungen allenfalls darauf verwiesen, dass der Aussätzige ubel gestalt (Wackernagel 1839, Sp. 984, Z. 13) war.559 Innerhalb der ersten Textgruppe und in den Grenzfall-Texten gibt es nur jeweils eine Bearbeitung, die den leiblichen Zerfall minutiös ausmalt.560 Der Text aus der ersten Gruppe _____________ 558 „Er konnte sich nicht aus dem Bett erheben.“ 559 Etwas genauer schildert die Hs. Hannover I 239: Vnd he was kranck vnd ouele to rake vnd to passe (Oettli 1986a, S. 145, Z. 65f.). 560 Radulfus Tortarius, Lille 130 und die Historia septem sapientum beteiligen sich nicht an dieser Art der Darstellung, und auch in der mittelenglischen romance und der anglonormannischen
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ist Konrads Engelhard: Dietrichs physische Desintegration wird von Kopf bis Fuß beschrieben. [I]m wurden hâr unde bart / dünn unde seltsæne (Reiffenstein 1982, V. 5150f.), heißt es, weiter werden Farbveränderungen von Augen und Gesicht sowie der generelle körperliche Niedergang festgestellt: sîn lîp der wart gesundert vil gar von schœnen sachen und wart mit ungemachen jæmerlichen überladen. (V. 5168-5171)
Dietrichs ehemals adliger Körper, an dem sich in vollendeter Schönheit Herrschaftsmächtigkeit manifestierte, signifiziert nun seine Unangemessenheit hinsichtlich höfischer Gesellschaft und Herrscherstatus. Immer wieder wird der Leib fokussiert: sîn lîp der wol gehandelte (V. 5144) verwandelt sich in sînen jungen siechen lîp (V. 5183), der trûric unde freuden bar (V. 5175) ist.561 Seiner adligen Attribute beraubt, ist Dietrich nicht mehr hoffähig und fristet auf einer Insel in sozialer Isolation sein Leben. Erscheint diese Insel auch als ein locus amoenus, so wird über die narrative Kontrastierung von vil wünnecliche[r] (V. 5231) Natur und Dietrichs krankem Körper hinaus insbesondere Dietrichs Herrschaftsverlust sinnfällig: im wart enzücket sîn gewalt / an liuten unde an lande (V. 5216f.). Nicht so sehr intakte Natur und kranker Dietrich,562 sondern vielmehr momentane natürliche Umgebung und Einbuße des höfisch-zivilisierten Distrikts werden miteinander konfrontiert.563 _____________
Verserzählung ist nichts Näheres über die Symptomatik zu erfahren, außer etwa Formeln wie: A fouler lazar was none yholde (Le Saux 1993, st. 125, V. 8). („Einen abscheulicheren Aussätzigen hatte noch niemand gesehen.“) 561 Kaiser 1964, S. 7, verweist auf die Parallelität der Dietrich-Beschreibung zu Schönheitsbeschreibungen in mittelhochdeutscher Dichtung, besonders zu Darstellungen weiblicher Figuren. 562 Vgl. etwa Kaiser 1964, S. 56f. 563 Anders als Kaiser 1964, S. 4-7, vergleicht Oettli 1986a, S. 88-92, die Darstellung von Dietrichs miselsuht nicht mit Hartmanns Der arme Heinrich, sondern mit dem Gregorius. Kaiser hatte die Gegensätzlichkeit „zwischen junger Schönheit des Leibes und ihrem Verfall“ (S. 7) als Zentrum der literarischen Beschreibung bei Konrad identifiziert, während im Armen Heinrich „die Wende in Heinrichs Leben als beispielhaft für menschliche Existenz überhaupt“ (S. 7) zu lesen sei. Oettli vertritt die These, dass in der gegensätzlichen Darstellung von Gregorius und Dietrich eine Unschuldszuweisung Konrads an Dietrich zu erkennen sei. Oettli erwähnt indes nirgendwo, dass Gregorius’ körperliche Desintegration nicht auf Aussätzigkeit, sondern auf seine selbstgewählte Leidenssituation zurückzuführen ist. Insofern bleibt die Vergleichsbasis fragwürdig. Auch Behr 1988/89, S. 325, kritisiert Oettlis Annahmen. Er selbst schlägt eine Verbindung zwischen Inselschilderung und der Lage von Gottfrieds Minnegrotte vor, wie sein ganzer Aufsatz als Vergleich zwischen dem Tristan und dem Engelhard angelegt ist. „Unter Umständen ist auch die Schilderung der Insel, auf die sich der von Lepra befallene Dietrich zurückzieht, Gottfrieds Minnegrotte verpflichtet [...], in beiden Fällen ein irdisches Paradies, das eine jedoch menschenleer und in
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In der zu den Grenzfällen gehörigen chanson de geste finden sich ebenfalls Hinweise auf Amis Zustand, der sich immer mehr verschlechtert. Zunächst flüstert die Bevölkerung von Blaye über das entstellte Gesicht ihres Herrn.564 Am Ende der Odyssee,565 die er aufgrund seiner Vertreibung absolvieren muss, schätzt Ami seine körperliche Situation folgendermaßen ein: Toute la chars m’est des cuisses sevree, / Desci as os n’en i a point remese (Dembowski 1987, V. 2587f.).566 Offenbart sich auch hier das Defizit herrschaftlicher Identität am leidenden Leib, wird trotz allen Zerfalls die Parallele zur ursprünglichen Schönheit gezogen, als der Seneschall Rémy Amile von dem Aussätzigen berichtet: Vouz m’envoiastez au preudomme mezel, / Malades est, il n’a souz ciel si bel (V. 2714f.).567 Unzerstörbare Schönheit bedeutet nicht nur Adel, sondern auch Freundschaft, da Ami diese Schönheit mit Amile teilt. Zugleich wird auch ein christlicher Deutungskontext aufgerufen, in dem offenbar Leid und Duldsamkeit an Schönheit gekoppelt werden.568 Während im Engelhard Identitätsbeschädigung und Machteinbuße an Dietrichs Körper ablesbar sind, konzentrieren sich andere Texte auf die Verbannung des Freundes, ohne den Leib genauer in den Blick zu nehmen. So beschreiben Lille 130569 und die Historia septem sapientum einen Verlust des Herrschaftsstatus: Do das dÿ herren, ritter vnd knecht merkten, sÿ sprachen, es wer vnczÿmleich, das eÿn ausseczciger das kunigreich schult regiren, vnd stýessen in aus dem kunigreich (bairische Fassung, Roth 2008, S. 172, Z. 2224). In diesen beiden Texten begibt sich der aussätzige Freund unverzüg_____________
564 565
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der Wildnis gelegen (Trist. V. 16683-16688; 16765-16776; 16851-16912), das andere inmitten eines Flusses, zunächst mit zahlreichen Bediensteten bevölkert und selbst nach deren Weggang noch immer mit Kontakt zur Zivilisation, veranschaulicht durch die Nähe zur Burg (V. 5226f.; 5252-5273)“ (S. 325). Vgl. Dembowski 1987, V. 2150f. Nach seinem isolierten Aufenthalt in einer Hütte am Rande der Stadt reist Ami zunächst nach Rom zum Papst, der jedoch stirbt. Dann reist er zu seinen Brüdern nach Clermont, die ihn abweisen. Weiter geht es nach Berry, woher Amile stammt, in Richtung Mont St. Michel, bis ein Schiff ihn schließlich zufällig nach Rivière, Amiles Herrschersitz, bringt; vgl. Dembowski 1987, L. 110-136. „Mir fällt das Fleisch von den Schenkeln, bis auf die Knochen bin ich zerfressen“ (Vielhauer 1979, S. 88). „Ihr habt mich soeben zu dem Aussätzigen, einem Ehrenmann, geschickt, er ist krank und doch gibt es keinen schöneren Mann unter dem Himmel.“ Legros 1988, S. 126, geht davon aus, dass es sich hier um die Schönheit der Seele handelt. Diese Bedeutung mag mitschwingen, gleichwohl ist die Schönheit aber am Körper ablesbar. Hatte Amile hier spanische Grafschaft und Gräfin zunächst aufgrund überlegener Gewaltsamkeit erworben, erlangen nun seine Widersacher die Oberhand; vgl. Woledge 1939, S. 455.
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lich zum mächtigen Gefährten.570 In der mittelenglischen romance wie in der anglonormannischen Verserzählung wird dagegen eine lange Passionsphase eingeschoben. Der Ehefrau und ihrem Familienclan nunmehr verhasst, wird Amylion in eine Hütte vor der Stadt transferiert,571 wo er zunehmend vernachlässigt wird und kurz vor dem Hungertod abreist.572 Nach einer langen, entbehrungsreichen Irrfahrt gelangt er endlich an den Hof von Amys. In den verbleibenden Texten wird die Ehefrau für die Ausweisung ihres aussätzigen Mannes verantwortlich gemacht.573 Innerhalb der zweiten Textgruppe droht die Gemahlin in der elaborierten und der mittellangen Version Amicus mit dem Tode: Jnd darzo hassde yn syn huissvrauwe also ser, dat sy yn duck woulde verstycken (Berlin, Mgq 261, Oettli 1986a, S.183, Z. 181f.). Daraufhin sieht er keine andere Möglichkeit, als seine Herrschaft zu verlassen und umherzuziehen. Die als pure Boshaftigkeit dargestellte Gesinnung der Gattin wird in den Minimalbearbeitungen etwas abgemildert, da die Vertreibung von Amicus durch seine Frau und ihre vrunde – Gefolge, Verwandte, Alliierte – eher in den Kontext von Herrschaftsbeendigung als in den unangemessenen ehefräulichen Handelns gehört: Dar gynck syn wif to myt eren vrunden vnd dref ene vt alle synem gude (Hannover, I 239, Oettli 1986a, S. 145, Z. 64f.). Am krassesten erscheinen die Verfehlungen von Lubias, Amis Gemahlin in der chanson de geste.574 Ähnlich wie die Dame in der mittelenglischen romance und in der anglonormannischen Verserzählung verweigert sie zunächst die eheliche Gemeinschaft: Que nel deingna veoir ne esgarder / Ne de son cors servir ne honorer, / Car de Deu nen ot cure (Dembowski 1987, V. 2064-2066).575 Anschließend denunziert sie Ami beim Bischof und ertrotzt sogar ein Scheidungsverfahren. Sie wird dazu verpflichtet, Ami in einer Hütte vor der Stadt zu versorgen. _____________ 570 Gleiches geschieht in Radulfus Tortarius’ Text. Im Engelhard macht Dietrich sich erst auf die Reise zu Engelhard, nachdem ihm das Heilmittel offenbart wurde. 571 Im Engelhard und in der chanson de geste scheint der Erkrankte die Isolation aufgrund sozialer Konventionen selbst einzuleiten. 572 Innerhalb des gesamten Amicus-Amelius-Universums kann die Aufhebung des ehelichen Zusammenlebens quasi als Negativfolie zur gelungenen Lebensgemeinschaft der Freunde gelesen werden, da jeweils die gleichen Konstituenten gelten, aber nicht gleichermaßen erfolgreich Gemeinschaft schaffen. 573 Radulfus macht es wie immer sehr kurz: Peppulit idcirco tua te sevissima coniux / Purgamenta velut quisquiliasve domus (Ogle / Schullian 1933, V. 293f.). („Deshalb jagte dich deine Frau auf grausamste Weise weg, so wie sie Schmutz und Unrat aus dem Haus beseitigen würde“, nach Leach 1937/1990, S. 104.) 574 Im Miracle erzählt Amis über ihr Verhalten. Vgl. Paris / Robert 1879, V. 1353-1370. 575 „Sie ließ sich nicht herab, ihn anzuschauen und noch viel weniger, seinen erkrankten Leib zu pflegen und in Ehren zu halten; denn sie fragte wenig nach Gott“ (Vielhauer 1979, S. 77).
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In dieser Sequenz werden zwei diametral entgegengesetzte Verhaltensmuster bezüglich des Umgangs mit Aussätzigen diskutiert: Lubias vertritt die Stellung einer Feudalherrin, die ihren inkompatiblen Partner abstoßen möchte, da er weder dazu beitragen kann, die Dynastie fortzuführen, noch die Herrschaft verteidigen kann. Die Bischöfe verfechten dagegen den Standpunkt der Unauflösbarkeit der Ehe auch im Falle des Aussatzes. Diese Handlungsmöglichkeiten lassen sich als historische Positionen identifizieren:576 Im frühen Mittelalter war Aussatz Heiratshindernis und Scheidungsgrund. Spätestens im 13. Jahrhundert kristallisierte sich die kirchliche Ansicht heraus, dass die Ehe trotz Aussatz unauflösbar sei, um „the natural tendency of a healthy man or woman to leave a diseased partner“577 zu bekämpfen. Gleichzeitig war der gesellschaftliche Bann weiterhin sozial wirksam, so dass die räumliche Marginalisierung von Aussätzigen in Leprosarien oder ähnlichen Habitaten – wie etwa der Hütte, die in mehreren Amicus-Amelius-Texten auftaucht – sowie die Enteignung der Kranken gängige Praxis blieb. Auch die von Lubias vorgenommene, vom Text und vom Bischof kritisch bewertete Denunziation entspricht rechtlichen Handlungsvorgaben.578 Die chanson de geste favorisiert ein religiös motiviertes Handlungsmodell, das auf die eheliche Unterstützung abhebt, die an die Vorstellung eines gemeinsamen Fleisches gekoppelt ist: Se le servist et joïst et amast, / La sainte gloire en eüst en sa part. / Maris et fame ce est toute une chars (V. 21152117).579 Obgleich Lubias zur Fürsorge ihres sozial isolierten Mannes verpflichtet wird, entzieht sie sich dieser Verantwortung und verhindert aktiv, dass Ami verpflegt wird. Außerdem verprügelt sie Girart, ihren gemeinsamen Sohn, und sperrt ihn ein, weil er seinem Vater helfen möchte. Girart gegenüber erwähnt sie einen parrastre (V. 2241), einen Stiefvater also, der Amis Stelle einnehmen soll.580 Lubias’ Verhalten entspricht dem einer mächtigen Herrin, die ihrem nicht mehr angemessenen Partner seine Unterlegenheit nicht nachsehen kann. Der Gefährdung und Beschädigung der Herrschaft ist nur mit einem Austausch des Gatten zu begegnen. Dieses Machtbewusstsein einer Adligen wird von den Texten als unermessli_____________ 576 577 578 579
Vgl. grundsätzlich Riha 2007. Brody 1974, S. 85. Brody 1974, S. 61. „Wenn sie ihn mit Liebe und Hingabe gepflegt und ihn zu erheitern gesucht hätte, dann wäre sie himmlischer Ehren teilhaftig geworden. Denn Mann und Weib sind ja ein Leib“ (Vielhauer 1979, S. 78). – Ähnlich argumentiert auch der Bischof, der auf die Pflicht zur Geheimhaltung des Aussatzes durch die Ehegattin verweist. Vgl. Dembowski 1987, V. 2126-2131. 580 In der mittelenglischen romance ist Amylions Ehefrau in der Tat gerade dabei, einen anderen Mann zu heiraten, als ihr erster, rechtmäßiger Gatte geheilt zurückkehrt. Dieses Verhalten wird mit dem Tode bestraft. Vgl. Le Saux 1993, st. 196-199.
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che Bosheit gedeutet, die Lubias als veritables Mitglied der Verrätersippe Hardrés markiert.581 Sie ist nicht eher zufrieden, bis Ami endlich den Herrschaftsbereich verlässt. Eine lange Reise schließt sich an. Der Aussätzige wird in der elaborierten und der mittellangen Vitaversion sowie in den Grenzfällen nicht nur von Amicus’ Ehefrau aus dem sozialen Zusammenhang vertrieben. Das Verhalten der Ehefrau spiegelt sich in dem der Bewohner seines ursprünglichen Herrschaftsbereiches respektive seiner Brüder: Nach seiner Vertreibung begibt sich Amicus mit seinen Begleitern nach Berry, um dort um Aufnahme zu bitten. Diese Bitte ist jedoch vergeblich und endet mit einer weiteren Verbannung.582 Dann aber empfängt der Papst Amicus, bis eine Hungersnot diesem Zwischenaufenthalt ein Ende bereitet.583 Das von sämtlichen Amicus-Amelius-Texten – nicht nur der chanson de geste – favorisierte Verhaltensmodell gegenüber dem Aussätzigen bezieht sich demnach auf eine religiöse Grundlage, während das andere mögliche Handlungsmuster mit eher adlig-dynastischer Argumentationsbasis negativ markiert wird. Die mittelenglische romance und die anglonormannische Verserzählung zeichnen sich durch eine Besonderheit aus: Der Aussätzige wird auf seiner Wanderschaft von einem treuen Begleiter unterstützt. Child Oueys (Le Saux 1993, st. 132, V. 5), [h]is suster sone (V. 8),584 ist es in der mittelenglischen romance, der den Kranken versorgt und mit ihm lebt. In der anglonormannischen Verserzählung heißt der junge Beschützer Uwein, genannt Amorant,585 Fiz de un counte, son parent (Fukui 1990, V. 825),586 und ist somit ebenfalls mit Amillyoun versippt. Diese verwandtschaftlich organisierte Beziehung zeichnet sich durch unverbrüchliche Treue aus: Ffor all this worldys guode to take, / My lord schall y never forsake / While that y am alyve! (Le _____________ 581 Vgl. Kap. II.1.3. 582 Vgl. etwa die Passage in der französischen mittellangen Vita Woledge 1939, S. 448f. Diese Vertreibung spiegelt nicht nur das Verhalten der Gattin, sondern auch das frühere der Bewohner selbst, denn Amicus wurde ja nach dem Tode seines Vaters schon einmal verjagt. – In den Grenzfällen sind es die eigenen Brüder, die Ami abweisen. Hier handelt es sich indes nicht um eine Wiederholung einer früheren Episode, da keiner der Freunde hier vertrieben wurde, sondern sie die Heimat freiwillig verließen. Im Miracle findet dies nur in einer rückblickenden Erzählung Amis’ statt; vgl. Paris / Robert 1879, V. 1371-1391. 583 Vgl. für die elaborierte Vita Kölbing 1884, S. cvi, Z. 23f., und für die mittellangen hagiographischen Fassungen Hs. München, Cgm 523, Reiffenstein 1982, S. 246, Z. 201-208. In einigen Texten verlassen die Reisenden die Stadt freiwillig. 584 „Knappe Oueys, sein Schwestersohn“ 585 In der von Leach edierten mittelenglischen Hs. A besitzt Owaines ebenfalls den Rufnamen Amoraunt. Vgl. Leach 1937/1990, V. 1633-1637; nicht so in der von Le Saux edierten Hs. D. 586 „Sohn eines Grafen, sein Verwandter“
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Saux 1993, st. 134, V. 10-12)587 Oueys / Uwein wird einem Treuebeweis unterzogen, als er und Amylion an Amys’ Hof um Almosen betteln. Die Schönheit des Knaben lässt einen interessierten Ritter um seine Dienste bitten. Jener verschmäht das Angebot und bleibt bei seinem Herren.588 Damit jedoch nicht genug: In der sich recht kompliziert gestaltenden Wiedererkennungsszene in diesen beiden Texten ist es Oueys / Uwein, der den Erkennungsprozess positiv beeinflusst und maßgeblich an der Zusammenführung der Freunde beteiligt ist. Mit dieser narrativen Besonderheit führen die Texte erneut einen vorbildlichen Treuebund vor, der sich in Prüfungen als solide erweist. Der Treuebeweis des jugendlichen Begleiters ist zwischen den beiden Tests der Amys-Amylion-Freundschaft angesiedelt und bildet sowohl ein strukturelles wie thematisches Bindeglied. Oueys / Uwein fungiert zudem zum einen als Ersatz für und Extension von Amys: Der kranke, geschwächte Amylion benötigt einen Freund, um überhaupt überleben zu können, so dass die Position des abwesenden Gefährten von jemandem eingenommen werden muss. Oueys / Uwein tilgt zusätzlich Amys’ Unfähigkeit, seinen Freund zu identifizieren, indem er selbst die Identifizierung vornimmt. Zum anderen erscheint der Knabe anstelle eines Sohnes oder Erben, da er später die Nachfolge Amylions antritt:589 Am Ausgang der Geschichte wird er zum Landesherrscher. Owein l’enfant bien feffa: / De tote sa terre li herita, / Qe bien aveit deservy (Fukui 1990, V. 1228-1230).590 Ähnlich der Verwandtschaftsterminologie im Freundschaftsbündnis werden auch in dieser Treuebeziehung Bezeichnungen aus dem verwandtschaftlichen Bereich benutzt, die hier nicht die tatsächliche verwandtschaftliche Konstellation spiegeln, sondern im übertragenen Sinne gebraucht werden: (leve) sone (Le Saux 1993, st. 142, V. 4; st. 151, V. 1)591 nennt Amylion Oueys. Statt dieser besonderen Sohnesfigur treten in vielen Amicus-AmeliusTexten loyale Begleiter an die Seite des aussätzigen Freundes. Dieses Verhältnis wird nicht als so bedeutsam beschrieben wie das in der mittelenglischen und anglonormannischen Fassung. In der chanson de geste wird die _____________ 587 „Für alle Reichtümer der Welt werde ich niemals meinen Herrn im Stich lassen, solange ich lebe.“ 588 Vgl. Le Saux 1993, st. 154-156, und Fukui 1990, V. 928-943. 589 Allein in der chanson de geste scheint der aussätzige Freund – in diesem Falle Ami – einen Sohn zu haben: Girart kümmert sich zunächst um den kranken, verstoßenen Vater, wird dann aber von Lubias daran gehindert; vgl. Dembowski 1987, L. 112-116. – In der von den anderen Hss. abweichenden Hs. C der anglonormannischen Verserzählung hat Amillyoun einen Sohn namens Florentyn, der von seiner Mutter zu Tode geprügelt wird; vgl. Kölbing 1884, S. 166-168, V. 14-99, Hs. C. 590 „Das Kind Owein belehnte er gut: Er vererbte ihm sein ganzes Land, und das hatte er auch verdient.“ – Vgl. für die mittelenglische romance Le Saux 19993, st. 200, V. 3-5. 591 „(lieber) Sohn“
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Beziehung zu den zwei Dienern (dui serf, Dembowski 1987, V. 2391) Garin und Haymme, die Ami als Kinder gekauft und dann bei sich aufgezogen hatte, ebenfalls von großer Treue getragen, so dass Ami die beiden nach seiner Heilung zu Rittern schlägt,592 sind sie doch Leute von tapferer und edler Gesinnung (prou et nobile, V. 2411). In den elaborierten und den mittellangen Fassungen der zweiten Gruppe wird Amicus auf seiner langen Reise über Berry und Rom gleichfalls von zwei Dienern begleitet. In der elaborierten Version heißen sie Azon und Horatus,593 in der mittellangen Version ist nur von zwien knecht (München, Cgm 523, Reiffenstein 1982, S. 246, Z. 186f.) die Rede.594 Scheint der einzelne treue Helfer den abwesenden Freund zu ersetzen, fungiert das loyale Dienerpaar als struktureller Abglanz und Vorahnung vergangener und zukünftiger AmicusAmelius-Freundschaft. Die Unterstützung des Kranken bildet ein Gegenmodell zu Vertreibung und Verstoßung. Den Gipfel freundschaftlichen Beistandes demonstriert der gesunde Gefährte selbst, an dessen Hof der kranke Freund letztlich gelangt. Eingeleitet wird diese Sequenz durch die Wiedererkennungsszene, die in den einzelnen Textgruppen jeweils unterschiedlich gestaltet wird.595 Die Becher sind in diesem Prozess von elementarer Bedeutung: In vielen Texten wird bei der Flucht des aussätzigen Freundes davon erzählt, dass er seinen Becher mitnimmt.596 Dieser wird – wie die mittelenglische romance betont – auch in der ärgsten Not nicht verkauft.597 Der am Aussatz erkrankte Freund erreicht unbeachtet und unerkannt den Hof seines nunmehr mächtigen Gefährten. Die Differenz zwischen den Freunden manifestiert sich nicht nur in der Opposition von Gesundheit und Krankheit und damit durch körperliche Unterscheidbarkeit, sondern auch durch ihren deutlich voneinander abgesetzten Zugang zu herrschaftlichen Positionen: Während Amicus seinen herrschaftlichen Status eingebüßt hat, ist _____________ 592 Vgl. Dembowski 1987, V. 3265-3269. 593 So werden sie in der lateinischen und in der französischen Vita genannt, in der kymrischen Vita heißen sie Aron und Onvur. 594 In den Minimalfassungen gibt es keine Begleiter, ebenso wenig wie in Lille 130, im Engelhard und in der Historia septem sapientum. Im Miracle ist es der Knappe Ytiers, der Amis zur Seite steht, in Radulfus’ Text ein Diener (famul[us], Ogle / Schullian 1933, V. 295). In all diesen Texten gibt es keine Odyssee mit verschiedenen Stationen, außer im Miracle, wo Amis kurz über sein Schicksal berichtet. Im lateinischen Exempel wird allerdings eine Zwischenstation in Rom erwähnt; vgl. Klapper 1914, S. 340, Z. 10-12. 595 Zur emotionalen Ausgestaltung dieser Szene vgl. Kap. I.4.1. 596 Der Becher wird meist heimlich mitgenommen, wohl weil ein Aussätziger sämtlichen Eigentums verlustig ging: takit ker mitt svá leyniliga, at enginn verñi varr viñ („Nehmt meinen Becher so heimlich, dass niemand dessen gewahr wird“), weist Amícus im altisländischen Fragment der mittellangen Vita seine zwei Diener bei der Abreise an (Kölbing 1874, S. 187). 597 Vgl. Le Saux 1993, st. 146, V. 10-12.
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Amelius durch die Heirat der Prinzessin zu einem Herrn geworden, der nicht mehr am Hofe eines anderen dient, sondern selbst Hof hält. Der Aussätzige ist aufgrund seiner fehlenden körperlichen Intaktheit entmachtet und besitzlos geworden; der unversehrte Freund befindet sich dagegen auf dem Höhepunkt seiner Macht: Durch die Heirat der Landeserbin hat er entweder selbst die Nachfolge des mittlerweile verstorbenen Herrschers angetreten598 oder verfügt zumindest über ein von seinem Schwiegervater verliehenes mächtiges Lehen.599 In den Texten der zweiten Gruppe lässt Amicus nach Art der Kranken seine Klapper ertönen, woraufhin Graf Amelius veranlasst, ihn mit Brot und Fleisch sowie Wein aus seinem römischen Becher zu speisen. Der Bedienstete, der dieses Gebot erfüllt, bemerkt das identische Trinkgefäß des Aussätzigen und klärt seinen Herrn über diesen merkwürdigen Umstand auf. Graf Amelius begibt sich zum Aussätzigen, befragt ihn nach dem Becher und nach seiner Herkunft. Amicus gibt seine Identität und die des Bechers preis, woraufhin Amelius ihn als seinen Gefährten erkennt: Hiis auditis statim cognovit, illum suum esse socium (elaborierte Vita, Kölbing 1884, S. cv, Z. 5f.).600 Diese Variante der Wiedererkennung, die mit Memorialzeichen und Befragung Dingsymbol und Kommunikation vereint, um die Freundesidentität festzustellen, tritt in den elaborierten und mittellangen hagiographischen Texten auf. Einfacher601 inszenieren die Seelentrost-Fassungen die Identifikation: Nachdem Amelius von dem gleichen nap (Hannover, I 239, Oettli 1986a, S. 145, Z. 78) des Bettlers erfahren hat, bedarf es keines weiteren Verhörs, um sich der Identität seines Gefährten zu versichern und ihn angemessen zu begrüßen. Da sprank Amelius vp van der taflen vnde sprak: ‚Dat is myn leue kumpan Amicus!‘ vnde leip to der dore vnde vel eme vmme den hals vnde kuste ene vor synen munt vnde weynende van leue (Schmitt 1959, S. 231, Z. 28f.). Auch im _____________ 598 So geschieht es in den Texten der ersten Gruppe. Eine Ausnahme bildet Radulfus’ Text, in dem Amelius offensichtlich in seinem ursprünglichen Herkunftsgebiet Clermont weilt; vgl. Ogle / Schullian 1933, V. 296. 599 Dies ist die Variante in der elaborierten und der mittellangen Version der zweiten Textgruppe und in den Grenzfällen. Amelius’ Schwiegervater ist hier Karl, der nicht stirbt, sondern in einigen Texten die Freunde sogar überlebt. Einzig in Lille 130, der zur ersten Textgruppe gehörenden Prosafassung, stirbt Karl und Amis nimmt seine königliche Position ein; vgl. Woledge 1939, S. 455. In den Minimalfassungen der zweiten Gruppe wird nicht deutlich, ob Amelius in seinem Erbland herrscht oder ein Lehen des Königs innehat, sicher ist, dass er selbst ein Herrscher ist. 600 „Als er diese Worte hörte, erkannte der Graf sofort, dass es sein Freund war“ (nach Kuefler 2000, S. 452). 601 Diese einfachere Variante scheint eine intensivere Beziehung zu beleuchten, da die Wiedererkennung problemloser abläuft, die Verbundenheit der Gefährten schneller wiederhergestellt wird.
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lateinischen Exemplum sind einzig die Freundschafts- bzw. Gleichheitssymbole nötig, um Gewissheit herzustellen.602 In der ersten Textgruppe existiert in den Bearbeitungen, in denen die Freunde Becher ausgetauscht haben,603 eine derart mühelose Erkennung nur in Lille 130. Hier wird der Aussätzige nicht mit dem Trinkgefäß des Königs Ami bedient. Als der Knappe Amiles einen Trunk bringt, glaubt er den Becher seines Herrn vor sich zu haben, und auch Amis mutmaßt zunächst, es sei sein eigener. Er beauftragt jedoch seinen Seneschall, nach seinem eigenen Gefäß zu suchen, was dieser mit Erfolg tut. Amis lässt nun den Kranken vor sich bringen und erkundigt sich, von wem er den Becher erhalten hätte. Die Antwort offenbart die Zusammenhänge. In dieser leichten Variation der Identifizierungsszene wird evident, wie wichtig die Präsenz beider Becher ist: Erst als Amis beide Gefäße vor sich sieht, setzt ein Erinnerungsprozess ein: Si fu le roy tout esbahi de che qu’il vit les deus hanas estoient tous deus d’une façon et d’un semblant, si li souvint d’Amiles a qu’il en avoit un tout autel donné quant il se parti de li (Woledge 1939, S. 455).604 Auch in den Texten der zweiten Gruppe werden die beiden Becher in räumliche Nähe gerückt, und zwar indem der Diener den Becher seines Herrn herbeibringt und ihn neben den Becher des Aussätzigen hält. Die absolute Gleichheit der beiden Becher kann nur im Nebeneinander der Dinge wahrgenommen werden: Die Zeichenhaftigkeit der Trinkgefäße entfaltet ihre Bedeutung in der Re-Inszenierung der vergangenen Gleichheit der Gefährten. Dabei verknüpfen die Texte mit der besonderen Ästhetik der Verdoppelung in dieser Szene eine bestimmte Praxis des Erinnerns: Sie entwerfen eine spezifische Wahrnehmungsform, die bis zu einem gewissen Grade dem zu entsprechen scheint, was Peter Czerwinski als Unfähigkeit der „körperliche[n] Vergegenwärtigung eines Zusammenhanges, der nicht mehr sinnlich präsent ist,“605 beschreibt. Die Schwierigkeit, „sinnlich nicht mehr unmittelbar Gegebenes gegen die übermächtige Präsenz neuer tableaux gleichwohl in der Erinnerung festhalten zu können“, wird „in einer besonderen Verfassung des Körpers“606 gelöst: Nicht abstrahierende Reflexion, sondern im Körper verankerte „permanente _____________ 602 Vgl. Klapper 1914, S. 340, Z. 12-23. In der mittelenglischen Alphabet-of-Tales-Fassung wird eine Befragung zusammenfassend erwähnt. Vgl. Macleod Banks 1904/05 / 1987, S. 40, Z. 1-7. 603 In Radulfus Tortarius’ lateinischer Verserzählung und in Konrads Engelhard funktioniert die Wiedererkennung auch ohne Hilfsmittel ganz unkompliziert. 604 „Da war der König ganz erschrocken, als er sah, dass beide Becher von einer Beschaffenheit und einem Aussehen waren, und er erinnerte sich an Amiles, dem er genau so einen geschenkt hatte, als er von ihm fortging.“ 605 Czerwinski 1989, S. 55. 606 Czerwinski 1986, S. 240; Hervorhebung getilgt.
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Vergegenwärtigung“607 produziert die erinnernde Verbindung zu vergangenen Ereignissen und zu momentan der Wahrnehmung nicht direkt Zugänglichem. In den Amicus-Amelius-Texten wäre diese grundsätzliche Ebene zunächst eben in der spiegelnden Gleichheit der Körper anzusiedeln, die anfangs ausreicht, um Freundschaft und Zusammengehörigkeit zu signifizieren. Die besondere Verfassung des Körpers wird aber mit dem Aussatz einer fundamentalen Störung unterzogen. Gleichheit und daraus folgende Gemeinschaft sind an den Leibern ‚sinnlich nicht mehr unmittelbar gegeben‘ und damit nicht mehr direkt von ihnen ablesbar. In einigen Texten bedarf es deshalb einer veräußerten Spiegelung, die durch die Gefäße geleistet wird. Sind die einzelnen Becher zunächst immer auch Signa des je abwesenden Gefährten,608 liegt ihre eigentliche Bedeutung in ihrer Zweiheit, im verdoppelnden Arrangement von Gleichheit und Freundschaft, das so aus den Freundeskörpern ausgelagert wird. Im Verlust der Gleichheit durch die körperliche Beschädigung des Aussätzigen wird ein konstitutives Element der Freundschaft zerstört, nämlich die konkret wahrnehmbare Ununterscheidbarkeit der Gefährten. Dieser Schaden kann erst behoben werden, nachdem die Trinkgefäße zusammengeführt worden sind. Diese Memorialzeichen von Gleichheit und Freundschaft sind nicht dem Körper eingeschrieben, da sie ja gerade das Defizit leiblichen Zerfalls kompensieren müssen: Deshalb treten die Becher zum einen aus der strikten, leiblichen ‚Vergegenwärtigung eines Zusammenhangs‘ heraus, da sie Symbolfunktion haben und als Zeichen auf die Gleichheit der Freunde verweisen. Die Gefäße sind zum anderen aber so eng mit den Gefährten verknüpft, dass sie eine „Form von Kommunikation“ ermöglichen, die den ursprünglichen Körper heraufbeschwört, denn „[d]er Schlag im Kampf oder das Geschenk sind hier die noch vollständig mögliche, sinnlich-unmittelbare Information über ein konkretes Subjekt [...], der geschenkte Speer oder der, den man in den Bauch bekommt, ist jeweils der sinnlich erfahrbare Inbegriff dessen, der ihn gemacht hat“.609 Die Becher _____________
607 Czerwinski 1986, S. 241. Er bezieht sich auf diu jamers lanze im Willehalm, die dem Titelhelden als „somatische[] Mnemotechnik[] tatsächlich im Herzen stecken bleiben“ muss (Czerwinski 1989, S. 27), um die Erinnerung zu gewährleisten. 608 In dieser Funktion treten sie z.T. nur rudimentär auf, wenn sie etwa erst kurz vor ihrer Wiedererkennungsfunktion erwähnt werden. In den Texten der zweiten Gruppe haben die Becher die vordergründige Verweisfunktion auf die Taufbrüderschaft, sind also neben Memorial- oder Freundschaftszeichens vor allem Verweis auf die religiöse Legitimation der Freundschaft. 609 Czerwinski 1986, S. 257, Anm. 6; Hervorhebung getilgt. Er betrachtet dies allerdings als ‚nicht-symbolische, vor-abstrakte‘ Form der Kommunikation. Dieser Wahrnehmungsform sieht Czerwinski in den höfischen Epen um 1200 eine neue Form reflexiven Denkens zur Seite gestellt, die die Wirklichkeit verdoppelt. Er markiert das Handlungsmuster der list als eine Manifestation dieser zweifachen Wirklichkeit, in der körperliche Präsenz und Gewalt-
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entfalten ihre Funktion, als sowohl die beiden Becher als auch die beiden Freunde körperlich präsent sind, während einer der Gefährten körperlich deformiert ist. Insofern manifestieren sich in den Bechern der AmicusAmelius-Texte sowohl leibliche Gegebenheiten als auch deren symbolische Existenz, wenn die tatsächliche Leibesgleichheit beschädigt ist. Realpräsenz und Repräsentation überlagern sich.610 Diese Kommunikations- und Memorialpraxis funktioniert in den beschriebenen Passagen der Texte der zweiten Gruppe, in Lille 130 und in den Grenzfall-Texten, die eine ähnliche Handlungsdynamik aufweisen: In der chanson de geste weist der kranke Ami seinen Gefährten zunächst ab, als er wegen seines Bechers nach seiner Identität befragt wird. Amis verkennt nun seinerseits vorgeblich die Identität seines Freundes. Nicht an ihm sei er interessiert, sondern an Amile: Ne sais qu’en tient a vouz. [...] / Et quier Amile dont je sui desirrouz (Dembowski 1987, V. 2734, V. 2736).611 Als Amile ihn sprechen hört (Li cuens Amiles oï Ami parler, V. 2739), gelingt die Wiedererkennung. Amile schwingt sich zu Ami in den Karren, auf dem er transportiert wird, und küsst und umarmt ihn.612 Das Miracle weist eine ähnliche Handlungsstruktur auf.613 In den verbleibenden Texten der ersten Gruppe, in denen die Becher verschenkt wurden, d.h. in der mittelenglischen romance und der anglonormannischen Verserzählung, versagt das Wiedererkennungsverfahren, in dem das Zeichen unmittelbar an die Identität des Besitzers gekoppelt ist. In beiden Texten verschwendet Amys keinen Gedanken an die Möglichkeit, der Aussätzige könnte Amylion sein. Der Besitz des Bechers signifiziert für ihn den unrechtmäßigen Übergang des Gefäßes aus der Hand seines Freundes in die des Bettlers: In this world were cuppis nomo So lyke in all thing, Save myn and my brothers also […] Yef yt be so, with sume treson, My hende brother, sire Amylion,
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samkeit mediatisiert werden und somit sich ein anderer Denk- und Wahrnehmungsmodus herauskristallisiert. Stellt list demnach eine weitere (höfische) Stufe nach (bzw. neben) der sinnlich-unmittelbaren (heroischen) Kommunikation dar, so ist die List des Identitätentausches in den Amicus-Amelius-Texten nicht in erster Linie als eine derartige antizipierende, reflektierende, vermittelnde Denkform zu kennzeichnen, sondern als eine den Körpern in ihrer Gleichheit unmittelbar eignende Handlungsmöglichkeit. Vgl. zu Präsenz und Repräsentation Gumbrecht 2004. Vgl. auch Oswald 2004, S. 78-89, die mit Rehberg 2001 weiter zwischen ‚vermittelter Repräsentanz‘ und ‚Direktheit der Vergegenwärtigung‘ unterscheidet. „Ich verstehe nicht, warum ihr das wissen wollt. [...] Ich bin auf der Suche nach Amiles, meinem Freund, nach dem ich große Sehnsucht habe“ (Vielhauer 1979, S. 91). Vgl. Dembowski 1987, V. 2741f. Vgl. Paris / Robert 1879, V. 1556-1615.
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He is gyled withoute lesyng, And he have stole his cuppe away. I schall him sle this ilk a day. (Le Saux 1993, st. 166, V. 2-4, V. 7-11)614
Die Bezeichnungskraft des Bechers ist an die – nicht mehr vorhandene – Unversehrtheit des gleichen Körpers gebunden. Ohne den gleichen Körper ist der Becher zum arbiträren Signifikanten geworden, der nicht mehr notwendig auf Freundschaft verweist, sondern mit anderen Bedeutungen – wie der des Diebstahls – aufgeladen werden kann. In beiden Texten wird der Kranke von seinem eigenen Freund gewaltsam misshandelt. In der mittelenglischen romance schleudert Amys den Aussätzigen in eine Pfütze, tritt ihn mit Füßen, droht mit seinem Schwert und mit dem Tode. Niemand vermag ihn zu stoppen bis auf Oueys, der ihn kurzerhand mit den Armen umfängt und Amylions Identität enthüllt: Er verweist auf die Wunde, die dieser im Zweikampf für Amys davongetragen hat.615 Die Schulterwunde übernimmt nunmehr die Funktion des Erkennungszeichens: Amys begutachtet sie, während er Amylion umarmt. And hent him in his armes twayn. Ffor sorow he wepte with his yen, […] He loked on his schulder bare, And saw a grymely wounde sare. (st. 171, V. 4f., V. 7f.)616
Das leibliche Zeichen allein verbürgt den rechtmäßigen Anspruch auf Freundschaft, nicht das dem Körper äußerliche Signum des Bechers. Die Schulterwunde bzw. Narbe führt die Freundschaft auf Körperlichkeit zurück, die nun allerdings nicht an ununterscheidbare Schönheit und Adel, sondern an ein Differenzierungsmerkmal gekoppelt ist: Die Wunde hat nur einer der beiden Freunde davongetragen. Da sie aber auf den gemeinsamen Identitätentausch und auf den Zweikampf rekurriert, ist die einzelne Narbe gleichzeitig Zeichen einer virtuellen Verdoppelung, da Amylion sie erhielt, als er Amys war. Die momentane leibliche Differenz der _____________ 614 „Auf dieser Welt gab es nie wieder Becher, die sich in jeglicher Hinsicht so glichen, außer meinem und dem meines Bruders. […] Wenn es so sein sollte, dass mein tapferer Bruder, Herr Amylion, tatsächlich mit offenkundigem Verrat betrogen wurde, und der hier seinen Becher gestohlen hat, dann werde ich ihn noch heute töten.“ 615 Vgl. Le Saux 1993, st. 167-170. Amylion hatte es Oueys untersagt, seine Identität preiszugeben; vgl. st. 151. Die Treue offenbart sich hier im Verstoß gegen das Gebot. – Die von Leach edierte Hs. A enthält eine zusätzliche stanza, in der Amys seinen unerkannten Gefährten zornig über die Herkunft des Bechers befragt, der doch seinem Bruder gehöre. Dieser antwortet nicht direkt auf die Frage. Amys scheitert an der abstrakten Denkleistung, die zur Lösung des Rätsels erforderlich ist, so dass die Situation nicht geklärt werden kann; vgl. Leach 1937/1990, V. 2084-2088. 616 „Er umfasste ihn mit seinen beiden Armen. Vor Kummer weinte er mit seinen Augen. [...] Er schaute auf seine nackte Schulter und sah eine schreckliche, schmerzhafte Verletzung.“
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Freunde durch Amylions Aussatz wird durch das ebenfalls körperliche Unterscheidungsmerkmal der Narbe überwunden: Sie gewährleistet die Identifizierung des Freundes und leitet so den Prozess der Angleichung ein. Die Narbe als Erkennungszeichen korrespondiert mit dem Umstand, dass einzig in diesem Text der Identitätentausch im Gerichtskampf den Aussatz auslöst: Die Stellvertretung im Zweikampf begründet den Aussatz; die im Zweikampf erworbene Wunde aber garantiert nun die Wiedererkennung trotz Aussatz. Die Narbe verweist auf die Körpersubstitution und damit auf den ersten großen Treuebeweis, der die Kriegerfreundschaft mitkonstituierte. Gleichzeitig wird die Problematik der Körpersubstitution sichtbar, da der jetzige Zustand des Aussatzes an das frühere Ereignis des Gerichtskampfes gekoppelt ist. Bei der Wiedererkennung wird insofern ein komplexes Verweissystem auf die Freundschaft aufgerufen, das auf körperlicher, handlungsdynamisch-kausaler und beziehungskonstitutiver Ebene funktioniert. Ein Klagemonolog schließt sich an die Entdeckung der Identität des Freundes an, schließlich vergibt Amylion seinem Gefährten. Die komplizierte Identifikation des Freundes wird in der anglonormannischen Verserzählung anders aufgelöst:617 Nachdem Amillyoun misshandelt und ins Gefängnis geworfen worden ist, offenbart Uwein auch hier die Identität seines Herrn. Der Sprechakt bildet in diesem Text das einzige Element der Wiedererkennung. Diese beiden Texte demonstrieren, wie problematisch es sein kann, wenn das ursprünglich Gleiche mit Differenz behaftet ist: Nicht nur hat der aussätzige Freund seine adlige Herrschaftsidentität eingebüßt, auch die bevorzugte Identität, die sich aus der Zugehörigkeit zu dem Freundespaar ergibt, ist gefährdet. Die Erkennungssequenz beschreibt Erkenntnisprobleme, die in den anderen Texten meist unproblematisch mit dem Memorialzeichen aufgehoben werden, hier aber zunächst virulent bleiben und damit erneut die Bedeutsamkeit leiblicher Ununterscheidbarkeit herausstellen. Die angestrebte Heilung des Gefährten zielt somit nicht nur auf seine Lebensrettung, sondern auch darauf, den früheren Zustand präferierter körperlicher Similarität wiederherzustellen. In Radulfus Tortarius’ lateinischer Verserzählung und in Konrads Engelhard, den Texten ohne Memorialartefakte, glückt die Identifizierung des Gefährten umstandslos. In der Historia septem sapientum, in der ein einzelner Ring, den Lodovicus Alexander überreicht hatte, als Erinnerungszeichen fungiert, kristallisiert sich eine korrelierende Variante zu den religiös deutenden Texten heraus: Der aussätzige Alexander bittet zunächst, seine _____________ 617 In diesem Text gibt es weder eine differenzierende Wunde noch eine Problematik des Zweikampfes. Der Auslöser für den Aussatz war hier der falsche Verlobungs- bzw. Eheschließungseid.
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Mahlzeit auf der Erde vor dem König Lodovicus einnehmen zu dürfen. Danach bittet er um einen Trunk aus dem Becher des Königs. Da er jeweils bei Gott und bei König Alexander von Ägypten bittet, gewährt Lodovicus das Erbetene. In den Becher legt Alexander den Ring. Lodovicus erkennt den Ring und zieht zunächst in Gedanken die falschen Schlüsse: Allexander ist tod oder diser mensche ist wunderlich bý dis fingerlin komen (Heidelberg, Cpg 149, Bl. 60v, Sp. 2).618 Er befragt den Aussätzigen und klärt dann selbst die Bedeutung des Ringes auf: Es ist das fingerlin, das jch Alexander gap zů eime wortzeichen rehter liebe (elsässische Fassung, Roth 2008, S. 177, Z. 14f.). Darauf gibt sich der Bettler als Alexander zu erkennen und löst so Klagegesten und -ausrufe seines Freundes aus. Die Szene enthält eine deutliche Reminiszenz an die dominierende Erkennungsszene in den Amicus-Amelius-Texten, in der die beiden Becher zusammengeführt werden. Der herrschaftliche Becher ist hier nicht mehr ergänzendes Memorialzeichen, sondern lediglich Behältnis für das Wiedererkennungssignum, den Ring. Ist das vereinzelte Zeichen auch Hinweis auf die beständige Differenz der Freunde, so muss der Erkenntnisprozess hier deutlicher von beiden Gefährten getragen werden, indem Lodovicus die Funktion des Ringes nochmals erläutert. Die Aufdeckung der eigenen Identität folgt je nach Textgruppe verschiedenen Prinzipien: In den elaborierten und mittellangen Bearbeitungen der Texte mit religiösem Sinnzusammenhang (Gruppe 2) bestimmt Amicus seine Identität, indem er sein Herkunftsgebiet sowie die vom Papst empfangenen identitätsstiftenden Elemente Taufe und Becher erwähnt, in einigen – wenigen – Texten nennt er auch seinen Namen; so sagt er etwa in der zu den mittellangen Fassungen gehörenden Berliner Hs. Mgq 261: Jnd Amicus antworde, dat he burdich wer van der burch Beritano jnd dat he zo Rome de douff jnd auch den napp yntfangen hette (Oettli 1986a, S. 183, Z. 212-214). In den Minimalfassungen findet entweder keine derartige oder nur eine unspezifische Eigenbeschreibung statt. In den Grenzfällen (Gruppe 3) definiert sich der Aussätzige jeweils über sein Begehren nach dem Gefährten, und nicht über adlige und religiöse Identitätsbausteine.619 Wieder eine andere Strategie wählen die Text der ersten Gruppe, in denen es zu einer Preisgabe der Identität kommt (also nicht Radulfus Tortarius’ Fassung und Konrads Engelhard): In Lille 130 erklärt sich Amile als Freund des Ritters Ami, der ihn einen Becher gegeben und dem er im Zweikampf geholfen hätte.620 Identität wird hier also über den Freund und den bereits _____________ 618 In Gießen 104 sieht Ludwig immerhin die Möglichkeit, dass es sich um Alexander handelt: eintweder der Alexander ist tod, oder er hat das gestolen, oder er ist es selb (Steinmetz 2001, S. 71, Z. 374f.). 619 Vgl. Paris / Robert 1879, V. 1570-1573. 620 Vgl. Woledge 1939, S. 455.
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absolvierten Freundschaftstest bestimmt. In der Historia septem sapientum definiert sich Alexander als derjenige, dem Lodovicus den Ring überreicht hat, also ebenfalls auf der Freundschaftsebene und über den Freund.621 In der mittelenglischen romance und in der anglonormannischen Verserzählung ist es nicht der Aussätzige selbst, der seine Identität enthüllt, sondern sein treuer Begleiter Oueys / Uwein. In jenem Text verweist Oueys auf die Hilfe, die Amylion seinem Freund in der Not zukommen ließ, also auf das Treuebündnis; in diesem Text rekurriert er auf die Liebe, die Amys Amillyoun einst entgegenbrachte.622 Während die zweite Textgruppe adlige und religiöse Abstammung und Legitimation thematisiert, steht bei den Texten der ersten Gruppe die Freundschaft selbst im Mittelpunkt, um die Identität zu bestimmen, und zwar durch die Benennung spezifischer Handlungsmuster oder Haltungen, die dem Freund gegenüber eingenommen werden. Kindesopfer und Aussatzheilung Nachdem der aussätzige Freund wiedererkannt und das Freundschaftsbündnis bestätigt worden ist, wird der Kranke am Hof aufgenommen, gepflegt und versorgt. In den verschiedenen Texten wird dem aussätzigen Gefährten nicht nur ein Gemach oder Bett bereitgestellt, sondern auch alle mögliche Zuwendung623 – wie etwa das Baden des Kranken624 – zuteil.625 Gemeinsam verbrachte Zeit und geteiltes Hab und Gut626 bilden dabei unterschiedliche Schwerpunkte, die jeweils ex negativo auf die erlittenen Entbehrungen rekurrieren und ein vorbildliches, im Freundschaftsbündnis verankertes Handlungsmodell gegenüber dem Aussätzigen etablieren.627 _____________ 621 622 623 624 625
Vgl. etwa für die lateinische Hs. Innsbruck, Cod. 310, Roth 2004, S. 460, Z. 414f. Vgl. Le Saux 1993, st. 170, und Fukui 1990, V. 1030-1037. Vgl. für die lateinische elaborierte Vita Kölbing 1884, S. cv, Z. 13-16. So geschieht es in der anglonormannischen Verserzählung. Vgl. Fukui 1990, V. 1051f. Im Engelhard wird für Dietrich ein Haus gebaut, was aber nicht zu seiner erneuten Vereinsamung führt, da Engelhard viel Zeit mit ihm verbringt. Vgl. Reiffenstein 1982, V. 57945797, V. 5802-5839. 626 Dies wird auch in den Minimalfassungen (Gruppe 2) herausgestellt; vgl. etwa für den Großen Seelentrost Schmitt 1959, S. 231, Z. 33. 627 Amelius’ Gemahlin beteiligt sich in einigen Texten an der Aufnahme des Kranken: Mit Ausnahme der Seelentrost-Fassungen partizipiert die Ehefrau in den religiös deutenden Texten an Amelius’ vorbildlichem Verhalten. Auch sie empfängt den Aussätzigen und versorgt ihn. Das Gleiche gilt für die Grenzfall-Texte. In den Texten mit adligem Sinnhorizont (Gruppe 1) behandelt in der mittelenglischen romance und in der anglonormannischen Verserzählung die ehemalige Prinzessin den Aussätzigen gut, in den anderen Texten wird sie nicht erwähnt.
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In Radulfus Tortarius’ Fassung und in der Historia septem sapientum werden Ärzte konsultiert, um die Situation des Kranken zu verbessern und die Krankheit zu heilen. Während in jenem Text das Heilmittel – Kinderblut – aufgedeckt wird,628 versagen die Heiler in der Historia meist.629 Nur in Gießen 104 geben die Ärzte als Heilmittel reyner kinder blüt (Gießen 104, Steinmetz 2001, S. 72, Z. 395) an.630 Einzig in der vierten lateinischen Textgruppe heilen die Ärzte Alexander, und zwar nicht mit Kinderblut, sondern mit medizinischem Wissen und Gottes Hilfe.631 Die Seelentrost-Texte erzählen vom gottgefälligen Verhalten des aussätzigen Amicus: Dar bleff Amicus in deme houe vnde ouede sijk sere an innicheit, an beden, an waken, an vasten, an allen guden werken (Schmitt 1959, S. 232, Z. 2f.). Die Zeitspanne der Umsorgung bleibt meist unbestimmt, allein in der mittelenglischen romance und in der anglonormannischen Verserzählung finden sich Angaben, die die ausgedehnte Frist des Leidens herausstellen: Handelt es sich im ersten Text um zwölf Monate, sind es im zweiten gar dreizehn Jahre, in denen Amylion dahinsiecht und gepflegt wird.632 Nach einer angemessenen Zeit des Leidens wird ein Ende in Aussicht gestellt: Ein Engel offenbart das einzig wirksame Heilmittel für den Aussatz: das Blut der beiden Söhne des gesunden Freundes.633 In der elabo_____________ 628 Sollicitusque tuis possit conferre satutem / Quo pacto menbris, quaerit id a medicis; / Comperit ut nullo medicamine ni puerili / Sanguine curari vulnera posse tua (Ogle / Schullian 1933, V. 303-306). („Voller Eifer, deinem Körper irgendwie Gesundheit zu verleihen, begibt er sich zu den Ärzten. Er erfährt, dass deine Wunden mit keinem anderen Medikament als mit dem Blut von Kindern geheilt werden können“, nach Leach 1937/1990, S. 104.) 629 Nach der Untersuchung wird Unheilbarkeit diagnostiziert; vgl. für Innsbruck, Cod. 310, Roth 2004, S. 462, Z. 433f. Erst nachdem die Ärzte versagt haben, wenden sich die Freunde Gott zu. 630 Wie in Radulfus Tortarius’ Verserzählung bezieht sich der ärztliche Rat nicht ausdrücklich auf die leiblichen Söhne des gesunden Freundes, trotzdem werden genau sie geopfert, was als Zeichen besonderer Liebe gedeutet wird; vgl. Ogle / Schullian 1933, V. 305f. 631 Für die lateinische Hs. München, UB, 2° Cod. ms. 672, vgl. Roth 2004, S. 652, Z. 242-249. 632 Vgl. Le Saux 1993, st. 176, V. 2, und Fukui 1990, V. 1063. 633 Die magische Vorstellung von der Heilkraft unschuldigen Kinderblutes findet sich auch in anderen mittelalterlichen Texten, etwa in Hartmanns von Aue Der Arme Heinrich und in Konrads von Würzburg Silvester. Cormeau / Störmer ²1993, S. 146-150, geben eine Aufstellung von Stoffparallelen, wobei sie zwischen zwei Gruppen von Erzählungen unterscheiden: In der ersten, deren Grundmodell Cormeau / Störmer in der Silvesterlegende sehen, wird auf das als heidnisch markierte Kindesopfer verzichtet. Dadurch wird eine – ebenfalls göttliche – Heilung in der Taufe möglich. „Seine schwer errungene Entscheidung gegen die Therapie zeichnet den Kaiser als mitleidend und barmherzig, demütig und schicksalsergeben aus, er ist seiner Gesinnung nach reif für die Bekehrung zum rechten Glauben“ (S. 147). In der zweiten Gruppe, die nach Cormeau / Störmer die Amicus-Amelius-Texte bilden, wird das Blutopfer dagegen von Gott angemahnt und muss erbracht werden: „Im Zentrum dieser Handlungssequenz steht der Freund, dem sich das Problem stellt, für Freundeshilfe ein schwerstes persönliches Opfer zu bringen. Er handelt aus lautersten Motiven und beweist seine bedingungslose Treue. Der eigentlich blutige Heilungsakt bleibt im
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rierten Vita schlafen Amicus und Amelius vereint absente uxore in eodem [...] thalamo (Kölbing 1884, S. cv, Z. 18).634 Der Erzengel Raphael erscheint jedoch nur dem kranken Amicus, um ihm den nächsten Treuebeweis mitzuteilen: Audi ergo preceptum Domini: dic Amelio comiti, ut duos filios suos interficiat et in sanguine illorum te ablat, et sic recipies sanitatem! (Kölbing 1884, S. cv, Z. 25-27)635 Amicus weist das Skandalon des Sohnesmordes, den sein Freund begehen soll, zurück, Raphael aber verstärkt das Gesagte nochmals. Diese Information weiterzuleiten erweist sich als kompliziert: Nachdem Amelius den Dialog zwischen seinem Gefährten und dem Engel mitangehört hat,636 befragt er Amicus nach seinem Gesprächspartner.637 Dieser gibt endlich unter Tränen das Geheimnis preis: Nicht nur die Identität des nächtlichen Besuchers, sondern auch der Gesprächsinhalt wird enthüllt. Ebenso wie Amicus in der Unterredung mit dem Engel die undenkbare Tat abwehrt, lehnt Amelius das Geforderte schlichtweg ab und unterstellt Amicus, sich die göttliche Offenbarung nur ausgedacht zu haben;638 die Wirksamkeit des magischen Mittels selbst wird nicht bezweifelt. Amicus bittet seinen Gefährten weinend, ihn nicht zu verstoßen.639 Amelius lässt sich die Wahrheit des Gesagten von seinem Gefährten beeidi-
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Hintergrund“ (S. 148). Die zwei Grundtypen hat bereits Wapnewski 41969, S. 95, herausgearbeitet. Er nennt den ersten „Barmherzigkeitstypus“, den zweiten „Freundschaftsprobe“. „im selben Schlafgemach, während seine Ehefrau abwesend war“ (nach Kuefler 2000, S. 452) „Höre also den Befehl des Herrn: ‚Sage Graf Amelius, dass er seine zwei Söhne töten und dich in ihrem Blut waschen soll, so wirst du gesund werden!‘“ (nach Kuefler 2000, S. 452) Offenkundig hat er den Gesprächsinhalt selbst nicht vernommen. Mit dem Gespräch zwischen Amicus und Amelius setzt das zweite Fragment der von Rosenfeld edierten mittelhochdeutschen Hs. ein und endet mit der Abweisung. Vgl. für die lateinische elaborierte Vita Kölbing 1884, S. cv, Z. 42 – S. cvi, Z. 1-3. Rosenfeld 1968, S. 51, hat herausgearbeitet, dass die mittelhochdeutsche Hs. „eine kleine Veränderung“ gegenüber der lateinischen Vita eingebaut hat. Es handelt sich um Amicus’ Satz: Ja wil ich immer åvzsezik sin, / E daz dv erslahst div kindelin! (Fragment II, S. 50, 29) Diesen Verzicht auf Heilung, den Rosenfeld in den Kontext von Hartmanns Armen Heinrich rückt, betrachtet der Herausgeber als „eine Änderung des Ethos“ (S. 53): Er sieht ein „natürliche[s] Erbarmen“ (S. 53) des Kranken, das letztlich dazu führe, dass in diesem Text „die göttliche Belohnung der Freundestreue zur Belohnung des Erbarmens“ (S. 53) würde. Rosenfelds Beobachtung ist sicher richtig, aber auch in den anderen elaborierten Fassungen steht Amicus dem Engelsgebot zunächst skeptisch gegenüber. Vgl. etwa in der französischen Vita: Ce ne soit jè que mes compains soit homicides por ma santé (Moland / D’Héricault 1856, S. 66). („Es soll niemals sein, dass mein Freund für meine Gesundheit zum Mörder wird.“) Auch in weiteren Texten verzichtet der Aussätzige zunächst aus ähnlichen Gründen darauf, seinen Freund über das Heilmittel aufzuklären. Ob tatsächlich eine Bedeutungsveränderung der Belohnung Gottes anzusetzen ist, muss pure Spekulation bleiben, da das Fragment ja bereits abbricht, noch bevor sich Amelius überhaupt zur Durchführung des Opfers entschließen kann.
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gen640 und ändert in einem inneren Monolog seinen Standpunkt, wobei er Amicus’ bisherigen treuen Beistand sowie Abrahams Opfer641 und biblische Handlungsregulative reflektiert: Tunc Amelius secreto cepit flere et sic mente revolvere: Si ante regem pro me paratus fuit ille mori, et ego pro illo filios meos non interficiam? Si fidem michi usque ad mortem servavit, quomodo et illi non servabo? Abraham namque per fidem salvatus est, sancti per fidem vicerunt regna et veritas in evangelio ait: Quecunque vultis, ut faciant vobis homines, et vos eadem facite illis! (Kölbing 1884, S. cvi, Z. 11-17)642
Fides bildet das zentrale Konzept dieser Überlegungen, dessen Bedeutungsspektrum von ‚Treue‘ bis ‚Glauben‘ entfaltet wird und damit die Brücke zwischen freundschaftlichen und christlichen Verhaltensnormen schlägt. Letztlich entschließt Amelius sich, das Kindesopfer durchzuführen. In der mittellangen Version ist die Dramatik dieser Sequenz stark zurückgenommen, da Amelius von der Offenbarung zwar erschüttert ist, aber keine Krise aus der Situation erwächst. Die Tat wird zwar schweren Herzens (grauiter, Vincentius 1624/1965, cap. clxvi, S. 957, Sp. 2), aber ohne Verzögerung angetreten.643 Die Seelentrost-Texte benennen die Engelserscheinung,644 in der das Heilmittel offenbart wird, als Treuebeweis Gottes an den Freunden: Dar na wolde god bewisen, wu anneme eme dat ys, dat eyn mynsche syneme euenen kristenen truwe ys vnde truwe kumpanie holde (Schmitt _____________ 640 Vgl. Kölbing 1884, S. cvi, Z. 6-11. Die Bedeutsamkeit und Verlässlichkeit des Freundeseides, der letztlich die Tötung der Kinder herbeiführt, wird an dieser Stelle nochmals herausgestellt. 641 Zu Parallelen mit der alttestamentarischen Abraham-Isaak-Geschichte und daraus resultierenden Deutungsmöglichkeiten des Kindesopfers vgl. Jackson 1993. 642 „Amelius begann dann im Geheimen zu weinen und bei sich selbst zu denken: ‚Wenn er bereit war, für mich vor dem König zu sterben, sollte ich dann nicht meine Söhne für ihn töten? Wenn er die Treue zu mir bis zum Tode bewahrt hat, wie kann es dann sein, dass ich nicht das Gleiche tue? Abraham wurde durch seinen Glauben gerettet, die Heiligen haben Königreiche mit dem Glauben erobert und die Wahrheit des Evangeliums sagt: ‚Und was du von anderen Männern erwartest, das sie für dich tun, das tue für sie‘“ (nach Kuefler 2000, S. 453). 643 In der mittellangen Version fehlen zudem das gemeinsame Gemach respektive Bett sowie der Umstand, dass Amelius das Gespräch mit dem Engel bruchstückhaft mitanhört (Amicus erzählt es ihm einfach). In der Berliner Hs. Mgq 261 ist es nicht Raphael, sondern Michael, der dem Kranken erscheint. 644 Im Großen Seelentrost erscheint Raphael, in der Hs Hannover I 239 hingegen Gabriel, ebenso wie in der mittelenglischen Alphabet-of-Tales-Fassung. Im lateinischen Exempel hat Amicus keine Engelserscheinung, sondern einen Traum (sompnum habuit, Klapper 1914, S. 340, Z. 24), den er Amelius erzählt. Auch hier fühlt sich Amelius zum Handeln genötigt, allerdings bezeichnet der Text dieses mit in errore maximo (Z. 29, „in solcher Verblendung“, S. 140), so dass der Traum mitnichten die gleiche Autorität besitzt wie die göttliche Offenbarung in den anderen Texten. Amicus bittet Gott nach dem Opfer, die Kinder wiederzuerwecken; vgl. Z. 32-35.
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1959, S. 232, Z. 4f.). Die Entscheidung für den Vollzug des Opfers erfolgt noch knapper als in der mittellangen Version: Dâ Amicus Amelius das sagete, dô wart er beide betrubet und erfraüet: er was betrubt wan im swêr was sîn eigen kinder zu dôden, und er was erfraüet das sîn geselle gesunt mocht werden (Wackernagel 1839, Sp. 985, Z. 12-16). Entscheidend ist in allen religiös deutenden Texten, dass der ohnehin schwierige Treuebeweis zusätzlich durch die Tatsache erschwert wird, dass der kranke dem gesunden Gefährten Heilmittel und -methode offenbaren muss. Der gesunde Freund muss also nicht nur die freundschaftliche Bindung höher als die blutsverwandtschaftliche bewerten, sondern erst dem Freund in dieser undenkbaren Angelegenheit Glauben schenken. Der potentiell darin angelegte Konflikt wird nur in der elaborierten Vita ausgearbeitet, in den anderen Fassungen wird das Freundesdiktum nicht hinterfragt. Ähnlich verhält es sich in den Grenzfällen: Auch hier erscheint Ami ein Engel645 und erläutert das einzige Heilmittel. Dies geschieht in der chanson de geste am Hofe des Freundes, im Miracle bereits zuvor. In beiden Texten kostet es den Kranken große Überwindung, den gesunden Freund einzuweihen. Obwohl Amile auch hier bestürzt ist, wird die Freundschaft nie hinterfragt. Die Offenbarungsszene variiert in den Texten der ersten Gruppe insbesondere hinsichtlich des Freundes, dem das Heilmittel mitgeteilt wird. Hier kann es auch dem Gesunden offenbart werden, wie dies etwa in der anglonormannischen Verserzählung geschieht.646 Das zusätzliche Element einer Vertrauensdemonstration, bei der der gesunde Freund sich auf das Wort seines Gefährten verlassen muss, entfällt damit. In der mittelenglischen romance erscheint der Engel beiden Freunden,647 wodurch alle Zweifel über die Richtigkeit des Gebotenen ausgeräumt werden.648 In der Historia septem sapientum wird zwar dem aussätzigen Alexander von einer styme von gotte (Hans von Bühel, Dyocletianus Leben, Keller 1841, V. 8788) das Rekonvaleszenzverfahren mitgeteilt, er sagt es Lodovicus jedoch nicht.649 _____________ 645 Vgl. für die chanson de geste Dembowski 1987, L. 142-144. Im Miracle tritt Gott selbst auf und beauftragt den Erzengel Michael, die Nachricht zu überbringen; vgl. Paris / Robert 1879, V. 1444-1455. Bereits bei der Warnung vor dem bigamistischen Eid durch Gabriel war Gott selbst auf den Plan getreten; vgl. V. 1210-1217. 646 Vgl. Fukui 1990, V. 1066-1076. Dort hört Amys im Traum eine Stimme, die ihm Handlungsanweisungen gibt. 647 Entweder geschieht dies sukzessive oder es sind zwei Engel gleichzeitig unterwegs; vgl. Le Saux 1993, st. 177f. 648 Vgl. Le Saux 1993, st. 179. 649 Alexander hält die von Gott geforderte Handlungsweise für nicht erfüllbar. Vgl. etwa Hans von Bühel, Dyocletianus Leben, Keller 1841, V. 8801-8807. In der Innsbrucker Hs. und im Codex 407 des Wiener Schottenstifts sind es sogar fünf Söhne, die allesamt geopfert werden müssen; vgl. Roth 2004, S. 462, Z. 439-442, und Steinmetz 1999, Bl. 36r. In der Gießener Hs. 104 sind es vier, die allerdings nicht sterben müssen, sondern nur zur Ader gelassen werden; vgl. Steinmetz 2001, S. 72, Z. 390-405, und S. 73, Z. 423-439. In der
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Lodovicus betet weiter zu Gott, worauf die Stimme mit Unverständnis reagiert: Was růffest mich so sere an / Alexandern ich doch gesaget han / Der weis den wege siner gesuntheit (V. 8820-8822). So ist ebenfalls für absichernde Legitimation gesorgt. In Radulfus Tortarius’ Text ist es keine göttliche Offenbarung, sondern ein ärztlicher Ratschlag, der dem gesunden Freund das Heilverfahren unterbreitet. Einzig in Lille 130 und im Engelhard ist der kranke Freund in dieser Textgruppe gezwungen, seinem Gefährten die schreckliche Botschaft selbst zu überbringen. In Lille 130 wird die Herkunft des Wissens um die Aussatzmedizin nirgendwo deutlich. Als Amis Amiles nach einem Heilmittel befragt, kann dieser es einfach benennen. Im Engelhard wird Dietrich die Notwendigkeit des Kindesopfers bereits lange vor seiner Ankunft an Engelhards Hof von einem Engel eröffnet, allerdings entscheidet sich Dietrich zunächst dagegen: sol mir kein arzenîe fromen ze mîner swære diu mich traf wan sîner kinde rôtez saf, sô bin ich immer ungenesen. (Reiffenstein 1982, V. 5542-5545)
Diese Ablehnung wird auch später im Dialog mit Engelhard nochmals breit ausgeführt: Zunächst will Dietrich das Genesungsmittel gar nicht verraten, erst Engelhards Drohung mit dem Ende der Freundschaft bringt Dietrich zum Sprechen. Es folgen hundert Verse, in denen Dietrich versichert, dass er Engelhard niemals um etwas derartiges bitten würde.650 Es schließt sich eine fast ebenso lange Antwort Engelhards an, in der er die Lage reflektiert und sich für Dietrich und gegen seine Kinder entscheidet.651 Diese Entscheidung sowie die Durchführung des Kindesopfers ist unterschiedlichen narrativen Konventionen unterworfen, die jeweils auf abweichende Konzeptionen sozialer Beziehungen verweisen.652 Ist die Entscheidung in der elaborierten Vita eine prekäre, die sich erst in Amelius’ Reflexionsprozess von Ungläubigkeit und Ablehnung zu Einverständnis wandelt, scheint in den anderen Texten der Entschluss zwar schweren Herzens gefasst zu werden, letztlich bildet aber der Freundschaftscodex die einzig gültige Direktive. Trotzdem werden meist Bedenken hinsicht_____________ Heidelberger Hs. Cpg 149, Bl. 63r, und in französischen Prosabearbeitung von 1492 sind es wie in den anderen Amicus-Amelius-Texten zwei Söhne; vgl. Paris 1876, S. 188. 650 Vgl. Dietrichs gesamte Rede: Reiffenstein 1982, V. 5962-6106. 651 Vgl. Reiffenstein 1982, V. 6118-6202. 652 Vgl. den Aufsatz von Clifton 1998 zur unterschiedlichen Darstellung und Deutung des Kindesopfers in der chanson de geste, in der mittelenglischen romance und in der anglonormannischen Verserzählung.
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lich der Kindstötung thematisiert. Nur in Radulfus Tortarius’ sowie in der anglonormannischen Verserzählung und in der Historia septem sapientum scheint die Tötung der Söhne ohne Skrupel, Unrechtsbewusstsein oder emotionale Involviertheit vorgenommen zu werden.653 In allen anderen Texten existiert trotz der unhinterfragbaren Priorität des Freundschaftsbündnisses ein Verständnis davon, dass ein derartiges Verhalten gegenüber den eigenen Söhnen unangemessen ist: So wertet es Amys in der mittelenglischen romance als a dedely synne (Le Saux 1993, st. 180, V. 3)654 und Dietrich positioniert ganz deutlich daz reht und diu natûre wert (Reiffenstein 1982, V. 6022) als Konzepte, die der von Gott angeordneten Freundschaftstat diametral entgegengesetzt sind. Geltendes Recht und Blutsverwandtschaft stehen in Opposition zur freundschaftlichen triuwe. Für Engelhard erscheint die eigenhändige Vernichtung der Nachkommen als leit (V. 6140):655 so ist aber daz ein grôziu klage, ob ich getœte disiu kint diu von mînem lîbe sint gewahsen unde erquicket. mîn herze lît verstricket in strenger sorgen bande. (V. 6134-6139)
Gleichwohl entscheidet er sich zugunsten des aussätzigen Dietrich: Nicht nur die triuwe, sondern auch Gott fordert die Darbringung des Kindesopfers: in hæte enzündet gotes geist / und der wâren minne gluot (V. 6216f.). _____________ 653 Vgl. etwa die äußerst knappe Beschreibung in Radulfus’ Text: Ostendit quanto te complectatur amore / Dum pro te natos abdicat ipse duos (Ogle / Schullian 1933, V. 307f.). („Er zeigt, wie groß seine Liebe für dich ist, indem er seine eigenen Söhne für dich opfert“, nach Leach 1937/1990, S. 104.) Siehe auch Amys’ Reaktion auf die Offenbarung in der anglonormannischen Verserzählung: Mout avera fait bone jorné / Si par lour saunk poet estre sauné (Fukui 1990, V. 1082f.) („Ich hätte ein gutes Tagewerk vollbracht, wenn er mit ihrem Blut geheilt werden kann“), sowie seine geradlinige Durchführung des Opfers ohne Zögern und Zweifel (V. 1084-1097). In der Historia septem sapientum hat zwar Alexander Bedenken, Lodovicus das Heilverfahren zu eröffnen, der allerdings hat keine, seine Söhne zu töten; vgl. für die Innsbrucker Hs. Roth 2004, S. 464, Z. 458-466. In der Fassung von Hans von Bühel weint Ludwig allerdings nach Alexanders Mitteilung und spricht von Liebe zu seinen Kindern; vgl. Keller 1841, V. 8865 und V. 8869f. – In Lille 130 und im lateinischen Exempel geht die Opferung selbst ebenfalls ohne Schwanken und Unschlüssigkeit über die Bühne, nach der Heilung lässt sich indes eine negative Einschätzung der Tat ablesen: So spricht Amis von abzuleistender penitance (Woledge 1939, S. 456) („Buße“) und will deshalb nach Rom reisen, seine Frau will ihn begleiten. Im lateinischen Exempel betet der geheilte Amicus in großer Trauer, dass Gott die Kinder wieder zum Leben erwecken möge; vgl. Klapper 1914, S. 340, Z. 32-34. 654 „eine Todsünde“ 655 Die Stelle jâ wil ich biz an mînen tôt / mit îsen zallen stunden / dar umbe sîn gebunden (Reiffenstein 1982, V. 6160-6162) rekurriert auf eine mögliche Strafe, die die Kindestötung nach sich ziehen könnte. Nach der Opferung spricht Dietrich von sô vrevellicher tât (V. 6323).
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Von den Texten der ersten Gruppe sind es ausschließlich der Engelhard und die mittelenglische romance, in denen der gesunde Freund zu diesem Zeitpunkt über den Treuebeweis reflektiert, den sein aussätziger Gefährte mit der Körpersubstitution im Zweikampf erbracht hat.656 In den Texten der zweiten Gruppe geschieht dies in allen Bearbeitungen mit Ausnahme der Seelentrost-Texte: Der erste Freundschaftstest, in dem Amicus für Amelius gekämpft und ihm damit den derzeitigen Status ermöglicht hat, gilt als Legitimation für den zu erbringenden reziproken Beweis des Kindesopfers.657 Die Vita bezieht nicht nur die Freundschaft in die Argumentationskette ein, sondern auch religiöse Gesichtspunkte: Der Bezug zu Abraham und weiteren biblischen Verhaltensvorgaben überdeckt jegliche Wertung des Vater-Söhne-Verhältnisses. Erst im Angesicht des Opferungsaktes wird auf die verwandtschaftliche Beziehung rekurriert. In der elaborierten und mittellangen Vitaversion spricht sich Amicus den Titel des Vaters ab: Ach ich armer man, wann ich fürbaß nymer ewer vater bin, wann ich layder ewer veind sein můß vnd ewer plůtuergiesser (München, Cgm 523, Reiffenstein 1982, S. 248, Z. 250-252). Klagereden und Tränen begleiten und verzögern die Tötung: Et li Cuens prist s’apée et s’an alai à lit où gisoient li anfant, et les trovai dormanz. Et cil se gitai sus aus et comançai à plorer amèrement et dit: Qui oï onques père qui voluntiers occiest son anfant! (Moland / D’Héricault 1856, S. 69)658 Auch in den Minimalfassungen vergießt Amelius Tränen über den bevorstehenden Tod seiner Kinder.659 Dieses offensichtlich emotionale Verhältnis zu seinen Nachkommen spielt bei der Entscheidungsfindung in den religiös deutenden Texten nur eine untergeordnete Rolle.660 Von den Grenzfällen ist es vor allem die chanson de geste, die die Schwierigkeit der Tötung der Söhne Moran und Gascelin bespricht.661 _____________ 656 Vgl. für den Engelhard Reiffenstein 1982, V. 6196-6202, und für die romance Le Saux 1993, st. 184. Im zweiten Text wird darauf verwiesen, dass Amylion sein Blut für seinen Freund vergossen hat. So wird die Parallelität des nun zu erbringenden Blutopfers zum ersten Freundschaftsbeweis stärker herausgearbeitet als in anderen Texten. 657 Vgl. etwa in der Münchener Hs. Cgm 523: Reiffenstein 1982, S. 247, Z. 240-245. 658 „Und der Graf nahm sein Schwert und ging zu dem Bett, in dem die Kinder lagen, und fand sie schlafend. Und er warf sich über sie und begann bitterlich zu weinen und sagt: Wer hat jemals gehört, dass ein Vater freiwillig seine Kinder getötet hätte!“ – In den meisten religiös deutenden Bearbeitungen wachen die Söhne auf und bremsen so nochmals den Vorgang. Vgl. etwa Stuttgart, Cod. theol. et phil. 4° 81, Bl. 285r. 659 Vgl. etwa für den Großen Seelentrost Schmitt 1959, S. 232, Z. 17f. 660 Im Engelhard beeinflusst das Vater-Kind-Verhältnis zwar letztlich ebenfalls nicht die Entscheidung, aber immerhin wird es vorher reflektiert und kommentiert so die zwiegespaltene Position Engelhards. 661 Durch die Namengebung wird den Söhnen eine spezifischere Identität zugewiesen als den namenlosen Söhnen in den anderen Texten.
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Diese liegt sowohl im Verlust der geliebten Leibeserben als auch in der öffentlichen Reaktion auf eine derartige Tat: Moult li est dur et au cuer trop amer De ses douz fiuls que il ot engendréz, Com les porra ocirre et afoler! Se gens le sevent, nus nel porroit tenser C’on nel feïst et panre et vergonder. (Dembowski 1987, V. 2919-2923)662
Doch auch hier siegt die Liebe zu Ami. Die zum Teil sehr ausführlichen Reflexionen über die Tötung des Nachwuchses enden stets damit, dass das Leben des erkrankten Gefährten höher bewertet wird. Gleichwohl wird in der Mehrzahl der Texte ein inniges Verhältnis zwischen Vater und Söhnen evoziert, das indes nicht mit der Zuneigung und Treue zwischen den Freunden vergleichbar ist. In der Tat geht es nicht nur um Elternliebe, sondern um die Fortführung bzw. Begründung der Dynastie, die durch die Wahl des Freundschaftsbündnisses abgewertet wird.663 Letztlich wird mit der Kindesopferung ein zentrales Konstituens adliger Identitätsbildung preisgegeben: Mit dem Tod der Erben wird die Geblütslinie abgeschnitten.664 Die Freundschaft aber wird gesichert und somit als wesentlicheres Element identitärer Formation markiert. Der Akt der Opferung selbst wird ebenfalls oft mit väterlichen Emotionen angereichert.665 Es wird ausgiebig geweint und geklagt,666 in einigen Texten fällt der opfernde Vater in Ohnmacht. Am ausführlichsten wird die Szene in Konrads Engelhard und in der chanson de geste beschrieben. In Konrads Text ist es Engelhard nach dreimaliger Bewusstlosigkeit erst mit Gottes Unterstützung möglich, das Opfer zu vollziehen. Und auch in der chanson de geste wird Amile zunächst ohnmächtig.667 In diesem Text ent_____________ 662 „Zu hart und zu bitter kommt es ihn [im Herzen, S.W.] an, die zarten Kinder, die er gezeugt hat, mit eigener Hand zu töten! Er denkt auch daran, dass das Volk, wenn es ruchbar würde, ihn schmähen und gefangen setzen würde und dass er von keinem Menschen Schutz erwarten könnte“ (Vielhauer 1979, S. 95). 663 Vgl. Kap. II.1. 664 Freilich wird in einigen Texten die Möglichkeit angesprochen, weitere Nachkommen zu zeugen, so im Engelhard, vgl. Reiffenstein 1982, V. 6184-6187. Diese Logik präsentieren auch einige andere Texte der ersten Gruppe – und zwar die mittelenglische romance, die anglonormannische Verserzählung und die Historia septem sapientum, in denen es dann aber jeweils Amelius’ Ehegattin ist, die sie vorbringt; vgl. Le Saux 1993, st. 192, Fukui 1991, V. 1114-1123, und Roth 2004, S. 468, Z. 501-503. 665 Dies gilt nicht für die bereits aufgezählten Texte, in denen keinerlei Zögern wahrnehmbar ist. 666 Vgl. etwa für die mittellange Vita München, Cgm 523 Reiffenstein 1982, S. 247, Z. 240242, Z. 247f., und S. 248, Z.252f. 667 Vgl. Reiffenstein 1982, V. 6269-91, und Dembowski 1987, L. 151 und L. 154.
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spinnt sich ein Gespräch zwischen dem älteren Sohn668 und Amile, in dem der Sprössling der beabsichtigten Opferung zustimmt und die damit verbundene sofortige Aufnahme ins Paradies begrüßt.669 Zudem wird – trotz zuvor antizipierter Strafe für das Kinderopfer – eine Deutung der VaterSohn-Beziehung angeboten, die auf Amiles umfassende Befugnis hinsichtlich der von ihm gezeugten Kinder rekurriert: Noz sommez vostre, de vostre engenrement / Faire en poéz del tout a vo talent (Dembowski 1987, V. 3003f.).670 Dann werden in allen Texten die Söhne getötet: Der Kindesvater schlägt mit einem Schwert die Köpfe der Knaben ab und fängt ihr Blut in einem oder zwei Behältnissen auf.671 Anschließend fügt er in einigen Texten Köpfe und Körper der toten Söhne zusammen.672 Sowohl Konrads Engelhard als auch die chanson de geste verquicken in dieser Sequenz Gewalt, Schönheit und Emotionalität: der süeze werde jungelinc (Reiffenstein 1982, V. 6272) Engelhard schlägt mit nazzen ougen (V. 6287) seinen Kindern mit dem Schwert die Köpfe ab und fängt das Blut in zwei schœniu beckelîn (V. 6289) auf. Während Erich Kaiser in diesem „Gemenge unvereinbarer Elemente“ nur „künstlerisches Versagen“673 erblicken kann, sehe ich in dieser spezifischen Inszenierung einen weiteren Modus der in allen Amicus-Amelius-Texten vorherrschenden Konstellation von mit Gewalt und Emotionalität verknüpfter Schönheit der Freunde. Liegt im Freundschaftsmodell dieses Textkorpus jede dieser Konstituenten in zweifacher Form vor, ja entsteht die spezifische Ästhetik des Körpers hier aus seiner Duplizität, ist in der Tötungssequenz die Perspektive auf einen der Gefährten eingeengt. In der zweifachen Anzahl von Söhnen und Becken wird auch hier die Verdoppelungstendenz der Amicus-AmeliusTexte sichtbar. In der chanson de geste wird in einer modifizierten Erzähl_____________
668 In einigen Texten wird das Alter der Kinder mit drei Jahren angegeben, wodurch der Eindruck erzeugt wird, es handele sich um Zwillinge. Vgl. etwa Stuttgart, Cod. theol. et phil. °4 81, Bl. 285r und Andreas Kurzmann, Oettli 1986a, S. 168, V. 841-844. 669 Vgl. Dembowski 1987, L. 154. – Ein ähnlicher Verweis, wenn auch an früherer Stelle, findet sich im Engelhard: Engelhard geht davon aus, daz diu kint ze himele komen (Reiffenstein 1982, V. 6163) und plant: ich sol den liehten himelhort / koufen mînen kinden (V. 6178f.). 670 „[V]on euch stammen wir ab, Ihr habt uns gezeugt und Ihr könnt mit uns tun, was Ihr wollt“ (Vielhauer 1979, S. 97). 671 In den knappen Formulierungen Radulfus’ sind über diese Umstände keine Informationen zu erlangen; vgl. Ogle / Schullian 1933, V. 308. In zwei Seelentrost-Texten, und zwar in Wackernagels ediertem Seelentrost-Exempel und in der Hs. Hannover I 239, ist lediglich davon die Rede, dass Amelius das bluit [nam] (Wackernagel 1839, Sp. 985, Z. 27), auch im lateinischen Exempel findet sich kein Becken. In der anglonormannischen Verserzählung scheint Amys das blutige Bettzeug um seinen aussätzigen Freund zu wickeln, während er ihn sonst mit dem Blut benetzt oder wäscht. Vgl. Fukui 1990, V. 1096f., deutlicher in Kölbings Ausgabe 1884, S. 182, V. 1105f., der an dieser Stelle eine andere Hs. vorzieht. 672 Z.B. in der mittellangen Fassung der Hs. Stuttgart, Cod. theol. et phil. 4° 81, Bl. 285r: Do leit er die toten lyblin mit haubten In das bet vnd deckt sie zu als ob sie // schlieffen. 673 Kaiser 1964, S. 90.
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strategie die Zweiheit eingeführt: Nicht nur auf die Schönheit der Söhne, sondern auch auf die des Vaters wird abgehoben.674 Amile schlägt nach zweimaliger Ohnmacht seinen Söhnen nacheinander den Kopf ab und fängt auch sukzessive ihr Blut auf, ebenso fügt er zweimal den jeweils abgeschlagenen Kopf an den dazugehörigen Körper. Diese präzise Ausführung der zweifachen Hinrichtung verdoppelt jegliches Handlungselement und führt so auch in diese Szene eine Ästhetik der Verdoppelung ein. Auch in den anderen Texten, in denen die Enthauptungen zusammenfassend beschrieben werden, manifestiert in dieser Sequenz sich eine grundlegende ästhetisierte Zweiheit in den zwei Söhnen.675 In der Handlungsdynamik der Amicus-Amelius-Texte mündet diese Passage – gleich ob mit oder ohne ostentative Verdoppelungsstrategien – in eine weitere Spiegelung: Die magische Qualität, die dem Blut der getöteten Kinder innewohnt, stellt die ursprüngliche leibliche Gleichheit der Freunde wieder her. Zu diesem Zweck wird der Freund mit dem Blut der unschuldigen Kinder gewaschen. Die chanson de geste schildert den Vorgang ganz ausführlich:676 Dou rouge sanc li a froté le front, Les iex, la bouche, les membres qu’el cors sont, Jambes et ventre et le cors contremont. Piés, cuisses, mains, les epaules amont. Dou sanc partout le touche. (Dembowski 1987, V. 3063-3067)677
Nach diesem ausführlichen Arrangement adliger Körperteile, die zu diesem Zeitpunkt noch aussätzig, aber immer noch von durchschimmernder Schönheit sind,678 erfolgt die Gesundung schlagartig:679 Si com il touche le _____________ 674 Vgl. Dembowski 1987, V. 2965f. und V. 2992. 675 Die fünf Söhne in der Historia septem sapientum zeugen ebenso von einem Zerfall bzw. einer Abschwächung dieses Modells wie die Differenzierung zwischen Alexander und Lodovicus. Eine Ausnahme bildet hier wieder die Hs. Gießen 104, zum einen weil hier die Söhne nicht enthauptet, sonder lediglich zur Ader gelassen werden, wovon sie sich auch ohne Gotteswunder wieder erholen, und zum anderen weil es hier vier Söhne sind: Da keine Tötung stattfindet, sondern ihnen das blüt allain úff das halbtail (Steinmetz 2001, S. 73, Z. 433) abgelassen wird, sind natürlich auch doppelt so viele Söhne wie in den anderen Versionen nötig, um den aussätzigen Freund zu heilen. 676 Andreas Kurzmann beschreibt den Vorgang – wie die meisten Amicus-Amelius-Texte – etwas knapper: er ward in mit dem pluet beneczn, / secht, do verswant jm aller chreczn, / den der Amicus an jm hett (Oettli 1986a, S. 170, V. 931-933). 677 „Mit dem roten Blut hat er ihm die Stirn abgerieben, die Augen, den Mund, die Gliedmaßen, die Beine, den Bauch, den ganzen Körper, Füße, Schenkel, Hände, oben die Schultern. Er berührt ihn überall mit dem Blut.“ 678 Vgl. die Einschätzung des Seneschalls Rémy, der den leprösen Ami als schön bezeichnet: il n’a souz ciel si bel (Dembowski 1987, V. 2715) („es gibt keinen schöneren unter dem Himmel“).
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sanc el front Amis, / Li chiet la roiffe dont il estoit sozprins (V. 3074f.).680 Diese wunderbare Heilung ist allerdings nur mit Gottes Hilfe realisierbar: So weist die Mehrzahl aller Amicus-Amelius-Texte ein Gebet, zumindest aber eine Anrufung Gottes bei oder kurz nach der Einbalsamierung des Kranken auf.681 Im Großen Seelentrost etwa sagt Amelius: Here, alweldige god, wente du geboden heffst den luden, dat eyn mynsche den anderen schal leiff hebben alse sijk suluen vnde schal eme truwe bewisen in synen noden, su an de truwe, de myn kumpan my bewiset heft vnd dat ik van rechter truwe willen myner kindere blot hebbe gegoten, irbarme dijk ouer mynen kumpan vnde makene gesunt van syner suke. (Schmitt 1959, S. 232, Z. 23-28)
Das Kindesopfer wird nochmals explizit im Kontext von Freundschaftstreue und Gottes Willen situiert und somit als vorbildliches Verhalten gekennzeichnet. In der prompten Genesung (Altohant wart he gesunt van al syner suke, Schmitt 1959, S. 231, Z. 28) und an Amicus’ wiederhergestelltem Leib wird Gottes Sanktionierung der Kindstötung evident.682 Ebenso sichtbar wird die Freundschaft an den nunmehr wieder gleichen Freundeskörpern, deren neu erworbene Ununterscheidbarkeit von den elaborierten und mittellangen hagiographischen Bearbeitungen, von der Minimalfassung im Großen Seelentrost sowie von den Grenzfall-Texten sorgfältig inszeniert wird. Nachdem der wieder gesundete Amicus mit Amelius’ besten Kleidern ausgestattet ist, begeben sich die beiden Freunde zur Kirche. Das Heilungswunder wird durch die von selbst läutenden Kirchenglocken angezeigt, aber auch in den Erkenntnisproblemen von Amelius’ Ehefrau: Uxor quoque comitis, cum utrosque pariter incedere videret, cepit _____________ 679 Einzig in der mittelenglischen romance erfolgt die Heilung nicht unverzüglich: Amylion muss sich zunächst ins Bett begeben und sich gesund schlafen; vgl. Le Saux 1993, st. 188. 680 „Kaum hatte das Blut die Stirn des Grafen berührt, da fiel der grindige Aussatz ab, der sie so lange bedeckt hatte“ (Vielhauer 1979, S. 98). 681 Einige Texte – und zwar die von Wackernagel edierte Seelentrost-Fassung der AmicusAmelius-Geschichte sowie die ebenfalls zur Seelentrost-Tradition gehörende Hs. Hannover I 239 – wissen stattdessen von einem Gebet bei der Tötung der Kinder. Dieses Gebet klärt Gott über die Ursache, nämlich die triuwe, auf. Vgl. Wackernagel 1839, Sp. 983, Z. 23-26, und Oettli 1986a, S. 146, Z. 98-101. Auch die chanson de geste kennt ein Gebet vor dem Sohnesopfer; vgl. Dembowski 1987, L. 150. Ferner weist auch das Miracle eine Anrufung auf; vgl. Paris / Robert 1879, V. 1686-1688. Die mittelenglische romance verfügt an beiden Stellen über Anrufungen; vgl. Le Saux 1993, st. 184 und st. 189. 682 In der elaborierten und der mittellangen Vitaversion und in den Grenzfall-Texten danken die Freunde nach der Heilung Gott und machen sich auf den Weg in die Kirche. In der ersten Textgruppe wird in Lille 130 Gott ohne zusätzlichen Kirchbesuch gedankt. In der anglonormannischen Verserzählung hören die Gefährten einen Gottesdienst in der Kirche; vgl. Fukui 1990, V. 1125f. In der mittelenglischen romance begibt sich Amys allein in die Kirche, während Amylion schläft, um zu gesunden, und betet zu Jesus und Maria, ihn vor der Schande (schame, Le Saux 1993, st. 189, V. 7) zu bewahren, die aufgrund seiner Tat zu erwarten ist.
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querere, quis illorum eius maritus esset (Kölbing 1884, S. cvi, Z. 41-43).683 Die chanson de geste nutzt die Gelegenheit, die ununterscheidbaren Leiber nochmals in den Blick zu nehmen: De chieres robes sont vestu li baron, Tant s’entresamblent de vis et de menton, Dou contenir, del nés, de la raison Que les douz contes ne desseverroit hom Qui est Amiles ne Amis le baron. (Dembowski 1987, V. 3102-3106)684
Die wechselseitige Zusammengehörigkeit der Gefährten äußert sich auch im Körperkontakt: main a main (V. 3114) steigen sie vom Palast herab. Auch Belissant kann ihren Ehemann nicht von seinem Freund unterscheiden. Im Großen Seelentrost wird die wiedergewonnene Ähnlichkeit noch intensiver demonstriert, indem die Freunde die gleichen Gewänder anlegen, so dass weder Amelius’ Gemahlin noch sein Gefolge die beiden unterscheiden können. Während Amelius seine Gattin in den elaborierten und mittellangen Texten sowie in der chanson de geste über die jeweilige Identität aufklärt (Ego sum Amelius et iste socius meus Amicus, qui sanus factus est, Kölbing 1884, S. cvii, Z. 2f.),685 wird im Großen Seelentrost die endgültige Gestaltengleichheit nicht aufgelöst, sondern bis zum Tode bewahrt: Vnde Amelius behelt synen kumpan myt sijk vnde cledede ene myt sijk gelike. Do weren se so gelijk, we den eynen sach, de sach ock den anderen. Noch syn husfruwe noch syn ingesinde en kunden nicht vnderschet weten vnder enbeyden. Dar na storuen se beide (Schmitt 1959, S. 232, Z. 38 – S. 233, Z. 1-3). Die – sowohl ursprüngliche als auch durch die Bewährungsproben gesteigerte – Gleichheit erscheint als anzustrebender, perfekter Zustand, der auf ewig bewahrt wird.686 Die Freude über die Gesundung des Gefährten und über die wiederhergestellte, auf Gleichheit beruhende Gemeinschaft wird zunächst noch von den Gedanken an die toten Söhne getrübt. Der Vater hält den Tod _____________ 683 „Die Ehefrau des Grafen fragte sich, als sie die beiden gemeinsam herbeikommen sah, welcher von ihnen ihr Ehemann sei“ (nach Kuefler 2000, S. 454). – Im Miracle findet sich eine Szene, in der die Ehefrau den Freund nicht erkennt und ihren Mann Amille, den sie ohne weiteres erkennt, obwohl er neben Amis steht, nach der Identität des Fremden befragt; vgl. Paris / Robert 1879, V. 1608-1611. 684 „Mit kostbaren Gewändern sind die Herren gekleidet. Ihr Antlitz und Kinn, ihr Benehmen und ihre Art zu reden gleichen sich so sehr, dass niemand in der Lage wäre zu sagen, wer von den beiden Grafen Herr Amile und wer Herr Ami ist.“ 685 „Ich bin Amelius und der hier ist mein Freund Amicus, der gesund gemacht worden ist“ (nach Kuefler 2000, S. 454). 686 Diese gesteigerte Variante der Gleichheitsinszenierung erfolgt erst nach der Wiederauferstehung der getöteten Söhne, während die gemilderte Option der anderen Texte bereits vor der Resurrektion erscheint.
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der Kinder zunächst geheim:687 Schon bei der Enthauptung der Kinder achtet er auf Geheimhaltung, indem er die Tat erst ausführt, als alle in der Kirche sind. Auch hinterher wird die Aktion verheimlicht.688 In einigen Texten der ersten Gruppe wird die Gattin bald nach der Heilung des Gefährten aufgeklärt, in der mittelenglischen romance sogar noch vor der endgültigen Sicherheit, dass die Gesundung gelungen ist. Auch in der anglonormannischen Verserzählung und in der Historia septem sapientum wird die Ehefrau nach der Heilung in die Geschehnisse eingeweiht. Sie gibt jeweils ihren Konsens kund, bevor das Gotteswunder der Auferstehung bekannt wird.689 Erst nach dem Bekenntnis werden die Söhne lebendig in ihrem Bett aufgefunden. Im Engelhard wird Engeltrut in dieser Sequenz gänzlich ignoriert und überhaupt nicht mit den Ereignissen vertraut gemacht. Engelhard befiehlt nach Dietrichs Gesundung, die Kinder zu ihm zu bringen, ohne die Amme, die sie holen soll, auf das Bevorstehende vorzubereiten. Die Amme findet sie quicklebendig. Dies wird als göttliches Mirakel gekennzeichnet: Nû prüevet grôzes wunder / daz aber dô besunder / erzeigete unser herre got (V. 6375-6377). In Lille 130 erzählt Amis seiner Gattin erst von dem Opfer, nachdem Amiles sein Land bereits zurückerobert hat. Ihr Einverständnis mit der Tötung äußert sich darin, dass sie beabsichtigt, ihren Gemahl auf der Bußreise nach Rom zu begleiten. Diese wird überflüssig, da die Kinder lebend aufgefunden werden.690 Auch in den Grenzfällen eröffnet Amile seiner Gemahlin, die Kinder enthauptet zu haben, noch bevor die Auferstehung bekannt wird. Während Belissant in der chanson de geste zunächst wegen des Todes ihrer Söhne sehr betroffen ist, behauptet sie nach der Wiederauferstehung mit nachträglicher Zustimmung, sie hätte bei der Opferung assistiert, wenn sie davon gewusst hätte.691 Zudem ist bei Amiles Deklaration nicht nur Belissant, sondern auch eine große Volksmenge anwesend, die gleichfalls von den Geschehnissen erfährt und vor der Amile seine und Amis Hinrichtung – ebenfalls durch Enthauptung – antizipiert. Die zu bestrafende Tat _____________
687 In der mittelenglischen romance wird die Geheimhaltung schon bei dem Gespräch der Freunde über ihre nächtlichen Visionen angezeigt, vgl. Le Saux 1993, st. 179 und 182. In der Historia septem sapientum geht die Verheimlichung sogar so weit, dass Florentina nicht über die Identität des Aussätzigen aufgeklärt wird. Nach der Heilung reitet Alexander zunächst – wiederum heimlich – von Lodovicus’ Hof fort, um darauf als Alexander erneut anzukommen. Vgl. für Gießen 104 Steinmetz 2001, S. 71-73, Z. 382-436. In Radulfus Tortarius’ Versfassung heißt es lediglich, die Ehefrau werde weggeschickt, um sie vor dem Tode zu bewahren, den dieses Ereignis auslösen könnte, vgl. Ogle / Schullian 1933, V. 309f. 688 In Andreas Kurzmanns Bearbeitung verschließt Amelius nach der Tat die Kammer, legt einen Riegel vor und nimmt die Schlüssel mit sich. Vgl. Oettli 1986a, S. 170, V. 905- 908. 689 Vgl. Le Saux 1993, st. 191f., Fukui 1991, V. 1108-23, und Roth 2004, S. 467, Z. 487 – S. 468. Z. 503. 690 Vgl. Woledge 1939, S. 456. 691 Vgl. Dembowski 1987, L. 165f.
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wird gegenstandslos, da alle Anwesenden die Resurrektion der Knaben mit eigenen Augen wahrnehmen können. Im Miracle dominiert das Entsetzen von Amiles Ehefrau, als sie vom Kindesopfer hört.692 In den religiös deutenden Texten (Gruppe 2) erfährt die Gemahlin stets erst dann von der Opferung der Kinder, nachdem schon festgestellt worden ist, dass die beiden wiederauferstanden sind. Nach Amicus’ geglückter Heilung und nach einem Dankesgottesdienst begibt sich Amelius – noch immer im Geheimen – in die Kammer seiner Söhne, um sie zu beweinen: solus intravit thalamum, ut super filios defleret (elaborierte Vita, Kölbing 1884, S. cvii, Z. 11f.).693 Zuvor hat er in den elaborierten Bearbeitungen sowohl die Frage seiner Gemahlin nach den Umständen der plötzlichen Genesung seines Freundes als auch ihre Bitte, nach den Kindern zu schicken, brüsk abgewehrt.694 Als er jedoch den Raum betritt, trifft er seine Kinder lebendig und spielend an:695 invenit eos in lecto ludentes, circa quorum colla cicatrices ad modum fili rubei usque ad ipsorum mortem apparuerunt (S. cvii, Z. 12-14).696 Die Narben in Form roter Fäden, die sich um die Hälse der auferstandenen Söhne winden, finden sich in fast allen religiös deutenden Texten697 und im Engelhard.698 Die körperliche Zeichnung konserviert sowohl die bestandene Freundschaftsprüfung als auch das wirksame Gotteswunder. Die Sohneskörper werden zu Trägern eines Freundschaftsmales und Zeugen der triuwe-Bindung. In den adlig deutenden Texten (Gruppe 1) – mit Ausnahme des Engelhard – werden die Leiber der Söhne nicht derartig gekennzeichnet. Bei Radulfus Tortarius spielen die Kinder mit blutroten Äpfeln (puniceis [...] pomis, Ogle / Schullian 1933, V. 317), in der anglonormannischen Verserzählung mit einem Sonnenstrahl (ray del solail, Fukui 1990, V. 1133). In der Historia septem sapientum tanzen sie und singen das Ave Maria.699 Damit werden den auferstandenen Sprösslingen jeweils spezifische Attribute _____________ 692 Vgl. Paris / Robert 1879, V. 1838-1845 und V. 1852-1855. 693 „Er betrat dann allein das Schlafgemach, damit er über seinen Söhnen weinen konnte“ (nach Kuefler 2000, S. 454). 694 Vgl. Kölbing 1884, S. cvii, Z. 11f. 695 Nachdem Amelius die Söhne lebend aufgefunden hat, verkündet er seiner Frau von der Opferung, die rückgängig gemacht wurde. Sie informiert daraufhin in der elaborierten Version darüber, dass sie bei der Tötung die Blutbecken gehalten und hernach den Kranken gewaschen hätte, wäre sie eingeweiht gewesen. Vgl. etwa die französische Vita Moland / D’Héricault 1856, S. 72. 696 „Aber er fand sie in ihrem Bett spielend mit Narben rund um ihre Hälse, Narben in der Form einer roten Linie, die dort bis zu ihrem Tode blieben“ (nach Kuefler 2000, S. 454). 697 Das lateinische Exempel bildet eine Ausnahme: Die Kinder sind nicht gekennzeichnet. 698 Vgl. Reiffenstein 1982, V. 6386-6389. In der französischen Prosafassung der Historia septem sapientum von 1492 haben die Söhne einen Kreis aus Gold um ihren Hals (ung cercle d’or [au col], Paris 1876, S. 192). 699 Vgl. für die lateinische Hs. Innsbruck, Cod. 310, Roth 2004, S. 468, Z. 509f.
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zugeordnet, die entweder auf das vergangene Opfer oder auf das freudige Gotteswunder rekurrieren, die allerdings nicht den Körpern eingeschrieben sind. Die mittelenglische romance besteht auf der körperlichen Makellosigkeit der Knaben: Withoute wem, withoute wounde, / All hole the childerin ther thei founde (Le Saux 1993, st. 194, V. 7f.).700 Die leibliche Markierung ist hier Amylion vorbehalten, dessen im Kampf davongetragene Wunde dazu beigetragen hatte, dass er in der Aussatzsituation erkannt wird. Von den Grenzfall-Texten verfügt die chanson de geste über ein Auferstehungsattribut der Kinder: Amiles Söhne spielen mit einem goldenen Apfel ([u]ne pomme [...] d’or, Dembowski 1987, V. 3191).701 Insgesamt vollführt die zweite zentrale Bewährungsprobe der AmicusAmelius-Texte eine Bewegung, die zum einen erneut entstandene Differenzen zwischen den Freunden ausräumen und zum anderen die Unanfechtbarkeit der freundschaftlichen triuwe nochmals in Szene setzen soll. Insofern wird eine Reziprozität der Proben hergestellt. Gleichzeitig werden auf verschiedenen Ebenen Formen der Steigerung inszeniert:702 Eine Steigerung des Freundschaftsentwurfes stützt sich darauf, das weitere identitäre und vergesellschaftende Modelle einbezogen und mit dem Bündnis der Gefährten verknüpft werden. Die Freundschaftsprüfung des Kindesopfers fokussiert in dieser Hinsicht eine ganz spezifische Konstellation: War in der ersten Bewährungsprobe die Körpersubstitution des einen Freundes für den anderen gefordert und damit ein Handlungsmodell skizziert, das an den singulären Entwurf zweier gleicher, austauschbarer Körper gekoppelt war, geht die zweite große Prüfung über die Leiblichkeit der Freunde hinaus. Der Einbezug der Söhne verweist auf eine zusätzliche Dimension von Identität und auf ein erweitertes Beziehungsnetz, in das zumindest einer der Freunde integriert ist.703 Der erste _____________ 700 „Ohne Makel, ohne Wunde, ganz unversehrt fanden sie dort die Kinder.“ 701 Die Äpfel können im Zusammenhang von Tod und Wiederauferstehung sowohl die Bedeutung der Unsterblichkeit aus der klassischen Mythologie als auch eine an Christus gekoppelte Signifikanz annehmen: Innerhalb eines typologischen Deutungsmodells verweist der Apfelbaum auf das Kreuz, und der Apfel in der Hand Christi auf „die Erlösung von der durch den Sündenfall bedingten Erbsünde“ (Heinz-Mohr 1998, S. 35). 702 Oettli 1986b hat das den Engelhard strukturierende „Reihungs- und Steigerungsprinzip“ (S. 77) der Freundschaftsproben herausgearbeitet. Oettli beschreibt vier Proben innerhalb der vier Erzähleinheiten (Konstituierung des Freundespaares mit Apfelprobe; EngeltrutEngelhard-Minne; Identitätentausch im Zweikampf; Kindesopfer), die jeweils schwerer werden. Eine weitere Steigerung sieht er in der Bewegung von der Einzelfigur zum Paar, die sich in jeder der Episoden findet. Ähnlich auch Oettli 1986a, S. 13-46. – Weitere erkennbare Formen der Steigerung diskutiere ich in Kap. I.2.4. 703 Auch der zweite Freund ist bekanntlich verheiratet, zum Zeitpunkt der Aussätzigkeit wird diese Bindung jedoch von seiner Gemahlin meist unrechtgemäß – nach dem Verständnis der Texte – aufgelöst, so dass der Kranke gerade durch die bereits beschriebene Beziehungslosigkeit gekennzeichnet ist.
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Freundschaftstest hatte zwar ebenfalls auf außerfreundschaftliche Bindungen rekurriert, nämlich auf die sexuelle Inbesitznahme der Prinzessin, das changierende Verhältnis zu Ardericus und das Treueverhältnis zum König. Der Vollzug der Bewährung war aber allein an die Freundeskörper geknüpft, die einander ersetzten. Der auf den eigenen Körper begrenzte Einsatz zur Rettung des Freundes reicht im zweiten Test nicht mehr aus: Mit der Forderung des Kindesopfers werden die Nachkommen des ursprünglich schuldig gewordenen Gefährten miteinbezogen. Der im ersten Test drohende eigene Tod wird nun als Gewissheit auf die nächste Generation verschoben. Durch den früheren Zweikampf war es möglich, dass der ersetzte Freund eine Dynastie begründete: Damit wurde eine zusätzliche Ebene adliger Identitätsformation eingeführt. Mit der Bildung eines Familienverbandes und der Zeugung von Erben generiert der Freund die für eine herrschaftliche Identität erforderlichen verwandtschaftlichen Beziehungen, die ein paralleles Vergesellschaftungsmodell neben dem Freundschaftsbündnis bilden. Das mittelalterliche Verständnis vom zusammenhängenden Sippenkörper scheint beim Kindesopfer auf: Innerhalb dieser Logik muss der opfernde Freund nicht nur seinen eigenen Körper, sondern eine erweiterte Version seiner selbst bereitstellen. Die Söhne sind in den Amicus-Amelius-Texten nicht in erster Linie als eigenständige Personen gekennzeichnet, zu denen ihr Vater als solche eine innige Bindung unterhält. Sie fungieren quasi als identitäre Verlängerung des Vaterleibes.704 Peggy McCracken kennzeichnet dieses Verhältnis als ein metonymisches: „The son is the father’s, he is a metonymic extension of the father, he shares his father’s blood“.705 Die Vorstellung einer gemeinsamen Identität ist es, die dem emotionalen Verhältnis zugrundeliegt. Sie ergibt sich nicht nur aus der grundsätzlichen Zugehörigkeit zum kollektiven verwandtschaftlichen Korpus, sondern vor allem aus der besonders engen Verknüpfung von Vater und Söhnen.706 Diese bildet nach Judith Klinger gemeinhin den „Kern des dynastischen Kontinuums“: „Das Idealbild der Dynastie, die agnatische Filiation, gründet in einer vollständigen Übertragung der Adelsidentität vom Vater auf den Sohn.“707 Elisabeth Schmid bezeichnet die agnatische Filiation als „Verkörperung des Gleichen“: „Der agnatische Zusammenhang ist ein Bezug auf sich selbst, der [...] die Identi_____________ 704 Elena Real 2000, S. 51, sieht zudem eine Symmetrie zwischen Aussatz und Kindesopfer, die sie beide als Strafe interpretiert: „Ami est puni dans sa chair par la lèpre, et Amile dans la chair de sa chair, ses enfants.“ 705 McCracken 2003, S. 56. 706 Vgl. zu Vater-Sohn-Verhältnissen in mittelalterlicher Literatur den Sammelband Keller / Mecklenburg / Meyer 2006. 707 Klinger 2001, S. 307.
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tät der Subjekte verbürgt.“708 Die identitäre Verschmelzung des opfernden Freundes mit seinen geopferten Söhnen rekurriert demnach auf die gedachte Ordnung der Verwandtschaft als grundlegendes Muster gesellschaftlicher Organisation,709 verwirft es jedoch im selben Moment mit der Zerstörung der Geblütslinie. Die Amicus-Amelius-Texte entfalten ein Verständnis von Identität, in dem zum einen die Formierung vorbildlicher adliger Identität davon abhängt, einen horizontalen Familienclan zu bilden, der auf vertikaler Ebene einer Dynastie angehört bzw. diese erst begründet. Zum anderen aber wird diese identitäre Konstituente deutlich der Freundschaft untergeordnet: Die Freundschaft wird von den Texten als ursprünglicheres Modell imaginiert, die Hinrichtung der Söhne für den Kameraden erscheint als unumgänglich. Die an das Verwandtschaftsmodell gebundene Identität des opfernden Freundes wird zugunsten seiner Identität als Freund abgewertet: Seine Leibeserben dienen vornehmlich dem Freundschaftserhalt, nicht als Garanten dynastischer Kontinuität.710 Gleichzeitig wird das Blut, das als wesentliches Medium des Geschlechts und seiner spezifischen Qualitäten fungiert, für die Kriegerfreundschaft beansprucht: Verbürgt das besondere adlige Blut üblicherweise den Zusammenhang der Dynastie, da es in den Leibeserben jeweils weiterfließt, findet ein blutiger Transfer nunmehr zwischen den Freunden statt.711 Das Blut der Söhne – und damit das Blut ihres Vaters – wird dem aussätzigen Freund appliziert, der so dem Gefährten gleichende Schönheit und Adel, kurz: seine vollständige Identität wiedererlangt. Diese Übertragung der Blutsgemeinschaft von der Dynastie auf die Freundschaft deutet zum einen auf die Institution der Blutsbrüderschaft, in der geteiltes Blut engste Verbindungen stiftet.712 Zum anderen verweist die in den Amicus-Amelius-Texten dargebotene Konstellation des vergossenen Kinderblutes noch nachhaltiger auf die verwandtschaftliche Kom-
_____________ 708 Schmid 1986, S. 27. 709 Vgl. dazu grundsätzlich Kellner 2004. 710 Mit der Auferstehung wird ihnen diese Funktion wieder zugestanden. In der Entscheidung für ihren Tod wird sie indes entwertet. 711 Braun 2006 hat vier grundsätzliche Arten des Verhältnisses von Freundschaft und Verwandtschaft herausgearbeitet: „Fusion (Freundschaft geht in Verwandtschaft auf, Verwandtschaft bedeutet automatisch Freundschaft), Substitution (Freundschaft ersetzt Verwandtschaft), Ergänzung (Freundschaft tritt neben Verwandtschaft) und Wettbewerb (Freundschaft und Verwandtschaft konkurrieren)“ (S. 67). In der komplexen Konstellation in den Amicus-Amelius-Texten verschwimmen die Bereiche von Fusion, Substitution und Wettbewerb. 712 Vgl. zur Blutsbrüderschaft etwa Brown 1997 und Oschema 2008.
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ponente.713 Die Amicus-Amelius-Texte übertragen die Metaphern, mittels derer gemeinhin die soziokulturelle Konstruktion von Verwandtschaft vonstatten geht, auf die Freundschaft. Indem der kranke Gefährte am Blut (der Söhne) seines Freundes teilhat, wird die gemeinsame Identität der Gefährten nochmals verstärkt und gesteigert. Das Blut generiert eine Zusammengehörigkeit zwischen den Freunden, die nicht nur symbolisch, sondern auch ganz konkret als eine Form von Verwandtschaft markiert wird. Das ererbte Charisma der Dynastie wird auf die Freundschaft übertragen. Die Partizipation der Gefährten am Blut als Substanz vereinter Identität erhöht nochmals die Wertigkeit des Freundschaftsbündnisses, hinter dem andere soziale Bindungen zurückstehen müssen, auch – und gerade – weil sie als Orientierungsmodell dienen: Die Söhne werden getötet, um den Freund zu retten. Der Prozess der Opferung mit anschließender Resurrektion vollzieht zwei Bewegungen: Zerstört der Kindstod zunächst die verwandtschaftlichen Beziehungen und läuft das Blut in eine der herkömmlichen Richtung diametral entgegengesetzte – nämlich von der jüngeren zur älteren Generation –, produzieren die Heilung des Freundes und die Revitalisierung der Söhne dann ‚Familienbande‘ neuer Qualität. Peggy McCracken beschreibt das Ergebnis als gemeinsame Vaterschaft der Freunde zu den Söhnen, die ursprünglich nur einem der beiden zugehörten: „The children’s blood symbolically engenders a father, and when they are restored to life, the blood of sacrifice unites Ami and Amile in a procreative relationship: the reborn sons have two fathers, but no mother.“714 Das Sohnespaar verweist in seiner Zweigliedrigkeit ebenfalls eher auf die doppelten Freunde als auf einen verwandtschaftlichen Deutungsmodus:715 Das Prinzip der Primogenitur bevorzugt allein den Erstgeborenen, in den Amicus-Amelius-Texten werden die Söhne – wie die Freunde – indes als zusammengehörige Zweiheit wahrgenommen.716 Das vergossene Blut _____________ 713 Freilich ist auch die Blutsbrüderschaft am Modell verwandtschaftlicher Beziehungen ausgerichtet, was gerade in der Entlehnung der Vorstellung vom gemeinsamen Blut deutlich wird. 714 McCracken 2003, S. 50. – In einigen Texten ist diese Bindung kaum wahrnehmbar, wenn z.B. in Lille 130 die Wiedererweckung der Kinder erst nach Amiles Abreise erzählt wird; vgl. Woledge 1939, S. 456. 715 Bzw. auf ein Verwandtschaftssystem, das hinsichtlich des Freundschaftsmodells modifiziert wurde. 716 Diese wird in der elaborierten Vita aufgebrochen, als der abreisende geheilte Amicus vom ältesten Sohn des Freundes begleitet wird. Die Paare werden neu formiert, woraus erneute Zweiheit resultiert: Je ein Vater und ein Sohn werden einander zugeordnet. Vgl. etwa für die französische Vita Moland / D’Héricault 1856, S. 73. Dass ein Sohn am Hofe eines Verwandten oder Lehnsherren aufgezogen wird, ist gängige (literarische und historische) Praxis, die ebenfalls jeweils als Konstituierung eines Vater-Sohn-Verhältnisses gelesen werden kann.
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erzeugt aber nicht nur eine neuartige Filiation, die Freundschaft und Abstammungslinie vereint, es zeugt gleichzeitig von vollzogener Gewalt: Das Freundespaar konstituiert sich über das Blutvergießen jener, die außerhalb ihrer exklusiven Zweiergemeinschaft stehen.717 Tod und Wiederauferstehung sowie die daran gekoppelte Abtrennung und Neukonstitution der Geblütslinie separieren den weiblichen Anteil an der Zeugung von Leibeserben: Dem männlichen Mikrokosmos der Freundschaft werden männliche Erben718 angeschlossen, die von Gott ins Lebens zurückgerufen wurden. Göttlicher Wille und ausschließlich zwischen männlichen Protagonisten fließendes Blut konstituieren eine rein männliche Linie sozialen Zusammenhangs.719 Eine derartige Tendenz des Verwandtschaftsdiskurses ist auch in anderen mittelalterlichen Texten zu verzeichnen: Georges Duby schildert die im 11. Jahrhundert stattfindenden Veränderungen von Verwandtschaftsbeziehungen, die zunehmend als „Abstammungslinie von Männern“720 bzw. als „agnatische[r] Stamm“721 gedacht wurden.722 Gleichzeitig ist die _____________ 717 So auch schon im ersten Freundschaftstest, als Ardericus im Kampf besiegt wird. Näheres zur Perspektive der Gewalt auf das Freundschaftsmodell in Kap. II. 718 In vielen Texten wird allerdings nur von Kindern gesprochen, ohne ihr Geschlecht zu offenbaren: Die Bezeichnung folgt keinem Schema, das an die Textgruppen gebunden ist: Sowohl in den Texten, die ein adliges Universum entwerfen, als auch in denen, die einem religiösen Deutungsmodell verpflichtet sind, sind die Verweise auf Söhne (duos filios, deux fils, ij soene, tvá sonu, two sonnys, twee sonekine) respektive auf Kinder (kyndere, deux enfans, childerin) etwa gleich verteilt. Einzig in den Grenzfällen handelt es sich ausdrücklich um Söhne. Wegen der auffälligen Parallelität von Freundespaar und Kindespaar halte ich das männliche Geschlecht der Kinder dem Entwurf für inhärent, auch wenn es nicht explizit gemacht wird. Die Kongruenz zwischen den Zweiergruppen schließt das gleiche Geschlecht mit ein. Für eine ursprünglich gewusste Männlichkeit spricht auch die Existenz der Zuordnung des männlichen Geschlechts an die Söhne in den ältesten Texten (Radulfus’ Verserzählung, die lateinische elaborierte Vita und die chanson de geste). 719 Vgl. indes Schmid 1986, S. 29, die auf die unterschiedlichen Kategorien Same und Blut verweist. „Same und Blut scheinen die mentalen Konzepte zu sein, in denen ein Geschlecht das, was es aus sich selber hat, und das, was es an Fremde weggibt und von Fremden erwirbt, geschieden sieht.“ In den Amicus-Amelius-Texten wird jedoch der verwandtschaftliche wie freundschaftliche Zusammenhang allein über das Blut hergestellt. – Peggy McCracken 2003, S. 41-60, sieht im Opfer das die Ami-Amile-Freundschaft (ihre Analyse bezieht sich auf die chanson de geste) konstituierende Element, das sich ihrer Ansicht nach bereits in der Körpersubstitution im Zweikampf ablesen lässt, da dort von Ami „a conscious decision to sacrifice himself to save his friend“ (S. 49) getroffen werde. Weiter liest sie das Kindesopfer als Ausdruck männlicher Machtdemonstration: In Amiles Verfügungsgewalt über seine Nachkommen sowie im gelingenden, positiv gewerteten Opfer werde die Signifikanz väterlichen Blutvergießens privilegiert. Diese Wertungen sind denen weiblicher bzw. mütterlicher Parallelaktionen in mittelalterlicher Literatur – wie in Chrétiens de Troyes Philomena – diametral entgegengesetzt. 720 Duby 1988, S. 107. 721 Duby 1988, S. 108.
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von den Amicus-Amelius-Texten entworfene Konstellation nur sekundär an einer derartigen Konstituierung männlicher Sukzession interessiert, da es allein die Freundschaft ist, die im Zentrum des textuellen Universums steht und um die sämtliche weiteren Vergesellschaftungsmodelle oszillieren. Auch wenn auf eine ganze lignage von Männerpaaren angespielt wird, verharrt diese in der Potentialität.723 Gleichwohl präsentiert die Verdoppelung der Doppelung in den Gefährten und im Sohnespaar eine spezifische textuelle Strategie des gesamten Textkorpus: Die jeweilige Paarigkeit von Gefährten und Söhnen strukturiert das entworfene Universum einmal mehr gemäß einer Ästhetik duplizierter Gleichheit. Eine weitere Form der Steigerung des Freundschaftsmodells vollzieht sich über die intensivierte Kopplung der Freundschaftsbindung an Gott.724 Ist in den Texten mit religiöser Weltdeutung (Gruppe 2) diese Verbindung von Anfang an unhinterfragt durch die Einbettung in einen christlichen Kontext gegeben, so ist in den Bearbeitungen mit adligem Sinnhorizont (Gruppe 1) sowie in den Grenzfällen (Gruppe 3) die Kongruenz christlich-religiöser mit feudaladligen bzw. höfischen Handlungsmustern zunächst keine selbstverständliche. Besonders in den Fassungen, die den Aussatz explizit als göttliche Sanktion vorhergehender, an die Freundschaft geknüpfter Treueakte kennzeichnen (in der mittelenglischen romance als Folge des für den Gefährten ausgetragenen Zweikampfes, in der anglonormannischen Verserzählung, in der chanson de geste und im Miracle als Resultat des falschen Eides bei Heirat bzw. Verlöbnis) und damit eine zwiespältige Beziehung der Freunde zum Recht und zu Gott inszenieren, korrigiert der zweite Freundschaftsbeweis dieses Verhältnis: Zwar steht die Handlungsweise nach wie vor in Konflikt mit rechtlichen Normen, das Differentialmerkmal gegenüber dem ersten Test bildet jedoch die göttliche Anordnung, die das Kindesopfer gegen jegliche Einwände einfordert. Nicht nur die Vorrangigkeit des Freundschaftsbündnisses muss nochmals bewiesen werden, sondern zusätzlich die Subordination unter göttlichen Willen. Entschied sich der helfende Freund in der ersten Probe ohne oder gar gegen göttliche Einflussnahme für die Dominanz der Freundschaft, wird die dadurch verursachte Ambivalenz sowohl hinsicht_____________ 722 In neueren Arbeiten wird die postulierte historische Entwicklung von einem horizontalkognatischen zu einem vertikal-agnatischen Verwandtschafts- und Genealogieverständnis differenziert, indem regionale und situative Varianten und Überlagerungen verschiedener genealogischer Konzeptionen offengelegt werden. Vgl. Mecklenburg 2006, S. 22f., mit weiterführender Literatur. 723 Die späten verwilderten Amicus-Amelius-Texte realisieren im 15. und 16. Jahrhundert dann genau diese Form einer Dynastie von Doppelgängern. Siehe dazu Kap. II.1.3 und IV. 724 Dies gilt nicht für Radulfus Tortarius und die zur Historia septem sapientum gehörige Hs. Gießen 104, in denen Gott keine Rolle spielt.
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lich Gottgefälligkeit als auch bezüglich der Soziabilität der Freundschaft nunmehr behoben. Obwohl in den religiös deutenden Texten bereits durchgängig freundschaftliche und christliche Parameter zusammengefügt wurden, wird durch die zweite Freundschaftsprobe auch hier der Männerbund an Gott angenähert und die schon gegebene Verbindung weiter intensiviert. Die Unterwerfung unter den offenbarten himmlischen Willen sowie die göttliche Resurrektion der getöteten Söhne bezeichnen ein enges, unmittelbares Verhältnis zwischen den Gefährten und Gott. Dadurch wird die erwiesene Treue weiter legitimiert und das Primat des Freundschaftsbündnisses erneut markiert. Beide werden in eine qualitativ höhere Dimension erhoben, die sämtliche Antagonismen zwischen der präferierten Freundschaftsbindung und anderen Sozialbeziehungen sowie die Inkompatibilität von Freundestreue und anderen gültigen Normen schlicht auslöscht. Freundschaftliche und göttliche Ansprüche werden in der elaborierten Vita explizit vereint, wenn im bereits erwähnten Monolog von Amelius freundschaftliche Treue und Glauben an Gott im Konzept des fides integriert werden. Das Kindesopfer fungiert auch darüber hinaus als Gelenkstelle zwischen adligen und christlichen Parametern von Weltdeutung. Diese Signifikanz ist angelegt in der spezifischen Bedeutungszuweisung an das vergossene Blut: Das Blut verweist zum einen auf adlige Muster von Identitätsbildung, da es sowohl auf die verwandtschaftliche Geblütslinie als auch auf Gewalt als spezifisch adligen Handlungsmodus rekurriert. Zum anderen erscheint es als verschobener Taufritus: Bildet in den Texten der zweiten Gruppe die gemeinsame Taufe der Freunde durch den Papst Hintergrund und Voraussetzung des gesamten Freundschaftsmodells, erscheint das Blutopfer als unspezifisch heidnische725 bzw. als spezifisch adlige Verdoppelung des religiösen Rituals. „[T]he blood sacrifice serves as a reminder of the baptism that first joined Amicus and Amelius, and a portent of their deaths together.“726 Die Benetzung – allerdings nur eines – der Gefährten mit dem Kinderblut, das bei der doppelten Tötung gewonnen wurde, markiert die Steigerung des Bündnisses durch ein weiteres Ritual, in dem magische, verwandtschaftliche und christliche Interpretationen des Blutes vereint werden. Letztere erscheint als willkürliche Setzung der Amicus-Amelius-Texte: Gottes Gebot transferiert die Hinrichtung der Söhne letztlich in einen christlichen Deutungsmodus. Simultan werden weitere implizite, christlich verankerte Interpretationsmöglichkeiten _____________ 725 Vgl. Cormeau / Störmer 21993, S. 147, und Wapnewski 41969, S. 95, zu einer Klassifizierung des Blutopfers als heidnischem Handlungsmuster im Typus der Silvesterlegende bzw. im Barmherzigkeitstypus der Aussatzgeschichten. 726 Kuefler 2000, S. 443.
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aufgerufen: So rekurriert das heilende Kinderblut latent auf das Blut Christi, dem ebenfalls magische Fähigkeiten innewohnen.727 Die doppelten Becher als Freundschaftszeichen nehmen in diesem Sinnzusammenhang die Bedeutungsvariante des Kelchs an, der als Gefäß heiligen Blutes fungiert.728 Insgesamt zeigt sich die Bandbreite möglicher Bedeutungszuordnungen sowohl an das Kinderopfer als auch an das Freundschaftsmodell. An diesem spezifischen Punkt der Handlungsdynamik verschmelzen adlige und religiöse Zeichenordnungen. 2.4. Probatio: Heimlichkeit und identische Morphologie Stellt die admissio-Phase der Amicus-Amelius-Freundschaft die Konstitution ursprünglicher Gleichheit729 in den Mittelpunkt, zielt der probatioAbschnitt auf die unausgesetzte Konsolidierung der Freundesgleichheit, die durch diverse Geschehnisse gefährdet wird. In der admissio-Phase war die öffentliche Inszenierung zweier ununterscheidbarer Körper an die räumliche Nähe der Gefährten gekoppelt. Das zunächst konstitutive Element des Kontaktes entfällt zu Beginn der Freundschaftsprüfungen. Dass die Gemeinschaft der Freunde aufgebrochen wird, eröffnet allererst Möglichkeiten einer Gefährdung der Kriegerfreundschaft: Erst mit der Abreise eines der Kameraden entstehen zusätzliche, als sekundär gedachte Bindungen, die sowohl das Leben des einzelnen Freundes als auch die identitätsstiftende Freundschaft gefährden. Die Opposition ideale Einheit vs. bedrohliche Differenz wird mithin über die räumliche Anordnung der Freunde zueinander codiert: Zusammensein generiert den unzerbrechlichen Freundschaftsbund, der unantastbare Identität signifiziert. Die wechselseitige Spiegelung der charismatischen Freundeskörper stabilisiert diese Komponenten der Identitätsbildung in einem Prozess öffentlicher Zurschaustellung. Gleichheit und Identität werden als sichtbare, aufeinander _____________ 727 Vgl. Arráez / Celdrán 2001, S. 22. – In der mittelenglischen romance findet die Opferung der Kinder und die Aussatzheilung zu Weihnachten statt. Der Text wird nicht müde zu betonen, dass es sich beim Zeitpunkt der Geschehnisse um den Geburtstag Christi handelt; vgl. Le Saux 1993, st. 177, st. 180 und st. 186. So wird die Auferstehung der Kinder an ein weiteres, bedeutsames christliches Ereignis gekoppelt. 728 Vgl. Arráez / Celdrán 2001, S. 12. Arráez 2001/02, S. 10, verweist zusätzlich auf den heiligen Gral. – In diesem Zusammenhang fällt auf, dass nicht die Trinkgefäße der Freunde als Behältnisse für das Blut dienen, sondern das Blut in anderen (Tauf-)Becken aufgefangen wird. 729 ‚Ursprünglich‘ meint hier sowohl ‚anfänglich‘ (auf den chronologischen Ablauf der narrativen Ereignisse bezogen) als auch anderen Identitätskonstituenten vorgängig, und in diesem Sinne dann ‚identitätsbegründend‘.
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verweisende Formationen durch fortwährende performative Akte konstituiert. Die Abwesenheit eines der Freunde beeinträchtigt die konkrete, sinnlich wahrnehmbare Ähnlichkeit und Zusammengehörigkeit der Gefährten. Die Trennung, die die Prüfungsphase der Freundschaft einleitet, wird durch eine Bindung außerhalb der Freundschaft verursacht: Handelt es sich meist um die inzwischen erworbene Gattin, die nun die Gegenwart ihres Ehemannes genießen darf, können auch dynastische Verpflichtungen und die Zugehörigkeit zu einem Verwandtschaftskollektiv die räumliche Nähe auflösen. Die Lebensgemeinschaft der Gefährten wird beendet, so dass identitätsbildende Gleichheit und Verbundenheit von einer konkret wahrnehmbaren auf eine abstrakte Ebene verschoben werden. Selbst in den Texten, in denen Vorrangigkeit und Unantastbarkeit der Freundschaft nie wirklich zur Disposition stehen, verursacht die abhanden gekommene Leibesgemeinschaft eine Krise. Die hermetische Abgeschlossenheit des Freundespaares ist nicht mehr gewährleistet, so dass sowohl homosoziale Beziehungen ausgeweitet als auch zwischengeschlechtliche Beziehungen herbeigeführt werden können. Die Kombination von rivalisierendem Gegner und verfügbarer Landeserbin zeitigt stets lebensbedrohliche Folgen, die allein durch den Rückgriff auf den treuen Gefährten behoben werden können. Grundsätzlich führen die Amicus-Amelius-Texte eine Differenz zwischen den Freunden ein, die durch die Konstituierung neuer sozialer Bindungen entsteht. Die Differenz wird noch verstärkt, da sie in einem Rechtsverstoß eines der Freunde mündet. Mit der Aufhebung öffentlich inszenierter Freundschaft wird zugleich ein heimlicher Raum eingeführt: Nicht nur findet die Beziehung zur Prinzessin abgeschirmt vor fremden Blicken statt, auch das Wiedersehen der Gefährten zum Zeitpunkt der Hilfesuche ist an Heimlichkeit gekoppelt. Der Plan des Identitätentausches erfordert Geheimhaltung, um wirksam werden zu können. Diese ist etwa in den legendenhaften Texten explizit an den Wald geknüpft, in den die Gefährten sich zurückziehen. Das Problem des Ehrverlustes, den der am Hof verbliebene Freund erlitten hat, wird somit auch über die semantische Besetzung des Raumes verdeutlicht. Neben dieser konkreten, räumlich organisierten Heimlichkeit, die die Ereignisse vor der Entdeckung anderer abschirmen soll, existiert eine weitere Ebene der Verborgenheit: Die getauschten Identitäten der Freunde sind für Uneingeweihte nicht erkennbar, obwohl die Freunde ihren jeweiligen Körper selbst öffentlich in Szene setzen, damit sie – sowohl im Gottesurteil als auch im Ehebett – politisch wirksam werden können.730 Diese Stufe der Verheimlichung ist demnach an den Zugang zu Informationen _____________ 730 Bzw. um im keuschen Beilager eben nicht politisch wirksam zu werden.
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gekoppelt, der die exklusive Gemeinschaft der Freunde nun zusätzlich als Wissensgemeinschaft kennzeichnet.731 Der Gottesgerichtskampf, der zweite Abschnitt der probatio-Phase des Freundschaftsmodells, ist sowohl durch eine räumlich-konkrete als auch sinnbildlich-abstrakte Dimension von Distanz und Heimlichkeit zu beschreiben. Für den Identitätswechsel ist der Modus der Distanz unverzichtbar: Nur wenn die Freunde isoliert auftreten, kann die Substitution gelingen.732 Damit entspricht die räumliche Distanz einer Differenz der Freunde hinsichtlich ihres Verhältnisses zu sozialen Normen. Die Prüfungssituation bewahrt die Freundschaft, indem zum einen das Leben des einen Freundes durch den anderen gerettet wird. Diese vitale Sicherung der Gemeinschaft zielt zum anderen darauf, die entstandene, bedrohliche Differenz auszulöschen: Durch die nach wie vor vorhandene körperliche Gleichheit der Gefährten kann die Gefahr abgewendet werden. Gleichheit und Differenz sind zu diesem Zeitpunkt untrennbar miteinander verbunden: Übereinstimmende Leiblichkeit und voneinander abweichende Rechtspositionen werden miteinander verquickt und führen zum Erfolg des Gottesurteilskampfes. Parallel dazu entfalten die Texte eine weitere Ebene von Gleichheit: Mit der Körpersubstitution und dem rechtlich nicht zulässigen Einsatz im Zweikampf begeht auch der zunächst unschuldige Kamerad einen Rechtsverstoß. Durch die eben beschriebene Konstellation der Elemente von Distanz, Gleichheit und Differenz wird auch dieses Delikt nicht offenbar, sondern verbleibt auf der Ebene heimlichen Wissens und hat infolgedessen keine sozialen oder juristischen Konsequenzen. Hinsichtlich des Freundschaftsmodells besitzt diese Normverletzung allerdings enorme Bedeutsamkeit: Durch den verdoppelten rechtlichen Übertritt wird die Gleichheit der Freunde wiederhergestellt, da sich nun beide in ein ambivalentes Verhältnis zum Normensystem setzen.733 Simultan wird die Priorität des gemeinsamen Bündnisses gegenüber anderen sozialen Beziehungen und rechtlichen Verpflichtungen demonstriert. Als Grundlage des Freundschaftsmodells in diesem Abschnitt erscheinen die aufeinander bezogenen Rechtsverstöße der Freunde, die wiederum Gleichheit konstituieren. Die positive Bewertung der Gleichheit wie der Freundschaft verschleiert die negativen Bedeutungspotentiale. _____________ 731 Nur in wenigen Fällen sind weitere Personen eingeweiht. 732 Einmal abgesehen von den kurzen Treffen, bei denen Kleider und Pferde getauscht werden. 733 Gaunt 1995, S. 48, hat eine Erzählstrategie, mit der die Freunde einander angeglichen werden, folgendermaßen beschrieben: „One result of the strong impulse in Ami et Amile to make the heroes identical is that the consequences of the actions of both men must be borne by both men.“
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Ute von Bloh beschreibt die Sphäre der Heimlichkeit im Engelhard dahingehend, dass die Verletzung höfischer und rechtlicher Konventionen räumlich codiert wird: Ordnungswidriges Verhalten ist in diesem Text konsequent aus dem höfischen Lebensraum ausgegrenzt [...]. Festzuhalten aber ist, daß diese Regelübertretungen nicht entworfen sind, um den falschen Schein zu entlarven oder Kriterien für die Vereinbarkeit des Handelns mit der gesellschaftlichen Ordnungsinstanz zu ermitteln. Das Verhalten bleibt lediglich als auszugrenzendes präsent.734
Die Rechtsübertretungen bleiben folgenlos und die damit verbundenen Widersprüche unaufgelöst. Horst Wenzel hat für das Nibelungenlied einen Deutungsmodus räumlicher Anordnungen herausgearbeitet, der dem der Amicus-Amelius-Texte ähnelt. Der Gegensatz von Hof und Wald als Handlungsräume, die voneinander abgegrenzt sind, ermöglicht „die Kontrastierung von öffentlichem und verborgenem Handeln.“735 Dabei ergibt sich eine Opposition zwischen „prämiierten“ und „nicht prämiierten adligen Verhaltensweisen“,736 die an die Raumaufteilung gekoppelt ist: Der Wald erscheint als „Symbol für die erkennbare Statusdefizienz des Helden und die grundsätzliche Gefährdung der höfischen Norm.“737 Der Wald ist in den Amicus-Amelius-Texten zwar nicht die einzige Form des heimlichen Raumes, doch lässt sich grundsätzlich eine Übereinstimmung der Funktionen und Deutungen feststellen: Auch hier wird Verborgenheit an die Überschreitung von Regeln und Normen geknüpft. Das in den Texten entworfene soziale System wird manipuliert und gefährdet. Zugleich aber werden diese Tendenzen von den Texten affirmativ beurteilt, bildet doch die Kriegerfreundschaft das zentrale Vergesellschaftungsmodell. Erst aus der Perspektive der anderen Sozialbeziehungen wird die bedrohliche Wirkmacht des Freundschaftsbundes deutlicher greifbar.738 Insgesamt wird in diesem Abschnitt eine Form von Gleichheit erprobt, die von der der admissio-Phase abweicht: Die entstandenen Unterschiede werden in der Körpersubstitution suspendiert, da die jeweilige Position des Anderen erfolgreich eingenommen wird. Dies beruht zwar auf vorhandenen Differenzen, diese verlieren jedoch in der vollendeten Inszenierung der austauschbaren Freundesidentitäten an Gewicht. Austauschbarkeit und Gleichheit der Freunde rücken in den Mittelpunkt des Geschehens: In der paradoxen Gleichzeitigkeit von Differenz und Gleichheit gerät die geglückte Einnahme der Position des Anderen zum Beweis weiterhin geltender Ununterschiedenheit. In der Historia septem _____________ 734 735 736 737 738
Von Bloh 1998, S. 326. Wenzel 1986, S. 278. Wenzel 1986, S. 280. Wenzel 1986, S. 288. Vgl. dazu Kap. II.
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sapientum formuliert Lodovicus beim ersten Abschied die Vorstellung einer gemeinsamen Identität, indem er Alexander als das halbe teil miner selen (elsässische Fassung, Roth 2008, S. 177, Z. 28) bezeichnet. Das in der ersten Freundschaftsphase der Amicus-Amelius-Texte entworfene Konzept einer gemeinsamen Identität, die sich über die räumliche Nähe zweier identischer Körper konstituiert, wird in der probatio-Passage modifiziert: Im Kontext von Distanz und Rechtsverletzung offenbart sich gemeinsame Identität im erfolgreichen Identitätentausch, der auch als Treuebeweis fungiert. Dieses Modell austauschbarer, da gemeinsamer Identitäten geht aber im Gegensatz zur zuerst konstruierten, grundsätzlichen Ähnlichkeit von differenzierenden Elementen aus: Die Texte beharren demnach auf der Notwendigkeit, im Prozess der Identitätsbildung Differenzierungen zwischen den Freunden vorzunehmen. Diese notwendige Unterscheidung wird indes durch die beschriebenen Strategien der Angleichung abgemildert. Mit dem Identitätentausch wird eine weitere Form der Verähnlichung initiiert, die über den narrativen Raum hinausreicht und auf einer MetaEbene anzusiedeln ist: Dass Amicus und Amelius die Identitäten tauschen, kann zwar von den Rezipientinnen und Rezipienten nachvollzogen werden; stets wird deutlich gemacht, um welchen der Freunde es sich jeweils handelt, wer den Zweikampf austrägt und wer das keusche Beilager teilt. Trotz dieser Klarstellung entsteht durch die – obwohl gewusste – Substitution eine Verwirrung der Freundesidentitäten, die zweifellos eine narrative Strategie bildet, die Freunde einander weiter anzunähern und die Differenzen zwischen ihnen zu verwischen. Das Verwechslungspotential, das der narrativen Struktur inhärent ist, zeigt sich etwa, wenn Schreiber in den Handschriften mit falschen Namen operieren739 oder wenn in der Forschung auf einen der Freunde verwiesen wird, obwohl der Gefährte gemeint ist. Der dritte Abschnitt der probatio-Phase – das Kindesopfer – verknüpft Gleichheit und Differenz, Nähe und Distanz auf noch andere Weise miteinander. Schlagen diese Kategorien in der Gottesurteilssequenz abrupt ineinander um, werden sie nun komplexer miteinander verflochten. Die zersetzende körperliche Differenz zwischen den Gefährten, die durch den Aussatz herbeigeführt wird, korrespondiert nur kurz mit räumlicher Distanz.740 Anfänglicher Getrenntheit folgt körperliche Nähe, die die Konse_____________ 739 Vgl. etwa in der Hs. Stuttgart, Cod. theol. et phil. 4° 81, auf Bl. 283v, wo statt ‚Amelius‘ Amicus steht, obgleich an dieser Stelle die Gefahr, die beiden zu verwechseln, relativ gering ist (Amelius wird vor dem König angeklagt). Die Sequenzen, in denen der eine Freund für den anderen agiert, bieten dagegen viele Gelegenheiten, irrezugehen. 740 Die Trennung bedeutet an dieser Stelle immer Tod (zunächst sozialer, dann auch tatsächlicher); die Heilung ist stets an Nähe und Gemeinschaft gebunden.
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quenzen der Krankheit lindern soll. Diese Phase der Freundschaft erscheint nun als extrem bedrohlich: Der Verfall körperlicher Gleichheit erscheint nicht nur ganz konkret als tödliche Krankheit, sondern muss auch als Zeichen dafür gelesen werden, dass die Freundschaft auf drastische Weise gefährdet ist, da sich über die außerordentliche Similarität die Freundschaft doch erst konstituierte und sie zudem als Signifikant aller weiteren Ebenen von Gleichheit fungiert. Waren beim Gottesurteil Distanz und Differenz als aufeinander bezogene, schließlich aber überwindbare Konstellationen beleuchtet worden, erscheint die Verknüpfung von Nähe und Differenz an dieser Stelle als noch größere Herausforderung: Die Sinnfälligkeit der Identität ist zerstört, da die Körper der Freunde einander nun nicht mehr gleichen; der Aussatz zerstört die Leibesgleichheit. Konkret fassbare Gemeinschaft und nicht mehr sinnlich wahrnehmbare Zusammengehörigkeit werden in einigen Texten durch die identischen Becher verknüpft. Die Trinkgefäße verkörpern substantiell Ununterscheidbarkeit. Dies funktioniert ausschließlich über räumliche Nähe: Erscheinen die Becher zu Beginn der Texte als Verdoppelungen der Freunde, scheint ihre Wirksamkeit – sei es als Verkörperung der Freunde, als Freundschaftszeichen oder als Wiedererkennungszeichen741 – fast ausschließlich an den Spiegelungseffekt gekoppelt zu sein, der erst durch ihre gemeinsame Präsenz hergestellt wird. Die durch die Becher verdoppelte Gleichheit der Freunde verstärkt zu Beginn die Similarität der Gefährten und reproduziert den Spiegelungseffekt. In der Aussatzsequenz wird eben diese – nun nicht mehr sichtbare – Gleichheit der Kameraden durch die Becher wieder heraufbeschworen und damit erneut evident. In der Zusammenführung der identischen Trinkgefäße wird die Freundesgleichheit greifbar. Damit wird nicht nur die Wiedererkennung gewährleistet, sondern auch eine momentan nicht sinnlich greifbare ‚Wahrheit‘ abgebildet, nämlich die Zusammengehörigkeit der Freunde und die Existenz der Ununterscheidbarkeit über den gegenwärtigen Zustand der Differenz hinaus. Im Angesicht des Kindstötung bringt Loys in der französischen Prosafassung der Historia septem sapientum von 1492 eine als gemeinsam verstandene Identität zum Ausdruck, indem er den aussätzigen Alexandre als ung aultre moy (Paris 1876, S. 189)742 wahrnimmt. In der Heidelberger Hs. Cpg 149 heißt es an der gleichen Stelle: du enbest mir nit ein ander Du bist als ich mir selber (Bl. 62v, Sp. 2). Der Freund erscheint als verdoppeltes Selbst, das es zu retten gilt. Auch der Abschnitt des Kindesopfers ist an Heimlichkeit gekoppelt, wobei sich konkreter heimlicher Raum und verborgene _____________ 741 Diese Bedeutungsebenen gehen in den Texten ineinander über. 742 „ein anderes Ich“ bzw. „ein zweites Ich“
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Wissensebene überlagern: Die Schlafkammer der Kinder wird zum Ort des zunächst verschwiegenen Tötungsaktes.743 Nachdem der Kranke gesund und die wiedererlangte körperliche Gleichheit öffentlich inszeniert geworden ist, wird auch der verheimlichte Tatort inspiziert: Einzig durch Gottes Wunder wird die Ambivalenz des Vorgehens744 an dieser Stelle als ideales Handeln vereindeutigt. Das Bündnis wird durch eine erweitere Konzeption von Identität gerettet: Die Blutmagie der Tötung verschiebt den lebensbedrohlichen Zustand der Freundschaft auf einen Teil der Freundes-Identität, der abgetrennt werden kann (und später durch Gott wiederbelebt wird): Die Todesnähe des Freundes wird auf die Kinder verschoben. Der Absolutheitsanspruch der Freundschaft wird mit verwandtschaftlichen und christlichen Deutungsmustern überblendet. Durch die Grenzüberschreitung, die der Freund mit dem Kindesopfer begeht, wird abhanden gekommene Gleichheit neu konstituiert und überdies auf eine höhere Ebene transferiert: Neu entstandene Gleichheit, eine neu entworfene Filiationslinie und göttliche Legitimation verschmelzen. So wird letztlich eine ideale, unantastbare, aus Zeit und Raum herausgehobene Gemeinschaft der Gefährten entworfen. Gefährdete Gleichheit, die die Handlungsdynamik der probatio-Phase bestimmt, wird von der Tendenz begleitet, die Differenzen zwischen den Freunden auszulöschen. Ist die syntagmatische Handlungsführung als Reihe aufeinander bezogener Prüfungssituationen der Freundschaft zu lesen, die miteinander verschränkt und gesteigert werden, ist auf der paradigmatischen Ebene die Konstituierung von Gleichheit als thematisches Erzählprogramm zu beschreiben. Im Vergleich mit der Freundesgleichheit, wie sie in der ersten Phase entstanden ist, wird das Gleichheitsprojekt in der zweiten Erzählsequenz verkompliziert: Indem Erzählraum und Handlungselemente ausgedehnt werden, werden Differenzen und Distanz in das Konzept der Ähnlichkeit inkorporiert und schließlich überwunden. Das Resultat ist eine komplexere Vorstellung von Gleichheit und Identität, die zwar auf den ursprünglichen Komponenten basiert, zusätzlich aber mehrere Möglichkeiten qualitativer Steigerung dieser grundlegenden Konzeptionen ausformuliert. Die identische Morphologie der Freundeskörper erhält durch die parallelen Prüfungssituationen, die nacheinander durchlaufen werden, eine neue Qualität: Gleichheit konstituiert sich nun nicht mehr ausschließlich durch wundersame Gestaltgleichheit, in der auch gleiche Attribute und Fähigkeiten zusammengeschlossen werden. Die Freundschaft festigende Similarität wird durch den Identitätentausch so_____________ 743 Auch das vorhergehende Gespräch mit dem Engel und die Offenbarung des Heilmittels findet stets in Abwesenheit anderer Personen statt. 744 Diese wird z.B. durch Schuldbewusstsein, Trauer um die Kinder und die Antizipation von Strafe transportiert.
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wie durch die (wenn auch einseitige) Übertragung des Blutes auf den Freund verstärkt. Substituierbarkeit und vitalisierende Inkorporation745 erscheinen demnach als weitere Formen von Gleichheit, die die gemeinsame Freundesidentität stärken. Der Identitätswechsel im Gottesurteilskampf beschreibt einen synchronen Modus gemeinsamer Identität, der nur vorläufig und reversibel ist, aber über den Einsatz des Lebens und den Beweis der triuwe die Freundschaft stärkt. Das Kindesopfer hingegen enthält ein diachrones Moment, da die Applizierung des Blutes als permanente, leibliche Identitätsvereinheitlichung nie mehr rückgängig gemacht wird.746 Insofern ist nicht nur hinsichtlich der Schwierigkeit der Prüfungen, in denen freundschaftliche triuwe bewiesen wird, eine Steigerung zu verzeichnen,747 sondern auch über intensivierte Entwürfe von Gleichheit und gemeinsamer Identität. Im Gegensatz zur ursprünglichen Ähnlichkeit, die über eine räumliche Parallelsetzung der identischen Körper funktioniert, sind diese verstärkten Varianten nicht mehr über öffentliche Performanz, sondern über Heimlichkeit definiert. Der Ausschluss der Zweierbeziehung aus der gesellschaftlichen Öffentlichkeit hat zwar einerseits Ausgrenzung zur Folge, stellt jedoch andererseits sicher, dass die Kameraden in ihren sozialen Kontexten verbleiben können. Damit ist wiederum eine Ambivalenz bezeichnet, die sich durch die Amicus-Amelius-Texte zieht: Die dominante Kriegerfreundschaft steht neben anderen sozialen Bindungen, deren Aufrechterhaltung für die Protagonisten zunächst ebenfalls unabdingbar ist. Freundschaft konsolidiert sich indes auch über die Missachtung anderer sozialer Bindungen sowie über daraus erwachsende normative Konflikte. Aus der Perspektive des idealen Freundschaftsmodells werden all diese Zwiespältigkeiten positiv bewertet: Vorrang und Dominanz der Freundschaft werden schließlich auch und gerade über diese beschriebenen Antagonismen bewiesen, denn die Gefährten würden aufgrund ihrer triuwe füreinander ohne Zögern rechtliche Sanktionen erdulden.
_____________ 745 Das Blut wird zwar nicht getrunken, sondern nur äußerlich aufgetragen, aber die heilenden Kräfte des Blutes werden über die Körperoberfläche aufgenommen. 746 Diachronen Charakter hat auch die Ebene des Filiationskontinuums, das mit dieser Episode entworfen wird. 747 Vgl. Oettli 1986b, S. 77 und passim.
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3. Unio: Endgültige Vereinigung vs. abstrakte Verbundenheit Im dritten und letzten Abschnitt des Amicus-Amelius-Freundschaftsmodells steht nach der qualitativen Steigerung der gemeinsamen Identität, die auf Gleichheit beruht, die chronologisch letzte Phase des Bündnisses. Gemeinhin sind drei Konstituenten dieses Abschnittes erkennbar: das gemeinsame Leben, der gemeinsame Tod sowie das gemeinsame Grab. Im Gegensatz zu den bisher untersuchten Elementen sind diese allenfalls als fakultativ zu bezeichnen: Sind das anfängliche Eingehen des Freundschaftsbundes wie die anschließenden, aufeinander bezogenen Prüfungssituationen unabdingbar und für das Amicus-Amelius-Modell konstitutiv, differieren die abschließenden Sequenzen in den einzelnen Textgruppen und Texten nicht nur merklich, sondern sind zum Teil in einigen Bearbeitungen faktisch ausgespart.748 3.1. Gemeinsames Leben Das gemeinsame Lebens der beiden Freunde wird in vielen Einzeltexten damit eingeleitet, dass der vormals aussätzige Freund seine verlorene Herrschaft zurückerlangt. Innerhalb der ersten Textgruppe sind zunächst die mittelenglische romance und die anglonormannische Bearbeitung zu nennen, die diese Thematik auf spezifische Weise behandeln. Im ersten Text sammelt Amys nach Amylions Gesundung seine Leute, woraufhin Amylions Land mit Waffengewalt zurückerobert wird. Im zweiten Text ergeben sich Gefolgsleute und Ritter ohne Kampf und bitten um Gnade. In beiden Texten wird Amylions Ehegattin bestraft, die mittlerweile einen anderen Herren geheiratet hat. Sie wird bis zu ihrem Tod in einer Hütte bzw. einem Turm eingesperrt. Daraufhin überträgt Amylion seinem treuen Begleiter und Verwandten Oueys bzw. Uwein die Herrschaft. In der anglonormannischen Verserzählung heißt es zudem, dass Amylion keine weitere Frau mehr haben möchte: Unke puis femme ne vout aver (Fukui 1990, V. 1226).749 Nachdem das Land annektiert und mit einem neuen Herr-
_____________ 748 Aus diesem Grund ist die unio-Phase zwar Bestandteil des Amicus-Amelius-Freundschaftsmodells, aber keine erzählerische Einheit der narrativen Grundstruktur, die dieses Textkorpus von anderen unterscheidet. Vgl. zu dieser Differenz Einleitung 2. 749 „Niemals mehr wollte er danach eine Frau haben.“
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scher versorgt ist, scheint der Demonstration adliger Identität Genüge getan: Die Gefährten verbringen ihr restliches Leben gemeinsam.750 With his brother sire Amys, Ayen he gan home wende. In moche joye, withoute stryfe, Togeder lad thei here lyfe, Tell God wolde after hem sende. (Le Saux 1993, st. 200, V. 8-12)751
In der mittelenglischen romance wird zudem von der vorbildlichen Bauund Donationspraxis der beiden Adligen berichtet. Kurz vor ihrem Tode veranlassen sie den Bau einer Abtei in der Lombardei, die großzügig mit Gütern versehen wird, To sing for hem tyll domysday, / And for her eldres also (st. 201, V. 5f.).752 Das gemeinsame Leben, das beide Gefährten schließlich wieder vereint, ist im Engelhard nicht so deutlich formuliert. Der genesene Dietrich kehrt ohne Gewaltanwendung in seinen ursprünglichen Herrschaftsbereich zurück, wo er liute, guot, wîp unde lant / enpfienc (Reiffenstein 1982, V. 6444f.). Da Engelhard in seiner Position als dänischer König ebenfalls herrscherliche Autorität auszuüben hat, wird aus folgendem Vers nicht ganz klar, wo sich Engelhard befindet, denn nach der Beschreibung von Dietrichs Rückeinsetzung in seine Herrscherwürde heißt es: ouch wonte sîn geselle dort / in küneclicher werdekeit (V. 6450f.). Der Hinweis auf die königlichen Ehre scheint auf Dänemark als Engelhards Aufenthaltsort zu verweisen, das ouch und das dort verundeutlichen indes die Angabe, die sich insofern auch auf Brabant beziehen und damit eine Lebensgemeinschaft signalisieren könnte. Diese Uneindeutigkeit wird unwesentlich, da sie in der weiteren Beschreibung aufgehoben wird: si lebeten beide unz an den tôt frœlichen unde schône. diz heil gap in ze lône ir triuwe der si wielden. (V. 6454-6457)
Die Zusammengehörigkeit der Freunde wird erzählstrategisch herausgestellt, so dass es gleich ist, ob die beiden zusammen oder getrennt sind. Es wird ein narrativer Gestus gewählt, der gleichzeitig über beide Protagonisten berichtet und damit eine umfassende Einheit der Gefährten kon_____________ 750 In der anglonormannischen Fassung ist dies eher implizit, da nicht ganz deutlich wird, ob Amillyouns Zusammensein mit Amys sich ausschließlich auf den Tod oder auch auf das vorhergehende vorbildliche Leben bezieht; vgl. Fukui 1990, V. 1229-1236. 751 „Mit seinem Bruder Herrn Amys machte er sich wieder auf den Heimweg. In großer Freude, ohne Streit, führten sie zusammen ihr Leben, bis Gott nach ihnen sandte.“ 752 „um für sie und auch für ihre Vorfahren bis zum Jüngsten Gericht zu singen“
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struiert. Diese spezifische Qualität der Freundesgleichheit wird im Engelhard dadurch erreicht, dass der anfängliche Statusunterschied zwischen den Kameraden mit Engelhards Aufstieg beseitigt wurde. Der Text produziert eine Form von Gleichheit, die am Ende von körperlicher Nähe absehen kann: Die herrschaftliche Angleichung erscheint als ultimative Verähnlichung. Gleich, ob Engelhard und Dietrich nun zusammen leben oder jeder sich an seinem eigenen Hofe aufhält: Als befreundete vorbildliche Landesherrscher sind sie unabhängig von Raum und Zeit miteinander verbunden. Dies wird verstärkt durch das anschließende Lob der triuwe, das den Text auf einer abstrakten Reflexionsebene beschließt und nicht auf die konkreten Lebens- oder Todesumstände der Gefährten eingeht. Obwohl also explizite Indizien eines gemeinsamen Lebens nahezu völlig fehlen, entwirft der Engelhard eine Gemeinschaft, die über derartige Dinge hinausgeht und von unwandelbarer Dauer erscheint. Die anderen Texte, die zur ersten Gruppe gehören, gestalten diesen Abschnitt abweichend. Die zur Historia septem sapientum gehörigen Texte berichten ebenfalls, dass die durch Aussatz verlorene Herrschaft zurückerobert wird. Anders als in den bisher besprochenen Texten ist Ägypten nicht Alexanders ursprüngliches Erbland, sondern durch sein königliches Vatersubstitut und Heirat mit dessen Tochter an ihn gefallen. Kaiser Lodovicus sammelt ein Heer und reitet mit seinem Freund Alexander nach Ägypten. Auch hier wird die Ehefrau für ihre fehlende Loyalität bestraft; hinzu kommt, dass sie in diesen Texten für den Ausbruch von Alexanders Krankheit verantwortlich ist. Sie wird verbrannt und Alexander heiratet Lodovicus’ Schwester. Lodovicus kehrt daraufhin an seinen eigenen Hof zurück. Der gemeinsame Lebensabschnitt beschränkt sich hier auf die militärische Aktion. Diese rückt die beiden Freundesidentitäten nochmals in eine größere Nähe: Der zunächst körperlich schwache Lodovicus ermöglicht es in seiner Position als starker Kaiser, dass Alexander als König restituiert wird. Alexanders vorübergehende Schwäche als Aussätziger sowie die abschließende Einnahme herrschaftlicher Machtfülle durch beide Gefährten steigert ihre Similarität am Ende beträchtlich. Die größte Gleichheit der Kameraden besteht in der Historia septem sapientum zu dem Zeitpunkt, an dem sie sich trennen, um in ihrem jeweiligen Territorium zu regieren. Räumliche Nähe korrespondiert in diesem Erzählstrang mit einer Differenzierung der Freunde über unterschiedliche Körperstärke und Verfassung, die abschließende Herstellung von Distanz aber mit beträchtlicher Angleichung. Nochmals gefestigt wird das Freundschaftsband durch die Einführung einer Schwester, die als Tauschobjekt zwischen den Freunden fungiert.753 Die Abwesenheit des Kameraden wird abgemildert, _____________ 753 Vgl. etwa für die lateinische Hs. Innsbruck, Cod. 310, Roth 2004, S. 469, Z. 515.
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da seine Schwester als Herrscherin an der Seite seines Gefährten stets präsent ist.754 Zugleich wird Alexanders sukzessiver Statuserwerb nochmals vorangetrieben, da er nun als König noch zusätzlich mit der Kaiserschwester liiert ist. In den Historia-septem-sapientum-Texten wird anschließend davon erzählt, dass Alexander sich mit seinen Eltern, die ihn zu Beginn verstoßen hatten, versöhnt.755 Diese Texte kennzeichnet mithin ein größeres Integrationsinteresse weiterer Sozialbeziehungen, die an das zentrale Freundschaftsmodell angelagert werden. Die verbleibenden Texte dieser Gruppe bieten keinerlei Informationen hinsichtlich eines gemeinsamen Lebens der Freunde. In Radulfus Tortarius’ mittellateinischem Text wird stattdessen von Amicus’ Weggang berichtet: Sospes Amicus abit (Ogle / Schullian 1933, V. 319).756 Für Lille 130 ist das Auferstehungswunder ein Grund für das Königspaar, fortan keusch zu leben, über das Freundespaar hingegen wird kein Wort mehr verloren.757 Die Bearbeitungen der zweiten Textgruppe entwickeln ein eigenes Modell des gemeinsamen Lebens der Freunde nach den überstandenen Prüfungen, das sich von denen der ersten Textgruppe stark unterscheidet, allerdings auch in den einzelnen Untergruppen ungleich ausgeführt wird. Die elaborierten wie die mittellangen Fassungen verfügen über eine signifikante Variante des Rückgewinns der Herrschaft: Anders als in der mittelenglischen romance, der anglonormannischen Verserzählung und Konrads Engelhard gibt es nicht nur einen Machtbezirk, der zur Disposition steht. In letzteren Bearbeitungen, die aufgrund der vertauschten Positionen der Gefährten eine gemeinsame Untergruppe der ersten Textgruppe bilden, tritt Amylion bzw. Dietrich das väterliche Erbe an und heiratet eine adäquate Dame. Die Texte der zweiten Gruppe weisen dagegen zwei mögliche Herrschaftsbereiche auf: zum einen Land und Leute, denen Amicus qua Heirat mit der Ritterstochter vorsteht, und zum anderen das eigentliche, väterliche Erbland, das Amicus zwischen Papsttaufe und Wiedersehen des Freundes verloren hat. Nach seiner Genesung unternimmt Amicus eine Heerfahrt nicht etwa in das Land, das er durch seine Heirat erlangt hat,758 sondern nach Berry, dem ursprünglichen väterlichen Be_____________ 754 Dies funktioniert allerdings nur in eine Richtung: Lodovicus hat in dem Sinne kein Substitut anstelle seines Freundes; allerdings hatte Alexander für ihn Florentina erworben. 755 Die in anderen Texten an dieser Stelle auftauchende Rückeroberung der anfänglichen Herrschaft wird hier also von der Versöhnungssequenz ersetzt. – Zur genaueren Interpretation vgl. Kap. II.1.4. 756 „Gesund ging Amicus fort“ (nach Leach 1937/1990, S. 105). 757 Vgl. Woledge 1939, S. 456. 758 Dieses Land gerät völlig aus dem Blickfeld.
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sitz.759 Er erobert es zurück und nimmt in den elaborierten Fassungen den erstgeborenen Sohn seines Freundes mit sich.760 Diese Variante arbeitet – wie die Historia septem sapientum – mit einem menschlichen Tauschobjekt, das die Freundschaft zu diesem Zeitpunkt nochmals festigt, allerdings bleibt das Bündnis hier im rein homosozialen, männlichen Bereich verankert. Überdies wird das in der Kindesopfersequenz entworfene Modell einer innerfreundschaftlichen Filiationslinie erneut aufgegriffen, wenn einer der Söhne Amicus zugeteilt wird und die Fortführung der Blutlinie durch Amelius’ Leibeserben sich quasi auf beide Freunde erstreckt. In den Minimalfassungen wird einzig im Alphabet of Tales von einer Rückeroberung erzählt, allerdings wird nicht ganz klar, um welches Land es sich dabei handelt: þe contre þer he dwelte (Macleod Banks 1904/05 / 1987, S. 40, Z. 33),761 heißt es nur. Dieses wird von Amicus mit Hilfe seines Gefährten zurückgewonnen. Die elaborierten und einige mittellange Texte aus der zweiten Gruppe verfügen über eine zusätzliche Passage, die sich genauer mit dem gemeinsamen Leben der Freunde befasst. Amicus und Amelius dienen in Karls Heer, das dem Papst Hadrianus762 und der Stadt Rom gegen die Langobarden und deren König Desiderius zu Hilfe eilt. Die Kriegerfreunde führen ein vorbildliches, christliches Leben im Heer: In quo exercitu comes Amelius et Amicus, socius eius, aderant, priora agentes officia in curia regis, qui tamen Christi operibus cotidie studebant jeiunando, orando, elemosinas faciendo, viduis et orphanis opitulando, iram regis sepe mitigando, malos tolerando et regna Romanorum consulendo (elaborierte Vita, Kölbing 1884, S. cviii, Z. 38-42).763 Der von beiden verwirklichte christliche Verhaltenskatalog schließt erneut kriegerische, adlige Identität mit einem religiösen Kontext zusammen.764 Die Bin_____________
759 Kuefler 2000, S. 445, identifiziert als genauen Ort als Bourges. 760 Vgl. für die elaborierte französische Vita Moland / D’Héricault 1856, S. 73, und für die mittellange Version in München, Cgm 523, in der Amicus sein Land zurückerobert, aber keinen Sohn seines Freundes mit sich nimmt, Reiffenstein 1982, S. 249, Z. 301-305. 761 „das Land, in dem er lebte“ 762 Dies ist nicht mehr der Taufpate des Freundespaares, bei dem es sich um Deusdedit handelte, und auch nicht der Papst, bei dem Amicus zunächst Zuflucht während seiner Krankheit fand; dieser trug den Namen Constantinus. Vincenz von Beauvais fügt zwischen das Auferstehungswunder der getöteten Kinder und der Langobardenkampagne die Ereignisse ein, die unter Papst Stephanus stattfanden. Vgl. Vincentius 1624/1965, cap. clxvii. 763 „Graf Amelius und Amicus, sein Freund, begleiteten dieses Heer, wobei sie ihre früheren Ämter vom Könighof ausübten. Gleichwohl widmeten sie sich auch täglich den Werken Christi, sie fasteten, beteten, spendeten Almosen, halfen Witwen und Waisen, milderten häufig den Zorn des Königs, ertrugen die Bösen, und berieten die Regierung der Römer“ (nach Kuefler 2000, S. 455f.). 764 Reck 2009, ch. 5.4., zeigt, dass die kymrische elaborierte Bearbeitung im Vergleich zur lateinischen Vita verstärkt mit religiösen Elementen und Kampfbeschreibungen arbeitet: „The Welsh version combines the martial and the religious aspects of its source-material, reinforcing the hagiographic attitude of the Latin text on the one hand and highlighting the
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dungen der Freunde an je unterschiedliche Personen und Machtbereiche sind in dieser Phase suspendiert: Das Zusammenleben im Karlsheer gewährleistet nicht nur körperliche Nähe als ideale Lebensform, sondern ebnet zudem bestehende Differenzen ein, indem gemeinsame Aktivitäten in den Blick genommen werden, und kündigt bereits die folgende endgültige Verwischung der Unterschiede an.765 Der Statusunterschied etwa, der de facto nach wie vor besteht,766 wird stark abgemildert, da die Gefährten aus ihren jeweiligen sozialen Kontexten herausgelöst sind. Obgleich keine der Minimalbearbeitungen die Karlsepisode kennt, wird dort z.T. ebenfalls ein gemeinsames Leben der Freunde entworfen:767 Dar blef Amicus myt Ameliuse, vnd denden vnsem leuen heren went in den dot (Hannover, I 239, Oettli 1986a, S. 146, Z. 111f.). Trotz dieser äußerst knappen Formulierung wird auch hier der Zusammenhang von Freundesgemeinschaft und religiösem Lebenswandel evident. Von den beiden Grenzfall-Texten weist nur die chanson de geste ein Interesse an der Thematik des Herrschaftsrückerwerbs auf.768 Amile will seinen Freund zunächst davon abbringen, ihn erneut zu verlassen, entschließt sich dann aber, ihn zu begleiten. Von den beiden möglichen Territorien ist es hier aber nicht – wie in der elaborierten und der mittellangen hagiographischen Version – das Land des Vaters, das Ami wiederzuerlangen trachtet. Stattdessen wird der Herrschaftsbezirk Blaye, den Lubias mit in die Ehe gebracht hat, eingenommen. Gewaltsame Ausschreitungen sind nicht nötig, da seine Leute ihn lieben und ihn als unhinterfragten Herrscher betrachten. Seine Rache an Lubias ist kurz: Nach wenigen Tagen Gefängnis in der Hütte, in der er selbst als Aussätziger ausharren musste, setzt er sie wieder als Landesherrscherin ein. Dann schlägt er seinen Sohn Girart zum Ritter und übergibt ihm Besitz und Lehensgewalt. Nach dieser Regelung nimmt das Freundespaar gemeinsam das Kreuz und macht sich auf den Weg ins Heilige Land.769 _____________
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heroic and martial elements of the plot on the other.“ Ich danke Regine Reck dafür, dass sie mir das entsprechende Kapitel ihrer noch im Druck befindlichen Dissertation zur Verfügung gestellt hat. Alle elaborierten, aber nicht alle mittellangen Fassungen weisen diese Episode auf: In der Münchener Hs. Cgm 523, in der Berliner Hs. Mgq 261 und im altisländischen Fragment fehlen die beschriebenen Karlskämpfe gegen Desiderius. Genau genommen hat er sich sogar verschärft, da Amicus als Ritter nun nicht mehr nur Amelius als Grafen gegenübersteht, sondern letzterer ja überdies als Schwiegersohn des Königs durch eine weiter aufgewertete soziale Position definiert ist. Dies gilt nicht für die mittelenglische Fassung aus dem Alphabet of Tales, und auch im Seelentrost wird ein Zusammenleben der Freunde nicht deutlich gemacht. Im Miracle bildet das Auferstehungswunder den dramaturgischen Höhe- und Schlusspunkt. Vgl. Dembowski 1987, L. 168-175.
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Wie im mittelenglischen und im anglonormannischen Text werden die herrschaftlichen Formalitäten quasi abgewickelt, um das alte adlige Leben abzuschließen. Dann kann die gemeinsame Existenz der Freunde beginnen. Der Verweis auf die Pilgerreise transferiert das Bündnis nochmals in einen christlichen Bedeutungszusammenhang, indem das Zusammensein bis zum Tode in religiöse Praxis eingebettet wird. Anders als in den legendenhaften Texten bezieht sich diese jedoch nicht auf die gewaltsame Auseinandersetzung mit den Feinden des Papstes, sondern hebt mehr auf den Aspekt ab, dass die Freunde die Heimat gemeinsam verlassen. Die abgesonderte Exklusivität des Freundespaares wird im Bild des freiwilligen Fortgangs eingefangen. Zentral für die Schilderung des Freundschaftsbundes sind nicht mehr kämpferische Unternehmungen, sondern emotionale Verbundenheit, die sich auch auf Christus erstreckt: La sainte Crois, ou souffri passion / Jhesus li Sires, baisierent a bandon (Dembowski 1987, V. 3484f.).770 Die Verbindung mit Christus erscheint als letzte Aktivität und als Kulminationspunkt des Freundschaftsabschnittes, der auf die Lebzeit der Gefährten rekurriert. 3.2. Gemeinsamer Tod Obgleich insgesamt betrachtet das gemeinsame Leben von Amicus und Amelius häufig in den gemeinsamen Tod mündet, weisen mehrere Texte der ersten Gruppe keinerlei derartige Erzählelemente auf: Weder der mittellateinische Text von Radulfus Tortarius noch Lille 130, weder Konrads Engelhard noch die Historia septem sapientum berichten vom gemeinsamen Exitus.771 Einzig in der mittelenglischen romance und in der anglonormannischen Verserzählung findet sich diese Begebenheit. Both on o day thei bothe dyde (Le Saux 1993, st. 201, V. 7)772 heißt es in der romance, und zwar pünktlich zur Fertigstellung und Ausstattung der Abtei in der Lombardei.773 Die Texte, die zur zweiten Gruppe gehören, erzählen fast alle vom gemeinsamen Tod der Gefährten. Gemäß den Gattungskonventionen der Legende bildet dieser Abschnitt die passio der Freunde.774 In der elaborierten legendenhaften Version und in der mittellangen, die den Langobardenkrieg beinhaltet, sterben Amicus und Amelius – zusammen mit _____________ 770 771 772 773 774
„Das heilige Kreuz, an dem der Herr Jesus die Passion erlitt, küssten sie vielfach.“ Nichtsdestotrotz weiß Radulfus von einem gemeinsamen Grab der Freunde. „Beide starben an ein und demselben Tag.“ Vgl. für die anglonormannische Bearbeitung Fukui 1990, V. 1233f. Vgl. zur Gattung der Legende etwa Jolles 51974, Rosenfeld 1961 und Wyss 1984. – Feistner 1989 meldet dagegen Zweifel an der „Legendenthese“ (S. 100) an. Vgl. dazu Kap. III.3.
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vielen anderen Rittern – in einem Kampf der beiden gegnerischen Heere bei Mortara:775 mann vand sew paid vor ainer stat, Mortaria den namen sy hat, vor der sy pey einander lagen vnd warn auch ze tad erslagn. (Andreas Kurzmann, Oettli 1986a, S. 175, V. 1147-1150)
Als Todestag wird in einigen Texten der vierte Tag vor den Iden des Oktobers, also der 12. Oktober, angegeben.776 Der gemeinsame Tod von Amicus und Amelius bildet nicht nur den glorreichen Abschluss ihrer christlichen Kriegstaten im Karlsheer, sondern manifestiert nochmals ihre Zusammengehörigkeit, die nun auch über den Tod hinausweist: Et enqui furent mort Amis et Amiles, quar ansie cum Deus les avoit ajostez en la vie d’un acort, ansie en la mort il ne furent dessevré (elaborierte Vita, Moland / D’Héricault 1856, S. 79).777 Gott selbst sorgt für das gemeinsame Ableben seiner vorbildlichen Streiter, um die Gemeinschaft der Gefährten auch über diese Welt hinaus auszudehnen. Der gemeinsame Tod der Freunde wird in den Minimalfassungen hingegen anders geschildert:778 Nicht von kriegerischer Glorie wird erzählt, stattdessen wird der letzte, zusammen _____________ 775 Demzufolge fehlt in der Münchener Hs. Cgm 523, in der Berliner Hs. Mgq 261 und im altisländischen Fragment auch die Episode des gemeinsamen Todes. 776 Siehe für die elaborierten Viten quarto idus octobris (Kölbing 1884, S. cx, Z. 25) bzw. la quarte yde de octobre (Moland / D’Héricault 1856, S. 82). In der kymrischen Vita heißt es: Y dryded vlwydyn a chweugeint a mil oed hynny o’r pan gymerth Iessu Crist gnawt o vru wyry, yr arglwydes Veir, y pedweryd dyd o galan Ebrill, yn y vlwydyn y bu varw Seint Bernat a oed abat yng Kleros. (Williams 1928, Z. 818-821) („Das Jahr 1123 war dies seit Jesus Christus Fleisch wurde aus dem Schoß der heiligen Jungfrau, der Herrin Maria, der vierte Tag von den Kalenden des April, in dem Jahr, in dem Seint Bernat starb, der Abt in Kleros war“, Übersetzung Regine Reck.) Gaidoz weist darauf hin, dass Bernhard von Clairvaux 1153 und nicht 1123 gestorben ist. Damit weicht der kymrische Text hinsichtlich der Datumsangabe von den anderen hagiographischen Texten, die ein Datum nennen, ab. Die mittellange Legende von Vincenz, die ihr sehr ähnelnde Grazer Hs. sowie die französische Bearbeitung dieser Fassung haben 4. Idus Octobris (Vincentius 1624/1965, cap. clxix, S. 959, Sp. 1). Die mittelniederländische Fassung spricht von In october vpten .xij.sten dach (Mak 1954, S. 73, V. 99). Die Stuttgarter Hs. Cod. theol. et phil. 4° 81 und Andreas Kurzmann nennen kein Datum, obwohl sie von den Todesereignissen berichten. Vgl. auch die Acta Sanctorum, die für Amicus und Amelius den 12. Oktober als Feiertag angeben (S. 125). Eine Jahresangabe – die wiederum von der im kymrischen Text abweicht – findet sich laut Schönbach 1877, S. 864, ganz unten auf Bl. 199b der Grazer Hs.: anno DCCXL; das Datum XII kl. octobr. befindet sich am Rand desselben Blattes. 777 „Und dort starben Amis und Amiles, denn so, wie Gott sie im Leben in Eintracht vereint hatte, so wurden sie auch im Tod nicht getrennt.“ 778 Das lateinische Exempel geht nicht direkt auf den gemeinsamen Tod ein, sondern vermerkt lediglich: Referente[s] igitur deo gracias eidem usque ad obitum eorum pariter seruientes (Klapper 1914, S. 340, Z. 36f.). („Und sie sagen dem Herrn Dank und dienen ihm von nun an gemeinsam bis zu ihrem Lebensende“, Klapper 1914, S. 141.)
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verbrachte Lebensabschnitt ruhig beendet: Dar na storuen se beide (Schmitt 1959, S. 233, Z. 3). Von den beiden Grenzfall-Texten berichtet wiederum nur die chanson de geste vom gemeinsamen Tod der Gefährten:779 Auf dem Rückweg aus dem Heiligen Land sterben beide in Mortara in der Lombardei – also am gleichen Ort, an dem die Gefährten in den legendenhaften Texten fallen – an einer Krankheit: Parmi Mortiers ont lor voie tornee, / La lor prinst maus par bonne destinnee. / Ileuc transsirent, c’est veritéz prouvee (Dembowski 1987, V. 3494-3496).780 Insgesamt beharren die Amicus-Amelius-Texte, die das Sterben der Freunde thematisieren, nicht so sehr auf einer bestimmten Todesart der Protagonisten. Gleich, ob sie dem Tod im Kampf, nach einer Krankheit oder ohne ersichtliche Ursache erliegen, zentral ist der Fakt des gemeinschaftlichen Todes, der die Zusammengehörigkeit nochmals unterstreicht und die Lebensgeschichte der Gefährten als gemeinsame beschließt wie die gemeinsame Taufe bzw. Erziehung sie in vielen Texten einleitete. Das gemeinschaftliche Ableben ist ein weiterer Aspekt, der die Gleichheit der Gefährten verstärkt. 3.3. Gemeinsames Grab Die Vereinigung der Freunde im Tod bildet mitnichten die letzte Station der Geschichte: Es ist das gemeinsame Grab, das als letzte Ruhestätte die endgültige, für immer währende Leibesgemeinschaft der Freunde gewährleistet und über den Tod hinaus als wahrnehmbares Zeichen ihres Freundschaftsbundes erkennbar bleibt. So steht etwa bei Radulfus Tortarius und in der chanson de geste Ami et Amile das gemeinsame Grab der Gefährten schon am Anfang des Textes, da es als mächtiges Symbol die unverbrüchliche Freundschaft verkörpert. Est prope Vercellis fundus Mortaria dictus, / Horum famosos qui tumulat tumulos (Ogle / Schullian 1933, V. 137f.).781 Die gemeinsame Grabstätte verbürgt bereits vor dem Erzählen der Geschichte die Unauflösbarkeit und Unantastbarkeit der Kriegerfreundschaft. Radulfus beendet die Geschichte mit Amicus’ Abreise nach seiner Heilung und geht nicht nochmals auf das gemeinsame Grab ein, richtet sich also nicht nach der chronologischen Abfolge der Ereignisse. Der positive Ausgang der zweiten Freundschaftsprüfung leitet in die di_____________ 779 Wie bereits gesagt, endet das Miracle nach der Auferstehung der Kinder. 780 „Der Weg führte sie durch Mortara in der Lombardei, und hier wollte es das Geschick, dass sie beide von einer Krankheit befallen wurden und daran starben; so ist es verbürgt“ (Vielhauer 1979, S. 106). 781 „Nahe Vercelli, an einem Ort, der Mortara genannt wird, sind ihr berühmten Gräber“ (nach Leach 1937/1990, S. 101).
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daktischen Überlegungen über, mit denen Radulfus seinen Brief Ad Bernardum beschließt.782 Das zu Beginn aufgerufene – und als wohlbekannt deklarierte – Grab erzeugt den Effekt der überzeitlichen Gültigkeit des zu Erzählenden wie seiner Authentizität. Eine ähnliche Strategie wählt die chanson de geste, die ebenfalls bereits zu Beginn – noch in der ersten Laisse – den gemeinsamen Ruheort der Gefährten benennt: A Mortiers gisent, que de fi le seit on (Dembowski 1987, V. 15).783 Diese Textstelle schließt Geburt und Tod der Freunde zusammen und definiert somit ihr Leben vollständig über Freundschaft und Gemeinschaft. Hinzu kommt, dass das gemeinsame Grab in der letzten Laisse nochmals aufgerufen wird: So wird auch der Text der chanson de geste als Einheit zusammengeschlossen. Das narrative Programm konstituiert sich ebenso über die beschriebene Freundschaft wie die Identität seiner Protagonisten. Steht der gemeinsame Tod der Freunde nach ihrer Jerusalem-Reise bereits im Zeichen vorbildlichen christlichen Handelns, wird durch die Kennzeichnung des Grabes als Pilgerstätte dieser Deutungszusammenhang weiter ausgebaut: Li pelerin qui vont parmi l’estree, / Cil sevent bien ou lor tombe est posee (V. 3497f.).784 Zudem wird die Bedeutsamkeit der Freundschaft über den Tod der Gefährten hinaus sichtbar, da ihre Gebeine verehrt werden und ihre Geschichte immer aufs Neue erzählt wird. Aus der ersten Textgruppe kennen auch die mittelenglische romance und die anglonormannische Verserzählung eine gemeinsame Begräbnisstätte der Freunde. And in on grave thei were leyde, The hende knyghtes both two; And for ther trewth and here guodehede, The blysse of heven thei had to mede, That lasteth ever moo. (Le Saux 1993, st. 201, V. 8-12)785
Vereinigung im Grab und im Himmelreich erscheinen als kombinierte Konsequenz aus dem Leben in Freundschaft. Der anglonormannische Text berichtet nicht ausdrücklich von einem gemeinschaftlichen Grab (Lor corps gisent en Lombardie, Fukui 1990, V. 1237),786 überhöht die Ruhestätte _____________ 782 Vgl. Ogle / Schullian 1933, V. 321-340. 783 „In Mortara ruhen sie, wie man sicher weiß“ (nach Vielhauer 1979, S. 34). 784 „Die Pilger, die durch jene Gegend ziehen, wissen, wo ihr Grab liegt“ (Vielhauer 1979, S. 106). 785 „Und sie wurden in ein und dasselbe Grab gelegt, die beiden tapferen Ritter, und für ihre Treue und ihre Vorbildlichkeit wurde ihnen die immerwährende Glückseligkeit des Himmels als Lohn zuteil.“ 786 „Ihre Körper liegen in der Lombardei.“
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der Freunde aber durch von Gott gewirkte Wunder: E Deu fait pur eus grant vertuz: / Les voegles ver, parler les mutz (Fukui 1990, v. 1238f.).787 In den Texten, die zur zweiten Gruppe gehören, sind nicht nur das gemeinsame Grab, sondern zudem noch damit verbundene Wunder vorherrschend.788 Damit folgen diese hagiographischen Texte einer Gattungskonvention der Legende, nach der die nach ihrem Tode verbürgten Wunder neben der Beschreibung des vorbildlichen Lebens der Heiligen eine gängige Konstituente von Viten bilden. In den elaborierten und einigen mittellangen Fassungen sorgt Karl nach dem Exitus der Freunde für ihre angemessene Beisetzung. Auf Anraten von Albinus, Bischof von Angers, werden zwei Kirchen erbaut: die eine – von Karl gestiftet – wird Eusebius von Vercelli, die andere – von Karls Gattin Hildegard gestiftet – Petrus geweiht. Amicus wird im ersten, Amelius im zweiten Gotteshaus bestattet,789 nachdem Karl prachtvolle Särge herbeigeschafft hat. Am Morgen aber werden beide Freundeskörper Seite an Seite in der EusebiusKirche gefunden. In der elaborierten lateinischen und französischen Vita wie in Vincenz’ und in der französischen mittellangen Legendenfassung ruhen die Gefährten nach wie vor dem Wunder in zwei Särgen:790 Mane autem facto dispositione divina inventum est corpus Amelii cum suo sarchofago juxta sarchofagum Amici in ecclesia regali (Kölbing 1884, S. cx, Z. 3f.).791 In der kymrischen Fassung heißt es dagegen: A phan gyfodet y bore drannoeth, neur daroed y Duw drawsgwydaw corff Amlyn o’r ysgrin, a’e dodi yn ysgrin Amic, gyt a chorff Amic, yn eglwys Euseb yn yr vn ysgrin; ac yr bot y deu gorff yn yr vn ysgrin, nyt oed gyfynghach udunt ell deu, noc y gorff Amic e hunan kyn no hynny. (Williams 1982, Z. 791-795)792
_____________ 787 „Und Gott wirkte durch sie große Wunder: Die Blinden sehen, die Stummen sprechen.“ 788 Wie der gemeinsame Tod fehlt diese Sequenz in der Münchener Hs. Cgm 523, in der Berliner Hs. Mgq 261 und im altisländischen Fragment, auch das lateinische Exempel kennt kein gemeinsames Grab. 789 Dass Amicus und nicht etwa Amelius, der Schwiegersohn des Königs, in der Karlskirche bestattet wird, ließe sich als weiteres Indiz dafür lesen, dass die Unterschiede zwischen den Freunden eingeebnet werden. In der von Kölbing edierten elaborierten Vita heißt es zudem kurz vor der Beisetzung, dass Karl sowohl Amelius als auch Amicus sehr liebt; vgl. Kölbing 1884, S. cix, Z. 39f. 790 In der lateinischen Fassung der Hs. Graz findet sich kein Hinweis auf die gemeinsame Ruhestätte der Freunde, sondern ausschließlich der knappe Hinweis auf ihren gemeinsamen Tod im Kampf gegen die Langobarden; vgl. Schönbach 1877, S. 803f. 791 „Am Morgen aber wurde Amelius’ Körper gemäß göttlicher Anordnung mit seinem [Sarg; S.W.] neben dem [Sarg; S.W.] von Amicus in der Kirche des Königs gefunden“ (nach Kuefler 2000, S. 456f., der anstelle von ‚Sarg‘ mit ‚Grab‘ übersetzt). 792 „Und als man am nächsten Morgen aufstand, hatte Gott Amlyns Körper aus dem Sarg genommen und ihn zusammen mit Amics Körper in dessen Sarg gelegt, in der Kirche des Eusebius, in denselben Sarg. Und obwohl beide Körper in dem einen Sarg waren, war er nicht enger für sie beide als zuvor für Amics Körper allein“ (Übersetzung Regine Reck).
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Statt eines gemeinsamen Grabes mit zwei Särgen imaginiert dieser Text eine Ruhestätte mit nur einem Sarg und vereinigt so die Kriegerfreunde im Tode auf noch engere Art und Weise. Ihre Körper befinden sich in einem gemeinsamen Behältnis, durch nichts voneinander getrennt, und demonstrieren zum letzten Mal ihre uneingeschränkte Zusammengehörigkeit. Dieser Ordnung des Textes passt selbst der Sarg sich an: Er kann problemlos zwei Freundeskörper aufnehmen. Körperliche Nähe, die noch nach dem Tode durchgesetzt wird, erscheint als endgültige Idealform des Freundschaftsmodells. Diese Nähe wird von Gott hergestellt, der durch dieses Grabwunder die Sicht auf eine unsichtbare Wirklichkeit eröffnen will: Ac yna yd adnabu bawp yn amlwc bot Duw yn dangos vot yr eneidyeu yn diymadaw yn y nef, oherwyd na mynnei wahanu eu kyrff yn y byt hwnn yman (Williams 1982, Z. 795-797)793. Die himmlische Seelengemeinschaft der Gefährten wird greifbar im Anblick ihrer Leibesgemeinschaft im Tode. Die lateinische Vita bietet eine modifizierte Deutung des Grabwunders an: O admiranda duorum societas amicorum, o ineffabilis caritas amborum, que nec in morte dividi meruit! Amore quorum omnipotens Deus hoc venerandum et memoriale signum de illis facere voluit, qui virtutem hanc suis dedit discipulis, ut etiam montes transferre possent (Kölbing 1884, S. cx, Z. 5-9).794 Das Grabwunder ist Zeichen für die unzertrennliche Liebe der Freunde: Körperliche unio steht in diesem Sinnkomplex als Signifikant für die vorbildliche, emotionale Bindung, die zudem nochmals als von Gott gestiftet erscheint.795 Eine abweichende Variante der Ereignisse nach dem Tode der Freunde schildert Andreas Kurzmann in seiner zu den mittellangen Bearbeitungen gehörenden Verslegende. Nicht der Körpertransfer in ein gemeinsames Grab, sondern Unversehrtheit und Schönheit der Leichname erbringen hier den Nachweis der Heiligkeit des Freundespaares. Zunächst _____________
793 „Und dann wusste jeder sicher, dass es ein Zeichen Gottes war, dass die Seelen im Himmel vereinigt waren, da er ihre Körper auf dieser Welt hier nicht trennen wollte“ (Übersetzung Regine Reck). 794 „Welch bewundernswerte Freundschaft zwischen diesen zwei Freunden, welch unaussprechliche Liebe zwischen beiden, die nicht einmal im Tode Trennung verdient hat! Für ihre Liebe wollte der allmächtige Gott aus ihnen ein verehrungswürdiges und Zeichen des Andenkens machen, Er, der diese Tugend seinen Jüngern gab, damit sie mit einer solchen Liebe Berge versetzen könnten“ (nach Kuefler 2000, S. 457). 795 Abschließend werden die 30-tägigen Totenmessen erwähnt sowie Karls Sieg über Desiderius geschildert. Bischof Albinus, der zum Bau der Kirchen geraten hatte, nimmt sich der Kirche des Hl. Eusebius an, weiht dort viele hochrangige Kleriker und behütet die dort bestatteten Freundeskörper; vgl. Kölbing 1884, S. cx, Z. 9-24. Zum Teil beziehen die einzelnen Texte sehr verschiedene Details in die abschließende Sequenz ein. Werden etwa in der lateinischen elaborierten Vita die diversen Truppenbewegungen der feindlichen Heere genau nachvollzogen (vgl. Kölbing 1884, S. cvii-cx), berichtet Vincenz von Beauvais zusätzlich von der österlichen Schenkung Karls (vgl. Vincentius 1624/1965, cap. clxix, S. 959, Sp. 1). Die französische mittellange Fassung hingegen verweist auf die enge Verknüpfung von Papst- und Kaisertum zu Karls und Hadrianus’ Zeiten (vgl. Woledge 1939, S. 451).
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berichtet Andreas über den Platz im Himmelreich, mit dem die Seelen derer, die im Kampf für den Papst verstorben sind, belohnt werden.796 Auch Amicus und Amelius gehören zu diesen Auserwählten: Fassbar wird der himmlische Lohn in den strahlend schönen Körpern der Erschlagenen. jr anplikch schain recht als ain glas vnd auch chain mail an jn nicht was. mann sach chain pluet aus jn her trieffn[...]. daran ich wol gepruefn chan, [...] das Christus sew gechront hatt dort in der englischen stat, vnd miteinander sind gehaillet, wenn sy auf erd nye sind getaillet. (Oettli 1986a, S. 175, V. 1151-1153, V. 1155, V. 1157-1160)
Dieser Text arbeitet wie die anderen hagiographischen Bearbeitungen mit der Verweisfunktion wahrnehmbarer irdischer Tatsachen auf übersinnliche Wahrheiten, wählt allerdings ein anderes Bild, um das gemeinsame Seelenheil der unzertrennlichen Freunde zu visualisieren. Stellen die oben besprochenen Texte konkrete Nähe dar, mit der die Freundeskörper durch göttliche Fügung im Todesraum angeordnet werden, entwirft Andreas die leuchtende Schönheit intakter Körper als entscheidenden Hinweis auf ihre gemeinsame Erlösung. In den anderen eben beschriebenen Texten wird eine wunderbare Bewegung der Freundesleichen aufeinander zu als letzter und höchster Beweis ihrer Zusammengehörigkeit inszeniert. Der implizite Ausblick auf die gemeinsame Grabesruhe, in der die Körper im Verfall sich einander weiter annähern, da die Körpergrenzen sich in diesem Prozess verwischen, wird von Andreas vermieden. Der angenehme Anblick der schönen Freundesleiber rekurriert eher auf die anfängliche Schönheit der Gefährten: zway hercznschone degn chind, dew warn czart vnd wolgeuar an jerm leichnam also gar das nichts nicht was vnderschaidn mit der gestalt czwar an jn baiden (S. 149, V. 14-18)
So hieß es zu Beginn dieser Amicus-Amelius-Legende. Somit baut sie einen innertextlichen Rahmen der Freundschaftsgeschichte auf, der die duplizierte Schönheit höher bewertet als den räumlichen Kontakt, obgleich jene in ihrer Wirkungskraft an diesen gebunden ist.
_____________ 796 Vgl. Oettli 1986a, S. 175, V. 1131-1140.
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Ein ähnliches Grabwunder wie die elaborierten und mittellangen religiös deutenden Texte beschreibt die Mehrzahl der Minimalfassungen.797 Auch hier verschwindet einer der Leichname aus seinem Grab, um sich mit dem toten Körper des Freundes zu vereinen. Dar na storuen se beide vnde worden malk gegrauen sunderliken in sin graff. Do vel dat eyne graff in. Do grouen de lude dat graff vp vnde funden den licham dar nicht inne. Do grouen se dat andere graff vp, do funden se beide lichamme to samne. Also bleuen se kumpane in dem dode, de truwe kumpane weren an dem leuende. (Großer Seelentrost, Schmitt 1959, S. 233, Z. 3-7)
Das Wunder wird als solches nicht deklariert798 und steht in diesen Texten in keinerlei Zusammenhang mit den kreuzzugsartigen Aktivitäten des Karlsheeres. Die körperliche Nähe im gemeinsamen Grab wird nicht in erster Linie als Gotteszeichen eingeschätzt, sondern scheint aus dem freundschaftlichen Begehren der Gefährten nacheinander zu erwachsen. Der Freundschaftsbund wird so nochmals besiegelt. Auffällig ist in den Minimalbearbeitungen, dass die Positionen der Freunde zu diesem Zeitpunkt nicht mehr unterschieden werden. Während die elaborierten und mittellangen Fassungen genau berichten, dass Amelius’ Körper seine Totenstätte verlässt und dann bei Amicus aufgefunden wird, wird hier keine Unterscheidung zwischen den Gefährten mehr vorgenommen. Es hat zu diesem Zeitpunkt keinerlei Bedeutung mehr, wer sich zu wem begibt, wichtig ist allein das Resultat der Zusammenführung, das gemeinsame Grab. Die gemeinsame Totenruhe wird als Zeichen der fortwährenden Freundschaft im Tode gedeutet. Obgleich in drei Texten aus der ersten Gruppe die gemeinschaftliche Ruhestätte erwähnt wird und teilweise zum ewigen Zeichen der Freundschaft avanciert, ist in diesen Texten nichts von der Beharrlichkeit zu spüren, die toten Freundeskörper so eng wie möglich nebeneinander zu platzieren. Das gemeinsame Grab als solches genügt, um Zusammengehörigkeit zu demonstrieren.799 In den übrigen zu dieser Textgruppe gehörenden Bearbeitungen dominiert die Vorstellung zweier exemplarischer Landesherrscher, deren Bund nach dem Durchlauf der probatio_____________ 797 Das lateinische Exempel verfügt nicht über ein gemeinsames Grab der Freunde. 798 In der mittelenglischen Alphabet-of-Tales-Fassung verhält es sich etwas anders: Die Vorgänge werden in der Tat als grete miracle (Macleod Banks 1904/05 / 1987, S. 41, Z. 1f.) („großes Wunder“) bezeichnet. Zudem wird hier betont, dass die Freunde wer berid in placis far in sondre (S. 40, Z. 34 – S. 41, Z. 1) („wurden an weit voneinander entfernten Orten begraben“), so dass die Überwindung des großen Abstandes als besonders mirakulös gedacht wird. In diesem Text wird nicht berichtet, dass eines der Gräber einfällt und daraufhin der Transfer offenbar wird. 799 Radulfus spricht von tumulos (Ogle / Schullian 1933, V. 138), also von Grabhügeln, die offenbar nebeneinander liegen.
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Phase offenbar auf Dauer gefestigt ist.800 Gleichheit und gemeinsame Identität sind hier nicht notwendig an körperliche Nähe geknüpft, sondern existieren losgelöst von räumlichen Koordinaten. Auch einige Texte der zweiten Gruppe kommen ohne das Grabeswunder aus. Diejenigen aber, die davon berichten, entwerfen meist die posthume Bewegung der Freunde zueinander als ultimatives Freundschaftszeichen: Das Bündnis wird Vorstellungen zeitlicher Dauer enthoben und in die Ewigkeit integriert. Dies ist aber nur über den größtmöglichen räumlichen Kontakt der Toten möglich. Die mit dem Grab der Freunde verknüpfte Konzeption von Räumlichkeit ist vielfach an einen tatsächlichen Ort gebunden. Die elaborierten hagiographischen Fassungen und die mittellangen Legendentexte, die über die Langobardenpassage verfügen, benennen die Stätte, an der die Gefährten begraben sind: das lombardische Mortara, das diesen Namen erst mit der Schlacht erhält, in der Amicus und Amelius und viele andere Ritter sterben; vorher hieß dieser Ort laut den Vitatexten Pulcra Silvula.801 Und in der Tat befinden sich an der Kirche S. Lorenzo in Mortara Fresken von Amicus und Amelius, deren Begleittext die Freunde als Glaubenskämpfer ausweist.802 Die Abbildung der Gefährten wiederholt ihre beständige Gemeinschaft nochmals auf bildlicher Ebene. Der real existierende und bezeichnete Platz, an dem die Gefährten umkamen, bildet das endgültige Mittel der Beglaubigung und versichert die Authentizität der erzählten Ereignisse. Umgekehrt versorgt die Amicus-Amelius-Geschichte Mortara mit einer Heiligengeschichte, die die Ortschaft zum Ziel von Pilgerfahrten macht.803 Die Verknüpfung der Freundesgeschichte mit Mortara findet _____________ 800 In Lille 130 wird nach dem erfolgreichen Ausgang der Kindesopferepisode kein Wort mehr über die Freunde verloren. 801 Die französische mittellange Vita erwähnt nur die Lombardei, nicht aber Mortara, allerdings auch nicht als genauen Todes- bzw. Begräbnisort, sondern als Land des Königs Desiderius, gegen den Karl kämpft. In dieser Schlacht, die dann wohl als in der Lombardei stattfindet, kommen Amicus und Amelius um. Vgl. Woledge 1939, S. 451. 802 Vgl. die Abbildungen in Vielhauer 1979, zwischen S. 16 und 17. Der Begleittext lautet: Pii moribvs et vvltv persimiles ss. socii et milites amicus et amelius interfecti fvervnt qvi strenve pro fide pvgnabant. („Die gottesfürchtigen heiligen Freunde und Ritter Amicus und Amelius, die sich in Verhalten und Aussehen glichen und die tapfer für den Glauben kämpften, wurden getötet.“) – In S. Albino in Mortara sind die Freunde auf einem Altarretabel abgebildet. Vgl. die Abb. in Kraß 2006a, S. 111. 803 Vgl. zu dieser Thematik Bédier 1885. Bédier stellt heraus, dass die Frage nach der Vorgängigkeit von Legende oder Doppelgrabstätte nicht mit Sicherheit beantwortet werden kann. Er stellt jedoch die vorsichtige Hypothese auf, „que ces tombes n’ont existé d’abord que dans l’imagination des poètes [...]. En fait, on ne peut que constater que leur localisation à Mortara est indiquée par les trois textes anciens [= Radulfus Tortarius’ Text, die lateinische elaborierte Vita und die chanson de geste; S.W.]“ (Bédier 1885, S. 345). Weiter verweist Bédier auf die Kirche von S. Albino, die sich bei Mortara befindet: Diese sei lange mit Amicus und Amelius in Verbindung gebracht worden, so z.B. auch in den Acta Sanctorum Octobris
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sich indes nicht nur in den legendenhaften Bearbeitungen des Textkorpus. Auch der zur ersten Gruppe zählende Text von Radulfus Tortarius weiß von diesem Ort; in der mittelenglischen romance und in der anglonormannischen Verserzählung wird das gemeinsame Grab in der Lombardie (Fukui 1990, V. 1237) situiert, wenn auch nicht die genaue Ortschaft benannt wird.804 Schließlich berichtet auch die chanson de geste von Mortiers (Dembowski 1987, V. 15; V. 3494) in der Lombardie (V. 3492) als Ruhestätte der Freunde. Dass die Grabstätte mit einem tatsächlich existierenden Ort in Verbindung gebracht wird, kann mithin als generelle Textstrategie zur Erzeugung von Authentizität betrachtet werden.805 3.4. Unio: Konkretisierung und Abstraktion von Freundschaft Die in der dritten Freundschaftsphase des Amicus-Amelius-Modells erreichte unio der Gefährten illustriert einen abschließenden, idealen Zustand von Nähe und Gleichheit. Diese Endsituation des Freundschaftsbündnisses resultiert aus dem Durchgang der bereits absolvierten Stadien, die durch die unterschiedlich gestalteten Oppositionen von Nähe und Distanz, Gleichheit und Differenz sowie Öffentlichkeit und Heimlichkeit gekennzeichnet waren. Die Gegensatzpaare wiederum korrelieren untereinander in diversen Bezugsformationen, die auf eine komplexe Diskussion der miteinander verknüpften Thematiken von Gleichheit und Identität in den Amicus-Amelius-Texten verweisen. Die verschiedenen Etappen münden nun in einen Entwurf von Freundesgleichheit, der zum einen die anfängliche Ununterscheidbarkeit der Freunde in sich aufnimmt und damit die ästhetisierte Leibesgleichheit der Gefährten auch auf narrativer Ebene _____________ 1794.1.T.6, S. 125, Sp. 1: Præterea Mortarienses á majoribus accepisse, quòd eorum corpora fuerint in ecclesia S. Albini. („Außerdem wurde von der Mehrzahl der Einwohner Mortaras angenommen, dass sich ihre Körper in der Kirche des Heiligen Albinus befänden.“) Bédier erläutert, dass die Kirche des Hl. Eusebius – in der die Grabstätte der Freunde sich laut Vita befindet – eines Tages den Namen des Hl. Albinus angenommen hat, war er es doch – ebenfalls gemäß der Vita –, auf dessen Anraten Karl die Kirche bauen und der anschließend diese Kirche florieren ließ und die Heiligenkörper hütete; vgl. Bédier 1885, S. 338f. Außerdem weist Bédier darauf hin, dass Mortara sich auf der Pilgerroute nach Rom befindet und dass die Bewegung der Freunde im Raum sich sowohl in der Vita als auch in der chanson de geste auf eben jener Route vollzieht. – Zudem liefert Bédier in seinem Aufsatz eine vorzügliche quellengeschichtlich orientierte Zusammenstellung weiterer Texte, die die passio von Amicus und Amelius – in unterschiedlichen Varianten – enthalten. 804 In der mittelenglischen romance ist die Lombardei auch das Herkunftsland der Freunde und ihrer Väter; vgl. Le Saux 1993, st. 3, V. 1. Im anglonormannischen Text wird dies nicht erwähnt. 805 Aus dieser Perspektive spielt es keine Rolle, ob das Grab oder der Text zuerst vorhanden war.
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abbildet: Anfangs- und Abschlussphase sind symmetrisch aufeinander bezogen. Zum anderen gipfelt die in der probatio-Phase akkumulierte Gleichheit und Identität in einer neuen Qualität, die in der unio-Sequenz illustriert wird. In diesem Abschnitt herrscht von neuem eine öffentliche Atmosphäre vor: Die an identitäre Gefährdung geknüpfte Verheimlichung ist entbehrlich geworden. Tendenziell entwerfen die Textgruppen stark voneinander abweichende Modelle der letzten, qualitativ höherwertigen Ähnlichkeit der Gefährten. In einigen Texten der zweiten Gruppe wird über die drei chronologischen Momente des gemeinsamen Lebens, des gemeinsamen Todes wie des gemeinsamen Grabes ein nochmaliger Zuwachs von Gleichheit inszeniert, der sich über die kontinuierliche räumliche Nähe wie den gemeinschaftlichen zeitlichen Durchlauf gleicher Ereignisse konstituiert. Schließlich wird die Kriegerfreundschaft aus einem innerweltlichen in einen metaphysischen Bereich überführt: Die Gemeinschaft der Freunde erstreckt sich nun auf ihr – ebenfalls als gemeinsam gedachtes – Seelenheil. Körper und Seele erscheinen in diesem Freundschaftsentwurf als aufeinander bezogene Kategorien: Zur Veranschaulichung des übersinnlichen Zustandes der Seelen im Himmelreich dienen die Körper der Freunde. Dieses wird auf nachdrückliche Weise in der Anordnung ihrer toten Körper sichtbar: Die letzte und unumstößliche Vereinigung im Grab stellt die absehbare Verwischung der körperlichen Grenzen in Aussicht. Dieses Bild bezeichnet eine vollendete Leibesgemeinschaft, die keine Differenzen mehr zulässt, da letztlich sogar die einzelnen Freundesleiber verschwimmen. Die Seelengemeinschaft der Gefährten ist mithin als ebenso differenzlos zu denken. Die Körper-Seele-Dichotomie in den religiös deutenden AmicusAmelius-Texten benennt zwei Dimensionen von Freundschaft und Gleichheit, von denen die eine einen sinnlich wahrnehmbaren, die andere transzendenten Charakter hat. Die beiden Ebenen verstärken sich gegenseitig: Die konkrete, körperliche Realität des Todes und des Grabes zeigt die Zustände auf der nicht greifbaren, himmlischen Ebene, während die Bedeutsamkeit der abstrakten Seinsstufe ihrerseits die leiblichen Dinge mit zusätzlicher Signifikanz auflädt. Eine solche Verquickung von Konkretheit und Abstraktion weisen nicht alle Texte der ersten Gruppe auf. Werden in den hagiographischen Bearbeitungen bis zum Schluss die körperliche, personale Identität und Nähe der Freunde betont, abstrahieren jene Texte häufig von körpergebundenen Vorstellungen von Nähe und Distanz, wenn die beiden Gefährten zuletzt ihre jeweilige Herrscherposition einnehmen. Räumliche Distanz erscheint nicht als zu überwindende Störung der freundschaftlichen Beziehungen, sondern bildet zum Abschluss eine
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mögliche Bündnisform, die vorbildliche Herren unabhängig von räumlichen und zeitlichen Konstellationen miteinander verbinden kann. Ein weiterer Unterschied kennzeichnet die beiden Textgruppen: Das Grabwunder der zueinander strebenden Leichname findet im adlighöfischen Sinnzusammenhang keine Entsprechung. In der Bewegung des einen Freundes zum anderen manifestiert sich in den hagiographischen Texten ein letztes Mal das Begehren nach der Nähe des Gefährten, das mit Gottes Hilfe erfüllt wird. Dieses Begehren besitzt nicht nur Identität und Gleichheit bildende Kraft, sondern bestimmt zudem die Handlungsdynamik der Amicus-Amelius-Texte. Besonders deutlich wird die Freundschaft in den legendenhaften Texten über diese Bewegung organisiert: Bildet das Grabwunder das abschließende Bild dieses Begehrens, war die jahrelange Suche der Freunde nacheinander zu Beginn der Geschichte ein ebensolches narratives Element.806 In der Suche wie in der Grabeszusammenführung versinnbildlicht sich das Streben nach der Leibesgemeinschaft als grundsätzliches Konstituens des Freundschaftsmodells. Indem die zueinander führende Bewegung in der Grabepisode als Wunder deklariert wird, wird ihr nochmals spezifische Bedeutung zuerkannt. Das Begehren nach dem Freunde gilt nicht nur als definitives Freundschaftsindiz über den Tod hinaus: Da Gott selbst dieses Moment aufgreift, überlagern sich in ihm göttliche und freundschaftliche Handlungsparameter. Die Vereinigung illustriert zudem nochmals die hermetische Abgeschlossenheit des Freundschaftsbündnisses: Das Grabwunder bezieht sich ausschließlich auf die Gefährten und inszeniert nachdrücklich ihre exklusive Aufeinanderbezogenheit. Der gemeinsame Tod und das gemeinschaftliche Eintreten ins Himmelreich bilden die letzte Steigerungsstufe von Identität. Der schöne und perfekte Tod erscheint als logische Konsequenz des Freundschaftsmodells im Amicus-Amelius-Textkorpus. Das einzige Grabwunder in der ersten Textgruppe – in der anglonormannischen Verserzählung – ist von grundsätzlich verschiedener Art: Mit der Heilung Stummer und Blinder wird ein karitativer Aspekt in die Freundschaftsgeschichte eingeführt, der die abgesonderte Gemeinschaft der Gefährten verlässt und sich auch auf andere erstreckt. Dies aber ist ein Sonderfall. Die unterschiedlichen Entwürfe der letzten Freundschaftsphase in den einzelnen Textgruppen beleuchten die voneinander abweichenden Strategien, mit denen das Freundschaftsmodell verschiedenen Sinnsystemen zugeordnet wird. In vielen Texten aber werden die verschiedenen Deutungsmodelle im Hinblick auf die letzten Dinge einander angenähert: So verknüpfen die elaborierten und mittellangen legendenhaften _____________ 806 Vgl. Kap. I.4.2.
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Bearbeitungen die Kriegstaten der Freunde und ihre christliche Bedeutung unauflösbar miteinander, während die mittelenglische und die anglonormannische Fassung, die zu den adlig-höfischen Texten gehören, den Abschluss eines vorbildlichen adligen Lebens mit Stiftungstätigkeit verbinden. Religiöse und adlige Deutungs- und Handlungsmuster werden ineinander überführt: Adlige Gewaltsamkeit wird als genuin christliche, heiligmäßige Aktivität überhöht und der religiöse Abschluss adliger Lebensführung erscheint als logischer Ablauf der Dinge. Obgleich die unterschiedlichen Zeichenordnungen im narrativen Prozess verwischt werden, erscheinen sie als grundlegende Indikatoren für die einzelnen Gruppen des Amicus-Amelius-Korpus: Die jeweiligen Texte und Gruppen nehmen die Angleichung von unterschiedlichen Ausgangspositionen und Ergebnissen vor. Bildet die Stilisierung der Gefährten zu Kriegsheiligen ein genuin legendenhaftes Projekt, erscheint die Verknüpfung des adligen Lebensendes mit anderen beglaubigten Formen religiösen Handelns als eine Tendenz der Texte adlig-höfischer Provenienz.
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4. Begehren und Emotionalität in der Kriegerfreundschaft Bislang lag der Fokus auf der narrativen Ausgestaltung der Amicus-AmeliusFreundschaft in den drei ‚Etappen‘ Bündnisschließung (admissio), Prüfung (probatio) und Vereinigung (unio). Nun soll das Freundschaftsprogramm hinsichtlich seiner Begehrensstruktur perspektiviert werden: Das homosoziale Begehren, das die Freundschaft kennzeichnet, und die emotionale Dimension, über die das Bündnis verfügt, bilden grundsätzliche Konstituenten des Amicus-Amelius-Modells. Gleichheit und triuwe sind mit Begehren und Emotionen verknüpft und formen zusammen die Spezifik der Freundschaftskonzeption. Judith Klinger theoretisiert das Konzept des Begehrens in Anlehnung an Sedgwick als übergeordnete Kategorie zur Bezeichnung einer literarischen Struktur: Auf der Grundlage von Distanz und Distanz-Überwindung prägt diese Kategorie eine emotionale und textuelle Dynamik aus. Damit werden zwei Betrachtungsebenen eingeführt: Der Terminus ‚Begehren‘ bezieht sich auf das intersubjektive „Verlangen nach der Nähe eines signifikanten Anderen (also immer auf eine Person), das sich durch intensive, auch physisch manifestierte Affekte artikuliert und zugleich die Textstruktur über Diskursformation, Handlungsmotivation und -verlauf, spezifische Kommunikationsverhältnisse und Rollenzuweisungen prägt“.807 Das Freundschaftsmodell im AmicusAmelius-Korpus wird durch diese Existenzformen des Begehrens mitkonstituiert: Sowohl die auf spezifische Weise inszenierten Emotionen, die an Liebe, Freundschaft und Zuneigung gekoppelt sind, als auch die textstrukturellen Konkretisierungen von Begehren – etwa das Motiv der gegenseitigen Suche – formieren Narration und Männerallianz. In der historischen Emotionalitätsforschung808 ist die kulturelle und historische Variabilität von Emotionen, ihrer Ausdrucksformen und ihrer Semantik herausgearbeitet worden. Die mediale Verfasstheit und der Zeichencharakter von Emotionen sind in diesem Zusammenhang stets mitzudenken: So sind Emotionen ausschließlich vermittelt „durch Körper-, Sprach- und Schriftzeichen“809 zugänglich. Für (literarische) Gefühlsdarstellungen sind bestimmte Gestaltungskonventionen zu veranschlagen, die Emotionen nicht nur ästhetisch, sondern auch funktional codieren. Formen der Repräsentation von Emotionen sind eng an ihre pragmatische Wirkungskraft – etwa hinsichtlich der Konstitution sozialer Bindungen – _____________ 807 Vgl. Judith Klinger, Fremdes Begehren (unveröffentlichtes Manuskript). Klinger betont ausdrücklich, dass dieses Begehren nicht auf eine ‚sexuelle‘ Beziehung hin orientiert sein muss. – Ich danke Judith Klinger dafür, dass sie mir Teile ihrer Arbeit zur Verfügung gestellt hat. 808 Vgl. grundsätzlich Rosenwein 1998, Kasten 2003, Jaeger / Kasten 2003 und Eming 2006b. 809 Eming 2006b, S. 3.
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gekoppelt: „Dem Gefühlsausdruck eignet ein kommunikatives Vermögen, das wirklichkeitsverändernde oder: performative Leistungen übernimmt.“810 Damit kommen soziale Kontextualisierung und Situationsbezogenheit literarischer Gefühlsdarstellungen in den Blick,811 so dass insgesamt von komplexen „Techniken und kulturellen Muster[n]“812 auszugehen ist, in die Darstellung und Konstitution von Emotionen eingebettet sind. Textuell vermittelte Emotionen und emotionale Verhaltensmuster813 können identitätsstiftenden Charakter haben: auf der Handlungsebene für die Protagonisten und auf textueller Ebene für das Textkorpus. Insofern ist der Freundesbund mit Barbara Rosenwein als ‚emotionale Gemeinschaft‘814 zu beschreiben. Emotionen und Zusammenhalt (oder Zerfall) von Gemeinschaften hängen eng miteinander zusammen: „Ce sont les communautés qui forgent les sentiments, lesquels, parallèlement, contribuent à créer ces dernières.“815 Nicht nur Emotionen, sondern auch das Begehren wirkt in der Amicus-Amelius-Freundschaft bündnisstiftend und als narrationslogische Kraft. In den vorherigen Abschnitten dieser Studie wurde an gegebener Stelle bereits auf Gefühlsausdruck und Begehren hingewiesen, da diese in den einzelnen Abschnitten der Kriegerfreundschaft maßgebliche Bedeutung für Konstituierung, Erprobung und Festigung des Männerbundes erlangen. Im Folgenden soll der Begehrensstruktur der Amicus-Amelius-Texte systematischer nachgegangen werden: Zunächst werden Formen emotionaler Expressivität und ihre spezifischen Anlässe in der Kriegerfreundschaft beschrieben. Danach wird das narrative Element der gegenseitigen Suche der Gefährten untersucht und in den weiteren Kontext einer textuellen Begehrensdynamik gestellt. Abschließend möchte ich zwei Einzeltexte betrachten, deren Inszenierungen von Begehren und Emotionalität keine Entsprechung in den anderen AmicusAmelius-Texten finden: In der chanson de geste Ami et Amile gibt es eine Sequenz von Wiedersehensszenen zwischen den Kameraden, in der be_____________ 810 Eming 2006b, S. 6. Zur Performativität siehe ebd. S. 112-120 811 All diese Komponenten – Aspekte verbaler und körpersprachlicher Kommunikation, soziale Kontextualisierung und Situationsbezogenheit – fasst Jutta Eming mit dem Begriff der ‚Expression‘ von Emotionen zusammen. Siehe Eming 2006b, S. 53-64. 812 Eming 2006b, S. 76. 813 Vgl. zu diesem Terminus Sieber 2003 und Sieber 2008, S. 20-24: Der Terminus ‚emotionales Verhaltensmuster‘ impliziert „verschiedene emotionale Zustände“ und kann „infolgedessen nur als komplexer Handlungsvollzug, nicht aber als Einzelemotion oder ein Gefühl verstanden werden“ (ebd., S. 21). 814 „These are social groups of every sort, but the researcher looking at them is concerned with the emotions that they imply, generate, encourage, and discourage“ (Rosenwein 2004, S. 133). 815 Rosenwein 2003, S. 1292.
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stimmte Verhaltensweisen sowie nonverbale und sprachliche Bekundungen von Zuneigung zu einem signifikanten Komplex freundschaftlichen Verhaltens verknüpft werden. In Konrads von Würzburg Engelhard begleiten Reflexionen über die Freundschaft und Verbalisierungen die narrative Ausdifferenzierung des Freundschaftsmodells: Eine ‚Innerlichkeit‘ der Protagonisten kristallisiert sich heraus, die gleichwohl an körperliche Ausdrucksformen von Zusammengehörigkeit gekoppelt ist. 4.1. Begehren und Emotionen: Körperliche Manifestationen und verbale Expression Auf die Bedeutsamkeit der „Intensität im Ausdruck der gegenseitigen Zuneigung“816 in der heroischen Freundschaft der Heldenepik hat bereits Xenia von Ertzdorff hingewiesen. Dies gilt auch für die Freundschaftskonzeption in den Amicus-Amelius-Texten: Die Zusammengehörigkeit der Freunde äußert sich nicht nur in Gleichheit und wechselseitigen Treuebeweisen, sondern auch in der körperlichen und verbalen Bekundung von Zuneigung. Neben den sprachlichen Formulierungen, die enge Verbundenheit thematisieren, sind es Gesten, mittels derer die Emotionen der Freunde dargestellt werden: Mit Vilém Flusser ist die Geste als symbolische und kommunikative Körperbewegung, die Bedeutung trägt, zu kennzeichnen.817 Jutta Eming hat darauf hingewiesen, dass Gesten – jeweils innerhalb eines kulturellen Codes – Emotionen kommunizieren, erzeugen und verändern können. Der Körper verfügt damit über die Funktion, „Ausdrucksmedium für Gefühle“818 zu sein. Klaus Oschema beschreibt, wie über verschiedene ‚Gesten der Nähe‘ Emotionalität in Freundschaften kommuniziert wird. Er betont nicht nur die Bedeutsamkeit des Körpers, sondern vor allem die körperliche Verbindung, den Kontakt und die Berührung, über die Freundschaft hergestellt wird.819 Er versteht Gesten „als Medium von Kommunikation und als Mittel zur Sichtbarmachung vermittelter Inhalte“.820 Sprache und Geste sind die beiden Ausdrucksmittel, mit denen die Gefühle von Amicus und Amelius einsichtig gemacht und „in ein kulturelles Muster überführt“821 werden. Die sprachliche und gestische Kommu_____________ 816 Von Ertzdorff 1962, S. 38. 817 Vgl. Flusser 1994, S. 8-15. In der Mediävistik wurde dieser Ansatz fruchtbar gemacht z.B. von Eming 2006a und Oschema 2006. 818 Eming 2006a, S. 253. 819 Oschema 2006, bes. S. 387-398. 820 Oschema 2006, S. 601. 821 Eming 2006a, S. 254.
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nikation von Emotionen vollzieht sich meist an bestimmten Punkten des narrativen Geschehens: zunächst beim ersten Zusammentreffen der Gefährten, bevor sie den gemeinsamen Dienst am Hof antreten, danach beim Wiedertreffen vor dem Identitätentausch und schließlich bei der Zusammenkunft, als einer der Kameraden vom Aussatz befallen ist. Einige Texte nehmen zudem die erste Trennung und ein Treffen nach dem gelungenen Zweikampf zum Anlass, weitere Male von Gefühlsausdrücken zu erzählen. Wiedersehen und Trennung bilden Situationen, die darauf angelegt sind, bestimmte Gefühle auszulösen. Die situativen Kontexte kennzeichnen (Wiedersehens-)Freude und – in geringerem Maße – Trauer als zwei ‚elementare‘ Gefühlszustände, die mit den Bekundungen von Liebe und Freundschaft verknüpft werden. Über die Emotionen der Freude und der Trauer,822 die zeitlich begrenzt und an ein spezifisches gestisches Inventar gekoppelt sind, transportieren die Texte die Darstellung der freundschaftlichen Zuneigung, die als dauerhaft imaginiert wird und komplexere Verhaltensmuster in sich vereint. In der zweiten Textgruppe, in der der religiös-christliche Deutungshorizont stärker konturiert ist, ist die erste Begegnung der Freunde nach ihrer Kindheit stets an physische Manifestationen von Freude und Zusammengehörigkeit gekoppelt: Mox illi descendentes invicem stringuntur amplexibus, oscula sumunt, gaudio exultant et de tam improvisa leticia Deo gratias reddunt (Kölbing 1884, S. ci, Z. 3-5),823 heißt es in der elaborierten Vita und ähnlich in den mittellangen Fassungen.824 In Umarmung und Kuss verschmelzen Begrüßungsritual und emotionale Geste als leibliche Expression von Freundschaft und Liebe. Klaus Oschema betont, dass gerade „die Umarmung nicht als allgemeiner Grußgestus zu verstehen ist, da sie eine Bindung signalisiert, die über den normalen höfischen Rahmen der Kontaktaufnahme hinausgeht.“825 Stattdessen stehe die Umarmung stets in Zusammenhang mit Liebe und „Verpflichtung zur Harmonie“.826 Amicus und Amelius kommunizieren demnach in der Begrüßungssituation die besondere Zuneigung, die sie verbindet, über körperliche ‚Gesten der Nähe‘. _____________ 822 Zur Trauer als identitätsstiftender Emotion in mittelhochdeutscher Literatur vgl. grundsätzlich Koch 2006. 823 „Absitzend zogen sie sich bald darauf gegenseitig mit Umarmungen an sich, tauschten Küsse, frohlockten vor Freude und dankten Gott aus solch neugefundenen Glück“ (nach Kuefler 2000, S. 448). 824 Vgl. für die mittelniederländische Fassung von Jacob van Maerlant Mak 1954, S. 41, V. 73: Daer was ghehelst ende ghecust. Vgl. für die französische mittellange Legende Woledge 1939, S. 446. 825 Oschema 2006, S. 487. 826 Oschema 2006, S. 487.
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Indem die Gefährten Gott danken, wird die Szene mit religiöser Bedeutung angereichert. Das lang ersehnte Treffen wird als Gottesgeschenk gedeutet. Der körperliche Gefühlsausdruck leitet in diesen Texten die Freundschaftsschließung ein. In der elaborierten Version wird der Freundschaftseid über dem Schwert geschworen: Der Zusammenschluss von Emotionen, Eid und Waffe verweist auf den Männerbund und verknüpft so explizit Emotionalität und Waffentaten als Konstituenten von Männlichkeit. Von helsen und kussen827 wird auch in den legendarischen Minimaltexten berichtet: Do wart en beden leue. De ene vel deme anderen vmme den hals vnde kusten sijk vnde weneden van leue (Großer Seelentrost, Schmitt 1959, S. 230, Z. 11f.). Im Miracle, einem der Grenzfall-Texte, wird aufgrund der Textsorte das Verhalten von den Freunden selbst thematisiert: acolez moy sanz demour (Paris / Robert 1879, V. 134),828 fordert Amis Amille auf. Hier mündet das leiblich bezeugte Begehren nach dem Anderen in den Freundschaftseid. Anschließend schlägt Amis vor: Chier compains, nous deux main a main / Presenter a li [= le roy et ses hommes] nous alons (V. 162f.).829 Der geplante öffentliche Auftritt kennzeichnet das Halten der Hände als Geste, die die Zusammengehörigkeit der Freunde sinnfällig macht: Die gemeinsame Ankunft am Hof und das gleiche Aussehen, das die Gemeinschaft der Gefährten ebenfalls belegt, werden durch den Körperkontakt komplettiert.830 Eine korrespondierende Szene ist in der ersten Textgruppe, die vornehmlich adligen Sinnsystemen verpflichtet ist, nicht immer vorhanden. In Lille 130, in Radulfus Tortarius’ Epistula II und in der anglonormannischen Verserzählung sind die Gefährten bereits am Hof, als die Geschichte einsetzt. Auf die gegenseitige Liebe der Freunde wird zwar jeweils verwiesen, etwa in Lille 130: Ami et Amile [...] s’entremmoient plus que nule personne ne fist onques autre (Woledge 1939, S. 452).831 Eine Szene, in der diese Liebe über spezifische Gesten oder Körpersymptomatik transportiert wird, aber fehlt. In der mittelenglischen romance und in der Historia septem sapientum treffen die späteren Kameraden am Herrscherhof erstmalig zusammen. Da die Freundschaft zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht besteht, gibt es auch hier keine entsprechende Begrüßungsszene, in der die Freunde ihre Gefühle zum Ausdruck bringen. Dafür thematisiert diese Textgruppe oft832 die Trennung der Freunde nach dem gemeinsamen _____________ 827 Vgl. Hannover I 239, Oettli 1986a, S. 144, Z. 32. 828 „Umarmt mich auf der Stelle!“ 829 „Lieber Gefährte, Hand in Hand werden wir beide vor ihnen (dem König und seinen Männern) erscheinen.“ 830 Zum Handhalten als ‚Geste der Nähe‘ vgl. Oschema 2006, S. 431-442. 831 „Ami und Amile liebten einander mehr als jemals jemand einen anderen liebte.“ 832 Radulfus und Lille 130 sind auszuschließen.
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Lebensabschnitt: So fällt Amys in der mittelenglischen romance fast in Ohnmacht, als er von Amylions Reiseplänen erfährt, und beide Gefährten [made] Grete mornyng (Le Saux 1993, st. 23, V. 8).833 Beim Abschied thei [...] keste togeder without lesing (st. 27, V. 1f.),834 so dass die gesamte Szene „the emotional intensity“835 der Männerbindung beleuchtet. Küssen, Weinen und ein Ohnmachtsanfall erscheinen als Gesten der sich trennenden Kameraden in der anglonormannischen Verserzählung. Atant se sunt entrebeysés, Plurent e crient de pité. Suz cel n’ad home que la fust Qe dolur de la pité n’en eust. Paumez sunt chaeuz a terre. (Fukui 1990, V. 103-107)836
In diesem Text bildet mithin Trauer die adäquate „Reaktion auf einen beschädigten Weltzustand“.837 Dies gilt auch für die Historia septem sapientum, so in Hans von Bühels Fassung: Do mit die tochter vnd Ludewig / Vielent zů der erden dick / Vnd weinten sere beide (Keller 1841, V. 7980-7982).838 In der Innsbrucker Handschrift spricht Lodovicus Alexander mit dimidium anime mee (Historia septem sapientum, Roth 2004, S. 444, Z. 213)839 an, in der elsässischen Bearbeitung analog mit halb teil mýner sele (Roth 2008, S. 163, Z. 28).840 In der bairischen Fassung nennt Ludwig Alexander hercz vnd selle (Roth 2008, S. 162, Z. 30). Die enge Bindung wird so durch körperliche _____________ 833 834 835 836
837 838 839 840
„wehklagten sehr“ „Sie küssten einander ohne Falsch.“ Zeikowitz 2003, S. 36. „Dann haben sie sich geküsst, sie weinten und klagten vor Rührung. Unter dem Himmel gibt es keinen Mann, der, wenn er da gewesen wäre, vor Schmerz nicht Mitleid gehabt hätte. Sie sind ohnmächtig zu Boden gefallen.“ – In der abweichenden Fassung des Fragments Karlsruhe, Badische Landesbibliothek 345, fordert Amillyoun Amys auf, ihn zu begleiten. Dieser lehnt jedoch ab, da er Karl Dank schuldet. Zunächst schildert Amillyoun die schweren Auswirkungen einer Trennung: Car ne say certis, coment viueroye, / Si de uus vnques m’en aloye. / Tant moy destreint vostre amur, / Qe a tuz iours viueroy en langur, / Pus ke fussoms departi (Kölbing 1884, Hs. C, S. 117, V. 67-71). („Denn ich weiß gewiss nicht, wie ich leben sollte, wenn ich Euch jemals verließe. Eure Liebe bezwingt mich so sehr, dass ich dahinsiechen würde, wenn wir getrennt würden.“) Dann erlebt Amys die Separation als Krankheit, die ihn 15 Tage bettlägerig werden lässt: Si s’est en sa chambre ale, / Si destreint & si maleeise, / Qe de langor & de peyne / En lyt se teent vn quinzaine / Ke ren ne manga, ce dyt l’escrit (Hs. C, S. 120, o.V.). („So ging er in seine Kammer, so niedergeschlagen und krank, dass er vor Krankheit und Schmerz fünfzehn Tage im Bett blieb, ohne zu essen, so sagt es das Buch.“) Müller 1998, S. 208. Vgl. etwa Roth 2004, S. 443, Z. 204. „Hälfte meiner Seele“ Der Ausdruck animae dimidium meae geht auf die Ode Sic te diva potens Cypri von Horaz (Hor. carm. I 3,8) zurück. Nisbet / Hubbard 1970, S. 48, skizzieren Herkunft und Verwendung dieses Ausdrucks in der Literatur.
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Gesten sichtbar gemacht und zudem durch eine bestimmte Anredeform verbalisiert. In der zweiten Textgruppe deutet nur die elaborierte Vitaversion auf den Abschied als emotional aufgeladene Begebenheit. Amicus spricht Amelius mit solatium vite mee (Kölbing 1884, S. ci, Z. 12)841 an und betont so die emotionale Verbundenheit und die Bedeutsamkeit des Gefährten für ihn.842 Generell fällt das ausgeprägte Desinteresse der Texte der zweiten Gruppe an der emotionalen Inszenierung des Abschieds auf, während die Freundschaftsschließung stark auf Manifestationen von Emotionen abgestellt war. Die Schwere der Trennung äußert sich hier nicht in bestimmten affektiven Ausdrucksmustern, sondern vor allem im gegenseitigen Wunsch der Freunde, so schnell wie möglich wieder zusammenzusein: je [...] revanrai à plus tot que je porrai, verspricht Ami in der französischen elaborierten Legende, und Amiles antwortet: tantost cum tu porres, repaire (Moland / D’Héricault 1856, S. 51).843 Seine baldige Wiederkehr versichert Amicus auch in den mittellangen Legenden.844 Das zweite Treffen der Kameraden findet vor dem Zweikampf mit Ardericus statt. In der ersten Textgruppe dominiert Wiedersehensfreude, die sich in Berührungen zeigt:845 Die Freunde küssen sich in der mittelenglischen romance846 und in Hans von Bühels Fassung der Historia septem sapientum umarmt Alexander Ludwig.847 Im Miracle thematisiert Amille zunächst in einem Selbstgespräch seine Vorfreude auf den Kameraden: Conme grant joie au cuer aray / Quant mon chier compagnon verray! (Paris / Robert 1879, V. 845f.)848 Dann wird er von Amis als mon chier ami doulz (V. 860)849 angesprochen: Die Begrüßung verläuft auf verbaler Ebene und wird durch die Wortwahl emotionalisiert. Beim Abschied folgen Umarmung und Kuss (Chier compains [...] Vueilliez m’acoler et baisier, V. 926f.).850 Während sich in dieser Aufforderung der unbeschädigte Status des Freundschaftsbundes offenbart, erzählen die elaborierten und mittellan_____________ 841 „Trost meines Lebens“ (nach Kuefler 2000, S. 448) 842 Vgl. auch die kymrische Bearbeitung, die die Szene etwas ausbaut, Amic sogar um Erlaubnis bitten lässt und als einzige Tränen aufweist; vgl. Williams 1982, Z. 274-289, und die Übersetzung in Gaidoz 1879/80, S. 218/219. 843 „Ich [...] werde zurückkehren, so bald ich kann.“ – „Sobald du kannst, komm zurück.“ 844 Vgl. etwa die Hs. Stuttgart, Cod. theol. et phil.. 4° 81, Bl. 283v. 845 Wieder bilden Radulfus’ Text und Lille 130 Ausnahmen. 846 Vgl. Le Saux 1993, st. 87. 847 Vgl. Keller 1841, V. 8211. Die einzelnen zur Historia septem sapientum gehörenden Texte variieren an dieser Stelle allerdings stark. 848 „Welche große Freude in meinem Herzen sein wird, wenn ich meinen Freund sehen werde!“ 849 „mein lieber, süßer Freund“ 850 „Lieber Freund, würdet Ihr mich bitte küssen und umarmen?“
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gen Texte der hagiographischen Gruppe eine ganz andere Art der Zusammenkunft: Da Amelius dem Rat seines Kameraden zuwidergehandelt hat, muss die gestörte Allianz erst wiederhergestellt werden. Amelius wirft sich zu Amicus’ Füßen nieder und offenbart sein Vergehen. Dabei spricht er seinen Kameraden an mit O einige hoffenunge myns heils (Stuttgart, Cod. theol. et phil. 4° 81, Bl. 283v). Nachdem der Bund erneuert ist und Amicus seine Hilfe zugesagt hat, werden Abschiedstränen vergossen: Die Trauer, die am Leib sichtbar wird, verweist auf den erneuten Zusammenhalt der Freunde. Beschädigung und Restauration der Freundschaft werden durch differenzierte Körpergesten evident.851 Nur wenige Texte berichten von einem emotional ausgestalteten Treffen der Freunde, nachdem der Gottesurteilskampf erfolgreich vom unschuldigen Gefährten bestanden wurde. Während Radulfus Tortarius und Lille 130 an den bislang besprochenen Textstellen keine emotionalen Reaktionen darstellen, wählen sie diese Szene: Dort tauschen die Freunde tränennasse Küsse aus (Oscula delibant irrigui lacrimis, Ogle / Schullian 1933, V. 284)852, und auch hier küssen sich die Gefährten: Et quant Amis le vit, si out moult grant joie, et s’entrebessierent moult longuement (Woledge 1939, S. 454).853 Im Miracle fordert Amille seinen Treschier ami, loyaux compains (Paris / Robert 1879, V. 1237)854 auf: Acolez moi de voz deux mains (V. 1238).855 In diesem Text wird auch berichtet, dass beim Abschied Tränen fließen.856 In allen anderen Texten wird diese Begegnung narrativ nicht ausgestaltet, nur Amelius’ Dank für den Freundschaftsdienst wird bisweilen erwähnt.857 Einen weiteren Punkt in der Erzählung, an dem sich Freundschaft körperlich und verbal manifestieren kann, bildet das Zusammentreffen der Kameraden, als einer von ihnen vom Aussatz befallen ist. Die Trauer über den Zustand des Kranken markiert dieses Wiedersehen in besonderem Maße: Alle Texte berichten von Tränen und Klagen, Küssen und Umarmungen. Die Berliner Hs. Mgq 261, eine Legende mittellangen Typs, erzählt: Jnd he warpp sych vp yn, roiffende ind schriende, jnd vmbhelssde in jnd kussde yn (Oettli 1986a, S. 183, Z. 216 – S. 184, Z. 217). An dieses emotionale Verhalten schließt sich stets die Aufnahme des Aussätzigen an. In Lille 130 werden die heftigen Körperreaktionen zum Anlass genommen, das _____________ 851 Die Minimalfassungen nehmen keine solche Differenzierung vor. Vgl. etwa für Hannover I 239, Oettli 1986a, S 145, Z. 49. 852 „Sie küssten sich; ihre Gesichter waren nass von Tränen“ (nach Leach 1937/1990, S. 104). 853 „Und als Amis ihn sah, empfand er große Freude, und sie küssten einander lange Zeit.“ 854 „Lieber Freund, treuer Gefährte.“ 855 „Umarmt mich mit Euren beiden Händen.“ 856 Vgl. Paris / Robert 1879, V. 1276-1278. 857 Vgl. für die französische mittellange Legende Woledge 1939, S. 448.
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ungeheure Ausmaß der Freundesliebe zu betonen: Lors saut Amis et se lieve et l’acole et le besse si fort que nul ne povoit departir, et ploura si fort que toutes ses gens en furent tous esbahis, et fu si corchié de l’estat ou il le vit que nule ne le pouroit dire ne penser, quar il amoit moult durement plus que nule personne du monde et il i avoit bien reson (Woledge 1939, S. 455).858 In der mittelenglischen romance und in der anglonormannischen Verserzählung gehen dieser Szene Gewalttätigkeiten des gesunden Freundes voran, da er den Aussätzigen nicht als sein Ebenbild erkennt. Dass der Fremde den Becher besitzt, verweist für ihn auf Verrat und Diebstahl, für die der Kranke bestraft werden muss. Durch rechtzeitiges Eingreifen des treuen Oueys bzw. Uwein wird verhindert, dass die Misshandlung bis zum Tode führt.859 Die ausufernde Gewalt mündet in überbordende Klagegesten aufgrund des Fehlverhaltens: Amillioun Bate ses mains, ses cheveuz detire (Fukui 1990, V. 1040).860 Unzählige Küsse werden ausgetauscht (Plus de cent foiz li ad beisé, V. 1048).861 Insgesamt werden in dieser Szene schwieriges Wiedererkennen, Begrüßungsfreude nach langer Trennung und Trauer um den Zustand des Kranken zusammengeschlossen. Diese semantische Aufladung artikuliert sich in emotionalen Körperreaktionen, die die in den anderen Szenen übertreffen können. Neben der verbalisierten Zuneigung nehmen die Körper der Freunde bei Artikulation und Kommunikation ihrer Gefühle einen großen Raum ein: Durch die Herstellung körperlicher Nähe über Berührungen, aber auch über Klagegesten, die die Expression von Trauer und Liebe zusammenschließen können, ‚verkörpern‘ die Gefährten im buchstäblichen Sinne ihre Gefühle zueinander: Im „körperlich manifeste[n] Verhalten“ wird „die emotionale Verfasstheit der Handelnden“862 sichtbar. Ein solcher Körperbezug ist als „Mittel der Authentifizierung der gegenseitigen Beziehung“863 zu lesen. Insgesamt ergibt sich – sowohl aus der Zusammenstellung der Texte als auch aus der Berücksichtigung eines breiteren Kontextes – der Eindruck eines recht hohen Grades an Ritualisierung864 von Begrüßungs- und Abschiedsszenen. Küsse, Umarmungen und Tränen _____________ 858 „Da springt Amis auf und erhebt sich und umarmt und küsst ihn so sehr, dass niemand sie trennen kann, und weinte so sehr, dass alle seine Leute ganz erschrocken waren, und war so bekümmert über den Zustand, in dem er ihn sah, dass niemand es sagen oder denken könnte, denn er liebte ihn stärker als irgend jemanden sonst auf der Welt und das tat er zurecht.“ 859 Vgl. Le Saux 1993, st. 166-171, und Fukui 1990, V. 983-1037. 860 „Er schlägt mit den Händen und rauft sich die Haare.“ 861 „Mehr als hundertmal küsste er ihn.“ 862 Oschema 2006, S. 605. 863 Oschema 2006, S. 605. 864 Vgl. zur Ritualisierung Kap. I.1.4.
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erscheinen in bestimmten Kommunikationssituationen als wiederkehrende Gesten. Diese Tendenz zur Ritualisierung und körperlichen Stilisierung ist nicht als Sinnentleerung dieser Handlungen zu begreifen, sondern vielmehr als Strategie zur Verfestigung von Sinn: Sowohl körperliche als auch – ansatzweise – verbale Artikulationen der Freundschaft werden festgeschrieben. Wiederholung und Ritualisierung sind weitere Mittel der Authentifizierung:865 Gefühlsausdruck und Freundesbund werden sichtbar gemacht und beglaubigt. Leibliche Nähe und Berührung bezeichnen den intakten Status der Freundschaft und bestätigen zugleich eine an den Körper gebundene Dimension des Männerbundes. Gerd Althoff hat mit den Termini ‚Demonstration‘ und ‚Inszenierung‘ zwei sozial anerkannte Kommunikationsformen benannt: Mit ihnen verdeutlicht er die „Verbindlichkeit der Zeichen“,866 die das Gelingen von Kommunikation gewährleisten. Dies gilt auch für textuell vermittelte Gesten und Emotionen: Freundschaft ist ein Kommunikationsmodus, der durch spezifische Handlungselemente gekennzeichnet ist. Diese Dynamik zielt auch auf die Selbstvergewisserung der Protagonisten: Indem sie auf ein relativ fest umrissenes Arsenal emotionaler Gesten zurückgreifen, vollziehen, vergegenwärtigen oder konstituieren die Gefährten ihr Bündnis je neu und versichern sich somit ihrer Identität als Freunde. Neben der Ritualisierungstendenz zeichnet sich in einigen Texten gleichzeitig der Versuch ab, in bestimmten Szenen den Gefühlsausdruck zu intensivieren. Körperlich vermittelte Emotionen können quantitativ oder qualitativ gesteigert werden (so in Lille 130: le besse si fort, Woledge 1939, S. 455,867 und in der mittelenglischen romance: And kyste togeder a hundred sythe, Le Saux 1993, st. 172, V. 11).868 Hinzu kommt, dass neben den körperlich codierten Emotionen bestimmte sprachliche Formulierungen – etwa in der Anrede – die Gefühlsdarstellung und das geschilderte Ausmaß der Liebe intensivieren können (z.B. une sole esperance de ma salut, elaborierte Vita, Moland/D’Héricault 1856, S. 54).869 M.J. Ailes bezeichnet diese Form der Emotionsdarstellung als ‚Externalisierung‘ von Gefühlen: „The emotions are seen through actions and expressed in the words of the characters.“870 Auffällig ist aber, dass die Verbalisierungen auf den Bereich _____________ 865 866 867 868 869 870
Vgl. Eming 2006a, S. 259. Althoff 1997a, S. 253. „er küsst ihn so sehr“ „und küssten einander hundert mal“ „eine einzige Hoffnung meines Heils“ Ailes 1999, S. 217. Als Gegensatz dieser ‚externalisierten‘ Darstellungsweise wird die „internal analysis“ (S. 217) von Emotionen und Gedanken durch Protagonisten des höfischen Romans gesetzt.
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der Seele und des Heils Bezug nehmen: Neben dem Körper als Garant und Agent der Freundschaft wird sprachlich eine zweite Ebene eingezogen, die religiös konnotierte Konzepte von Innerlichkeit und Erlösung an das Freundschaftsmodell koppelt. Trotz der unterschiedlichen Ausgestaltung dieser Situationen in den einzelnen Texten und Textgruppen zeichnet sich eine Gemeinsamkeit ab: Es sind Momente des Wiedersehens und der Trennung, die an die Darstellung von Emotionen gekoppelt werden.871 Diese Momente bilden neuralgische Punkte in der Begehrensstruktur der Freundschaft: In der narrativen Dynamik von Distanzüberwindung und Distanznahme kennzeichnen sie gefundene Nähe und (erzwungenen) Abschied als zentrale Stellen, an denen Emotionen artikuliert werden. Körperkontakt und Sprache verstärken die räumliche Nähe, die gerade herbeigeführt worden ist oder deren Auflösung droht. Insofern sind körperliche und verbale Manifestationen von Emotionalität bereits auf die übergreifende, die Textstruktur organisierende Begehrensdynamik bezogen. Im Fluss der emotionalen Bewegung der Freunde zwischen Nähe und Distanz besitzen die Treffen und Abschiede markanten Stellenwert. 4.2. Bewegungen im Raum: Die gegenseitige Suche der Gefährten Die textdynamische Kategorie des Begehrens formiert sich, indem sie an textuelle Entwürfe von Distanz und deren Überwindung gekoppelt wird: Das Begehren, Distanz zu überwinden, wird zum einen deutlich, wenn die eben beschriebenen Zusammenkünfte als emotional positiv und die Abschiede z.T. als negativ markiert werden. Zum anderen bildet die Bewegung selbst in den Amicus-Amelius-Texten ein narratives Mittel, das die Zustände von Nähe und Distanz räumlich greifbar werden lässt und auf textstruktureller Ebene Begehren artikuliert. Die mehrfachen Wiedersehensszenen verweisen bereits auf eine ständige Bewegung der Freunde. Für Konrads Engelhard konstatiert Peter Oettli: „So fällt z.B. auf, daß jede Erzähleinheit den Weg eines Freundes auf den anderen zu beschreibt, und daß die ersten drei mit einer Trennung enden.“872 Und in der Tat sind die einzelnen Sequenzen des Freundschaftsmodells in allen Texten so strukturiert, dass Zusammenführung und Trennung aufeinander folgen und un_____________ 871 Kullmann 1992, S. 10, beschreibt für die französischen chansons de geste Wiedersehensfreude und Abschiedsschmerz als typische Elemente für die Darstellung von Verwandtschaftsbeziehungen. 872 Oettli 1986b, S. 76.
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terschiedlich lange Intervalle der Gemeinschaft zwischen ihnen liegen.873 Dies gilt sowohl für die Freundschaftsschließung als auch für den Identitätentausch und schließlich für das Kindesopfer. Freundschaftsschließung und Freundschaftsproben folgen jeweils dem gleichen Modell der räumlichen Anordnung der Freunde. Die Bewegung zur Distanzüberwindung, die Emotionalisierung der Wiedersehensszenen und die jeweiligen Aktivitäten, die Freundschaft stiften und bewahren, bezeichnen das durchgängige Begehren, das sich im Streben nach Distanzüberwindung, im Körperkontakt und in der (gewaltsamen) Auslöschung von Differenzen zwischen den Freunden konkretisiert. Während eine derartige ‚Bewegungsstruktur‘ in allen Amicus-AmeliusTexten zu finden ist, versinnbildlichen die zweite und die dritte Textgruppe das Begehren nach dem identischen Freund in einem zusätzlichen literarischen Element: Dass die Gefährten einander gleichzeitig suchen, ist ein spezifisches Strukturmerkmal der legendenhaften und der GrenzfallTexte. Amicus wird nach dem Tode seines Vaters von seinem Besitz vertrieben und beschließt, nach seinem Freund zu suchen. Dieser macht sich ebenfalls auf den Weg, als er von den Geschehnissen erfährt. Die beiden verpassen sich aber: Adonc se parti Amile doulent et triste de ce qu’il ne trouva Amy, et propossa qu’il ne retourneroit en son pays jusques a tant qu’il eüst trouvé Amy. Amy ensement ferma en son cuer que il ne cesseroit de querir Amile jusques a tant qu’il l’eüst trouvé (mittellange Vita, Woledge 1939, S. 445).874 Die Herbeiführung von Nähe und Gemeinschaft scheitert: Trauer und Schmerz resultieren aus dieser Mangelsituation. Die elaborierte Vita macht die Dynamik der Bewegung greifbar, indem die Gebiete – Gallien, Frankenreich und Theutonien – benannt werden, in denen Amelius seinen Freund sucht.875 Amicus heiratet in dieser Zeit, verlässt aber schließlich seine Ehefrau, um weiter nach dem Kameraden zu suchen. Die gegenseitige Suche währt insgesamt zwei Jahre.876 Nicht nur die Dauer der Suche verdeutlicht die Bedeutsamkeit der Männerbindung für die Protagonisten: Mit seiner _____________ 873 Allerdings sind es nur im Engelhard vier statt sonst drei Erzählabschnitte, da hier die ausführliche Engeltrut-Geschichte hinzukommt, die – wie Oettli 1986a und 1986b zeigt – ähnlich strukturiert ist wie die Freundschaftssequenzen. 874 „Dann brach Amile voller Schmerz und Trauer darüber auf, dass er Amy nicht gefunden hatte. Und er nahm sich vor, dass er nicht eher in sein Land zurückkehren würde, bis er Amy gefunden hätte. Genauso beschloss Amy in seinem Herzen, dass er nicht aufhören würde, Amile zu suchen, bis er ihn gefunden hätte.“ 875 Vgl. für die lateinische elaborierte Legende Kölbing 1884, S. xcix, Z. 29f. 876 Vgl. für die lateinische elaborierte Vita Kölbing 1884, S. xcix, Z. 42; für die französische elaborierte Vita Moland / D’Héricault 1856, S. 45, für die mittellange lateinische Grazer Hs. Schönbach 1877, S. 853, für die mittellange Hs. München, Cgm 523, Reiffenstein 1982, S. 242, Z. 60-62; für den Großen Seelentrost Schmitt 1959, S. 229, Z. 25, und für die Seelentrost-Minimalfassung Hannover I 239 Oettli 1986a, S. 144, Z. 13. In dem von Wackernagel edierten Seelentrost-Exempel ist es dagegen nur ein Jahr (Wackernagel 1839, Sp. 982, Z. 6).
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Entscheidung, weiter nach seinem Kameraden zu suchen und seine Ehefrau zu verlassen, hierarchisiert Amicus die verschiedenen Bindungen, noch bevor die eigentliche Freundschaftsgeschichte erzählt wird. In der Bewegung aufeinander zu wird das Begehren der beiden Männer nacheinander in besonderem Maße sinnfällig. Die Suche, die mit Hilfe des Pilgers erfolgreich abgeschlossen wird, mündet in das erste der oben beschriebenen, emotionalisierten Zusammentreffen der Freunde. Im Miracle und in der chanson de geste (Gruppe 3) dauert die Suche sogar sieben Jahre.877 Indem die Suche in diesen Texten verlängert wird, wird unterstrichen, wie wichtig die angestrebte Nähe ist. Während in der legendenhaften Textgruppe (Gruppe 2) Amicus’ soziale Isolation den Anstoß gibt, die Nähe des Freundes zu suchen, existiert in den Grenzfall-Texten keine Notfallsituation: Allein das Begehren nach dem gleichen Anderen – „désir du même“878 – ist es, das die jungen Adligen gleichzeitig dazu bewegt, Heimat und Herrschaftsbereich zu verlassen und jahrelang nach dem Freund zu suchen. Im Miracle führen sowohl Amis als auch Amille die Gleichheit des Kameraden als Grund für ihre Suche an. So erklärt Amis: Mais chascun jour de ville en ville Ne cesse de querir Amille, Pour ce que j’ay oy souvent De li dire et conter conment Il me rassemble de corsage, D’aler, de venir, de langage, D’estat, de parler, de maintieng. (Paris / Robert 1879, V. 7-13)879
Amis thematisiert zugleich explizit den Zusammenhang von Suche und Begehren: Ha! tresdoulx Jhesu Crist, je tieng / Que se je trouver le peusse, / Mon desir acompli eusse (V. 14-16).880 Hier wird das Modell der Fernliebe aufgerufen, zu dem Horst Wenzel ausführt: Der soziale Rang einer Person erscheint in der feudalaristokratischen Selbstdeutung als Indikator einer durch Geburt erworbenen und von Gott verliehenen Qualität (tugent/schoene), die bei Gleichrangigkeit eine ‚natürliche‘ Nähe schafft für
_____________ 877 Vgl. für das Miracle Paris /Robert 1879, V. 5, V. 125, und für die chanson de geste Dembowski 1987, V. 189, V. 193. 878 Real 2000, S. 46. 879 „Aber ich werde nicht aufhören, jeden Tag von Stadt zu Stadt Amille zu suchen, da ich so oft von ihm habe sagen und erzählen hören, dass er mir gleicht im Körperbau und in Bewegungen, in Redeweise, Statur, in der Art zu sprechen und im Verhalten.“ – Ähnlich erläutert Amille seine Beweggründe; vgl. Paris /Robert 1879, V. 124-131. 880 „Ha! Süßer Jesus Christus, ich erkläre Dir, dass, wenn ich ihn finden könnte, mein Begehren erfüllt wäre.“
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die Minne. So genügt das bloße Wissen um die Macht und um die Schönheit des Mannes / der Dame, um Liebe auszulösen [...].881
Während Wenzel – in Bezug auf zwischengeschlechtliche Liebe – eine eher einseitige Richtung der Fernliebe882 beschreibt, die dann zu – ebenso einseitigen – Werbungsaktivitäten von männlicher Seite führt, ist das Begehren von Amicus und Amelius als gegenseitiges und gleichzeitiges entworfen, das zudem mit spiegelbildlichem Verhalten einhergeht. Das zwischengeschlechtliche Fernliebe-Modell ist an einen eingeschränkten weiblichen Handlungsspielraum gekoppelt, der eine Passivität des weiblichen Parts erzwingt: Der Brautsucher macht sich auf den Weg und wirbt um die ebenbürtige Herrin. Dem steht eine Wechselseitigkeit im homosozialen Amicus-Amelius-Modell gegenüber.883 In der chanson de geste scheint eine ähnliche Motivation der Protagonisten vorzuliegen, auch wenn die Zusammenhänge nicht explizit als kausale, sondern eher als sukzessive gezeigt werden: Li uns de l’autre oï souvent parler (Dembowski 1987, V. 38),884 heißt es zunächst, und wieder steht die Gleichheit der zukünftigen Freunde im Mittelpunkt.885 Am Tage, als Ami mit den ersten Waffen ausgerüstet wird, macht er sich auf den Weg zu Amile; ebenso begibt sich Amile auf die Suche.886 Der Eintritt ins militärische Leben887 fällt mit dem Aufbruch zusammen: Der Text markiert so von Beginn an den Zusammenhang von Waffentaten und Freundschaft. Im Gegensatz zum Miracle gibt es in der chanson de geste detaillierte Beschreibungen des geographischen Raumes, den die Freunde jeweils durchqueren: So reitet Ami von Bourges über Mortara, dem späteren Begräbnisort der Kameraden, bis nach Sizilien; Amile reist von Clermont über Rom nach Apulien.888 Joseph Bédier beschreibt die Pilgerstraße von Frankreich nach Rom als Weg, auf dem sich verschiedene Texte – italienische Lokallegende und Vorstufe einer chanson de geste – zur chanson de geste Ami et Amile _____________ 881 Wenzel 1983, S. 189. 882 „Wichtige Voraussetzungen der Fernliebe [...] sind Schönheit und gesellschaftlicher Rang der Herrin und ihre daraus resultierende Bedeutung für den brautsuchenden Herrscher“ (Wenzel 1983, S. 189). 883 Zwar unterscheiden sich das zwischengeschlechtliche und das homosoziale Modell hinsichtlich der Tatsache, dass jenes an Heirat gebunden ist, dieses aber nicht. Gleichwohl zielt auch die Männerfreundschaft auf ein Bündnis zweier ebenbürtiger Körper. 884 „Doch hatten sie zuvor oft voneinander erzählen hören“ (Vielhauer 1979, S. 34). 885 Vgl. Dembowski 1987, V. 39-43. 886 Vgl. Dembowski 1987, L. 3 und L. 5. 887 Die chanson de geste spezifiziert, dass 15 Jahre seit der Taufe vergangen seien, als die Freunde zu Rittern geschlagen wurden (V. 36f.). Mit den hinzukommenden sieben Jahren der Suche sind die Gefährten also 22, als sie sich treffen. 888 Vgl. Dembowski 1987, L. 3-6.
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verbanden.889 Der Text beinhaltet demzufolge die räumliche Struktur seiner eigenen Genese, die als Bewegung greifbar wird. Die Reise von Frankreich nach Italien aber wird noch ausgeweitet: Amile reist in den Orient, Ami in Richtung Jerusalem.890 Auf der gegenseitigen Suche kommen die Freunde bereits an Orte, die für die anschließende Geschichte bedeutsam werden: Ihr späteres gemeinsames Grab und das Heilige Grab in Jerusalem, das sie besuchen werden, werden zu diesem Zeitpunkt bereits als signifikante geographische Punkte sichtbar und verorten die Freundschaft in einer räumlichen Dimension, in der heilsgeschichtliche und personale Bedeutung der Freundschaft schon von Beginn an zusammengeschlossen werden. Die gegenseitige Suche der Freunde bezeichnet das Verlangen nach der Nähe als Handlungsmotivation der Protagonisten: So markiert das Begehren sowohl Freundschaftskonzeption als auch Handlungsverlauf und Textdynamik der Amicus-Amelius-Texte. Hinzu kommt, dass durch die gleichzeitige Suche erneut Gleichheit zwischen den Freunden gestiftet wird, hier auf der Ebene gleichen Verlangens und gleicher Handlungsmuster. Der Bewegung der Freunde aufeinander zu, die die Freundschaft einleitet, korrespondiert eine Bewegung am Ende der hagiographischen Texte: Im Grabwunder, in dem die toten Freunde sich zueinander bewegen, wird eine parallele Bewegung, die Nähe herstellen soll, inszeniert. Hatten die Gefährten einander zunächst lange Jahre gesucht, um endlich zueinander zu finden, gewährleistet das Grabwunder ewige Distanzlosigkeit der Freundeskörper. Die chanson de geste berichtet nicht von einem solchen Grabwunder, setzt aber mit der gemeinsamen Reise zum Heiligen Grab, die dem Tod der Gefährten vorausgeht,891 ebenfalls eine Bewegung an den Schluss des entworfenen Freundschaftsmodells: Hier ist es indes nicht das Streben aufeinander zu, sondern der gemeinsame Weg, der nochmals Bewegung als konstitutives Merkmal des Männerbundes erscheinen lässt. Die gemeinschaftliche Durchquerung der Welt verweist zurück auf die zu Beginn des Textes erzählten, getrennten Reisen der Kameraden und setzt der anfänglichen Trennung nun endgültige Verbindung und Nähe der Freunde entgegen. Die Bewegung wird nun nicht mehr zum Zwecke der Distanzüberwindung vollzogen, sondern erscheint per se als erstrebenswerter Zustand. Das in der Bewegung sich manifestierende Verlangen nach Gemeinschaft wird dahingehend verabsolutiert, dass Begehren nicht zum Stillstand kommt, sondern vielmehr als kontinuierlicher Faktor der Freun_____________ 889 Vgl. Bédier 1885. 890 Die Ursprünglichkeit der letzten Reiseangaben wurde in der Forschung bezweifelt; vgl. Dembowski 1987, S. 113, mit Literaturangaben. 891 Vgl. Dembowski 1987, L. 176f.
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desallianz bestimmt wird. Zuvor manifestierte sich Begehren, das die Gefährten regelmäßig einander aufsuchen und beieinander verweilen ließ, in den Texten in sukzessiver Handlungsmotivation und -dynamik. In dieser Abfolge von Sequenzen wurde die Stetigkeit des Begehrens bereits deutlich. In der gemeinsamen Reise der Gefährten zum Heiligen Grab aber verdichtet sich die Bedeutung des Begehrens als punktuell handlungsmotivierendes wie als konstant grundlegendes Element der Freundschaft, das zudem durch das Ziel der Reise in einen heilsgeschichtlichen Kontext eingebunden wird. Das gegenseitige Begehren wird als stetiges Konstituens der Freundschaft sinnfällig gemacht. Auch die chanson de geste schließt mit dem gemeinsamen Tod der Kameraden, der dem gegenseitigen Begehren und der erreichten Nähe eine zeitlose Dimension verleiht. In dieser Konstellation der Amicus-Amelius-Texte wird die Existenz eines mimetischen Begehrens sichtbar, das das Freundschaftsmodell und die Texte strukturiert. Anders als bei Girards Begriffbestimmung aber besteht das Wesen dieses Begehrens nicht darin, dass es sich auf jeweils das gleiche Objekt richtet und die begehrenden Subjekte unwiderruflich zu Gewalt ausübenden Rivalen werden lässt.892 Im Amicus-Amelius-Korpus existiert ein mimetisches Begehren, das gänzlich anders funktioniert: Hier richtet sich das mimetische Begehren der männlichen Subjekte jeweils aufeinander, so dass statt Rivalität Freundschaft entsteht und Gewalt aus der Männerallianz ausgeschlossen und nach außen abgeleitet wird. Führt laut Girards Ausführungen das mimetische Begehren zweier gleicher Subjekte zum Ausbruch der Gewalt, da beide Subjekte das gleiche Objekt besitzen wollen, so mündet in den Amicus-Amelius-Texten das Begehren in Freundschaft, da das begehrende Subjekt jeweils zugleich das begehrte Objekt des Anderen ist.893 4.3. Der Sonderfall der chanson de geste Ami et Amile: Die Treffen auf der Blumenwiese Die chanson de geste inszeniert das Begehren der Freunde auf eine ganz spezifische Weise: Die Zusammentreffen der Freunde sind zwar in allen Texten an Gefühlsdarstellungen gekoppelt und bilden stets bedeutsame Punkte im narrativen Prozess. Die chanson de geste aber unterscheidet sich von den anderen Texten sowohl hinsichtlich der Anzahl der entsprechenden Szenen als auch bezüglich ihrer emotionalen Ausgestaltung: Im Folgenden _____________ 892 Siehe Einleitung 3. Vgl. Girard 1992, S. 212, und ebd. Kap. 6. 893 Allerdings führt auch dieses Begehren später zur Gewalt, als die Freundschaft gefährdet ist. Die Gewalt kommt allerdings nicht innerhalb, sondern außerhalb der Freundschaft zum Ausbruch. Vgl. Kap. II.1.2., II.2.3. und II.3.3.
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soll die Sequenz der Zusammenkünfte der Gefährten im Zentrum der Analyse stehen.894 Von fünf Treffen, die Ami und Amile zusammenführen, erzählt die chanson de geste: Zunächst sieht Ami – nach siebenjähriger Suche – Amile auf einer blühenden Wiese (uns prés, / Touz fu floris, Dembowski 1987, V. 169f.) und erkennt ihn u.a. an seinen Waffen. Auf dem locus amoenus findet die Begrüßung der Freunde statt: Le cheval broche des esperons doréz, Isnellement est celle part aléz, Et cil le vit qui l’ot ja avisé. Vers lui se torne quant il l’ot ravisé, Par tel vertu se sont entr’acolé, Tant fort se baisent et estraingnent soef, A poi ne sont estaint et definé; Lor estrier rompent si sont cheü el pré. Or parleront ensamble. (V. 175-183)895
Die Beschreibung verdeutlicht zunächst nicht wirklich, ob es sich bei dem scharfen Aufeinanderzureiten der Helden nicht eher um einen Angriff als um eine friedliche Begrüßung handelt, und das, obwohl beide sich bereits gegenseitig erkannt haben.896 Dass sie sich dann – offenbar in vollem Galopp – in die Arme fallen, zeigt eine Vermischung von Aggression und Freundschaftsaffekten: Ami nimmt die schönen Waffen Amiles wahr, bevor er sich auf ihn stürzt; die Umarmung der beiden fällt so heftig aus, dass sie sich fast gegenseitig ersticken; nach der Begrüßung fallen beide – wie nach einem erschöpfenden Kampf – aufgrund der zerrissenen Steigbügel auf die Wiese. Das Begehren nach der Nähe des Freundes ist so _____________
894 Ich beschränke mich hier auf die Zusammenkünfte. Aber auch die Abschiede werden in diesem Text als Situationen geschildert, in denen die Protagonisten Gefühle zum Ausdruck bringen. Vgl. etwa L. 34, 60 und 101, wo die Freunde zum Abschied unter Tränen Küsse und Umarmungen austauschen. Diese sehr knapp erzählten Abschiede verlaufen nach einem strengen Schema, das sprachlich kaum variiert wird (Il se corrurent baisier et acoler, / Plorant s’en departirent, Dembowski 1987, V. 1095f.). („Sie küssten und umarmten sich und trennten sich unter Tränen“, Vielhauer 1979, S. 56.) Obwohl sie deshalb erzählerisch nicht so interessant sind wie die Treffen, verdeutlichen sie gleichwohl, wie konstitutiv die körperlichen Gesten der Zuneigung und der Trauer für das Freundschaftsmodell sind. 895 „Da gibt er von neuem seinem Ross die [goldenen; S.W.] Sporen und fliegt in Windeseile auf jene Stelle zu. Graf Amiles, der ihn schon hatte nahen sehen, wendet sich ihm zu, und nun fallen sie mit solchem Schwung einander um den Hals, umarmen und küssen sich so heftig, dass nur wenig fehlt und sie hätten sich gegenseitig umgebracht. Die Steigbügel brechen, da fallen sie ins Gras – nun sitzen sie dort und reden miteinander“ (Vielhauer 1979, S. 37). 896 Aggression kennzeichnet auch in den längeren und kürzeren Vitafassungen das erste Treffen, allerdings haben sich die Freunde dort zu diesem Zeitpunkt noch nicht erkannt: Die Gewalt wird durch das gegenseitige Erkennen abgewendet. Siehe Kap. I.2. – Siehe grundsätzlich zu dieser Thematik Harms 1963.
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stark, dass es sich zunächst nicht durch bestimmte Verhaltensweisen regulieren lässt. Vielmehr wird eine Ambivalenz der Affekte897 inszeniert, die die als ideal markierte Verbindung von kriegerischer Aktivität und Männerfreundschaft effektiv demonstriert. Die Kopplung von mimetischem Begehren an Gewalt scheint hier auf, bevor die Ambivalenz aufgehoben wird. Der Text bedient sich des „Modell[s] der ‚Affektüberwältigung‘“,898 um das starke Begehren nach Nähe und die Kampfbereitschaft der Ritter sinnfällig zu machen: Jutta Eming zeigt, dass dieses Modell „einen Körperstil und eine Darstellungsstrategie literarischer Texte“899 kennzeichnet. Über diese spezifische Form der Stilisierung und Inszenierung von Körpern und Emotionen wird der Gefühlsausdruck authentifziert. Yasmina Foehr-Janssens hat darauf hingewiesen, dass die Beschreibung des ersten Treffens zwischen Ami und Amile Gemeinsamkeiten mit der Zweikampfszene, in der Ami gegen Hardré kämpft,900 aufweist. Der Kampfplatz – ebenfalls eine Wiese – erscheint so als „double“901 der blühenden Wiese. „La chanson construit une homologie mystérieuse entre l’affrontement meurtrier, nourri par la haine, et l’éblouissement de l’amitié.“902 Dazu ist anzumerken, dass die Parallele ist keineswegs ‚mysteriös‘ ist, sondern die Bedeutsamkeit gewalttätigen Handelns für die Freundschaftskonzeption beleuchtet: In der Begrüßungsszene zwischen den Freunden wird aggressives Verhalten simultan als erforderliches, Kriegern adäquates Handlungsmuster aufgerufen und dann als nicht_____________ 897 Jutta Eming 2006b hat dargelegt, dass der Terminus ‚Affekt‘ in der Forschung oft gebraucht wird, um „emotionale[] Zustände, Prozesse oder Konflikte“ (S. 3) in literarischen Texten des Mittelalters zu beschreiben. Sie betont aber, dass er keine zureichende Analysekategorie darstellt. Zwar verweise der Begriff auf historische Affektenlehren und verfüge so über eine theoretische Verankerung, aber diese Bedeutungsdimension stimme eben nicht mit literarisch geschilderten Emotionen überein. Außerdem arbeitet sie heraus, dass ‚Affekt‘ – wie auch ‚Trieb‘ – nicht nur in der Mediävistik zum einen auf das Elias’sche Konzept einer historisch zunehmenden Affektregulierung verweist und zum anderen – damit verbunden – stets eine Undifferenziertheit und Unabgestuftheit sowie Extremität und Heftigkeit vormoderner Emotionen impliziert, die unkontrolliert ausbrächen bzw. die literarisch stereotyp so dargestellt würden (vgl. z.B. S. 39-53 und S. 61-64). Diese Annahmen sind aber von der historischen Emotionalitätsforschung widerlegt worden; vgl. etwa Rosenwein 2002 und Eming 2006b, passim. Eming spricht sich für eine Verwendung des Begriffs der ‚Affektentladung‘ aus, wenn vorausgesetzt wird, dass die Entladung von Emotionen „zwar als spontan geschildert wird, grundsätzlich jedoch einer kulturell codierten Form des Gefühlsausdrucks folgt“ (S. 40), dass darunter also kein „‚unmittelbarer‘ Gefühlsausdruck“ (S. 42), sondern eine „Darstellungsstrategie“ (S. 42; Hervorhebung getilgt) zu verstehen ist. 898 Eming 2006a, S. 262. 899 Eming 2006a, S. 262. 900 Vgl. Dembowski 1987, V. 1476-1480 und V. 1677-1681. 901 Foehr-Janssens 1996, S. 266. 902 Foehr-Janssens 1996, S. 265.
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freundschaftliches Gebaren aus der Freundschaft ausgegrenzt. In der Zweikampfszene wird Gewalt dagegen erfolgreich ausgeübt: Ami kämpft für seinen Freund und erbringt durch – ebenso vorbildliche wie ambivalente – Gewalt den Freundschaftsbeweis. Gewalt wird als konstitutives Element der Freundschaft gekennzeichnet: Sie wird aber nicht innerhalb des Männerbundes ausgeübt, sondern außerhalb. Die Gefährten schützen und bewahren ihr Bündnis durch Gewalttaten. Hinzu kommt, dass sie sich in Karls Armee im gemeinsamen Kampf bewähren. Dass beim ersten Treffen Aggression und Liebesbekundung ineinander übergehen können, zeigt die spezifisch kriegerische Affektkonstellation der Freunde, die die chanson de geste entwirft. Die teilweise verschwimmenden Grenzen zwischen Gewalt und Liebe rekurrieren aber auch auf eine grundsätzliche Ambivalenz des Begehrens: Der Text entwirft ein homosoziales Begehren, das – nach Sedgwick – als soziale und affektive Kraft auch in zwischenmännlichen Bindungen wirkt, die durch Hass oder Feindschaft gekennzeichnet sind. Auf gewaltsames Gebaren wird im Freundschaftsmodell angespielt, während es im Verräterkampf tatsächlich ausgeführt wird: Hass und Liebe partizipieren so in der chanson de geste am Dispositiv der Gewalt. Die Parallelität wird über die räumliche Codierung transportiert, indem die Wiese als Ort des Kampfes und als Ort der Freundschaft fungiert. Das zweite, viel kürzer erzählte Treffen der Gefährten in der chanson de geste findet statt, als Ami nach seiner Heirat mit Lubias an den Karlshof zurückkommt: Zusammen mit mil homes a lances (V. 515)903 trifft Ami auf Amile le chatainne (V. 517),904 woraufhin sich beide küssen (V. 518). Diese kurze Begebenheit unterstreicht nochmals den kriegerischen Status der Freunde, indem der eine als Heerführer gezeigt, der andere als solcher bezeichnet wird. Das dritte Wiedersehen der Gefährten liegt vor dem Zweikampf mit Hardré und leitet den Identitätentausch ein. Wie beim ersten Treffen fungiert die blühende Wiese als Ort der Zusammenkunft.905 Amile legt sich zunächst allein auf der Wiese schlafen. Dazu entledigt er sich seines Pferdes und seines Schwertes, seine Rüstung aber behält er an und den Schild legt er unter seinen Kopf, da er Hardrés Verfolgung fürchtet.906 Es schließt eine Beschreibung der Umgebung an, in der die Wiese in ihrer Bedeutung als locus amoenus modifiziert wird: Ein zerfallenes Kloster mit zerstörten Mauern und Türmen liegt am Rand der Wiese und verleiht dem _____________ 903 „tausend Lanzenträgern“ (Vielhauer 1979, S. 44) 904 „Amile den Heerführer“ 905 Aus Amiles Ausführungen ist zu entnehmen, dass es sich tatsächlich um die Wiese des ersten Treffens handelt. Vgl. Dembowski 1987, V. 910-913. 906 Vgl. Dembowski 1987, L. 52.
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Ort eine düstere Atmosphäre. Gleichzeitig aber spenden Pinien und Lorbeerbäume schönen Schatten.907 Amiles scheinbar ausweglose Situation vor dem Zweikampf und die nahende Hilfe sind in diesem Bild als Stimmungen zusammengeschlossen. Als Ami vorbeikommt, sieht er Waffen und Rüstung des Schlafenden und erkennt seinen Freund. Auch Ami ist gewappnet und gerüstet. Mit der Faust schlägt er seinem Kameraden auf die Brust und weckt ihn. Amile Bien reconnut Ami son compaingnon, / Entre ses bras le prinst de tel randon, / Plus de cent fois li baise le menton (V. 972-974).908 Hier nimmt der Text erneut eine Verbindung von Waffentragen909 und stürmischer Umarmung vor, so dass Zusammengehörigkeit und Emotionalität der Freunde in einem militärischen Bildkontext verankert werden. Der Schlag auf die Brust koppelt – in abgemilderter Form – erneut Aggression an Zuneigung und verweist so auf Gewaltausübung als notwendiges männliches Handlungsmuster. In dieser Szene wird dies weiter spezifiziert: Die Freunde tauschen ihre Identitäten, Ami wird an Amiles Stelle den blutigen Gottesurteilskampf gegen Hardré bestehen. Das vierte Treffen der Freunde findet wieder auf einer Wiese statt: Nach erfolgreich beendetem Zweikampf lagern Ami und seine Ritter vor Blaye. Amile ist noch immer über den Ausgang des Duells besorgt und rechnet bei den Ankömmlingen eher mit dem Kaiser, der ihn vernichten will.910 Er wappnet sich911 und reitet auf die Fremden zu. Ami aber erkennt seinen Freund, ruft ihm etwas zu, woraufhin Amile ihn an der Stimme erkennt. Li cuens l’entent, si le connut moult bien, Celle part vint corrant touz eslaissiéz, A pié descent de l’aufferrant corsier, Trenche les las de son elme vergier, Le blanc hauberc lait couler a ses piés. Il s’entrecorrent acoler et baisier. (V. 1933-1938)912
Dies ist eine weitere Variation der stürmischen Begrüßung, in der Aggression und Liebe miteinander verkoppelt werden: Die Aggression wird mit _____________ 907 Vgl. Dembowski 1987, L. 53. 908 Amile „erkennt den geliebten Freund und umarmt ihn stürmisch. Wohl hundertmal küsst er ihn auf das Kinn“ (Vielhauer 1979, S. 54). 909 Amiles Rüstung, Schwert und Schild werden in der Szene dreimal aufgerufen: Dembowski 1987, V. 922- 926, V. 930-935, V. 960-965. 910 Vgl. Dembowski 1987, L. 95. 911 Vgl. Dembowski 1987, V. 1919-1923. 912 „Auch der Graf erkennt die Stimme seines Freundes und stürmt ihm entgegen. Er springt von seinem Renner, löst die Riemen seines ziselierten Helmes und lässt den blanken Panzer niedergleiten. Die beiden [stürzen aufeinander zu; S.W.] umarmen und küssen sich“ (Vielhauer 1979, S. 74).
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dem Erkennen abgewendet und der Angriff in einen ‚Rüstungs-Striptease‘ überführt, bei dem Amile sich seines Pferdes, seines Helmes und seines Brustpanzers entledigt, während er auf seinen Freund zuläuft. Die Gefährten umarmen und küssen sich – im Gegensatz zum ersten und zum dritten Treffen – ohne Rüstung. Yannick Carré hat unterstrichen, dass „[l]e déçalage des heaumes et l’enlèvement des coiffes de mailles insistent sur le caractère de rituel viril et militaire de l’embrassade chevaleresque.“913 Neben der erneuten Thematisierung von Gewaltsamkeit und Zuneigung weist die Szene eine weitere Erzählstrategie auf, die die Intensität der Kriegerfreundschaft zeigt: Bei dem Treffen ist auch Belissant anwesend, die Ami für seinen Kameraden erworben hat. Kurz bevor die Freunde einander auf die eben beschriebene Weise einander begrüßen, geschieht folgendes: La fille Charle le [= Ami] tenoit embracié, / Il ne la volt acoler ne baisier (V. 1927f.).914 Während Ami es ablehnt, die Prinzessin zu küssen und zu umarmen, umarmt und küsst er kurz darauf (acoler et baisier, V. 1938) seinen Freund.915 Bei dieser Gegenüberstellung bleibt es aber nicht: Im anschließenden Gespräch der Gefährten auf der Wiese wird dreimal hintereinander beschrieben, wie die Freunde sich küssen und freudig begrüßen. Die wiederkehrende Formel baisier et conjoïr (V. 1942, V. 1949, V. 1956) produziert einen deutlichen Überschuss bei der Beschreibung freundschaftlichen Umgangs. Der Eindruck eines solchen Überschusses wird noch erhöht, indem homosoziale Verbundenheit und Körperkontakt als Gegenpol zwischengeschlechtlicher Kommunikation inszeniert werden, bei der ein solches Verhalten verweigert wird. Dass es sich bei baisier et conjoïr nicht um ein unverbindliches, höfisches Verhaltensmuster handelt, sondern um Formel gewordene Innigkeit und emotionale Nähe, zeigt im Übrigen auch die Verwendung dieses Ausdrucks durch Lubias, als sie ihren vermeintlichen Ehemann bezichtigt, einen derartigen Umgang mit Belissant zu pflegen. Baisier et conjoïr mit der Prinzessin wertet Lubias als putaige (V. 1131), also mindestens als Ausschweifung, wenn nicht gar als Unzucht. Die gleiche Umgangsform zwischen den Freunden, die so einmal mehr auf engen Körperkontakt rekurriert, ist indes im Textuniversum positiver Ausdruck ihrer Allianz. _____________ 913 Carré 1992, S. 137; Hervorhebungen getilgt. Er bezieht sich auf eine Stelle aus dem Conte du Graal: Es sind Perceval und Gauvain, die hier aufeinander zu laufen. Carré verweist aber auf die entsprechende Textstelle in Ami et Amile, die er zuvor bereits beschrieben hat. Vgl. ebd., S. 132-136. 914 „Die Tochter des Kaisers hatte den Arm um ihn gelegt; aber er wollte sie nicht herzen und küssen“ (Vielhauer 1979, S. 74). 915 Allerdings hat Ami die Prinzessin ja für seinen Freund erworben, so dass er in diesem Moment durch den Verzicht auf Körperkontakt auch das Anrecht seines Freundes auf die Braut sichtbar macht.
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Auffällig ist in diesem Zusammenhang die Bedeutung des Hörens, an das die emotionalen Ausbrüche – wie Amiles Wiedererkennung – geknüpft sind: Amis l’entent s’en a gieté un ris, / Lors se recorrent baisier et conjoïr (V. 1955f.).916 Indem der Text auf die Stimme und das Hören rekurriert, wird eine Wahrnehmungsdimension thematisiert, die aus dem schriftlichen Text ausgegrenzt ist. Die Stimmen der Freunde bzw. die Fokussierung auf das Hören eröffnen eine zusätzliche Ebene des Freundschaftsmodells, die der textuell visualisierten Gleichheit der Freundeskörper ein akustisches Element zuordnet.917 Auch in dieser Hinsicht wird die enge Aufeinanderbezogenheit der Kameraden zwischengeschlechtlicher Kommunikation gegenübergestellt: Als die Prinzessin im Anschluss an das dreimalige baisier et conjoïr der Freunde feststellt, dass sie die Freunde nicht voneinander unterscheiden kann, reagiert Ami zunächst wie auf seinen Freund: Amis l’entent, s’en gieté un ris (V. 1962), nun folgt aber kein baisier et conjoïr mit Belissant, sondern Ami klärt sie auf, dass nicht er, sondern sein Freund ihr Gemahl werden wird. Wieder wird eine Verweigerung der Freunde, die körperlichen Kommunikationsformen des Männerbundes in den zwischengeschlechtlichen Bereich zu übertragen, inszeniert. Damit rahmt die abgelehnte oder verkürzte zwischengeschlechtliche Kommunikation den innigen Austausch zwischen den Freunden, der ihre Zusammengehörigkeit kennzeichnet. Das fünfte und letzte Treffen ereignet sich, als der aussätzige Ami seinen Kameraden aufsucht. In der mittelenglischen romance und in der anglonormannischen Verserzählung wird der kranke Amylion von Amys misshandelt, da er ihn nicht erkennt. Die chanson de geste greift an dieser Stelle indes nicht die Möglichkeit auf, mit (zumindest potentieller) Gewaltausübung beim Wiedersehen der Freunde zu experimentieren. Stattdessen wird die Wirksamkeit der Stimme wieder aufgerufen: Ami erklärt, dass er nach Amile verlangt. Li cuens Amiles oï Ami parler, Son compaingnon que moult pot desirrer. Sor la charrete va maintenant monter,
_____________ 916 „Ami hört es und bricht darüber in Lachen aus. Da stürzen sie aufeinander zu, um sich zu küssen und sich freudig zu begrüßen.“ – Vgl. für eine weitere, ähnliche Stelle Dembowski 1987, V. 1948f. 917 Von einer gleichen Stimme der Freunde hatte die chanson de geste nicht berichtet, nur vom gleichen Mund, vgl. Dembowski 1987, V. 40 und V. 1049. Das Miracle hatte bei der Similaritätsbeschreibung der Freunde die Gleichheit von Redeweise und Sprechen aufgezählt (de langage, Paris / Robert 1879, V. 12, und de parler, V. 13).
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Il le conmence baisier et acoler. (V. 2739-2742)918
Zwar gibt Ami im Sprechakt seine Identität zu erkennen und ermöglicht so, dass sein Freund ihn erkennt. Gleichwohl bezieht sich der Text nicht nur auf den Inhalt des Gesagten, sondern auf das Hören an sich, so dass erneut akustische Signale emotionales Verhalten auslösen. Stimme und Sprechen erlangen hier besondere Bedeutsamkeit, da die visuell wahrnehmbare körperliche Gleichheit zu diesem Zeitpunkt durch den Aussatz zerstört ist. In diesem Moment defizitärer Körperlichkeit ist es selbst Belissant einmal gestattet, Ami zu küssen und zu umarmen.919 Dieses Privileg ist als Beweis ihrer Loyalität gegenüber dem kranken Freund ihres Gatten zu werten. Lubias dagegen hatte Ami zurückgewiesen und vertrieben und sich so der Untreue schuldig gemacht. Die blühende Wiese fungiert hier nicht als Ort der Zusammenkunft, wird aber durch Amis neues Quartier, eine chambre [...] pointe a flor (V. 2768),920 aufgerufen. Damit wird deutlich, dass die Blumenwiese als Ort des Zusammentreffens gewaltbereiter Krieger fungiert: Amis männliche, adlige Identität ist durch den Aussatz auch insofern geschädigt, als seine körperliche Schwäche ihn seiner Fähigkeit zur Gewaltausübung beraubt. Die mit Blumen ausgemalte Kammer hält die Wiese in Erinnerung; und in der Tat wird Amis körperliches Defizit behoben und sein adliger Männerkörper wiederhergestellt. Auffällig ist die Kontinuität der Darstellung des emotionalen Austausches zwischen den Freunden. Yannick Carré spricht von einer „exclusivité de l’amour“921 für die Männerbeziehungen in den chansons de geste. Sarah Kay betont, dass die Freundschaft den „emotional nucleus“922 der chansons de geste bilde. „This is stressed in Ami et Amile, where the furtive, indoor, night-time heterosexual episodes contrast with the uninhibited, outdoor, sunlit embraces of the two companions whose physical identicalness is represented in terms of the active, chivalric life.“923 Die emotionale Intensität in Ami et Amile ist an gewaltsames Gebaren und an eine spezifische Semantik des Raumes gebunden. Die Wiedersehensszenen sind stets durch körperliche Manifestationen der Freundschaft gekennzeichnet. Küsse und Umarmungen zeigen, dass Körperkontakt und größtmögliche _____________ 918 „Da erkennt Amiles seinen Freund, nach dem er sich so gesehnt hat, an der Stimme. Er schwingt sich zu ihm in den Karren hinein und küsst und umarmt ihn immer von neuem“ (Vielhauer 1979, S. 91). 919 Belissans l’oit, joie prinst a mener, / Adont le baise, sel prent a acoler, / Baise visaige et la bouche et le nés (Dembowski 1987, V. 2753-2755). („Als Belissant dies hört, wird sie von Freude ergriffen, so dass sie ihn küsst und umarmt und auf Gesicht, Mund und Nase küsst.“) 920 „Gemach, das ganz mit Blumen ausgemalt war“ (Vielhauer 1979, S. 92). 921 Carré 1992, S. 143. 922 Kay 1995, S. 147. 923 Kay 1995, S. 147.
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Nähe zwischen den Freunden angestrebt wird. Diesem Verhaltenscode entspricht die Bedeutung der Wiese als locus amoenus. Gewalt erscheint als weiteres konstitutiver Handlungsmuster für die Freundschaft: Auch Gewalt ist an den Körper gekoppelt; die identischen Freundeskörper sind zur Ausübung überlegener Gewalt prädestiniert. Dem korrespondiert die Wiese als Kampfplatz. Nach außen gerichteter Kampf und nach innen gerichtete Liebe sind in der Amicus-Amelius-Konzeption zusammengeschlossen. Dass die Grenzen zwischen den beiden Handlungsmustern in den Begrüßungsszenen verschwimmen können, verweist auf die Bedeutsamkeit des adligen, männlichen Leibes: An ihm werden sowohl Liebe als auch Aggression durch spezifisches Verhalten sichtbar. Überbordendes Begehren und Kampfeslust können sich in ähnlichem Verhalten manifestieren und kennzeichnen die Spezifik des Freundschaftsmodells. Die chanson de geste Ami et Amile macht diese Zusammenhänge besonders evident, aber die Verknüpfung von Gewalt und Freundschaft durchzieht das gesamte Textkorpus: Mehr oder minder ausformulierte Emotionalität prägt alle AmicusAmelius-Texte, und stets ist Gewaltsamkeit notwendig, um die Freundschaft aufrechtzuerhalten. 4.4. Der Sonderfall des Engelhard Konrads von Würzburg: Reflexion – Emotion – Körper Die Bindung von Dietrich und Engelhard wird mit dem Bild der minne stricke924 beschrieben: Die Gefährten sind durch dieses enge Band, das durch liep unde leit (Reiffenstein 1982, V. 813) gleichermaßen gekennzeichnet ist, bis zum Tode miteinander verbunden. Dieser eindringlichen Beschreibung des Männerbundes werden Gedanken und Sprechakte der Protagonisten zugeordnet, in denen sich das Begehren nach dem Gefährten und nach seiner Nähe offenbart. Während die chanson de geste Ami et Amile in besonderem Maße das Gebaren der Freundeskörper in Szene setzt, finden sich im Engelhard neben körperlich codiertem Begehren Reflexionen der Protagonisten über ihren Bund.925 Nachdem Dietrich die Apfelprobe bestanden hat, gedâhte [Engelhard] dicke wider sich (V. 565): allez des mîn herze gert an geselleschefte nû, daz hâst, vil lieber herre, dû nâch vollem wunsche mir beschert.
_____________ 924 Vgl. Reiffenstein 1982, V. 805-816, und Kap. I.1.3. 925 Zwar können auch in anderen Texten die Protagonisten über die Freundschaft reflektieren, allerdings nicht in dem Ausmaße, wie es im Engelhard der Fall ist.
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ob dirre knabe mit mir vert, sô bin ich immer sælden vol. er ist gestalt ze rehte wol nâch sæliclichen dingen, daz mir vil wol gelingen müeze abe sînem heile. (V. 568-577)
Engelhards Begehren nach einem Freund (allez des mîn herze gert; nach vollem wunsche) wird an dieser Stelle nicht im äußeren Verhalten, sondern im inneren Monolog konstituiert. Dabei spricht er Dietrichs gestalt spezielle Aussagekraft zu: Sie verbürgt heil und sælde, an denen Engelhard zu partizipieren hofft. Von körperlicher Gleichheit ist hier keine Rede: Dass Engelhard entsprechend über einen ebensolchen heils- und glücksversprechenden Körper verfügen müsste – sind doch die beiden vil gar gelîch ein ander (V. 451) – ist seinen Überlegungen nicht zu entnehmen. Dietrich reflektiert seinerseits über den gefundenen Gefährten: wie gar mîns herzen wille für sich ist gegangen. ich wæne, ich hân gevangen nâch dem ich lange hân gejaget. mîn herze dicke hât geklaget daz ich gesellen niht envant. (V. 588-593)
Auch hier artikuliert sich Begehren (mîns herzen wille), das neben der gedanklichen Dimension als handlungsdynamische Kraft beschrieben wird: Die ‚Jagd‘ nach einem Freund verweist auf Bewegung und Distanzüberwindung als ein Element, in dem sich Begehren artikulieren kann. Während sich Engelhards Überlegungen auf Dietrichs Aussehen beziehen, nimmt Dietrich durchaus die Gleichheit ihrer beider Körper wahr: sîn forme gît den selben schîn / den eht ouch mîniu geben kann (V. 602f.). Gleich darauf aber stellt er diese Gleichheit in Frage: wan schœner vil und baz gezogen / ist er wærlîche danne ich sî (V. 606f.). Dietrich glaubt einen christlich-magischen Ursprung von Engelhards Schönheit und Vollkommenheit zu sehen: in hât der süeze werde Krist gebildet nâch dem wunsche gar. er ist sô rehte triuwevar daz ich gewislîche weiz daz er sich valsches nie gefleiz. (V. 610-614)
Die Freunde beziehen sich beim Nachdenken gerade nicht – bzw. nur punktuell – auf die wechselseitige Gleichheit und Unverwechselbarkeit: Jeweils der Andere wird als besonders schön und ideal stilisiert. Obgleich
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die Gefährten also von ihrer Unterschiedenheit ausgehen, wird durch das gemeinsame trahten (V. 615) und den daraus resultierenden ‚Gedankenraum‘ das Freundschaftsmodell mit einer neuen Dimension angereichert, die die Freunde mit ähnlichen Dispositionen ausstattet. Beide Kameraden begreifen ihr Herz als Ausgangspunkt des Verlangens nach einem Freund:926 ‚Innerlichkeit‘ wird so in einem konkreten Bild entworfen und im ‚Körperinneren‘ – im Organ des Herzens – verankert. Gleichzeitig konstituiert sich eine ‚Innerlichkeit‘ der Protagonisten durch den Vorgang der Reflexion selbst: Durch Selbstthematisierung wird an dieser Stelle Subjektivität entfaltet.927 Corinna Virchow hat gezeigt, dass in dieser Sequenz des Engelhard auch wahrnehmungs- und erkenntnistheoretische Positionen diskutiert werden: Die Freundschaft verfügt über privilegierten Zugang zu gegenseitigem Erkennen, da „in der gegenseitigen ‚Schau‘ der Herzen“928 bloße Sinneswahrnehmung transzendiert und „ein Erkennen der Wesensähnlichkeit“929 inszeniert werde. Dieser Erkenntnisprozess wird „als spiegelbildliche Introspektion dargeboten“.930 Eingerahmt sind diese Reflexionen931 der gesellen von Gleichheitskonstruktionen ihrer körperlichen und tugendmäßigen Verfassung sowie dem Freundschaftseid.932 Die Lebensgemeinschaft der Kameraden wird mit der Nachricht vom Tode des Herzogs von Brabant, Dietrichs Vater, beendet. Die bevorstehende Trennung bietet den Freunden Anlass, die Freundschaftskonzeption auf verbaler Ebene zu verhandeln. Vor dem Gespräch wird dreimal der desolate Zustand betont, in dem Dietrichs herze sich _____________ 926 Bereits vor dem Apfeltest werden Aussagen über den gemeinsamen herzen sin (Reiffenstein 1982, V. 514, V. 523) getroffen, nämlich den Dienst an einem Herrscherhof zu suchen, womit eine grundsätzliche Entsprechung der Wunschstrukturen der zukünftigen Freunde bezeichnet ist. 927 Auch über die zwischengeschlechtliche Minnethematik wird Subjektivität entfaltet. Vgl. Kap. II.3.1. 928 Virchow 2007, S. 296. 929 Virchow 2007, S. 304. 930 Virchow 2007, S. 304. Virchow beschreibt weiter, dass dagegen in der zwischengeschlechtlichen Liebe gegenseitige Erkenntnis letztlich scheitert, da sie ausschließlich an sinnliche Wahrnehmung gekoppelt ist. Virchow unterscheidet zwei wahrnehmungstheoretische Konzepte, die hier gegeneinander ausgespielt werden, das bevorzugte „in (neo-)platonischer, augustinisch-mystischer Tradition“, das abgewertete in „aristotelischer Tradition“ (S. 304). 931 Anhand dieser Ergebnisse wäre Brauns Gegenüberstellung von „handlungsbasierte[r] Freundschaft der älteren Literatur“ und einer „diskursivierten Form“ (Braun 2001, S. 328) von Freundschaft im frühneuhochdeutschen Prosaroman – hier in Wickrams höfischen Romanen – zu modifizieren. Sicher kann die Amicus-Amelius-Freundschaft eindeutig als ‚handlunsgbasierte Freundschaft‘ identifiziert werden, aber im Engelhard ist durchaus ein Ansatz zur Reflexion und Diskursivierung zu erkennen, auch wenn dieser vom Umfang der Diskursivierung in Wickrams Texten weit übertroffen wird. 932 Vgl. Kap. I.1.1. und I.1.2.
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befindet: Da sein Vater verstorben ist, wart sîn herze freuden blôz (V. 1381); dass er sich deshalb zudem noch von Engelhard trennen soll, verschlimmert die Lage noch: er wart mit herzen leiden / volleclichen überladen (V. 1388f.). Grundsätzlich wart sîn herze freuden bar (V. 1401). Das Herz erscheint als Ort der Emotionen. Die geballte Trauer versucht Dietrich zu mildern, indem er Engelhard heftic und inneclîche (V. 1419) bittet, mit ihm nach Brabant zu kommen und an Dietrichs Herrschaftsgewalt nicht nur teilzuhaben, sondern – so scheint es – sie sogar zu übernehmen.933 Engelhard aber lehnt ab: Obgleich die Nähe zu seinem Freund nâch mîns herzen gir (V. 1435) sei, will er als ellender kneht (V. 1444) in Dänemark bleiben. Auch Dietrichs Angebot, ihn zum Ritter zu schlagen, lehnt Engelhard ab.934 Während Dietrich bereit ist, für seinen Kameraden Machtanspruch und Besitz aufzugeben, besteht Engelhard darauf, dass beide ihren vorgegebenen Platz einnehmen und sich trennen. Wegen der Freundschaft das Erbe aufzugeben, bezeichnet Engelhard als grôziu tumpheit (V. 1520); aber auch er selbst will nicht von Dietrichs neuem Status profitieren, sondern sich in die gegebene Ordnung einfügen.935 Dietrich setzt die Verfassung seines herzen direkt in Pläne um, die die Nähe der Freunde auch in der neuen Situation gewährleisten sollen. Engelhard dagegen postuliert zwar zunächst räumliche Distanzlosigkeit als seines herzen gir, will aber nicht diesem Verlangen gemäß handeln. Damit konturiert er nicht nur eine Differenz zwischen Begehren und Handeln, sondern auch zwischen sich selbst und Dietrich: Bewahrung des Freundschaftsbundes und Bestätigung sozialer Ordnung bilden unterschiedliche Ansprüche der Gefährten. Diese Differenz spiegelt die Standesdifferenz wider, von der Engelhard erst zu diesem Zeitpunkt erfährt und die er als äußerst problematisch wahrnimmt. Für ihn beinhaltet die Beziehung zu Dietrich gerade nicht, was dieser vorschlägt: Ohne eigene Leistung will Engelhard keine Statussteigerung von seinem Freund annehmen. Obgleich die Freundschaft nicht nur im Engelhard zum sozialen Aufstieg zumindest eines der Gefährten beiträgt, ist diese Unterstützung stets an eine Notsituation gebunden, in der der Kamerad durch Gewalttaten seinem Freund beisteht. Engelhard akzeptiert nicht, von seinem Freund direkt Status und Besitz zu gewinnen. Stattdessen will er diese Attribute anderweitig – aber durchaus mit Hilfe des Freundes – erlangen. Engelhards – einseitiges – Problem mit dem Rangunterschied benennt demnach eine wichtige Funktionsweise der Freundschaft: Freundschaftliche Hilfe und Beistand sind an konkrete Umstände gebunden und sollen nicht ohne _____________ 933 vil sælic friunt, dâ wirdest dû / gewaltic alles daz ich hân. / ich sol dir machen undertân / lîp unde guot, die beide (Reiffenstein 1982, V. 1422-1425). 934 Vgl. Reiffenstein 1982, V. 1539-1549. 935 Vgl. Reiffenstein 1982, V. 1554f.
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Weiteres einen der Gefährten aufwerten. Engelhard setzt sich mit seiner Sichtweise durch, und es kommt zur Trennung der Freunde. Trotz – oder gerade wegen – der starken Beschädigung (zumindest aus der Sicht des Rangniederen) fällt der Abschied tränenreich aus: man sach si heize weinen / umbe ir zweier scheiden (V. 1588f.). Statusdifferenz und soziale Einordnung stehen Herzenswunsch und Freundschaftsbegehren diametral gegenüber. Die konstituierte Gleichheit der Protagonisten wird als defizitär markiert, da die Differenz räumliche Distanz herstellt. Die beiden beschriebenen Engelhard-Passagen entfalten zum einen die gedankliche Reflexion und zum anderen die verbale Diskussion von Begehren und Freundschaft. In einer dritten Sequenz kommt der Körper hinzu, um Emotionen zusätzlich zu codieren: Dies geschieht in der Wiedersehensszene vor dem manipulierten Gottesurteil. Nachts erreicht Engelhard Dietrichs Hof, um ihn um Hilfe aus seiner ausweglosen Situation zu bitten. Als Dietrich von Engelhards Ankunft unterrichtet wird, ist er so erfreut, daz er niht mohte erbeiten dô / daz er sich an geleite (V. 4278f.). niht wan einen schecken warf an sich der edele werde man. hie mite er an die zinne dan barfuoz und âne hemde lief.936 (V. 4282-4285)
Nachdem Engelhards Identität verifiziert ist, läuft Dietrich dem Freund entgegen, umarmt ihn und gibt ihm an beidiu wangen manegen kus (V. 4307). Dietrichs nur unzulänglich bekleideter Körper und die von ihm initiierte Begrüßung eröffnen einen Blick auf die körperliche Dimension der Freundschaft: Der Verzicht auf angemessene Kleidung, die Eile und die stürmische Kontaktaufnahme setzen Dietrichs Begehren nach der Nähe seines Freundes in Szene. Schließlich verbalisiert er seine Zuneigung zu Engelhard: ob ie mîn herze erfröuwet wart von liebe, daz ist gar ein wint biz an die wunne die mir sint von dir komen in den muot. (V. 4314-4317)
Erneut wird das herze als innerer Ort der Liebe aufgerufen. Hier wird das Herz in seiner Bedeutung allerdings vom muot übertroffen, der von wunne gespeist wird und als Ort gesteigerter und spezifisch freundschaftlicher _____________ 936 Kraß 2006b, S. 328, stellt diese Szene in den von ihm untersuchten Zusammenhang von Investitur und Devestitur: Er weist darauf hin, dass „die soziale Differenz nicht in der Weise überbrückt [wird], daß der standeshöhere Partner den standesniederen durch eine Investitur symbolisch hinaufzieht, sondern daß er sich der vestimentären Zeichen seiner sozialen Überlegenheit entäußert“.
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Hochgefühle imaginiert wird.937 Die körperliche Nähe der Freunde wird von Dietrich als erstrebter und zu bewahrender Zustand gekennzeichnet: ich unde dû wir müezen sîn / immer ungescheiden (V. 4338f.). Erneut bietet Dietrich seinem Gefährten die Verfügungsgewalt über sich selbst und sein Land an.938 Dietrichs – zumindest teilweise – bloßer Körper und sein Verhalten machen seine Gefühle für Engelhard bereits sichtbar. Die Diskursivierung verstärkt die dargestellten Gefühle nicht nur, sondern fügt der körperlichen Codierung noch die verbale hinzu: Durch die Kopplung ‚äußeren‘ Gebarens an eine Sprache der Liebe, die auf ‚innere‘ Verfasstheit rekurriert, wird Dietrichs starke emotionale Bezogenheit auf seinen Freund konstituiert. Diese Emotionalität findet keinen Widerschein in Engelhards Verhalten und Worten. Stattdessen wird zweimal auf seinen Mund Bezug genommen: Zwischen Dietrichs Erscheinen auf der Zinne und der Begrüßung Engelhart dô sînen munt / alsô vil minneclîche entslôz (V. 4292f.). Er nennt seinen Namen. Nach Dietrichs langer Rede, in der er seine Zuneigung und seine Vorstellungen von einer gemeinsamen Zukunft formuliert, antwortet ihm Engelhart der süeze (V. 4351) mit liehtem munde rôsenrôt (V. 4350) und bittet um Unterstützung. Dabei thematisiert er nicht seine eigenen Gefühle für den Freund, sondern Dietrichs Vorbildlichkeit: triuwe (V. 4355) und stæte (V. 4357) sowie Dietrichs edelez herze (vgl. V. 4367) kommen zur Sprache. Engelhards rosenroter, minneclicher Mund rekurriert zum einen auf höfische Schönheitsbeschreibungen, in deren Kontext er nicht zuletzt wegen der vorangegangenen Schilderung der höfischen Minne zwischen Engelhard und Engeltrut gesetzt werden kann.939 Der Mund – ein Körperfragment – wird dem als Ganzen agierenden Körper Dietrichs in dieser Szene gegenübergesellt. Der rote Mund fungiert nicht nur als signifikantes, wenn auch isoliertes Merkmal für Engelhards Schönheit. Der zweifache Verweis auf Engelhards Mund ist auch an die Bedeutung der Rede gekoppelt: entslôz (V. 4293) und seite (V. 4294) sowie antwürte bot (V. 4349) sind die Verben, die dem Mund zugeordnet werden. Ähnlich wie Amile Ami in der chanson de geste erkennt Dietrich Engelhard vil schiere an sînen worten (V. 4299). Dass Engelhard dem Freund ausführlich über seine missliche Lage berichtet, führt zu Dietrichs Hilfezusage und dem Identitätentausch _____________ 937 Etwas später ist aber wieder vom Herzen die Rede: mîn herze in mînem lîbe spilt / von der werden künfte dîn (Reiffenstein 1982, V. 4336f.). 938 Vgl. Reiffenstein 1982, V. 4330-4335 und V. 4346-4348. 939 Vgl. etwa den scharlachroten Mund Engeltruts, Reiffenstein 1982, V. 2988, in der ausführlichen Schönheitsbeschreibung des weiblichen Körpers. Kraß 2006b, S. 330, sieht hier „feminine Züge“ Engelhards. Dagegen sind – nicht nur im Engelhard – geschlechtsindifferente Körperbeschreibungen bzw. Attribute zu veranschlagen. Vgl. zum Engelhard Klinger / Winst 2003, S. 283, sowie ausführlich zum Tristan Schultz 1997.
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der Gefährten. In dieser Szene werden emotionale Gesten und sprachliche Expression der Gefühle Dietrich zugeordnet, während Engelhard als Bittender dargestellt wird, in dessen Rede durch die pointierten Hinweise auf den roten Mund Körper und Sprache verknüpft werden. Das Pendant zu dieser Szene bildet die Aufnahme des aussätzigen Dietrich an Engelhards Hof. Engelhard reagiert mit Klagegesten: vor leide reiz er sîn gewant und sîn küneclichez kleit, diu wurden schiere, sô man seit, gerizzen nider ûf den fuoz. (V. 5706-5709)
Die zerrissenen Kleider, die vom Körper abfallen, korrespondieren Dietrichs unvollständig bekleidetem Leib bei der früheren Begrüßungsszene. Engelhard beklagt den Zustand seines Freundes und beschwört in diesem Sprechakt Dietrichs Stärke (dîniu starken lider, V. 5734) und frühere Schönheit herauf: dû bist der schœnheit ie gesîn / ein spiegel und ein bluome (V. 5730f.). Anschließend umfängt Engelhard den Kranken und vergießt viele Tränen, die ihm über die roten Wangen rinnen.940 Diese emotionale Geste entspricht der von Dietrich ausgehenden Begrüßung in der Parallelszene. Im Folgenden ist es an Engelhard, dem Freund nun seinerseits die Verfügungsgewalt über lîp unde guot (V. 5791) anzutragen. Weiter werden herze und muot beider Gefährten jeweils als ‚innere‘ Orte markiert, an denen Freundschaft konstituiert wird.941 In den einzelnen Szenen werden beträchtliche Unterschiede zwischen den Freunden inszeniert: Während in der ersten Szene, beim Treffen auf der wilden Heide, die korrespondierenden Reflexionen übereinander und über das Begehren nach einem Freund die Jünglinge einander verähnlicht, wird in der Abschiedsszene ein deutlicher Bruch sichtbar. Dieser Bruch kann erst in der letzten Szene endgültig beseitigt werden: Erst hier ist die problematische Statusdifferenz aufgehoben; Engelhard ist König von Dänemark. Die beiden letzten Begrüßungsszenen beschreiben jede für sich ein ungleiches Verhältnis der Freunde zueinander, da je nach Situation jeweils nur einer Emotionen am eigenen Körper sichtbar macht und emotional handelt. Da die Szenen einander spiegeln, wird die Ungleichheit insgesamt aber stark zurückgenommen. Diese Strategie, einzelne Sequenzen aufeinander zu beziehen und so die Freundesgleichheit zu steigern, findet sich mehrmals im Engelhard: So sind die Freunde in ihren Handlungen nicht nur durch ihre wechselseitigen Treuebeweise aufeinander bezogen, sondern zusätzlich durch die gegenseitige Spiegelung von Engelhards _____________ 940 Vgl. Reiffenstein 1982, V. 5742-5745. 941 Vgl. für Dietrich Reiffenstein 1982, V. 5656-5661 und für Engelhard V. 5810-5813. Dietrich verbalisiert muot und herze im Monolog; Engelhard thematisiert nicht selbst.
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Turnier und Dietrichs Zweikampf, die jeweils die vorbildliche Gewaltsamkeit der Gefährten herausstellen, und von Engelhards Liebeskrankheit und Dietrichs Aussatz, die beide nicht nur an körperliches Leiden, sondern an lange sprachliche Ausführungen gekoppelt sind. Nichtsdestotrotz bleiben im Engelhard Differenzen zwischen den Freunden bestehen, auch nachdem die anfängliche Statusproblematik ausgeräumt ist: Dietrich thematisiert die Macht der gegenseitigen Minne insgesamt in viel stärkerem Maße als Engelhard, wodurch Dietrich eine ausgeprägtere Emotionalität zugeschrieben werden kann. Engelhards Erscheinung dagegen wird durch den roten Mund und die roten Wangen stückweise von Dietrichs allgemeiner Schönheit abgehoben. Das von Dietrich stärker artikulierte Begehren – so könnte man hypothetisch formulieren – verweist auf Engelhards stärker markierten schönen Körper, so dass die Freunde selbst in ihren Differenzen noch aufeinander verweisen. Im Gegensatz zu der sorgfältig durchkonstruierten Gleichheit der Freunde bleiben diese Differenzen geringfügig, unterstreichen aber, dass die Eröffnung subjektiver Gedankenräume und Weltbezüge in diesem Text mit einer Differenzierung der Protagonisten942 einhergeht.
_____________ 942 Von Bloh 1998, S. 330, geht davon aus, dass es sich um zwei verschiedene Männertypen bzw. -rollen handelt. Ähnlich auch Kraß 2006a, S. 133f. Trotz aller Differenzierungen sehe ich dagegen die Verähnlichung der Freunde als grundlegende Erzählstrategie an, die der Engelhard mit den anderen Amicus-Amelius-Texten teilt.
II. Formen von Vergesellschaftung: Zwischen Identitätsbedrohung und Herrschaftsbildung Obgleich die Kriegerfreundschaft das zentrale und idealisierte Beziehungsmodell bildet, existieren im Amicus-Amelius-Textkorpus weitere grundlegende Vergemeinschaftungsformen, in die beide Gefährten eingeordnet werden. Mittelalterliche Identitätsbildung beruht stets auf kollektiven Konstellationen, innerhalb derer personale Identität sich erst herauskristallisieren kann, und so situieren auch die Amicus-Amelius-Texte ihre Protagonisten innerhalb diverser sozialer Bindungen. Grundsätzlich ist die identitäre Formation des Einzelnen in der mittelalterlichen Gesellschaft als eine Anhäufung verschiedener sozialer Zusammenschlüsse bzw. Zugehörigkeiten1 zu denken, um die eigene Identität zu sichern: „[Es] dürfte [...] geradezu im Interesse aller gelegen haben, durch die Zugehörigkeit zu möglichst vielen und verschiedenartigen Gruppen das Netz der sozialen Bindungen möglichst eng zu knüpfen, um so Schutz und Hilfe in wirklich allen Lebenslagen zu garantieren.“2 Im Amicus-Amelius-Korpus erscheinen neben der Freundschaft verwandtschaftliche Beziehungen sowie vasallitische bzw. Dienstverhältnisse als wichtige, fast ausschließlich homosozial strukturierte Bündnisse.3 Hinzu treten die Geschlechterverhältnisse, die anhand der Beziehungen zu den späteren Ehefrauen der Freunde verhandelt werden. Trotz der deutlichen Hierarchisierung, die die Freundschaft als wichtigste Gemeinschaft kennzeichnet,4 wird auch der Beitrag der anderen Beziehungsformen zur Identitätsbildung der Helden thematisiert. Das Freundschaftsmodell wird in Bezug zu den anderen sozialen Verbindungen gesetzt. _____________ 1 2 3 4
Vgl. Hahn 2000, S. 13, und grundsätzlich Hahn / Bohn 2002. Althoff 1990, S. 8f. Vgl. zu Verwandtschaft, Herrschaft, Freundschaft und Bruderschaft als zentralen mittelalterlichen Sozialformen den Sammelband Krieger 2009. Dies ist die Besonderheit des literarischen Amicus-Amelius-Modells. Die mittelalterliche Gesellschaftsorganisation favorisiert per se keine Sozialbindungen vor anderen. Vgl. Althoff 1990, S. 215. Allerdings wird die Verwandtschaft oft als ursprünglichste und daraus folgend auch als wichtigste Form der Vergesellschaftung betrachtet, nach der die anderen – sekundären – Formen modelliert wurden. Vgl. nur Harris 1993, S. 101, und Kellner 2004, S. 29.
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Die Konkurrenz zwischen den Sozialbeziehungen wird vor allem in der probatio-Phase des Freundschaftsmodells verhandelt, denn in den Freundschaftsprüfungen werden die Prioritäten geklärt. Auffällig ist die sehr unterschiedliche Gestaltung von Verwandtschaft, Herrschaft und Geschlechterverhältnissen in den einzelnen Texten und Textgruppen: Ihre jeweilige Wertigkeit für die Identität der Protagonisten wird über verschiedene Aspekte von Zugehörigkeit erörtert, so dass insgesamt recht heterogene Entwürfe der sozialen Verortung der Freunde – außerhalb des Freundschaftsbündnisses – entstehen. In mancher Hinsicht überlagern sich Problembereiche, die über die einzelnen Vergesellschaftungsformen diskutiert werden: So erstreckt sich die Thematik von Herrschaftserwerb und -legitimation von der Freundschaft auf alle anderen Sozialbindungen und wird aus je unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Insofern erscheint Herrschaftserlangung als fundamentaler Indikator, der die Bedeutsamkeit des jeweiligen Beziehungsmodells für den Prozess identitärer Konstituierung aufdeckt.
1. Verwandtschaft Das primäre adlige Vergesellschaftungsmodell bildet die Verwandtschaft:5 Herkunft und Abstammung situieren den einzelnen Adligen in einem sozialen Raster, das adlige Identität grundsätzlich konstituiert. Die Zugehörigkeit sowohl zur Sippe, die alle lebenden Blutsverwandten auf synchroner Ebene zu einem Familienverband zusammenfasst, als auch zur Dynastie, die alle Vorfahren als ein diachron wirksames Kollektiv imaginiert, verleiht Identität.6 Die zeitliche und räumliche Ausdehnung der verwandtschaftlichen Ordnungslinien erzeugt ein stabiles System, das die sichere Zuordnung des Einzelnen verbürgt. Das verwandtschaftliche Kontinuum gewährleistet Herrschafts- und Gewaltausübung, indem es zum einen die Teilhabe am adligen Blut bezeugt. Zum anderen werden Besitz und Herrschaft durch Erbschaftsregelungen und Heiratspolitik konkret gesichert. Darüber hinaus nehmen Familienclans und Verwandtschaftsgruppen als Fehde- und Rachegemeinschaften militärische Aufga_____________ 5
6
Zur Verwandtschaft im Mittelalter siehe etwa Bloch 1999, S. 175-200, Guerreau-Jalabert 1981, Duby 1988 und Althoff 1990, S. 31-84. Zu literarischen Entwürfen von Verwandtschaft vgl. Peters 1999. Grundsätzlich zur Genealogie als „universale[m], interdiskursiv verwendete[m] Ordnungsmuster“ siehe Kellner 2004, hier S. 15. Vgl. auch den Forschungsbericht von Mecklenburg 2006. Zur strukturalen Analyse von Verwandtschaftsstrukturen siehe Lévi-Strauss 1981; zur Anwendung dieser für die Untersuchung literarischer Texte des Mittelalters vgl. vor allem Schmid 1986.
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Die Konkurrenz zwischen den Sozialbeziehungen wird vor allem in der probatio-Phase des Freundschaftsmodells verhandelt, denn in den Freundschaftsprüfungen werden die Prioritäten geklärt. Auffällig ist die sehr unterschiedliche Gestaltung von Verwandtschaft, Herrschaft und Geschlechterverhältnissen in den einzelnen Texten und Textgruppen: Ihre jeweilige Wertigkeit für die Identität der Protagonisten wird über verschiedene Aspekte von Zugehörigkeit erörtert, so dass insgesamt recht heterogene Entwürfe der sozialen Verortung der Freunde – außerhalb des Freundschaftsbündnisses – entstehen. In mancher Hinsicht überlagern sich Problembereiche, die über die einzelnen Vergesellschaftungsformen diskutiert werden: So erstreckt sich die Thematik von Herrschaftserwerb und -legitimation von der Freundschaft auf alle anderen Sozialbindungen und wird aus je unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Insofern erscheint Herrschaftserlangung als fundamentaler Indikator, der die Bedeutsamkeit des jeweiligen Beziehungsmodells für den Prozess identitärer Konstituierung aufdeckt.
1. Verwandtschaft Das primäre adlige Vergesellschaftungsmodell bildet die Verwandtschaft:5 Herkunft und Abstammung situieren den einzelnen Adligen in einem sozialen Raster, das adlige Identität grundsätzlich konstituiert. Die Zugehörigkeit sowohl zur Sippe, die alle lebenden Blutsverwandten auf synchroner Ebene zu einem Familienverband zusammenfasst, als auch zur Dynastie, die alle Vorfahren als ein diachron wirksames Kollektiv imaginiert, verleiht Identität.6 Die zeitliche und räumliche Ausdehnung der verwandtschaftlichen Ordnungslinien erzeugt ein stabiles System, das die sichere Zuordnung des Einzelnen verbürgt. Das verwandtschaftliche Kontinuum gewährleistet Herrschafts- und Gewaltausübung, indem es zum einen die Teilhabe am adligen Blut bezeugt. Zum anderen werden Besitz und Herrschaft durch Erbschaftsregelungen und Heiratspolitik konkret gesichert. Darüber hinaus nehmen Familienclans und Verwandtschaftsgruppen als Fehde- und Rachegemeinschaften militärische Aufga_____________ 5
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Zur Verwandtschaft im Mittelalter siehe etwa Bloch 1999, S. 175-200, Guerreau-Jalabert 1981, Duby 1988 und Althoff 1990, S. 31-84. Zu literarischen Entwürfen von Verwandtschaft vgl. Peters 1999. Grundsätzlich zur Genealogie als „universale[m], interdiskursiv verwendete[m] Ordnungsmuster“ siehe Kellner 2004, hier S. 15. Vgl. auch den Forschungsbericht von Mecklenburg 2006. Zur strukturalen Analyse von Verwandtschaftsstrukturen siehe Lévi-Strauss 1981; zur Anwendung dieser für die Untersuchung literarischer Texte des Mittelalters vgl. vor allem Schmid 1986.
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ben wahr, um die Unversehrtheit des Sippenkörpers sicherzustellen und Rechtsübertretungen gegen Angehörige des Verwandtschaftskollektivs zu vergelten.7 Festigung und Legitimierung von Herrschaft, Besitz und Gewalt durch die Einordnung in ein verwandtschaftliches Koordinatensystem erscheinen demnach als grundsätzliche Funktionen von Verwandtschaftsbindungen. Diese Beziehungsform bildet somit das Fundament adliger Identitätsbildung. In den Amicus-Amelius-Texten werden die Helden in einen verwandtschaftlichen Zusammenhang gebracht, der rein agnatisch organisiert ist. Grundsätzlich werden im Textkorpus zwei Ausprägungen agnatischer Verwandtschaft bedeutsam: Die erste besteht in der jeweiligen Zuordnung der Freunde zu ihren Vätern und veranschaulicht so die identitätsbildende Wirksamkeit von Abstammung und Herkunft.8 Die Identität der Freunde wird immer als adlige entworfen: Gewaltausübung und Herrschaftssicherung sind für das Freundespaar grundsätzliche Konstituenten ihrer Identität. Der tatsächliche Antritt des väterlichen Erbes aber ist kein zwingender Bestandteil dieses Prozesses und verweist auf verschobene Bedeutungsdimensionen der sozialen Kollektive. Den zweiten Entwurf von Verwandtschaft bilden die selbstgegründeten Familien der Freunde durch Heirat: Zwar markiert diese Form verwandtschaftlicher Bindung einen wichtigen Punkt in der adligen (Selbst-)Formierung. Die Vertreibung des erkrankten Freundes und der Kindesmord zu seiner Rettung verweisen jedoch auf die Brüchigkeit dieses Vergesellschaftungsmodells. Indem weiter die verwandtschaftliche Situierung des Einzelnen zugunsten der Freundschaft zerstört wird, wird die Hierarchisierung der Beziehungsmodelle im Amicus-Amelius-Korpus vorangetrieben. Neben diesen beiden grundsätzlichen, agnatischen Konstellationen der Zugehörigkeit zu einem Verwandtschaftskollektiv, die ich in diesem Kapitel näher beleuchten möchte, weisen einige Amicus-Amelius-Texte zusätzliche narrative Sequenzen auf, in denen die Thematik der Verwandtschaft verstärkt diskutiert, dabei aber variabel entworfen wird. In der chanson de geste wird Konsanguinität im Bild des Verräterclans grundsätzlich als bedrohlich bewertet, während die auf der chanson de geste basierenden späten französischen Ami-Amille-Bearbeitungen dieses Bild weiter ausdifferenzieren und zudem eine Freundesgenealogie entwerfen. In der Historia septem sapientum werden an die Blutsverwandtschaft mehrere sekundär gebildete Verwandtschaftsbündnisse angelagert. Diese beiden Sonderfälle werden im Folgenden näher betrachtet. _____________ 7 8
Vgl. grundsätzlich Brunner 51965. Zu Vater-Sohn-Beziehungen in mittelalterlicher Literatur vgl. die Beiträge in Keller / Mecklenburg / Meyer 2006.
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1.1. Väter und Söhne I: Abstammung und Einordnung Die adlige Herkunft der Freunde bildet stets den Ausgangspunkt der Amicus-Amelius-Geschichten. In allen Bearbeitungen stellt die Zugehörigkeit der Helden zum – wenn auch z.T. niederen – Adel die unabdingbare Voraussetzung für alle folgenden Ereignisse und damit für die Identitätsbildung der Gefährten dar. Die Fassungen, die zur ersten Textgruppe gehören, also eher einem adlig-höfischen Sinnhorizont verpflichtet sind, erwähnen oft nur die grundsätzlich aristokratische Abstammung, die die Freundesgleichheit mitkonstituiert: Sehr reduziert erscheint dies in Lille 130, wo die Gefährten ohne jede Mitteilung über ihre Väter jeweils als Ritter (chevalier, Woledge 1939, S. 452) bezeichnet werden. Radulfus Tortarius erwähnt die Ahnen9 und Herkunftsorte der Helden: Als Amelius’ Geburtsstätte wird Clermont in der Auvergne, als Amicus’ Heimat Blaye in der Gascogne genannt.10 Diese Angaben zeitigen keine weitere Konsequenz, als den Rang der Protagonisten herauszustellen. [B]arons (Fukui 1990, V. 11) bzw. lombardische Herren11 sind die Väter der Freunde in der anglonormannischen Verserzählung und in der mittelenglischen romance. Dieser Umstand erlangt zum Todeszeitpunkt von Amylions Vater Bedeutung, da der Sohn nun die Herrschaft übernimmt. Die unproblematische Machtkontinuation wird in diesen beiden Texten erst durch den ausbrechenden Aussatz gestört, der den jungen Regenten disqualifiziert. Nach seiner Heilung aber erobert er die Herrscherwürde zurück. Genealogiebildung und Herrschaftsübertragung funktionieren im Grunde reibungslos: Gestört werden sie durch den körperlichen Zerfall, der mit den Freundschaftsbeweisen zusammenhängt. Nachdem die leibliche Degeneration jedoch durch das Kindesopfer des Gefährten rückgängig gemacht wurde, kann auch die herrschaftliche Position wieder eingenommen werden. Die Freundschaft erscheint in diesem Zusammenhang als zwingendere soziale Bindung, für die Leib und Leben eingesetzt werden: Insofern bedroht sie zunächst konsanguine und herrschaftliche Beständigkeit. Da das Freundesbündnis aber die Genesung des Kranken bewirkt und z.T. der gesundete Freund von seinem Kameraden mit einer zusätzlichen militärischen Streitmacht ausgestattet wird, kann es zugleich verlorene Herrschaft wiederherstellen. _____________ 9 10
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Vgl. Ogle / Schullian 1933, V. 130. Später wird erwähnt, dass Amelius’ Vater consul in der Auvergne ist; vgl. ebd. V. 276. Vgl. Ogle / Schullian 1933, V. 123-126. Von Amelius wird explizit gesagt, dass er in das Herrschaftsgebiet seines Vaters zurückkehrt, nachdem er Beliardis geheiratet hat, vgl. ebd. V. 289f. Vgl. Le Saux 1993, st. 1 und st. 3. – Vgl. grundsätzlich zur Herkunft in Bezug zur Gleichheit der Protagonisten auch Kap. I.1.1.
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Diesem Erzählmuster folgt auch Dietrichs Position als Herzog von Brabant in Konrads Engelhard. Anders als in der anglonormannischen und in der mittelenglischen Bearbeitung, in denen die verwandtschaftliche Einbindung des verbleibenden Freundes wirkungslos bleibt, schürt der Statusunterschied zwischen Engelhard und Dietrich einen Konflikt, der hier letztlich die Trennung der Freunde nach dem Tode von Dietrichs Eltern begründet. Die Option, Dietrich zu begleiten und mit ihm Macht und Besitz zu teilen, wird von Engelhard ausgeschlagen. In ausführlichen Überlegungen analysiert Engelhard die für eine Freundschaft unangemessene Ungleichheit des Abstammungshintergrundes. Er sieht Dietrich als hôchgeborniu fruht (Reiffenstein 1982, V. 1486), sich selbst aber als vil ellender kneht [...] der niht gelts hât (V. 1444f.) und versteht damit sich und seinen Freund als momentan unvereinbare Differenzträger. Engelhards burgundischer Vater ist zwar von gebürte frî (V. 223), sein bescheidener Besitz und die große Anzahl der Söhne aber veranlassten Engelhard zur Abreise nach Dänemark, um durch Dienst am dortigen Königshof seine ökonomische Situation zu verbessern. Engelhards bescheidene Deszendenz wird durch die Bindung zu seinem Vater aufgewertet, der durch den empfohlenen Apfeltest die soziale Einbindung seines Sohnes außerhalb verwandtschaftlicher Beziehungen gewährleistet. Folgerichtig wird auch der Rang von Engelhards männlicher Familie erhöht, nachdem Engelhards desolater Statuszustand durch die Heirat Engeltruts aufgehoben ist: der vater und die bruoder sîn wurden schiere dô besant. er machte ûz in ze Tenelant herzogen unde grâven hôch. (V. 5118-5121)
Analog verfährt Alexander in der Historia septem sapientum: Er lässt seine adligen, doch mittellosen Eltern an seinem sozialen Aufstieg teilhaben, indem er sie nach der letzten Festigung seiner herrschaftlichen Position zu sich holt.12 Lodovicus dagegen bildet eine Ausnahme: Er übernimmt nicht nur die Herrschaft im durch Heirat erworbenen Kaiserreich, sondern tritt zudem die Nachfolge im Königreich, das er von seinem Vater geerbt hat, an. In allen anderen Texten werden mit der Hochzeit der Prinzessin das ursprüngliche Erbland sowie die damit verknüpften dynastischen Bindungen ausgeblendet, in der Historia septem sapientum werden beide übereinander gelagert und steigern Lodovicus’ Machtposition. Beide Freunde sind in der Lage, Herrschaft und Status zu potenzieren, indem jeweils ähnliche Sozialbindungen miteinander verknüpft werden: Sowohl Alexander als _____________ 12
Zur gründlicheren Interpretation des Verwandtschaftsentwurfes in der Historia septem sapientum siehe Kap. II.1.4.
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auch Lodovicus gehen mehrere quasi-verwandtschaftliche Beziehungen ein, die ihre Macht sukzessive vergrößern. Zusammen mit der Freundschaft bilden diese Bündnisse ein stabiles soziales Geflecht, das die Identität der Gefährten zunehmend steigert. Dieses Spezifikum unterscheidet die Untergruppe, in denen die Protagonisten deutlich unterscheidbare Namen tragen, von den anderen Texten des Amicus-Amelius-Korpus: Herkunft und sozialer Aufstieg der Helden bleiben stets relevant. Die politische Wirkmächtigkeit der Freundschaft entsteht dadurch, dass sie mit weiteren Bündnissen kombiniert wird: Aus diesem Arrangement ergibt sich ein Zuwachs an Ansehen, Besitz und Herrschaft. Über die Statusangleichung der Freunde wird ihre fortschreitende Verähnlichung transportiert, so dass die angestrebte Gleichheit vor allem konstituiert wird, indem anfängliche soziale Unterschiede verringert werden. Wie die Texte, in denen die Protagonisten deutlich unterschiedene Namen tragen, veranschlagen auch die Texte, die zur zweiten, also eher religiös deutenden Textgruppe gehören, ausnahmslos eine Statusdifferenz zwischen den Freunden. Rang und Herrschaftssitz der Väter werden in fast allen Bearbeitungen dieser Gruppe genau benannt: Die elaborierten und die mittellangen hagiographischen Texte berichten, dass der später Amelius getaufte Knabe ex comite Alvernensi (mittellange Vita, Graz 873, Schönbach 1877, S. 850),13 Amicus aber ex milite quodam Bericano (S. 851)14 abstammt.15 Zusätzlich zu diesen Angaben verzeichnen die elaborierten Texte, dass der Ritter aus Berry deutscher Herkunft sei.16 Die SeelentrostBearbeitungen bestimmen nur den Stand: Als eynes greuen sone und eynes ridders sone (Hannover I, 239, Oettli 1986a, S. 144, Z. 3f.) werden die Freunde eingeführt. Anders als im Engelhard erwächst aus dieser Differenz jedoch keine Spannung: Stattdessen wird die anfängliche Unterscheidung auf narrativer Ebene quasi wieder zurückgenommen, da der simultane Entschluss der Väter zur Romreise17 ihre Söhne einander annähert und die _____________ 13 14 15
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„vom Grafen von Auvergne“ „von einem Ritter aus Berry“ Im lateinischen Exempel ist nicht der Graf von Auvergne, sondern ein comes in Francia („Graf[] im Frankenlande“, Klapper 1914, S. 139) Amelius’ Vater; Amicus stammt von einem britannischen Ritter ab; vgl. Klapper 1914, S. 339, Z. 16f. Letzteres gilt auch für die zur mittellangen legendenhaften Gruppe gehörenden Berliner Hs. Mgq 261; vgl. Oettli 1986a, S. 178, Z. 5. In der mittelenglischen Minimalfassung des Alphabet of Tales finden sich zwar die Angaben Auvergne und Berry, allerdings werden sie hier scheinbar als Namen des Grafen respektive des Ritters aufgefasst; vgl. Macleod Banks 1904/05 / 1987, S. 38, Z. 4f. Vgl. für die lateinische Vita Kölbing 1884, S. xcvii, Z. 2; für die französische Moland / D’Héricault 1856, S.35; und für die kymrische Williams 1982, Z. 3, vgl. für die Übersetzung Gaidoz 1879/89, S. 204/205. Die elaborierte Fassung situiert die Väter nachdrücklich innerhalb eines religiösen Handlungsmodus: Der Graf von Auvergne hat eine Vision, in der er die Taufe seines noch ungeborenen Sohnes durch den Papst schaut, und der Ritter aus Berry gelobt von sich aus,
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Papsttaufe Gleichheit konstituiert. In den elaborierten und einigen der mittellangen Fassungen18 versichern sich die reisenden Väter ihrer gegenseitigen Freundschaft,19 bevor sich die enge Bindung zwischen ihren Söhnen entwickelt, so dass ein Abglanz des zentralen Freundschaftsmodells auch auf die Väter fällt und an dieser Stelle bereits die Vorstellung einer an Verwandtschaft und Vererbung geknüpften Freundschaft aufscheint. Diese wird von den Texten wieder in einem ausschließlich männlichen Universum angesiedelt: Durch den Ausschluss der Mütter20 wird das VaterSohn-Verhältnis mit der Freundschaft und deren religiöser Legitimation verknüpft. Nicht nur auf Amelius’ Söhne erstreckt sich das Modell exklusiver Freundschaft, sondern auch auf die Väter der Freunde. Dieser zunächst positiven Verortung der Gefährten in einem männlich codierten Verwandtschaftssystem entspricht in dieser Textgruppe die von Amicus’ Vater auf dem Sterbebett vorgenommene Anleitung zum Rittertum, die bereits auf das glorreiche Ende im Karlsheer vorausweist, sowie sein Lob der Freundschaft, mit dem er den Bund zwischen Amicus und Amelius heraufbeschwört.21 Die kymrische Variation baut diese Stelle aus, indem sie Verwandtschaft explizit thematisiert und in ein christliches Muster überführt: Amics Vater rät seinem Sohn, nun Gott zum Vater zu nehmen. Nicht die Verhaltensmaßregeln einer militia Christi, sondern ein kurzer Abriss von Glaubensinhalten folgt, an den sich die Ermahnung zur Freundschaft mit Amlyn anschließt.22 Damit wird ein Modell spiritueller Verwandtschaft23 angesprochen, das bereits mit der Taufe der Knaben durch den Papst eingeführt wurde. Insgesamt bilden christlicher Glaube und freundschaftliche Treue die Handlungskonzepte, die die soziale Isolation des Sprösslings, die mit dem Tode des Vaters droht, auffangen sollen. _____________ 18 19 20
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seinen Jungen zur Papsttaufe nach Rom zu bringen; vgl. etwa für die lateinische Fassung Kölbing 1884, S. xcvii, Z. 3-17. So in der Bearbeitung von Vincenz von Beauvais, vgl. Vincentius 1624/1965, cap. clxii, S. 956, Sp. 1, und in der Grazer Hs., vgl. Schönbach 1877, S. 851. Vgl. für die lateinische elaborierte Vita Kölbing 1884, S. xcviii, Z. 7. Die Mütter werden in einigen Texten kurz erwähnt, verschwinden dann aber schnell wieder aus dem Blickfeld der Geschichten. Dies geschieht in den elaborierten Fassungen, wenn etwa darauf verwiesen wird, dass die Frau des Grafen schwanger war, als er die Vision hatte. Vgl. z.B. für die lateinische Vita Kölbing 1884, S. xcvii, Z. 6-8. – In den mittellangen Fassungen wird die Ausrichtung auf die Väter nicht ganz so deutlich, da sowohl die Fahrt nach Rom als auch die Ermahnungen auf dem Totenbett kürzer ausfallen, so dass bei der Reise die Väter fast gänzlich ausgeklammert werden und das Augenmerk allein auf dem Freundschaftsbund der kleinen Söhne liegt. Vgl. z.B. für die Berliner Hs. Mgq 261 Oettli 1986a, S. 178f., Z. 5-9, Z. 24-28 – S. 179, Z. 29f. Vgl. etwa für die elaborierte lateinische Vita Kölbing 1884, S. xcviiif., 40-6. – Die Minimalbearbeitungen kennen dieses Ereignis nicht. Vgl. Williams 1982, Z. 83-110, und für die Übersetzung Gaidoz 1879/80, S. 208/209. Vgl. zur spirituellen Verwandtschaft etwa Guerreau-Jalabert 1981 und Kellner 2004, S. 49.
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Fides ist die zentrale Kategorie und zeigt die enge Verknüpfung von Freundschaft und Religiosität. Nach dem Tode des Vaters wird Amicus jedoch von bose[n] heren (Großer Seelentrost, Schmitt 1959, S. 229, Z. 19) von seinem Hof vertrieben,24 woraufhin er sich auf die Suche nach seinem Freund begibt. Die Darstellung von Amicus als schwachem Herrscher, der den bedrohlichen Vorgängen an seinem eigenen Hof nichts entgegenzusetzen hat, wird in der elaborierten und in der mittellangen Version in ein christliches Verhaltensmodell überführt: Weisheit, Duldsamkeit und Liebe selbst zu den Feinden produzieren deutliche Christus-Parallelen und positivieren Amicus’ herrscherliche Defizite.25 Amelius ist bereits auf dem Weg zu Amicus, da er die Nachricht vom Ableben des Freundesvaters erhalten hat. Freundschaft wird demnach jeweils als Bündnis betrachtet, das ein soziales Vakuum ausfüllt: Bereits im Kindesalter geschlossen, kommt der zwischenzeitlich latente Freundschaftsbund erst zum Tragen, als der Sippenzusammenhalt zerbricht. Bevor die freundschaftliche Beziehung aber erneuert wird, findet Amicus einen Ersatzvater, dessen Tochter er heiratet.26 Der Verlust des Vaters und der Herrschaft wird durch den Ersatzvaters, der Amicus seine Tochter – und damit Besitz und Herrschaft – übergibt, vorläufig wieder wettgemacht. Jedoch wird die Vertreibungssequenz im Folgenden verdoppelt: Als Aussätziger wird Amicus von seiner Ehefrau von seinem neuen Besitz vertrieben. Die Identitätsbeschädigung des Einzelnen, der aus dem Verwandtschaftsverband ausgestoßen wird, bildet ein dominantes Thema dieser Textgruppe. Nach der sozialen Neupositionierung geht die Suche nach dem Freund weiter. Die vorangegangene Episode relativiert indes die Deutung der Freundschaft als Surrogat für verlorene Konsanguinität: Der Tod des Vaters ist zwar der Auslöser zur Freundessuche, aber auch nachdem die Lücke geschlossen ist, wird die neue soziale Einbindung aus freien Stücken gelockert, um den Freund zu suchen. Die Freundschaft wird mithin höher bewertet als verwandtschaftliche Beziehungen und ist deshalb mehr _____________ 24
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Die Texte machen unterschiedliche Angaben, wer Amicus vertreibt: maligni homines (mittellange Vita, Vincentius 1624/1965, cap. clxii, S. 956, Sp. 1) („böse Männer“), sein aign leut (Andreas Kurzmann, Oettli 1986a, S. 152, V. 133) bis hin zu ungetrûwen hêren (Seelentrost, Wackernagel 1839, Sp. 981, Z. 24f.) gehören zum devianten Spektrum. – Innerhalb der zweiten Textgruppe findet allein im lateinischen Exempel keine Enteignung statt, dort sterben beide Väter und beide Söhne brechen gleichzeitig zur gegenseitigen Suche auf; vgl. Klapper 1914, S. 339, Z. 27-30. Vgl. etwa für die elaborierte Vita, Kölbing 1884, S. xcix, Z. 20f., und auch schon S. xcviii, Z. 37f. Die Heirat der Ritterstochter wird als Bekräftigung des Bündnisses zwischen den beiden Adligen beschrieben; vgl. etwa für die französische elaborierte Vita Moland / D’Héricault 1856, S. 45.
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als nur Ersatz oder Kompensation. Dies gilt ebenfalls für Amelius: Er verlässt freiwillig seine Besitztümer, um seinem Kameraden beizustehen. Seine soziale Situation in der Heimat bleibt unklar, allerdings wird seine herrschaftliche Position angedeutet, die zugunsten der Freundschaft aufgegeben wird: Proposuit ergo, se proprie possessionis patriam non rediturum, nisi prius inveniret Amicum, sapientem et inclytum militem (elaborierte Vita, Kölbing 1884, S. xcix, Z. 27-29).27 Vernachlässigter Besitz und ignoriertes Geblüt führen im Verlauf der Geschichte dazu, dass Amelius’ Herkunft und Erbland völlig aus dem Blick geraten. Seine spätere Einheirat in die königliche Familie markiert fortan seinen Status, auch wenn er weiter als Graf betitelt wird.28 Amicus dagegen erobert später seine vom Vater ererbte Herrschaft wieder zurück. Insgesamt avanciert in der legendenhaften Textgruppe (Gruppe 2) das Erzählen von den männlichen Vorfahren und ihren Substituten zur narrativen Sequenz, die die zweite Gruppe von der ersten unterscheidet.29 Gleichzeitig wird in diesen Texten die Zugehörigkeit zu einem Verwandtschaftssystem als ambivalent dargestellt. Die Problematik der Herrschaftsund Besitzübertragung wird hier allerdings nicht – wie in vielen anderen mittelalterlichen Texten – in der Konstellation einer belasteten VaterSohn-Beziehung repräsentiert. Stattdessen unterbricht der väterliche Tod das Kontinuum von Herrschaft und Herkunft, und spaltet den Sohn in unfreiwillige Isolation ab: Blutsverwandtschaft erliegt der äußeren Bedrohung, wenn die konkrete personale Beziehung zerstört und der Einzelne auf sich selbst gestellt ist. Verwandtschaft als quasi theoretisches Konzept versagt, wo Freundschaft als konkrete, politisch und emotional wirksame Bindung gefeiert wird. Erst nach der Ausbildung seiner Identität als Freund beweist Amicus auch seine herrschaftlichen Qualitäten, indem er das Verlorene zurückgewinnt. War er als Einzelperson gescheitert, wird die beschädigte Identität durch den Freundschaftsbund wiederhergestellt und vervollständigt. Herrschaftliches Versagen wird an die Figur des rangesniederen Gefährten gekoppelt: Dies bleibt das einzige Indiz für die Bedeutsamkeit der Statusdifferenz zwischen den Freunden: Zwischen den Kameraden selbst wird sie nicht thematisiert oder gar problematisiert. Verlust und Wiederherstellung von Amicus’ Machtbezirk erscheinen nur als Stationen, die auf dem Wege zu einer anderen identitären Stufe zu _____________ 27
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„Er entschloss sich dazu, dass er nicht in sein Heimatland und in sein eigenes Erbland zurückkehren würde, wenn er nicht zuvor Amicus, den weisen und berühmten Ritter, gefunden hätte“ (nach Kuefler 2000, S. 447). Anders als in den Texten der ersten Gruppe steigt Amelius nie zum König auf. In einigen Texten stirbt er zusammen mit Amicus noch vor seinem Schwiegervater Karl. Vgl. Einleitung 2. In den Minimalbearbeitungen ist diese Sequenz allerdings – wie die Bezeichnung der Textgruppe bereits sagt – minimal.
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absolvieren sind: Wie Amelius’ sozialer Aufstieg qua Heirat sind Amicus’ Bemühungen letztlich irrelevant, da die gemeinsame Freundesidentität im gemeinsamen Tod im Karlsheer gipfelt. Herrschaftsbestätigung und Rangerhöhung erscheinen aus dieser Perspektive als nur temporäre Ziele, die auf dem Wege der Überführung einer adligen in eine christlichreligiöse Identität hinter sich gelassen werden.30 Dies korrespondiert mit der nur zeitweiligen Bedeutsamkeit außerfreundschaftlicher Beziehungen. Damit ist ein deutlicher Unterschied zwischen den beiden Textgruppen bezeichnet: Sind in der zweiten Gruppe außer der Freundschaft letztlich alle Vergesellschaftungsformen sowie die an ihnen hängenden Statusschwankungen unerheblich, bleiben in der ersten Abstammung und erworbener Rang zumindest tendenziell bedeutsam. Besonders stark gewichtet wird der soziale Aufstieg in den Texten, in denen die Namen der Freunde stark voneinander differieren – also im Engelhard und in der Historia septem sapientum –, da hier die Gleichheit der Freunde in nicht unbeträchtlichem Maße darüber konstituiert wird, dass ihr jeweiliger Rang aneinander angeglichen wird. Die Freundschaft als zentrales Modell verdrängt hier nicht die anderen Beziehungsformen: Gerade aus der Verbindung von Freundschaft, Konsanguinität und Herrschaft resultiert die Stärke des sozialen Netzes. In der chanson de geste, die zur Gruppe der Grenzfälle gehört, sind ebenfalls Berry – und genauer: Bourges – und die Grafschaft Auvergne die Herkunftsorte der Freunde, allerdings mit vertauschter Zugehörigkeit: Amile kommt aus Berry und Ami aus der Grafschaft Auvergne.31 Der Rang bleibt zunächst merkwürdig vage, dann aber werden die Kameraden jeweils mit ‚Graf‘ angesprochen.32 Die Freunde reiten ohne soziale Zwänge aus: Sie verlassen ihre Ländereien und Familien, um einander zu suchen. Anlass scheint die gerade absolvierte Schwertleite zu sein: Li cuens Amis a prins armes nouvelles; / En icel jor a guerpie sa terre / et pere et mere [...] le conte Amile querre (Dembowski 1987, V. 44-46, V. 48).33 Die zuvor ausführlich beschriebene Ähnlichkeit der beiden und nicht etwa soziale Isolation treibt die Freunde zur Suche. Die freiwillige Abwendung von Sippe und Land ist endgültig: Keiner der beiden wird in sein ursprüngliches Herrschaftsgebiet zurückkehren.34 Amile bekommt mit der Prinzessin Belissant _____________ 30 31 32 33 34
Diese Konzeption kann freilich nicht für die Texte veranschlagt werden, die die Episode im Karlsheer nicht beinhalten. Vgl. Dembowski 1987, V. 34f. und V. 48. Vgl. etwa Dembowski 1987, V. 44 und V. 48. „Graf Ami hat sich mit neuen Waffen gerüstet. An diesem Tag hat er sein Land und Vater und Mutter [...] verlassen, um den Grafen Amile zu suchen.“ Jedenfalls nicht als Herrscher: Ami macht während seiner Aussatz-Odyssee einen Zwischenstopp in Clermont in der Auvergne, wird aber von seinen Brüdern verjagt (Dem-
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die Stadt Rivière und Ami geht mit Lubias nach Blaye.35 Nachdem der aussätzige Ami verstoßen wurde, fordert er Blaye, nicht aber die Auvergne zurück. Beide Freunde lassen abermals ihr – nun durch Heirat erworbenes – Land sowie ihre Familien zurück, um gemeinsam ins Heilige Land zu reisen und auf der Rückreise zu sterben: Das Heilige Grab und die Pilgerstätte Mortara, die das Grab der Freunde beherbergt, figurieren als ihre eigentlichen Domänen. Christliche Sinngebung triumphiert auch hier über die Bindung adliger Identität ans Erbland. Ähnlich wie die hagiographischen Texte favorisiert die chanson de geste deutlich das Freundschaftsmodell als grundsätzliche identitätsstiftende Sozialform, indem die Gefährten alle anderen Bindungen verlassen und der vereinte Tod ihre gemeinsame Identität endgültig bestätigt. Die Bedeutung des Verwandtschaftssystems, das die Freunde in einem Clan positioniert, wird aus handlungsdynamischer Sicht ausgeklammert. Es dient – wie in Radulfus Tortarius’ Text und in Lille 130 – lediglich dazu, ihre adlige Abstammung zu bestätigen. Im Miracle, dem anderen Grenzfall-Text, wird die Abstammung der Gefährten völlig zugunsten des Geschehens ausgeblendet. Allein die Anrede Sire36 sowie die Betätigung der Freunde als Kämpfer in Karls Heer verweisen auf ihre adlige Herkunft. Wie in der chanson de geste sind es die Städte Blaye und Rivière,37 in denen die Freunde mit ihrer Hochzeit die Herrschaft antreten, um am Schluss für Amis’ Heilung vereint Gott zu danken. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Bedeutsamkeit der (männlichen) Vorfahren sich auf das Konzept beschränken kann, dass adliges Blut als identitäre Voraussetzung für die Freunde gesetzt wird. Handlungsdynamische und weiterführende identitätsbildende Funktionen von Verwandtschaft sind in der ersten Textgruppe etwa in Radulfus Tortarius und in Lille 130 sowie in den Grenzfällen völlig ausgeklammert. In der anglonormannischen und der mittelenglischen Bearbeitung tritt Amylion Erbe und Herrschaft an, für Amys aber bleibt seine Abstammung letztlich wirkungslos. Tod und Abwesenheit der Väter markieren diese unkomplizierten Konstellationen. Im Engelhard und in der Historia septem sapientum, die aufgrund der deutlich unterscheidbaren Freundesnamen eine eigene Untergruppe innerhalb der ersten Textgruppe bilden, übernehmen die ranghöheren Freunde ebenfalls problemlos die vererbte Macht nach dem Ableben des Vaters. Die rangniederen Protagonisten vereinen sich nach _____________ 35 36 37
bowski 1987, L. 129-131), außerdem durchquert er Bourges und Berry (Dembowski 1987, L. 134). Vgl. Kap. I.2.3. Radulfus Tortarius nennt Blaye als Amicus’ Herkunftsort; vgl. Ogle / Schullian 1933, V. 125f. Vgl. Paris / Robert 1879, V. 114, V. 118, V. 332, V. 544 und V. 730. Vgl. Paris / Robert 1879, V. 363 und V. 1149.
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ihrem sozialen Aufstieg stets mit ihrer ursprünglichen Familie, doch kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Status des jeweiligen Freundes nicht aus blutsverwandtschaftlicher Kontinuität erwachsen ist, sondern über andere Bündnisse hergestellt wurde. Eine Gemeinsamkeit dieser Untergruppe im Gegensatz zu den anderen Texten besteht darin, dass die Blutsverwandten der ursprünglich rangniederen Freunde schließlich quasi den Platz des Freundes einnehmen: In der Historia septem sapientum verbringen die Gefährten nach den Freundschaftsprüfungen nicht ihr restliches Leben zusammen, sondern treten jeweils ihre Herrschaft an. Die ultimative Gleichheit der Freunde wird hier über ihre politische Macht, nicht über körperliche Nähe codiert. An der Seite Alexanders sind nun die leiblichen Eltern, nicht mehr der Freund. Im Engelhard holt der Titelheld seine männlichen Blutsverwandten bereits nach der ersten Freundschaftsprüfung zu sich. Die auffällige Akzentuierung der Blutsverwandtschaft in den Fällen, in denen sie Besitz und Macht nicht verbürgen kann, deutet in ihrer Verschiebung auf die Problematik hin: Geblüt und lignage sind in der Logik eines adligen Weltverständnisses trotz der dominanten Freundschaft zentrale Konstituenten adliger Identität. Trotz Schwierigkeiten bei der Übertragung von Herrschaft und Gut trennen sich die Protagonisten nicht endgültig vom blutsverwandtschaftlichen Sozialverband, obgleich Freundschaft und Eigenleistung zum Herrschaftserwerb führen. Versagt der Sippenverband zunächst bei der Verleihung sicherer Identität, funktioniert er im Anschluss dennoch als sichtbarer Marker von Adel: Durch den sozialen Aufstieg, der sich auch auf die Angehörigen des Familienclans erstreckt, werden die adligen Körper aufgewertet, so dass die leibliche Anwesenheit der – nun rangerhöhten – Verwandten den Status des ehemals rangniederen Freundes nochmals steigert. Problematische Verwandtschaft wird am Ende aufgehoben, indem die Sippe durch den jeweiligen Freund jeweils neu konstituiert wird. Elisabeth Schmid hat dargestellt, dass in Konrads Engelhard die problematische soziale Differenz zwischen den Freunden erst dann endgültig aufgehoben wird, als auch Engelhard eine hochadlige Familie vorweisen kann. „Soziale Stabilität bedeutet für ihn [...] nicht bereits die Erheiratung feudaler Macht, sondern die Besetzung des ihm ex uxoris parte zugefallenen Herrschaftsbereichs mit seiner angestammten Verwandtschaft.“38 Schmid arbeitet die grundsätzliche Bedeutung des Familienverbandes heraus, dessen Beständigkeit allerdings nur durch die Freundestreue garantiert werden kann. Uneingeschränkte Gleichheit zwischen den Freunden kann umgekehrt nur über gleichwertige Abstammungsfamilien hergestellt werden. Dies gilt indes ausschließlich für den Engelhard, der aus seinem Vater _____________ 38
Schmid 2004, S. 44f.
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und seinen Brüdern herzogen unde grâven (Reiffenstein 1982, V. 5121) macht. Trotz analoger Konstellation in der Historia septem sapientum steht die Statusgleichheit der Gefährten schon vor Alexanders Wiedervereinigung mit seinen Eltern fest, da er sich bereits vor der Hochzeit als Sohn des Königs von Ägypten bezeichnen kann und gar nicht auf seine leiblichen Eltern rekurrieren muss. Nichtsdestotrotz wird mit der Aufwertung seiner Eltern auch sein eigener Status nochmals gesteigert und die Bedeutsamkeit verwandtschaftlicher Bindungen herausgestellt. Der christlich-religiöse Deutungshorizont der zweiten Textgruppe manifestiert sich unter anderem in einer Ambivalenz des Verwandtschaftskonzepts: Zwar verbürgen die Väter der Freunde Religiosität und Freundschaft, die sie auf die Söhne übertragen, und bilden eine Dimension des männlichen Universums der Texte. Das System der Erbfolge wird jedoch insgesamt als bedrohlich wahrgenommen: Damit wird Verwandtschaft, über die eigentlich Herrschaftssicherung transportiert werden soll, als dysfunktional desavouiert. Stattdessen wird der ausgelöste Leidensweg hier bereits zur Stilisierung zumindest eines der Helden als Heiligen genutzt, indem ihm eine christusmäßige Veranlagung zugeschrieben wird. Die Bedrohlichkeit und Unsicherheit verwandtschaftlicher Bindungen wird durch das Motiv der Verstoßung des aussätzigen Freundes durch seine Ehefrau in allen Texten nochmals durchgängig ins Bild gesetzt. Der Verlust der blutsverwandtschaftlichen Einbindung erscheint gleichzeitig als Voraussetzung für die Entstehung der Freundschaft als alternativem Beziehungsmodell. Obgleich Amicus die an seine Herkunft geknüpften Aufgaben erfüllt, ist der Rückgewinn seiner Herrschaft nicht in allen Texten der Kulminationspunkt seiner Identität. Für Amelius bleiben seine verwandtschaftlichen Bindungen nach dem Auszug völlig irrelevant. Abwesenheit und Tod kennzeichnen die agnatische Linie, die der Freundschaft den Platz räumt: Das einzige erstrebenswerte und dauerhaft Identität garantierende Modell ist die Freundschaft, die von der Kindheit bis zum Tode währt. Der Ambivalenz des Verwandtschaftsmodells wird die idealisierte Freundschaft entgegengestellt, die zunächst als Ersatzbindung für den Verlust der Verwandtschaft zu fungieren scheint, aber durch einen größeren Zusammenhalt gekennzeichnet ist, wirksameren Schutz vor Bedrohungen bietet und sich effektiver bei der Konstitution von Identität und Herrschaft erweist.
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1.2. Väter und Söhne II: Das Opfer und die Krise der Gleichheit Das wirkmächtigste blutsverwandtschaftliche Band in den Amicus-AmeliusTexten ist das zwischen dem gesunden Freund und seinen Kindern. Die Beziehung wird schlaglichtartig durch den Umgang des Freundes mit seinen Söhnen beleuchtet: Indem er sie für seinen Gefährten opfert, kennzeichnet er deutlich das hierarchische Konzept des Textkorpus hinsichtlich der Bewertung verschiedener Vergesellschaftungsformen. Die Wirkmächtigkeit der verwandtschaftlichen Bindung zeigt sich folglich auf verschobener Ebene, indem sie nicht für sich selbst steht, sondern auf die Freundschaftsrettung verweist. Ist eine tatsächliche Beziehung zwischen den Freunden und ihren Vätern entweder – wie in der ersten Textgruppe – nicht existent oder – wie in der zweiten Textgruppe – durch die Verknüpfung mit Herrschaftskontinuität problembehaftet, wird die Darstellung der Konfliktträchtigkeit verwandtschaftlicher Bindungen in der Wiederholung der Vater-SohnBeziehung in der nächsten Generation radikalisiert: Indem der Freund die eigenen Kinder tötet, zerstört er den Zusammenhalt der Sippe und die dynastische Kontinuität der Abstammungsfamilie.39 Der gewaltsame Tod der Leibeserben setzt die Gefährdung des verwandtschaftlichen Systems deutlich in Szene: Von der Zerrüttung des Clans in der ersten Generation zur Zerstörung der Familie durch ihr Oberhaupt in der zweiten schreitet die genealogische Desorganisation voran. Finn Sinclair hat für die chanson de geste Ami et Amile darauf hingewiesen, dass „[s]ocial connection, progression, and continuation, all theoretically epic ideals, here conflict with the text’s desire to retain the idealised vision of the unified, doubled, masculine body“40. Das Blutvergießen geschieht zwar in Gottes Auftrag und endet mit der – für die Protagonisten nicht vorhersehbaren – Auferstehung der Kinder, aber diese religiöse Legitimation verschleiert nur unzulänglich die offene Bedrohung der lignage durch die Kriegerfreundschaft. Zwar wird das Blutvergießen positiviert und die Familie durch göttlichen Eingriff restituiert, doch die in vielen Texten folgende Abwendung der Freunde von ihren Familien, um zu zweit in den Tod zu gehen, zeigt nochmals das vorherrschende Desinteresse der Gefährten an herkömmlichen Formen von Sippe und Dynastie. Stattdessen werden bestimmte _____________ 39
40
Vgl. Brinker-von der Heyde 2004, S. 16, zur Unterscheidung von Abstammungsfamilie (vertikales Konzept der Dynastie) und Verwandtschaftsfamilie (horizontales Konzept der Sippe). Sinclair 2008, S. 198. An anderer Stelle benennt er dieses Prinzip als zirkuläres („circularity of narrative“, Sinclair 2003, S. 134), für das lineare Konzepte – wie das der Genealogie – geopfert werden.
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Bedeutungskomponenten vom Verwandtschaftssystem abgespalten und der Freundschaft einverleibt.41 Eine ursprünglich an das Verwandtschaftskonzept gekoppelte Substanz ist das Blut: Wie ich bereits demonstriert habe, signifiziert das von einem auf den anderen Freund übertragene Blut eine Einheit, die als quasi-verwandtschaftliche Bindung imaginiert wird. Das geteilte Blut verbürgt zum einen gemeinsame Identität, lenkt zum anderen aber den Blick auf die Gewalt: Das vergossene Blut der Söhne, das als Heilmittel auf den Körper des aussätzigen Freundes aufgetragen wird, ist sichtbares Zeichen der vorangegangenen Gewalttat. Die Ausübung göttlich legitimierter Gewalt verweist auf die Mechanismen des Opfers, wie René Girard sie beschrieben hat.42 Gesellschaftszerstörende Gewalt wird auf ein stellvertretendes Opfer abgeleitet: Gewalt wird mit einem Akt heiliger Gewalt, der keine weitere Gewalt nach sich zieht, eingedämmt. Die destruktive Gewalt, die es in den Amicus-Amelius-Texten zu begrenzen gilt, war bei der – rechtlich gesehen – illegitimen Hinrichtung des Verräters im Zweikampf bzw. schon bei der Vergewaltigung der Herrschertochter ausgebrochen.43 Die ansteckende, unreine Krankheit, die den Freund befällt, der im Zweikampf Gewalt ausgeübt hatte, macht sinnfällig, dass die Gewalt weiterschwelt und nicht zum Stillstand gekommen ist. Der aussätzige Freund figuriert als unreiner, blutrünstiger Krieger, dessen deformierter Körper das unrechtmäßig vergossene Blut signifiziert. Die drohende Ausbreitung der Gewalt wird mit der des Aussatzes gleichgesetzt, da sowohl der Gewalt als auch der Erkrankung eine infizierende, verderbliche Kraft innewohnt, die die Gesellschaft gefährdet.44 Um sozial bedrohliche Gewalttätigkeiten zu beenden, bedarf es einer Opferhandlung: Das Opfer schützt die ganze Gemeinschaft vor ihrer eigenen Gewalt, es lenkt die ganze Gemeinschaft auf andere Opfer außerhalb ihrer selbst. Die Opferung zieht die überall vorhandenen Ansätze zu Zwistigkeiten auf das Opfer und zerstreut sie zugleich, indem sie sie teilweise beschwichtigt (S. 18; Hervorhebung im Original).
Damit diese Strategie erfolgreich ist, muss es sich beim Opfer um marginalisierte Personen handeln, deren Tötung aufgrund ihrer fehlenden sozialen Einbindung keine Vergeltung auslöst: Genau dieser Kreislauf der eska_____________ 41 42 43 44
Vgl. Kap. I.2.3. Das Folgende nach Girard 1992, bes. Kap. 1. Die Seitenangaben hinter den folgenden Zitaten beziehen sich auf diese Ausgabe. Siehe Kap. II.2.3. und II.3.3. In der Tat entspricht dieses Bild genau dem von Girard 1992, S. 46-54, beschriebenen Bedeutungskomplex von ritueller Unreinheit und Ansteckungsgefahr, die von Gewalt ausgeht: Gewalt wird mit ansteckenden Krankheiten gleichgesetzt. „Die Gewalt hat sich in eine Art Fluidum verwandelt, das die Objekte durchdringt und dessen Verbreitung rein physischen Gesetzen zu gehorchen scheint“ (S. 47).
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lierenden Gewalt soll mit der Opferung ja durchbrochen werden. Gleichzeitig erfüllt das Opfer eine Stellvertreterfunktion: Es muss dem eigentlichen Schuldigen aufgrund einer Ähnlichkeitsrelation zugeordnet werden können. Es muss also zugleich ein Zusammenhang und ein Unterschied sichtbar sein. Die Kinder des gesunden Freundes verfügen über alle erforderlichen Attribute eines Opfers: Sie sind aufgrund ihres geringen Alters noch unzureichend in die Familie integriert, sind darüber hinaus ohnehin racheunfähig, da ihr eigener Vater sie tötet.45 Gleichwohl stehen sie in einem engen identitären Zusammenhang mit ihrem Vater (und dessen Freund), und erfüllen damit die gleichzeitige Kontinuitäts-DifferenzBeziehung, die für ein Gelingen des Opfers obligatorisch ist.46 Der – in der Terminologie Girards – unrechten Gewalt, bei der unreines Blut geflossen ist, wird im Opferungsakt mit heiliger Gewalt begegnet. Diese ist durch das Vergießen reinen Blutes gekennzeichnet. Unreinheit wird – im buchstäblichen Sinn – mit reinem Blut abgewaschen: Aussatz und schwelende Gewaltsamkeit verschwinden mithilfe des Opfers; die gelungene Eindämmung der Gewalt zeigt sich in der augenblicklichen Heilung des Freundes, der nun keine Zeichen zerstörerischer Gewalt mehr auf seinem Körper trägt. Blut und Gewalt unterliegen in dieser Konstellation einer doppelten Bedeutungsformation: Erscheinen sie zum einen als Anzeiger und Auslöser destruktiver, bedrohlicher Kräfte, fungieren sie zum anderen als Heilmittel und Gegentaktik ebendieser Energien.47 Die Wirksamkeit dieser Paradoxie beruht auf der kategorialen Unterscheidung von immanenter und transzendenter Gewalt, die eine Differenzierung des vergossenen Blutes ermöglicht. In den Amicus-Amelius-Texten ist die Heiligkeit der Opfergewalt deutlich durch Gottes Anordnung gekennzeichnet:48 Einzig die drastische Bluttat kann die vorgängige illegitime – aber von Gott geduldete – Gewalt suspendieren. Der Mechanismus des Opfers erscheint im Amicus-Amelius-Korpus indes nicht als gesellschaftlich anerkanntes Handeln, das offen verhandelt wird, sondern als in die Freundschaftsprobe eingebetteter Untertext, der die symbolischen Zusammenhänge aufgreift und verbildlicht.49 _____________ 45 46 47 48
49
Nichtsdestotrotz wird in einigen Texten eine Bestrafung befürchtet. Vgl. I.2.3. Diese „Verschiebung“ oder „Verkennung“ (Girard 1992, S. 15) ist ein notwendiger Mechanismus des Opfers, der allerdings nicht „offenkundig“ (S. 15) ist, also von den Beteiligten nicht gewusst wird. Siehe Girard 1992, S. 59-61, zur Doppelnatur der Gewalt und des Blutes. Dies trifft nicht für Radulfus Tortarius’ Bearbeitung und für die zur Historia septem sapientum gehörende Gießener Hs. 104 zu. Nicht Gott, sondern Ärzte verordnen dem Kranken das Kinderblut. In diesem Kontext ist auch die Heimlichkeit der Opferhandlung in den Amicus-AmeliusTexten zu erklären, die ansonsten einen Widerspruch bildete, da ein heimliches Opfer in den beschriebenen Zusammenhängen kaum wirksam sein kann.
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Die Doppelnatur von Blut und Gewalt findet sich nicht nur im Bedeutungskomplex des Opfermechanismus, sondern auch im Bereich adligen Selbstverständnisses: Blut figuriert einerseits als Signifikant adliger Identität, das in den Adern aller Blutsverwandten fließt und geflossen ist, und verbürgt so Charisma und Herrschaft. Andererseits markiert vergossenes Blut auch in diesem Rahmen eine Gewalttat: Die Ausübung von Gewalt wie das Tragen von Waffen aber sind Vorrechte adliger Herren, so dass Blut in diesem Zusammenhang auf einen Verhaltensmodus verweist, der adlige, männliche Identität konstituiert. Diese beiden Bedeutungskomponenten des Blutes ergänzen einander und verankern adlige Männlichkeit im Körper wie im Verhalten. Zugleich verweist aber das durch Gewalt vergossene Blut auf die Zwiespältigkeit gewalttätigen Verhaltens, die Fischer / Völker als ‚Dialektik der Gewalt‘ bezeichnet haben.50 Zum einen eignet der Gewalt eine konstitutive Funktion, da feudale Gesellschaftlichkeit über das gewaltsame Handeln einzelner Adliger erst hergestellt wird. Definiert sich jeder männliche Adlige über Waffenfähigkeit und Gewaltdemonstration, stellt dies zum anderen aber stets eine Bedrohung der Ordnung dar: Die friedliche Vereinigung adliger Herren ist unter diesen Umständen immer prekär und störanfällig, da Normen friedlichen Umgangs gemäß innerer Hierarchien und Ausübung von Gewalt schwer zu vereinbarende, ja diametral entgegengesetzte Handlungsmuster bilden. Die permanente Latenz der Gewalt kann jederzeit in offene Feindseligkeit umschlagen und so feudale Sozialität zersetzen. „[D]as Moment von subjektiver Willkür, das in jeder persönlichen Gewaltanwendung enthalten ist, vermag die gesellschaftliche Ordnung zu zerstören; gleichwohl bleibt die Gewalt auch Bedingung ihrer Existenz.“51 All diese Komponenten fügen sich in der Kindesopferszene des Amicus-Amelius-Korpus zu einem komplexen Bedeutungsgefüge zusammen. Die Texte diskutieren nicht nur den Mechanismus des Opferungsritus, bei dem durch einen heiligen Gewaltakt zerstörerische Gewalt endgültig beendet wird, und in dem der Träger unreinen Blutes durch reines Blut gereinigt und geheilt wird. Das Blut wird auch als greifbare Substanz adliger Identität und männlicher Filiation zur Stärkung und ‚Verwandtschaftlichung‘ des Freundschaftsbundes eingesetzt. Die Gewalttat verweist aber nicht nur auf die göttliche Legitimierung der als heilig zu kennzeichnenden Gewalt. Hinzu kommt, dass Gewaltausübung als genuin männlicher Handlungsmodus gekennzeichnet wird. Die analogen Aktivitäten in Zweikampf und Kindesopfer sowie die Annäherung der Freundschaft an ver_____________ 50 51
Fischer / Völker 1975. Fischer / Völker 1975, S. 100.
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wandtschaftliche Deutungszusammenhänge verweisen bereits auf die Bedeutsamkeit der Gleichheit, die die Freundschaft definiert. Gleichheit wird zusätzlich ganz konkret durch das vergossene Blut wiederhergestellt: War die Gestaltgleichheit der Gefährten durch den Aussatz zerstört worden, wird sie nun durch das reine Opferblut rekonstituiert. Die Opferung antwortet mithin auf eine Krise der Gleichheit, die die Freundschaft bedrohte. Die Rekonstruktion der ununterscheidbaren Freundesleiber erscheint als primäres Ziel des Opferaktes. Damit inszeniert das Amicus-Amelius-Korpus eine entscheidende Differenz hinsichtlich der von Girard geschilderten Zusammenhänge von Opfer und Gewalt: Hatte Girard eine Krise der Unterschiede als Auslöser zerstörerischer Gewalt ermittelt,52 so wird in den Amicus-Amelius-Texten eine Krise der Gleichheit verhandelt. Girard hat die kulturelle Ordnung als „ein organisiertes System von Unterschieden“53 beschrieben, das gefährdet wird, sobald die Differenzen sich auflösen. In den Amicus-AmeliusTexten aber soll gerade die Differenz zwischen den Freunden, die sich im Aussatz manifestiert, ausgelöscht und die ideale Gleichheit der Freundeskörper wiederhergestellt werden. Die aus dieser Krise der Gleichheit resultierenden Gewaltausbrüche werden letztlich eingedämmt; die Krise wird behoben, indem Gleichheit durch die dargestellten Bedeutungszusammenhänge nicht nur restauriert, sondern in noch höherem Maße als zuvor als zentrales Konstituens freundschaftlicher Identität installiert wird. All diese Bedeutungsebenen verleihen der Freundschaft ein stabiles Stützwerk, das sie in verschiedenen Diskursen fest verankert und ihre Beständigkeit und Priorität gewährleistet. Aus der entgegengesetzten Perspektive – nämlich aus der der Freundschaft untergeordneten Bündnisse – wird indes nicht die strahlende Vorbildlichkeit der Freundschaft, sondern ihre dunkle Seite und ihr „destruktive[s] Potential“54 hervorgetrieben. 1.3. Der Sonderfall der chanson de geste Ami et Amile: Der Verräterclan als Bedrohung Der Blutsverwandtschaft wird in der chanson de geste auf narrativer Ebene jegliche Bedeutsamkeit für die Identitätsbildung der Freunde abgesprochen. Abgesehen von der Gewährleistung ursprünglicher adliger Identität, auf der die Gefährten ihre Freundesidentität aufbauen, wird die Verbindung zum Familienclan nur ein einziges Mal erwähnt: Der aussätzige Ami _____________ 52 53 54
Vgl. Girard 1992, S. 77-81. Girard 1992, S. 77 Von Bloh 2005, S. 358.
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reist nach seiner Vertreibung aus Blaye zunächst zum Papst und begibt sich dann nach Clermont und bittet seine Brüder um Hilfe. Der vom Aussatz Gezeichnete beschwört explizit die Blutsbande, um Unterstützung zu erwirken: Ja fumez noz d’un seul pere engendré / Et d’unne mere fumez noz tuit troi né (Dembowski 1987, V. 2526f.).55 Seine Brüder aber weisen ihn zurück: Erkennt der erste Bruder Ami aufgrund der entstellenden Krankheit zunächst nicht als Bruder an, weist ihn sein anderer Bruder auch noch zurück, nachdem seine Identität einwandfrei von den Bewohnern der Stadt bestätigt wurde. Sire malades (V. 2533, V. 2557)56 nennen die Brüder ihn und rekurrieren so auf die Leibesdegeneration, die Ami nun zu definieren scheint. Als der Jüngere das Maultier misshandelt, auf dem Ami sitzt, stürzt Ami und blutet am ganzen Körper. Das Maultier als Zeichen der beschädigten adligen Identität und das vergossene Blut, das an dieser Stelle Konsanguinität nicht mehr verbürgen kann und stattdessen die Gewalt der Brüder gegen Ami anzeigt, vereinen sich zu einem prägnanten Bild, das das Ausmaß von Amis defekter Identität sowie die Bedrohlichkeit und Unzuverlässigkeit verwandtschaftlicher Relationen deutlich macht. Die Aussage des jüngeren der Brüder, Ami noz laissa cette bonne maison / Quant en soudees s’en ala a Charlon (V. 2547f.),57 verweist möglicherweise auf den Umstand, dass Ami der Erstgeborene ist, zumindest aber einen gewissen Anspruch auf das Erbe hat: Die Ablehnung seiner Brüder erklärte sich dann nicht nur aus dem körperlichen Zerfall, sondern würde eine Rivalität der Brüder um den Besitz nahelegen. Wieder handelt es sich um ein rein männliches Beziehungssystem, das allerdings nicht über Zusammenhalt, sondern über Konkurrenz bestimmt ist.58 Der negativen Inszenierung von Verwandtschaft in dieser kurzen Episode entspricht ein Entwurf verwandtschaftlicher Zusammenhänge, der nicht an das Freundespaar gekoppelt ist. Repräsentanten verwandtschaftlicher Vergemeinschaftung treten den Freunden stattdessen als Gegner gegenüber. Hardré und seine Nichte Lubias sind Personifizierungen dieser für die Freunde bedrohlichen Vergesellschaftungsform. Zunächst tritt _____________ 55 56 57 58
„Sind wir nicht von einem Vater gezeugt und alle drei von einer Mutter geboren?“ (Vielhauer 1979, S. 87) „Herr Kranker“ (Vielhauer 1979, S. 87) Ami „[hat] uns das schöne Haus überlassen [...], als er in die Dienste des Kaisers trat“ (Vielhauer 1979, S. 87). Allerdings war zu Beginn des Textes von weiteren Familienmitgliedern die Rede, die Ami zurücklässt: Et pere et mere, serors et dammoiselles / Et quatre freres a laissiéz en Auvergne (Dembowski 1987, V. 46f.). („Vater und Mutter, Schwestern und Gespielinnen und vier Brüder [ließ er in der Auvergne] zurück“, Vielhauer 1979, S. 35.) Dass sich von all diesen Personen nur noch zwei Brüder in Clermont aufhalten, spricht dafür, dass es sich bei der beschriebenen Sequenz um einen Herrschaftskonflikt handelt: Die Abwesenheit der anderen Angehörigen signalisiert, dass sie keinen Anspruch auf Clermont haben.
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Hardré als einzelner Intrigant auf, der den Untergang der Gefährten betreibt. Dann aber verdoppelt sich mit Lubias die Gefahr für die Kameraden. Amis Heirat mit Lubias spaltet die Einheit der Freunde zumindest temporär auf. Zwar kehrt Ami nach kurzer Zeit in Blaye an den Karlshof zurück, verlässt aber nach sieben Jahren seinen Freund, um Gattin und Sohn zu sehen. Nun endlich kann Hardré sich Amile nähern. Wie bereits beschrieben,59 bringt Hardré Amile trotz Amis Warnung dazu, mit ihm eine Art von Bündnis einzugehen. Sowohl Hardré als auch Lubias aber arbeiten auf das Verderben der Freunde hin. Während Hardré das gemeinsame Beilager von Amile und Belissant dem Kaiser offenbart und so den Zweikampf erwirkt, schwärzt Lubias Amile bei Ami an, ist ungehorsam und vertreibt schließlich ihren aussätzigen Ehegatten. Indem Lubias Ami verstößt, zeigt sie ihre deutliche Favorisierung der Blutsverwandtschaft, die an körperlich sichtbaren Adel geknüpft ist. Wurde Ami nach seiner Einheirat ohnehin weiter als Zugehöriger zum Freundesbund und nicht zu Hardrés Sippe wahrgenommen, zeigt sein körperlicher Zerfall, dass er nicht nur nicht als schützenswertes Familienmitglied gilt, sondern dass die Krankheit für Lubias einen willkommenen Anlass bietet, sich seiner zu entledigen. Die Bedrohlichkeit des fremden Verwandtschaftsverbandes, zu dem die Widersacher der Freunde gehören, zeigt sich weiter beim Gottesurteil: Hardrés verwandtschaftliche Einbindung garantiert ihm zunächst, dass er problemlos sechzig Bürgen aufstellen kann. [P]lus de seissante […]/ Couzin ou frere, tuit furent d’un paraige (V. 768f.)60 treten für Hardré ein, während Amile auf keine derartige Unterstützung hoffen kann. Der Kaiser will Amile daraufhin schon enthaupten, als sich in letzter Sekunde die Königin mit ihren zwei Kindern meldet und so bereits vor der späteren Heirat Amiles mit Belissant eine Ersatzfamilie konstituiert.61 Nachdem Ami, der mittlerweile Amiles Platz eingenommen hat, Hardré im Zweikampf getötet hat, lehnt er zunächst die Heirat mit der Prinzessin ab. Er begründet dies mit der Anwesenheit von Hardrés mächtiger Sippe: Non ferai certez, ce li respont Amis, Car dans Hardréz fu bien de cest païs, Asséz i a et parens et couzins, En traïson m’avroient tost ocis. (V. 1726-29)62
_____________ 59 60 61 62
Vgl. Kap. I.2.1. „mehr als sechzig [..] Vettern oder Brüder, alles Verwandte“ Vgl. Dembowski 1987, L. 45f. „Das werde ich sicher nicht tun, denn schließlich stammt ja Hardré aus diesem Gebiet und es leben genug Leute aus seiner Sippe hier, deren Rache [eigentlich: Verrat; S.W.] ich bald zum Opfer fallen werde“ (Vielhauer 1979, S. 69).
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Karl verspricht, Hardrés Leichnam zu schänden, und bietet überdies Schutz an. Jetzt erst reitet Ami mit Karl vom Kampfplatz nach Paris zurück. Nach Amis Rückkehr nach Blaye und dem Rücktausch der Freundesidentitäten bedroht Lubias Amile, denn sie muss davon ausgehen, dass er Hardré getötet hat: Ainz le ferai en ma chartre lancier, / Damme sui de la ville (V. 2021f.).63 Sie bezweifelt die Rechtmäßigkeit der Vorgänge in Paris und nimmt überdies ihre Aufgabe der Verteidigung des Sippenkörpers wahr, als sie mit Vergeltung droht. Dass dieses Vorgehen in Gegenwart ihres Ehemannes gefährlich werden könnte, zeigt die Aussage Se je vif tant que veingne a l’esclairier (V. 2019).64 Doch Ami unternimmt nichts gegen Lubias, sondern warnt seinen Gefährten und rät zur sofortigen Abreise, so dass die Sache im Sande verläuft. Eine weitere Episode, die Hardrés Einordnung in ein Verwandtschaftssystem beleuchtet, ist die um Hardrés Patensohn Aulori. Zwischen den beiden Kampftagen des Duells mit Ami, den Hardré für Amile hält, ermahnt Hardré sein Patenkind, sich von gemeinhin als vorbildlich angesehenen Verhaltensmodi abzuwenden. Stattdessen propagiert er Devianz und ungerechtfertigte Gewalt als angemessenes Auftreten, um sich Gunst und Ansehen zu verschaffen. Seine Aufforderungen n’aiez cure de Dammeldeu servir (V. 1626), Ardéz les villes, les bors et les maisnils (V. 1630) und Metéz par terre autex et crucefiz (V. 1631)65 münden schließlich in eine offene Absage an Gott: Weil Hardré tags zuvor in Gottes Namen gekämpft hatte, ohne sichtbare Unterstützung zu erlangen, wendet er sich nun an den Teufel. Amis Verhalten wird kontrastiv dagegengesetzt, indem er vor dem Kampf als betend dargestellt wird. Erscheint Hardrés Auftreten als weiterer Beweis seiner Schlechtigkeit, transportiert die Szene durchaus eine ambivalente Bedeutung. Denn Hardrés Rekrutierung seines Patensohns für das Böse und seine Abkehr vom Glauben sind eine Reaktion auf den bislang erfolglosen Zweikampf, in dem er doch – wie er glaubt – die gerechte und ehrliche Seite einnimmt. Das erfolgreiche Betrugsmanöver der Freunde ist der Auslöser für Hardrés Untergang: Hatte Ami ihm schon vorher arg zugesetzt, kann er ihn nach der Gotteslästerung ohne Umschweife enthaupten. Aulori aber scheint Hardrés Erbe anzutreten, denn er versichert seinem parrins (V. 1633), sich ganz dem Bösen zu verschreiben. Hardrés Tod löst zwar den lebensbedrohlichen Konflikt um die Ehre Amiles und Belissants, seine Sippe aber bleibt bestehen. _____________ 63 64 65
„[I]n den Kerker lasse ich ihn werfen; ich bin ja die Herrin der Stadt“ (Vielhauer 1979, S. 76). „wenn ich morgen früh noch am Leben bin“ (Vielhauer 1979, S. 76) „[V]ersuche nicht, Gott zu dienen“; „Lass Städte, Dörfer und Gehöfte niederbrennen, Altäre und Kruzifixe umstürzen“ (Vielhauer 1979, S. 67).
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Der Entwurf eines Verräterclans als Widersacher der Freunde negativiert in der chanson de geste das Verwandtschaftssystem als Form des sozialen Zusammenhalts. Sind die unantastbaren Gefährten fast ausschließlich in der gegenseitigen Freundschaft verankert, situieren sich ihre Gegner in einem Geschlecht, das Bösartigkeit und Neid über das Blut zu vererben scheint. Im Gegensatz zur rein männlichen Freundschaft umfasst die Genealogie der Bösewichte mit Lubias auch eine Frau. Das herkömmliche Konzept verwandtschaftlicher Kontinuität wird vom Text abgewertet und als Negativfolie dem gefeierten Freundschaftsbund entgegengestellt. Die Wirkmächtigkeit des Verräterclans offenbart sich nicht nur darin, dass er die Freundschaft zwischen Ami und Amile bedroht. Die verwandtschaftlichen Zusammenhänge zwischen den Übeltätern funktionieren auch über Textgrenzen hinweg. Die chanson de geste Ami et Amile ist zusammen mit vier weiteren Texten in einer Handschrift aus dem 13. Jahrhundert überliefert (Paris, Bibliothèque Nationale, fonds français 860), in welcher folgende chansons de geste vereint sind: Roland; Gaydon; Ami et Amile; Jourdain de Blaye; Auberi le Bourgignon.66 Simon Gaunt hat den thematischen Zusammenhang der versammelten Texte beschrieben als „male bonding and treachery, [...] the elevation of male bonding as an absolute ideal on the one hand, and the threat to it on the other.“67 In diesen Texten agiert die Schurkendynastie, zu der auch Hardré gehört. Beginnend mit Ganelon in der chanson de Roland finden sich Ganelons Verwandte auch in Gaydon: In diesem Text wird Hardré bereits innerhalb des mächtigen Verwandtschaftsverbandes verortet.68 Zwar findet sich in Ami et Amile kein direkter Hinweis auf diese intertextuellen verwandtschaftlichen Zusammenhänge, aber in Jourdain de Blaye wird der Bösewicht Fromont als mit Hardré versippt eingeführt: C’est uns traïtres qui parens Hardré iert (Jourdain de Blaye, V. 35).69 Später wird der Bogen wieder bis zu Ganelon zurückgeschlagen,70 und so wird Fromonts Blutbad in einen genealogischen Kontext gestellt, der Ganelons Verrat ebenso miteinschließt wie Hardrés Machenschaften. Dass Fromont in Jourdain de Blaye Amis Nachkommen – und zwar Girart de Blaye – tötet, beleuchtet nicht nur verräterische Gewalt, sondern auch die Konkurrenz zweier Abstammungslinien: Fromont begründet die Tötung von Girart de _____________ 66 67 68 69 70
Vgl. Hofmann 1882, S. xi-xx, Dembowski 1987, S.vii, Dembowski 1991, S. vii, und Gaunt 1995, S. 44f. Gaunt 1995, S. 45. Vgl. Gaydon, z.B. V. 1260-66. In Gaydon treten noch weit mehr Repräsentanten des Verräterclans auf, bei denen es sich ausschließlich um Männer handelt. „Das ist ein Verräter aus der Sippe Hardrés.“ Vgl. Jourdain de Blaye, V. 411.
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Blaye und seiner Frau sowie den Krieg gegen Blaye explizit damit, dass er Rache für das an Hardré durch Ami begangene Unrecht nehmen will.71 Die chansons de geste entwerfen neben dem Verräterclan eine ‚Freundesgenealogie‘: Amis Enkel ist der Titelheld in Jourdain de Blaye, doch in diesem Text wird nicht nur auf das Freundespaar aus Ami et Amile rekurriert.72 Die Kampfesgemeinschaft von Roland und Olivier in der chanson de Roland bildet neben der Ami-Amile-Freundschaft einen eigenständigen Freundschaftsentwurf, doch konstatiert Jourdain de Blaye, dass er mit Roland und Olivier verwandt sei.73 Diese ungewöhnliche Behauptung ist Teil einer Sequenz, in der Jourdain seine Identität über seine genealogischen und anderweitigen Verbindungen aufdeckt: Tant mar fui fiz Girart le chevalier Et Hermenjart sa cortoise moillier. Mes aieuls fu Amis li bons guerriers, Qu’ocist Hardré le cuivert renoié En la bataille por Amile le fier, Por Belissant qui ot le cuer legier Fille Charlon le fort roi droiturier. Mi parent furent Rollans et Oliviers. (V. 1424-31)74
Da Jourdain zunächst zwar die eigene Blutslinie über seinen Großvater Ami herleitet, dann aber zusätzlich Amiles verwandtschaftliche Einbindung referiert, entsteht der Eindruck einer tatsächlichen Filiationslinie von Roland zu Jourdain: Durch seine Heirat mit Karls Tochter ist Amile auch mit Roland, Karls Neffen, verwandt. Da aber nicht Amile, sondern Ami Jourdains Großvater (aieuls, V. 1426) ist, funktioniert diese Konstruktion nicht nach herkömmlichen blutsverwandtschaftlichen Vorstellungen. Die quasi genealogische Verbindung zwischen Ami und Amile stellt Jourdain in seiner Rede über Amis kämpferischen Einsatz im Zweikampf anstelle seines Freundes her: Der Identitätentausch und die damit verbundene Tötung Hardrés erscheinen als Verbindungsstücke zwischen Amis und Amiles Familien. _____________ 71
72 73 74
Vgl. Jourdain de Blaye, V. 34-38, V. 95-102 und V. 224-26. Dass Ami und nicht Amile den Zweikampf bestritten hat, kann Fromont eigentlich nicht wissen, da die Wahrung dieses Geheimnisses essentiell ist. Entweder überspringt der Text die Existenz des Geheimnisses oder aber Ami – und seine Nachkommen – werden für Amiles Taten zur Verantwortung gezogen, wodurch die Vorstellung einer gemeinsamen Freundesidentität deutlich würde. Vgl. Jourdain de Blaye, V. 34-38, V. 76-78, V. 96f., V. 225 und V. 2050. Vgl. Jourdain de Blaye, V. 1431. „Zum Unglück wurde ich der Sohn von Ritter Girart und seiner höfischen Frau Ermengard. Mein Großvater war Ami, der vorbildliche Krieger, der Hardré den verdorbenen Schurken, im Kampf für Amile den Tapferen tötete, für Belissant mit dem zarten Herzen, die Tochter Karls, des mächtigen, gerechten Königs. Roland und Olivier waren meine Verwandten.“ – Jourdain weiß also vom Identitätentausch.
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Jourdain entwirft seine Abstammungslinie über den Zusammenschluss zweier Freundespaare: Diese lignage bildet einen Gegensatz zur Verräterdynastie, korrespondiert aber gleichwohl einem verwandtschaftlichen Kontinuum. Die kollektive Identität wird nicht primär über die Teilhabe am gemeinsamen Blut gebildet, das in den Adern aller Generationen fließt, sondern über den Freundschaftscodex konstituiert. Blut erlangt auch in diesem Zusammenhang identitätsstiftende Bedeutung: Das im Namen der Freundschaft vergossene Blut konstituiert einen Konnex zwischen den Beteiligten. Dies bezieht sich hier nicht auf das Blutopfer, bei dem die Substanz auf den Freundeskörper aufgetragen wird und so tatsächlich eine modifizierte Form gemeinsamen Blutes erkennbar ist. Die militärischen Gewalttaten im Kontext der Freundschaft schaffen über das geflossene Blut eine Verbindung zwischen den Freunden und ihren Nachkommen. Die Geschehnisse um Roland und Olivier75 werden nicht ausgeführt, aber auch sie lassen sich in den von Jourdain dargelegten Zusammenhang von Freundschaft, Kampf und Blut einordnen: Ihre Gemeinschaft in der chanson de Roland konstituiert sich im gemeinsamen Krieg gegen die Heiden: Hier werden ebenfalls Blutvergießen und gegenseitige Zuneigung zusammengeschlossen.76 Die Entwürfe von Verräterclan und ‚Freundesdynastie‘ zeigen die Ambivalenz, mit der die Texte dem verwandtschaftlichen Modell gegenüberstehen: Wird Verwandtschaft zum einen abgewertet, offenbart sich zum anderen die Macht dieser Vergesellschaftungsform nicht nur in ihrer ubiquitären Existenz in den chansons de geste, sondern auch in der Annäherung von Freundschaft und genealogischen Strukturen. Nichtsdestotrotz wird die Konkurrenz zwischen herkömmlichem Verwandtschaftssystem und idealisiertem Freundschaftsmodell in der Rivalität zwischen Freundesund Schurkenclan verbildlicht. Allerdings kommt letzterem auch insofern identitätsbildende Wirkung zu, als er es ist, gegen den die Freunde sich abgrenzen müssen.
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Zur Ambivalenz des Verhältnisses zwischen Roland und Olivier siehe Gaunt 1995, S. 2444, sowie im Anschluss daran Meyer 2003. Die derart über Textgrenzen hinaus ausgeweitete Verwandtschaftsstruktur betrifft auch die Textgruppe von französischen Bearbeitungen aus dem 15. und 16. Jahrhundert, die eine neue Version der Amicus-Amelius-Geschichte bietet. Siehe dazu Einleitung 2 und Kap. IV.
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1.4. Der Sonderfall der Historia septem sapientum: Verwandtschaftsformationen und Herrschaftszuwachs Mit der Verknüpfung der Geschichten Vaticinium und Amici in der HVersion der Historia septem sapientum entsteht ein weiterer elaborierter Verwandtschaftsentwurf, der innerhalb des Amicus-Amelius-Korpus einen Ausnahmefall bildet. Mit Konrads Engelhard verbindet diese Version, dass die Namen der beiden Freunde jeweils deutlich voneinander unterschieden sind. Die Namensspezifik, die auf eine Statusdifferenz zwischen den Gefährten verweist, geht mit einem besonderen Interesse am rangniederen Freund einher, dessen Geschichte zunächst isoliert erzählt wird (in der Vaticinium-Geschichte). Wie im Engelhard verlässt Alexander sein Elternhaus, anders als dort ist hier aber nicht die relative Mittellosigkeit der adligen Sippe Grund für den Auszug des Sohnes. Stattdessen führt Alexanders intellektuelle Überlegenheit dazu, dass er ausgestoßen wird. Nach seiner Rückkehr von dem Meister, der ihn ausgebildet hat, kann Alexander den Gesang der Nachtigall verstehen. Obwohl er Bedenken hat, legt er auf Wunsch seines Vaters diesem den Inhalt des Nachtigallgesangs dar: Er sagt seinen eigenen sozialen Aufstieg voraus, der mit einer Unterordnung der Eltern einhergeht. Phylomena dicit in cantu suo, quod ego ero tam nobilis et diues, quod omnes me honorabunt; et precipue pater meus aquam manibus suis tenebit michi ad lauandum et mater mea manutergium ad mundandum, si ego eis permisero (Innsbruck, Cod. 310, Roth 2004, S. 428, Z. 18-21).77 Alexanders Vater deutet dies als strengstens zu bestrafende Insubordination den Eltern gegenüber. Zwar du wirst min herr nyemer (Gießen 104, Steinmetz 2001, S. 60, Z. 26), denkt Alexanders Vaters, bevor er seinen Sohn ins Meer wirft. Alexander aber will sich nicht gegen seine Eltern auflehnen, stattdessen wird stets sein Gehorsam betont, und auch die Rede der Nachtigall gibt er nur preis, weil sein Vater es so will.78 Der zu Unrecht bestrafte Alexander überlebt jedoch den Anschlag auf sein Leben, denn er ist nicht nur weise, sondern er kann auch schwimmen. Schließlich wird er von Seemännern gerettet, die ihn an einen Herzog verkaufen. Bei diesem Ersatzvater verbringt Alexander einige Zeit: Der hertzog het den jungling ußdermaßen lieb, wann er weißlich vnd ordenlich was in allen sinen sachen uber all ander in sinem hof (Gießen 104, Steinmetz 2001, S. 61, Z. 39-41). _____________ 77
78
„Die Nachtigall sagt in ihrem Gesang, dass ich so berühmt und reich sein werde, dass alle mich ehren werden. Und vor allem wird mein Vater mir mit seinen Händen Wasser zum Waschen reichen, und meine Mutter das Handtuch zum Reinigen, wenn ich es ihnen gestatte.“ Vgl. etwa Roth 2004, S. 428, Z. 15-18, Steinmetz 2001, S. 60, Z. 8, und Keller 1841, V. 7273.
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Alexander begleitet den Herzog auf ein concilium generale (Roth 2004, S. 429, Z. 33f.), einen Hoftag, auf dem es ein Rätsel zu lösen gilt, das erneut an die Vogelsprache gekoppelt ist. Der König von Ägypten fühlt sich von drei schwarzen Raben belästigt, die ihn ständig mit schrecklichem Geschrei begleiten. Für effektive Hilfe stellt er seine Tochter und nach seinem Tode sein Reich in Aussicht. Alexander erweist erneut sein Können und legt dem König die Umstände der Störung dar. Es folgt eine Binnenerzählung79 über die Raben: Bei den drei Vögeln handelt es sich um ein Paar und dessen Jungtier. Während einer furchtbaren Hungersnot hatte die Rabenmutter ihr Junges verlassen, das nun allein vom Vater ernährt wurde. Später kehrte die Mutter zurück, doch der Vater wollte sie daran hindern, weil sie ihr Junges in größter Not alleingelassen und deshalb ihren Anspruch auf Mutterschaft verwirkt hätte. Die räppin (Gießen 104, Steinmetz 2001, S. 62, Z. 88) aber argumentiert, sie habe in der geburt / [...] gelitten groszen smertzen, / Der mir noch we tůt an minem hertzen (Hans von Bühel, Dyocletianus Leben, Keller 1841, V. 7480-82). Da sich die Raben nicht einigen können, welcher Elternteil ein Anrecht auf das Junge hat, wenden sie sich an den König: Seinem Urteil wollen sie folgen. Der König spricht unverzüglich Recht: Die Mutter habe sich durch ihr eigenes Verhalten ihres Jungen beraubt. Die Begründung der Zusammengehörigkeit aufgrund der Geburtsschmerzen lässt er nicht gelten, denn der selb schmercz bracht ir darwider groß freìd vnd ward ir schmercz bekert in freìd Da sie sach das der Jung rapp in dem nest für komen was (Wiener Schottenstift 407, Steinmetz 1999, Bl. 27r). Der Rabenvater aber habe durch sein Verhalten alleinigen Anspruch auf das Junge. Die Raben fliegen nach der Urteilsverkündigung davon.80 Der König von Ägypten aber ist über diese Entlastung so froh, dass er Alexander auffordert: O fili, ammodo nullum tibi patrem voces nisi me, eo quod filiam meam in vxorem accipies et post meum decessum loco mei eris rex Egypti (Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs. 27983, 1386, Gruppe III, Roth 2004, S. 530, Z. 67 – S. 531, Z. 69).81 Alexander bleibt am Königshofe seines neuen Vaters. Die Geschehnisse der Binnenerzählung und die Haupterzählung werden durch die Diskussion der Verwandtschaftsthematik miteinander ver_____________ 79
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Dieser Modus des Erzählens ist in der Historia septem sapientum insgesamt zentral: Die Geschichte Vaticinium / Amici ist ja selbst die letzte von mehreren Binnenerzählungen in einer Rahmengeschichte. Sowohl in der mittelalterlichen naturkundlichen Tradition, die auf die Antike zurückgreift, als auch in der Bibel (Hiob 38, 41) findet sich die Vorstellung, dass Rabeneltern das Füttern ihrer Jungen verweigern. Vgl. LMA VI, Sp. 381f. und HwdA VII, Sp. 428. Allerdings wird hier anders als in der Vaticinium / Amici-Geschichte nicht zwischen den Elternteilen unterschieden. „Oh Sohn, nenne von nun an nur mich deinen Vater, weil du meine Tochter zur Ehefrau erhalten und nach meinem Tode an meiner Stelle König von Ägypten sein wirst.“
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knüpft. In der königlichen Auslegung der Rabengeschichte verkörpern Rabenmutter und Rabenvater zwei unterschiedliche Modelle von Verwandtschaft: Obgleich sowohl Mutter- als auch Vaterschaft ein blutsverwandtschaftliches Verhältnis zu den Nachkommen bedeutet, vollzieht der Text seine eigene, von diesem Modell abweichende Zuordnung. Einzig die Beziehung zwischen Mutter und Kind wird eindeutig als Blutsverwandtschaft interpretiert, indem auf konkrete körperliche Abstammung rekurriert wird. Der Bezug auf den schmerzvollen Geburtsvorgang verifiziert die Herkunft des kleinen Raben aus dem Mutterleib. Die königliche Umdeutung der Schmerzen in Freude modifiziert zwar die Erfahrung des weiblichen Raben, betont jedoch trotzdem die enge Verbundenheit zwischen Mutter und Kind. Gerade aus dieser ursprünglichen Zusammengehörigkeit aber geht das Skandalon hervor: Die Mutter verlässt das Kind. Hinsichtlich des leiblichen Aspekts gilt die Bindung des Rabenvaters an das Junge als nicht so fest: der rapp, der da ?ch mag anderswo iunge machen vnd doch an der not den iungen rappen furet vnd ernêret (Gießen 104, Steinmetz 2001, S. 63, Z. 112-114), führt der König aus. Nichtsdestotrotz nimmt sich der Rabe des Jungen an und sorgt für es. Zugleich führt die Geschichte vor, dass eine besonders enge körperliche Bindung durch Blutsverwandtschaft hinfällig wird, wenn diese nicht mit Schutz und Unterstützung des Schwächeren einhergeht. Der Rabenvater nimmt die soziokulturellen Funktionen von Verwandtschaft wahr und erfüllt so die Anforderungen, die an diese Bindung gestellt werden. Etwas zugespitzt formuliert könnte man sagen, dass das Urteil des Königs Blutsverwandtschaft und kulturell gestiftete Verwandtschaft einander gegenüberstellt und jene als minderwertig bewertet, da sie sich den sozialen Funktionen entzieht. Geteilte Identität durch einen gemeinsamen Körper bzw. gemeinsames Blut genügt in diesem Beispiel nicht, um sozialen Zusammenhalt zu stiften. Das vom König gedeutete Rabenexempel spiegelt offenkundig Alexanders Situation, und die Gültigkeit der vom Herrscher herauspräparierten, unterschiedlich bewerteten Verwandtschaftskategorien wird durch seine eigene Handlungsweise bekräftigt: Der König selbst nimmt in Bezug auf den ausgestoßenen Knaben nun die Position des guten Rabenvaters ein, während Alexanders leibliche Eltern als Rabenmütter das Anrecht auf ihren Sohn verloren haben.82 _____________ 82
Eine Anzahl von lateinischen Historia-septem-sapientum-Texten bietet in Reductiones geistliche Auslegungen sowohl der Rabengeschichte als auch der Freundschaftserzählung und der Elterngeschichte um Alexander an. Die semantischen Zuschreibungen divergieren in den einzelnen lateinischen Textgruppen. Die beiden alten Raben werden etwa in Gruppe III als Christus und der Mensch identifiziert, die sich um den jüngeren Raben, die Seele, streiten (vgl. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs. 27983, 1386, Gruppe III, Roth 2004, S. 531, Z. 72-86). In Gruppe I/II verkörpern die Raben dagegen eine ganz andere Konstellation: Der männliche Rabe ist der Teufel, der semper est paratus hominem in malo nutrire („im-
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Die Historia septem sapientum codiert punktuell die Konkurrenz zwischen verschiedenen Modellen von Verwandtschaft über die Geschlechterdichotomie. Die durch Blut gestiftete Linie figuriert zwar als Ursprung der Sippe, stellt aber zugleich eine Bedrohung für sie dar und pervertiert damit die an Verwandtschaft geknüpften Vorstellungen und Aufgaben. Diese negativierte Konzeption wird dem weiblichen (Raben-)Körper angelagert, während die Beziehung zwischen Vater und Kind vom König sanktioniert wird. Blutsbande und Leibesverbundenheit werden im Vergleich zur mütterlichen Beziehung zwar als loser imaginiert, das Bündnis ist jedoch trotzdem wirksamer. Außerhalb des Gleichnisses spielen Mütter keine Rolle: Zwar ist Alexanders Mutter in seine Zukunftsvision involviert, da sie ihm das Handtuch geben soll, nachdem sein Vater ihm das Wasser gereicht hat. Neben dieser deutlichen Geschlechter-Hierarchisierung, in der selbst in der Unterwerfungsprophezeiung das weibliche Elternteil noch an zweiter Stelle dienen muss, steht Alexanders Mutter im Hintergrund. Es treten auch keinerlei andere Damen auf, die etwa äquivalent zu den Vatersubstituten eine Mutterstelle einnähmen.83 Die von der Blutsverwandtschaft ausgehende Gefahr ist allein an Alexanders Vater gekoppelt, da er Gehorsam mit seiner Verweigerung verwechselt und seinen Sohn als Bedrohung für die eigene Machtposition ansieht. Der in allen anderen Amicus-Amelius-Texten vermiedene offene Konflikt um Macht und Nachfolge wird hier mit dem Tötungsversuch drastisch in Szene gesetzt und wirft ein negatives Licht auf die Blutsverwandtschaft. Die sukzessive Aufnahme Alexanders in die beiden Ersatzfamilien aber bedeutet jeweils einen sozialen Aufstieg, der den Protagonisten vom Rittersohn zum König von Ägypten in spe werden lässt. Den Aufschwung hat er sowohl seinen eigenen Fähigkeiten als auch der Bindung an einen mächtigen adligen Herren zu verdanken. Diese Beziehung _____________
83
mer bereit ist, den Menschen im Unheil zu nähren“), der weibliche Rabe die Welt und das Rabenjunge entsprechend der sündige Mensch (vgl. Innsbruck, Cod. 310, Roth 2004, S. 478, Z. 630 – S. 479, Z. 648; Zitat S. 478, Z. 640). Auch die Auslegungen der Freundschaftsgeschichte variieren, in Gruppe I/II werden Alexander und Lodovicus als Jesus und der Mensch identifiziert, in Gruppe III dagegen als Körper und Seele. Vgl. die gesamten Reductiones in Roth 2004, S. 477, Z. 610 – S. 481, Z. 702 (Gruppe I/II), S. 529, Z. 22-41, S. 531, Z. 72-86, S. 537, Z. 230 – S. 538, Z. 269 (alles zu Gruppe III) und S. 669, Z. 1 – S. 671, Z. 79 (Hs. St. Gallen, 939, die ausschließlich Reductiones enthält). Detlef Roth geht aufgrund der Überlieferungszusammenhänge der Historia septem sapientum, aber auch aufgrund der Auslegungen davon aus, dass es sich bei der Historia „von der Konzeption her“ um „geistliche[] Literatur“ handelt, „die freilich im Verlaufe der Überlieferung ihren geistlichen Charakter weitgehend verliert“ (Roth 2004, S. 204). Er markiert als (ursprüngliche) Funktion nicht nur der lateinischen Texte die „geistlich-erbauliche[] Lektüre“ (Roth 2008, S. xxiv). Vgl. grundsätzlich zur Untersuchung der Sieben Weisen Meister aus gendertheoretischer Perspektive Lundt 2002.
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ist für Alexander bedeutsam: An der Tochter seines Wohltäters zeigt er zunächst keinerlei Interesse. Statt sie zu heiraten, wie der König es wünscht,84 möchte er lieber an den Hof des nächsthöheren Herrschers reiten, um dort seine Identität weiter zu steigern (Vff das ich wiser vnd fürsichtiger würde, Heidelberg, Cpg 149, Bl. 96v, Sp. 1). Alexanders Geschichte thematisiert so durchgängig das Verhältnis und die Bewertung von Blutsverwandtschaft und sozial vermittelten Verwandtschaftsformen. Mit dem übrigen Amicus-Amelius-Textkorpus verbindet die Historia septem sapientum, dass die Blutsverwandtschaft als abgewertetes Modell der kulturellen Verwandtschaft, die grundsätzlich als homosozial gekennzeichnet wird, gegenübergestellt wird. Verbürgt jene keine gesicherte Identität, verschafft diese Ansehen und Macht. Die anschließenden narrativen Ereignisse der Amici-Geschichte beziehen sich auf die enge Freundschaft zwischen Alexander und Lodovicus, die zusammen am Hofe des Kaisers Titus dienen. Nachdem die Freundschaftsprüfungen absolviert sind, Alexander Lodovicus’ Schwester geheiratet und sich damit nochmals des Bündnisses mit einem Herrscher – nämlich seinem Freund – versichert hat, erzählen die Texte die Geschichte von Alexander und seinen Eltern zu Ende. Analog zu Engelhard holt auch Alexander die Eltern an seinen Hof und wertet ihren Rang auf. Anders als in Konrads Text wird die Vereinigung mit den leiblichen Eltern aber nicht zwischendurch erzählt,85 sondern fungiert als Abschluss der Vaticinium-Geschichte: Alexander reitet als Herrscher zu Vater und Mutter und gibt sich nicht als ihr Sohn zu erkennen. Als sie ihm nach dem gemeinsamen Essen Wasser und Handtuch reichen wollen (und damit die Prophezeiung erfüllen, wegen der Alexander verstoßen wurde), verweigert er ihre Dienste. Stattdessen lässt er sie neben sich sitzen. Schließlich fragt er seine Eltern, ob sie Kinder hätten, und als er auf seine Frage nach der Todesart des verstorbenen Sohnes keine der Wahrheit entsprechende Antwort bekommt, droht er ihnen, so must ir eyns schimlichen totes sterben (bairische Fassung, Roth 2008, S. 188, Z. 7). Als sein Vater die vergangenen Geschehnisse enthüllt, gibt sich Alexander endlich als sein Sohn zu erkennen. Er beschwichtigt die Angst seiner Eltern, die offenbar seine Rache fürchten,86 und nimmt sie mit sich an seinen Königshof, wo sie in Ehren leben.87 _____________ 84 85 86 87
Um Schonung bittet Alexander gar in der Innsbrucker Hs.: Domine, parce michi (Roth 2004, S. 434, Z. 95), sagt er, („Herr, schone mich“) bevor er die Hochzeit auf später verschiebt. Vgl. Reiffenstein 1982, V. 5075-5085, 5116-5128. Die recht kurze Gießener Hs. kennt diesen Umstand nicht. Einige Texte betonen, dass Alexander seine Eltern über sich stellt, sie also als Herrscherpaar installiert: In regno meo precellere me debetis (Innsbrucker Hs., Roth 2004, S. 475, Z. 579). („In meinem Reich sollt ihr über mir stehen.“)
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Alexander beweist bei diesen Ereignissen sowohl den Wahrheitsgehalt der Weissagung, die zu seinem Ausstoß geführt hatte, als auch seine Untergebenheit unter seine Eltern. Zugleich demonstriert er seine Macht als König, indem er ihnen – als Herrscher, nicht als Sohn – mit dem Tode droht. Alexanders Aufbegehren gegen die väterliche Instanz erfolgt erst zu einem Zeitpunkt, an dem er selbst eine derartige Instanz ist. Sind König Alexander und seine Eltern zunächst durch verflochtene Beziehungsformen miteinander verbunden, da sowohl herrschaftliche als auch verwandtschaftliche Bindungen in der Wiedersehensszene zum Tragen kommen, wird diese Unklarheit anschließend vereindeutigt. Dabei stehen konträre Machtverhältnisse zur Disposition: Dominiert Alexander seine Eltern als Herrscher, untersteht er ihnen als Sohn. Die Vaticinium / AmiciGeschichte der Historia septem sapientum propagiert die Beständigkeit blutsverwandtschaftlicher Bande, die selbst durch eklatante Brüche nicht vollständig zerstört werden können.88 Das Ende der Vaticinium / Amici-Geschichte harmonisiert insofern den Widerspruch zwischen Konsanguinität, die Anfang und Ende adliger Identität bildet, und den kulturell gestifteten Relationen quasi-verwandtschaftlicher Natur, die eine permanente Identitätssteigerung zwischen diesen beiden Punkten gewährleisten. Die Herrscherwürde, die einen bedeutenden Teil seiner Identität ausmacht, verdankt Alexander allein den Bündnissen mit ranghöheren, väterlichen Stellvertretern bzw. mit seinem Freund Lodovicus, dessen Macht sich durch Herrschaftsübertragung und Heirat ebenfalls stetig vergrößert. Die Wiedervereinigung mit seinen Eltern garantiert dem König – wie auch Engelhard – eine nochmalige Aufwertung, indem er den – durch den eigenen Status erhöhten – Sippenkörper an den seinen angliedert. Insofern wird das Rabenexempel, das die Thematik der Geschichte auf einer anderen Erzählebene spiegelt, zuletzt in seiner Bedeutung modifiziert: Die Bewertung der konkurrierenden Verwandtschaftsformen durch den König von Ägypten ist nicht uneingeschränkt gültig. In der Tat repräsentiert der König die kulturell gestiftete Verwandtschaft, da er Alexander _____________ 88
Dies ist auch der Gesamttenor der Rahmengeschichte der Historia septem sapientum: Diocletianus, Sohn des Kaisers Pontianus, soll getötet werden, da seine Stiefmutter ihn fälschlicherweise der versuchten Vergewaltigung bezichtigt. Am Ende aber stirbt die böse Frau, und Vater und Sohn sind wieder miteinander vereint, nachdem viele Geschichten erzählt und ausgelegt worden sind, wodurch Diocletianus’ Tod verzögert wurde. Vgl. SkowObenaus 1994 zur Verknüpfung von Misogynie und der Thematik von ‚Schein und Sein‘ in den Sieben weisen Meistern. – Die XV. Geschichte Vaticinium / Amici ist das letzte der Exempel und das einzige, das von Diocletianus selbst erzählt wird; sein Vater wird dadurch endlich von der Unschuld seines Sohnes überzeugt. Steinmetz 2000, S. 121, sieht in der Freundschaftsgeschichte einen Bezug zur Rahmengeschichte: Die Freundschaftsdarstellung sei als Parallele zum Verhältnis von Diocletianus und den weisen Meistern zu sehen.
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an Sohnes statt aufnimmt: So ist ihre positive Deutung durch ihn nur konsequent. Alexander aber, der nächste König von Ägypten, revidiert das erste Urteil: Blutsverwandtschaft erscheint als identitäre Konstituente. Dabei nimmt Alexander auf die erste Vogelrede Bezug: Der Gesang der Nachtigall hatte seine künftige Überlegenheit über die Eltern postuliert, doch Alexander belässt diese in der Potentialität und stellt stattdessen den letzten Teil der Prophezeiung heraus. [S]i ego eis permisero (Roth 2004, S. 428, Z. 21),89 heißt es in der Innsbrucker Hs., während Hans von Bühel die Ergänzung des Orakels wertender ausführt: Wolt ich es úch gúnen gar / Das ich doch úch vngern tette / Wenn ich sin súnde hette (Hans von Bühel, Dyocletianus Leben, Keller 1841, V. 7320-7322). Alexander bestätigt also gleichzeitig die Wahrheit der Vorhersage90 wie die Unterordnung unter seine Eltern und billigt zudem die Autorität der Eltern über ihn. Die zwei Vogelreden machen den Status der an sie gekoppelten Beziehungen von Blutsverwandtschaft und kulturell gestifteter Verwandtschaft nochmals sinnfällig. Dass Alexander beide verstehen kann, zeugt zunächst von seiner Weisheit.91 Unter ästhetischen Gesichtspunkten steht der schöne Gesang der Nachtigall dem störenden Gekrächze der Raben diametral gegenüber, beide Sequenzen werden von Alexander ‚übersetzt‘ und dann von jeweils einer Vaterfigur interpretiert. Beim Nachtigallengesang handelt es sich um eine Weissagung, beim Rabengekrächz um ein Exempel, das der Auslegung bedarf.92 Beide Väter tätigen indes eine Fehlinterpretation: Bei Alexanders Vater mündet dies in den sofortigen Mordversuch. Dass das Urteil des Königs nicht uneingeschränkt gültig ist, stellt sich erst am Schluss heraus, als Alexander seine Eltern rehabilitiert. Alexander deutet also die Vogelreden jeweils neu, als er sich in der entsprechenden Machtposition befindet. Wird die Rabengeschichte letztlich umgedeutet, beansprucht der Nachtigallengesang dagegen absolute Autorität, da er in Erfüllung geht. Durch den Handlungsspielraum, den die Prophezeiung einräumt, kann Alexander sich gleichzeitig als mächtiger Herrscher und guter Sohn in Szene setzen. Beide Vogelreden thematisieren spezifi_____________ 89 90
91 92
„Wenn ich es ihnen gestatte.“ Steinmetz 2000 beschreibt diese Geschichte in der Historia septem sapientum als „Exempel von der Unmöglichkeit, das Eintreffen von Prophezeiungen zu verhindern“ (S.1; ähnlich S. 119). Neben dieser „Motivkorrespondenz zur alttestamentarischen Joseph-Geschichte“ (S. 119) besteht eine weitere in der Rahmenerzählung, in der die Stiefmutter das Motiv der Frau des Potiphar aktualisiert. Lundt 2002, S. 419, führt aus, dass Vögel auch in anderen Texten „als Symbol für männliche Geistigkeit und eine überlegene Weltsicht“ fungieren können. Die eigentlich an den Raben gekoppelte Vorstellung, er sei ein Orakelvogel mit prophetischen Kräften (vgl. etwa HwdA VII, Sp. 443f.), wird hier auf die Nachtigall verschoben, deren schöner Gesang sich offenbar besser zur Verkündung des immensen Statuszuwachses des Protagonisten eignet.
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sche verwandtschaftliche Probleme: Die Nachtigall spricht von der potentiellen Bedrohung der hierarchischen Strukturen des Verwandtschaftssystems durch den Sohn, die Raben hingegen von einer Gefahr, die von der Seite der Eltern auf die Nachkommen gerichtet ist. Da diese Konflikte von Vögeln thematisiert werden, erscheinen Verwandtschaft und die an sie gekoppelten Antagonismen als natürliche Ordnung der Welt, die auch im Tierreich gilt. Bei Alexanders Restitution dieser Ordnung wird die wechselseitige Gefahr, die Eltern und Sohn jeweils füreinander darstellen, durch Zusammenführung und Versöhnung nur in einen latenten Zustand überführt, ohne dass das Problem der Rivalität tatsächlich beseitigt wäre: Dies wird etwa in Alexanders Gewaltandrohung deutlich, die den anfänglichen väterlichen Tötungsversuch spiegelt. Dem großen Bedürfnis nach Verwandtschaft steht die Bedrohlichkeit, die diesem Beziehungsmodell inhärent ist, letztlich unvermittelbar gegenüber. Die verbleibende Ambivalenz verdeutlicht um so mehr die Bedeutsamkeit, die klar strukturierten und hierarchisierten konsanguinen Relationen schließlich für die Identitätssteigerung zugeschrieben wird. Diese wechselseitige identitäre Erhöhung gewährt – zumindest für den Moment – eine friedliche Koexistenz der Familienmitglieder. Insgesamt ist Alexander durch ein universales homosoziales Begehren gekennzeichnet, das sich auf alle Vergesellschaftungsformen – außer eben die zwischengeschlechtlichen Bindungen – erstreckt. Die Frauen in seiner Welt sind jeweils Anhängsel (Mutter) oder Gaben männlicher Herrscher (Königstochter, Kaiserschwester).93 Ist das Weibliche in Alexanders Identitätsformation absent, taucht es an anderer Stelle auf: Erst in seiner Verschiebung ins Symbolische kann es Sinn stiften, indem es den Gegensatz zu männlichen, nicht über Blut transportierte Beziehungsformen verkörpert. Bildet die Freundschaft in den Amicus-Amelius-Texten sonst die mächtigste Manifestation von Homosozialität, wird sie in der Historia septem sapientum in der isolierten Biographie nur eines der Freunde vom umfassenden Verwandtschaftsdiskurs umschlossen. Dieser gewährleistet in Hinsicht auf Alexander sozialen Aufstieg, in Hinsicht auf die Freundschaft aber die Statusangleichung der Freunde, die in dieser Textgruppe die Gleichheit der Gefährten in besonderem Maße konstituiert: Zwei künftige Königssöhne begegnen sich am Kaiserhof, beide erlangen ihre jeweilige Gattin mit Hilfe des Freundes. Die Freundschaft kulminiert im herrschaftlichen Status, den die Freunde nach Beendung der Freundschaftsprüfungen innehaben. Anders als im Engelhard, wo zunächst eine eklatante Diffe_____________ 93
Mit Florentina kommuniziert er aus Pflichtgründen und um Lodovicus’ Willen. Siehe dazu Kap. II.3.1.
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renz zwischen den Kameraden besteht, nehmen Alexander und Lodovicus bei ihrem ersten Treffen bereits gleiche Positionen als Königssöhne ein. Relativ gleichzeitig werden beide Freunde zu Königen. Da Lodovicus zusätzlich Kaiser wird, erfolgt eine weitere Angleichung durch die Verheiratung seiner Schwester mit Alexander. Die soziale Aufwertung von Alexanders Eltern und die Herstellung von verwandtschaftlicher Nähe scheint nicht so sehr für die Freundesgleichheit von Bedeutung zu sein: Die Freundesgeschichte ist zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossen. Stattdessen wird der Verwandtschaftsdiskurs weiter affirmiert, indem nun schließlich auch die Blutsverwandtschaft aufgewertet wird. Die wechselseitige Identitätssteigerung dominiert das bedrohliche Potential. Durch den Zusammenschluss zweier ursprünglich getrennter Geschichten – Vaticinium und Amici – werden in der Figur Alexanders Freundschaftsentwurf und elaborierter Verwandtschaftsdiskurs miteinander verknüpft, um die identitäre und politische Wirkmächtigkeit der Vereinigung zweier zentraler Vergesellschaftungsmodelle herauszustellen. Diese Verflechtung könnte darauf verweisen, dass in diesen Texten eines dieser Modelle allein nicht als ausreichend betrachtet wird, um stabile Herrscheridentität hervorzubringen. Insofern weichen sie vom grundlegenden Projekt der Amicus-Amelius-Texte ab, die Kriegerfreundschaft ohne Einschränkungen zu zelebrieren.
2. Herrschaft Herrschaftlich strukturierte Bindungen spielen sowohl in der mittelalterlichen Gesellschaft als auch im narrativen Amicus-Amelius-Universum eine tragende Rolle.94 Der grundlegende Unterschied zum Freundschaftsbund ist die hierarchische Rangordnung, die Herrschaft kennzeichnet. Herrschaftliche Beziehungen erfüllen – wie die anderen Vergesellschaftungsformen – neben der ökonomischen Sozialorganisation eine Schutzfunktion: Die Bindung zwischen Herrn und Lehns- oder Gefolgsmann beruht auf der gegenseitigen Treueverpflichtung.95 Der Vasall erklärt sich zu consilium et auxilium, also zu beratenden Funktionen und zur Gewährleistung militärischer Hilfe, bereit, während der Lehnsherr seinerseits Schutz und ökonomische Lebensgrundlage gewährt. Eine weitere Form herrschaftlich geordneter Relationen besteht zwischen den Ministerialen und ihrem Sou_____________ 94 95
Vgl. zu herrschaftlichen Bindungen nur Bloch 1999, S. 209-334, Ganshof 1961, Le Goff 1977, S. 349-415, Althoff 1990, S. 134-181, und Reynolds 1994. Vgl. Althoff 1990, S. 144-155, zu den historischen Übergängen von Gefolgschaft zum Lehnswesen.
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renz zwischen den Kameraden besteht, nehmen Alexander und Lodovicus bei ihrem ersten Treffen bereits gleiche Positionen als Königssöhne ein. Relativ gleichzeitig werden beide Freunde zu Königen. Da Lodovicus zusätzlich Kaiser wird, erfolgt eine weitere Angleichung durch die Verheiratung seiner Schwester mit Alexander. Die soziale Aufwertung von Alexanders Eltern und die Herstellung von verwandtschaftlicher Nähe scheint nicht so sehr für die Freundesgleichheit von Bedeutung zu sein: Die Freundesgeschichte ist zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossen. Stattdessen wird der Verwandtschaftsdiskurs weiter affirmiert, indem nun schließlich auch die Blutsverwandtschaft aufgewertet wird. Die wechselseitige Identitätssteigerung dominiert das bedrohliche Potential. Durch den Zusammenschluss zweier ursprünglich getrennter Geschichten – Vaticinium und Amici – werden in der Figur Alexanders Freundschaftsentwurf und elaborierter Verwandtschaftsdiskurs miteinander verknüpft, um die identitäre und politische Wirkmächtigkeit der Vereinigung zweier zentraler Vergesellschaftungsmodelle herauszustellen. Diese Verflechtung könnte darauf verweisen, dass in diesen Texten eines dieser Modelle allein nicht als ausreichend betrachtet wird, um stabile Herrscheridentität hervorzubringen. Insofern weichen sie vom grundlegenden Projekt der Amicus-Amelius-Texte ab, die Kriegerfreundschaft ohne Einschränkungen zu zelebrieren.
2. Herrschaft Herrschaftlich strukturierte Bindungen spielen sowohl in der mittelalterlichen Gesellschaft als auch im narrativen Amicus-Amelius-Universum eine tragende Rolle.94 Der grundlegende Unterschied zum Freundschaftsbund ist die hierarchische Rangordnung, die Herrschaft kennzeichnet. Herrschaftliche Beziehungen erfüllen – wie die anderen Vergesellschaftungsformen – neben der ökonomischen Sozialorganisation eine Schutzfunktion: Die Bindung zwischen Herrn und Lehns- oder Gefolgsmann beruht auf der gegenseitigen Treueverpflichtung.95 Der Vasall erklärt sich zu consilium et auxilium, also zu beratenden Funktionen und zur Gewährleistung militärischer Hilfe, bereit, während der Lehnsherr seinerseits Schutz und ökonomische Lebensgrundlage gewährt. Eine weitere Form herrschaftlich geordneter Relationen besteht zwischen den Ministerialen und ihrem Sou_____________ 94 95
Vgl. zu herrschaftlichen Bindungen nur Bloch 1999, S. 209-334, Ganshof 1961, Le Goff 1977, S. 349-415, Althoff 1990, S. 134-181, und Reynolds 1994. Vgl. Althoff 1990, S. 144-155, zu den historischen Übergängen von Gefolgschaft zum Lehnswesen.
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verän, an dessen Hofe sie verschiedene Ämter bekleiden. Der Dienst gewährleistet ebenfalls Lebensunterhalt. In den Amicus-Amelius-Texten wird diese Form sozialer Bindungen in der Beziehung der Gefährten zum König bzw. zum Fürsten entworfen. Meist wird sie durch den Hofdienst charakterisiert; nur in seltenen Fällen durch Vasallität bzw. Gefolgschaft. Amicus und Amelius begeben sich in den Dienst des Regenten. Die enge Verknüpfung des Hofdienstes mit der Thematik der Herrschaftserlangung erfolgt indes nicht über die reiche Belohnung geleisteter Dienste, sondern wird über einen anderen Weg hergestellt: Es kommt zum illegitimen Geschlechtsverkehr eines der Freunde mit der Herrschertochter, womit ein Treuebruch gegenüber dem Herren begangen wird. Dieser führt zur Herrschaftsübernahme des illoyalen Gefährten und überführt zusätzlich die herrschaftlich organisierte Struktur in eine verwandtschaftliche. Der zweite Kamerad bricht seinem Herren nicht im eigentlichen Sinne die Treue, sondern wertet außerfreundschaftliche Verhältnisse ab, indem er seinem Gefährten im Gottesurteilskampf hilft. Sein Aufenthalt am Hofe trägt nicht zu einem faktischen Erwerb von Herrschaft bei, kann allerdings als Aufwertung seiner Fähigkeiten und seines Ansehens gedeutet werden. Die Beziehung zum Herrscher erscheint demnach in den Amicus-Amelius-Texten – wie die Verwandtschaft – gleichzeitig als zentrales Modell adliger Identitätsbildung und als abgewertete Konkurrenzbindung zur Freundschaft. Die Bewertung der verschiedenen Bündnisse wird wiederum durch eine Freundschaftsprüfung verdeutlicht: Ließ sich die Unterordnung verwandtschaftlicher Beziehungen besonders deutlich am Kindesopfer ablesen, wird auf die herrschaftlich organisierte Bindung im manipulierten Zweikampf Bezug genommen. Während ich zunächst die grundsätzliche Konstellation der herrschaftlich organisierten Beziehung in den Amicus-Amelius-Texten in den Blick nehme, werde ich anschließend die Untergruppe der ersten Textgruppe gesondert betrachten, in denen die Positionen der Gefährten vertauscht sind (mittelenglische romance, anglonormannische Verserzählung, Lille 130 und – in eingeschränktem Maße – Konrads Engelhard 96). Diese Texte zeigen ein besonderes Interesse an dem Bündnis zwischen Herrscher und Freunden und messen ihm für die Identitätskonstitution der Gefährten besondere Bedeutung zu. Sie diskutieren verstärkt herrschaftlich strukturierte Bindungen sowie Herrschaftskontinuität und -erlangung. Schließlich werde ich auf Girards Gewalt-Opfer-Mechanismus zurückkommen und _____________ 96
Der Engelhard gehört grundsätzlich mit der Historia septem sapientum in die Untergruppe innerhalb der ersten Textgruppe, in denen die Freunde durch ihre Namen deutlich voneinander differenziert werden. Gleichwohl sind im Engelhard die Positionen der Freunde – hinsichtlich der Anordnung in der Mehrzahl der Texte – vertauscht.
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die Bedeutung der Beziehung zwischen Freunden und Herrscher in Hinsicht auf die praktizierte Gewalt beleuchten. 2.1. Herrscher und Dienstmannen: Treuepflicht und Zuneigung In der ersten Textgruppe, die durch einen adligen Deutungsmodus gekennzeichnet ist, wird der Aufenthalt der Freunde am Hof mehr oder minder explizit in den Kontext der Erziehung der Freunde gestellt und korrespondiert damit der mittelalterlichen Praxis, adoleszente Adlige am Hofe des Herren ausbilden und unterweisen zu lassen. Besonders deutlich wird der Gedanke der adligen Ausbildung in der mittelenglischen romance, in der sich die Knaben im Alter von zwölf Jahren auf Wunsch des duke in seinen Dienst begeben. Vier Jahre später werden sie von ihm zu Rittern geschlagen, aufs Prächtigste ausgerüstet und mit den Ämtern von chief botelere (Amys: Le Saux 1993, st. 16, V. 8)97 und steward in his hall (Amylion: st. 16, V. 11)98 betraut.99 Die anglonormannische Bearbeitung führt die Knaben bereits am Hofe des counte ein, wo sie ebenfalls Schwertleite und Ämter erhalten.100 Höfische Erziehung ist in Konrads Engelhard zentral: Von lesen unde schrîben (Reiffenstein 1982, V. 750) bis zu schâchzabel unde seitenspil (V. 756) reicht die Palette höfischer Betätigungen. Zum Kämmerer Engeltruts wie zum Ritter wird Engelhard allerdings erst nach Dietrichs Abreise.101 In der Historia septem sapientum begibt sich Alexander zum Kaiser, um von dessen zucht vnd weyszheit (anonyme Versfassung, Keller 1846, S. 204, V. 23) zu profitieren. Hier werden die Freunde zu Truchsess und Weinschenk des Kaisers.102 Lille 130 und Radulfus Tortarius verraten nichts Genaueres über die jeweilige Position der Freunde am Hofe des Herrschers, an dem sie dienen. Doch wie in den eben genannten Texten wird auch dort die große Zuneigung, die der Herr wie die gesamte Hofgesellschaft den Gefährten entgegenbringt, beschrieben: So heißt es etwa in Radulfus’ Fassung, in der die Freunde sich am Hofe von König Gaiferus von Poitiers aufhalten, dass Rex igitur, proceres aulae, reginaque Berta, / Illos dum promtis diligerent animis _____________ 97 98 99
„Obermundschenk“ „Hoftruchsess“ Vgl. Le Saux 1993, st. 5 und st. 14. Die meisten Bearbeitungen der ersten Textgruppe geben kein Alter der Freunde an. 100 Amys wird hier ebenfalls botiler (Fukui 1990, V. 39) („Mundschenk“), Amillyoun aber mareschal (V. 43) („Marschall“). 101 Vgl. Reiffenstein 1982, V. 1842-1853, V. 2410-2455. 102 Vgl. etwa Roth 2004, S. 435, Z. 104f., und S. 436, Z. 111-113.
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(Ogle / Schullian 1933, V. 139f).103 In der Tat geht die Erziehung und Ausbildung von Amicus und Amelius stets mit einem ausgeprägten persönlichen Verhältnis zum Regenten einher, der die Jungen liebt und fördert: Ihr Herr les amast mult tendrement, / Honur les fist a lour talent (Fukui 1990, V. 33f.),104 heißt es etwa in der anglonormannischen Verserzählung. Der Hofdienst erscheint in dieser Textgruppe insgesamt als Lebensabschnitt junger adliger Herren, der vor der eigenen Herrschaftserlangung durchlaufen wird. Die zweite Textgruppe, die sich vornehmlich religiöser Sinnstiftung bedient, entwirft einen gänzlich anderen Kontext für den Aufenthalt der Freunde am Herrscherhof. Nicht im jugendlichen Alter, sondern als erwachsene Herren von zweiunddreißig Jahren suchen die Freunde Karls köngliche curia auf.105 Dort bekleiden sie die Ämter von Schatzmeister (Amicus) und Truchsess (Amelius).106 Wie in der ersten Textgruppe wird auch in diesen Bearbeitungen auf das Wohlwollen, das den Gefährten entgegengebracht wird, hingewiesen; anders als dort aber ist nicht speziell von der Liebe des Königs die Rede: amez de toz et honorez (elaborierte Vita, Moland / D’Héricault 1836, S. 50)107 werden die beiden. Nicht adlige Ausbildung oder höfische Vervollkommnung motivieren den Hofdienst: Die gestörte Herrschaftskontinuität in Amicus’ lignage veranlasste beide Freunde, ihre Erbländer zu verlassen und einander zu suchen. Allerdings bildet der Hofdienst nicht eine alternative adlige Lebensform zur Herrschaftsausübung, denn Amicus hat zu diesem Zeitpunkt bereits geheiratet und damit einen anderen Herrschaftsbereich gewonnen; Amelius aber hatte seine Heimat freiwillig verlassen. Der Aufenthalt am Hofe ermög_____________ 103 „Der König nun, die Vornehmen des Hofes und Bertha, die Königin, sie alle liebten sie bald“ (nach Leach 1937/1990, S. 101). 104 „liebte sie sehr zärtlich, er erwies ihnen Ehre nach ihren Wünschen“ 105 In den elaborierten Vitafassungen und in einem Teil der mittellangen Texte findet sich eine Altersangabe, nach der Amicus dreißig Jahre alt ist, als sein Vater krank stirbt. Vgl. etwa für die lateinische elaborierte Vita Kölbing 1884, S. xcvii, Z. 39, und für eine der schwäbischen mittellangen Legenden Reiffenstein 1982, S. 242, Z. 32. Hinzu kommen noch zwei Jahre, die während der Suche vergehen. Selbst die Altersangaben verweisen somit auf die verschiedenen Deutungssysteme, mit denen die Texte operieren: Deutet die Dreißig auf die aktive Zeit Jesu hin, kennzeichnet das Alter von etwa fünfzehn in der mittelenglischen romance und der chanson ge geste die Initiation adoleszenter Adliger in den Ritterstand. 106 Thesaurarius und dapifer (elaborierte Vita, Kölbing 1884, S. ci, Z. 10f.), in der französischen elaborierten Legende wird Amile Bediensteter (servitor, Moland /D’Héicault 1836, S. 50) des Königs genannt. In Andreas Kurzmanns Text sind Amicus und Amelius kamermaister und weinschenkch (Oettli 1986a, S. 156, V. 325, V. 436). Die Seelentrost-Fassungen präzisieren nicht, hier heißt es, dass Karl die Gefährten to syneme gesynde (Großer Seelentrost, Schmitt 1959, S. 230, Z. 13) nimmt. Das lateinische Exempel spricht vom Dienst der Freunde; vgl. Klapper 1914, S. 339, Z. 32. 107 „von allen geliebt und geehrt“
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licht hier die Lebensgemeinschaft der Freunde, die als Ziel der jahrelangen gegenseitigen Suche erscheint. Letzteres gilt auch für die Grenzfall-Texte (Gruppe 3): Nach jahrelanger Suche finden sich die Gefährten und begeben sich gemeinsam an Karls Hof. Anders als in den bislang beschriebenen Texten verdingen sich die Freunde hier als soudoiers (Dembowski 1987, V. 244), als Söldner des Königs. Im Heer kämpfen sie gegen die äußeren Feinde des Souveräns. Die chanson de geste enthält eine Altersangabe: Mit fünfzehn waren die beiden ausgezogen, demzufolge treffen sich die beiden im Alter von zweiundzwanzig Jahren, da die Suche sieben Jahre dauert.108 Der Kriegsdienst im Karlsheer bildet den Kontext ihrer Lebensgemeinschaft: Die Kameraden ziehen die gemeinsamen militärischen Aktivitäten den eigenen Herrschaftspflichten in den freiwillig verlassenen Erbländereien vor. Die persönliche Beziehung zwischen Ami, Amile und Karl ist durch einen DienstLohn-Mechanismus gekennzeichnet: Die hervorragenden Waffentaten der Freunde im Krieg gegen Gombaut von Lothringen werden von Karl zum einen anerkannt, indem er Amile mit Lubias, Hardrés Nichte, verheiraten und ihn damit zum Herrn über Blaye machen will.109 Amile gibt diesen Lohn an Ami weiter. Nach Amis Verheiratung berichtet die chanson de geste, dass Karl auch Amile etwas zueignen will: Er hat ihm das Lehen Valsecree zugedacht, das allerdings noch von Godefroi und seinen Leuten besetzt ist. In diesem Zusammenhang wird Karls Liebe zu den Freunden erwähnt: Moult les ama Charles (V. 526).110 Militärischer Dienst zieht eine ökonomische Vergütung nach sich, die sich in der Übergabe von Lehen (und den dazugehörigen Damen) äußert. Der sexuelle Akt mit der Prinzessin, zu dem der allein am Hof verbliebene Freund sich hinreißen lässt, stellt in allen Amicus-Amelius-Texten einen frappanten Treuebruch gegen den Herrn111 dar: Kennzeichnete das Verhältnis der Freunde zu ihrem Herrn zunächst, dass sie Leals furent envers lor seygnur (anglonormannische Verserzählung, Fukui 1990, V. 31),112 trifft dies nun nicht mehr zu. Diese Dimension der Normübertretung wird allerdings nicht in vielen Texten vom Übeltäter reflektiert: Ausschließlich in den Versionen der ersten Textgruppe, die eine ausgeprägte Bindung _____________ 108 Vgl. Dembowski 1987, L. 2f. 109 Vgl. für das Miracle Paris / Robert 1879, V. 392-395. 110 „Karl liebte sie sehr.“ – Im Miracle will Karl beide Gefährten beschenken, es bleibt dann aber bei Amis’ Verheiratung; vgl. Paris / Robert 1879, V. 354-375. 111 In Hermann Korners Text, in dem Amelius nicht mit der Königstochter, sondern mit einer Fürstentochter (vgl. Pfeiffer 1864, S. 263, Z. 5-9) verkehrt hat, bezieht sich der Treuebruch nicht direkt auf den König, doch ist der König gleichwohl Richter des Normenverstoßes. Damit ist er übergeordnete Instanz von Recht und Ordnung, gegen die sich Amelius’ Vergehen ebenfalls richtet. 112 „Sie waren ihrem Herrn treu.“
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zwischen Gefährten und Herrscher entwerfen, wird das Problem des Treuebruchs am Herrn explizit gemacht, also in der mittelenglischen romance, der anglonormannischen Verserzählung und in Lille 130. Radulfus Tortarius und die Historia septem sapientum sparen das Thema aus. Im Engelhard wird es nur strategisch eingesetzt: Engelhard ruft zwar das triuweVerhältnis seinem Herren gegenüber in seiner Verteidigungsrede auf, allerdings hat er es längst gebrochen und sucht nun diesen Bruch zu verheimlichen.113 In den Grenzfall-Texten scheint die Problematik zumindest implizit auf: In der chanson de geste will Amile sich nicht mit der Unbekannten einlassen, sofern sie Karls Tochter ist, ansonsten stünde der gemeinsamen Nacht nichts im Wege. Das Miracle benennt das Problem genau: Si voulez que je vous laidisse / Et vostre pére et moy traisse, / De qui j’atens tout mon bien fait! (Paris / Robert 1879, V. 569-571)114 Ein solches Verhalten weist Amille zurück, wird dann aber von der Königstochter im Bett überrumpelt. In den Texten der zweiten Gruppe fehlt nicht nur das besondere Verhältnis zwischen Herrscher und Freunden, sondern auch die explizite Reflexion der Untreue. Auch hinsichtlich der Reaktion des Herren auf diese Verletzung herrscht eine Zweigeteiltheit des Textkorpus. Die elaborierte und die mittellange legendenhafte Version zeigen einen sanftmütigen Karl, der nach Ardericus’ Beschuldigung Amelius sogar noch Mut zuspricht: [D]er künig der hůb in gütlich auff vnd sprach zů im: „du solt dir nit fürchten, Ameli; stand auff vnd versprich dich.“ (München, Cgm 523, Reiffenstein 1982, S. 244, Z. 131133) In den Minimalfassungen gibt es unterschiedliche Möglichkeiten: Bleibt die Haltung des Königs in der mittelenglischen Alphabet-of-TalesFassung unklar, und wird im lateinischen Exempel nur davon berichtet, dass der König Amelius das Verbrechen vorwirft,115 ist Karl in den Seelentrost-Bearbeitungen durchweg tornich (Großer Seelentrost, Schmitt 1959, S. 230, Z. 25). In Hermann Korners kurzer Fassung will Karl Amelius sogar töten lassen.116 Zornig wird Karl auch in den Grenzfall-Texten: Karl stößt in der chanson de geste eine Todesdrohung aus, sofern Amile nicht seine Unschuld beweisen kann. Als Amile keine Bürgen findet, will Karl ihn sofort selbst enthaupten. Als seine Gattin und seine Kinder sich als Bürgen bereitstellen, droht Karl auch ihnen mit dem Tode;117 das Miracle _____________
113 Vgl. Kap. II.2.2. 114 „Wollt Ihr denn, dass ich Euch verletze und Euren Vater und mich verrate, von dem ich nur Gutes für mich erwarte?“ 115 Vgl. Klapper 1914, S. 339, Z. 35. 116 Vgl. Pfeiffer 1864, S. 263, Z. 10-12. Dies mag damit zusammenhängen, dass Amelius hier die Fürstentochter nicht nur ‚verführt‘, sondern sogar geschwängert hat (S. 263, Z. 8f.). Allerdings hat Amelius auch in der gerade zitierten Münchener Hs. Cgm 523 die Prinzessin geschwängert, ohne dass Karl dies in besonderem Maße zu bewegen scheint. 117 Vgl. Dembowski 1987, L. 44-46.
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bietet eine abgeschwächte Form dieser Szene.118 In der Historia septem sapientum, die zur ersten Textgruppe gehört, wird ein Anfall des Souveräns erwähnt;119 Radulfus berichtet, dass den König der Verruf seiner Tochter schmerzt, ohne Gottesurteil will er Amelius aber nicht verurteilen.120 Bedrohlicher und ungezügelter äußern sich Zorn und haz des Herren in den verbleibenden Texten, die aufgrund der abweichenden Zuordnung der Freunde zu ihren narrativen Positionen eine eigene Untergruppe innerhalb der ersten Textgruppe bilden.121 Tendenziell gilt insgesamt, dass der Herrscher umso zorniger auf die Untreue des jeweiligen Freundes reagiert, je intensiver seine Beziehung zu den Gefährten zuvor war. Vor allem die Texte der zweiten Gruppe sind an der Beziehung der Gefährten zum Herrscher nicht sonderlich interessiert. Erst die Schlusspassage der elaborierten und eines Teils der mittellangen hagiographischen Texte weist Karl und seiner Gattin eine Schlüsselposition zu: Gemeinsam kämpfen und sterben die Freunde in Karls Heer gegen die Langobarden, zusätzlich wird ihnen vom Herrscherpaar auch eine angemessene Bestattung gewährt, die dann in das Grabwunder mündet. Dass Karl mit seiner Gattin Hildegard zusammen agiert, entspricht der Zweizahl der Gefährten: Die zwei Herrscher bauen zwei Kirchen für die beiden Kameraden. Herrscher- und Freundespaar stehen in struktureller Analogie zueinander und werten sich gegenseitig durch das Bestattungsmirakel auf.122 2.2. Die Texte mit vertauschten Freundespositionen: Der Herrscher zwischen liebe und haz Die mittelenglische romance, die anglonormannische Verserzählung und Lille 130 bilden eine eigene Untergruppe innerhalb der adlig deutenden Texte, da die Positionen der Gefährten vertauscht sind: Im Gegensatz zu allen anderen Bearbeitungen besteht hier Amelius an seines Freundes statt den Gottesurteilskampf und wird später aussätzig; Amicus dagegen macht sich der Normverletzung gegen den Herrscher schuldig, indem er sich mit der Prinzessin liiert. Vernachlässigt man den Umstand, dass Konrads Engelhard und die Historia septem sapientum eine zweite Untergruppe bilden, da sich hier anders als in allen anderen Texten die Namen der Freunde deut_____________ 118 Vgl. Paris / Robert 1879, V. 702-791. 119 Vgl. etwa die Innsbrucker Hs. 310: Imperator cum hoc audisset, commota sunt omnia viscera eius (Roth 2004, S. 446, Z. 240f.). („Als der Kaiser das hörte, war sein Innerstes ganz aufgewühlt.“) 120 Vgl. Ogle / Schullian 1933, V. 153f. 121 Vgl. Kap. II.2.2. 122 Vgl. Kap. I.3.3.
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lich voneinander unterscheiden, kann auch der Engelhard der Textgruppe mit geänderten Freundespositionen zugeschlagen werden: Strukturell entspricht die Figur des Engelhard der des Amicus und situiert so diese Version – zumindest sekundär – innerhalb der nun zu besprechenden Textgruppe. Neben der Verkehrung der Figurenkonstellation besteht ein weiteres Charakteristikum dieser Texte darin, dass Amelius bzw. Dietrich den Herrscherhof verlässt, um seine eigene Herrschaft anzutreten.123 Die mittelenglische romance, die anglonormannische Verserzählung und Konrads Engelhard berichten vom Tode des elterlichen Herrscherpaares bzw. vom Tode des Vaters.124 Amelius bzw. Dietrich reisen in die Heimat, um selbst das Herrscheramt zu übernehmen; Amicus bzw. Engelhard verbleiben am Hof. Lille 130 bietet einen abweichenden narrativen Verlauf: Hier verlässt Amile zwar ebenfalls den Königshof, um eine eigene Herrschaft anzutreten, allerdings handelt es sich nicht um sein Erbland, sondern um ein noch zu erringendes Territorium: In Spanien unterstützt er eine contesse, die Krieg gegen einen mächtigen Grafen führt. Amiles Schlachtsieg und seine Schönheit befähigen ihn, die Gräfin zu heiraten.125 Die gelungene Herrschaftsübernahme resultiert hier nicht aus verwandtschaftlicher Einbindung, die Machtkontinuität gewährleistet, sondern aus eigener Leistung und Kampfvermögen; die Freunde sind in Lille 130 in keinerlei Verwandtschaftsstrukturen verankert. Das Gemeinsame der Texte ist, dass sie erfolgreiche, unproblematische Herrschaftsaneignung bzw. -weiterführung thematisieren und dies an Amelius bzw. Dietrich im Gegensatz zu Amicus bzw. Engelhard demonstrieren. Die Texte mit den vertauschten Freundespositionen gestalten das Verhältnis zwischen den Gefährten und ihrem Herrscher ausgeprägter als das restliche Amicus-Amelius-Korpus. Die herrschaftlich strukturierte Beziehung verbürgt zunächst soziale und emotionale Wirksamkeit. In der mittelenglischen romance veranlasst die Schönheit und Vorbildlichkeit der Knaben den duke, ihre Ritterschaft und späteren Erfolg zu befördern.126 Schwertleite und Ausrüstung der jungen Herren stehen ganz im Zeichen der Liebe des Herrschers, die mehrmals betont wird: So well the duke loved hem thoo, / All that thei wold, he fonde hem soo, / Stedes white and broune (Le
_____________ 123 Ansonsten ist es Amicus. Anders als Amicus in den Texten der zweiten Gruppe hat Amelius hier nicht vorher geheiratet, sondern tut dies erst im Zuge seines Herrschaftsantritts. 124 Vgl. für die mittelenglische romance Le Saux 1993, st. 18, für den anglonormannischen Text Fukui 1990, V. 48, und für den Engelhard Reiffenstein 1982, V. 1342-1347. 125 Vgl. Woledge 1939, S. 452. 126 Vgl. Le Saux 1993, st. 7 und st. 10.
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Saux 1993, st. 15, V. 1-3).127 Die Zuneigung des Herzogs beschert den Freunden nicht nur den Ritterschlag, sondern auch Hors and wepen and wordely wede (st. 14, V. 11)128 sowie Hofämter. Als Amylion an seinen väterlichen Hof zurückkehren muss, um nach dem Tode der Eltern seine Herrscherpflichten wahrzunehmen, drückt der Herzog nicht nur sein Bedauern aus, sondern sichert militärische Unterstützung zu: Y was never so wo for frend That oute of my cuntrey yede! But yf it ever befal soo That thow falle in were or woo, That thou have to me nede, Savely com and send thy sond: With al the power of my londe I wreke the of thy dede. (st. 19, V. 5-12)129
Die politische Verpflichtung eines Herren, seinem Verbündeten im Kriegsfall zu Hilfe zu kommen, und die emotionale Betroffenheit des Herzogs über Amylions Abreise fallen zusammen und demonstrieren so die unlösbare Verknüpfung politischer und emotionaler Bedeutsamkeit homosozialer Bindungen. Die Bezeichnung des Abreisenden als frend könnte darauf hinweisen, dass die herrschaftliche Struktur dieses Verhältnisses durch die starke Zuneigung verwischt wird.130 Allerdings ist die Terminologie mittelalterlicher Sozialbeziehungen nicht exklusiv und eindeutig, so dass der Begriff ‚Freund‘ nicht nur innerhalb der Bündnisform der Freundschaft zu finden ist, sondern auch im verwandtschaftlichen Kontext und – wie hier – in herrschaftlich geordneten Beziehungen verwendet wird.131 In der mittelenglischen romance wird die Bezeichnungspraxis allerdings vereindeutigt: Amys und Amylion sprechen sich nie gegenseitig als frend an, sondern stets als brother.132 Die (bluts)verwandtschaftliche Dimension, die der Freundes_____________ 127 „Der Herzog liebte sie so sehr, dass er sie mit allem, was sie sich wünschten, versorgte, wie mit weißen und braunen Pferden.“ Vgl. auch Le Saux 1993, st. 14, V. 4f.: The duke was blythe and glad of chere; / Thei were him both lefe and dere. („Der Herzog war glücklich und hatte einen heiteren Gesichtsausdruck. Sie waren ihm beide lieb und teuer.“) 128 „Pferde, Waffen und kostbare Kleider“ 129 „Ich war noch nie so betrübt wegen eines Freundes, der aus meinem Land fortging. Aber wenn es jemals geschehen sollte, dass dir Leid oder Elend zustößt und du mich brauchst, dann komm unbedingt und sende deine Nachricht: Mit der ganzen Heeresmacht meines Landes werde ich dich von deinem Ungemach befreien.“ 130 Auch Amys wird vom Herzog als my leve frende (Le Saux 1993, st. 22, V. 4), also mit „mein lieber Freund“, angesprochen. 131 Vgl. Bloch 1999, Legros 1980 und Kullmann 1992. 132 Vgl. nur Le Saux 1993, st. 24, V. 5; st. 25, V. 1; st. 26, V. 7; st. 78, V. 6; st. 87, V. 10; st. 88, V. 1 etc.
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bund mit dem Blutopfer konkret besetzt, wird hier bereits von Anfang an diskursiv aufgerufen. Da das Wort ‚Bruder‘ in diesem Text ausschließlich für den aufeinander bezogenen Status von Amys und Amylion benutzt wird, wird deutlich, dass der Text sich um terminologische Abgrenzung bemüht. Die Beziehung des Herzogs zu den Gefährten ist durch gefühlsmäßige und ökonomische Zuwendung wie durch – potentiellen – militärischen Schutz gekennzeichnet. In der mittelenglischen romance wird gleichwohl die emotionale Dominanz der Freundschaft gegenüber dem Verhältnis zum Herrscher artikuliert: Amys bittet den Herzog, mit seinem ‚Bruder‘ ziehen zu dürfen, aber dieser lehnt ab. Die politisch-soziale Dominanz der herrschaftlichen Bindung erfordert, dass die Freunde sich trennen. In der romance und im anglonormannischen Text warnt der abreisende Amylion nicht – wie in vielen der hagiographischen Texte – vor einer Beziehung mit der Prinzessin,133 sondern fordert seinen Gefährten auf, ihrem Herrn nicht untreu zu werden: Of o thing, brother, y warn the beforn: [...] / Be notte ayen thi lord forsworn. / Yef thou do thou art forlorn (st. 25, V. 1, V. 4f.).134 Er betont anschließend nochmals: Be ever trew withoute treson (st. 25, V. 7),135 wobei nicht ganz deutlich wird, ob sich diese Aufforderung auf den Freundesbund oder auf die Bindung zum duke bezieht. Diese Uneindeutigkeit kennzeichnet erneut den hohen Stellenwert der herrschaftlich organisierten Bindung. Trewthe ist hier nicht nur Konstituens der Freundschaft, sondern auch der Beziehung zum Herrn: Die beiden Formen von Treue werden hier aber nicht voneinander getrennt wahrgenommen, sondern bilden eine Einheit. Amys’ Treuepflicht zum duke wird virulent, als dessen Tochter den jungen Ritter zunächst verführen und dann zu einer Beziehung zwingen will. Als Belisaunt ihm droht, ihn der (versuchten) Vergewaltigung zu bezichtigen, bedenkt Amys die schrecklichen Konsequenzen yef I do my lorde that wrong (st. 52, V. 7).136 Le un mal e l’autre mout dota (Fukui 1990, _____________ 133 Er verbietet ihm allerdings den Umgang mit dem verräterischen steward bzw. seneschal. 134 „Vor einer Sache, Bruder, warne ich dich vor allem: [...] Schwöre niemals einen Meineid gegenüber deinem Herrn. Wenn du das tust, dann bist du verloren.“ 135 „Sei immer treu ohne Verrat.“ 136 „Wenn ich meinem Herrn gegenüber dieses Unrecht begehe.“ – Zuvor hat er Belisaunt mit dem Hinweis auf die Statusdifferenz abgewiesen, vgl. Le Saux 1993 st. 49. In der von Leach edierten Hs. A befindet sich eine zusätzliche Strophe, in der Amys die Argumentation dahingehend weiterführt, dass er die Treuebindung an seinen Herrn als weiteres Hindernis benennt: & y dede mi lord þis deshonour, / Þan were ich an iuel traitor (Leach 1937/1990, V. 607f.). („Beginge ich meinem Herrn gegenüber diese Schande, dann wäre ich ein bösartiger Verräter.“) Diese Hs. besitzt eine weitere zusätzliche Strophe (zwischen st. 16 und 17 in Le Saux’ Zählung), in der die Liebe des Herzogs noch stärker herausgestellt wird: & þe riche douke, wiþ-outen les, / Of alle þe men þat oliue wes / Mest he loued hem þan (Leach 1937/1990,
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V. 292),137 heißt es an dieser Stelle im anglonormannischen Text. Der Treuebruch erfolgt, weil Amys sich in einer ausweglosen Situation befindet: Er möchte sich seinem Herrn gegenüber nicht untreu verhalten, aber da Belisaunt ihn sonst anklagen will, wählt er das kleinere Übel. In der romance versucht Amys vor dem Geschlechtsverkehr nochmals, seinen niedrigen Status und die absehbaren Reaktionen seines Herrn als Argumente gegen eine Liebesbeziehung geltend zu machen, allerdings ohne Erfolg.138 Der anglonormannische Text betont in stärkerem Maße eine Gegenseitigkeit der herrschaftlich strukturierten Bindung: Während der counte die Knaben liebt, zu Rittern schlägt und ausrüstet, sind die Gefährten ihm gegenüber treu ([l]eals, Fukui 1990, V. 31). Auch hier legt der Herr bei Amillyouns Abreise einen Hilfeeid ab, hindert allerdings Amys nicht an der Mitreise, da dieser einen solchen Wunsch gar nicht äußert. Amillyouns Treueaufforderung beinhaltet eine stärkere emotionale Komponente als die romance: En bone foy saunz tresoun / A nostre seignur servy avom (V. 75f.)139 ist nur der Anfang der Handlungsvorgabe. Später heißt es: Amez bien vostre seignur, Ne soffrez q’il eit deshonur! Mout li devez amour e foy, Car bien ad amé vous e moy. (V. 99-102)140
In der brenzligen Situation, in der Mirabele, die Florie genannt wird (V. 250f.), ihn verführen will, reflektiert Amys, dass er gegenüber seinem Herrn kein Unrecht begehen will.141 Ähnlich verhält es sich in Lille 130: Auch hier expliziert Amiles, dass er ne vouloit mie faire traїson a son seingnour (Woledge 1939, S. 453),142 und weist die Prinzessin ab, wird aber nichtsdestotrotz von ihr im Bett überrascht. Karls Liebe scheint sich in diesem Text ausschließlich auf Amis zu erstrecken, da von ihr erst die Rede ist, nachdem Amiles den Hof bereits verlassen hat: Charlemainne l’emmoit tant que ce estoit le chevalier qui fust en sa court qu’il amoit miels et qui estoit plus privé de li (S. 452).143 Dies ist nicht vordergründig ein auf herrschaftlichen Struktu_____________ 137 138 139 140 141 142 143
V. 202-204). („Und der mächtige Herzog, ohne Falsch, liebte von allen lebenden Männern sie am meisten.“) „Das eine wie das andere Übel fürchtete er sehr.“ Vgl. Le Saux 1993, st. 61. „In redlicher Treue ohne Verrat haben wir unserem Herrn gedient.“ „Liebt Euren Herrn sehr und lasst es nicht zu, dass ihm Schande widerfährt! Ihr schuldet ihm Liebe und Treue in hohem Maße, da er Euch und mich sehr geliebt hat.“ Vgl. Fukui 1991, V. 269-271. „keinen Verrat an seinem Herrn begehen wollte“ „Karl liebte ihn so sehr, dass er der Ritter an seinem Hof war, den er am meisten liebte und der ihm am vertrautesten war.“
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ren basierendes Verhältnis, da ausschließlich Liebe thematisiert wird, nicht aber Unterstützung oder Ausrüstung. Die Reaktion des Herrschers auf die offenbarte Untreue bietet ein weiteres Indiz dafür, dass das herrschaftlich strukturierte Verhältnis – zumindest von der Seite des Herrn aus – ein emotionales ist. Besonders massiv äußert sich dies in der mittelenglischen romance: Wurde zunächst die Liebe des Herzogs zu den Freunden immer wieder betont, schlägt diese nach dem Treuebruch in unerbittliche Feindschaft um. [G]rame (Le Saux 1993, st. 65, V. 1)144 wird der Herzog zunächst, dann egre of mode (st. 66, V. 1):145 Er stürzt sich mit seinem Schwert auf Amys, verfehlt ihn aber. Amys kann sich in eine Kammer retten, deren Tür der duke durchbohrt. Die Beschwichtigungsversuche der anwesenden Ritter und Knappen schlagen fehl, denn der Herzog ist nicht davon abzubringen, den Verräter auf der Stelle zu töten: Y wold not for this worldys guode Bote that tretour were yslayn! I have don him moche honour, And, certes, he ys a foule treitour! (st. 67, V. 5-8)146
Dies wird sogleich fast wörtlich wiederholt und so nochmals unterstrichen.147 Amys – offenbar hinter der zerhauenen Tür bangend – kann sich retten, indem er einen Zweikampf mit demjenigen vorschlägt, der ihn so verleumdet hat.148 Der wrath (st. 68, V. 2)149 des Herrn wird dadurch gemildert; ein Kampftermin wird vereinbart. Ein derart unvermittelter körperlicher Angriff ist in der anglonormannischen Verserzählung nicht zu finden. Der Graf ist trotzdem de ire enflé (Fukui 1990, V. 331)150 und sagt zunächst kein Wort, um dann ausführlich die Ungeheuerlichkeit der Untreue zu formulieren: ceo traitour m’ad issi hony, / Que tant amey e tant ting cher (V. 334f.).151 Er eilt zu seiner Gattin, um ihr mitzuteilen, dass ihre Tochter eine Hure (pute, V. 366) sei. Amys soll gevierteilt und gehängt, seine Toch_____________ 144 „grimmig“ 145 „im Zornesrausch“ 146 „Nicht für alle Reichtümer der Welt wünschte ich etwas anderes, als dass dieser Verräter getötet würde! Ich habe ihm viel Ehre erwiesen, er aber ist unzweifelhaft ein abscheulicher Verräter!“ 147 Vgl. Le Saux 1993, st. 67, V. 9-12. 148 Tatsächlich streitet Amy die Tat nicht ab, sondern sagt nur, dass er an einem Baum aufgehängt werden will, sofern man ihm eine solche Tat beweisen könne; vgl. Le Saux 1993, st. 68. 149 „Zorn“ 150 „von Zorn erfüllt“ 151 „Dieser Verräter hat eine solche Schande über mich gebracht, der, den ich so geliebt habe und der mir so teuer war.“
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ter aber verbrannt werden.152 Daraufhin verfärbt sich der Graf vor Wut (de mal ard e d’yre, / Devint plus noyr ke carboun, V. 368f.)153 und trifft auf Amys, dem er mit dem baldigen Tode droht. Die Situation mündet wieder in die Vereinbarung des Zweikampfes.154 Lille 130 weicht vom Muster Liebesbekundung – Hassausbruch ab, da Karls ganze Reaktion auf Herdrés Enthüllung darin besteht, Ami zu sich zu rufen und ihm davon zu erzählen.155 Obgleich Konrads Engelhard nur sekundär zu dieser Textgruppe gehört, entwirft auch dieser Text eine ähnliche Konstellation hinsichtlich des Herrscher-Freunde-Verhältnisses. Die Knaben werden von König Fruote zunächst ehrenvoll empfangen und herzlich am Hof aufgenommen. Fruote ist des inneclichen frô / daz ir her zuo mir komen sît (Reiffenstein 1982, V. 718f.). Seinen Besitz will er ihnen zur Verfügung stellen. Die Ausbildung, die er den Freunden angedeihen lässt, wurde bereits erwähnt. Nach Dietrichs Abreise wird Engelhard ze hove deste werder (V. 1655), lieber unde trûter (V. 1661), allerdings ist dies eine allgemeine Einschätzung, die sich nicht ausdrücklich auf das Verhältnis von Fruote zu ihm bezieht. Als sich die Beziehung zwischen Engelhard und Engeltrut anbahnt, verliert Engelhard keinen Gedanken an einen drohenden Verrat gegen seinen Herrn. Engeltrut erwähnt ihren Vater, um Engelhards Avancen – nur vorgeblich – abzuweisen.156 Ansonsten nimmt die Minnehandlung eine so dominante Stellung ein, dass die Reflexion sozialer Hindernisse nicht in den MinneDiskurs eindringen kann; Engeltruts strategischer Verweis auf ihren Vater führt dies um so deutlicher vor Augen, da sie damit Engelhard nicht nur nicht abschrecken kann, sondern es selbst auch gar nicht will. Anderweitige Verpflichtungen und Sozialbeziehungen werden im Angesicht der zwischengeschlechtlichen Liebe unwirksam.157 Als Engelhards Bruch des Treueverhältnisses zu seinem Dienstherren angezeigt wird, schlägt König Fruotes anfänglich sehr positive Einstellung zu den Freunden in Aggression um. [D]es zornes fiure (V. 3550) verschlägt ihm zunächst die Sprache. Wie in der mittelenglischen romance und in der _____________ 152 153 154 155
Vgl. Fukui 1990, V. 365f. „Er brennt vor Bosheit und vor Zorn, er wurde schwärzer als Kohle.“ Vgl. Fukui 1990, V. 371-396. Siehe Woledge 1939, S. 453: Et tantost le roys le manda et li dist cen que Herdré li avoit conté. („Und sofort rief der König ihn herbei und sagte ihm, was Herdré ihm erzählt hatte.“) 156 Siehe Reiffenstein 1982, V. 2092-2095: dir hât mîn vater sô getân / daz dû mich gerne soltest / erlâzen, ob dû woltest / sô schemelicher mære. 157 Schnell 1980 präzisiert Engelhards Fehlverhalten als ‚Unzucht mit Bruch eines Treueverhältnisses‘. Er verweist auf das Vergehen „der heimlichen Eheschließung bzw. der Eheschließung ohne Einwilligung des Muntwalts“, das er im „Terminus ‚tougenlichiu brût‘ angesprochen“ (S. 31) sieht. Dies dürfte auch für die mittelenglische romance zutreffen, die sehr eingehend das dort von der Prinzessin erzwungene Treuegelöbnis bzw. Verlöbnis fokussiert.
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anglonormannischen Verserzählung erscheint ihm der Verrat gegen ihn besonders in Verbindung mit der Minne, die Fruote Engelhard entgegengebracht hatte, ungeheuerlich zu sein. er hæte in als daz leben sîn geminnet und gemeinet ê. dâ von sô muote in deste mê daz er sô wider in gewarp. sîn antlitze erstarp von leide und ouch von zorne. daz houbet er dâ vorne begunde neigen ze tal. sîn herze ûf ungemüete swal unde ûf bitterlichen haz. (V. 3556-3565)
Diesen sich am Körper manifestierenden Emotionen folgen Fruotes Reflexionen, in denen er den Ehrverlust beklagt, der ihm ausgerechnet von Engelhard zugefügt wurde. Die verletzte triuwe führt dazu, dass Fruote nimmer mêre / getriuwen keinem manne (V. 3570f.) will. Außerdem soll Engelhard sîn leben / und den lîp (V. 3585f.) verlieren. Fruote lässt Engelhard binden und zu sich bringen und kann erst von seinen Ratgebern dazu gebracht werden, ihn nicht sofort töten zu lassen. In der folgenden Anklage rekurriert Fruote erneut auf die Zuneigung, die er Engelhard entgegengebracht hatte: ich hæte an iuch mîns herzen gir / geleit (V. 3698f.). In seiner Verteidigungsrede verweist Engelhard zwar immer wieder auf seine Bindung zu Fruote, aber da er des angeklagten Vergehens schuldig ist, sind seine Beteuerungen, dass ihm – im Gegensatz zu Ritschier – des küneges êre (V. 3865) am Herzen liege, ein rein taktischer Schachzug. In seiner Argumentation wälzt Engelhard jegliches schuldhafte Verhalten, das eigentlich ihm selbst anzulasten ist, auf Ritschier ab, so etwa daz ir den künic hât ze schamen / sô vaste brâht bî dirre zît (V. 3884f.). Damit wird die Problematik des Treuebruchs an Fruote zwar aufgegriffen, aber nicht als schlimme Folge der Liebesbeziehung reflektiert, sondern einzig für Engelhards Verteidigungsstrategie nutzbar gemacht. Mit Ausnahme von Lille 130 entwerfen die Texte mit den vertauschten Freundespositionen eine narrative Struktur, die dem herrschaftlichen Verhältnis in besonderem Maße Bedeutung zuweist. Anders als in den meisten anderen Amicus-Amelius-Bearbeitungen – mit Ausnahme der Grenzfälle – erscheint die Beziehung zum Herrscher als explizites Treueverhältnis, das über ökonomische Zuwendung und gefühlsmäßige Verbundenheit funktioniert und so einen Beitrag zur Vervollkommnung der adligen Identität der Freunde leistet (auch wenn dies zwischen Engelhard und Fruote eine einseitige Bindung zu sein scheint). Anders als in den Texten der zweiten Gruppe, in denen keine besondere Beziehung der
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Kameraden zum Herrscher erkennbar ist, verdanken sie hier Ritterschaft und daraus folgende Anerkennung am Hof vorwiegend ihrem Herrn. Erst in dieser spezifischen Konstellation wird der Treuebruch am Herrscher als gravierendes Problem expliziert; in den hagiographischen Texten erscheint dieses Thema als nebensächlich, da die Freundschaft und die an sie geknüpfte Treue das absolute Zentrum der Geschichte vereinnahmen, ohne andere Formen der Vergesellschaftung ernstlich zu berücksichtigen. Das Konzept der Homosozialität wird demnach in dieser Textvariante komplexer gestaltet, indem neben der Freundschaft auch herrschaftliche Bindungen näher beleuchtet werden. Damit geht einher, dass die Stellung der verwandtschaftlichen Ordnung in der Vätergeneration der Gefährten in den Texten mit veränderten Freundespositionen reduziert wird: Die Funktion der Väter wird fast vollständig darauf eingeschränkt, die vorbildliche Herkunft der Gefährten zu verbürgen, die als Fundament ihrer sozialen Identität gilt. Im Fall von Amelius gewährt der Tod des Vaters die problemlose Machtkontinuation in der Dynastie: An Verwandtschaft wird demnach in diesen Texten die Herrschaftsdimension akzentuiert. Die Grundbedeutung des Bundes zwischen dem Herrn und Amicus liegt tatsächlich in der Demonstration eines bestimmten Weges, eigene Macht zu erlangen. Diese Untergruppe des Amicus-Amelius-Korpus ist folglich durch die verstärkte Diskussion von Herrschaft gekennzeichnet: Zum einen geschieht dies, indem die Bindung des Herrschers an die Freunde dargestellt und dadurch das Problem von (hier) Amicus’ Untreue, die zur Herrschaftsaneignung führt, verschärft wird; diesem prekären Entwurf wird zum anderen eine unkomplizierte Möglichkeit von Herrschaftserlangung diametral gegenübergestellt, indem Amelius die Position seines Vaters einnimmt bzw. in Lille 130 sich einen eigenen Machtbereich verschafft. Ein Kennzeichen dieser Textgruppe ist überdies, dass die brisante Thematisierung des Treuebruchs gegenüber dem Herrscher mit dem Versuch einhergeht, die Untreue abzumildern und die Schuldproblematik zu verschieben. Indem die Beziehung zwischen Amicus und der Prinzessin auf spezifische Weise entworfen wird, wird der Konflikt auf der Ebene Herr vs. Amicus verschleiert. Stattdessen wird die Schuld der Prinzessin zugeschoben, die mit ihrer aggressiven und bedrohlichen Werbung um Amicus diesem keine andere Wahl lässt, als sich in das illegitime zwischengeschlechtliche Verhältnis zu fügen. Im Engelhard verhält es sich etwas anders: Da die Minnekrankheit nicht nur als lebensgefährlich wahrgenommen wird, sondern die zwischengeschlechtliche Minne zudem ein essentielles Moment der Identitätskonstitution Engelhards bildet, mindert aber auch diese Konzeption einer zwischengeschlechtlichen Bindung den Verrat des Helden an seinem Herrn.
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Ganz anders erscheint dieser Verstoß, der in der Untergruppe mit vertauschten Freundespositionen sowohl auf normativer als auch auf emotionaler Ebene stattfindet, in der legendenhaften Textgruppe: Hier wird Amelius nicht ‚verführt‘ oder zur zwischengeschlechtlichen Liaison gezwungen, sondern er selbst betreibt die sexuelle Unterwerfung von Karls Tochter. Verschleiert das Verhalten der Prinzessin in den anderen Texten die Brisanz des Themas der Herrschaftsnachfolge, so steht Amelius’ Gewalttat in der hagiographischen Textgruppe als Chiffre dafür, dass er seinen sozialen Aufstieg aggressiv – und letztlich erfolgreich – verfolgt. Dieser wird hier nicht über die Gunst des Herrschers, sondern über seine Bekämpfung erreicht. Allerdings kann Amelius nicht Karls herrschaftlichen Platz einnehmen: Mit der Heirat seiner Tochter bekommt er zwar ein eigenes Territorium, im Gegensatz zu Fruote,158 zum mittelenglischen Herzog159 und zum anglonormannischen Grafen160 stirbt Karl jedoch nicht. In der elaborierten Legendenversion und in einigen mittellangen hagiographischen Bearbeitungen überlebt Karl die Freunde ganz explizit, da die beiden im Langobardenkrieg sterben. Die Untergruppe mit vertauschten Freundespositionen entfaltet eine vermittelnde Version: Rücksichtslose Aggression weicht einer Treuebindung, die in einer Zwickmühle ungewollt beschädigt werden muss. Der soziale Aufstieg erscheint als unvermeidliche Folge, aber nicht als aktiv herbeigeführt. So wird die eigentliche Unrechtmäßigkeit des Herrschaftserwerbs verschleiert. Männliche Homosozialität aber wird über die Grenzen des Freundschaftsmodells hinweg aufgewertet: Privilegierte soziale Bündnisse zwischen adligen Herren erscheinen als identitätsstiftend und bereichernd. 2.3. Der Gewaltausbruch und die Krise der Gleichheit Liest man die sexuelle Vereinigung eines der Freunde mit der Prinzessin als Treuebruch gegenüber dem Herrscher, so demonstriert der Gottesurteilkampf gegen Ardericus die Konkurrenz zwischen dem Freundschaftsbündnis und dem Verhältnis der Gefährten zu ihrem Herrn. Indem die Kameraden vor dem Zweikampf ihre Identität wechseln und so das Gottesurteil für sich entscheiden, bestimmen sie implizit den niedrigeren Stellenwert der herrschaftlich strukturierten Bindung: Diese wird nicht nur _____________ 158 Vgl. Reiffenstein 1982, V. 5080-5083. 159 Vgl. Le Saux 1993, st. 124: Sowohl der Herzog als auch seine Ehefrau sterben, so dass Amys selbst Duke and lorde (V. 8) („Herzog und Herr“) wird. 160 Vgl. Fukui 1990, V. 777-792: Schon nach der Heirat steigt Amys vom Truchsessen zum Grundherren auf. Nachdem der Graf und seine Frau gestorben sind, kann Amys selbst deren Ländereien halten.
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durch einmalige Untreue beschädigt, sondern durch den gelingenden Betrug weiter entwertet, auch wenn die eben besprochene Textuntergruppe dieses Wertungssystem zu verschleiern sucht. Der Widersacher Ardericus nimmt dabei eine polyvalente Stellung ein: In den legendenhaften Bearbeitungen (Textgruppe 2) fungiert er primär als Repräsentant falscher Freundschaft sowie als überzähliger Dritter, der die ideale Zweiheit stört und deshalb beseitigt werden muss. Zugleich aber erscheint er stets als Instanz, die die geltende Ordnung und die etablierte Herrschaftsstruktur zu schützen bemüht ist (wenn auch aus niederen Beweggründen): Diese Funktion erfüllt Ardericus in allen Texten; besonders deutlich aber wird sie in den Bearbeitungen, in denen die Freundespositionen vertauscht sind und die ein verstärktes Interesse an der Herrschaftsthematik aufweisen. In der mittelenglischen romance wird der hier namenlose Konkurrent der Freunde als chefe steward of all his [= the duke’s] lond (Le Saux 1993, st. 17, V. 2)161 eingeführt, nachdem Amylion zum steward in his hall (st. 16, V. 11)162 aufgestiegen ist. Der chefe steward, grundsätzlich als [a] doughty knyght (st. 17, V. 3)163 gekennzeichnet, nimmt die Gefährten als Rivalen wahr: For thei were both guode and hend, / And so well the duke here frend, / He hadde therof enemy (st. 17, V. 7-9).164 Die Rivalität besteht hier nicht so sehr hinsichtlich eines der Gefährten, dessen Freundschaft sich der chefe steward versichern will,165 sondern hinsichtlich des Herzogs, auf den das Begehren des hohen Amtsträgers gerichtet ist. Dies äußert sich auch im fehlenden Namen des Gegners: Einzig sein Amt, also seine Stellung im herrschaftlichen Gefüge des Hofes, charakterisiert ihn. Seine Identität wird somit vornehmlich durch die Beziehung, in der er zum Herrscher steht, bestimmt. Ähnliches gilt für die anglonormannische Verserzählung: Der Kontrahent ist ausschließlich als Inhaber eines höfischen Amtes – als seneschal (Fukui 1990, V. 116) – gekennzeichnet und verweist so auf die herrschaftlich geordnete Hofgesellschaft als Bezugssystem seines Handelns. In Lille 130 besitzt Herdré zwar einen Namen und ihm wird kein Hofamt zugeordnet. Nichtsdestotrotz ist auch seine Feindseligkeit durch seine Bindung an den König motiviert: Nachdem Karls Liebe zu Amis dargelegt wurde, berichtet der Text von einer ebensolchen Beziehung zu Herdré. Or avoit a la cour un trop bon chevalier qui avait nom Herdré, que le roy amoit trop, qui avoit _____________ 161 162 163 164
„Obertruchsess über das ganze Land des Herzogs“ „Hoftruchsess“ „ein mutiger Ritter“ „Denn sie waren beide vorbildlich und tapfer, und der Herzog war so eng mit ihnen verbündet, dass er deshalb Feindseligkeit gegen sie hegte.“ 165 Trotzdem versucht der Antagonist mit dem allein gebliebenen Freund ein Bündnis zu schließen, was jedoch misslingt; vgl. Le Saux 1993, st. 28-33.
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trop grant envie d’Amis, qui estoit si pres du roy (Woledge 1939, S. 452).166 Der Widersacher zeichnet sich in diesen Texten selbst durch eine besondere Bindung an den Herrn aus, so dass er sowohl als Offenbarer des Verbrechens als auch als Kampfgegner im Gottesurteil für die herrschaftlichen Interessen eintritt. Gleichwohl wird sein Verhalten in den Texten abgewertet, da es mit dem expliziten Wunsch, den Freunden zu schaden, einhergeht. Konrads Engelhard stimmt nicht mit dieser Situierung überein: Ritschier ist des küneges swestersun (Reiffenstein 1982, V. 1669), wird also im Verwandtschaftssystem verortet. Trotzdem – bzw. gerade deswegen – besetzt er in der herrschaftlichen Struktur des Hofes eine dem Mutterbruder nahe Position und agiert in Anklage und Kampf als dessen Vertreter.167 Verwandtschaftlicher und herrschaftlicher Diskurs durchdringen einander: Als herre und œheim (V. 3500) spricht Ritschier Fruote an, als er die heimliche Beziehung zwischen Engelhard und Engeltrut168 enthüllt, die Fruotes Ansehen stark beeinträchtigt.169 Ritschier bezeichnet Engelhard als fremden (hunt, V. 3535, und man, V. 3538), der wie zu erwarten Untreue bewiesen hat, und stellt implizit seinen eigenen Status als gegenteilig zu dem des negativen Fremden dar. In all diesen Texten operiert der Gegner auf einer Ebene, die durch die herrschaftlich strukturierte Ordnung am Hofe definiert ist. Aus der Perspektive der Freundschaft demonstriert der Gottesurteilskampf, der die erste Freundschaftsprüfung bildet, hinsichtlich der Bewertung der außerfreundschaftlichen Bindungen demnach die Missachtung herrschaftlicher Verhältnisse. Er bietet damit sowohl die ‚Vorgeschichte‘ zur zweiten Freundschaftsprobe – dem Kindesopfer – als auch ein Pendant zur Abwertung blutsverwandtschaftlicher Zusammenhänge im zweiten Test. Zusammen sind die Freundschaftsprüfungen komplementäre Handlungssequenzen, die nicht nur die Freundschaft stärken, sondern auch die anderen beiden zentralen Vergesellschaftungsformen – Verwandtschaft und Herrschaft – herabsetzen, gleichzeitig aber Bedeutungen dieser Sozialbindungen in das Freundschaftsmodell integrieren. Der Zweikampf endet mit der Übereignung der Prinzessin an den Sieger: Mit dieser Herrschaftsübertragung, die ausschließlich durch die gegenseitige Freundeshilfe zustande _____________ 166 „Da gab es am Hofe einen sehr vorbildlichen Ritter, der Herdré hieß, den der König sehr liebte, der war sehr neidisch auf Amis, der dem König so nahe war.“ 167 Dies gilt ausschließlich auf einer abstrakten Ebene: Ritschier vertritt die Interessen seines Mutterbruders, da er den Verrat an ihm rächen will; auf der Handlungsebene nimmt Fruote zunehmend eine vermittelnde Position zwischen dem angeklagten Engelhard und dem anklagenden Ritschier ein. 168 Diese hatte Ritschier in der Entdeckungsszene als frou niftel (Reiffenstein 1982, V. 3281) bezeichnet. 169 Vgl. Reiffenstein 1982, V. 3500-3544.
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kommt, erfüllt der Freundesbund eine Funktion, die eigentlich der herrschaftlichen Bindung eignet. Freundschaft – und nicht die Beziehung zum Herrscher – gewährleistet den Erwerb von Frau, Land und Herrschaft. Die Geringschätzung der anderen Beziehungsformen wird nicht nur beim Kindesopfer – durch die göttliche Legitimation und Wiederauferstehung der Kinder – verschleiert, auch beim Gottesurteil verfolgen die Texte eine Taktik, die die Schuld der Gefährten mindert, indem sie entweder dem Widersacher der Freunde Untreue und Verrat anlasten (obgleich sich der am Hofe lebende Freund selbst seinem Herrn gegenüber dieser Vergehen schuldig gemacht hat) oder der Prinzessin die aktive Rolle bei den Geschehnissen zuschreiben. Neben dieser Bedeutungsdimension, die den Zweikampf in den Zusammenhang einer hierarchischen Bewertungsordnung verschiedener Vergesellschaftungsformen stellt und eine weitere Inkorporation sozialpolitischer Aufgaben durch das Freundschaftsbündnis demonstriert, besitzt diese Freundschaftsprobe eine weitere Ebene von Signifikanz. Wie bereits dargelegt, wird der von Girard analysierte Opfermechanismus im AmicusAmelius-Korpus in der literarischen Struktur des Kinderopfers konkretisiert. Die Passage um den Gottesurteilskampf beschreibt die vorangehenden Umstände, unter denen Gewalt ausgeübt wird und die ein solches Opfer erst nötig werden lassen. Wie bereits angedeutet, identifiziert Girard eine „Krise der Unterschiede“170 als Ursache der gewaltsamen Zerstörung von Gesellschaft.171 Diese Krise der Differenzen bezeichnet für Girard eine grundsätzliche Krise der kulturellen Ordnung: „Diese kulturelle Ordnung ist nämlich nichts anderes als ein organisiertes System von Unterschieden; es ist dieses graduelle Gefälle von Unterschieden, das den Individuen ihre ‚Identität‘ verleiht und so deren Zuordnung zueinander ermöglicht“ (S. 77).172 Die Auflösung der Differenzen ist an die Emergenz gewaltsamer Rivalität gekoppelt: Das identische Begehren unterschiedsloser, gleicher Subjekte richtet sich auf gleiche Objekte und steigert sich schließlich in ein Begehren nach dem Begehren des Rivalen, das stets an Gewalt geknüpft ist. Von dieser „Vorherrschaft der Gewalt im Begehren“ (S. 213) geht die gesellschaftszerstörende Gefahr aus: Die Gewalt muss eskalieren und kann nicht eingedämmt werden, da das mimetische Begeh_____________ 170 Girard 1992, S. 77. – Das Folgende besonders nach Kap. II und VI, die Seitenangaben hinter den Zitaten beziehen sich auf diese Ausgabe. 171 Streng genommen unterscheidet Girard zwischen dem Opferkult, der Krise des Opferkultes durch Entdifferenzierung und einem einmütigen Gewaltakt gegen ein versöhnendes Opfer als Gründungsakt einer neuen kulturellen Ordnung, wobei die radikale Gründungsgewalt durch an sie anschließende Mythen und Riten verschleiert wird. 172 Ähnlich auch Girard 1992, S. 79.
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ren nie gestillt werden kann.173 Diese „Konvergenz der Wünsche“ (S. 219) bewirkt den Zerfall der kulturellen Ordnung. Signifikanten solch gewalttätiger Entdifferenzierung sind etwa Brüder, in höherem Maße Zwillinge, die die „konfliktuelle[] Symmetrie“ (S. 97) in ihrer leiblichen Ununterscheidbarkeit verkörpern. Von der abstrakten auf eine konkrete Ebene transportiert heißt dies: Je größer die Ähnlichkeit zwischen Brüdern, je geringer demnach ihre soziale Differenzierung, desto größer ist die Gefahr, dass sie etwa um das väterliche Erbe streiten. Zwillingen aber fehlt jegliche Differenz, so dass ihrem Wesen ein zerstörerisches mimetisches Begehren inhärent sein muss: Der Gewaltausbruch scheint unvermeidbar. In diesem Zusammenhang wird der Umstand bedeutsam, dass es sich bei Amicus und Amelius nicht um Brüder oder Zwillinge handelt: Ihre wunderbare Gestaltgleichheit beruht gerade nicht auf verwandtschaftlicher Verbindung, so dass zwischen ihnen keine Rivalität um Herrschaftskontinuation, die über Verwandtschaft perpetuiert wird, ausbrechen kann. Die wechselseitige Identifizierung der Freunde beruht nicht darauf, sich die Objekte des gleichen Anderen anzueignen, sondern auf einem Begehren nach diesem gleichen Anderen selbst und nach immerwährender, einträchtiger Gleichheit.174 Diese Konstellation wird im Amicus-Amelius-Korpus als Idealfall markiert und bildet einen Gegensatz zur negativen Deutung der Entdifferenzierung im Girardschen Kontext. Gleichwohl sind Gewaltausbrüche an die ununterscheidbaren Gefährten gekoppelt: Durch den heimlichen Identitätentausch erlangt einer der Freunde den Sieg im Zweikampf gegen Ardericus. Dieses Blutvergießen resultiert indes nicht aus einer Krise der Unterschiede, sondern – wie auch schon das Kindesopfer – aus einer Krise der Gleichheit. Durch die Körpersubstitution im ersten Freundschaftstest wird zum einen die Differenz hinsichtlich der Ehre ausgelöscht, da nun beide Freunde sich eines – jeweils geheim bleibenden – Vergehens strafbar gemacht haben bzw. das öffentliche Ansehen wiederhergestellt ist; die Gleichheit der Freunde wird zusätzlich durch die gelungene Auswechslung ihrer Körper inszeniert. Dies verweist zudem auf eine Konzeption gemeinsamer Identität, bei der die Einzelidentitäten problemlos ineinander umschlagen können. Zum anderen wird der drohende Tod als ultimative Gefährdung des Freund_____________
173 „Das Subjekt erwartet von diesem anderen, daß er ihm sagt, was gewünscht werden muß, um dieses Sein zu erlangen. Wenn das von höherem Sein anscheinend bereits erfüllte Modell etwas begehrt, dann kann es sich dabei nur um ein Objekt handeln, das eine noch umfassendere Seinsfülle zu vermitteln vermag. Das Modell zeigt dem Subjekt das begehrenswerteste Objekt nicht durch Worte, sondern durch seinen eigenen Wunsch an“ (Girard 1992, S. 215). 174 Damit widerspricht das Amicus-Amelius-Korpus der heteronormativen, psychoanalytischen Trennung von Identifizierung und Begehren. Vgl. dazu auch Girard 1992, Kap. VII.
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schaftsbundes abgewendet. Die Unehrenhaftigkeit der Freunde wird allerdings nie öffentlich wirksam, da sie nie offenbar wird. Die aneinander angeglichene Unehre rekurriert auf die dunkle Seite des Freundesbundes: Die Verabsolutierung der Freundschaft zieht unehrenhaftes Handeln nach sich, das andere Sozialbeziehungen bedroht. Dies wird jedoch von den Texten verschleiert, indem freundschaftliche Idealität ständig betont wird. Wie das Kindesopfer veranschaulicht auch der Zweikampf eine Form dialektischer Gewalt: Die Unterscheidung von Gesellschaft zerstörender und sie konstituierender Gewalt verschwimmt bei dieser Freundschaftsprobe, da es eine Differenz zwischen dem heimlichen und dem öffentlichen Wissen um die Freundesidentitäten gibt. Aus der Perspektive der höfischen Gesellschaft soll die geordnete Gewalt des Gottesurteils Gewalteskalation vermeiden und Gesellschaftlichkeit ermöglichen; das Blutvergießen erscheint in diesem Falle als gerechtfertigt. Durch die Manipulation aber wirkt die Gewalt zerstörerisch, da der Kämpfer, der für die sozialen Normen eintritt, unterliegt; das Blutvergießen ist illegitim und unrein. Das von Amicus und Amelius beeinflusste Gottesurteil vereint diese beiden Bedeutungen: Aus gesellschaftlicher Perspektive funktioniert die Gewaltvermeidungsstrategie und die Etablierung der Ordnung, da der Betrug nie ans Tageslicht gelangt. Dass der – aus dieser Sicht – Falsche siegt und damit das Ritual eigentlich misslingt, zeitigt keine negativen sozialen Auswirkungen.175 Aus der Perspektive der Freundschaft gelingt der Zweikampf ebenfalls: Stellte er zunächst eine Bedrohung dar, wurde diese durch die heimlichen, von den Freunden vorgenommenen Modifikationen abgewendet. Die Gestaltgleichheit der Freunde ermöglicht es, zerstörerische Gewalt als sozial affirmative erscheinen zu lassen. Da die durch den Identitätentausch begangene Gewalt gleichwohl eine unrechte ist, schwelt sie weiter. Dies geschieht jedoch ausschließlich auf der heimlichen Ebene, so dass dieses Problem nur in der freundschaftlichen Dimension bedeutsam wird. Eine Beschwichtigung der Gewalt wird erforderlich, als der Aussatz ausbricht. Die beschädigte Gleichheit der Freunde wird mit einem Akt der Entdifferenzierung – dem Identitätentausch – vorerst wiederhergestellt. Die Entdifferenzierung ist eine gewaltsame, da Ardericus im Kampf überwunden wird, um die Krise der Gleichheit zu beenden. Der Zweikampf fungiert als Mittel zur Begrenzung und Regulierung von Gewalt, das indes nur temporär wirksam ist, da die Gewalt in transformierter Form wieder ausbricht. In der zweiten Freundschaftsprobe wird die Gewalt unwider_____________ 175 Matejovski 1996, S. 247, beschreibt dies für den Engelhard als „Schema der ‚weichen Usurpation‘“: „[D]em Helden gelingt das Kunststück, unter formeller, d.h. öffentlicher Anerkennung der existierenden Rang- und Ordnungssysteme, diese zu überschreiten und gerade so funktionsfähig zu halten.“
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ruflich mit dem einmaligen, geheiligten Gewaltakt des Kindesopfers beendet, der die Gleichheit endgültig restituiert. Damit entwerfen die AmicusAmelius-Texte ein Modell von Identität, das dem von Girard ausformulierten Modell diametral gegenübersteht: Vorbildliche männliche Identität wird nicht durch ein System von Unterschieden, sondern durch Gleichheit gestiftet. Die bestehenden Unterschiede von Herkunft, Heirat und Herrschaftsbereich, die zur episodischen Vervollkommnung adliger Identität führten, werden schließlich in der Gemeinschaft der Freunde aufgehoben.176 Die identischen Begehren, die auf den jeweils Gleichen gerichtet sind, sind wesenhaft nicht gewaltsam: Liebe und friedlicher Umgang kennzeichnen das Bündnis. Das Freundschaftsmodell ist zwar auch an Gewalt gekoppelt, diese ist jedoch nach außen gerichtet. Diese Gewalt eignet nicht dem mimetischen Begehren selbst. Das in den Amicus-Amelius-Texten entworfene Modell unterscheidet streng zwischen einem friedlichen Innenbereich der Freundschaft, dem nur die Gefährten selbst angehören, und einem Außenbereich, dem alle anderen Vergesellschaftungsformen zugeordnet werden und in dem die Kameraden gewaltsam agieren. Trotz dieses Gegenmodells kultureller Ordnung, das der Differenzlosigkeit identitätsproduzierende Kraft zuschreibt, existiert in den Texten eine parallele Vorstellung gewalttätiger Reziprozität, die allerdings nicht an die Freunde gekoppelt ist: Der feindlich gesinnte Gleiche, dessen mimetischer Wunsch Gewalt nach sich zieht, ist Ardericus. Wie die Kameraden ist er ein Graf oder ein Amtsträger am Hofe des Herrschers; in einer großen Anzahl von Texten äußert sich seine Similarität zu den Freunden in seinem Verlangen, selbst ein Freund zu werden, gleichzeitig aber die Freundschaft zu zerstören. Vom Verlangen nach Freundschaft ebenso getrieben wie vom Wunsch nach deren Zerstörung, verkörpert er den Antagonisten, dessen Verhalten Gewalt hervorruft.177 Bei ihm kommt die Vermischung von Aggression und Begehren zum Tragen, die die Gefahr gewaltsamer Entdifferenzierung veranschaulicht. Ardericus figuriert als monströser Doppelgänger,178 da er in der legendenhaften Textgruppe (Gruppe 2) den abwesenden Freund tatsächlich ersetzt, indem er sich als Amelius’ neuer Gefährte etablieren kann. Auch in den Texten, in denen der Widersacher entweder nicht als Freund akzeptiert wird179 oder er _____________ 176 Aus dieser Perspektive verweisen selbst die Texte, die keine abschließende Gemeinschaft der Freunde inszenieren, sondern mit der Wiederauferstehung der Kinder enden, zumindest implizit auf einen solchen Kulminationspunkt der Gleichheit als logische Konsequenz der entworfenen Freundschaftskonzeption. 177 Dies hat bereits Kay für die chanson de geste konstatiert: „From the outset the traitor has sought either to join the companions, or to destroy them“ (Kay 1995, S. 153). 178 Zur Figur des monströsen Doppelgängers vgl. Girard 1992, Kap. VII. 179 Dies geschieht in der mittelenglischen romance, der anglonormannischen Verserzählung und in der chanson de geste.
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selbst gar kein Freundschaftsangebot macht,180 erscheint er als monströse Doppelgestalt der Gefährten. Damit wird deutlich, dass in den AmicusAmelius-Texten neben der zentralen Freundesgleichheit noch eine weitere Ebene etabliert wird, auf der ‚Doppelgängertum‘ nicht mit positiver Bedeutung, sondern mit bedrohlichem Verhalten in Verbindung gebracht wird. Zu beachten ist dabei, dass Hardré nicht hinsichtlich seiner Gestalt oder seines Wesens, sondern hinsichtlich seines Begehrens, seiner sozialen Stellung und – in einigen Texten – bestimmter punktueller Entsprechungen mit den Freunden als ‚Doppelgänger‘ entworfen wird. Insofern ist das Konzept des monströsen Doppelgängers einerseits unbedingt vom Modell identitätsstiftender Gleichheit zu trennen, andererseits aber wird hier ein Spielraum sichtbar, das „Verunsicherungspotential“,181 das auch den positiven Doppelgängerentwürfen anhaftet, auf einer anderen Ebene auszuformulieren. Sarah Kay hat für die chanson de geste herausgearbeitet, wie Hardrés Doppelgängerstatus in der Belauschungsszene konstruiert wird.182 Nachdem er Amile und die Prinzessin bei ihren Intimitäten belauscht hat, gibt Hardré sich zu erkennen und rügt zunächst Amile wegen des illegitimen sexuellen Aktes mit der Prinzessin: „he appears as a double of Ami who had warned Amile against Belissant, wanting to keep him as the object of his desire alone.“183 Anschließend droht Hardré Amile, dass der König ihn enthaupten würde, sobald er von dem Vorfall erfahre und wiederholt damit Amiles Bedenken, die dieser just den Moment zuvor geäußert hat: „Hardré confirms Amile’s judgment, he is the double of Amile himself.“184 Auch in den Texten, in denen Ardericus’ Aggression überwiegt und kein Begehren nach Freundschaft offenbar wird, lese ich Ardericus’ Neid _____________ 180 So in Radulfus Tortarius’ mittellateinischer Erzählung, in Lille 130 sowie im Engelhard und in der Historia septem sapientum, die alle zur Gruppe mit adligem Deutungsmodus gehören; von der zweiten Textgruppe kennt allein das lateinische Exempel keine Freundschaft zwischen Amelius und dem Kontrahenten. Im Miracle, das zu den Grenzfall-Texten zählt, versucht Hardré ebenfalls nicht, Amilles Freund zu werden. 181 Von Bloh 2005, S. 343. 182 Kay analysiert ausschließlich diese Szene, um Hardré als monströsen Doppelgänger zu kennzeichnen. 183 Kay 1995, S. 154. 184 Kay 1995, S. 154. Insgesamt bewertet Kay diese Passage als Unterminierung der symbolischen Zulänglichkeit der Freundschaft: „Hardré travesties and burlesques the similitude between the two heroes; their role as doubles to each other is ironized by this ‚monstrous double‘“ (S. 155). Die Sicht auf Hardré als monströsem Doppelgänger ist insofern zutreffend, als sie das doppelt gerichtete Begehren Hardrés (Verlangen und Aggression) als Ausdruck absoluter Attraktivität des Freundschaftsbundes markiert. Damit wird der Prioritätsanspruch der Freundschaft aber gerade nicht aufgeweicht, sondern durch das zusätzlich an das Freundespaar herangetragene Begehren Dritter noch verstärkt.
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bzw. seinen Wunsch, den Freunden zu schaden und ihre Position zu mindern, als eine analoge Manifestation seines begehrenden und aggressiven Doppelgängerstatus. Dass Ardericus durch die Freunde beseitigt wird, suspendiert zwar einerseits die bedrohliche Bedeutungsdimension, da mit seinem Tod185 auch das von ihm repräsentierte Konzept der gewalttätigen Entdifferenzierung vernichtet wird. Andererseits wird mit Ardericus’ Ende eben dieses Konzept wiederbelebt, da die Freunde durch ihre Handlungsmacht ihr Bedrohungspotential für die gesamte Gesellschaft herausstellen: Durch den Identitätentausch inszenieren sie selbst eine gewaltsame Entdifferenzierung, die allerdings an das Modell harmonischer, idealer Gleichheit gebunden ist und seinem Schutz dient. Die Entdifferenzierung der Gefährten ist an nach außen gerichtete Gewalt gebunden, um den gefährlichen Doppelgänger auszuschalten und harmonische gegenseitige Gleichheit zu gewährleisten. Trotz seines Doppelgängerstatus bleibt Ardericus stets durch einen entscheidenden Unterschied markiert: Er ist durch Untreue definiert und daher Kontrahent der Freunde. Aufgrund der postulierten Differenz kann seine Ähnlichkeit mit den Gefährten nie gemäß des freundschaftlichen Modells, in dem Identität durch Gleichheit gestiftet wird, zum Tragen kommen. Diese ‚Monstrosität‘, die eine Gefahr für die Freunde bildet, führt schließlich dazu, dass Ardericus von ihnen im Zweikampf liquidiert wird. Der Umstand, dass es sich beim Gottesurteil um einen Kampfmodus handelt, der Gewalt regulieren soll, verweist darauf, dass diese geordnete Form von Gewalt auf einen vorhergehenden Gewaltakt reagiert. Wo liegt aber die ursprüngliche Gewalt, die beschwichtigt werden muss, wenn die Gewalt gegen Ardericus nicht die Ursache des Opfermechanismus ist? Der Ursprung der Gewalt ist im Geschlechterverhältnis zu suchen. Ardericus weiß um den mehr oder minder gewalttätigen Akt eines der Freunde gegen die Prinzessin und klagt ihn öffentlich an. Um die Konsequenzen abzuwenden, inszenieren die Gefährten ihre Art des Gottesurteils: Indem der gefährliche Doppelgänger an ihrer statt getötet wird, bedienen sie sich einer Opferung, um sich selbst zu schützen und um die von ihnen selbst praktizierte Gewalt einzudämmen. In diesem Sinne ist Ardericus’ Tod nicht nur Resultat ursprünglicher, unrechter Gewalt, sondern selbst versöhnendes Opfer. Girard beschreibt den Doppelgänger als geeignetes Opfer, da er in der erforderlichen Relation von Identität und Differenz zum Auslöser der Gewalt steht: „[I]hr austauschbarer Charakter sichert _____________ 185 Dass Ardericus in einigen Texten nicht getötet wird, ist dem Stellenwert des Opfermechanismus im Amicus-Amelius-Korpus zuzuschreiben: Da die Opferstruktur einen symbolischen Subtext bildet, der in konkreten narrativen Zusammenhängen verbildlicht wird, also eine literarische Form und kein gesellschaftliches Handlungsmuster ist, blockieren derartige Abweichungen mitnichten die Wirksamkeit des Mechanismus.
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die Opferstellvertretung“ (S. 233). Im Zweikampf der Amicus-AmeliusTexte überlagern sich die Bedeutungen von „opfergebundene[r] Abführung des Rachegedankens“ und „Maßnahme[] zur Dosierung und Erschwerung der Rache“ (S. 36). Diese rekurriert auf die soziale, öffentliche Funktion des Gottesurteils, jene auf die geheime Verwendung und Umdeutung des gesellschaftlich sanktionierten Rituals durch die Freunde. Wie das Kindesopfer ist auch dieses Opfer durch Heimlichkeit gekennzeichnet und markiert so den gesellschaftlich nicht anerkannten Rahmen, in dem die Handlung vollzogen wird. Da der Akt der Opferung formal den sozialen Anforderungen eines Gottesurteils entspricht, wird dieser Bruch nicht öffentlich bedeutsam, sondern manifestiert sich auf verschobener Ebene im späteren Ausbruch der Krankheit. Durch die unzulässige Überlagerung der Bedeutungsebenen wird ein nachgeschobenes Opfer nötig, um die für die Freundschaft schädliche Gewalt, die die Freunde selbst ausgelöst haben, endgültig zu beenden. Der Zweikampf erscheint in diesem Modell als zweite Stufe, der auf den ursächlichen Gewaltakt folgt, ihn aber nicht abschließend begrenzen kann. Die Komplexität des Opfermodells, das im Amicus-Amelius-Korpus entworfen wird, resultiert zum einen aus seiner Dreiteiligkeit: Zwischen Gewaltausbruch (Gewalt gegen Herrschertochter) und endgültiger Beschwichtigung (Kindesopfer) wird eine Zwischenebene eingeführt. Zum anderen sind sowohl Gewaltausbruch als auch -begrenzung an das Freundespaar geknüpft: Gewalt erscheint als inhärentes Problem und Konstituens des Freundschaftsmodells. Jeder der Kameraden übt Gewalt aus und beschwichtigt sie. Der Freund, der die Prinzessin schändet, tötet später seine (und ihre) Kinder: Gewaltausbruch und -beendigung sind also zeitlich klar voneinander getrennt und bilden die erste bzw. letzte Stufe des Opfermodells. Auf der zweiten Stufe zerfließen die Grenzen, da der andere Freund im Zweikampf gleichzeitig gewalttätig ist und Gewalt reguliert. Diese Verundeutlichung basiert darauf, dass sich die Bedeutungen von Gottesurteil und Opfer überlagern und die Identitäten von ‚Doppelgänger‘ und Freundespaar verschwimmen. Der Modus der Verdoppelung durchdringt mithin die gesamte Szene. Für das Freundschaftsmodell bedeutet dies die Produktion von Gleichheit zwischen den Freunden, da ihnen parallele Handlungen zugeordnet werden. Gleichheit, die auch durch Gewalt nach außen hergestellt wird, konstituiert ein Freundschaftsbündnis, das im Innern durch Zuneigung und friedlichen Umgang gekennzeichnet ist. Dies ist ein spezifisch kriegerisches Männlichkeitsmodell, in dem Gewalt und Gemeinschaft zusammengeschlossen werden. Gleichzeitig bedroht diese Gewalt feudalhöfische Sozialität, da sie gegen alle Vergesellschaftungsformen – außer gegen die Freundschaft selbst – gerichtet ist. Die Amicus-Amelius-Texte un-
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ternehmen den Versuch, ein Freundschaftsmodell zu entwerfen, das nicht nur durch Ausübung, sondern auch durch Zurücknahme und Eindämmung der Gewalt definiert ist und so innerhalb von Gesellschaft funktionieren kann. Nichtsdestotrotz wirkt die beschwichtigende Gewalt zerstörerisch gegen andere soziale Relationen: Die Dialektik der Gewalt manifestiert sich im Amicus-Amelius-Korpus auch darin, dass Gewalt für das Freundschaftsbündnis konstitutiv, für andere Bündnisformen aber zerstörerisch wirkt. Die auf Gleichheit basierende Freundschaft kann nur bestehen, indem sie sich blutrünstig gegen andere Beziehungsformen durchsetzt.
3. Geschlechterverhältnisse Verwandtschaft, Herrschaft und Freundschaft bilden die zentralen mittelalterlichen Vergesellschaftungsformen, über die kollektive wie personale Identität produziert wird. Die Amicus-Amelius-Texte entwerfen nicht nur die Kriegerfreundschaft, sondern auch verwandtschaftliche und herrschaftliche Beziehungen vornehmlich in einem homosozialen Rahmen, auch wenn faktisch zumindest den letzten beiden Sozialformen eine zwischengeschlechtliche Dimension eignet.186 Werden im Amicus-AmeliusKorpus die einander wechselseitig bedingenden Konstruktionen von Macht- und Geschlechterverhältnissen häufig – etwa im Blutsverwandtschaftssystem – über den resoluten Ausschluss von Frauenfiguren strukturiert, entwerfen die Texte gleichwohl zwischengeschlechtliche Bindungen. Bei diesen handelt es sich um die Beziehungen der Freunde zu ihren (späteren) Ehefrauen. Die starke männliche Homosozialität der entworfenen Sozialstrukturen lässt zunächst vermuten, dass den Frauen im Amicus-AmeliusUniversum überwiegend ein Objektstatus zugewiesen wird: Ein Austausch dieser Objekte würde dazu beitragen, dass Männerbündnisse konstituiert bzw. gefestigt werden; der Frau dagegen würde keinerlei eigenständige, von ihrer Beziehung zu einer Männergruppe unabhängige Identität zuste_____________ 186 Freundschaft als politisches wie emotional wirksames Bündnis dürfte in dieser Form schwierig auf Beziehungen zwischen Frauen übertragbar sein, da diese keine rechtsfähigen Subjekte darstellen. Das Fehlen politischer Relevanz aber verweist auf ein gänzlich anderes Beziehungskonzept. Epp 1999 erwähnt in ihrer historischen Studie zu Freundschaften im frühen Mittelalter auch zwischengeschlechtliche Bindungen, siehe etwa S. 77f. Zur weiblichen und zwischengeschlechtlichen Freundschaft, die sich mitnichten mit der männlichen Freundschaft messen kann, in der französischen hochmittelalterlichen Literatur vgl. Carré 1992, S. 127-148.
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ternehmen den Versuch, ein Freundschaftsmodell zu entwerfen, das nicht nur durch Ausübung, sondern auch durch Zurücknahme und Eindämmung der Gewalt definiert ist und so innerhalb von Gesellschaft funktionieren kann. Nichtsdestotrotz wirkt die beschwichtigende Gewalt zerstörerisch gegen andere soziale Relationen: Die Dialektik der Gewalt manifestiert sich im Amicus-Amelius-Korpus auch darin, dass Gewalt für das Freundschaftsbündnis konstitutiv, für andere Bündnisformen aber zerstörerisch wirkt. Die auf Gleichheit basierende Freundschaft kann nur bestehen, indem sie sich blutrünstig gegen andere Beziehungsformen durchsetzt.
3. Geschlechterverhältnisse Verwandtschaft, Herrschaft und Freundschaft bilden die zentralen mittelalterlichen Vergesellschaftungsformen, über die kollektive wie personale Identität produziert wird. Die Amicus-Amelius-Texte entwerfen nicht nur die Kriegerfreundschaft, sondern auch verwandtschaftliche und herrschaftliche Beziehungen vornehmlich in einem homosozialen Rahmen, auch wenn faktisch zumindest den letzten beiden Sozialformen eine zwischengeschlechtliche Dimension eignet.186 Werden im Amicus-AmeliusKorpus die einander wechselseitig bedingenden Konstruktionen von Macht- und Geschlechterverhältnissen häufig – etwa im Blutsverwandtschaftssystem – über den resoluten Ausschluss von Frauenfiguren strukturiert, entwerfen die Texte gleichwohl zwischengeschlechtliche Bindungen. Bei diesen handelt es sich um die Beziehungen der Freunde zu ihren (späteren) Ehefrauen. Die starke männliche Homosozialität der entworfenen Sozialstrukturen lässt zunächst vermuten, dass den Frauen im Amicus-AmeliusUniversum überwiegend ein Objektstatus zugewiesen wird: Ein Austausch dieser Objekte würde dazu beitragen, dass Männerbündnisse konstituiert bzw. gefestigt werden; der Frau dagegen würde keinerlei eigenständige, von ihrer Beziehung zu einer Männergruppe unabhängige Identität zuste_____________ 186 Freundschaft als politisches wie emotional wirksames Bündnis dürfte in dieser Form schwierig auf Beziehungen zwischen Frauen übertragbar sein, da diese keine rechtsfähigen Subjekte darstellen. Das Fehlen politischer Relevanz aber verweist auf ein gänzlich anderes Beziehungskonzept. Epp 1999 erwähnt in ihrer historischen Studie zu Freundschaften im frühen Mittelalter auch zwischengeschlechtliche Bindungen, siehe etwa S. 77f. Zur weiblichen und zwischengeschlechtlichen Freundschaft, die sich mitnichten mit der männlichen Freundschaft messen kann, in der französischen hochmittelalterlichen Literatur vgl. Carré 1992, S. 127-148.
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hen. Claude Lévi-Strauss hat diese Konstellation in vormodernen Gesellschaften beschrieben: Die globale Tauschbeziehung, welche die Heirat bildet, stellt sich nicht zwischen einem Mann und einer Frau her, die beide etwas schulden und etwas erhalten, sondern zwischen zwei Gruppen von Männern, und die Frau spielt dabei die Rolle eines der Tauschobjekte und nicht die eines der Partner, zwischen denen der Tausch stattfindet.187
Diese Form des Transfers bildet in der Tat einen bedeutsamen Modus des Geschlechterverhältnisses in den Amicus-Amelius-Texten: Die Heiraten der Freunde stehen oft im Zeichen eines zwischenmännlichen Frauentausches.188 Neben dieser Form der Geschlechterbeziehung, in der das zwischengeschlechtliche Verhältnis völlig einer homosozialen Struktur subsumiert wird, existieren weitere Entwürfe von Geschlechterverhältnissen, in denen Weiblichkeit unterschiedlich modelliert wird. Die Position der Frauenfiguren lässt sich nicht auf den „bloßen Reflex männlicher Identitäten“189 reduzieren, die in einem klar definierten System ausschließlich Objektstatus einnehmen können. Die Texte entwickeln divergierende Formen weiblicher Handlungsfähigkeit und Subjekthaftigkeit, die sich bisweilen dem männlichen Projekt der Herstellung vorbildlicher Identität über Gleichheit eigensinnig entgegenstellen. Während die Eheschließung grundsätzlich notwendig ist, um die herrschaftliche und dynastische Identität der Protagonisten zu vervollkommnen, werden den eigentlichen Geschlechterverhältnissen in den einzelnen Texten voneinander abweichende Bedeutungen zugemessen. Die unterschiedlichen Bearbeitungen weisen erstaunliche Differenzen auf: Von einer kaum vorhandenen Bindung bis zu bedrohlichen Unterwerfungstaktiken reichen die narrativen Ausgestaltungen; von einer rein dynastischfamilialen Verankerung bis zur Minnekrankheit, durch die sich zwischengeschlechtliches Begehren äußert, erstreckt sich die Situierung dieser Beziehungsform. Schreiben die Amicus-Amelius-Texte – in unterschiedlicher Ausprägung – homosozialen Beziehungen politische und emotionale Relevanz sowie identitätsstiftende Wirkung zu, ist nun der Status der Geschlechterverhältnisse zu eruieren. Das hegemoniale Männlichkeitsmodell dieser Textgruppe imaginiert ein Idealbild männlicher Identität, das sich auf spiegelnder Gleichheit und Gewaltausübung gründet. Gleichheit wird – neben vielen weiteren Konstituenten – auch durch die Zugehörigkeit zum männlichen Gender bestimmt, was außer der absoluten Gestaltgleichheit auch gleiche Handlungsräume und Verhaltensfelder eröffnet, durch die die Gefährten _____________
187 Lévi-Strauss 1981, S. 189. 188 Vgl. Kap. II.3.2. 189 Klinger 2002, S. 284, zur Kritik an Lévi-Strauss.
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einander immer ähnlicher werden. Die identische Männlichkeit der Freunde wird von anderen Männlichkeiten flankiert, die das zentrale Modell entweder unterstützen oder gegen die sich die Freundschaft abgrenzt. Ein derartiges Konzept monologischer Männlichkeit,190 in dem sich männliche Identität durch die Beziehungen zu anderen Männern konstituiert, wird besonders in den Fassungen der ersten Textgruppe, die also vornehmlich in adlig-höfischen Deutungssystemen verankert sind, und in der dritten Textgruppe (Grenzfälle) durch die verschiedenen Weiblichkeitsmodelle modifiziert: Männlichkeit wird in diesen Texten auch über die Relationalität zu Weiblichkeit gestiftet. Umgekehrt gilt letzteres auch für die Konstituierung von Weiblichkeit. Kann männliche Identität grundsätzlich aber ohne Rekurs auf das Weibliche konstruiert werden, ist Weiblichkeit ohne Männlichkeit in den Amicus-Amelius-Texten kaum denkbar. Die Begünstigung und Hochschätzung von Männlichkeit und der Ausschluss von Weiblichkeit manifestieren sich bisweilen in einer ‚männlichen Weiblichkeit‘, also in einer Imagination der Frauenfiguren, die ausschließlich innerhalb männlicher Zeichenordnungen bedeuten. Im Folgenden werde ich die unterschiedlichen Entwürfe der beiden Frauenfiguren nacheinander betrachten: Zuerst wird Belixenda,191 dann Obias192 – geordnet nach Textgruppen und einzelnen Bearbeitungen – in ihren diversen Erscheinungsformen beleuchtet. Diese unterscheiden sich deutlich voneinander und sind in unterschiedliche Bedeutungsökonomien eingebettet. Schließlich möchte ich auch die Geschlechterverhältnisse in Hinsicht auf ihren Ort und ihre Funktion im Gewalt-Opfer-Modell, das die Amicus-Amelius-Texte strukturiert, untersuchen.
_____________ 190 Vgl. Einleitung 3 und Gaunt 1995, S. 22-70. 191 Kuefler 2000, S. 442, hat auf die Bedeutung des jeweiligen Namens der Herrschertochter hingewiesen: „The name of Amicus’s eventual bride, Belixenda [in der lateinischen elaborierten Vita], called Belissant in French, is derived from the word for ‚beautiful,‘ and in Middle English Mirabele, which recalls both ‚beautiful‘ and ‚wondrous‘.“ Bezüglich des mittelenglischen Textes irrt Kuefler, denn dort heißt die Prinzessin ähnlich wie in den französischen Bearbeitungen Belisaunt; Mirabele, genannt Florie, ist die Herrschertochter in der anglonormannischen Erzählung. In einigen Texten hat sie keinen Namen. Im Engelhard verweist ihr Name Engeltrut auf die Nähe zum Protagonisten; in der Historia septem sapientum rekurriert der Name Florentina nicht nur auf blühende Schönheit, sondern auch auf Ansehen und Macht. – Die einzelnen Texte weisen nochmals Unterschiede des Namens auf: So heißt Belixenda bisweilen Bellicendine (französische mittellange Legende), Belegenda (altnordische Legende) oder Ulixenda (Graz 873). 192 Die legendenhaften Texte weisen mit Thobias und Ebyas Namensvarianten auf; die Lubias der chanson de geste fügt sich in diese Reihe ein. In einigen Texten besitzt sie keinen Namen.
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3.1. Belixenda: Von der Vergewaltigung zur Minnekrankheit: Transformationen zwischengeschlechtlichen Begehrens Vergewaltigung und sexueller Akt: Punktuelle Geschlechterbegegnungen (Textgruppe 2) Obgleich Amicus seinen Gefährten in der lateinischen elaborierten Legende vor (einer Kontaktaufnahme mit) der Königstochter193 gewarnt hat, wird Belixenda von Amelius vergewaltigt. Comes vero Amelius super regis filiam oculos iniecit et eam quam cito potuit oppressit194 (Kölbing 1884, S. ci, Z. 18f.), heißt es kurz und deutlich: Auf die visuelle folgt die körperliche Inbesitznahme der Prinzessin.195 Der gewaltsame Akt, den Amelius verübt, lässt Belixenda als unbewegliche, passive Zielscheibe seiner Aggression erscheinen. Die gewaltsame Unterwerfung der Prinzessin, wie sie in der lateinischen elaborierten Vita beschrieben wird, ist in den anderen beiden elaborierten Bearbeitungen entweder abgemildert oder zur einvernehmlichen Handlung umgedeutet. Amile [...] la conust tantost cum il pot (Moland / D’Héricault 1856, S. 51),196 heißt es lakonisch in der französischen Fassung, während die kymrische Vita die Szene nicht nur ausbaut – eine _____________ 193 In Hermann Korners Geschichte handelt es sich nicht um die Herrschertochter, sondern um ênes vorsten dochter (Pfeiffer 1864, S. 263, Z. 6f.). 194 „Graf Amelius warf aber ein Auge auf die Königstochter und vergewaltigte sie, sobald er konnte.“ – Ein Großteil selbst neuerer Forschungsliteratur unterschlägt die Gewaltsamkeit (z.B. Le Saux 1993, S. 107), behauptet stattdessen eine Liebesbeziehung (etwa Leach 1937/1990, S. xvii, und Oettli 1986a, S. 47) oder verkehrt gar die Konstellation, indem nun die Prinzessin angeblich Amelius unterwirft (Kuefler 2000, S. 448). 195 Der Terminus ‚Vergewaltigung‘ bezeichnet die moderne, nicht die mittelalterliche Bewertung der Geschehnisse. Vgl. zum Thema Vergewaltigung bzw. raptus in Mittelalter und Früher Neuzeit besonders Brundage 1982 und 1987, ferner Gravdal 1991, S. 1-11, und Levine 1996; auch in den Aufsätzen von Buschinger 1984 und Rieger 1988 zu literarischen Darstellungen von Vergewaltigung finden sich kurze Abrisse historisch-rechtlicher Umstände. In den vielfältigen existierenden Rechten (bedingt durch territoriale Unterschiede, Differenzen im Kirchen- und Zivilrecht usw.) existieren komplexe und teilweise divergierende Bedeutungen des rechtlichen Terminus raptus (der nicht einfach mit Vergewaltigung übersetzt werden kann). Ab dem 12. Jahrhundert differenzierte sich im Kanonischen Recht ein System zur Bestimmung von Vergewaltigung (raptus) heraus, das aus vier Elementen bestand: Gewalt, Entführung, Koitus und fehlendes Einverständnis einer der Beteiligten. Nach einem solchen Verständnis handelt es sich bei Amelius’ Akt aus dem Zitat nicht um eine Vergewaltigung. Obgleich die Terminologie also eine problematische ist, verwende ich sie trotzdem ganz absichtlich, da die Form, wie Amelius von der Prinzessin Besitz ergreift, in der Amicus-Amelius-Forschung oft in frappanter Weise ausgeblendet wird. Häufig wird von einem Liebesverhältnis zwischen Amelius und Belixenda gesprochen (vgl. auch die vorige Anmerkung), obgleich gerade die elaborierte lateinische Legende den gewaltsamen Vorgang greifbar werden lässt. Ich nenne den Akt ‚Vergewaltigung‘, um dieser beunruhigenden Blindheit entgegenzuarbeiten. 196 „Er erkannte sie, sobald er konnte.“
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grundsätzliche Tendenz dieses Textes –, sondern ein sich an Amlyns Körper abzeichnendes Verlangen entwirft: A gwedy riuedi bychan o dieuoed o’r amser hwnnw, y disgynnawd karyat merch y brenhin yn gymeint yn Amlyn ac nat oed gygwn vn asgwrn yn y gorff ny bei lawn o’e charyat. A phan gauas kyfle gyntaf, agori y gallon idi a oruc, a dangos y karyat a oed ganthaw tu ac attei. Ac yna y gwrthebawd hi idaw ef, ac y dywawt bot yn vwy degwm y charyat hi arnaw ef no’e garyat ef oll arnei hi. A phan gawssant gyfle gyntaf ac amser, o’r dyd hwnnw allan, dangos a wnaethant drwy duundeb gweithret bot yn vwy no meint y karyat o bop parth. (Williams 1982, Z. 290298)197
Amlyns Verlangen erinnert an rheumatische Beschwerden, denen die Prinzessin kein originäres eigenes Begehren entgegensetzt: Sie reagiert, indem sie selbst Amlyns Gefühle spiegelt und dabei noch steigert. Die Gegenseitigkeit des Begehrens ist dennoch deutlich an eine einförmige Begierde gekoppelt: Einem im Skelett des männlichen Körpers sich manifestierenden Verlangen begegnet ein gespiegeltes Begehren, so dass es sogleich zu einer Vereinigung kommt. Die Krankheitssymptomatik verankert das Begehren tief im männlichen Leib und motiviert den akuten Handlungsbedarf. Die zwei lateinischen Fassungen der mittellangen Legendenversion weisen wie die elaborierte Version das Verb oppressit (Vincentius 1624/1965, cap. clxiiii, S. 956, Sp. 2; Schönbach 1877, S. 855) zur Beschreibung des sexuellen Aktes auf. Die anderen Bearbeitungen eliminieren das Element der Gewalt, bleiben ansonsten genauso wortkarg: Die französische mittellange Vitafassung vermerkt etwa, le plus tost qu’il pot, il se coucha avec elle (Woledge 1939, S. 447).198 Einige der mittellangen Fassungen beschreiben den sexuellen Akt hinsichtlich seiner Auswirkung auf die körperliche Integrität der Prinzessin: In Andreas Kurzmanns Text gelingt es Amelius, jern maitum gar czu swachn (Oettli 1986a, S. 157, V. 388); als einzige Fassungen imaginieren Cgm 523 und Hermann Korners Bearbeitung als Konsequenz eine Schwangerschaft der Prinzessin (Reiffenstein 1982, S. 244, Z. 113f.; Pfeiffer 1864, S. 263, Z. 7-9). Der Raub ihrer Jung_____________ 197 „Und nach einer kurzen Anzahl von Tagen dieser Zeit senkte sich eine Liebe zu der Tochter des Königs so sehr auf Amlyn, dass es kein einziges Knochengelenk in seinem Körper gab, das nicht voll von Liebe zu ihr war. Und bei der ersten Gelegenheit öffnete er ihr sein Herz und zeigte die Liebe, die er für sie fühlte. Und da antwortete sie ihm und sprach, dass [selbst] ein Zehntel ihrer Liebe für ihn größer sei als seine ganze Liebe für sie. Und von diesem Tag an, als sie die erste Möglichkeit und Zeit erhielten, zeigten sie durch Einigkeit der Taten, dass ihre Liebe von jeder Seite größer war“ (Übersetzung Regine Reck). 198 „Sobald er konnte, schlief er mit ihr.“ – Ähnlich die Berliner Hs. Mgq 261: Neit lange derna [...] bekant he sy (Oettli 1986a, S. 181, Z. 105f.). Immer geht dem Akt das Ansehen, das ‚Auge-Werfen‘, voran. Andreas Kurzmann lässt Amelius mit ganczer gier (Oettli 1986a, S. 157, V. 384) die Königstochter ansehen. In München, Cgm523, ist davon die Rede, dass die dochter seinen augen wol geuiel (Reiffenstein 1982, S. 244, Z. 112f.).
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fräulichkeit ist es in einigen elaborierten und mittellangen hagiographischen Texten, der von Ardericus vor dem König angeklagt wird: hann tók af dóttur yñvarri sitt meydómsblómstr, heißt es etwa im altisländischen Legendenfragment (Kölbing 1874, S. 185).199 In der Seelentrost-Tradition verbindet sich die Vorstellung von Gewalt mit der von gegenseitiger Liebe: Do hadde de konningk eyne dochter, de wan Amelius leff, vnde se hadde Amelius wedder leff, doch nicht vppe vntucht, sunder vppe eyn erlijk echte. Do vordroch Amelius sin bekoringhe vnde nam de juncfruwen ware, dar he se allene vant, vnde dede er gewalt (Großer Seelentrost, Schmitt 1959, S. 230, Z. 16-19). Zudem wird einzig hier der Begriff ‚Unzucht‘ herangezogen und in die Nähe des Vorfalls gestellt200 und damit deutlich auf eine rechtliche (und moralische) Verfehlung hingewiesen.201 Einzig in den SeelentrostFassungen wird die Gewalttat auch aus Sicht der Prinzessin beschrieben, am ausführlichsten im Großen Seelentrost: De juncfrowe schonede erer ere vnde ne wolde nicht ropen vnde en dorstet ock nemande clagen vnde wenede vnde bedrouede sijk sere (Schmitt 1959, S. 230, Z. 19-21).202 Die anderen minimalen Texte umschreiben mit: Amelius familiaritatem contraheret cum filia regis (lateinisches Exempel, Klapper 1914, S. 339, Z. 33f.)203 und [s]o it happened hym priualie to lie by þe kyngis doghter (Fassung des Alphabet of Tales, Macleod Banks 1904/05 / 1987, S. 39, Z. 8f.).204 Die Variationen können Gewalt in die Aufnahme sexueller Beziehungen ebenso einschließen wie ein auch immer geartetes, punktuelles Verlangen: Punktuell bleibt es, da es später nie wieder artikuliert wird. Die Abwesenheit jeglicher Emotion kann die Bedeutungslosigkeit dieser Episode für Amelius’ Gefühlsökonomie herausstellen: In einigen Texten beinhaltet die kurze Erwähnung des Beischlafs keinerlei Beschreibung von Zuneigung. Zusammen mit der Kürze der Darstellung verweisen diese Variationen auf eine Unvergleichbarkeit der Freundschaft mit dieser ‚Beziehung‘, die ja oft _____________ 199 „Er nahm Eurer Tochter ihre Blume der Jungfräulichkeit.“ 200 Nur die dem sexuellen Akt vorgängige Beziehung zwischen Amelius und der Prinzessin wird ex negativo als nicht vppe vntucht und als erlijk echte beschrieben. Der Akt selbst wäre dann wohl als vntucht und Vergewaltigung zu bezeichnen. Die Bezeichnung dieser Handlung als Unzucht fehlt in der von Wackernagel edierten Seelentrost-Fassung der Amicus-AmeliusGeschichte und in der Hannoverschen Handschrift. In jener fehlt auch der Verweis auf die Gegenseitigkeit der Affekte, sie gehen ausschließlich von Amelius aus. 201 Die zu den mittellangen Fassungen gehörende Berliner Hs. Mgq 261 überschreibt das entsprechende Kapitel mit Van der sunden Amelij [...] (Oettli 1986a, S. 180, zwischen Z. 92 und 93) und macht damit ebenfalls eine wertende Aussage. 202 Hier wird die Vorstellung einer Vergewaltigung nicht nur über den expliziten Terminus der gewalt transportiert, sondern auch über die von der Prinzessin unterlassenen Handlungen: ropen und clagen verweisen auf obligatorische (spät-)mittelalterliche Reaktionsvorgaben für vergewaltigte Frauen, die das Verbrechen anzeigen wollen. Vgl. etwa Duerr 1985, S. 373. 203 „Amelius hatte freundschaftlichen, vertrauten Umgang mit der Tochter des Königs.“ 204 „So geschah es ihm, dass er heimlich bei der Königstochter lag.“
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nicht mehr ist als ein einmaliger Zusammenstoß zweier Körper. Ein durchgängiges Interesse an der Königstochter besteht weder als textuelles noch von Seiten Amelius’. Um die Alterität historischer Begehrensökonomien zu beschreiben, nimmt Michel Foucault eine Unterscheidung zwischen sexuellen Akten und Identitäten vor: Er beschreibt die Differenz zwischen einem modernen Konzept kohärenter ‚Sexualität‘ und einer mittelalterlichen Rechtspraxis, in der diverse sexuelle Akte bewertet und gegebenenfalls bestraft werden.205 Auch wenn Foucault dies am Beispiel der Homosexualität exemplifiziert, gilt seine Unterscheidung ebenso in einem heterosexuellen Zusammenhang: Dem normativen wie dem als Abweichung klassifizierten Modell sexueller Identität liegt in der Moderne ein kohärenter Zusammenhang von Geschlechtsidentität, Begehren und sexuellen Praktiken zugrunde, der Identität konstituiert.206 In der modernen heteronormativen Ordnung bringt das Begehren nach dem jeweils anderen Geschlecht eine binäre Geschlechteropposition hervor; Homosexualität entspricht in diesem Regime nicht den Normen kultureller Intelligibilität, erscheint aber in ihrer analogen Strukturierung zugleich als deviantes Modell und als notwendige Negativfolie zur hegemonialen Heterosexualität. Ein derartiger Zusammenhang, der zum einen vorgegebene Formationen von Begehren, Geschlechtsidentität und Sexualität voraussetzt und konstituiert und zum anderen einen Antagonismus zwischen Hetero- und Homosexualität postuliert, lässt sich mittelalterlichen Denkmodellen nicht ohne weiteres unterstellen. „[T]he shapes of sexuality, and what counts as sexuality, both depend on and affect historical power relationships.“207 In der legendenhaften Textgruppe des Amicus-Amelius-Korpus (Gruppe 2) erscheint der zwischengeschlechtliche sexuelle Kontakt fast immer als vereinzelter Akt, der mitnichten die Existenz eines zwischengeschlechtlichen Begehrens voraussetzt, sondern gleichermaßen an Gewaltsamkeit oder Herrschaftswillen geknüpft sein kann. Wenn ich in diesem Zusammenhang den Terminus ‚sexuell‘ benutze, dann bezieht sich dieser einzig auf die Genitalität der Handlung, also auf die Einbeziehung der Geschlechtsorgane, und verweist nicht schon auf den modernen begrifflichen Komplex ‚Sexualität‘, der an spezifische strukturelle Verbindungen von Identitäten und Begehren gekoppelt ist. Die von Foucault vorgenommene Zuordnung diskontinuierlicher sexueller Akte zum Mittelalter als Gegenstück zu modernen Sexualitäten greift zwar zu kurz, um historische Organisationsformen von Begehren, _____________ 205 Foucault 81995, S. 58f. 206 Vgl. Butler 1991. 207 Sedgwick 1985, S. 2; Hervorhebung im Original.
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Lüsten und sexuellen Handlungen detailliert zu beschreiben, ermöglicht es jedoch, ein ahistorisches Konzept von Heteronormativität grundsätzlich in Frage zu stellen. Die Amicus-Amelius-Texte, die zur zweiten Gruppe innerhalb des Korpus gehören, entwerfen ein Modell, das identitätsstiftendes Begehren an den homosozialen Freundschaftsbund koppelt, diskontinuierliche sexuelle Handlungen aber an die Geschlechterbeziehung. Normative ‚Heterosexualität‘ beschränkt sich im Weiteren auf dynastische Reproduktion und steht somit in einem Kontext von Herrschaftswillen.208 Ein kohärentes erotisches Verlangen zwischen den Geschlechtern außerhalb dieses Zusammenhangs existiert selbst in den Texten nicht, die von einem einseitigen oder gar gegenseitigen zwischengeschlechtlichen Begehren zum Zeitpunkt der sexuellen Vereinigung erzählen. Jenseits dieses Momentes besteht ein derartiges Verlangen nicht fort. Der Kriegerfreundschaft hingegen eignet sowohl – für die Protagonisten – identitätsstiftende Wirksamkeit als auch – für das Textkorpus – narrative Strukturkraft; sie ist damit durch Kontinuität und Effektivität gekennzeichnet. Amicus’ Warnung vor der Prinzessin209 und Amelius’ Normübertretung, die die Freundschaft gefährdet, stehen demnach nicht im Kontext einer Konkurrenz von gleichgeschlechtlicher Freundschaft und zwischengeschlechtlicher Beziehung: Stattdessen wird rechtswidriges Handelns beleuchtet, das sich daraus zusammensetzt, dass Amelius den Rat (consilium) des Freundes missachtet (Aber Amelius der hielt der gebot Amico nit, Reiffenstein 1982, S. 244, Z. 112), also das rechtliche Freundschaftsbündnis beschädigt, und sich zudem die Königstochter auf illegitime Weise sexuell aneignet. Die lateinische elaborierte Vita macht deutlich, dass Amicus’ Anweisung die Funktion hatte, stultam illius voluntatem reprimere (Kölbing 1884, S. ci, Z. 21),210 also affektdämpfend wirken sollte. Amicus antizipiert mit seiner Verhaltensvorschrift die Grenzüberschreitung seines Gefährten: Die Trennung des Freundespaares verweist damit auf eine affektregulierende Wirkung des Bundes, die indes ausschließlich über physische Nähe funktioniert. Die elaborierten Texte erklären und rechtfertigen Amelius’ Fehlverhalten durch biblische Parallelen. Wurde Amicus zuvor als weiser Salomo beschrieben und damit zusätzlich in seiner Rat gebenden, warnenden Tätigkeit legitimiert (Adultum vero Bericanum puerum tanta sapientia Deus decoravit, ut illum quasi alterum Salomonem crederes, Kölbing 1884, S. xcviii, Z. 37f.),211 wird das salomonische Deutungsmuster nun auch für den _____________ 208 Zur Diskussion dieser und verwandter Thematiken siehe den grundlegenden Aufsatz von Klinger 2002. 209 In den Minimalfassungen existiert keine Warnung. 210 „sein törichtes Begehren zu zügeln“ 211 „Als Erwachsenen hatte Gott den Jungen aus Bourges mit solcher Weisheit geschmückt, dass du ihn für einen zweiten Salomo halten könntest“ (nach Kuefler 2000, S. 446). – Die-
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versagenden Amelius angewendet: Mas ceste avanture n’est pas trop estrange, cum il ne fut pas plus sainz de David, ne plus saiges de Salamon (Moland / D’Héricault 1856, S. 51).212 Damit ist der textuellen Erklärungsanstrengung für Amelius’ Handeln Genüge getan. Aus handlungsdynamischer und -motivatorischer Sicht ist Amelius’ Aggression bzw. sein Begehren nach der Prinzessin an den Abschied von Amicus gekoppelt: In diesem Zusammenhang gefährdet Amelius’ Handeln zum einen die Freundschaft, da Amelius die Ermahnungen seines Freundes missachtet und ihn so hintergeht. Zum anderen beleuchtet es Amelius’ Bestreben, die zu diesem Zeitpunkt virulent gewordene Differenz zu Amicus zu tilgen: Als Ehemann hat dieser sich ein Rittergut erheiratet. Dieser Umstand bewirkt die Trennung der Gefährten: Amelius begegnet dieser bedrohlichen Situation mit der mehr oder minder gewaltsamen Durchsetzung eines sexuellen Aktes. Beim Objekt, das er sich aneignet, handelt es sich um die Landeserbin, die bei Amelius einen Affekt herrschaftlichen Begehrens213 auslöst. Es existiert weder ein kohärentes ‚heterosexuelles‘ Begehren, noch wird primär Geschlechtsidentität konstruiert: Amelius demonstriert seinen Willen, sich die Prinzessin anzueignen und sich damit seinem Gefährten anzugleichen. Aus dieser Perspektive ist allein der Beischlaf – nicht seine gewaltsamen oder gewaltlosen Umstände – bedeutsam, da er die Aufhebung der Differenz zwischen den Freunden initiiert: Jäher Gewaltausbruch und punktuelle Begierde sind fakultative Manifestationen eines Begehrens, das ausschließlich auf die Produktion der Freundesgleichheit und auf die Auslöschung jeglicher Unterschiede zwischen den Gefährten gerichtet ist. Die Gewaltsamkeit, die der Prinzessin entgegengebracht wird, kann einerseits auf die Schwere des Differenzproblems zwischen den Freunden rekurrieren, die nach drastischen Gegenmaßnahmen verlangt. Andererseits kann gewalttätiges Handeln ein männliches Verhaltensmuster markieren, das für den Freundesbund konstituierende Bedeutsamkeit erlangt, sich auf die anderen Sozialbeziehungen aber zerstörerisch auswirkt. Ein tatsächliches Begehren Amelius’ nach der Prinzessin entwirft allein die kymrische elaborierte Legende. Die Texte in der SeelentrostTradition verbinden zwar die Vergewaltigung mit einer Form von Zuneigung, da Prinzessin und Amelius sich lef (Oettli 1986a, S. 144, Z. 36) haben. Just davor aber berichten die Texte von der Gunst, die das Hofgesin_____________ se Beschreibung weist auch die mittellange Version auf; vgl. Vincentius 1624/1965, cap. clxii, S. 956, Sp. 1. 212 „Aber diese Begebenheit ist nicht sehr befremdlich, da er nicht heiliger als David und nicht weiser als Salomo war.“ 213 Vgl. zur Differenzierung unterschiedlicher Formen von Begehren demnächst Judith Klinger, Fremdes Begehren (unveröffentlichtes Manuskript).
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de dem Freundespaar entgegenbringt:214 al der malck hadde se lef (Oettli 1986a, S. 144, Z. 34). Die Herrschertochter und Amelius verbindet mithin nicht notwendigerweise ein inniges, zwischengeschlechtliches Gefühl, sondern ein Umgangsmodus friedfertiger Anerkennung, den Amelius dann durch sein Verhalten zerstört. Insgesamt ist es für die Texte hinsichtlich des Ergebnisses, das der Beischlaf nach sich zieht, nachrangig, ob der Kontakt erzwungen oder einvernehmlich war: Der intakte, jungfräuliche Körper der Prinzessin ist irreversibel beschädigt. Dass dieser Umstand öffentlich bekannt wird, zieht juristische Sanktionen nach sich. Nachdem Amicus für Amelius den Zweikampf gewonnen hat, wird Belixenda Amelius übereignet. Hochzeit215 und Herrschaftsantritt stellen ihn wieder auf eine Stufe mit seinem Gefährten. Sollte je ein wie auch immer geartetes Begehren nach Belixenda bestanden haben, erlischt dies nun: In den folgenden narrativen Sequenzen erscheint sie als Amelius’ vorbildliche Ehefrau, die sich in den elaborierten und mittellangen Legenden mit ihrem Gemahl um dessen aussätzigen Freund sorgt. In der elaborierten Version rügt sie gar ihren Mann nach der Wiederauferstehung der getöteten Kinder, dass er sie nicht um Mithilfe bei ihrer Tötung gebeten habe,216 und postuliert so selbst die Priorität des Freundschaftsmodells gegenüber blutsverwandtschaftlichen Bindungen. Als Ehefrau wird sie dem Freundesbund als Randfigur (gewaltsam) einverleibt und kann fortan nur noch dessen Prämissen und Werte bestätigen. Indem die Texte mit Kindesopfer und Wiederauferstehung die Vaterschaft der Freunde an den beiden Söhnen inszenieren, wird Belixenda letztlich auch aus dem verwandtschaftlichen Rahmen gedrängt, nachdem sie ihre Funktion als Gebärerin erfüllt hat. Insofern partizipiert sie nicht einmal mehr am dynastischen Begehren. Zum Schluss wird überdies ehelicher Beischlaf als Hypostase mittelalterlicher ‚Heteronormativität‘ suspendiert: Mit Ausnahme des lateinischen Exempels geloben die Eheleute in allen hagiographischen Texten nach der mirakulösen Erweckung ihrer Söhne, zum Gotteslob ein Leben in Keuschheit zu führen: And fro thens furtħ bothe he & sho liffid in chastitie (Alphabet of Tales, Macleod Banks 1904/05 / 1987, S. 40, Z. 30f.).217 Den elaborierten und einigen der mittellangen Legenden reicht diese Distanznahme vom Eheleben noch im_____________ 214 Der Große Seelentrost formuliert etwas anders: Karele [...] entfengk se to syneme gesynde vnde hadde se leff, vnde se helden sijk also, dat se anneme weren allen luden (Schmitt 1959, S. 230, Z. 13f.). 215 Wie bereits erwähnt, erzählen einige Texte, dass Amicus an Amelius’ statt die Prinzessin entgegennimmt und wohl auch ehelicht. Vgl. etwa München, Cgm 523, Reiffenstein 1982, S. 245f., Z. 170-177. Kraß 2006a, S. 110, betont, dass die Beziehung eine außereheliche bleibt, da Amicus die Königstochter nie selbst geheiratet hat. 216 Vgl. nur Kölbing 1884, S. cvii, Z. 17-20. 217 „Und von da an lebten er und sie in Keuschheit.“
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mer nicht aus: Im Karlsheer kämpfen und sterben die Freunde vereint und verkörpern so eine triumphierende Homosozialität, ohne dass eine Reminiszenz an ein zwischengeschlechtliches Intermezzo bliebe. Erzwungene, erlistete und krankhafte Liebe: Variationen der Geschlechterbeziehung (Textgruppen 1 und 3) Die Texte mit adligem Sinnzusammenhang (Gruppe 1) sind weit mehr als die legendenhaften Texte an der Figur der Prinzessin sowie an ihrem Verhältnis zum jeweils betroffenen Freund interessiert. Da in dieser Textgruppe kein durchgängiges Verbot ihre Person betreffend existiert, wird die Verbindung anders als in der zweiten Textgruppe nicht als Übertretung beurteilt, die die Freundschaft bedroht. Auffallend ist in diesem Zusammenhang die erzählstrategische Tendenz der ersten Textgruppe, das zwischengeschlechtliche Begehren meist nicht vom betroffenen Freund ausgehen zu lassen, sondern es stattdessen der Prinzessin zu implantieren. Dies macht insofern Sinn, als die beiden besten und schönsten Ritter am Hofe ohnehin von allen geliebt werden. Das Unterscheidungsproblem, welcher der beiden Freunde von der Prinzessin zu begehren ist, stellt sich nur im Engelhard, da die Episode sonst meist nach der Trennung der Gefährten angesiedelt ist und demzufolge der am Hof verbliebene Freund als einziger in Frage kommt. Radulfus Tortarius’ mittellateinische Verserzählung: Das ‚männliche‘ Begehren der Prinzessin Der älteste überlieferte Text der Amicus-Amelius-Tradition beschreibt ein nicht zu bändigendes Verlangen der Prinzessin Beliardis nach Amelius,218 das durch Cupidos Pfeil ausgelöst wird. Sevus direxit sua tela Cupido sonanti Arcu, cor natae regis eis penetrans, Quae mox Amelii torretur amore feroci, Ebibit et totis visceribus rabiem; Nulla sibi requies, obtatum vulnus amoris Donec perpetitur Amelii iaculis; Insonuit nervus [...]. (Ogle / Schullian 1933, V. 141-147)219
_____________ 218 Wie bereits besprochen, wird in diesem Text der vorherige Abschied der Freunde nicht erwähnt, sondern später nachgetragen. Nachträglich wird so auch die alleinige Aufmerksamkeit für Amelius nochmals erklärt, obwohl Cupidos Willkür narrative Erklärung genug für die Auswahl bildet. 219 „Der grausame Cupido schoss die Pfeile seines surrenden Bogens direkt in das Herz der Königstochter. Schon bald darauf entbrannte sie in Liebe für Amelius, eine Leidenschaft,
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Die geläufige Waffen- und Wundenmetaphorik beschreibt die Verwundung der Königstochter durch den abgeschossenen Pfeil. Cupidos Angriff führt zu einem wilden Liebeswahn, der erst durch die Vereinigung mit Amelius gestillt werden kann. Es ist das einzige Liebesbegehren, das der Text entwirft: Auf Amelius’ Seite ist keine eindeutige Reaktion identifizierbar. Einzig durch das Verlangen der Königstochter wird die zwischengeschlechtliche Vereinigung initiiert. Beliardis nimmt eine Subjektposition ein, auch wenn sie zugleich als Objekt ihrer Passion erscheint. Besteht in anderen Texten oft eine Geschlechtertrennung hinsichtlich der agierenden Liebesgötter, ist es hier nicht Venus, sondern Cupido, der Beliardis’ Raserei auslöst.220 Amelius’ Engagement lässt der Text nur erahnen: Das die Sequenz abschließende Insonuit nervus221 kann sich zum einen auf Cupidos nun abgeschossenen (zuvor nur auf das Herz der Prinzessin gerichteten) Pfeil beziehen, so dass der Ausbruch des Wahns dem ursächlichen Ereignis der Verwundung narrativ bereits vorweggenommen wäre.222 Zum anderen ermöglicht die Polyvalenz des Ausdrucks den Bezug zu Amelius’ körperlicher Reaktion (Erektion) auf Beliardis’ Liebe. Schließlich kann sich die Aussage auch auf Beliardis selbst beziehen, da sie zunächst die einzige involvierte Person ist: Sie setzt Amelius, dem Objekt ihrer Begierde, nach.223 Gleich, welche dieser Bedeutungsvarianten (oder ihre Kombination) zu bevorzugen ist: Es wird jeweils auf eine rein mechanische Reaktion rekurriert, die als apersonaler Vollzug unausweichlicher mythischer Bestimmung erscheint. Ob nun surrende Bogensehne, erigierter Penis oder angespannter Muskel: Der Text konstruiert einen ‚männlichen‘ Bedeutungszusammenhang, indem er Waffenführung (Pfeil), männliche _____________
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die jedes ihrer Körperglieder in Besitz nahm. Sie fand keine Ruhe vor ihrer geheimen Liebeswunde, bis sie sich Amelius hingab. Schließlich tat sie es“ (nach Leach 1937/1990, S. 101). – Diese Liebesdarstellung erscheint als Gegensatz zur zuvor beschriebenen gesellschaftsstiftenden Liebe, die der Hof den Freunden entgegenbringt; vgl. Ogle / Schullian 1933, V. 139f. Im Eneasroman etwa verwundet Venus Dido (V. 860-867) und Lavinia (V. 10036-10043), Eneas aber wird von Amor getroffen (V. 10982-10989). Nervus kann mit ‚Sehne‘, ‚Muskel‘, ‚Bogensehne‘, ‚Saite‘ oder ‚männliches Glied‘ übersetzt werden. Wenn man davon ausgeht, dass der Pfeil bereits zu Beginn der Sequenz abgeschossen (und nicht nur ausgerichtet) wurde, dann schlösse der erneute Verweis auf den Pfeil den Zirkel des Begehrens, der mit demselben Pfeil eröffnet wurde. Leach 1937/1990, S. 101, behilft sich in seiner Übersetzung der Stelle Insonuit nervus mit: „Sie tat es“, also: „Sie gab sich ihm hin“. Damit bezieht er sich auf das Resultat (und Heilmittel) des wütenden Wahns, nämlich die sexuelle Vereinigung. Eine Übersetzung kann die Apersonalität und Polyvalenz des Primärtextes schwer einfangen. Entscheidet man sich etwa für: „Der Pfeil surrte hell klingend, [als er abgeschossen wurde]“, kann man zwar hoffen, dass damit das metaphorische Potential des lateinischen Ausdrucks nicht ganz verloren geht, aber eine adäquate Formulierung ist es nicht.
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Genitalität und grundsätzliche Körperkraft in einem Ausdruck zusammenführt, der auf die sexuelle Vereinigung rekurriert. Beliardis’ Begehren ist selbst Teil dieses Zusammenhangs: Ihr Verlangen steht in einem Repräsentationskontext von männlich bedeutenden Signifikanten (Pfeil – Penis – Muskel), so dass keinerlei ‚Weiblichkeit‘ – als von einem ‚männlichen‘ unterschiedenen Bedeutungskomplex – erkennbar wird. Beliardis wird nicht nur über den männlichen Auslöser (Cupido), die Waffensymbolik und die spezifische Körperimagination der Liebeswut in einem Rahmen situiert, der auf Männlichkeit verweist. Hinzu kommt, dass Beliardis im Zweikampf ihrem vermeintlichen Geliebten zu einem neuen Schwert verhilft, nachdem Ardradus das alte in Stücke geschlagen hat. Das Schwert ist der mittelalterliche Signifikant adliger Männlichkeit schlechthin, da es als Waffe für spezifisch männliche Verhaltensvorrechte und Handlungsräume steht, die adlige männliche Identität verbürgen. Insofern ist das Schwert auch keine phallische Metapher, wie die von Radulfus Tortarius entworfene Linie Pfeil – Penis – Muskel – Schwert aus moderner Sicht gelesen werden könnte, sondern bedeutet für sich selbst mittelalterliche adlige Männlichkeit. Das Schwert, zu dem Beliardis Amicus verhilft, ist ein besonderes: Es gehörte einst Roland, der es von seinem Onkel Karl bekommen hatte. Amicus kann nun die entscheidende Kampfphase einleiten, die schließlich zu seinem Sieg führt. Beliardis verfügt über die überlegene, christliche Waffe, die im ansonsten strikt heidnischen Universum dieses Textes den Sieg bringt. So profitiert Amicus, der an seines Freundes statt kämpft, von Beliardis’ Begehren: Das Schwert ist sein Gewinn, die Prinzessin der Gewinn seines Gefährten. Beliardis als Überbringerin der Waffe geht in der männlichen Welt dieser AmicusAmelius-Version völlig auf. Neben dieser tatsächlichen Verbindung der Prinzessin mit dem Zweikampf alludiert die starke Körperbezogenheit des dargestellten Liebeswahns der Prinzessin zudem bereits auf die spätere Kampfdarstellung, in der die beiden Kontrahenten Amicus und Ardradus in Kampfeswut verfallen: Kampfesraserei und Liebesraserei sind an das Wundenschlagen gekoppelt, die die betroffenen Körper zur Aktion zwingt. Das lange und wilde Duell der Krieger übertrifft an Umfang und an geschildertem Körpereinsatz die Liebesbeschreibung bei weitem: Schönheit und Tierhaftigkeit der kämpfenden Männer werden verherrlicht,224 Umgang mit Waffen und Kampfesanstrengung gewürdigt.225 Körperbezug, Waffengewalt und Kampfeskraft erscheinen vorherrschend im männlichen Kontext des Kampfes: Beliardis’ Begehren und ihre daraus resultierenden Aktivitäten _____________
224 Amicus wird zunächst mit einem Löwen verglichen (Ogle / Schullian 1933, V. 193f.); gegen Kampfende erscheinen die Kämpfer als wilde Eber (V. 249-252). 225 Vgl. Ogle / Schullian 1933, V. 188-268, die vom Zweikampf berichten.
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verweisen bereits auf diesen Kontext und werden so einem Konzept von ‚Männlichkeit‘ zugeordnet. Ihr Begehren ist deshalb kein ‚weibliches‘, da es keine Qualitäten aufweist, die vom ‚männlichen‘ unterschieden sind: Es ist vollständig in einer männlichen Bedeutungsökonomie verankert. Die Frau des Potiphar: Amys und der Zwang zur zwischengeschlechtlichen Liebe (Mittelenglische romance und anglonormannische Verserzählung) Ein zweites Modell zur Figuration von Weiblichkeit und Geschlechterverhältnissen ist an das Motiv der Frau des Potiphar geknüpft: Die mittelenglische romance und die anglonormannische Verserzählung bedienen sich dieses Erzählmusters, das die Prinzessin als Aggressorin entwirft, und gewähren der zwischengeschlechtlichen Beziehung einen recht ausgedehnten narrativen Raum.226 Beide Fassungen trennen die freundschaftliche Zweisamkeit streng von der anschließenden Geschlechterbeziehung. In der mittelenglischen romance nimmt das Abenteuer auf einem Hoffest seinen Anfang, das nach Amylions Abreise stattfindet. Da in diesem Text auch die Freundschaft mit einem höfischen Fest eingeleitet wird, grenzt die romance die Beziehungstypen nicht nur voneinander ab, sondern parallelisiert sie gleichzeitig. In der anglonormannischen Bearbeitung dringen die Nachrichten von Amys’ Schönheit bis in Flories Kammer;227 Minne entsteht durch Hörensagen. Amys’ Vorbildlichkeit und die daraus resultierende allgemeine Anerkennung rufen die Aufmerksamkeit der Prinzessin hervor,228 die sich rasch in Liebeskrankheit verwandelt. Während sich diese im anglonormannischen Text dadurch äußert, dass Florie ne pout boyvre ne manger (Fukui 1990, V. 232),229 erzählt die romance, dass Belisaunts hert broke on twoo (Le Saux 1993, st. 39, V. 8),230 weil sie nicht mit Amylion sprechen kann.231 Sie liegt weinend und krank im Bett Ffor sorow and love _____________ 226 Da die mittelenglische romance um einiges länger ist, ist das Ereignis dort auch ausgedehnter ausgestaltet; grundsätzlich werden aber gleiche Erzählelemente verwendet. Dies gilt prinzipiell für das Verhältnis dieser Texte zueinander. 227 Entre eux communement disoient / Qe unqe si bel chevaler ne veient; / E li quens meme le dist / qe onqe si bel chivaler ne vist. / Touz ceus qe en la sale estoient / De sa beauté matire aveient (Fukui 1990, V. 217-222). („Sie sagten allgemein unter sich, dass sie noch nie einen so schönen Ritter gesehen hätten, und der Graf selbst sagte, dass er noch nie einen so schönen Ritter gesehen hätte. Alle, die in dem Saal waren, redeten über seine Schönheit.“) 228 In der romance sieht sie Amys auf dem Fest und erkundigt sich nach seiner Identität; vgl. Le Saux 1993, st. 37. 229 „konnte weder essen noch trinken“ 230 „Herz brach entzwei“ 231 In der Tat betont der Text dreimal die Schmerzlichkeit des Umstandes, dass Belisaunt nicht mit dem Geliebten sprechen kann; vgl. Le Saux 1993, st. 39f.
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longyng (st. 40, V. 2).232 Die Texte rufen damit topische Symptome der Liebeskrankheit auf.233 Da männliche und weibliche Handlungssphären am Hofe getrennt sind, ist eine Kontaktaufnahme zunächst nicht möglich. Als Amys selbst krank wird und deshalb nicht an der Jagdgesellschaft des Grafen teilnehmen kann, ist damit eine ausreichende Nähe nicht nur im räumlichen Sinn, sondern vor allem hinsichtlich körperlicher Konstitution und notwendiger Abgeschiedenheit geschaffen, um eine Annäherung zuzulassen. Begegnen sich die beiden in der mittelenglischen romance zufällig im Garten, dem locus amoenus schlechthin, geht die anglonormannische Florie schnurstracks in Amys’ Kammer. In beiden Texten erklärt die sprachmächtige Prinzessin234 ohne Umschweife ihre Liebe und fordert im Gegenzug die des Ritters. In beiden Texten argumentiert die Prinzessin mit ihrem nahen Tod – auch dies gängiges Merkmal der Minnepathologie –, sollte sich der Geliebte nicht als willig erweisen.235 In der mittelenglischen romance benutzt Belisaunt die Formulierung: But thou wylt my lemman be / My hert me think wyll breke at three (st. 47, V. 10f.).236 Das Bild des in drei Teile zerbrechenden Herzens hatte auch Amys aufgerufen, als er seinen Zustand bei der Abreise seines Gefährten beschreibt:237 Die Sprache, mit der emotionale Zustände beschrieben werden, ist nicht nach dem Geschlecht der involvierten Personen spezifiziert. Anschließend schlägt Belisaunt ein wechselseitiges Treuegelöbnis vor: My love is so on the alyght, My wytte ys nyghe forloren. Plyght me thi trowth thou schalt be trewe, And never chaunge for no newe […] And y schall plyght my trowth also,
_____________ 232 „vor Kummer und Liebessehnsucht“ 233 Vgl. zu medizinischen und literarischen Entwürfen von Liebeskrankheit Giedke 1983, Schadewaldt 1985, die Beiträge in Stemmler 1990, Wack 1990, Philipowski 2003 und Klinger 2007. 234 Zur Macht des weiblichen Blicks und der weiblichen Stimme in der mittelenglischen romance vgl. Jost 1995. 235 Florie muss immerhin ihren ganzen Mut zusammennehmen (vgl. Fukui 1990, V. 259), bevor sie Amys ihren Zustand eröffnet: E dit pur l’amur de luy / Morust, s’il n’eust de li pité / E que ele fust de ly amé, / Que si de ly amour ne avoit, / Jamés home ne amereit (V. 260-264). („Und sie sagt, dass sie aus Liebe zu ihm sterben würde, wenn er nicht Mitleid mit ihr hätte und sie nicht von ihm geliebt werden würde. Wenn sie seine Liebe nicht bekommen würde, dann würde sie niemals einen Mann lieben.“) – Für Belisaunt vgl. Le Saux 1993, st. 47f. 236 „Wenn du nicht mein Geliebter sein willst, dann – so glaube ich – wird mein Herz in drei Teile zerbrechen.“ – Belisaunt stellt zusätzlich ihren eigenen Status of hight ken ycomen (Le Saux 1993, st. 48, V. 2f) („von hoher Abstammung“) heraus, der eine Ablehnung unmöglich machen soll. 237 Vgl. Le Saux 1993, st. 21, V. 12.
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Tell God and deth part us atwoo. (st. 48, V. 5-8, V. 10f.)238
Belisaunt strebt mithin eine ähnlich exklusive Treuebeziehung an, wie sie Amys bereits mit Amylion verbindet: Die Freunde haben sich Treue geschworen (trowth-plyght, st. 24, V. 5), und nun bittet Belisaunt: Plyght me thi trowth. Dass Amys zusätzlich zu einer bereits existierenden gleichgeschlechtlichen Bindung eine zwischengeschlechtliche eingehen könnte, scheint kein Problem zu sein, zumindest wird dies hier nicht thematisiert.239 Gleichwohl bedient sich Amys später eines anderen Vokabulars, indem er auf Eheschließung rekurriert (I wolde spouse the full fayn / And holde the to my wyffe, st. 61, V. 2f.)240 und so die zwischengeschlechtliche Bindung auch terminologisch von der Freundschaft abgrenzt.241 Besonders schockiert vom Anliegen der Prinzessin ist Amys in der anglonormannischen Variante, denn er Quideit que ele fuit devee / Qe ele pout pur hounte descoverir / Sa volunté e son désir (Fukui 1990, V. 266-268).242 Er lehnt das Angebot ab, da er keinen Verrat an seinem Herrn begehen will; in der mittelenglischen romance verweigert er sich wegen des Statusunterschiedes (in der Handschrift A zusätzlich wegen der Treue zu seinem Herrn).243 Diese Absage ist für die selbstsichere Landeserbin jedoch keineswegs akzeptabel. Belisaunt verhöhnt Amys zunächst mit verschiedenen Bezeichnungen aus dem Klerikerstand (preste, chanoun, monk, parson, frere)244 und spricht ihm damit seine Identität als Ritter ab, die – laut ihrer Definition – eben darauf beruht, Geschlechterbeziehungen einzugehen.245 Florie
_____________ 238 „Meine Liebe hat sich so an dir entzündet, dass mein Verstand so gut wie verloren ist. Gelobe mir deine Treue, dass du mir treu sein und mich niemals für jemand neues eintauschen wirst [...]. Und auch ich werde Treue geloben, bis dass Gott und der Tod uns voneinander scheiden.“ 239 Ganz anders sah es aus, als der Steward sich um Amys’ Freundschaft bemühte: Ihn wies Amys zurück, weil er schon einem anderen Mann die Treue geschworen hatte; vgl. Le Saux 1993, st. 29-32. 240 „Ich würde dich mit Freuden heiraten und dich als meine Ehefrau besitzen“ 241 Busse 1975 hat darauf hingewiesen, dass die Bezeichnung troth-plight in Verbindung mit Geschlechtsverkehr „eine wenn auch nicht gerade zu empfehlende, aber doch legale Form der Eheschließung“ (S. 46) bezeichnete, wie sie auch in anderen mittelenglischen Texten benutzt wird. Während Belisaunt also auf eine solche Bindung hinsteuert, ruft Amys einen anderen Kontext auf, denn er „verwendet als Bezeichnung für diesen Akt die bei legalen Hochzeiten üblichen Worte ‚spousen‘ [...] und ‚hold the to mi wiue‘ [...]“ (S. 59). 242 „Er glaubte, sie sei von Sinnen, weil sie ihm auf diese schändliche Weise ihr Verlangen und ihr Begehren enthüllte.“ 243 Vgl. Kap. II.2.2. 244 Vgl. Le Saux 1993, st. 50, V. 4-9. („Priester, Kanonikus, Mönch, Pfarrer, Ordensbruder“) 245 Vgl. Le Saux 1993, st. 50, V. 7-9.
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dagegen spricht von Rache, als Amys ihre Liebe verschmäht.246 In beiden Texten droht die Prinzessin mit einer falschen Anklage. Sie stellt in der romance in Aussicht, dass sie ihre Kleider zerreißen und Amys einer versuchten Vergewaltigung beschuldigen wolle, so dass er gehängt werden würde.247 Amys hat keine Wahl: Lothe y am that dede to don (Le Saux 1993, st. 52, V. 10),248 doch er muss die Forderungen der Prinzessin erfüllen, will er schlimmere Konsequenzen verhindern. Mit der Minnekrankheit der Prinzessin greifen die romance und die anglonormannische Verserzählung auf ein medizinisches wie höfisches Zeichensystem zurück. Entwirft der höfische Minne-Diskurs vorrangig ein männliches Begehren, das durch seine pathologischen Eigenschaften eine spezifische Subjektposition hervorbringt,249 koppeln die beiden Amicus-Amelius-Texte das ausbrechende Liebesverlangen an den weiblichen Körper. Die vertraute Symptomatik, die sich zunächst in Bettlägerigkeit und Nahrungsverweigerung äußert, führt im Anschluss aber nicht zu einem passiven Leiden: Die körperliche Schwächung scheint aufgehoben, als die Herrschertochter eine Kommunikationsmöglichkeit wahrnimmt. Läge es nahe, die lebensbedrohende Krankheit zu instrumentalisieren, um den Geliebten zu einer ‚Hilfeleistung‘ zu bewegen,250 wählt die Dame eine gänzlich andere Strategie: Die aggressive Bedrohung von Leib und Ehre des Geliebten erweist sich als wirksame Taktik, den eigenen Willen durchzusetzen und so das unerfüllte Begehren zu stillen. Der sexuelle Akt ver_____________ 246 In diesem Text wurde zuvor berichtet, dass Florie verheiratet werden soll und sich bereits viele Bewerber eingestellt haben, die sie alle abgelehnt hat (vgl. Fukui 1990, V. 193-198). Dass sie nun ihrerseits verschmäht wird, muss für sie skandalös erscheinen. 247 Vgl. Le Saux 1993, st. 51. Vgl. die kürzere Szene im anglonormannischen Text Fukui 1991, V. 285-289. 248 „Mir ist es verhasst, diese Tat zu begehen.“ 249 Vgl. Klinger 2001, S. 242-275, und Klinger 2007, die darstellt, dass amor hereos als spezifisch männliche Krankheit gedeutet werden kann. Wack 1990 spricht von einem „masculine ailment“ (S. 174): Diese Ansicht ist laut ihren Ergebnissen jedoch hauptsächlich in der medizinischen Literatur vorherrschend, während außerhalb auch Frauen „subjects of lovesickness“ (S. 174) sein können. In der Tat leiden auch literarische Damen – wie Dido im Eneasroman oder eben Belisaunt und Florie – an der Minnekrankheit, allerdings sind geschlechtsspezifische Differenzen in der literarischen Inszenierung zu veranschlagen, die die körperliche Symptomatik, besonders aber die Selbstreflexion des Begehrens betreffen. In diesem Sinne könnte amor hereos als männliche Verfassung veranschlagt werden, während weibliche Minnekrankheit an abweichende Parameter gekoppelt ist. 250 So hat Amalye im Willehalm von Orlens von Rudolf von Ems keine andere Wahl als Willehalm zu minnen, da er sonst sterben würde: Lasse ich verderben disen man, / Sit das er hat verderbet sich / in rehter liebú durch mich, / Des han ich iemermere / Unpris und unere / Wan sin tot an dirre zit / So vil der welte unfr>de git / Und jamerliche clage (V. 4790-4797). – In der Tat klingt dies in den hier besprochenen Amicus-Amelius-Texten an, als die Prinzessin auf ihren baldigen Tod verweist. Allerdings wird dieses Argument nicht weiter verfolgt.
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spricht Heilung, wobei die romance immerhin ein einwöchiges Intervall zwischen Bündnisschließung und sexuellem Vollzug251 einschiebt. Im höfischen Roman erscheint die Liebeskrankheit vornehmlich als Modus männlicher Vervollkommnung, der durch Minneverzicht und Minnedienst an der Dame höfische Subjektivierung vorantreibt, zugleich aber über den Umweg der Pathologisierung Körperlichkeit und ‚Sexualität‘ restituiert. Selbstkontrolle mutiert zu Kontrollverlust, da in der passiven männlichen Leidenssituation die Dame der ‚Heilung‘ zustimmen muss. Die Erfüllung des Begehrens als lebensrettende Maßnahme mildert die negative Wertung erotischer Annäherung. Derartige höfische Umwege gehen dem Verhalten der Prinzessin in Amys and Amylion und in Amys e Amillyoun ab. Die räumliche Organisation des Hofes, nicht aber eine höfische Identitätskonzeption mit spezifischen Verhaltensvorgaben verursacht das unerfüllte Liebesbegehren: Folglich bedeutet die Überwindung der räumlichen Schranken auch das Ende des pathologischen Begehrens. Die Minnekrankheit verleiht der Herrschertochter aktives Handlungsvermögen und kontrollierende Aggressivität. Die beiden Texte kehren damit das passive Ausgeliefertsein, wie es im männlichen Minnekrankheitsmodell vorliegt, in weibliche Handlungsbefähigung um. Dass die Texte dabei mit dem – etwa aus den hagiographischen Amicus-Amelius-Texten – offenbar vertrauten männlichen Verhaltensmodell körperlicher Belästigung und Vergewaltigung spielen, um es nun gegen das männliche Objekt des Begehrens zu richten, ist eine ironische Verkehrung, die die Subjektposition der Prinzessin weiter bekräftigt. Dabei kommt nicht nur die angedrohte, falsche Vergewaltigungsanklage ins Spiel, die Belisaunt gegen Amys anstrengen will. Hinzu kommt, dass Belisaunts aggressive Taktik, mit der sie seinen Körper in Besitz nehmen will, von Amys in der mittelenglischen romance ebenfalls in den Kontext einer Vergewaltigung gestellt wird. As thou art maide guode and trewe, / Thenk hou ofte rape will rewe / And turne to grame with gryll! (Le Saux 1993, st. 53, V. 79)252 Le Saux vereindeutigt die Übersetzung dieser Stelle unzulässig, indem sie für rape nur die Bedeutung ‚Eile‘ (von altnord. hrapa) gelten lässt. Die _____________ 251 Aus medizinischer Sicht wird – neben anderen möglichen Mitteln der Ablenkung – indes gerade kein Geschlechtsverkehr mit der begehrten Person, sondern mit jemand anderem empfohlen. Vgl. Wack 1990, S. 40 und S. 66-70. 252 „Da du ein vorbildliches und treues Mädchen bist, denk daran wie oft Eile / Vergewaltigung bereut wird und mit Leid zu Unglück wird.“ – Hs. A weist in etwa den gleichen Wortlaut auf (vgl. Leach 1937/1990, V. 655-657), Hs. H dagegen formuliert anders: As thou ert maydyn gent & fre / Thynke how harde thys hap wol be / And turne beter thy wylle (Le Saux 1993, S. 48). („Da du ein vorbildliches und adliges Mädchen bist, denk daran, wie mühevoll dieses Schicksal wäre und besinne dich eines besseren.“) Weder Eile noch sexueller Übergriff werden hier angesprochen. Me. hap bezieht sich hier ganz grundsätzlich auf ein negativ gewertetes (harde) Geschehen, Schicksal oder Zufall.
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Bedeutungsvariante lateinisch-romanischer Herkunft, die auf Entführung und / oder gewaltsamen sexuellen Übergriff verweist, unterschlägt sie in ihrem Glossar, obwohl diese Auslegung ebenso einen Sinn ergibt. Im Oszillieren beider Deutungsmöglichkeiten erschließt sich vielleicht erst der gesamte Sinnhorizont der Aussage, da sowohl Belisaunts Eile als auch ihre sexuelle Aggression für Amys beklagenswerte Umstände darstellen. Ein möglicher Grund für Le Saux’ Zögern, beide Varianten zu berücksichtigen, liegt in der üblichen geschlechtsspezifischen Zuordnung der Vergewaltigung: Im Middle English Dictionary etwa findet sich für das Substantiv r$pe u.a. die Erläuterung ‚the act of abducting a woman or sexually assaulting her, or both‘, für das Verb rāpen sind die Entsprechungen ‚to abduct (a woman), to ravish, rape [...], seduce (a man)‘. Während eine Frau also entführt und vergewaltigt werden kann, kann umgekehrt ein Mann nur verführt werden. In der mittelenglischen romance Amys and Amylion findet tatsächlich keine Vergewaltigung in dem Sinne statt, dass Amys von Belisaunt körperlich zum sexuellen Umgang gezwungen wird. Der Zwang ist mittelbar und resultiert aus angedrohten sozialen und leiblichen Konsequenzen einer Gehorsamsverweigerung. Gleichwohl ruft der Text mit dem Wort rape den Bedeutungskontext gewaltsamen sexuellen Umgangs auf und stellt es in den Zusammenhang weiblicher Aggression. In der mittelenglischen romance bittet Amys um einen Aufschub von einer Woche, doch nur der sexuelle Vollzug, nicht aber das Treueversprechen253 wird vertagt: Das von Belisaunt geforderte und unverzüglich abgelegte Treuegelöbnis wird durch einen Kuss besiegelt. All here wyll he graunted thoo, / And plyght here trowthes both twoo, / And kyste that faire may (Le Saux 1993, st. 54, V. 7-9).254 Der Treueschwur zeigt die rechtliche Verbindlichkeit der zwischengeschlechtlichen Beziehung, die damit erneut dem gleichgeschlechtlichen Bund angenähert wird. Der Steward bemerkt beim Abendessen anhand der Blicke, die Belisaunt auf Amys wirft, dass Grete love was betwene hem twoo (st. 57, V. 8).255 Während das Begehren also eindeutig von der Prinzessin ausgeht, wird das Verhalten des Paares als gegenseitiges wahrgenommen. Die sexuelle Vereinigung soll ihre Treuebindung nach sieben Tagen endgültig besiegeln: Belisaunt misst dem Beischlaf die Bedeutung eines Treuebeweises von Amylions Seite zu. Als a trewe knyght (st. 60, V. 9)256 habe er zu halten, was er versprochen hat (holde that thou me hight, st. 60, V. 12). Amys versucht nochmals, Belisaunt umzustimmen: Wieder führt er als Gründe seinen Herrn und seinen geringeren _____________ 253 Dieses ist als „geheime[s] Eheversprechen“ (Busse 1975, S. 57) zu sehen. 254 „Da gewährte er ihr alle ihre Wünsche und sie beide gelobten einander Treue und er küsste das schöne Mädchen.“ 255 „Große Liebe war zwischen den beiden.“ 256 „ein treuer Ritter“
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Status an. Wieder lässt Belisaunt nicht mit sich reden: Es kommt zum körperlichen Vollzug der Verbindung. And in his armes he here nam And swete he kiste that may. And so thei pleide in word and dede That he wan here maidenhede. (st. 62, V. 7-10)257
War die Beziehung auf Belisaunts aggressives Betreiben hin zustande gekommen, erscheint die Dame während des sexuellen Vollzugs merkwürdig passiv. Sämtliche Aktivität geht nun von Amys aus. Dass Amys Belisaunts Jungfräulichkeit nimmt, wird deutlich als Ergebnis des Zusammenseins deklariert. Die entsprechende anglonormannische Passage bezeichnet den Endpunkt der gemeinsamen Aktivität des Paares nicht so deutlich, sondern bedient sich eines beredten Verschweigens: Il ensembleront od grant delit: Par grand duçour s’entrebeiserent, De amour parlerent e juwerent. De autre chose ne dirra[i] mie; Ne croy pas q’il y avoit vilaynie. (Fukui 1990, V. 322-326).258
Dieses Verschweigen markiert eine Differenz zwischen der gleich- und zwischengeschlechtlichen Liebe: Die Freundesliebe war zuvor zunächst mit ähnlicher Terminologie beschrieben worden: Die einleitende Ankündigung einer chaunzon d’amur, / De leauté e de grant douçour (V. 1f.)259 bezieht sich auf die Gefährten, die Taunt s’amerent fierement (V. 17)260 und sich gegenseitig küssen.261 Eine Auslassung bestimmter Dinge ist hier allerdings nicht zu finden. Einen analogen Differenzmarker zwischen den Beziehungen bildet in der romance der Verlust weiblicher Jungfräulichkeit. Umstände, Körperzustände und Rechtsgültigkeit des Bündnisses zeigen dagegen Parallelen beider Beziehungsformen. Grundsätzlich unterscheidet die beiden Bindungen jeweils die Opposition Freiwilligkeit vs. Zwang. Auch wenn die Ausführung des sexuellen Aktes als swete oder mit grand duçour beschrieben wird, eignet ihm nach wie vor sein erzwungener, bedrohlicher Charakter. Amys nimmt trotz seiner sexuellen Aktivität in der mittelengli_____________ 257 „Und er nahm sie in seine Arme und küsste das Mädchen zärtlich. Und so vergnügten sie sich in Wort und Tat, bis er ihre Jungfräulichkeit gewann.“ 258 „Sie kamen in großer Freude zusammen, sie küssten einander mit großer Hingabe, sie sprachen über die Liebe und scherzten. Von anderen Dingen werde ich nichts sagen, ich glaube nicht, dass dort irgendetwas Unehrenhaftes geschah.“ 259 „Lied über Liebe, Treue und große Süße“ 260 „sich so stark liebten“ 261 Vgl. Fukui 1991, V. 103.
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schen romance bzw. trotz der gemeinsamen sexuellen Handlung mit der Prinzessin im anglonormannischen Text die Position des ausgelieferten Objekts des Begehrens ein. MacEdward Leach vermutet, das Motiv der wooing lady solle Amys’ Vermessenheit motivieren, die Tochter seines Herren zu lieben.262 Ein Indiz dafür seien die ständige Thematisierung der Statusdifferenz und der Treuebindung an seinen Herrn. Leach stellt indes selbst fest, dass es keinerlei Anzeichen dafür gibt, dass Amys die Prinzessin tatsächlich liebt.263 In der Tat ist Amys’ Liebe handlungsmotivatorisch nicht notwendig, da die narrativen Zusammenhänge auch ohne zwischengeschlechtliche Zuneigung funktionieren. Nicht die Vermessenheit einer unstandesgemäßen Liebe ist es, von der Amys entlastet werden soll, sondern der mit der Heirat der Landeserbin verknüpfte soziale Aufstieg bildet den zu überwindenden Stein des Anstoßes. Wie bereits gezeigt, bildet die Treue zum Herren einen zentralen Bestandteil der Freundschaftskonzeption sowohl in der mittelenglischen romance als auch in der anglonormannischen Verserzählung. Genau in diesen beiden Texten erscheint die aggressiv werbende Prinzessin: Die Maßgabe, dem Herrn Loyalität zu beweisen, wird mit dem sexuellen Kontakt zu seiner Tochter nicht eingehalten. Die Treueverpflichtung zum Herrscher und den damit nicht zu vereinbarenden Verrat haben diese Texte erzählstrategisch aufgelöst, indem Amys zumindest moralisch, wenn auch nicht rein technisch, jede Schuld an den Ereignissen von den Schultern genommen wird, da er nur unfreiwillig mit der Prinzessin zusammen ist. Das Motiv der Frau des Potiphar bildet demnach eine narrative Strategie, Amys nicht nur nicht das Bündnis zum Herrscher verraten zu lassen, sondern auch jeglichen Verdacht von ihm zu nehmen, dass er das Verhältnis zu seinem Herrn vorsätzlich für seine persönliche Statussteigerung ausnutzen wollte. Es geht also nicht darum, Amys’ (nicht vorhandenes) zwischengeschlechtliches Begehren zu rehabilitieren, sondern den Erhalt homosozialer Bindungen zu gewährleisten. Sozialer Aufstieg und Treue zum Herrn werden durch die eigenmächtige Entscheidung der Landeserbin vereinbar. _____________ 262 Leach 1937/1990, S. lxxiii-lxxix, hat das Motiv der Frau des Potiphar hinsichtlich seiner Herkunft und seines Auftretens in der mittelalterlichen Literatur untersucht. In der romance Amys and Amylion beurteilt er die Erzählsequenz als „not very skilfully motivated“ (S. lxxix). Er konstatiert, dass „[i]t was against the code for a plighted brother to marry without his brother’s consent“ (S. lxxviii). Besonderes Augenmerk legt er deshalb auf den irritierenden Umstand, dass Amys Belisaunt gegenüber nie seine Pflicht anspricht, Amylions Einverständnis als Schwurbruder für seine Verlobung mit der Prinzessin einzuholen, was ja zudem ein weitere Verzögerungstaktik bilden würde und deshalb Amys willkommen sein müsste (vgl. S. lxxviii). 263 Leach 1937/1990, S. lxxviii.
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Die Darstellung des zwischengeschlechtlichen Verhältnisses als Zwang, der von der Prinzessin ausgeht, und der Entwurf weiblicher Handlungsfähigkeit als aggressive Werbung stehen in einem spezifischen Zusammenhang mit der in diesen Texten thematisierten Form von Herrschaft und Herrschaftserlangung. Das identitätsstiftende Bündnis mit dem Regenten wird nur technisch, nicht aber gewollt von Amys beschädigt. Zugleich trifft die Herrschertochter ihre Auswahl innerhalb einer Logik, die Amys’ Herrschaftsbestimmtheit bestätigt: Sie erwählt den besten Ritter am Hofe zu ihrem Geliebten; der avanciert schließlich zum Herrscher. Die Brisanz der Durchsetzung von Herrschaftserwerb wird durch das eigenwillige Handeln der Prinzessin abgemildert. Weibliches Begehren wird in den Dienst genommen, um die homosoziale Harmonie des entworfenen Universums nicht zu zerstören. Gleichzeitig wird mit der Einführung eines solchen Begehrens die universelle Homosozialität aber auch in Frage gestellt. Weibliches Begehren erzwingt körperlichen Kontakt und wirkt letztlich herrschaftsstiftend: Auf diese Weise strukturiert es die – nun nicht mehr ausschließlich – homosoziale Amicus-Amelius-Welt mit. Allerdings wird dieses Verlangen nicht von Amys erwidert: Es gibt keinerlei Anlass, eine Frau zu lieben, wenn man den perfekten Gefährten und noch dazu einen wohlwollenden Herrn hat. Erlisteter Beischlaf: Das unbezwingbare weibliche Begehren (Lille 130, die chanson de geste und das Miracle) Die Grenzfall-Texte und Lille 130 erproben ein weiteres Erzählmodell: Hier wird der am Hof gebliebene Gefährte zwar nicht zum Sex gezwungen, aber derartig überrumpelt, dass auch hier die Handlungsmächtigkeit der Prinzessin als Gegenpol zur Passivität des Protagonisten konstruiert wird.264 In der chanson de geste ist Karls Tochter Belissant von Anfang an an den Kriegstaten der Helden interessiert.265 Als Hardré das Gerücht vom Tode der Freunde verbreitet, klagt die Königstochter ausschließlich um Amile: Sie hat sich offenbar bereits einem der beiden Gefährten in besonderem Maße zugewandt, ohne dass eine ausschlaggebende Motivation für diese Bevorzugung erkennbar wäre.266 Als Ami mit Lubias verheiratet, aber nach einem eher unerfreulichen Aufenthalt wieder nach Paris zu seinem Freund zurückgekehrt ist, berichtet der Text, dass Belissant Au _____________ 264 Zur literarischen Tradition, in die die Figur der Belissant einzuordnen ist, vgl. Zink 1987. 265 Vgl. Dembowski 1987, L. 14, 24 und 26. Rosenberg 1987, S. 68, weist darauf hin, dass allein Belissant, nicht aber Karl oder das Freundespaar selbst, Hardrés Feindseligkeit den Gefährten gegenüber wahrnimmt. 266 Vgl. Dembowski 1987, L. 24.
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conte Amile a ses amors donnees (Dembowski 1987, V. 532).267 Erst nach sieben Jahren verabschieden sich die Gefährten erneut, wobei Ami Amile vor einer Liebschaft mit der Königstochter warnt. Der Grund ist hier aber nicht etwa die Treue zum Herrn, sondern die Befürchtung, dass ein Mann in einer zwischengeschlechtlichen Beziehung so beherrscht werden könnte, dass er sämtliche verwandtschaftliche und freundschaftliche Beziehungen vergessen könnte.268 Diese Angst bezieht sich auf Amis eigene Erfahrungen mit seiner Gattin, die stets sein Freundschaftsbündnis unterminieren will. Amiles gute Vorsätze werden von Belissant durchkreuzt:269 Sie beschwert sich bei ihm, dass er sie in ihrem Schlafgemach zurückgewiesen, Hardrés Liebe aber angenommen habe.270 Da die Prinzessin zwischenund gleichgeschlechtliche Bindungen parallelisiert, unterstellt sie körperliche Nähe und Liebesdienste zwischen Amile und Hardré. Amile entschuldigt sich und bestätigt damit implizit, dass Belissants Vorwürfe zutreffen.271 Ein zweiter Versuch Belissants folgt auf dem Fuße: Die Königstochter eröffnet Amile ihre Liebe und kündigt eine nächtliche Zusammenkunft an. Sire, dist elle, je n’aimme se voz non. / En vostre lit une nuit me semoing, / Trestout mon cors voz mestrai a bandon (V. 628-630).272 Amile lehnt mit Hinweis auf den Statusunterschied ab.273 Obgleich die Prinzessin aktiv und konsequent die körperliche Befriedigung ihres Begehrens sucht, erscheint in ihrer Rede ihr Körper als für Amile verfügbares Objekt: Diese _____________ 267 „Die hatte Graf Amile ihre Liebe geschenkt.“ 268 Car puis que fame fait home acuverter, / Et pere et mere li fait entr’oublier, / Couzins et freres et ses amis charnéz (Dembowski 1987, V. 568-570). („Wenn erst einmal ein Weib Macht gewonnen hat über einen Mann, dann vergisst er Vater und Mutter, Vettern und Brüder und seine ganze Sippe“, Vielhauer 1979, S. 45.) 269 Die außerordentliche Aktivität der Prinzessin ist an Amis Abwesenheit gebunden. Vorher konstatiert die chanson de geste zwar ihre besondere Zuneigung zu Amile, eine Annäherung findet aber erst später statt. 270 Je voz offri l’autre jor mon service / Dedens ma chambre en pure ma chemise. / Bien voz seüstez de m’amor escondire. / Envers Hardré nel feïstez voz mie (Dembowski 1987, V. 613-616). („[E]rst vor kurzem bot ich Euch meine Liebesdienste an – es war in meinem Schlafgemach und ich war nur mit einem Hemd bekleidet – aber Ihr habt meine Liebe zurückgewiesen. Hardré gegenüber habt Ihr Euch ganz anders verhalten“, Vielhauer 1979, S. 46.) Von der Begegnung im Schlafgemach ist hier zum ersten Mal die Rede. – Akkari 1997, S. 10, hat darauf aufmerksam gemacht, dass im Unterschied zum höfischen Roman, in dem die Frau schwer erreichbar ist, in der chanson de geste der Mann „est difficilement accessible“. 271 Rosenberg 1987, S. 71, sieht eine Rivalität zwischen Belissant und Hardré. Wenn das stimmt – und die Passage erweckt in der Tat den Eindruck –, dann ist diese Rivalität eine verschobene, da der ursprüngliche Freund Amiles ja Ami ist. Nur durch seine Abwesenheit ist es Hardré und dann auch Belissant möglich, sich Amile zu nähern. 272 „‚Ach Herr‘, sprach sie da zu ihm, ‚ich liebe nur Euch und keinen andern. Ich lade mich für eine Nacht zu Euch ein, verfügt dann frei über mich‘“ (Vielhauer 1979, S. 47). 273 Vgl. Dembowski 1987, L. 38.
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Aufteilung der Positionen stimmt mit den tatsächlichen Konstellationen nicht überein, da Belissant aktiv die Zusammenkunft betreibt und sich im Anschluss als Voyeurin betätigt, die sich Amiles Körper visuell aneignet.274 Nachts sieht die Prinzessin den Grafen von ihrem Fenster aus in seinem Bett liegen und bewundert seine Schönheit. Sie beschließt, sich in seine Kammer zu schleichen und sich zu ihm ins Bett zulegen. Die sozialen Konsequenzen schrecken sie nicht. Belissant setzt ihren Plan in die Tat um: Et sozleva les piauls de martre chieres / Et elle s’est léz le conte couchie, / Moult souavet s’est deléz lui glacie (V. 670-672).275 Der erwachende Amile fordert die Person neben sich auf, sein Bett zu verlassen, falls sie eine verheiratete Dame oder gar die fille Charle (V. 677), also Karls Tochter, sei. Sei sie aber eine Magd oder eine Kammerzofe von niedriger Herkunft, könne sie gerne bleiben und sich hundert Taler (sols, V. 683) verdienen. Belissant enthüllt ihre Identität nicht und schmiegt sich stattdessen an Amile. Li cuens la sent graislete et deloïe, Ainz ne se mut que s’amor moult desirre. Les mamelettes deléz le piz li sieent, Par un petit ne sont dures com pierres, Si enchaït li ber une foïe. (V. 687-691)276
War die Szene zuvor aus Belissants Perspektive konzipiert, wird nun Amiles Wahrnehmung beleuchtet. Die Nähe des anderen Körpers entfacht ein Begehren in ihm. Als er die erigierten Brüste seiner Bettgenossin spürt, kommt es zur körperlichen Vereinigung. Amile weiß offensichtlich um das Geschlecht der bei ihm liegenden Person. Die Eskalation seines Begehrens durch steife Brüste, die hart wie Steine sind, verweist allerdings auf eine Körperperzeption, die die Erektion als maßgeblichen Körperzustand des Begehrens begreift. Insofern wird der begehrenswerte Körper der Prinzessin innerhalb eines ‚männlichen‘ Körperverständnisses konstruiert. Brüste (mamelettes, V. 689) werden zwar wahrgenommen, markieren hier jedoch nicht ausschließlich spezifisch weibliche Körperteile, sondern erscheinen analog zu Amiles Brust (piz, V. 689), gegen die sie gepresst _____________ 274 Rosenberg 1987, S. 72, bewertet das Begehren der Prinzessin als eine Strategie, mit der Amile weiter aufgewertet wird: „[C]’est un désir qui fait honneur à la beauté et à la vaillance de son objet.“ 275 „[Sie] hebt die Decke aus Marderfellen auf und legt sich sachte an des Grafen Seite. Liebevoll schmiegt sie sich an ihn“ (Vielhauer 1979, S. 48). 276 „Der Graf spürte ihre schlanke und reizende Gestalt und rührte sich nicht, bevor sein Begehren erwachte. Ihre Brüste lagen an seiner Brust, fast so hart wie Steine. Und der Graf schlief ein Mal mit ihr.“
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sind.277 Die chanson de geste entwirft ein im weitesten Sinne gegenseitiges Begehren, da nicht nur Belissant Amile, sondern auch Amile sie zu begehren scheint. Allerdings besitzt die Szene eine Qualität, die männliches aktives Begehren als eine Art nachtwandlerischen Mechanismus beschreibt. Zudem geht es von Amile Seite gar nicht um die Königstochter selbst, sondern um einen nicht identifzierten Körper neben ihm. Hinzu kommt, dass dieser Leib nicht unbedingt als spezifisch ‚weiblicher‘ beschrieben wird, sondern auch auf ‚männliche‘ Beschaffenheit verweist. Gleichwohl scheint er als weiblicher Körper wahrgenommen zu werden. Inwiefern ein solches Begehren von Amile tatsächlich als zwischengeschlechtliches zu deuten ist, bleibt mehr als zweifelhaft. Derart detaillierte Körperzustände werden im Miracle nicht beschrieben. La Fille, wie die Prinzessin in diesem Text ausschließlich genannt wird, erfährt nach Amis’ Heirat von den vorbildlichen Freunden. Sie findet Amille gracieux et doulz (Paris / Robert 1879, V. 531)278 und bittet ihren Vater darum, dass der vorbildliche Ritter ihr Gesellschaft (compagnie, V. 534) leisten dürfe. Dies wird gewährt, woraufhin die Prinzessin Amille sofort ihre Liebe eröffnet. Sie tut dies im gleichen Unterwerfungsgestus wie Belissant in der chanson de geste, obgleich ihr eigenmächtiges Handeln einer solchen Position zu widersprechen scheint: vous estes maistre [....] / De mon cuer et de m’amour toute (V. 546, V. 548),279 heißt es zunächst. Ihre folgenden Ausführungen über Schlaflosigkeit und Gedankenversunkenheit zeigen den topischen Status der Liebeserklärung, da die Königstochter sich gerade erst Amile zugewandt und demzufolge noch gar keine Nacht verbracht hat, in dem sie sich nach ihm hätte sehnen können.280 De voz vouloirs acomplir touz / Suis preste, certes (V. 554f.),281 lautet ihr Angebot. Als Amile ablehnt, zeigt sie sich überzeugt, dass un jour venra, / Encore qu’en nous deux n’ara / Mais qu’un vouloir (V. 581-583).282 Diese Worte explizieren die bereits in anderen Amicus-Amelius-Texten aufgetretene Beobachtung, _____________ 277 Vgl. Thomas Laqueurs Studien zum Modell teleologischer Eingeschlechtlichkeit, das ausschließlich an Männlichkeit ausgerichtet ist, Weiblichkeit aber als defizitären Körperund Sozialzustand begreift. Die Geschlechter werden nicht als grundsätzlich verschieden begriffen, sondern werden auf einer Skala aufsteigender Perfektion angeordnet. Die offenen Grenzen eines solchen Gender-Systems erlauben es, ideale ‚weibliche‘ Körper als ‚männlich‘ zu kategorisieren; vgl. Laqueur 1992. Kritisch dazu Cadden 1993, die die Existenz weiterer Modelle von Geschlechterdifferenz in der Vormoderne beschreibt. 278 „anmutig und süß“ 279 „Ihr seid Herr [...] über mein Herz und all meine Liebe.“ 280 Zugegebenermaßen erschwert der dramatische Textaufbau zuweilen die zeitliche Zuordnung verschiedener Handlungen. 281 „Ich bin bereit, all Eure Wünsche zu erfüllen, gewiss.“ 282 „Es wird ein Tag kommen, an dem wir nicht zwei, sondern nur noch einen (gemeinsamen) Wunsch haben werden.“
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dass das Begehren der Prinzessin für beide ausreicht und es auch ohne viel Zutun von Seiten des Freundes zur sexuellen Vereinigung kommt. Und in der Tat beschließt sie, sich nachts zu ihm zu legen.283 Die folgende Szene setzt scheinbar nach dem vollzogenen Akt ein, da die Königstochter von amour spricht, Amille aber entsetzt ist: Vous me voulez deshonnourer (V. 645).284 Er fordert sie vergeblich auf zu gehen, im nächsten Moment gibt sich bereits Hardré als Beobachter des Geschehens zu erkennen.285 Amilles Beschuldigungen gegen die Prinzessin werden schärfer: Je suis bien traiz par vous, dame (V. 670).286 Trotz des fehlenden Körperrekurses wird die erzählerische Nähe des Miracle zur chanson de geste im Entwurf weiblicher Handlungsfähigkeit und Durchsetzungsvermögens offensichtlich: Die Prinzessin setzt rücksichtslos ihren Willen durch, verhilft ihrem Begehren zur Erfüllung, ohne die Wünsche des Geliebten anzuerkennen oder an Verluste zu denken. Die Phrase der Unterwerfung bleibt leer: Auch wenn in der chanson de geste während der sexuellen Vereinigung die aktive Position an Amile übergeht, handelt er doch im Sinne Belissants. Im Miracle bleibt der genaue Handlungsablauf zwar unklarer, die Besetzung der Positionen indes ist deutlich: Die Königstochter hat ihren Willen bekommen, Amille dagegen ist konsterniert. Diese deutliche, geschlechtsspezifische Verteilung von Aktivität und Passivität wird sowohl in der chanson de geste als auch im Miracle ignoriert, als Hardré in der Überraschungssituation Belissant ironisch als Sold, den Amile sich für seine Dienste genommen hat, bezeichnet: Riches soudees de la cort emportéz (Dembowski 1987, V. 709).287 Diese Zuweisung eines bestimmten Wertes an eine Frau, die Amile sich widerrechtlich angeeignet hat, verweist gleichzeitig auf das vasallitische Dienst-Lohn-Modell und auf das Modell des Frauentausches, in dem männliche Identitäten und Allianzen über den Objektstatus von Frauen konstituiert werden. In der chanson de geste hatte Hardré mit ähnlichen Worten die Transaktion beschrieben, in der Lubias Ami als Kriegssold übereignet wurde: Die Dame wird als unes riches soudees (V. 471)288 für hervorragende Kriegstaten übergeben. Dieses _____________ 283 Vgl. Paris / Robert 1879, V. 620-631. 284 „Ihr wollt Schande über mich bringen.“ 285 Es wäre auch möglich, dass der Beischlaf erst kurz vor Hardrés Auftritt stattfindet, das Gespräch von Liebe und Entehrung also vor dem sexuellen Akt geführt wird. Dies geht aus dem Text nicht klar hervor. 286 „Ich bin von Euch, Dame, in der Tat verraten worden.“ 287 „Ihr erhaltet reichen Sold vom Hofe“ (Vielhauer 1979, S. 48). – Im Miracle formuliert Hardré ähnlich: pour soudées avez pris / Le tresor de plus noble pris (Paris / Robert 1879, V. 653f.) („als Sold habt Ihr den Schatz vom wertvollsten genommen“). Vgl. auch die Stelle in der chanson de geste, wo Karl Belissant ebenfalls als Riches soudees (Dembowski 1987, V. 749) bezeichnet. 288 „ein reicher Sold“ – Vgl. dazu auch Kap. II.3.2.
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Modell kennt keinerlei weibliches aktives Handeln oder Begehren und erscheint deshalb denkbar ungeeignet für die Beschreibung des Geschehenen zwischen Belissant und Amile. Hardré und der König aber, die dieses Konzept aufrufen, handeln ausschließlich in diesem Rahmen, wie letztlich in verschobener Form auch die Heirat zwischen Ami(le) und Belissant zeigt: Die Eheschließungen stehen allein im Kontext homosozialer Bündnisse und Vergütungen. Sarah Kay hat die Geschlechterverhältnisse in der chanson de geste Ami et Amile analysiert, indem sie Georges Dubys Studie zur Konkurrenz feudaler und klerikaler Ordnungsmodelle hinsichtlich der Ehe289 ihren Überlegungen zugrundelegt. Sie arbeitet überzeugend heraus, wie die beiden misogynen Modelle in Ami et Amile wirken: The clerical one, which derives its support from commentaries on Biblical antitypes (Eve, Delilah) invests women, or more specifically female sexuality, with malign agency. The feudal one reduces women to the status of transparent objects via which transactions between men, such as dynastic alliances and inheritance, are vehicled.290
Die beiden Modelle bilden – laut Kay – in Ami et Amile keine binären Oppositionen, sondern zwei textuelle Strategien, mit denen die Frauenfiguren sukzessive ihrer Subjekthaftigkeit beraubt werden. Mit ‚Verführung‘ (seduction) und ‚Unterdrückung‘ (suppression) benennt Kay den Zugang, den die Konzeptionen zu weiblicher Handlungsfähigkeit bzw. deren Auslöschung wählen, wobei dieser dem feudalen, jener dem klerikalen Modell eignet. Belissant erscheine somit zunächst – gemäß dem kirchlichen Konzept – als Verführerin, die dann mithilfe des feudalen Systems unterworfen wird. Kay beschreibt die Transformation Belissants vom agierenden Subjekt zum Objekt, indem ihre aktive Herbeiführung der sexuellen Vereinigung zu einem Verbrechen Amiles an seinem König uminterpretiert wird. „Belissant is swept aside […] in the legal confrontations which will plunge Amile, Hardé, Charlemagne and later Ami, into the masculine machinery of trial and judicium Dei.“291 Nicht mehr das weibliche Begehren steht im Vordergrund, sondern „[m]asculine power and effectiveness [that] are […] demonstrated in this text not by the display of sexual activity but by its prohibition“.292 Belissant wird zum Tauschobjekt zwischen Männern.293 Gleichzeitig unterstreicht Kay die Möglichkeit einer ironi_____________ 289 290 291 292 293
Duby 1988. Kay 1990, S. 131. Kay 1990, S. 134. Kay 1990, S. 135. Nicht umstandslos zustimmen kann ich dem Teil von Kays Interpretation, in dem sie von einer Feminisierung der Verräter in der chanson de geste ausgeht. Sie argumentiert, dass etwa Hardré sich ebenfalls der ‚Verführung‘ bedient, um Amile zu gewinnen, und dass er sich
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schen Uminterpretation der Vorgänge, da Belissant sich ihren Gemahl letztlich selbst aussucht, während Karl nichts durchschaut und seine Tochter dem falschen Mann vermählt. Der Text billigt indes Belissants Vorgehen nicht, da es Zweikampf und Aussatz nach sich zieht: „The emphasis is [...] on the enormity of the consequences of that seduction, and on the consequences, in general, of sexual contamination by woman.“294 Die chanson de geste verfügt über ein besonderes Detail: Ami kann Karl nach dem gewonnenen Zweikampf nicht überreden, die Heirat mit Belissant zu verschieben. So muss Ami, der von allen für Amile gehalten wird, das Ehegelöbnis ablegen, obgleich er schon mit Lubias verheiratet ist. Dies ist auch der Grund, warum Gott ihn später mit dem Aussatz bestraft, wie ein Engel ihm nach dem Versprechen kundtut. Ami fügt sich und fordert Belissant auf, ebenfalls das Ehegelübde abzulegen. Sie fragt die Ritter, wie sie das tun soll. Die Antwort lautet: Voz jurreréz orendoit a bandon Que voz paréz Amile le baron Au loëmont d’Ami son compaingnon, Ne antr’euls douz ne meteréz tanson. (Dembowski 1987, V. 1831-1834)295
Belissant wiederholt den Wortlaut der Vorgabe fast verbaliter296 und stellt damit ihre Ehe nicht nur in den Kontext der Freundschaft, sondern ord_____________ statt militärischer Stärke lieber des Geldes bedient, um seine Ziele zu erreichen. Dies nähere ihn den Frauenfiguren an (Kay 1990, S. 140 und S. 142, Anm. 22). Dass Hardré – ganz gleich ob tatsächlich oder nur zum Schein – sich um Amiles Freundschaft bemüht, ist aber gerade kein geschlechtsspezifisches Verhalten. Weiter spricht Belissant davon, dass Hardré sich vor dem offenen Kampf scheut. Hardré verhandelt in der Tat vorher heimlich mit Karls Feind, Gombaut von Lothringen. Sieht man einmal von der Frage ab, ob Belissants Bemerkung autoritative Qualität beanspruchen kann, da sie in diesem Sprechakt ihren Rivalen desavouieren will, bleiben Hardrés Verhandlungen mit Gombaut: Sie stehen im Kontext seiner Schliche und gefährlichen Machenschaften, mittels derer er die Gefährten ausschalten will. Begreift man Listen und Intrigen als ‚weiblich‘ markiert, dann bedient sich Hardré tatsächlich ‚weiblicher‘ Handlungsmuster. Belissant bedient sich einer List und täuscht Amile: Man könnte ihr umgekehrt den Vorwurf machen, sich verräterischer Verhaltensmodi zu bedienen. Die eindeutige geschlechtsspezifische Zuordnung ist meines Erachtens nicht gegeben. Hinzu kommt, dass Hardré beim Zweikampf gegen Ami als furchtloser, mächtiger Gegner erscheint, so dass der von Kay konstatierte Mangel an Kampfesmut und Stärke hier nicht zutrifft. Eine grundsätzliche Zuschreibung feminisierten Verhaltens an Hardré bleibt daher äußerst fraglich. Nur weil eine Figur ein Männlichkeitsmodell repräsentiert, das nicht mit dem durch die Freunde verkörperten übereinstimmt oder mit ihm konkurriert, ist dieses abweichende Konzept nicht immer schon ein ‚verweiblichtes‘. 294 Kay 1990, S. 134f. 295 „[I]n diesem Augenblick habt Ihr nur zu schwören, dass Ihr Amiles zum Gatten nehmen wollt – natürlich nur wenn Amis nichts dagegen hat – und dass Ihr keinen Streit zwischen beiden Freunden stiften wollt“ (Vielhauer 1979, S. 72). 296 Vgl. Dembowski 1987, L. 91.
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net die Ehe dem Freundesbund unter. Samuel Rosenberg sieht im eigenmächtigen sexuellen Handeln der Prinzessin eine Bedrohung für die Freundschaft, die nun mit diesem Eid ausgeschaltet werden soll: „Car son acte fut surtout un coup frappé contre la solidarité des deux compagnons, et cette faute, elle ne pourra la réparer qu’en acceptant complètement, sans conditions et de tout son cœur, leur lien d’amitié.“297 Der Schwur bindet die Geschehnisse zurück an Amis anfängliches Verbot, sich überhaupt mit der Prinzessin einzulassen. Dieses Verbot beruhte in der Tat auf der Befürchtung, das zwischengeschlechtliche Verhältnis könne andere Bindungen dominieren. Diese Sorge erwies sich schließlich zwar als unbegründet, nichtsdestotrotz zeitigte der Übertritt gefährliche Konsequenzen.298 Die von Belissant ausgehende Gefahr ist nach dem Versprechen – und der damit einhergehenden Eheschließung – gebannt, wie der weitere Verlauf des Textes zeigt. Sie erkennt den Vorrang des Freundesbundes ohne Einschränkungen an. Ihr starkes Begehren nach Amile, das den Motor ihrer subversiven Aktivitäten gegen homosoziale Bünde bildete, erlischt – im narrativen Sinne – nach der Heirat. In Lille 130 lehnt Amis die Annäherungsversuche der Prinzessin ebenfalls ab,299 so dass auch sie sich einfach zu ihm ins Bett legt: Quant elle vit ce, elle se mist une nuit en ageit, et espia tant qu’elle vint a Amis, qui estoit couchié en son lit, si se despoulla en son pelichon et s’en va couchier aveuques li. Et quand il la senti, si fu si esbahi qu’il ne sout que faire ne que dire, n’onques pour chose que il peüst faire ne dire ne se pout esconbatre que il ne geüst a li (Woledge 1939, S. 453).300
Paradoxerweise bedingt Amis’ absolute Handlungsunfähigkeit den sexuellen Kontakt: Die Vereinigung scheint er über sich ergehen zu lassen. Der Beischlaf findet offenbar in einem quasi öffentlichen Raum statt: Herdré kann die beiden sehen und verraten, weil alle Ritter des Königs zusammen in einem Saal schlafen.301 Lille 130 gehört zur selben Textuntergruppe wie die mittelenglische romance und die anglonormannische Verserzählung. Die narrative Organisation, die die Zugehörigkeit des Textes zu dieser in besonderem Maße an Herrschaft interessierten Gruppe bedingt, stellt den _____________ 297 Rosenberg 1987, S. 74. 298 Sinclair 2003, S. 123, betont, dass Belissants Handeln „posits the unstable nature of the harmonious masculine unity set up by the narrative and pitches it into a state of disintegration and disharmony“. 299 Vgl. Woledge 1939, S. 452f. 300 „Als sie das sah, legte sie sich eines Nachts auf die Lauer und beobachtete ihn so lange, bis sie zu Amis ging, der sich in seinem Bett schlafen gelegt hatte, ihren Pelzmantel ablegte und sich zu ihm legt. Und als er sie spürte, war er so erschrocken, dass er weder wusste, was er tun oder sagen sollte, noch was für eine Sache er tun oder sagen oder wie er sich dagegen wehren könnte, mit ihr zu schlafen.“ 301 Vgl. Woledge 1939, S. 453.
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Entwurf weiblichen Begehrens daher primär in den Kontext der Diskussion von Herrschaftsnachfolge. Die Aktivitäten der Prinzessin können folglich auch analog zu denen der Texte gelesen werden, in denen das Motiv der Frau des Potiphar auftaucht: Amis Schuld wird reduziert, da sein Verhältnis zum Herrscher nicht vorsätzlich von ihm zerstört wird. Da in Lille 130 die Bindung an den Herrscher nicht so eng zu sein scheint wie in der mittelenglischen romance oder der anglonormannischen Verserzählung, ist aber auch die Entlastung eine verminderte: Amis wird nicht zum Sex gezwungen, aber in einem Überraschungsmoment wird er schlicht zum passiven Objekt der Begierde. Der Verlust des Handlungsvermögens auf Seiten des schuldigen Freundes grenzt mithin die bislang besprochenen Versionen der ersten und dritten Textgruppe von der zweiten, hagiographischen Textgruppe ab. Kennzeichnet hier der gewaltsame oder zumindest aktive Übergriff des Gefährten auf den Körper der Prinzessin die zwischengeschlechtliche Konstellation, verfügt dort die Herrschertochter über Handlungsfähigkeit und Willenskraft. Selbst in der kymrischen Legende, die als einziger Text der zweiten Gruppe von der Minnekrankheit erzählt, initiiert Amelius die Begegnung und Vereinigung mit Belixenda. Die erste und die dritte Textgruppe gestehen mit der ausgedehnteren narrativen Gestaltung der zwischengeschlechtlichen Beziehung den Frauenfiguren eine Handlungsmächtigkeit zu, die in den Texten mit vornehmlich religiösem Sinnhorizont den Helden zugeschlagen wird. Diese Form von Aktivität besitzt in der zweiten Gruppe nicht nur einen zweifelhaften moralischen Wert, sondern auch eine zerstörerische Wirkung auf den Freundschaftsbund. Die innere Bedrohung der Freundschaft wird in der ersten und dritten Textgruppe eliminiert, da der Kamerad nur gezwungenermaßen an den Vorgängen beteiligt ist: Die Prinzessin tritt in den Modus der malign agency302 und erlangt dadurch selbst temporären Subjektstatus, bis sie in das homosoziale Gefüge des Amicus-Amelius-Universums reintegriert wird, indem sie von einem adligen Herrn an einen anderen weitergegeben wird. Die erhöhte Vorbildlichkeit des Freundes aber wird an seinen Objektstatus in der Geschlechterbeziehung gekoppelt.
_____________ 302 Vgl. Kay 1990, S. 131.
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Zwischengeschlechtliche Minnekrankheit (Konrads von Würzburg Engelhard und die Historia septem sapientum) Zur ersten Textgruppe gehören zwei Texte, die über das Modell der Minnekrankheit ein wechselseitiges zwischengeschlechtliches Begehren transportieren. In Konrads Engelhard und in der Historia septem sapientum wird die in den anderen Bearbeitungen dieser Gruppe vorherrschende Einseitigkeit des Begehrens aufgebrochen, da nun der Freund von der Minnekrankheit betroffen ist. Die merkwürdige Passivität des Helden bleibt indes – zumindest partiell – erhalten, da er zwar nicht mehr der Begierde der Prinzessin, dafür aber seinen eigenen Gefühlen ausgeliefert ist. Die Minnekrankheit eines der Freunde tritt einzig in der Untergruppe in Erscheinung, in der die Gefährten deutlich voneinander unterschiedene Namen tragen.303 Die ungleichen Freundesnamen verweisen bereits auf einen höheren Differenzierungsgrad zwischen den Kameraden, als dies in den anderen Texten der Fall ist. Dies geschieht überdies durch die narrative Konzentration auf einen der Gefährten, während der andere erst später eingeführt wird, ohne dass entsprechende Details über ihn nachgeliefert würden. Die zwischengeschlechtliche Minnebeziehung bildet eine weitere Textstrategie, um die Freundesidentitäten – zumindest vorläufig – voneinander abzusondern. Im Engelhard sind beide narrative Strategien miteinander verknüpft, da die unterschiedlichen Freundesnamen sich als notwendig erweisen, um ein zwischengeschlechtliches Begehren zu etablieren.304 Dieses geht zunächst von der Königstochter Engeltrut aus und richtet sich auf beide Gefährten zugleich, da sie nicht auseinanderzuhalten sind. Engeltrut wird als Subjekt der Minne eingeführt, das über die Kenntnis minnewürdiger Männlichkeit definiert wird: wan swâ daz wîp begunde wegen in ir herzen mannes tugent und mit gedanken sîne jugent wil mezzen unde ergründen, dâ kann diu Minne enzünden herz unde muot dem wîbe
_____________ 303 Die kymrische Legende könnte ebenfalls auf einen Fall von Minnekrankheit anspielen, der indes anders verläuft: Kraft und Handlungsfähigkeit gehen Amelius nicht ab; zudem motiviert die Minnekrankheit allein den unmittelbar anschließenden Beischlaf und bringt nicht – wie der Engelhard und die Historia septem sapientum – eigenständige narrative Effekte hervor, die sich auf das jeweils entworfene Gleichheitsmodell auswirken. 304 Zum Verhältnis der homosozialen und der zwischengeschlechtlichen Minne und ihrer zugrundeliegenden Paradigmen in Konrads Engelhard vgl. Klinger / Winst 2003.
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nâch des mannes lîbe. (Reiffenstein 1982, V. 900-906)305
Zwischengeschlechtliches Begehren kennt zunächst nur eine Richtung: Frauen lieben Männer. Diese einseitige Gerichtetheit der Minne wird über lange Strecken ausformuliert, in denen Engeltrut die beiden vorbildlichen Freunde beobachtet und schließlich mit liebe gar durchgründet / und von dem fiure enzündet (V. 975f.) wird. Das Problem besteht darin, dass Engeltrut beiden Jünglingen holt (V. 982) wird, da ihr Auge keinen Unterschied zwischen ihnen wahrnehmen kann.306 Paradoxerweise kann das Sinnesorgan Auge, das sonst zwischengeschlechtliche Minne einleitet, durch die Wahrnehmung makelloser schœne, tugent und êren prîs (V. 1156) beider Freunde nur die Exklusivität der homosozialen Beziehung bestätigen: Da keinerlei Unterscheidungsmerkmale zu existieren scheinen, ergibt sich weder ein Ansatzpunkt für Engeltrut, ordnungsgemäß nur einen Mann zu lieben, noch stellt die durch Ununterscheidbarkeit visualisierte hermetische Abgeschlossenheit des Männerbundes eine Möglichkeit bereit, überhaupt eine weitere Bindung an die Freundschaft anzulagern.307 Und in der Tat können Engeltruts Reflexionen erst Effekte zeitigen, nachdem Dietrich den Hof verlassen hat, das Freundespaar also durch räumliche Distanz selbst die Eventualität geschaffen hat, die Einheit der Männer aufzubrechen. Nach langer Tortur aufgrund der unhaltbaren Situation, zwei Männer gleichzeitig zu lieben, wird die Unzulänglichkeit des Auges hinsichtlich der für das Geschlechterverhältnis notwendigen Differenzierungsprozesse schließlich durch Ohr und Mund kompensiert.308 Die unterschiedlichen Namen der Freunde erweisen sich als einzige Möglichkeit, die ansonsten zwischen ihnen herrschende absolute Gleichheit zu untergraben. Engeltrut nimmt ir zweier namen in den munt (V. 1169), um so Gewissheit über den zu Liebenden zu erhalten: swelhes name erschülle mit liuten in ir ôren baz, den wolte ir herze sunder haz triuten unde minnen. (V. 1178-1181)
Die Textstrategie, unterschiedliche Freundesnamen einzuführen, kann im Zusammenschluss mit Engelhards und Engeltruts ähnlichen Namen ein zwischengeschlechtliches Begehren Engeltruts motivieren, das nur auf einen der Gefährten gerichtet ist. Da die natûre jegliche Unterscheidungs_____________ 305 Vgl. auch Reiffenstein 1982, V. 883-899 und V. 907-922. 306 Die Wahrnehmung über das Auge führt gemeinhin zur Entstehung von Minne. Vgl. etwa Schnell 1985, S. 241-274, und Schleusener-Eichholz 1985, Bd. 2, S. 771f. 307 Vgl. Reiffenstein 1982, V. 923-1026. 308 Vgl. zur langwierigen Bekümmerung Engeltruts Reiffenstein 1982, V. 1027-1168.
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möglichkeit verweigert, müssen sprachliche Zeichen herangezogen werden.309 Dass dabei die Similarität der Namen den Ausschlag gibt, verweist darauf, dass dem zwischengeschlechtlichen Begehren die gleichen Organisationsprinzipien eignen wie dem homosozialen. [D]ie zwêne namen, sam mir got / [...] gehellent nach gelîcher art / und zement bî einander wol (V. 1206, V. 1208f.): Der unantastbaren gelîcheite (V. 1063) der Freunde wird ein ebensolches zwischengeschlechtliches Konzept gegenübergestellt, das damit eine ebensolche Minne beansprucht, wie sie zwischen den Männern bereits herrscht. Die Konstruktion von Engeltruts Ähnlichkeit mit den Freunden beginnt bereits mit ihrer Einführung, als sie – wie kurz zuvor noch die Kameraden – über ir schœne, ir adel unde ir tugent (V. 863)310 gekennzeichnet wird. Auch andere Attribute eignen sowohl den Freunden wie auch der Königstochter: So entspricht etwa die wünnecliche[] sælekeit (V. 767) an ir zweier lîbe zart (V. 1165) Engeltruts wünnecliche[m] lîp (V. 873, V. 980). Hinzu kommen später aufgeführte, geschlechtsindifferente Schönheitsmerkmale, die Engelhard und Engeltrut teilen, wie weiße Hände, roter Mund und rotweiße Hautfarbe.311 Die Namensgleichheit aber ist in Konrads Text von der Freundschaft abgespalten und von der zwischengeschlechtlichen Minne usurpiert worden. Die Vereinnahmung dieses Gleichheit stiftenden Elements verleiht dieser Konzeption erst die grundsätzliche Möglichkeit, zum Ausbruch zu gelangen. Engeltruts Begehren bleibt indes zunächst merkwürdig wirkungslos: Nicht nur wird sie von Engelhard nicht wahrgenommen, auch sie selbst kann erst umstandslos minnen, dô Dieteriches aneblic / ze hove si niht irte mê (V. 1704f.). Trotz aller intellektueller Differenzierung verhindert die visuelle Macht der Freundesgleichheit eine Ausübung zwischengeschlechtlicher Minne.312 Nach Dietrichs Abreise aber erliegt Engeltrut ihren heimlichen Minnequalen und büßt durch trûren unde sendez leit (V. 1742) an Schönheit ein: ir liehte schœne si verlôs / und wart unmâzen riuwevar (V. 1806f.). Hinsichtlich der Ursache von Engeltruts Trauer lockt der zeitgleiche Tod ihrer Mutter König Fruote auf eine falsche Fährte. Um seine Tochter zu trösten, beruft er Engelhard zu Engeltruts Kämmerer, so dass er letztlich ihrer Liaison den Weg ebnet. Wie Engeltrut durchläuft auch Engelhard Reflexionsprozesse, die die zwischengeschlechtliche Minne konstituieren: _____________ 309 Küsters 1994 hat diese Verschiebung der Minneentstehung auf die Ebene des Sprachzeichens hinsichtlich des ‚zweiten Blickes‘ analysiert: Intellektuell vermittelte Wahrnehmungsprozesse lösen die Liebe aus, können aber Asymmetrie und Differenz zwischen den Liebenden produzieren. 310 Mit den gleichen Worten werden in Reiffenstein 1982, V. 821, die Freunde beschrieben. 311 Vgl. für Engelhard Reiffenstein 1982, V. 3679, V. 4350 und V. 3684-3687, für Engeltrut V. 3004, V. 2988 und V. 2967. – Vgl. zur geschlechtsindifferenten Inszenierung höfischer Körper im Tristan Schultz 1997. 312 Vgl. weiter Reiffenstein 1982, V. 1708-1714.
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Er dechiffriert Engeltruts wörtelîn (V. 1885) dahingehend, daz si niht wære minne frî / in ir muote wider in (V. 1898f.). Als er sich selbst in ihren Augen gespiegelt sieht (daz sich der jungelinc ersach / in ir spilnden ougen, V. 1904f.), wird auch er in den Bann der Minne gezogen. Zudem wird ihm die Erkenntnis von Engeltruts Liebesobjekt ermöglicht. Die Besichtigung seines Spiegelbildes wie seine Reflexionen verweisen auf die Selbstbezüglichkeit männlichen Begehrens, da diese und nicht etwa Engeltruts Schönheit seine Minne auslösen. [D]er süezen Minnen stric (V. 1919) erweist sich nun nicht nur als Verbindung zwischen Engelhard und Dietrich,313 sondern auch zwischen Engelhard und Engeltrut. Der anschließende Verlust männlicher Selbstkontrolle reicht von Engelhards unzulänglichem Verhalten bei Tisch bis zur Bettlägerigkeit. Der Einbuße jeglicher Handlungsmächtigkeit wird indes eine detaillierte Minnerede entgegengesetzt, die den Helden als Subjekt zwischengeschlechtlichen Begehrens konstituiert und so – zumindest zeitweilig – seine Identität mitbestimmt.314 Engelhard formuliert wortreich sein Ausgeliefertsein sowie die Todesnähe, in der er sich befindet. Paradoxerweise wird seine Identität durch die Minne gleichzeitig beeinträchtigt und gesteigert, was sich auch in der Reihung verschiedener sprachlicher Bilder zeigt, die Engelhard zweimal als schwaches huon (V. 1978; V. 2211), dann aber als einem Riesen vergleichbar erscheinen lassen, der trotz seiner Körpergröße ebenfalls der Minnekrankheit unterläge.315 Engeltrut wird in diesem Diskurs als Sirêne (V. 2216) und wilde[] meremeide (V. 2222) entworfen: Ihre Macht erwächst aus dem ihr attribuierten mythischen Charakter. Und tatsächlich besetzt Engeltrut eine Machtposition, die es ihr erlaubt, über Engelhards Leben oder Tod zu bestimmen. Diese Stellung erweist sich zugleich als Zwangslage, da Engeltrut als Schuldige an Engelhards Exitus gälte.316 Ihr Minnebekenntnis formuliert Engeltrut zusammen mit bestimmten Konditionen, die vor der Gewährung ihrer Liebe erfüllt werden müssen: Engelhard soll sich zum Ritter schlagen lassen und an einem Turnier teilnehmen.317 Der so definierte dienst wird mit einem lôn (V. 2372) anerkannt: Nach Engelhards triumphaler Rückkehr aus dem erfolgreich bestrittenen Turnier darf er Engeltrut zum minnespil (V. 2932) im Baumgarten treffen. _____________ 313 314 315 316
Vgl. Reiffenstein 1982, V. 805-807. Vgl. für die Minnerede Reiffenstein 1982, V. 2190-2241. Vgl. Reiffenstein 1982, V. 2318-2321. Vgl. Reiffenstein 1982, V. 2322-2326. – Göttert 1971 sieht diese Episode in Zusammenhang mit dem „alles Geschehen durchwirkenden Grundzug der Probe“ (S. 141), der auch in der Minnehandlung zu finden ist: Engeltruts Rettungsmaßnahme erweist ihre triuwe. 317 Von Bloh 1998, S. 330f., weist auf einen bedeutenden Unterschied zwischen Freundschaft und Liebe hin: Jene ist voraussetzungslos, diese aber an Ritterschlag und gesellschaftliches Ansehen gebunden.
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Die ursprüngliche Verteilung der Subjekt-Objekt-Positionen war schon vorher einer deutlichen Verschiebung unterworfen, da Engeltrut als Subjekt der Minne diesen Status zunehmend ihrem Geliebtem überlassen musste. In der Baumgartenszene wird Engeltruts gänzliche Objektivierung sichtbar, indem ihr Körper dem männlichen Blick exponiert wird. Eine elaborierte Schönheitsbeschreibung formalisiert den weiblichen Körper als Objekt des Begehrens und leitet die Vereinigung am locus amoenus ein.318 In der sehr ausführlichen Schilderung der Minnedame gehen ihr Körper und ihre Kleidung mitunter ineinander über: ez [= ein hemde] was sô kleine, als ich vernam daz man dar durch ir wîze hût (diu was alsam ein blüendez krût) sach liuhten bî den zîten. mit golde zuo den sîten gebrîset was ir lîp dar în. (V. 3038-3043)
Andreas Kraß hat die „mustergültige Verknüpfung und Ausgestaltung von vestimentärer und anatomischer Descriptio“ in dieser Sequenz beschrieben, insbesondere in Verbindung mit der „voyeuristische[n] Bildregie“ und der „erotische[n] Dimension“319 dieser Szene. Er weist darauf hin, dass die einzelnen Kleidungsschichten dazu dienen, „den Leib der Betrachteten [...] zu modellieren, nachzuformen, abzutasten“.320 Damit rückt die kulturelle Verfasstheit, mit der Körper und Schönheit wahrgenommen werden, in den Blick. Es ist hinzuzufügen, dass bei der Beschreibung nicht nur die Grenzen zwischen Gewand und Leib verwischt werden, sondern auch zwischen Natur (blüendez krût) und Kultur (golde). Diese Beschreibungsmechanismen markieren Engeltrut als ‚natürliches‘ Konstrukt höfischer Darstellungskonventionen. Anschließend wird dieses Bild noch radikalisiert: Nun wird der Eindruck beschrieben, Engeltrut stünde nacket unde entblœzet (V. 3085) da, weil ihre Haut so stark durch das seidene Hemd hindurchleuchtet. Der minnecliche, weibliche Körper erscheint als Kunstprodukt des höfischen Diskurses. Dies gilt auch für die zwischengeschlechtliche Minne: Sie wird durch die goldblauen Kunstfiguren der Liebenden, die sich jeweils im Herzen des Partners befinden, verbildlicht.321 Die alleinige Inthronisierung des weiblichen Minneobjekts verweist bereits auf die spätere, narrative Trennung des Paares. Vorerst aber mündet die _____________
318 Vgl. Behr 1988/89 zu Konrads Auseinandersetzung mit Gottfrieds Minnekonzeption aus dem Tristan; zur Baumgartenszene siehe S. 324. – Vgl. ferner Feistner 1988/89 zu einem Vergleich der Darstellung zwischengeschlechtlicher Liebe im Engelhard, in Rudolfs von Ems Willehalm von Orlens und in Philippes de Beaumanoir Jehan et Blonde. 319 Kraß 2006b, alle Zitate auf S. 177. 320 Kraß 2006b, S. 178. 321 Vgl. Reiffenstein 1982, V. 3459-3465.
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Schönheitsbeschreibung in intime Aktivitäten im Baumgarten, die die vorherige Asymmetrie weiblichen und männlichen Begehrens zeitweilig tilgen und als gemeinschaftliches Handeln erscheinen: si lâgen in der wunne / [...] und triben dâ vil suoze / ir vil reiniu minnewerc (V. 3156, V. 3158f.).322 Die Konzeption der Minnekrankheit mit anschließendem Minnedienst zwingt herkömmliche Kategorien von Herrschaft und Dienst zusammen und reichert sie mit neuer Bedeutung an: Als Engelhard der Krankheit unterliegt, erfährt er über eine Selbstbeschädigung zugleich einen Identitätszuwachs, indem seine Gedanken und damit ein ‚Innenraum‘ durch den Minne-Diskurs ausdifferenziert werden. Hinzu kommt, dass seine ausweglose Situation einen möglichen Zugriff auf seine Geliebte eröffnet, da diese nun Trost spenden muss, will sie nicht für seinen Tod verantwortlich sein. Engelhards Einbuße der Herrschaft über sich selbst ist demnach untrennbar mit einem Kontrollzuwachs über Engeltrut verbunden. Anschließend eröffnet Engeltrut die Möglichkeit eines Frauendienstes über Rittertaten, die männliche Identität über machtvolles und gewalttätiges Verhalten definiert und so dem primären Selbstverlust einen Modus erneuter Selbstkontrolle und Machtzuwachs beigesellen, der kämpferische Männlichkeit aktiviert. Kampfeskraft relativiert die anfängliche Passivität. Gleichwohl herrscht auch in diesem Arrangement eine paradoxe Verbindung von Dienst und Herrschaft: Der Minnedienst im Turnierkampf beinhaltet gewaltsames Handeln, das wiederum als Unterwerfung unter die Dame gewertet wird. Die Herrschaft der Minnedame ist ebenfalls begrenzt, da sie selbst einen lôn ausgesetzt hat, den sie leisten muss. Die Konstruktion Minnekrankheit – Minnedienst – Minnelohn ermöglicht es, temporär begrenzten Minneverzicht und zwischengeschlechtliche ‚Sexualität‘ zusammenzuschließen. Da der Text von Vorbildlichkeit der Betroffenen ausgeht, können beide Minneaspekte positiven Signifikationsprozessen zugeordnet werden. Engelhard kann seine mustergültige Männlichkeit im Minnedienst unter Beweis stellen, da er im Turnier als überlegener Kämpfer auftritt und massiven Ehrzuwachs verzeichnet. Die gegenseitige Minne beweist wechselseitige Angemessenheit der Partner. Mit Engeltruts Gewährung des Lohnes wird zwar ein illegitimer sexueller Akt vollzogen, der aber in der Minnelogik durch die vorangehende tödliche Krankheit bis zu einem gewissen Grad legitimiert worden ist. Engelhards uneingeschränkter Körpereinsatz im Turnier zeigt einen funktionsfähigen Körper, dennoch verweist der Held nach seiner Rückkehr erneut auf seines herzen klage (V. 2898), die gelindert werden müsse. Liebeskrank_____________ 322 Nach der Beschreibung von Engeltruts Schönheit tritt in der Minneszene (Reiffenstein 1982, V. 3120-3194) stets ein gemeinsames Subjekt – si – auf.
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heit und Rittertaten bilden zwei Existenzformen des minnenden männlichen Subjekts. Engelhards Minnepathologie entspricht der Konzeption des amor hereos, die im 13. Jahrhundert als adlige Männerkrankheit erscheint.323 Die Passion wird als Ausweis von Exklusivität und Adel gewertet. In besonderem Maße gewinnt sie als Möglichkeit einer „Naturalisierung der Tugendadelskonzeption“ an Bedeutung, „die Adel in Abgrenzung gegen Geburt und Besitz definiert, unendliche Perfektionierung an die Stelle eines festen und ererbten Status setzt“.324 Eine solche Bedeutungsdimension kann auch für Engelhard veranschlagt werden: Engelhards Tugendadel wird durch die Liebeskrankheit weiter aufgewertet. Das zwischengeschlechtliche Begehren dient in diesem Zusammenhang als textuelle Strategie, die zunächst durch einen Rangunterschied differenzierten Freunde anzunähern: Engelhard wird nicht erst durch seine Einheirat in das Königshaus von Dänemark zum Rangesgleichen, sondern bestätigt seinen Adel bereits durch Minnepassion und Minnedienst; sein vorbildlicher Status wird durch den tatsächlichen sozialen Aufstieg beglaubigt. So wird das Geschlechterverhältnis in den Dienst genommen, um die Gleichheit der Kameraden zu steigern. Dies gilt nicht nur hinsichtlich der Adelskonstruktion, sondern auch auf der Ebene der narrativen Struktur: Engelhards Minnekrankheit und Minnedienst im Turnier entsprechen in chiastischem Bezug Dietrichs Gottesurteilskampf und Aussatz. Beide Freunde werden sowohl in kämpferischer, gewalttätiger Aktion als auch in krankheitsbedingter, reflexiver Passivität325 gezeigt, so dass ihre gemeinsame Identität nicht nur durch körperliche Gleichheit, sondern auch durch handlungsdynamische Similarität konstituiert wird. In Konrads Text wird vorbildliche männliche Identität durch überlegene Gewaltausübung und subjektivierende gedankliche Prozesse, die jeweils den ‚Innenraum‘ der Gefährten ausdifferenzieren, gestiftet. Die homosoziale Minne erscheint als übergeordnetes, allgemeingültiges Konzept, das den gesamten Engelhard strukturiert.326 Die temporär nur begrenzte Bedeutung des Geschlechterverhältnisses wird auch in Engeltruts Position nach der Heirat sichtbar: Sie verschwindet fast völlig aus dem Blickfeld der Geschichte.327 _____________ 323 Vgl. Wack 1990, S. 150f., und Klinger 2001, S. 242-275. 324 Klinger 2001, S. 248 (Hervorhebung getilgt). 325 Vgl. Dietrichs ausführliche Reflexionen hinsichtlich seines Zustandes: Reiffenstein 1982, V. 5360-5416, V. 5490-5548 und V. 5623-5666. 326 Andreas Kraß interpretiert den Engelhard als heterosoziale Bearbeitung der homosozialen Amicus-Amelius-Geschichte. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass der Text zwar ein zwischengeschlechtliches Begehren einführt, doch lässt dies mitnichten die Männerfreundschaft in den Hintergrund treten. Vgl. Kraß 2006a. 327 Bezeichnend ist auch ihr völliges Verschwinden aus Engelhards Reflexionen, als er über Dietrichs Treuedienst nachdenkt: daz ich ze Tenemarke trage / den zepter und die krône, / daz hât
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Die Vaticinium / Amici-Geschichte der Historia septem sapientum differenziert die Freunde schon von Anfang an in hohem Maße: Während Alexander stark vnd fest was vnd het ein rößelet antlút (Gießen 104, Steinmetz 2001, S.64, Z. 158f.), war Lodovicus blöder natúr vnd ettwas blaich vnder dem antlút (XV, Z. 159f.). Im Anschluss an diese Unterscheidung tritt Florentina, die Kaisertochter, auf den Plan. Da Alexander für ihr leibliches Wohl zuständig ist, geht er bei ihr ein und aus, so dass Florentina begunde Allexander liep zu gewynnen (Heidelberg, Cpg 149, Bl. 98r, Sp. 2). Als Lodovicus einmal heimlich für Alexander einspringt, sieht er Florentina zum ersten Mal. Florentina erkennt sofort, dass es sich nicht um Alexander handelt, und fragt ihn nach Namen und Herkunft. Nach dieser Begegnung legt Lodovicus sich ins Bett und wart krang gar sere (Hans von Bühel, Dyocletianus Leben, Keller 1841, V. 7740). Alexander identifiziert sofort die Ursache seines Leidens: pulcritudinem [domini nostri filie] considerasti in tantum, quod amore eius cor tuum vulnerasti (Innsbruck, Cod. 310, Roth 2004, S. 438, Z.145f.).328 Bei der Diagnose der Minnekrankheit benennt Alexander das bekannte Nachsinnen über weibliche Schönheit als Ursache.329 Da Lodovicus um sein Leben fürchtet, ergreift Alexander sofort Hilfsmaßnahmen. Er kauft ein kostbares Geschenk, das er der Prinzessin in Lodovicus’ Namen überbringt. Da Florentina sich zunächst weigert, den sterbenskranken Lodovicus zu retten, wiederholt Alexander die Geschenkübergabe zweimal, wobei der Wert der Gabe jeweils beträchtlich zunimmt.330 Der Gabentransfer ist mit einer Diskussion zwischen Floren_____________ er mir vil schône / mit der helfe sîn gegeben (Reiffenstein 1982, V. 6196-6199). Die Erlangung der Königswürde und nicht etwa die Vereinigung mit Engeltrut ist es, die Engelhard hier als wichtigstes Ergebnis des Gottesurteilskampfes wertet. – In einer gattungsspezifischen und narratologischen Untersuchung betrachtet Könneker 1968 Minnehandlung und Freundschaft und kommt zu dem Ergebnis, dass jene nicht erfolgreich in diese integriert sei. Deshalb bezeichnet sie den Engelhard als gescheiterten Roman. Andere Strukturmodelle, die von einer gelungenen Konzeption des Engelhard ausgehen, bieten Rupp 1963, Oettli 1986a und 1986b sowie Rohr 1999. 328 „Die Schönheit (der Tochter unseres Herrn) hast du so sehr prüfend betrachtet, dass die Liebe zu ihr dein Herz verwundet hat.“ 329 So schon Andreas Capellanus in De Amore, I.i: Amor est passio innata procedens ex visione et immoderata cogitatione formae alterius sexus [...]. („Die Liebe ist ein im Inneren geborenes Erleiden, welches aus dem Anblick und der unmäßigen gedanklichen Beschäftigung mit der Wohlgestalt des anderen Geschlechts hervorgeht,“ S. 7.) – Vgl. auch Wack 1990, S. 59. 330 Die Art der Geschenke variiert von Text zu Text. Meist handelt es sich um ein mit Edelsteinen besetztes Handtuch (manutergium, Innsbruck, Cod. 310, Roth 2004, S. 428, Z. 20; hant wehel, Hans von Bühels Fassung, Keller 1841, V. 7775; ein seydin zwehel vol edels gestains, Wiener Schottenstift 407, Steinmetz 1999, Bl. 28v) oder um ein kostlich tuch (anonyme Versfassung, Keller 1846, S. 209, V. 2) oder um vil klaynöt vnd edel gestain (Gießen 104, Steinmetz 2001, S. 65, Z. 191). Das zweite und dritte Geschenk sind dann jeweils als kostbarere Varianten des ersten zudenken. In der Heidelberger Hs. Cpg 149 und in der französischen, gedruckten Prosafassung von 1492 sind es drei unterschiedliche Geschenke: In der Heidelberger Handschrift gibt es zunächst ein kostlich sydin tüch, dann einen guldin gürtel kostlich und
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tina und Alexander verknüpft: Nach dem ersten Geschenk wird die Prinzessin sowohl über Lodovicus’ Reichtum als auch über seine Liebeskrankheit informiert. Auch die ihr zugedachte Rolle wird angedeutet: das ir jme ettewas trostes nit versagent vnd in nit lossent also vmb uwern willen sterben (elsässische Fassung, Roth 2008, S. 159, Z. 24f.). Florentina verweigert nicht nur das, was von ihr verlangt wird, sondern spricht es – zumindest in der Innsbrucker Handschrift – noch dazu offen aus: velles tu consulere, ut virginitatem meam tali forma perderem? (Roth 2004, S. 439, Z. 158)331 Beim zweiten Gespräch nach der zweiten Gabe wird der Umstand thematisiert, dass Alexander selbst nicht der Minnekrankheit verfallen ist, obgleich er Florentina oft gesehen hat. Dieses Thema überführt Alexander in den Kontext der Freundschaft. Dass er seinem kranken Gefährten behilflich ist, begründet er mit der Liebe bzw. Freundestreue, die er ihm entgegenbringt. Florentina schickt ihn ein zweites Mal fort. Das dritte Geschenk überzeugt sie schließlich: Ohne weitere Umschweife stimmt sie einem Besuch bei Lodovicus zu, der auf diese freudige Nachricht hin sogleich gesundet. Diese Geschichte über die Käuflichkeit sogar der mächtigsten Dame wird im französischen Druck von 1492 an eine nature feminine gekoppelt, die den Erfolg von Alexanders Vorgehen gewährleistet. [N]ature feminine est encline a prendre et avoir belles chouses et nouvelles, et [...] après les dons pris a peu de peyne on en ha ce qu’on demande (Paris 1876, S. 171).332 Alexander weiß um diese ‚weibliche Disposition‘ und macht sie sich zunutze. Zugleich reflektiert er nach der ersten Ablehnung, que rien n’est plus variable ne muable que le cueur de la femme (S. 172).333 Implizit beruhen auch die früheren Bearbeitungen der Historia septem sapientum auf diesen misogynen Annahmen, damit Alexanders Taktik gelingen kann. Dieser quasi käufliche Erwerb der Prinzessin ist eine Besonderheit innerhalb des Amicus-Amelius-Korpus. Dass Florentina Lodovicus nach der angemessenen ‚Bezahlung‘ über ihren Körper verfügen lässt, verbinden die einzelnen Texte mit divergierenden Konzepten zwischengeschlechtlichen Begehrens. Zuvor war ausschließlich von Lodovicus’ Liebe die Rede, die ihn niedergestreckt hatte: _____________ schließlich eine guldin krone mit saffieren und Rubynen gezieret mit kostlichen steynen (Bl. 99v, Sp. 1 – Bl. 100r, Sp. 1). Im Druck von 1492 wird ein Tuch (drapt precieux) von einer Krone (une belle coronne) und einem Gürtel (une centure) gefolgt, wobei auch hier der Wert der Geschenke ständig steigt (Paris 1876, S. 171f.). 331 „Willst du mir raten, dass ich meine Jungfräulichkeit auf diese Weise verliere?“ – Verlust von ere (Hans von Bühel, Dyocletianus Leben, Keller 1841, S. 174, V. 7814) oder kuschait (Gießen 104, Steinmetz 2001, S. 66, Z. 200) wird es in anderen Bearbeitungen genannt. 332 „Die weibliche Natur neigt dazu, schöne und neue Dinge zu nehmen und zu besitzen und [...] nachdem die Geschenke mit wenig Mühe erlangt worden sind, hat man das, was man gern möchte.“ 333 „Nichts ist wechselhafter und unbeständiger als das Herz der Frau.“
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Das Konzept der Minnekrankheit zeigt den amor hereos als adlige ‚Männerkrankheit‘. Statt aber – wie im Engelhard – die Minnepassion mit Minnedienst an der Dame zu verknüpfen und ein vorbildliches, höfisches Handlungsmuster zu etablieren, führt Alexander einen Freundschaftsdienst für seinen Gefährten durch, der alsbald zur sexuellen Vereinigung zwischen Lodovicus und Florentina führt. Lodovicus’ Minnedienst an der Dame wird ersetzt durch Alexanders Freundschaftsdienst an Lodovicus: Das pathologische, zwischengeschlechtliche Begehren wird in den Freundschaftsbund integriert. Der quasi verweigerte Frauendienst verweist auf die nicht vorhandene Wertschätzung der Dame: Setzt der Dienst eine männliche Unterwerfung voraus, inszeniert die Historia septem sapientum wie der ‚Liebeslohn‘ und die Prinzessin für Lodovicus gekauft werden. Doch auch für Lodovicus hat dieses Konzept Konsequenzen: Er verharrt in einem passiven Zustand, bis sein Freund die Transaktion in die Wege geleitet hat. Eine höfische Vervollkommnung durch die Passion ist nicht zu erkennen. Stattdessen indizieren die Ereignisse um Lodovicus’ pathologischen Zustand Festigkeit und Wirksamkeit des Freundschaftsbundes. Der folgende sexuelle Akt evoziert in einigen Texten der Historiaseptem-sapientum-Tradition eine Gegenseitigkeit der Gefühle. Nachdem Lodovicus mit der Kaisertochter geschlafen hat, conglutinata est anima eius cum eo et nimius amor erat inter eos (Innsbruck, Cod. 310, Roth 2004, S. 441, Z. 178).334 Die körperliche Vereinigung bewirkt eine seelische Verschmelzung, so dass nun auch von Florentinas Liebe zu Lodovicus ausgegangen werden kann.335 In der Gießener Hs. 104 ist dagegen keinerlei Gegenseitigkeit des Begehrens zu erkennen: Ludwig beslieff sie (Steinmetz 2001, S. 66, Z. 218)336, ohne dass der Text weitere Gefühlszustände referiert; Florentinas reines ‚Bezahlungsverhalten‘ wird hier nicht revidiert. Der französische Druck von 1492 beschreibt explizit den Ausbruch der Liebe bei Florentina nach der ersten Nacht: Cecy estre fait, elle fut sy frappée de l’amour de Loys que des deux ce n’estoit que ung vouloir, que une pensée et une affec_____________ 334 „Ihre Seele verband sich aufs Engste mit ihm und eine übermäßige Liebe existierte zwischen ihnen.“ 335 Ähnlich erzählt die anonyme deutsche Verserzählung: Vnd wart so gar dy sele sin / Mit ir sele verstricket / Vnd mit lieb so gar verwicket, / Das der selben lieb glich / Wenig was in keinem rich (Keller 1846, S. 211, V. 9-13). Hans von Bühel geht explizit von Florentinas Liebe aus, so dass eine Wechselseitigkeit entsteht: In s=licher liebe sy in entpfieng / Das er die nacht by ir lag / Bis morgen an den liechten tag / Vnd wart ein stette liebe aldo / Vnd wurdent beide in fröuden fro (Keller 1841, V. 7885-7889). Auch die Heidelberger Hs. Cpg 149 erzählt davon, das ir beider hercze wart glich (Bl. 101r, Sp. 1). 336 Im Codex 407 des Wiener Schottenstifts wird Ludwigs Verhalten ähnlich beschrieben, aber immerhin von nachfolgender wechselseitiger Liebe begleitet: da gieng er zü dem freUlin vnd schlieff be: ir / nach allem seinem willen / alls sich nün das ergieng vnd die liebin zwischen Jn ain ding ward [...] (Steinmetz 1999, Bl. 29v).
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tion d’estre ensemble et perseverer en leurs amours (Paris 1876, S. 173).337 Florentinas zunächst pragmatische Hingabe an Lodovicus kann in ein zwischengeschlechtliches Begehren ihrerseits überführt werden, doch bleibt dies fakultativ. Lodovicus’ Verlangen und Alexanders Unterstützung sind es, die den Beischlaf – und damit auf längere Sicht die Heirat – herbeiführen. Weibliches Begehren ist nur von sekundärer Bedeutung, da der weibliche Körper auch anders verfügbar gemacht werden kann. Eine Besonderheit dieser Texte besteht in der Helferfunktion Alexanders: In den anderen Amicus-Amelius-Bearbeitungen hat der Freund, der nicht in die zwischengeschlechtliche Liaison verwickelt ist, zu diesem Zeitpunkt den Hof bereits verlassen hat. Ohne Alexander kann Lodovicus nicht zu seinem Ziel gelangen. Lodovicus’ Hilfebedarf korrespondiert mit seiner grundsätzlichen körperlichen Unterlegenheit in der Historia septem sapientum: Nachdem Alexander die Beziehung zwischen seinem Gefährten und Florentina in die Wege geleitet hat, beschützt er Lodovicus vor lauernden Widersachern, die die heimliche Affäre wittern.338 Dass Lodovicus überhaupt der Minnekrankheit unterliegt, scheint seiner körperlichen Schwäche geschuldet zu sein: Während der kraftstrotzende Alexander unbeschadet mit Florentina Umgang pflegt, wird Lodovicus lebensgefährlich durch ihren Anblick beschädigt. Das krankhafte Begehren nach einer Frau ist kausal mit Lodovicus’ grundsätzlicher Gebrechlichkeit verknüpft und treibt die Differenzierung der Gefährten weiter voran. Die Zusammengehörigkeit der Freunde manifestiert sich hier – anders als in den anderen Amicus-Amelius-Texten – in einer Komplementarität der Gefährten: Die Differenzen gewährleisten eine gegenseitige Ergänzung, obgleich auch hier die Gestaltgleichheit und die wechselseitige Liebe der Freunde aufeinander bezogen sind. Als Lodovicus seinen mächtigen Freund und Helfer entbehren muss, da dieser nach dem Tode seines Ziehvaters nach Ägypten zurückgerufen wird, nimmt Florentina die Position der Ratgeberin ein. Hatte sie ihr überlegenes Wissen bereits zuvor gezeigt, offenbart sie beim Abschied von Alexander ebenfalls eine Kenntnis von Zusammenhängen, die Lodovicus offensichtlich abgeht. So teilt sie Lodovicus etwa die Entstehungsumstände ihrer Beziehung mit, von denen er bislang nichts ahnte, und berichtet auch von den nächtlichen Überfallkommandos, denen Alexander sich entgegengestellt hatte.339 Florentinas Trauer um Alexanders Abreise und _____________ 337 „Nachdem dies vollbracht war, wurde sie so von der Liebe zu Loys getroffen, dass es bei den beiden nur einen Wunsch, nur einen Gedanken und nur eine Empfindung gab, dass sie zusammensein und an ihrer Liebe festhalten wollten.“ 338 Weniger konkret berichtet die Gießener Hs. 104, vgl. Steinmetz 2001, S. 66, Z. 220-223. 339 Vgl. etwa für die Innsbrucker Hs. Roth 2004, S. 443, Z. 199-204, für Hans von Bühels Fassung Keller 1841, V. 7956-7979, und für Gießen 104 Steinmetz 2001, S. 67, Z. 234-239.
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ihre Anerkennung seiner Freundestreue markieren sie als Verbündete, nicht als störenden Eindringling in eine Zweierbeziehung. Ihr Wissen gleicht Lodovicus’ Defizite ebenso aus wie Alexanders Stärke. Nachdem Alexanders Befürchtung, dass Gydo, der Königssohn von Spanien, das Paar beim Kaiser anschwärzt, wahr geworden ist, ist es Florentina, die einen Gegenplan entwickelt. Während Lodovicus in Resignation versinkt, brilliert die Prinzessin mit der Idee des Identitätentauschs. Mittels einer List ermöglicht sie Lodovicus’ Aufbruch vom Hof, obgleich der Zweikampftermin bereits anberaumt ist. Sie gibt ihrem Liebhaber genaue Instruktionen: Heisz in selber her komen / Das er hie kempff fúr dich (Hans von Bühel, Dyocletianus Leben, Keller 1841, V. 8175f.). So geschieht es. Lodovicus benötigt stets eine Person an seiner Seite, die ihn unterstützt: Zuerst kann er sich auf Alexander verlassen, dann übernimmt Florentina diese Funktion. Diese stärkere Anbindung eines der Gefährten an eine Frauenfigur beruht nicht so sehr auf wechselseitigem Begehren, sondern vielmehr auf Florentinas Klugheit, mit der Lodovicus’ Mängel kompensiert werden. Florentina fungiert mithin – wie zuvor Alexander – als Komplementärfigur zu Lodovicus. Dass Alexander eine Frau für seinen Gefährten erwirbt, kann im weitesten Sinne unter dem Terminus des Frauentransfers gefasst werden, der in allen anderen Amicus-Amelius-Texten erst im Entwurf des zweiten Geschlechterverhältnisses – der Ehe zwischen dem zweiten Freund mit Obias – wirksam wird. Dass Alexander seinem Freund eine Frau bereitstellt, ist ein Mittel, das Freundschaftsbündnis zu festigen: Da Lodovicus droht, an der Liebeskrankheit zu sterben, kommt dem Frauenerwerb sogar die grundsätzliche Funktion zu, Existenz – und damit auch die Existenz der Freundschaft – zu sichern. Die Geschlechterbeziehung bildet mithin eine Funktion des Männerbündnisses. Der dieser Konzeption inhärente Objektstatus der Frauenfiguren, über die die Männer verfügen, um funktionierende Homosozialität herzustellen und zu festigen, ist in Florentinas Fall indes ambivalent: Obgleich an den misogynen Topos der Käuflichkeit und Unstetigkeit gekoppelt, entscheidet Florentina nicht nur selbst über den Zeitpunkt, an dem sie in sexuelle Beziehungen zu Lodovicus tritt, sondern erscheint bis zur Heirat als urteilsfähiges Subjekt, das sich gerade nicht eindeutig über sein zwischengeschlechtliches Begehren kennzeichnen lässt. In Florentina deutet sich damit die Möglichkeit eines weiblichen Subjektstatus an, der nicht notwendig über ein männliches Gegenüber bestimmt werden muss. Insgesamt weicht diese Organisation von den anderen Amicus-AmeliusTexten ab, da der Gewährleistung zwischengeschlechtlicher Bindungen in der Historia septem sapientum größeres Gewicht zukommt. Zwar führt der Sieg im Gottesurteilskampf im gesamten Amicus-Amelius-Korpus zu einem
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– einseitigen – Frauenerwerb für den Gefährten, doch ist dies eher ein Nebeneffekt der Ehr- und Lebensrettung des schuldigen Kameraden. Der Herrscher übergibt nach dem Sieg stets seine Tochter einem der Freunde, so dass die anschließende Heirat zumindest aus der Sicht des Herren einer Sicherung von Allianzen dient. Aus der Perspektive der Freundschaft bedeutet die Heirat vor allem die herrschaftliche Installation eines der Gefährten. Die Freundschaft, die auf Gleichheit und triuwe beruht, wird nicht durch die Eheschließung an sich intensiviert: Stattdessen kann die Ehe – wie etwa die zwischen Ami und Lubias in der chanson de geste – deutlichen Konkurrenzcharakter zur Freundschaft annehmen. Die Heirat stellt die herrschaftsstiftende Funktion der Freundschaft heraus, nicht aber die unabdingbare Mediatisierung des Freundschaftsbundes durch Frauentausch. Diese Struktur wird in der Historia septem sapientum modifiziert, da der Frauentransfer hier konstitutiver Bestandteil der Freundschaftskonzeption ist. Alexander garantiert nicht erst mit seinem Sieg im Zweikampf Ehe und Herrschaftsantritt seines Freundes, sondern gewährleistet in grundsätzlicherer Form, dass die zwischengeschlechtliche Beziehung zustande kommt. Obgleich die Entwürfe zwischengeschlechtlicher Bindungen und weiblicher Handlungsfähigkeit in den Bearbeitungen der ersten und der dritten Textgruppe stark von den hagiographischen Texten (Gruppe 2) abweichen, stimmen alle Fassungen darin überein, dass die – wie auch immer geartete – Geschlechterbeziehung nach ihrer Entdeckung zunächst abrupt endet. Indem Belixenda mit einem der Gefährten verheiratet wird, wird sie – gleich ob sie aktiv begehrte oder passiv unterworfen wurde – in die Position des Objektes eingesetzt, dessen Übereignung eine neue Beziehung zwischen dem Herrscher und einem der Freunde konstituiert. Die legitime Übergabe der Frau, die innerhalb eines homosozialen Rahmens stattfindet, bildet damit jeweils den Schlusspunkt des auf unterschiedliche Weisen entworfenen Geschlechterverhältnisses zwischen Belixenda und einem der Freunde: So aktiv und unabhängig die Prinzessin auch um den Geliebten geworben haben mag, die Verheiratung ordnet letztlich jedwedes zwischengeschlechtliche Begehren der universellen Homosozialität unter. Die Allianz zwischen Herrscher und Freund wird geschlossen, gleich ob Belixenda vergewaltigt wurde oder selbst die sexuelle Vereinigung herbeiführte. Weibliches Begehren und weibliches Handlungsvermögen stellen fakultative Variationen im Amicus-Amelius-Korpus dar. Obligatorisch ist allein, dass der Gefährte zunächst in sexuelle Beziehungen zur Herrschertochter treten muss und später herrschaftlichen Status durch die Heirat erhält. Belixenda fungiert fortan als vorbildliche Gemahlin. Erscheint die Ehe in gewissem Maße als eine Weiterführung der vorherigen Beziehung,
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etwa weil nun sexuelle Aktivitäten zwischen den Ehegatten vorausgesetzt werden können,340 vollziehen die Texte einen deutlichen Bruch zwischen den beiden ‚Phasen‘ der Geschlechterbeziehung. Zwischengeschlechtliches Begehren, sofern es je vorhanden war, löst sich auf, sobald das Herrscherpaar konstituiert ist. Sexuelle Vereinigung dient nun vorrangig der Zeugung von Leibeserben, nicht der Befriedigung körperlichen Begehrens. In der Tat erzählen die Texte stets von der Existenz der Kinder, niemals mehr aber von körperlicher Anziehung. Insofern erscheinen zwei unterschiedliche Konzeptionen zwischengeschlechtlicher Bindungen, die über ihre divergierende Zuordnung zum Begehren gekennzeichnet sind. In der chanson de geste, andeutungsweise auch in der mittelenglischen romance und in der anglonormannischen Verserzählung, ist die Ehe zudem nur ein vorläufiges Arrangement, das schließlich dem Freundesbund endgültig untergeordnet wird: Im ersten Text verlassen die Gefährten Gattinnen und Nachkommen, um zusammen ins Heilige Land zu reisen, auf der Rückreise zu sterben und vereint bestattet zu werden. Die anderen beiden Bearbeitungen erzählen zwar nicht explizit davon, dass die Kameraden sich von ihren Familien abwenden. Dass im gemeinsamen Grab aber nicht die Eheleute, sondern die Freunde ruhen, demonstriert noch im Tode die Rangordnung der Beziehungen auf eindringliche Weise. 3.2. Obias und Lubias: Verkörperungen des Bösen und eigenständige Herrscherinnen Obias: Frauentausch und Frauentod Während Belixenda trotz aller abweichenden Darstellungen spätestens nach der Hochzeit mit einem der Freunde als gute Ehefrau figuriert, nimmt Obias, die Gemahlin des anderen Gefährten, die entgegengesetzte Position ein. Erst fungiert sie als ein Objekt, über das Homosozialität konstituiert wird, anschließend wird sie über ihre Schlechtigkeit definiert, die sich in ihrem Verhalten gegen ihren aussätzigen Gemahl manifestiert. Zunächst lässt aber noch nichts auf Obias’ etwaige Bosheit schließen: In den legendenhaften Amicus-Amelius-Texten (Gruppe 2) genießt Amicus auf seiner Suche nach Amelius die Gastfreundschaft eines Ritters, der ihm die Hand seiner Tochter anbietet. In der elaborierten Version wird die Übergabe der Frau von Reichtümern begleitet: je donrai à vostre seignor ma fille [...] et vos ferai toz riches d’or et d’argent et de possessions (Moland / _____________ 340 So etwa Calin 1991, S. 81, der die Heirat als endgültige Erfüllung dessen, was Belissant und Amile sich wünschen, sieht.
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D’Héricault 1836, S. 45).341 Amicus willigt ein und erwirbt auf diesem Wege eine sekundäre Herrschaft, nachdem er nach dem Tode seines Vaters aus seinem eigenen Erbland verstoßen worden war. Laut Lévi-Strauss besteht in vormodernen Gesellschaften zwischen patrilinearen Sippen „ein kontinuierlicher Übergang vom Krieg zum Tausch und vom Tausch zur Heirat untereinander, und der Austausch der Bräute ist nur der Abschluß eines ununterbrochenen Prozesses gegenseitiger Gaben, durch den sich der Übergang von der Feindschaft zur Allianz, von der Furcht zum Vertrauen, von der Angst zur Freundschaft vollzieht.“342 Die kurze Begebenheit in den Amicus-Amelius-Texten beleuchtet den Objektstatus der Tochter des adligen Herren. Sie tritt an dieser Stelle gar nicht selbst als Person auf, sondern dient einzig als Tauschobjekt, um ein Bündnis zwischen den Männern herzustellen. Stiftete die Gastfreundschaft des Ritters eine zeitlich begrenzte Gemeinschaft zwischen ihm und seinen Gästen, wird diese durch den Frauentransfer in eine dauerhafte Allianz überführt. In der ersten Textgruppe ist der Status der Ehefrau des zweiten Freundes einzig in der Historia septem sapientum durch eine ähnliche Transaktion definiert: Die Reihe von Alexanders Vätersubstituten enthält den König von Ägypten, der Alexander an Sohnes statt aufnimmt und ihm seine Tochter und das Land in Aussicht stellt. Das starke Interesse der Amici-Geschichte an sozial gestifteter, männlicher Verwandtschaft geht mit Alexanders vorläufigem Desinteresse an der Heirat einher. Obgleich sein Ziehvater ihn vor der Abreise zu Kaiser Titus auffordert, seine Tochter zu heiraten, verschiebt Alexander die Eheschließung auf später.343 Erst nach dem Tode des Königs von Ägypten heiratet Alexander – vertreten von Lodovicus – dessen Tochter, um das Reich in seinen Besitz zu nehmen.344 In Radulfus Tortarius’ Text wird die Frau an Amicus’ Seite erst beim Identitätentausch und dem damit verbundenen keuschen Beilager erwähnt. In der kleinen Textgruppe, in der die narrativen Positionen der Freunde vertauscht sind, erfährt man ebenfalls nicht viele Einzelheiten über Amelius’ Gattin. Der Herrschaftsantritt des zweiten Freundes in seinem Heimatterritorium ist offenbar stets an eine Heirat gebunden: _____________ 341 „Ich werde eurem Herrn meine Tochter geben [...] und euch werde ich reich an Gold und Silber und Besitztümern machen.“ – In der mittellangen bzw. minimalen Version heißt es: Vnd do derselb herr höret, wie es jm ganngen was, do gab er jm willigklichen sein dochter (München, Cgm 523, Reiffenstein 1982, S. 242, Z. 55-57), bzw. Vnder des quam Amicus to eynes ridders hus. De gaf em syne dochter (Hannover, I 239, Oettli 1986a, S. 144, Z. 13f.). 342 Lévi-Strauss 1981, S. 127. 343 Vgl. etwa für Gießen 104: Steinmetz 2001, S. 63f., Z. 128-138. 344 Vgl. für Gießen 104 Steinmetz 2001, S. 66, Z. 224-226 und S. 67, Z. 250-255.
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Amylion spoused a lady bryght in boure (Le Saux 1993, st. 27, V. 10),345 heißt es in der mittelenglischen romance. In der anglonormannischen Verserzählung nimmt Amillyoun auf Anraten seiner Männer eine schöne und reiche Erbin zur Frau, die – wie der Gefährte – aufgrund des Gleichheitsparadigmas als adäquat erscheint: Bien furent entre eux couplés / De parage e de beautez (Fukui 1990, V. 179f.).346 In Konrads Engelhard ist erst von Dietrichs wîp (Reiffenstein 1982, V. 4222) die Rede, als Engelhard seinen Freund um Hilfe bittet. Eine Ausnahme bildet Lille 130, in der Amiles eine spanische Gräfin heiratet, die er von einem kriegstreibenden Grafen befreit hat. Diese Gräfin führt die Eheschließung selbst herbei: Sie lässt den unbekannten, siegreichen Kämpfer suchen. Aufgrund seiner Schönheit begehrt sie ihn so sehr, dass sie ihn heiratet.347 Sie agiert hinsichtlich ihrer Verheiratung eigenständig und effektiv, da nun der militärische Schutz ihres Landes gewährleistet ist. Diese Fassung entwirft als einzige ein an die Figur der Obias gekoppeltes personales Begehren. Das Verlangen der Gräfin wird über Amiles’ kämpferisch-politische Bedeutung mitkonstituiert, die er für ihr Reich hat. In den anderen Bearbeitungen wird die eheliche Verbindung von keinerlei zwischengeschlechtlichem Begehren getragen: Homosoziale Bündnisbildung in den hagiographischen (Gruppe 2) und Grenzfall-Texten (Gruppe 3) und ordnungsgemäßes Herrschaftshandeln in der adlig deutenden Textgruppe (Gruppe 1) sind die Motivationen der Eheschließung. In der Episode des keuschen Beilagers348 erlangt die zweite Ehefrau narrative Bedeutung: Während ihr Gatte an seines Freundes statt den Zweikampf bestreitet, gibt sich der Freund für ihren Mann aus. Obias bemerkt den Austausch nicht und ist über die nächtliche Praktik des trennenden Schwertes erstaunt. Sie fordert körperliche Nähe ein, wird aber zurückgewiesen. Die Gefahr einer sexuellen Übertretung scheint von ihr auszugehen, so dass Amelius sie durch Drohworte und -gesten daran hindern muss, die Treue zu brechen. Da Obias vom Identitätentausch der Gefährten nichts weiß, ist ihr Verhalten verständlich, erschwert aber Amelius’ Keuschheitsmission. Amelius’ Androhung von Gewalt gegen Obias verdeutlicht, dass nicht der gewaltsame Umgang selbst einer negativen Bewertung unterliegt: Die durch das Schwert verkörperte Gewalt, ja sogar der angedrohte Tod sind legitime Mittel, angestrebtes Verhalten durchzusetzen. Das Ziel besteht in der sexuellen Enthaltung, nicht im gewaltlosen Umgang mit Frauen. Da die Situation der Übertretung und die des Ausgleiches einander entsprechen, wäre diese Maßgabe auch auf die sexuelle _____________
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„heiratete eine wunderschöne Dame in der Kemenate“ „Sie waren sehr durch Herkunft und Schönheit miteinander verbunden.“ Vgl. Woledge 1939, S. 452. Siehe zum keuschen Beilager auch Kap. I.2.2.
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Inbesitznahme von Belixenda zu präzisieren: Nicht die angewendete Gewalt definiert den Normenverstoß, sondern der sexuelle Akt. Gewaltanwendung erscheint demnach als möglicher männlicher Modus sexuellen Handelns, der nicht per se, sondern hinsichtlich der angestrebten Konsequenzen bewertet wird: Die Erzwingung illegitimen Geschlechtsverkehrs wird bestraft, die – zumindest potentielle – Forcierung von Enthaltsamkeit erscheint als vorbildlich. Nicht Keuschheit an sich aber markiert mustergültiges Verhalten, sondern ihre Bedeutung für die Konservierung homosozialer Bindungen. Die Absenz des zwischengeschlechtlichen Begehrens bei der Eheschließung zwischen Obias und ihrem Gatten korrespondiert mit dem sexuellen Verzicht seines Gefährten. Dem ‚Frauentausch‘ kommt in den Amicus-Amelius-Texten eine zusätzliche, konkret-spezifische Bedeutungsdimension zu, in der die Frau(en) zwischen den Freunden getauscht, aber nur temporär und ohne intimen Körperkontakt verwahrt werden. Gleichwohl wirkt auch dieser Tausch konstitutiv für männliche Allianzen, in diesem Fall für die Freundschaft. In den einzelnen Textgruppen wird Obias’ Standpunkt in der Episode des keuschen Beilagers und ihrer Reaktion auf das trennende Schwert unterschiedlich viel Gewicht zugemessen. Innerhalb der ersten Textgruppe liefert Engelhard der Herzogin eine – erfundene – Erklärung für dieses Verhalten: Er habe eine sechswöchige Buße zu absolvieren.349 Neben Konrads Engelhard, in dem diese Begründung von Engelhard sozusagen freiwillig gegeben wird, weist nur noch die mittelenglische romance eine derartige Auskunft auf. Das Schwert veranlasst die Dame zu der Frage nach dem Grund für dieses Verhalten, worauf Amys eine schlimme Krankheit (maladye, Le Saux 1993, st. 96, V. 8) vorschützt, die sein Blut und seine Knochen angegriffen habe:350 I wolde not nye thi body bare / Ffor all this worldes guode (st. 96, V. 11f.).351 Von den Grenzfall-Texten berichtet die chanson de geste von Amiles Erklärungsnot: Als Lubias das Schwert spürt, liest sie es als Todesdrohung und droht mit der Scheidung. Nach einem langen Gebet beschließt Amile, ihr eine Ausrede aufzutischen, die der der mittelenglischen romance ähnelt: Aufgrund eines Fiebers habe ihm ein Arzt geraten, dass er dreißig Tage nicht mit einer Frau schlafen dürfe.352 Die Bezeichnung der Ehefrau als Herrin (lady, Le Saux 1993, st. 96, V. 1; Da_____________ 349 Vgl. Reiffenstein 1982, V. 4570-4573. 350 Vgl. Le Saux 1993, st. 96, V. 8-10. 351 „Nicht für alle Reichtümer der Welt würde ich mich deinem nackten Körper nähern.“ – In der anglonormannischen Verserzählung verweigert Amys jegliche Kommunikation: A la dame ne voleit parler (Fukui 1991, V. 543) („Er wollte nicht mit der Dame sprechen.“). – In Lille 130 fragt Amiles’ Ehefrau später den echten Amiles, was das nackte Schwert zu bedeuten hatte, muss sich jedoch mit Dame, il couvenoit que je le feïsse (Woledge 1939, S. 454) („Herrin, es musste sein, dass ich es tat“) zufriedengeben. 352 Vgl. Dembowski 1987, V. 1198f.
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me, Dembowski 1987, V. 1191) – und damit nicht in ausschließlicher Relation zum Gefährten – verdeutlicht bereits den von den religiös deutenden Texten grundsätzlich abweichenden Status der Ehefrauen. Da sie als Herrscherinnen und Subjekte wahrgenommen werden, existiert ihnen gegenüber z.T. eine Rechenschaftspflicht, auch wenn die Freunde sie mit Unwahrheiten abspeisen. In diesen Zusammenhang gehört auch die Tatsache, dass in einigen Texten der ersten Gruppe die Ehefrauen nachträglich in die heimlichen Vorgänge eingeweiht werden: Im Engelhard werden beide Gattinnen mit dem durchgeführten Identitätentausch – und damit auch mit der Bedeutung des keuschen Beilagers – vertraut gemacht.353 In der mittelenglischen romance wissen beide Frauen Bescheid, allerdings ist Belisaunt auch ohne Erkenntnishilfe über die wahre Identität des Zweikämpfers im Bilde,354 während Amylions Frau die Geschehnisse enthüllt werden müssen.355 In der Historia septem sapientum durchschaut nur Florentina die Vorgänge, und dies von Anfang an, ist sie doch die Einzige, die Alexander und Lodovicus voneinander unterscheiden kann. Alexanders Frau wird kein Zugang zum heimlichen Wissen gewährt, ebenso wenig wie der contessa und der Prinzessin in Lille 130.356 In Radulfus Tortarius’ Bearbeitung und in der anglonormannischen Verserzählung verharren die Ehefrauen hinsichtlich der heimlichen Machenschaften ihrer Männer im Dunkeln. Nichtsdestotrotz wird durch das zumindest teilweise auftauchende Zugeständnis, die Gemahlinnen am exklusiven Wissen teilhaben zu lassen, die gehobenere Position der Ehefrauen in dieser Textgruppe bestätigt. In der zweiten Textgruppe ist es ausgeschlossen, dass die Frauen eingeweiht werden. Ein zusätzliches Indiz für die zumindest angedeutete Machtposition der Frauenfiguren in den Texten der ersten Gruppe bildet die Funktion des Schwertes: In dieser Textgruppe ist es nicht so sehr an eine direkte Todesgefahr bei Übertretung der Grenze gekoppelt, sondern bildet eher eine symbolische Scheidelinie, die von den jeweiligen Herrinnen hinterfragt werden kann und dann verhandelt werden muss. In den Texten mit religiösem Sinnzusammenhang ist eine derartige Kommunikation undenkbar: Die Ehefrauen stehen unter der Befehlsgewalt des (Freundes des) Ehemanns. Die an das Schwert geknüpfte explizite Todesgefahr subordiniert Obias gänzlich und macht die Bereitschaft sichtbar, sie zu opfern, falls sie die Männerfreundschaft gefährden sollte. Die chanson de geste verbindet narrative Strategien der ersten Textgruppe mit denen der zwei_____________ 353 Vgl. Reiffenstein 1982, V. 5090-5115. Die Frauen billigen die Vorgehensweise. 354 Vgl. Le Saux 1993, st. 115, V. 4-6. 355 Vgl. Le Saux 1993, st. 120-122. Hier wird die Ehefrau zornig, da sie den Tod des Stewards als ungerechtfertigt ansieht. 356 Vgl. Woledge 1939, S. 454.
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ten: Tritt Lubias zum einen als selbstbewusste, sprachmächtige Landesherrscherin auf, die auf ihren Rechten besteht, wird sie zum anderen durch die Faustgewalt des (Ehe-)Mannes und die unmissverständliche Rolle des Schwertes als Todeswerkzeug in ihre Schranken verwiesen. Amelius’ – freiwillige oder von Amicus eingeforderte – sexuelle Entsagung gegenüber Obias ist eine durchgängige Komponente des Freundschaftsmodells, die angesichts des Versuchs, größtmögliche Similarität der Gefährten zu etablieren, konträre Wirkung auf das Gleichheitsmodell zu haben scheint: Rein theoretisch würde die Ununterscheidbarkeit der Freunde sich erhöhen, wenn beide mit der gleichen Frau schliefen. Im Zusammenhang der Geschlechterverhältnisse ist nochmals danach zu fragen, warum eine Differenz zwischen den Freunden hinsichtlich des sexuellen Umgangs mit der Ehefrau beibehalten wird.357 Im Zuge der Analyse der Freundschaftskonstituenten wurden bereits mehrere Gründe herausgearbeitet:358 So ist es erforderlich, dass der zuvor sexuell aktive Gefährte homosoziale Strukturen, die auch über die differenzierte Verfügbarkeit von Frauen konstituiert werden, anerkennt. Zusätzlich markiert diese Verhaltensweise erneut die Priorität des Freundschaftsmodells gegenüber anderen Vergesellschaftungsformen: In einer analogen Situation wird der Freund dem Herrscher durch sein Verhalten untreu, indem er mit seiner Tochter schläft, seinem Kameraden aber beweist er mit dem keuschen Beilager die Treue. Eine weitere Begründung der Keuschheitspraktik bildete die feudaladlige Notwendigkeit, die einzelnen Dynastien auseinanderzuhalten, denen die Freunde jeweils angehören. Wie die Untersuchungsergebnisse gezeigt haben, führen die Gefährten im weiteren Verlauf der Geschichte aber ihre lignages durch das Kindesopfer zusammen, da die Partizipation am Blute des Freundes eine neue Form von Verwandtschaft schafft. Die genealogische Differenzierung per se scheint demnach kein zentrales Anliegen der Amicus-Amelius-Texte zu sein. Allerdings favorisieren sie einen bestimmten Modus, in dem eine Vermischung der Filiationslinien vorgenommen wird: Eine rein männliche Linie wird durch Blutopfer und Wiederauferstehung erschaffen, in der die Rolle der Frau als Gebärerin von Erben marginalisiert wird. Die so konstruierte Agnationslinie schließt die Ehefrauen aus dem Zusammenhang der ‚Freundesverwandtschaft‘ aus. In diesem Kontext ist auch der Verzicht auf die Freundesgattin zu situieren: Zwar wird eine maximale Identität der Kameraden angestrebt, aber eben nicht über zwischengeschlechtliche Aktivitäten, sondern in einem exklusiv homosozialen Raum. Um quasi_____________ 357 Ein grundsätzliches Dispositiv tugendhaften Verhaltens, das einen sexuellen Umgang von Vornherein ausschließt, ist den Handlungen der Freunde nicht ohne Weiteres zu unterstellen, da ihre anderen Aktivitäten stark von normativen Setzungen abweichen können. 358 Vgl. Kap. I.2.2.
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verwandtschaftliche Strukturen zwischen Amicus und Amelius zu produzieren, werden statt der Ehefrauen die Söhne herangezogen: Über das vergossene Blut wird eine noch engere Einheit zwischen den Freunden geschaffen. Die Spiegelung von zwei nun blutsverwandten Freunden in ihren zwei Söhnen erschafft ein männliches Universum, das auf Frauen schließlich verzichten kann. Nach der Sequenz mit dem keuschen Beilager wird Obias’ Handeln nochmals relevant, als ihr Gatte am Aussatz erkrankt. Zu dem Zeitpunkt erlangt sie in den Texten mit religiösem Sinnhorizont (Gruppe 2) einen eigenen Namen. Ihre vorherige Konturlosigkeit schlägt in Bosheit um, als sie ihren kranken Gemahl ersticken will:359 Tunc uxor eius Obias nomine ita illum exosum habuit, quod multociens eum suffocare voluit (elaborierte Vita, Kölbing 1884, S. civ, Z. 2f.).360 In Andreas Kurzmanns Gedicht will Ebyas ihren nunmehr hassenswerten Mann vergiften: mit ainem trangk ward sy in notn, / damit sy jn wolt gar ertottn, / das er da verdarbn solt sein (Oettli 1986a, S. 164, V. 681-683). In den Seelentrost-Fassungen wird Amicus von seiner huisfrauwe mit alle iren frunden (Seelentrost, Wackernagel 1839, Sp. 984, Z. 11) wegen seines körperlichen Zustandes vertrieben. In der mittelenglischen Alphabet-of-Tales-Fassung sind es his wife and his childre (Macleod Banks 1904/05 / 1987, S. 39, Z. 29f.),361 die Abstand von dem Kranken nehmen. Das lateinische Exempel bietet eine weitere Variante der Geschehnisse: Amicus’ Frau wird aussätzig und steckt ihren Gemahl an, indem sie ihm zutrinkt.362 Die anschließende Meidung seiner Person erscheint als notwendige Konsequenz. Nicht boshaftes Handeln gegen den Gatten kennzeichnet in diesem Text die schlechte Frau, sondern ihr grundsätzlich verderbter Zustand, den sie dann auf ihren Mann überträgt. Die Texte der ersten Gruppe variieren hinsichtlich der Schlechtigkeit der hier namenlos bleibenden Ehefrau. Radulfus Tortarius erwähnt Amicus’ Vertreibung durch seine Frau.363 In Lille 130 betreibt nicht die Gräfin, sondern der gegnerische Graf die Entmachtung: Nachdem er von Amiles’ Krankheitsausbruch erfahren hat, überzieht er das Land mit Krieg, so dass Amiles alles verliert und seinen Besitz verlässt.364 Konrads Engelhard beschreibt eine schrittweise zunehmende Isolierung des kranken Dietrich. Seine Ehefrau beklagt zunächst seinen Zustand, allerdings wird ihr der _____________ 359 Bisweilen heißt es ohne genauere Angabe, dass sie ihn töten will. Vgl. etwa für München, Cgm 523, Reiffenstein 1982, S. 246, Z. 182-185. 360 „Amicus’ Ehefrau, deren Name Obias war, verabscheute ihn so sehr, dass sie ihn viele Male ersticken wollte“ (nach Kuefler 2000, S. 451). 361 „seine Ehefrau und seine Kinder“ 362 Vgl. Klapper 1914, S. 340, Z. 9f. 363 Vgl. Ogle / Schullian 1933, V. 292-294. 364 Vgl. Woledge 1933, S. 455.
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Aussätzige zunehmend widerzæme (Reiffenstein 1982, V. 5196). Diese Einschätzung teilen auch hoveschar (V. 5176) und lantdiet (V. 5177), so dass der Fürst schließlich seines Amtes enthoben wird und auf der Insel einsam sein Leben fristet. Dietrichs Entmachtung und Absonderung erscheint hier als unabwendbare Folge seines körperlichen Zerfalls, nicht als treulose Niedertracht von Gattin und Gefolge. Die verbleibenden Texte dieser Gruppe inszenieren dagegen die massive Missgunst der zweiten Ehefrau. In der mittelenglischen romance wird der Hass der Dame nicht primär durch den verabscheuungswürdigen Leib ihres Mannes motiviert, sondern wird schon im Vorfeld mit der Körpersubstitution der Gefährten in Verbindung gebracht. Die romance ist einer der wenigen Texte, in denen die hier namenlose lady, die Obias’ Position besetzt, in das geheime Tun der Freunde eingeweiht wird. Sie stimmt den Handlungen ihres Mannes nicht umstandslos zu, sondern schätzt im Gegenteil den Tod des Stewards im Zweikampf als wrong, unryght und evell (Le Saux 1993, st. 122, V. 4, V. 6)365 ein. Den Ausbruch der Krankheit bringt sie sofort mit dem von ihr gerügten Delikt in Verbindung: Wrecched kaytyf, / With wrong the steward lost his lyfe, / That ys nowe well ysene! (st. 127, V. 4-6)366 Amylion wird sowohl aus der Kammer seiner Gemahlin als auch von seinem erhöhten Platz in der Halle vertrieben. Schließlich will die Dame ihn auf Betreiben ihres Clans (My kynne ys wroth with me, st. 130, V. 6)367 endgültig loswerden. Sie lässt sich indes von ihm dazu überreden, ihn weiter zu dulden. Zu diesem Zweck lässt sie eine abgeschiedene Hütte bauen, in der Amylion von Oueys versorgt wird. Schließlich versagt sie ihrem Mann die Nahrung, so dass die beiden fortziehen müssen. In der anglonormannischen Verserzählung weigert sich Amillyouns Gattin ebenfalls, weiter mit ihm Bett und Tisch zu teilen; auch sie verweist ihren Gemahl in ein Krankenhabitat und verweigert schließlich seine Versorgung. Die Absetzung des Herrschers, dessen Machtanspruch sich nicht mehr durch seinen Körper manifestiert, und die Verstoßung des Ehemannes, dessen Leib abstoßend geworden ist, fallen in diesen Amicus-AmeliusTexten mehr oder minder zusammen. Diese Konstellation korrespondiert mit dem ebenfalls vorhandenen Herrschaftsanspruch der Freundesgattin: Besonders in der mittelenglischen romance wird deutlich, dass sie nach wie vor fest in ihrem ursprüngli_____________ 365 „Unrecht“, „Ungerechtigkeit“, „böse“ 366 „Erbärmlicher Schuft, mit Unrecht hat der Truchsess sein Leben verloren, das wird nun offenbar.“ – Die Äußerung einer eigenen Meinung, die von den Vorstellungen der Freunde abweicht, korrespondiert mit der Szene des keuschen Beilagers, in der die Dame nicht – wie in den meisten Texten – einfach die Verweigerung des Beischlaf hinnimmt, sondern nach dem Grund fragt; vgl. Le Saux 1993, st. 96. 367 „Meine Sippe ist wütend auf mich.“
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chen Clan verankert ist und mit ihrer Heirat nicht völlig an Amylion übergegangen ist. Ihre Sippe ist an ihrer Machtposition interessiert, die vom kranken Gemahl jedoch beeinträchtigt wird, und rät deshalb dazu, sich seiner zu entledigen. In der Seelentrost-Gruppe der hagiographischen Amicus-Amelius-Texte sind ähnliche Zusammenhänge erkennbar, da dort Amicus’ Frau stets myt eren frunden (Großer Seelentrost, Schmitt 1959, S. 231, Z. 15) agiert. Lévi-Strauss’ These vom reinen Objektstatus der Frau, deren Funktion über die Produktion homosozialer Bündnisse nicht hinausgeht, wäre in diesem Kontext dahingehend zu modifizieren, dass die adlige Dame nicht einfach von einer patriarchalen Gruppe an die nächste weitergegeben wird, sondern dass ihre Identität mit beiden verbunden ist und aus beiden Macht beziehen kann. Es wird erkennbar, dass der Herrscherin ein bestimmter Handlungsraum zusteht, der gerade im Zustand des Unvermögens und der Kraftlosigkeit des Gatten deutlich hervortreten bzw. sich erweitern kann. Trotz der negativen Wertung bleibt diese Behandlung des kranken Gemahls im Rahmen der geläufigen mittelalterlichen Praktik, die hier an die Thematik adliger Machtausübung gekoppelt ist. Alexanders Gattin in der Amici-Geschichte der Historia septem sapientum übertrifft ihre Parallelfiguren an Boshaftigkeit: Nachdem sie von Alexander auf die Frage nach dem keuschen Beilager mit einer misogynen Floskel abgespeist worden ist, plant sie mit ihrem Liebhaber den Tod ihres Mannes. Die Königin vergiftet ihn, aber Alexander stirbt nicht, stattdessen wird er aussätzig.368 Die Niedertracht der Frau zeigt sich hier nicht – wie in den anderen Texten – erst bei Ausbruch der Krankheit, sondern ist für den Aussatz allererst verantwortlich. Weibliche Arglist exkulpiert so in dieser Textgruppe die Männerfreundschaft, da der Aussatz nicht – wie einigen anderen Texten der Gruppe 1 – ein etwaiges Fehlverhalten Alexanders bestraft, sondern einzig seiner Gattin anzulasten ist. Der geplante Giftmord in der Historia septem sapientum alludiert auf Ebyas’ Versuch in Andreas Kurzmanns mittellanger Legende, Amicus mit einem vergifteten Trank zu töten (dort allerdings erst, nachdem er bereits aussätzig ist), sowie ferner auf den Modus der Aussatzübertragung im lateinischen Exempel, wo Amicus’ Frau ihre Krankheit durch Zutrinken auf ihren Mann überträgt. Es besteht demnach eine zwar inkonsistente, aber trotzdem erkennbare Linie in den Weiblichkeitsimaginationen der Amicus-Amelius-Texte, die weibliche Bosheit mit körperlicher Unreinheit und / oder tödlichen Intrigen verkoppelt. Die Bedrohlichkeit dieser Tötungsart liegt in der sich ausbreitenden Zerstörung des männlichen Körpers von innen her, die sich schließlich in der äußeren Zersetzung manifestiert. Zwar bleibt die ver_____________ 368 Vgl. auch Kap. I.2.3. zur Motivierung des Aussatzes.
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suchte Vergiftung letztlich erfolglos, setzt aber drastisch die von der Ehefrau ausgehende Gefahr in Szene. Die zunächst ‚unsichtbare‘, von innen nach außen wirkende Destruktion des männlichen Körpers durch weibliche Manipulation ist männlichen Formen der Gewaltanwendung diametral entgegengesetzt: Mit offener Waffengewalt herbeigeführter Tod erscheint als positives Gegenbild zur heimlichen, sich langsam ausbreitenden Fäulnis. Obias’ Schlechtigkeit wird am Ende bestraft: So wie Gott die Kinder wiederauferstehen lässt, um die Freundestreue zu honorieren, so wird Obias in den hagiographischen Versionen parallel von Dämonen oder dem Teufel getötet: Vnde Amicus wif, de ene vordref, der brack de duuel den hals en twey (Hannover I 239, Oettli 1986a, S. 146, Z. 117f.).369 Die göttliche Erhöhung und Legitimierung der Freundschaft durch die Kindesresurrektion korrespondiert mit der Tötung der ungehorsamen Ehefrau. Das lateinische Exempel, in dem die aussätzige Gattin Amicus mit dem Aussatz angesteckt hatte, schweigt über das Ende der Frau. In der ersten Textgruppe unterschlägt neben Radulfus Tortarius auch Lille 130 das Schicksal der Gattin des aussätzigen Freundes, wobei dieser Text von Amiles’ Rückeroberung seines spanischen Territoriums berichtet, in die eine Wiedervereinigung mit seiner – hier schuldlosen – Gemahlin eingeschlossen sein dürfte. Auch in Konrads Engelhard kehrt Dietrich nach seiner Genesung als Herrscher nach Brabant zurück, ohne dass seine Frau erwähnt würde.370 Die verbleibenden drei Texte der ersten Gruppe inszenieren dagegen eine Bestrafung der devianten Dame. In der mittelenglischen romance reitet der genesene Amylion explizit mit der Absicht heim, seiner Frau die verweigerte Hilfe heimzuzahlen.371 Er trifft genau zur Hochzeit seiner Gattin mit einem anderen Ritter ein. Zusammen mit Amys und seinem bewaffneten Trupp zerschlägt er die Hochzeitsgesellschaft und lässt für seine Frau eine ebensolche Hütte bauen wie die, in der er ausharren musste. Bei Brot und Wasser wird die ehemalige Landesherrin dort bis an ihr Lebensende festgehalten.372 Ähnlich ergeht es der ungetreuen Gattin in der anglonormannischen Verserzählung: Auch ihre geplante Neuheirat wird verhindert, indem sie in ein Türmchen eingemauert wird, in das man ihr durch ein _____________ 369 In der elaborierten Vita heißt es: Eadem vero die Amici coniux iniqua arrepta est a demone et cadens per precipicium expiravit (Kölbing 1884, S. cvii, Z. 24-26). („Und am selben Tag wurde Amicus’ bösartige Ehefrau von einem Dämonen ergriffen, fiel von einer Klippe und starb“, nach Kuefler 2000, S. 454.) – In der französischen mittellangen Legende fehlt der Satz über den Tod der schlechten Ehefrau. 370 Vgl. Reiffenstein 1982, V. 6446f. 371 Vgl. die sarkastische stanza 195 in Le Saux 1993. 372 Vgl. Le Saux 1993, st. 196-199.
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Fenster Nahrung reicht. Nach einem Jahr und einem Tag stirbt sie pur dolur (Fukui 1990, V. 1223).373 Diese strenge Bestrafung steht in krassem Gegensatz zu der Vergebung, die Amillyoun seinem Gefolge angedeihen lässt.374 Noch schlimmer ergeht es Alexanders Gemahlin in der Historia septem sapientum: Sie wird zusammen mit ihrem Liebhaber verbrannt.375 In den meisten Amicus-Amelius-Texten bildet der Tod der schlechten Ehefrau das Pendant zur Wiederauferstehung der Söhne nach dem Kindsmord. Dies ist eine weitere Textstrategie zur Ausdehnung des männlichen Universums, da die unliebsame Gattin ganz einfach ausgelöscht wird. In den Texten, in denen sie nicht getötet wird, wird sie durch Schweigen eliminiert. Der Tod der Königin in der Historia septem sapientum ermöglicht es, das Bündnis zwischen den Freunden weiter zu verstärken. Alexander hatte zuvor Florentina im finanziellen Sinn für seinen Freund Lodovicus ‚erworben‘: Durch Hartnäckigkeit und Reichtum wurde die Prinzessin verfügbar gemacht. Noch vor der ersten Freundschaftsprobe – der Körpersubstitution im Gottesurteil – beweist Alexander seine Freundschaft, indem er Lodovicus die begehrte Dame verschafft. Dieser Freundschaftsdienst erweist sich als ein wechselseitiger: Nachdem Lodovicus veranlasst hat, dass Alexanders ungetreue und bösartige Ehefrau samt ihrem Liebhaber verbrannt wird, versorgt er seinen Gefährten mit einer neuen Gemahlin, bei der es sich um seine Schwester handelt. [I]mperator vnicam sororem habebat, quam regi Allexandro dedit. (Innsbruck, Cod. 310, Roth 2004, S. 469, Z. 515f.)376 Diese Transaktion ist ebenfalls eine Form des Frauentausches: Die Übergabe von Lodovicus’ Schwester wird vorgenommen, um das bereits vorhandene Männerbündnis weiter zu zementieren. Eine bereits existierende Allianzform wird mit einer weiteren verkoppelt und gewinnt dadurch an Wirksamkeit. Der Frauentransfer überführt die Freundschaft in ein tatsächliches Verwandtschaftsverhältnis. Zeigt die Amici-Geschichte der Historia septem sapientum – im Vergleich zu den anderen Amicus-Amelius-Bearbeitungen – zunächst eine aufgeweichte Form des Freundschaftsbundes, da die Gleichheitskomponenten zurückgenommen sind, so wird das Similaritätsdefizit schließlich ausgeglichen, da der gegenseitige Frauenerwerb die Gefährten – trotz der hier sehr deutlichen Unterschiede – durch die strukturelle Paralellität ihrer Handlungen und durch die gestiftete Verwandtschaft einander annähert. Nicht _____________ 373 „vor Schmerz“ 374 Vgl. Fukui 1990, V. 1170-1177. 375 In der deutschen anonymen Versfassung wird der Liebhaber verbrannt und die Frau gefangengesetzt; vgl. Keller 1846, S. 232f., V. 34-3. In Gießen 104 wird sie ohne genauere Angaben zum Tode verurteilt; vgl. Steinmetz 2001, S. 73, Z. 441-444. 376 „Der Kaiser hatte eine einzige Schwester, die er König Alexander übergab.“
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zu vergessen ist in diesem Zusammenhang Lodovicus’ Status als starker Kaiser, der in Alexanders Land Ordnung restituiert und diesem Akt mit der stetigen Anwesenheit seiner Schwester Dauerhaftigkeit verleiht. Seine körperliche Schwäche, die ihn in eine deutliche Differenzrelation zu seinem Freund gesetzt hatte, spielt nun keine Rolle mehr. Seine starke Herrschaftsposition sowie Alexanders vorübergehende Schwäche durch den Aussatz bewirken zunächst eine Umkehrung der anfänglichen Situation, in der die Merkmale Stärke und Schwäche diametral entgegengesetzt verteilt waren. Mit Lodovicus’ Hilfe gewinnt Alexander sowohl seine Leibesstärke als auch seine Königswürde zurück. Dies geht einher mit der Verschwägerung der Gefährten, so dass am Ende der Freundschaftsgeschichte zwei mächtige Herrscher stehen, deren Bund durch Gleichheit und verwandtschaftliche Verbundenheit markiert ist. Lodovicus’ Übergabe seiner Schwester an seinen Freund steht mithin im Zeichen seiner kaiserlichen und militärischen Macht. Der gegenseitige Frauenerwerb der Kameraden bildet einen Freundschaftsdienst, der ausschließlich in der Texttradition der Historia septem sapientum auftritt und der innerhalb der Amicus-AmeliusTexte einen abweichenden Mechanismus der Bündniskonstitution bildet. Lubias: Aggressive Kontrahentin der Freundschaft (Die chanson de geste Ami et Amile) Die zu den Grenzfall-Texten gehörende chanson de geste entwirft mit Lubias die komplexeste Obias-Figur.377 Da sie – anders als in den anderen Amicus-Amelius-Texten – Belissant an narrativer Bedeutung in nichts nachsteht, ist in der Forschung darauf hingewiesen worden, dass in der chanson de geste dem durch Gleichheit markierten Freundespaar zwei Frauenfiguren gegenübergestellt werden, die durch ihre radikale Differenz charakterisiert sind.378 Eine negative Wertung erfährt vor allem Lubias: Eingeführt wird sie als Nichte Hardrés,379 die dieser als Belohnung für Amiles Kriegstaten anbietet, um Karl von seinen eigenen üblen Machenschaften abzulenken. Donnéz Amile unes riches soudees, / C’est Lubias, la fille de mon frere, / Qui plus blanche est que serainne ne fee (Dembowski 1987, V. 471-473).380 Karl ist einverstanden und unterbreitet Amile das Angebot. Dieser leitet es indes an _____________ 377 Obgleich das Miracle der chanson de geste in Handlungsmotivation und Figurenkonstellation sonst folgt, tritt Lubias hier nicht selbst auf. Von ihr wird nur erzählt, etwa als Amis auf dem Weg von Blaye nach Paris ist. 378 Vgl. Rosenberg 1987, S. 67 und passim. Männlichkeit und Weiblichkeit werden so von Beginn an gewertet, indem jene an favorisierte Gleichheit, diese aber an diskreditierte Unähnlichkeit gekoppelt ist. 379 Im Miracle ist Lubias Hardrés Tochter; vgl. Paris / Robert 1879, V. 359. 380 „Gebt Amile reichen Sold, nämlich Lubias, die Tochter meines Bruders, die weißer ist als eine Sirene oder Fee.“
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Ami weiter, der es annimmt. Lubias fungiert als Gabe, die zwischen Männern weitergereicht wird, um Homosozialität zu etablieren und zu stabilisieren. Lubias’ Objektstatus als soudees zeigt sich noch deutlicher in der vorangehenden Laisse, wo sie zusammen mit einer Geldsumme genannt wird, die an einen der Freunde übergeben werden soll: Je voz donrai de mon avoir mil onces, / Et Lubias, la courtoise, la blonde. / L’un de voz ferai riche (V. 467-469).381 Während Lubias nicht einmal anwesend ist, tarieren vier Männer über sie ihre Bindungen untereinander aus: Hardré beschwichtigt seinen Herrscher und festigt seine Position, indem er Lubias zur Verfügung stellt. Karl bindet sowohl Hardré als auch die Freunde durch den zugesicherten Lohn an sich. Amile festigt mit der Weitergabe der eigentlich ihm zugedachten Braut an seinen Freund das Freundschaftsbündnis, während er gleichzeitig die Beliebigkeit zwischengeschlechtlicher Bindungen herausstellt.382 Ami schließlich bestätigt nicht nur den Freundschaftsbund, sondern auch die Bindung an den Herrscher wie an Hardré. Beleuchtet diese Konstellation zum einen eindringlich die vorherrschende Homosozialität des Ami-Amile-Universums, die an den Objektstatus der Dame gekoppelt ist, wird zum anderen die Potenz dieses Objektes sichtbar, das nicht nur zwischen zwei, sondern sogar zwischen vier Männern Bündnisse zu konstituieren vermag. Nach dem Transfer von Lubias nimmt diese Potenz neue Qualität an, da Lubias schlagartig vom Objekt zum Subjekt383 wird: Wurde zunächst über sie verfügt, zeigt sie im Folgenden als Herrscherin von Blaye384 Eigenständigkeit und Macht, die in den anderen Amicus-Amelius-Texten ihresgleichen sucht. Ihre Subjektposition ist von Anfang an eine negativ besetzte, da sie mit Hardré verwandt ist und so zum Verräterclan gehört, der die Freundschaft bedroht.385 Lubias’ „programme de haine“386 gliedert sich in ihre verbalen Intrigen gegen die Gefährten und in die reale Bedro_____________ 381 „Tausend Unzen aus meinem Besitz will ich Euch dafür geben, und dazu Lubias, die blonde junge Dame, die sich bei Hofe zu benehmen weiß. Einen von Euch beiden will ich reich machen“ (Vielhauer 1979, S. 43). 382 Diese Beliebigkeit scheint ebenfalls in der Verführungsszene auf, in der es ihm gleich ist, welche Frau sich zu ihm gelegt hat. Vgl. Dembowski 1987, L. 40. 383 Sinclair 2003, S. 128, zeigt, dass zusätzlich „the supportive/subversive roles of Lubias and Belissant are reversed“. 384 Im Miracle wird sie von Hardré bereits als solche eingeführt; vgl. Paris / Robert 1879, V. 359-364. 385 Vgl. Kap. II.1.3. 386 Rosenberg 1987, S. 77. Lubias’ zerstörerische Aktivitäten werden programmatisch im Text angekündigt: S’elle onques puet, el le cunchiera, / Les amistiés d’Amile li toldra (Dembowski 1987, V. 494f.). („[W]enn sie gekonnt hätte, dann hätte sie ihm übel mitgespielt und seine Freundschaft mit Amiles zerstört“, Vielhauer 1979, S. 44.)
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hung ihres aussätzigen Gatten. Bei den Intrigen handelt es sich um Verleumdungen und Schmähungen: So behauptet sie etwa gegenüber Ami, Amile habe sie seiner Liebe versichert, woraufhin Ami sie für sieben Jahre verlässt.387 Auf Amiles Frage nach der Gattin seines Freundes beschreibt Ami deutlich ihre Funktion: Un fil en ai, il n’a si bel en France. / Servira voz a escu et a lance, / S’il voz torne a besoingne (V. 521-523).388 Die Ehefrau tritt als Gebärerin des Sohnes auf, der aber nicht als Leibeserbe, sondern als zukünftiges Freundschaftspfand imaginiert wird: Nicht als Herrscher von Blaye, sondern als Amiles Knappe sieht Ami seinen Sohn. Wieder nach Blaye zurückgekehrt, nimmt Ami seinen Löwentraum zum Anlass, seinem Freund zu Hilfe zu eilen. Lubias aber wirft ihm vor, er würde die Prinzessin Belissant ihr selbst vorziehen. Zudem beschimpft sie Amile.389 Zu den Verhaltensmaßregeln, die Ami Amile gibt, damit ihr Identitätentausch gelingt, gehört auch die Vorgabe, Lubias ins Gesicht zu schlagen. Amile hält sich an diese Vorschrift, als Lubias zornig wird, weil er sich nicht von ihr das Schwert abnehmen lässt. Bei dieser Gelegenheit unterstellt sie ihm – im Glauben, er sei Ami – erneut den Umgang mit Belissant.390 Indem Amile Lubias auf Anraten seines Freundes ohrfeigt, wird die in anderen Amicus-Amelius-Texten inszenierte unrechtmäßige Gewalt gegenüber Belixenda in der zulässigen Gewalt an Lubias gespiegelt: In der chanson de geste wird die Abwehr der bösen Dame durch körperliche Züchtigung sanktioniert. Das Schwert im Bett erscheint als Steigerung von Amiles Zurückweisung, wird aber von Lubias nicht so sehr als Verweigerung ehelicher Pflichten gelesen, sondern als Todesdrohung: Por moi ocirre aportastez espee (V. 1170).391 Das Schwert des keuschen Beilagers wird durch den vorangegangenen Schlag noch deutlicher als in den anderen Bearbeitungen in den Kontext legitimer Gewalt gegen die Frau des Freundes gestellt: Lubias’ deviantes Verhalten rückt eine Bestrafung durch das Schwert in den Bereich des Möglichen. Lubias wird angesichts der Waffe von großer Angst ergriffen, nimmt die Situation jedoch nicht – wie die meisten ihrer Parallelfiguren in den anderen Amicus-Amelius-Texten – fügsam hin. Sie droht, ihre Verwandten und den Bischof einzuschalten, um die Scheidung herbeizuführen. Als Amile ihr daraufhin vorlügt, er
_____________ 387 Vgl. Dembowski 1987, L. 30. 388 „[I]ch habe von ihr einen Sohn, den prächtigsten Knaben im ganzen Frankenreich. Der wird einmal als Schildknappe bei [Euch; S.W.] dienen, wenn [Ihr; S.W.] ihn brauchen [könnt; S.W.]“ (Vielhauer 1979, S. 44). 389 Vgl. Dembowski 1987, L. 48-50. 390 Vgl. Dembowski 1987, L. 60-62. 391 „Ihr habt das Schwert mitgebracht, um mich zu töten“ (Vielhauer 1979, S. 58).
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müsse aufgrund einer Krankheit enthaltsam sein,392 verleumdet Lubias erneut Amile, nicht wissend, dass es Amile selbst ist, der diese Anschuldigungen entgegennimmt. Auffällig ist die Gewaltsamkeit ihrer Imagination: Sie beschreibt, wie sie Amiles Nachstellungen mit körperlicher Gewalt beantwortet (Tel li donnai de mon poing enz el front / Que a la terre chaï a jenoillons, V. 1212f.).393 Sie reagiert damit verbal auf die tatsächliche Ohrfeige, die sie kurz zuvor von Amile erhalten hat, und verdeutlicht so, dass ihre verbale Aggression in einen realen Bedeutungshorizont einzuordnen ist. Hinzu kommt, dass sie eine subversive Verwendung homosozialen Vokabulars betreibt: Als Lubias behauptet, dass sie Amile niederschlagen hätte, beschreiben die Worte a jenoillons (V. 1213) nicht nur, dass Amile vor ihr in die Knie geht, sondern verweisen auch ironisch auf einen Kontext feudaler Vergesellschaftung. Verstärkt wird dies durch das Wort service (V. 1214), also „Dienst“, das Lubias benutzt, um Amiles Verhalten ihr gegenüber euphemistischironisch zu kennzeichnen, das aber ebenfalls auf Feudalität verweist. Lubias benutzt diese Begriffe unautorisiert, um Homosozialität zu zerrütten und um sich selbst die Position der Gewalt ausübenden, überlegenen Herrin anzueignen. Auch den Terminus compaignie (V. 1176), „Freundschaft“, eignet sich Lubias für ihre Zwecke an: Sie gebraucht ihn nicht im vorherrschenden Sinn der Freundschaft, sondern um ihre eigene Beziehung zu Ami zu markieren. Lubias’ Denunziationen und Beschimpfungen stehen zwar im Kontext ihrer Strategie, die Freundschaft zu zerstören. Durch den Identitätentausch kommt es aber zu wahrheitsgemäßen Äußerungen über ihr jeweiliges Gegenüber, als sie etwa Amile beschuldigt, mit Belissant verkehrt zu haben. Dass Amile genau auf diese Aussage mit körperlicher Gewalt reagiert und Lubias schlägt, unterstreicht die Relevanz ihrer nur scheinbar haltlosen Bekundungen. Ihr angebliches Lügengespinst basiert auf einer absichtlichen Verkehrung der Handlungen und Motivationen der Kameraden und damit auf einer Inversion der Freundesidentitäten. Da die Freunde selbst aber ihre Identitäten vertauscht haben, kommt Lubias ihnen mit ihrem Lügentext auf die Spur: Ihre Aussagen drohen, die Körpersubstitution aufzudecken. Lubias hat aber keinen Zugang zu den Vorgängen, der an tatsächliche Kenntnisse oder Wissen geknüpft ist: Ihre wahre Bemerkung steht ganz im Zeichen ihres Wunsches, die Freundschaft zu beschädigen. Deshalb kommt die Wahrheit gerade nicht ans Tageslicht, sondern wird als zufälliges Ergebnis weiblicher Lügenrede desavouiert. _____________
392 Vgl. Dembowski 1987, L. 65-67. Amile wird also selbst in die Lügenrede, die sich sonst Lubias nutzbar macht, hineingezogen. 393 „[I]ch traf ihn so kräftig auf die Stirn, dass er auf seine Knie fiel“ (Vielhauer 1979, S. 58).
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Durch die Verwirrung von Wahrheit und Lüge entsteht aber zugleich ein Subtext, der ein Gegenbild zur idealen Freundschaft entwirft, indem Rivalität und Heuchelei als Umgangsmodi markiert werden. Diese sind stets an zwischengeschlechtliches Begehren gebunden: So unterstellt Lubias Ami, ein Verhältnis mit Belissant zu haben, während sie Amile bezichtigt, ihr selbst nachzujagen, und verkehrt so die tatsächlich bestehenden Konstellationen. Das ‚falsche‘ zwischengeschlechtliche Begehren würde die bestehenden, homosozialen Verbindungen untergraben und die Harmonie zwischen den Freunden zerstören. So lässt etwa Amiles – in der Rolle Amis – geheuchelte Versicherung, er würde Amile töten, eine derartige Pervertierung der Freundschaft aufscheinen. Da die Freundesidentitäten zu diesem Zeitpunkt aber vertauscht sind und die Bedrohung nur gespielt ist, wird die Szene ins Komische überführt. Die Narration kommentiert mit dem Tausch der Freundesidentitäten ironisch Lubias’ Verleumdungen als gegenstandslos und unterstreicht die Absurdität ihrer Beschuldigungen, indem der unerkannte Amile, den Lubias für Ami hält, seine eigene Tötung ankündigt. Gleichzeitig aber erlangen ihre Diffamierungen einen Realitätsstatus, da sich Amile und Belissant ja tatsächlich körperlich vereinigt haben (baisier et conjoïr, V. 1127). Dadurch werden auch all ihre anderen Behauptungen ins Licht der Wahrscheinlichkeit gerückt, so dass sich eine tödliche Konkurrenz der Kameraden als mögliche, wenn auch latent bleibende Variante herauskristallisiert. Lubias’ Bedrohlichkeit manifestiert sich in ihrer diskursiven Macht, eine misslungene Alternative zur Freundschaft zu beschreiben.394 Dass dieser Negativentwurf an das männliche Begehren nach der jeweils ‚falschen‘ Dame geknüpft ist, unterstreicht die Gefahr, die zwischengeschlechtliche Bindungen für die Freundschaft darstellen können. Eingebunden ist diese latente Bedrohung in die Passage vom keuschen Beilager, die – wie bereits gezeigt – auf der strikten Einhaltung getrennter zwischengeschlechtlicher Beziehungen insistiert: Die sonst angestrebte Gleichheit der Gefährten erstreckt sich nicht auf den Austausch der Ehefrauen. Die – denkbare – gemeinsame Partizipation an zwischengeschlechtlichen Beziehungen wird ausgeklammert. In der chanson de geste wird dies zusätzlich durch verschiedene Textstrategien unterstrichen, etwa durch den bereits beschriebenen Einwurf Amis über die Gefährlichkeit zwischengeschlechtlicher Bande für andere Vergesellschaftungsstruktu_____________ 394 Lubias hintertreibt aktiv, wenn auch letztlich erfolglos, die Freundschaft und fungiert auf dieser Ebene als Gegenbild zu Belissant, die die Freundschaft – etwa beim Ehegelübde – vorbehaltlos anerkennt. Kay 1990, S. 136, unterstreicht, dass die Belissant-Sequenz die hierarchischen Strukturen der mittelalterlichen Männergesellschaft thematisiert, während die Lubias-Passagen die Bedrohung des horizontal angelegten Freundschaftsbands beschreiben.
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ren395 sowie durch den misogynen Einschub in der Sequenz des keuschen Beilagers, in dem Amile über die Lasterhaftigkeit der Frauen reflektiert, während er zu Gott betet.396 Einen Übergang zwischen verbalen Beschuldigungen und tatsächlicher Bedrohung bildet die Bettszene, in der Lubias Ami nach dem rückgängig gemachten Identitätentausch ihre Ansicht über den Gottesurteilskampf darlegt. Sie vermutet eine Manipulation des Kampfes, die zwar nicht den vorher erzählten Gegebenheiten entspricht,397 nichtsdestotrotz aber in verschobener Form den Betrug der Freunde thematisiert. Da Lubias diese Überzeugung vor dem Kämpfer, ihrem Gatten Ami, ausspricht, verschwimmen die Dimensionen von Wahrheit und Lüge in ihrer Behauptung erneut: Die durch die Körpersubstitution vertauschten Positionen der Gefährten generieren nochmals einen fatalen Subtext. Hier bleibt es indes nicht bei einer nur verbalen Attacke, in der Lubias die Ehrenhaftigkeit des Freundes bezweifelt, sondern sie droht mit Amiles Festnahme.398 Ami nimmt diese Drohung ernst und warnt seinen Freund, woraufhin dieser die Stadt verlässt. In ihrer Rede konstituiert sich Lubias nicht mehr nur als sprachmächtige, sondern auch als handlungsmächtige Herrscherin, die der Freundschaft durch Sanktionen gefährlich werden kann. Ihre Drohgebärde und die Reaktion der Gefährten markieren einen Faktizitätsstatus ihrer Schmähung, die Lubias an Macht gewinnen lässt. Diese Szene verweist bereits auf die anschließende Sequenz, in der Lubias sich ihres aussätzigen Mannes entledigen will. Im Vergleich mit den parallelen Passagen der anderen Amicus-Amelius-Texte erzählt die chanson de geste ausführlicher; damit rückt Lubias’ aktive Bosheit in Zentrum. Als sie die körperlichen Kennzeichen der Krankheit bemerkt, verweigert sie ihrem Gatten Nähe, Beischlaf und Schutz.399 Schließlich will sie die Scheidung beim Bischof erwirken. Dieses Verhalten wird in den Kontext einer gottesfernen Haltung, die nicht mit religiösen Handlungsmustern zu vereinbaren ist, gestellt.400 Ami bittet um Unterkunft vor der Stadt und Verpflegung. Dies wird ihm jedoch nur befristet gewährt: Lubias verweigert schließlich Amis Versorgung und sperrt sogar ihren Sohn Girart ein, der seinem Vater Essen bringt.401 Hatte sich Lubias schon zuvor als Dam_____________ 395 Vgl. Dembowski 1987, L. 34. 396 Vgl. Dembowski 1987, L. 67. 397 Sie spricht von einem Armbrustschützen, der Hardré tödlich getroffen hätte, woraufhin Amile dem bereits toten Hardré den Kopf abgeschlagen und so den Sieg für sich beansprucht hätte; vgl. Dembowski 1987, L. 100. 398 Vgl. Dembowski 1987, V. 2021f. 399 Vgl. Dembowski 1987, L. 103. 400 Vgl. Dembowski 1987, L. 106-108. 401 Vgl. Dembowski 1987, L. 110-116.
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me de la ville, als Herrin der Stadt, bezeichnet, erlangt sie diesen Status nun zunehmend in dem Maße, in dem ihr Gatte aufgrund körperlicher Schwäche und sozialer Isolation dahinschwindet. Schließlich lässt sie einen Bann ausrufen: Unterstützung für Ami wird bei Todesstrafe verboten. Daraufhin nehmen sich die Diener Garin und Haymme des Kranken an und bringen ihn mit Lubias’ Zustimmung außer Landes. Als Ami nach seiner Genesung nach Blaye zurückkehrt, weist er die sich ihm anbietende Lubias zurück, klagt sie wegen ihres Fehlverhaltens an und lässt sie bei knapper Kost in dieselbe Hütte sperren, in der er sein Aussätzigendasein fristen musste. Allerdings bewirkt Amis moult grans pitiés (V. 3457),402 dass er Lubias schon nach acht Tagen wieder frei lässt und ihre Herrschaft restituiert.403 Er selbst verlässt mit Amile Frankreich, um ins Heilige Land zu reisen.404 William Calin hat darauf hingewiesen, dass sich in der Handlungsdynamik der Aussatzsequenz nicht so sehr die Opposition männlich vs. weiblich, sondern vielmehr klerikal vs. laikal manifestiert.405 Lubias widersetzt sich einem christlichen Verhaltenscodex, der Barmherzigkeit gegen Aussätzige propagiert und dies mit ehelichen Pflichten verknüpft. Sie agiert stets als Herrscherin, die den Verlust herrschaftlicher Körperlichkeit bei ihrem Gatten nicht tolerieren kann. Nichtsdestotrotz ist aber gegen Calins Argumentation zu betonen, dass die chanson de geste diese – vom Text nicht akzeptierte – Handlungsmotivation an weibliche Ermächtigung koppelt. Dass Lubias Ami verstößt, erscheint als logische Konsequenz ihres subversiven Treibens und mündet vorläufig in ihrer Machtübernahme. Sie wird von Ami bestraft, doch nachdem sie rehabilitiert ist, kann sie die Herrschaft nun tatsächlich übernehmen, da Ami und Amile gemeinsam das Land verlassen. So gelangt Lubias schließlich auf den Herrschersitz. Zudem zeitigen ihre Anstrengungen, Amis herrschaftliche Untauglichkeit zu beweisen, schließlich Erfolge: Zwar anders als von ihr geplant, aber mit ähnlichem Ergebnis verlässt Ami Blaye. So unterstreicht das Ende der Geschichte nochmals die Ambivalenz der Lubias-Figur: Ihre Intrigen und Zerstörungswut, die den Freundesmanövern entgegengestellt werden, werden nur temporär bestraft. Auch wenn sie die Freundschaft nicht destruieren kann, bleibt Lubias Herrscherin von Blaye. Wie bereits besprochen, geht Sarah Kay davon aus, dass die chanson de geste einem misogynen Programm folge, das mit ‚Verführung‘ und ‚Unterdrückung‘ die zentralen Modi des Umgangs mit den Frauenfiguren setze.406 Trifft diese _____________ 402 403 404 405 406
„großes Mitleid“ (Vielhauer 1979, S. 105) Vgl. Dembowski 1987, L. 175. Vgl. Dembowski 1987, L. 176f. Calin 1991, S. 87. Vgl. Kay 1990.
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Überlegung auf die Figur der Belissant zu, muss aber hinsichtlich Lubias gesagt werden, dass sie sich einer derartigen Einordnung entzieht. Anders als Kay es beschreibt, wird sie weder aus dem Text ausgeschlossen, noch ihres Subjektstatus beraubt: Als Herrscherin von Blaye behauptet sie ihre Position als feudales Subjekt. Ihre anfängliche Stellung als Tauschobjekt lässt sie hinter sich. Abschließend ist ihre Lage im Gefüge des vom Text entworfenen Begehrens zu eruieren: Wie bislang herausgearbeitet, handelt sie selbst nicht im Kontext zwischengeschlechtlichen Verlangens, sondern in einer Logik, die Freundschaft zerstören will. Im Folgenden soll nun umgekehrt männliches Begehren nach Lubias analysiert werden. Wie beschrieben, tritt Lubias zunächst als Objekt zur Konstituierung homosozialer Bündnisse in Erscheinung. Der Beginn der Beziehung zwischen Lubias und Ami ist also – wie die Parallelbindung in den meisten anderen Amicus-Amelius-Texten – durch die Absenz eines genuin zwischengeschlechtlichen Begehrens gekennzeichnet. Gleichwohl bildet Lubias’ Schönheit ein konstitutives Element ihres Wertes. Der Vergleich mit einer Fee (vgl. V. 473) sowie ihre Beschreibung als höfisch und blond (la cortoise, la blonde, V. 468) überführen die Gestalt der Lubias in einen höfischen Kontext, in dem männlichem Begehren nach einer schönen Dame zentrale Bedeutung zukommt. Yasmina Foehr-Janssens hat gezeigt, dass Lubias’ Doppelstatus als Kriegslohn und als Minneobjekt unvereinbare Gegensätze aufruft. Diese Spannung wird schließlich zuungunsten des – ohnehin nur angedeuteten – Minne-Diskurses aufgelöst: „Jouant de la confrontation brutale de ces deux ordres de représentation, la chanson déconstruit les illusions de l’amour.“407 Als Indiz der Abwertung eines zwischengeschlechtlichen Begehrens höfischer Provenienz sieht Foehr-Janssens die Konstellation, die sich in den Parallelszenen der Verführung Amiles durch Belissant und des keuschen Beilagers zeigt: In beiden Fällen besteht eine Unsicherheit hinsichtlich der Identität der Partner. Während Amile erst nach dem sexuellen Akt Belissant erkennt, wird Lubias nie darüber informiert, wer ihr keuscher Bettgenosse tatsächlich ist.408 Im Verkennen sieht FoehrJanssens den grundsätzlichen Modus zwischengeschlechtlichen Verlangens, der zugleich sein Scheitern bedeutet: „[L]a méprise est la loi du désir.“409 Sie analysiert zudem Amis Vogel-Gleichnis in diesem Bedeutungszusammenhang: Als Lubias Amis Krankheit bemerkt, fordert sie ihn auf, sie _____________ 407 Foehr-Janssens 1996, S. 269. 408 Kay 1990, S. 137, hat ebenfalls auf die Parallele hingewiesen, dass in beiden Szenen der chanson de geste stets die Identität eines/einer der Beteiligten im Dunkeln bleibt. 409 Foehr-Janssens 1996, S. 269.
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zum Bischof zu begleiten, um die Scheidung zu erwirken. Amis Antwort lautet: La loi avéz a l’oisel dou rammier: Li fox l’agaite qui desoz l’aubre siet, Quel cuide panre sain et sauf et entier; Miex li venist qu’il le ferist el chief, Si le plumast et eüst au mengier. Icelle loi avéz voz, par mon chief. (V. 2084-2089)410
Im Gleichnis werden zwei Verhaltensweisen gegenüber dem Vogel im Geäst diskutiert: Der lauernde Narr glaubt, ihn unversehrt fangen zu können. Die angemessenere Verhaltensweise aber sei, sich seiner gewaltsam zu bemächtigen und ihn zu verspeisen, um sich seiner vollständig zu versichern. Foehr-Janssens interpretiert – wie der Text es nahezulegen scheint – Amis Rede dahingehend, dass Ami sich als fox in Relation zu Lubias setzt, die die Position des oisel einnimmt. Ami bekräftigt einen gewaltsamen Umgangsmodus, da der gewaltlose missglückt ist. „Ami dénonce le leurre de l’attitude courtoise en affirmant que la violence est la seule réponse pragmatique à l’énigme de l’amour.“411 Diese Einstellung korrespondiert mit Lubias’ Bestrafung und Bedrohung durch Amile, die allerdings im Kontext des Vogel-Gleichnisses gleichfalls wirkungslos oder nicht konsequent genug erscheinen. Die folgenden Ereignisse stehen aber konträr zu Amis Absage an friedfertiges Verhalten in der Ehe: Nicht Ami, sondern Lubias ist es, die sich feindlich verhält: Es gelingt ihr nicht nur, den Aussätzigen aus der gemeinsamen Residenz zu entfernen, sondern sie zwingt ihn auch zur Abreise und damit, wie sie hofft, in den Tod. Demnach ist es – aus der Sicht der Geschehnisse in der Geschichte – nur eine Möglichkeit, Lubias als Vogel und Ami als Narr zu lesen. So schlägt Inge Vielhauer mit ihrer Übersetzung vor, die Positionen im Gleichnis umzukehren, so dass Ami nun der Vogel im Geäst, Lubias aber auf der Pirsch ist.412 In der Tat funk_____________ 410 „Ihr habt die Gewohnheit wie der Vogel im Geäst: Der Narr, der unter dem Baum sitzt, lauert ihm auf, er glaubt, ihn gesund und munter und unversehrt zu nehmen. Es würde ihm besser bekommen, wenn er ihm auf den Kopf schlagen, ihn rupfen und ihn essen würde. Diese Gewohnheit habt Ihr, bei meinem Haupte.“ – Die Übersetzung von Blanchard / Quereuil 1985, L. 104, S. 52, vereindeutigt – nicht ganz zulässig – die erste und letzte Zeile der zitierten Stelle: „Ihr lasst mich an die Fabel vom Vogel auf dem Ast denken: [...] Meiner Meinung nach seid Ihr der Vogel und ich bin der Narr.“ 411 Foehr-Janssens 1996, S. 269. 412 Die erste und letzte Zeile der Stelle lauten bei ihr: „Ihr verfahrt mit mir wie mit dem Vogel im Geäst: [...] Genau so macht Ihr es mit mir, bei meinem Bart.“ Vielhauer 1979, S. 77. Auch die englische Übersetzung von Rosenberg / Danon 1981, L. 105, S. 90, geht in diese Richtung. Allerdings ist zu betonen, dass der Wortlaut des Textes eine solche Vereindeutigung problematisch macht.
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tioniert das Gleichnis auch in dieser Konstellation, da es nun nicht auf vergangene und versäumte Handlungsmodi, sondern auf die anschließenden Geschehnisse rekurriert. Kennzeichnet man Ami als Vogel, bedient sich Lubias aber nicht des als närrisch gekennzeichneten, sondern des adäquaten, gewaltsamen Verhaltensmusters. Der Text setzt Signale, die diese Deutung nahelegen. Er bedient sich wiederkehrender Vokabeln, die sowohl im Gleichnis selbst wie in Amis einrahmender Rede gebraucht werden. Da sie in diesem Rahmen eindeutigen Sinn produzieren, können sie in einer Übertragung auf das uneindeutige Gleichnis sinnstiftend wirken. Eingeleitet wird das Sinnbild von Amis Vorwurf an Lubias: Dame, dist il, bien m’avéz agaitié / Et sormonté et del tout abaissié (V. 2082f.).413 Dem unter dem Baum Wartenden wird ebenfalls das Verb agaite zugeordnet (s.o., Le fox l’agaite, V. 2085). Da das Wort agaitié an der ersten Stelle auf Lubias verweist, könnte es als vereindeutigender Beleg für die Interpretation gelesen werden, die Lubias den Platz der Jägerin, die unter dem Baum wartet, zuweist. In den Zeilen, die das Gleichnis abschließen, äußert Ami: Icelle loi avéz voz, par mon chief (s.o., V. 2089). Ami bekräftigt mit der Wendung par mon chief seine Rede. Ebenso wie agaitier taucht auch chief ein zweites Mal auf: Im Gleichnis wird vom Kopf des Vogels gesprochen, als seine gewaltsame Zurichtung beschrieben wird. Amis Kopf korrespondiert so mit dem des Vogels, so dass auch in diesem Zusammenhang die Auslegung, in der Ami als Vogel fungiert, als bevorzugt angesehen werden kann. Mit der Wiederholung wiederkehrender, den Sinn vereindeutigender Wörter, von denen eines in der einleitenden, eines in der abschließenden Passage des Vogel-Gleichnisses auftaucht, gibt der Text eine bestimmte Leserichtung vor: Er entwirft Lubias als gewalttätige Vogelfängerin (nicht aber als Närrin) und Ami als verstümmelten Vogel. Auch die Rahmung des Gleichnisses durch Amis Vorwürfe an Lubias414 verstärken eher die Deutung Amis als Opfer und Lubias’ als verachtenswerter Täterin. Dass sie von närrischer Friedfertigkeit losgesprochen wird, ist vor dem Hintergrund von Lubias’ aggressivem Handeln ein Sprechakt schwarzer Ironie. Obgleich der Text Hinweise in diese Richtung gibt, ist diese Deutung problematisch, da der zitierte Eingangsvers möglicherweise überansprucht wird, wenn man keine direkte Relation zwischen Lubias und dem Vogel herstellt. Hinzu kommt, dass die literarische Tradition die _____________
413 „Ihr habt mir erfolgreich nachgestellt. Ihr habt mich überlistet und mich ganz und gar erniedrigt“ (Vielhauer 1979, S. 77). 414 Die ausklingenden Zeilen lauten: Je voz cuidai servir et essaucier / Conme la dame cui j’avoie a moillier. / Or voz voi si del tout sauvaige et grief, / A Deu m’en claim, le Glorioz dou ciel / Qu’il m’en face venjance (Dembowski 1987, V. 2090-2094). („Ich war so dumm und wollte Euch dienen und Euch ehren als die Dame, die ich zur Gemahlin genommen, aber ich muss erkennen, dass Ihr grausam und hart seid. Ich halte mich an den glorreichen Himmelsgott, dass er mich an Euch räche!“, Vielhauer 1979, S. 77f.)
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erste Interpretation, in der der Dame stets die Position des Vogels zugewiesen wird, favorisiert.415 Ich schlage deshalb eine weitere Möglichkeit vor: Betrachtet man den genauen Wortlaut der Stelle, könnte schließlich auch eine Verschiebung der zugeordneten Positionen veranschlagt werden: Lubias wird zunächst traditionsgemäß zum Vogel parallel gesetzt (La loi avéz a l’oisel dou rammier), so wie sie zunächst im Text als höfische, feengleiche Dame erscheint. Auf die Beschreibung eines erfolglosen friedlichen Verhaltensmusters schließt sich dann die Diskussion des effektiven gewaltsamen Handeln an. Auf die Darstellung der Gewalt aber wird erneut auf Lubias Bezug genommen: Icelle loi avéz voz. Lubias’ Gewohnheit bezieht sich nun auf Gewaltausübung. Die loi aus dem ersten und die aus dem letzten Vers beziehen sich demnach auf unterschiedliche Dinge: Verweist die erste Nennung auf einen höfischen Code, in dem Lubias situiert wird, bezieht sich die zweite auf Gewalt als Handlungsmodus, dessen Lubias sich bemächtigt. Damit wäre Lubias’ Doppelstatus und die Spannung zwischen verschiedenen Handlungsregistern, die Foehr-Janssens beobachtet hat, auf einer weiteren Ebene in diesem Gleichnis zu finden. In jedem Fall werden Gewalt und Beschädigung als zwischengeschlechtliche Umgangsmodi markiert. Indem zweimal la loi (V. 2084, V. 2089) aufgerufen wird, um das Gleichnis einzubetten, werden die gewaltsamen Kommunikationsformen explizit als recht- und gewohnheitsmäßig beschrieben. Auf das Handlungsspektrum der chanson de geste insgesamt bezogen, unterscheidet sich die Art der angewendeten Gewalt: Während Amile auf Amis Anraten körperliche Gewalt gegen Lubias anwendet (Schläge) und zudem mit Waffengewalt droht, bedient sich Lubias vermittelterer Wege, um Ami zu schädigen.416 Als Dame sind ihr direkte Ausübung körperlicher Gewalt und das Tragen von Waffen versagt. Obgleich sie so auf wichtige Handlungsmöglichkeiten verzichten muss, da diese allein Männern zustehen, zeichnen sich die ihr zugänglichen Optionen durch Effektivität aus. Sie beraubt Ami sowohl seiner sozialen Anerkennung und Integration als auch der Nahrung, die seinen leiblichen Erhalt gewährleistet. Lubias’ indirekte Maßnahmen zielen gleichwohl direkt auf Amis Körper und seine Beseitigung. Amis Vogel-Gleichnis markiert die zwischengeschlechtliche Bindung noch einmal als gefährlich für Leib und Leben. Gleich, welche Auslegung des Vogel-Gleichnisses als dominant zu setzen ist, in jedem Falle erscheint es schwierig, ein zwischengeschlechtlichen Begehren zwischen Lubias und Ami zu postulieren, wie etwa Foehr_____________ 415 Vgl. Foehr-Janssens 1996, S. 270. 416 Wie bereits gesagt, kann sie ihren Wunsch nach Gewalt nur in Gedanken ausleben.
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Janssens es tut. Ein Streben nach Nähe und Zuneigung zwischen ihnen ist kaum erkennbar. Das Vogel-Gleichnis und die narrativen Sequenzen, auf die es rekurriert, beleuchten allenfalls ein antagonistisches Begehren zwischen den Geschlechtern, das auf einem gegenseitigen Schädigungswunsch beruht. Auffällig ist aber, dass die Gespräche zwischen Lubias und Ami bzw. Amile oft im Bett nach vorangegangener Intimität stattfinden. Es ist indes unzulässig, diese Situierung der Gesprächsszenen ohne Weiteres in den Kontext eines zwischengeschlechtliches Begehrens zu stellen. Drei derartige Textpassagen entwerfen ein solches Szenarium. Laisse 30 gewährt als erste einen Blick auf die postkoitale Kommunikation zwischen Ami und Lubias: Le soir se jut li dus léz sa moillier. / Quant gabé orent et asséz delitié, / La male fame l’en prinst a arraisnier (V. 498-500).417 Dem Liebesspiel folgt eine Tirade von Lubias, in der sie Amile verleumdet.418 Laisse 100 beschreibt mit fast identischen Worten eine ähnliche Situation. Wieder schließt an die gemeinsamen Vergnügungen Lubias’ Anklage gegen Amile an. Dem regelmäßigen und als angenehm gekennzeichneten Vollzug des debitum conjugale wird mit Lubias’ Verhalten in beiden Fällen ein Bruch in der ehelichen Harmonie gegenübergestellt, so dass die formelhafte Beschreibung des erfreulichen Beischlafes geradezu als Marker für die anschließenden, von Lubias herbeigeführten Krisen gelten kann. Die durchgängige Darstellung von Lubias als boshaft und male dürften ihr Übriges dazu beitragen, sie als etwaiges Objekt eines beständigen Begehrens Amis abzuqualifizieren. Auch Amile wird mit Lubias zusammen im Bett gezeigt: Anders als Ami muss er ihre Dienste ablehnen, was er drastisch mit dem Schwert demonstriert. In dieser Szene werden die partizipierenden Körper stärker in den Blick genommen, indem mehrere Male auf ihre Nacktheit verwiesen wird: Li cuens Amiles en la chambre est venus, En lit Ami s’ala couchier touz nus, Avec lui porte son brant d’acier molu. Et Lubias a les siens dras tolus. Deléz le conte s’a couchié nu a nu, Qu’elle le cuide acoler com son dru. (V. 1158-1163)419
_____________ 417 „An einem Abend hatte der Graf sich an der Seite seiner Frau niedergelegt, und als sie nun genug gescherzt und sich miteinander vergnügt hatten, versuchte das listige Weib ihm einzuflüstern [...]“ (Vielhauer 1979, S. 44). 418 Auch Laisse 48 zeigt das Paar morgens im Bett, ohne aber auf intimes Zusammensein Bezug zu nehmen. 419 „Amile betritt nun das Schlafgemach und legt sich nackt in das Bett seines Freundes, nimmt aber sein gutes stählernes Schwert mit sich. Lubias hat ihre Kleider abgelegt, sie will sich an seine Seite legen und ihn liebkosen“ (Vielhauer 1979, S. 57).
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Sowohl Amile als auch Lubias erscheinen nackt respektive entkleidet, um dann nu a nu nebeneinander gezeigt zu werden. Dieses Bild und Lubias’ Absicht des noch engeren Körperkontaktes rufen eine Erwartungshaltung auf, die sofort unterlaufen wird: Quant Lubias senti nue l’espee, / Grant paor a, moult en fu effraee (V. 1167f.).420 Die Nacktheit, durch die Amiles und Lubias’ Leiber markiert sind, wird durch die ‚Nacktheit‘ des Schwertes noch gesteigert, aber nur, um den vom Text in Aussicht gestellten Körperkontakt wirkungsvoll zu unterbinden. Die durch die Nacktheit der Körper evozierte Nähe von Lubias und Amile ist mithin gerade nicht an ausgelebtes Verlangen gekoppelt, sondern an seine Negation. Für Amile geht es zudem nicht darum, unangemessene Leidenschaft zu unterdrücken: Ein solches Begehren ist von seiner Seite aus nicht erkennbar. Das Schwert dient einzig dazu, Lubias auf Distanz zu halten und ihren erotischen Wunsch zu frustrieren. Dies korrespondiert mit den anderen AmicusAmelius-Texten, in denen das Schwert in der Szene des keuschen Beilagers ebenfalls die Abstinenz von zwischengeschlechtlicher Sexualität signifiziert und diese als konstitutiv für vorbildliche Männlichkeit setzt. In einer ironischen Verkehrung verknüpft die chanson de geste den tatsächlichen sexuellen Akt zwischen den Eheleuten nicht mit explizit beschriebener körperlicher Nähe. Diese wird allein in der Szene aufgerufen, in der es nicht zu sexuellem Kontakt kommt, sondern in der angedrohte Gewalt und praktizierter Verzicht dominieren. Ein männliches Begehren nach dem weiblichen Körper wird in diesen Passagen explizit negiert, da sexuelle Aktivität ohne körperliche Einzelheiten auskommt, die Nähe entkleideter Leiber aber auf die Verweigerung einer intimen Begegnung rekurriert. Zu dieser Konstellation, in der männlichem, zwischengeschlechtlichem Begehren eine Absage erteilt wird und ehelicher Verkehr als Pflicht und punktuelle Einvernehmlichkeit erscheint, gehört eine weitere Komponente: Nicht nur einer der Gefährten, sondern beide werden nacheinander mit Lubias im Bett gezeigt. Diese Verdoppelung trägt zur Verähnlichung der Freunde auf handlungsstruktureller Ebene bei. Dass Lubias sie nicht voneinander unterscheiden kann, ist ein weiterer Beweis ihrer Gleichheit. Aus dieser Perspektive können die Bettszenen bzw. die Passage des keuschen Beilagers hinsichtlich ihrer Bedeutsamkeit für das Freundespaar befragt werden. Sarah Kay schlägt folgende Interpretation vor: What is at issue, then, is [...] the [...] irony created by the relations between the persons involved in this bizarre transaction. Ami and Amile are so alike that one can take the other’s place without even his wife recognizing him. They are so fond of each other that here they almost sleep together: one friend is in the other friend’s bed. Only a short while before they were kissing and embracing (974),
_____________ 420 „Als Lubias das nackte Schwert spürte, hat sie große Angst und war [darüber] sehr erschrocken.“
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whereas here Amile is explicitly refraining from doing any such thing with Lubias. The homosocial bond between the two men is erotically charged; it forms part of a sexual politics in which male identity and social relations are prioritized.421
Zurecht beschreibt Sarah Kay die innige Männerbeziehung als „erotically charged“, wenn sie auf den stürmischen Körperkontakt und die Treuebekundungen zwischen den Freunden hinweist. Allerdings bedarf diese Nähe und Zusammengehörigkeit gerade keiner Parallelisierung zu zwischengeschichtlichen Beziehungen: Wenn Amile und Lubias im Bett liegen, ist das keine verschobene Inszenierung einer gleichgeschlechtlichen Bettszene. Da die Kriegerfreundschaft die intensivste und innigste Beziehung des gesamten Textes bildet, muss sie sich keineswegs an zwischengeschlechtlichen Verhältnissen orientieren. Ihre unhinterfragbare Überlegenheit wird stattdessen bisweilen im direkten Vergleich demonstriert.422 Gleichwohl spielt etwa die Szene des keuschen Beilagers mit der Verwischung von Beziehungsgrenzen: Sicher wird mit der Tatsache, dass es sich um Amis Bett handelt, in das Amile sich nun begibt (Li cuens Amiles [...] En lit Ami s’ala couchier touz nus, s.o. V. 1158f.), Freundesnähe evoziert. Räumliche Distanz wird überwunden, indem die Kameraden virtuell ein Bett teilen. Damit wird auch die Vorstellung eines engen Zusammenseins aufgerufen. Ich sehe indes nicht, dass das zwischengeschlechtliche Beisammensein in den Dienst genommen werden muss, um das Männerbündnis unterschwellig erotisch aufzuladen. Die Freundschaft ist ohnehin stark an das Begehren nach körperlicher Nähe und an innige Zuneigung geknüpft, so dass sie mitnichten des Umweges über die zwischengeschlechtliche Beziehung bedarf, um Körperkontakt und Intimität anzudeuten.423 Stattdessen lese ich diese Passage des keuschen Beilagers als offene Degradierung zwischengeschlechtlicher Sexualität, die durch das Schwert deutlich einem männlichen Codex von Freundschaft und Gewalt untergeordnet wird. Die Freundschaft dominiert alle anderen Beziehungsformen hinsichtlich Zusammengehörigkeit, Treue und Nähe. Zum zwischengeschlechtlichen sexuellen Akt gibt es keine Entsprechung im Freundschaftsbündnis, weil diese Form des Zusammenseins nicht mit der Intensität der Freundschaft kompatibel ist, sondern entweder mit nur punktuellen, z.T. mechanischen Bedürfnissen zusammenhängt (Belissants Verführung) oder in einem rechtlichen Kontext steht (Ehe). Befragt man derartige sexuelle Akte nach ihrer Bedeutsamkeit für identitätskonstituierende Bindungen und nach ihrer Anbindung an ein beständiges Begehren, erscheinen sie als untergeordnet und nur temporär gültig. Eine solche Form körperlicher _____________ 421 Kay 1995, S. 237f. 422 Vgl. auch die Analyse der Begrüßungsszenen zwischen den Kameraden in der chanson de geste in Kap. I.4.3. und III.2. 423 Vgl. Kap. I.4.3.
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Kontaktaufnahme kann nicht mit der absoluten Hingabe an den Freund verglichen werden. Zwischengeschlechtlicher, intimer Kontakt lässt sich nicht auf das massive gegenseitige Begehren der Gefährten nach dem jeweils Gleichen beziehen, da jener weit hinter diesem zurückbleibt.424 Jene punktuelle, situativ stark begrenzte Form von Begehren besitzt im Vergleich zur Freundschaft einen nur sehr niedrigen Status und kann deshalb kaum Innigkeit oder Zugehörigkeit in dem Maße wie der Männerbund bedeuten. Während des keuschen Beilagers werden Beischlaf und Freundschaft terminologisch nebeneinander gestellt: Amile verwendet den Begriff compaingnie (V. 1199) hier nicht zur Kennzeichnung seiner Bindung an Ami,425 sondern als er von ehelicher Gemeinschaft spricht. Dies erfolgt allerdings unter negativen Vorzeichen: Ein Arzt habe ihm aufgrund eines Fiebers jeglichen Umgang mit einer Frau verboten (Et que a fame n’eusce habitacion / Ne compaingnie tel com avoir doit on, V. 1198f.).426 Habitacion und compaingnie werden einerseits kontrastiv genannt, fungieren aber andererseits als ähnliche, vergleichbare Verhaltensmuster, die friedlichen Umgang und körperliche Nähe aufrufen. Dass beides in der Begegnung zwischen Amile und Lubias verweigert wird, aber qua Terminus an den Männerbund zurückgebunden wird, stabilisiert erneut die vom Text entworfene Beziehungshierarchie. 3.3. Geschlechterverhältnisse und der Ursprung von Gewalt Die Amicus-Amelius-Texte entwerfen eine dreiteilige Struktur von Gewaltausbruch und Opfermechanismus: Im letzten Teil, dem Kindesopfer, wird die ausgebrochene Gewalt durch das Blut der Kinder beendet. Diesem geheiligten Gewaltakt geht mit dem Gottesurteilskampf eine ambivalente Aktivität voran, in der zugleich unrechte Gewalt ausgeübt wird und eingedämmt werden soll. Aufgrund dieses zwiespältigen Status kann der Zweikampf Gewalt nur zeitweilig beschwichtigen und macht deshalb die Kindstötung als endgültiges, effektiveres Mittel nötig. Beide Passagen sind an die Diskussion der verschiedenen Vergesellschaftungsformen in ihrem Verhältnis zur Freundschaft geknüpft: Während bei der Kindesopferung _____________ 424 Damit ist aber nicht gesagt, dass eine sexuelle oder erotische Komponente aus der Männerfreundschaft per se ausgeschlossen ist, wie etwa Jaeger 1999 und Ailes 1999 annehmen. 425 Ansonsten steht dieser Begriff stets für die Männerfreundschaft der Helden, vgl. etwa Dembowski 1987, V. 18, V. 200 und V. 913. Die Freunde werden als compaingnons bezeichnet, z.B. in V. 11, V. 1833, V. 3294 oder als compains V. 192, V. 519 und V. 3464. 426 „Auf keinen Fall [...] dürfte ich mit einer Frau Beischlaf noch freundschaftlichen Umgang pflegen.“
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verwandtschaftliche Bindungen dem Männerbund untergeordnet werden, steht im mittleren Teil – dem Gottesurteil – die herrschaftliche Ordnung zur Disposition. Jeweils wurde die Priorität der Kriegerfreundschaft gegenüber den anderen Sozialbeziehungen aggressiv bestätigt; gleichzeitig wurden wichtige Funktionen und Deutungsmuster, die Verwandtschaft und Herrschaft kennzeichnen, der Freundschaft einverleibt. Abschließend gilt es, den ursprünglichen Gewaltakt, der den komplexen Opfermechanismus initiiert, herauszupräparieren. Als Ursprung der Gewalt war bereits der außereheliche Beischlaf identifiziert worden: Mit der illegitimen Inbesitznahme Belixendas durch einen der Freunde bricht erstmals Gewalt aus, die bedrohliche Konsequenzen für die Gesellschaft zeitigt. Daniela Hempen hat die Abläufe von Gewaltausbruch und Gewalteindämmung in der Seelentrost-Fassung betrachtet, wobei sie männliche Gewalt gegen Frauen in den Mittelpunkt stellt: „Die Handlungskette, die mit der Vergewaltigung einer jungen Frau begann, wird mit der Tötung der Kinder dieser Frau durch die Hand des Vergewaltigers abgeschlossen, wobei die Opferung der Kinder als Preis für das Vertuschen der Vergewaltigung aufzufassen ist.“427 Damit wird eine den Texten unterliegende Struktur aufgedeckt, die die Stärkung der Freundschaft untrennbar an Gewaltausübung gegen Frauen und Kinder, also gegen sozial marginalisierte Gruppen, knüpft. Die Gewalt-Opfer-Struktur der meisten hagiographischen AmicusAmelius-Texte (Gruppe 2) markiert die gewaltsame Unterwerfung einer Frau als ursprünglichen Gewaltakt, der die Ordnung gefährdet, und zugleich auf Belixendas Körper gendercodierte Machtbeziehungen einschreibt. Diese Texte sind zudem durch ein Desinteresse gegenüber Belixenda gekennzeichnet: Die Auswirkung des gewaltsamen Aktes auf die Prinzessin werden meist ignoriert, stattdessen geht es um soziale Konsequenzen. In ihrer Studie zu mittelalterlichen Darstellungen von Vergewaltigung kommt Kathryn Gravdal zu einem ähnlichen Ergebnis, nämlich dass „not the protection of women against sexual violence but rather the restoration of law and order“428 sich als Ziel der Rechtsvorschriften herauskristallisiert. Diese Tendenz beobachtet sie auch in literarischen Texten: „[S]exual violence is construed as a problem for men. Rape is only part of a larger dilemma: that of maintaining order and strength in the chaotic feudal world.“429 Diese Privilegierung einer männlichen Sichtweise korrespondiert mit dem Versuch, die Unterordnung von Frauen in der mittelalterlichen Gesellschaft zu naturalisieren.430 _____________
427 428 429 430
Hempen 1998, S. 431. Gravdal 1991, S. 8. Gravdal 1991, S. 103. Vgl. Gravdal 1991, S. 1.
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In den Amicus-Amelius-Texten liegt ein ebensolches grundsätzliches Interesse an der homosozialen Verfasstheit von Gesellschaftlichkeit vor, welches in den legendenhaften Texten meist mit der Ausblendung einer weiblichen Perspektive einhergeht. Innerhalb dieser Logik ist es aber nicht nur denkbar, eine Vergewaltigung als Gewaltakt gegen homosoziale Strukturen zu klassifizieren, sondern jedweden sexuellen Kontakt, der ohne soziale Bestätigung verläuft, ganz gleich, ob es sich um erzwungenen oder einvernehmlichen Sex handelt. Der beschädigte Körper der Frau fungiert hier dann unbesehen der konkreten Umstände, die zum Verlust der Jungfräulichkeit geführt haben, als Marker für beeinträchtigte Homosozialität: Der Leib der Prinzessin erlangt Bedeutsamkeit, da er in der Verfügungsgewalt des Herrschers steht. Dies korrespondiert mit dem hochmittelalterlichen rechtlichen Kontext, in dem raptus vornehmlich „as a crime against male property“431 galt. Die unrechtmäßige zwischengeschlechtliche Beziehung stört die männlich strukturierte Welt, da zwischenmännliche Treuebindungen verletzt werden. Geschlechterverhältnisse sind den homosozialen untergeordnet, da sie nur innerhalb eines homosozialen Sinnsystems Bedeutung annehmen dürfen. Geschlechterverhältnisse werden stets über männliche Allianzen transportiert, um Rechtsgültigkeit beanspruchen zu können. Nur in diesem Rahmen sind die zwischengeschlechtlichen Geschehnisse für die Gewalt-Opfer-Struktur der Texte von Gewicht: Der sexuelle Akt zwischen Freund und Prinzessin gefährdet die grundlegende Homosozialität. In zwei legendenhaften Texten – in der mittellangen Münchener Handschrift Cgm 523 und in Hermann Korners minimaler Bearbeitung – wird die Prinzessin bzw. die Fürstentochter sogar schwanger, womit der eklatante Bruch der Ordnung besonders deutlich in Szene gesetzt wird: Amelius hat sich unrechtmäßig in die königliche bzw. in eine andere hochadlige Blutslinie hineingedrängt. Ohne dass dies von den Texten deutlich ausgesprochen würde, sind Amelius’ Kinder, die später von ihm für seinen Freund geopfert werden, also bereits vor der Hochzeit gezeugt worden. Insofern verkörpern sie in buchstäblichem Sinne widerrechtliches Handeln gegen die herrscherliche Vormachtstellung. In diesem Zusammenhang kommt der göttlichen Wiederauferstehung der Kinder die zusätzliche Bedeutung zu, auch diesen Makel zu tilgen. Die zwischengeschlechtliche Beziehung wird weiter an homosoziale Strukturen zurückgebunden, indem der Rivale Ardericus dem Herrscher die geheimen Machenschaften, in die seine Tochter verwickelt ist, offenbart. Dass die ‚heterosexuelle‘ Episode überhaupt handlungsdynamische Wirksamkeit erringen kann, ist den agierenden Herren zuzuschreiben, die _____________ 431 Gravdal 1991, S. 9, bezieht sich hier auf Gratians Decretum (ca. 1140).
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das Gottesurteil in die Wege leiten. Diese grundsätzliche Handlungsstruktur wird in der zweiten Textgruppe durch den spezifischen Entwurf der Frauenfigur verstärkt: Belixenda ist von jeglicher Handlungsmacht ausgeschlossen. In den Bearbeitungen, in denen sie vergewaltigt wird, bringt sie das Verbrechen nicht selbst zur Anklage. In den Texten der ersten Gruppe wird dieser Entwurf verkehrt: Die variierende Eigenmächtigkeit der Prinzessin kann zum einen die Verhältnisse umkehren, da nun sie es ist, die den Gefährten quasi zur Intimität zwingt. Der in diesen Texten entworfene ursprüngliche Gewaltakt, der die selben Konsequenzen zeitigt wie die Vergewaltigung, wird von der Dame verantwortet. Die Störung der Homosozialität geht in diesem Fall nicht von einem der Freunde aus, sondern ist ein explizites Resultat aktiven weiblichen Handelns. Quasi als ‚Vergewaltigungsopfer‘ erscheint Amys etwa in der mittelenglischen romance. Dieser ‚Opferstatus‘ wird aber ebenso wenig bedeutsam wie der der Prinzessin bei der ‚traditionellen‘ Form der Vergewaltigung: Einzig der entwertete Leib seiner Tochter veranlasst den Souverän zum Handeln. Auch die Minnehandlungen enden mit diesem Ergebnis: Sie alle beeinträchtigen die homosoziale Harmonie. Der von den Amicus-Amelius-Texten eröffnete Erzählraum zeigt mithin die diskursive Verfasstheit zwischengeschlechtlichen Begehrens in Zusammenhang mit Gewalt: Die unerlaubte Geschlechterbeziehung wird als Gewaltakt gegen die soziale Ordnung eingeschätzt. In den Einzeltexten wird dieser auf unterschiedliche Weise literarisch ausgestaltet. Die Verbindung von Machtkonstellationen und Geschlechterbeziehungen äußert sich in patriarchalen Kulturen oft in einer unauflöslichen Verflechtung von männlicher Gewalt und weiblicher Unterwerfung auch und vor allem in personalen, zwischengeschlechtlichen Bindungen. Auf die Amicus-AmeliusTexte ist dies aber nicht vorbehaltlos übertragbar. Die einzelnen Bearbeitungen entwerfen nur sehr selten eine unumgängliche Verkettung von (männlichem) erotischem Begehren und (weiblicher) Unterwerfung: Ein Zusammenschluss von Vergewaltigung und Minne wird nur in der Seelentrost-Gruppe vorgenommen. In den anderen legendenhaften Texten ist Amelius’ Vergewaltigung der Prinzessin nicht Ausdruck eines unbezwingbaren erotischen Verlangens, sondern eines Herrschaftsbegehrens. Umgekehrt wird in der mittelenglischen romance und in der anglonormannischen Verserzählung weibliches Begehren mit der Ausübung von Zwang verknüpft: Durch Gewaltandrohung macht die Dame das männliche Objekt des Begehrens verfügbar. Das Gefüge der Macht bestimmt keine starren, gendercodierten (Ohn)Machtpositionen, die jeweils von Vertretern nur eines Geschlechts eingenommen werden können: Hier ergreift die Prinzessin Handlungs- und Verfügungsmacht. Die Bearbeitungen, die ein gegenseitiges, zwischengeschlechtliches Begehren entwerfen, blenden
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Gewalt aus. Im Blick auf das Gesamtkorpus aber wird die beunruhigende Austauschbarkeit der narrativen Konstellationen deutlich: Vergewaltigung, Zwang, List und gegenseitige Minne können das Geschlechterverhältnis beschreiben, das den Opfermechanismus auslöst. Die Einzeltexte unterscheiden meist zwischen Aggression und Begehren; das Gesamtkorpus aber verwischt die Grenzen, da die narrativen Varianten einander überlagern und gleiche Ergebnisse hervorbringen. Das Amicus-Amelius-Korpus beteiligt sich folglich nur bedingt am Projekt der Ausformulierung eines „cultural habit of conceptualizing male violence agaist women as a positive expression of love“.432 Stattdessen stecken die Texte ein instabiles Gebiet variabler Geschlechterverhältnisse ab, das einem relativ stabilen homosozialen Arrangement gegenübersteht. Der ursprüngliche Konflikt der Amicus-Amelius-Texte beruht demnach auf einer drohenden Zerrüttung des männlichen Universums durch ein zwischengeschlechtliches Verhältnis. Dieses ist im symbolischem Subtext – unabhängig von den jeweiligen Konkretisierungen in den einzelnen Texten – stets als Gewaltakt im Sinne eines Angriffs auf die Ordnung zu klassifizieren. Freundschaft, Verwandtschaft und Herrschaft bilden als vornehmlich homosoziale Vergesellschaftungsformen die Basis der Sozialität und stehen der asozialen, da nicht sanktionierten Geschlechterbeziehung diametral gegenüber. Zwischenmännliche Allianzen, die Gesellschaftlichkeit konstituieren, werden durch ein zwischengeschlechtliches Verhältnis, das nicht legitimiert ist, untergraben: Die Missachtung der homosozial organisierten Machtstruktur, die sich in diesem ‚heterosexuellen‘ Akt manifestiert, führt dazu, dass – implizit oder explizit – das Treuebündnis mit dem Herrscher zerrüttet. Die Brüchigkeit der Ordnung wird offenbar. Die Bedrohlichkeit der Situation kann eingegrenzt werden, indem der Konflikt im regulierten Kampfmodus des Duells ausgetragen wird. Durch die Manipulation der Gefährten wird nicht nur die öffentliche Ordnung wiederhergestellt, sondern zudem der ursprüngliche Gewaltakt verleugnet. An seine Stelle wird eine legitime zwischengeschlechtliche Beziehung gesetzt, die in Homosozialität verankert ist. Der Gewaltausbruch wird so verschleiert. In der von den Amicus-Amelius-Texten installierten Homosozialität nimmt die Freundschaft den zentralen Platz ein und wird von verwandtschaftlichen und herrschaftlichen Strukturen flankiert und durchdrungen. Dieses Konstrukt beruht auf einem inhärenten Widerspruch: Obwohl das Freundespaar homosoziale Harmonie par excellence verkörpert, gefährdet einer der Freunde aktiv oder passiv das männliche Universum. Die einzelnen Texte versuchen auf je unterschiedliche Weise, diesen Widerspruch, _____________ 432 Gravdal 1991, S. 20.
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der das Gefahrenpotential der Freundschaft für das homosoziale Universum aufscheinen lässt, abzumildern, indem etwa – wie bereits geschildert – der Herrschertochter die Verantwortung für die Geschehnisse zugeschrieben wird. Nichtsdestotrotz ist die Freundschaft in die Bedrohung perfekter Homosozialität verwickelt. Dies hängt mit der herrschaftsstiftenden Wirkungsmacht der Freundschaft zusammen: Der ursprüngliche Gewaltakt und die anschließenden Opferungen sind Stationen auf dem Weg des sozialen Aufstiegs eines der Kameraden. Der Gewaltakt führt zu Machtzuwachs: Der Freund wird schließlich als Herrscher eingesetzt. Diese ‚Neuordnung‘ der Welt ist unlösbar an ihre Gefährdung gekoppelt, die dann aber durch die Freunde selbst aufgehoben wird. Dies korrespondiert mit dem Umstand, dass die Gefährten sowohl an Gewaltausbruch als auch -eindämmmung partizipieren. Die Etablierung der Freunde als Machthaber erfordert einen Normenverstoß, der das soziale Gefüge reorganisiert. Die spezifische Form von Homosozialität, wie sie das Freundespaar verkörpert, ersetzt die anfängliche Konstellation. Und obgleich in den Freundschaftsprüfungen und im ursprünglichen Gewaltakt stets die Priorität der Freundschaft gegenüber einem anderen Vergesellschaftungsmodell illustriert wird, wird die ‚traditionelle‘ Homosozialität nie direkt von den Gefährten angegriffen: Der Herrscher wird nicht gewaltsam abgesetzt oder in direkter Konfrontation attackiert, stattdessen wird seine Tochter ihrer Virginität beraubt und einer seiner Männer im Duell getötet. Weiter sind die Freunde nicht in eine gewaltsame Konfrontation mit ihren Vätern verwickelt, um herkömmliche Vorstellungen dynastischer Kontinuität zu desavouieren, sondern die Kinder eines der Freunde werden getötet. Die Amicus-AmeliusTexte beschreiben den Weg der Freunde zu zentralen männlichen Machtpositionen (Regent, Vater), doch werden die ursprünglichen Inhaber dieser Positionen nicht gewaltsam beseitigt. Im auf Gewalt und Opfer rekurrierenden Symboltext wird die Gerichtetheit der Freundesgewalt deutlich: An Freundschaft gekoppelte Männlichkeit wird in diesem Modell über die gewaltsame Unterordnung des anderen Geschlechts, über die Tötung des Rivalen und der Kinder etabliert. Im erfolgreichen Versuch, Hegemonie zu erlangen, handeln die Freunde aber nie direkt gegen die herkömmliche Hegemonie. Homosozialität wird umformuliert, aber bestätigt. Wie ich in dieser Arbeit gezeigt habe, versuchen die Amicus-AmeliusTexte mit verschiedenen Strategien, ein männliches Universum zu schaffen. Darin besteht die Verbindung zu der Konstellation, wie sie im ursprünglichen Gewaltakt besteht: Der Ursprung der Gefährdung homosozialer Gesellschaftlichkeit liegt in einer zwischengeschlechtlichen Beziehung, die Homosozialität negiert. Auffällig ist, dass zwischengeschlechtliche Gewalt – anders als Gewalt zwischen Männern – ausschließ-
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lich als zerstörerisch, nicht aber als gesellschaftskonstituierend erscheint. Unkontrollierte Beziehungen zwischen den Geschlechtern erscheinen als bedrohlich; und selbst in den Texten, die – wie etwa Konrads Engelhard – von zwischengeschlechtlicher Minne erzählen, muss diese Bindung zeitlich begrenzt sein und in der Struktur des Textes ein Fremdkörper bleiben, da die ursprüngliche Freundschaftsgeschichte homosoziales Begehren nicht nur privilegiert, sondern dem zwischengeschlechtlichen diametral gegenübersteht, da dieses zerstörerisch, jenes aber identitätsbildend wirkt.
III. Konzeptionen von Liebe, Herrschaft und Heiligkeit in den Amicus-Amelius-Texten In diesem Kapitel werden zunächst die bisherigen Ergebnisse zu den verschiedenen Vergesellschaftungsformen, die die Amicus-Amelius-Texte verhandeln, zusammengefasst und dann in einen breiteren Forschungskontext zu identitätsstiftenden Bindungen gestellt. Danach möchte ich auf die ganz zu Beginn bereits angerissene terminologische Fragestellung1 zurückkommen, wie die einander überschneidenden Bezeichnungen einzelner Bindungen sowie die daran geknüpften Handlungsmodelle zueinander in Beziehung zu setzen sind. Diese Herausarbeitung begrifflicher Aspekte soll die Beschreibung der Spezifik des Beziehungsentwurfs in den AmicusAmelius-Texten abschließen. In einem dritten Punkt werde ich schließlich der Frage nach der Heiligkeit nachgehen, an die das Freundschaftsmodell zumindest in der zweiten Textgruppe explizit angeschlossen wird.
1. Identitäts- und herrschaftsstiftende Wirksamkeit einzelner Beziehungstypen Die Amicus-Amelius-Texte verhandeln unterschiedliche Vergesellschaftungsmodelle und ihren Beitrag zur Identitätsformation der Protagonisten. Die Freundschaft bildet stets die wichtigste Allianz und das effektivste Modell zur Stiftung von Identität. Am gesamten Textkorpus lässt sich dies an der durchgängigen Konstanz des Freundschaftsmodells ablesen: Auch wenn in einzelnen Texten durchaus unterschiedliche Ausformungen von Episoden auftauchen können, ist die grundsätzliche Struktur der Freundschaftserzählung stets gleich. Dieser Unveränderlichkeit steht die Varianz in den Entwürfen der anderen Beziehungsformen gegenüber. Nicht nur sind die Konzeptionen verwandtschaftlicher, herrschaftlicher und zwischengeschlechtlicher Verhältnisse in den einzelnen Texten von großen Differenzen geprägt, auch die Versuche, sie überhaupt in die Freundschaftswelt zu integrieren, weichen stark voneinander ab. _____________ 1
Siehe Einleitung 1.
III. Konzeptionen von Liebe, Herrschaft und Heiligkeit in den Amicus-Amelius-Texten In diesem Kapitel werden zunächst die bisherigen Ergebnisse zu den verschiedenen Vergesellschaftungsformen, die die Amicus-Amelius-Texte verhandeln, zusammengefasst und dann in einen breiteren Forschungskontext zu identitätsstiftenden Bindungen gestellt. Danach möchte ich auf die ganz zu Beginn bereits angerissene terminologische Fragestellung1 zurückkommen, wie die einander überschneidenden Bezeichnungen einzelner Bindungen sowie die daran geknüpften Handlungsmodelle zueinander in Beziehung zu setzen sind. Diese Herausarbeitung begrifflicher Aspekte soll die Beschreibung der Spezifik des Beziehungsentwurfs in den AmicusAmelius-Texten abschließen. In einem dritten Punkt werde ich schließlich der Frage nach der Heiligkeit nachgehen, an die das Freundschaftsmodell zumindest in der zweiten Textgruppe explizit angeschlossen wird.
1. Identitäts- und herrschaftsstiftende Wirksamkeit einzelner Beziehungstypen Die Amicus-Amelius-Texte verhandeln unterschiedliche Vergesellschaftungsmodelle und ihren Beitrag zur Identitätsformation der Protagonisten. Die Freundschaft bildet stets die wichtigste Allianz und das effektivste Modell zur Stiftung von Identität. Am gesamten Textkorpus lässt sich dies an der durchgängigen Konstanz des Freundschaftsmodells ablesen: Auch wenn in einzelnen Texten durchaus unterschiedliche Ausformungen von Episoden auftauchen können, ist die grundsätzliche Struktur der Freundschaftserzählung stets gleich. Dieser Unveränderlichkeit steht die Varianz in den Entwürfen der anderen Beziehungsformen gegenüber. Nicht nur sind die Konzeptionen verwandtschaftlicher, herrschaftlicher und zwischengeschlechtlicher Verhältnisse in den einzelnen Texten von großen Differenzen geprägt, auch die Versuche, sie überhaupt in die Freundschaftswelt zu integrieren, weichen stark voneinander ab. _____________ 1
Siehe Einleitung 1.
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Die personalen Beziehungen, die sich in emotionaler Verbundenheit äußern können, haben immer auch politische Relevanz:2 Damit ist nicht nur gemeint, dass einige Bündnisse Vertragscharakter annehmen können, wodurch verbindliche Pflichten zu gegenseitiger Hilfe und Unterstützung entstehen. Dies trifft mehr oder minder explizit auf alle homosozialen Allianzen in den Amicus-Amelius-Texten zu. Auch wenn nicht ausdrücklich ein Bund mit spezifischen Obligationen geschlossen wird, liegen allgemeine Vorstellungen von Treue, Loyalität und militärischer Hilfeleistung den verwandtschaftlichen, herrschaftlichen und freundschaftlichen Beziehungen zugrunde. Das Geschlechterverhältnis korrespondiert vor der Eheschließung nur in wenigen Texten mit diesem Anspruch: Eine (illegitime) Treuebindung wird etwa in der mittelenglischen romance eingegangen, nicht aber in den meisten anderen Texten. Hinzu kommt, dass die einzelnen Bindungen politische Wirksamkeit besitzen, insofern sie die sozialpolitische Stellung der Protagonisten beeinflussen: Das verwandtschaftliche Geflecht situiert die Freunde jeweils in einem vorgegebenen Macht- und Herrschaftsbereich, den sie für sich beanspruchen können. Die Verbindung zum Herrscher eröffnet demgegenüber neue Möglichkeiten, etwa durch Dienst einen neuen Rang einzunehmen oder Ländereien übertragen zu bekommen. Die Liaison mit der Prinzessin führt schließlich zu einem beträchtlichen Machtzuwachs für einen der Freunde. Das Mittel zum Aufstieg ist die Prinzessin, Handlungsmotor und Garant der Transaktion aber ist der Gefährte. Zumindest für einen der Kameraden hat die Freundschaft damit herrschaftskonstituierende Wirkung. Für den anderen Freund bildet meist seine Herkunft die Grundlage seiner Herrschaft, da er entweder problemlos das väterliche Erbe antritt (in den zur ersten Gruppe gehörenden Texten mit vertauschten Freundespositionen) oder spätestens nach Absolvierung aller Freundschaftsproben sein Land zurückerobert (elaborierte und mittellange legendenhafte Texte der zweiten Gruppe). Da sein Freund ihn vom Aussatz heilt, funktioniert die herrschaftsstiftende Wirkung der Freundschaft auch für diesen Gefährten, da die Heilung die Voraussetzung für die (Wieder-)Herstellung von Macht und Herrschaft bildet. Der Herrschaftserwerb erscheint in einigen Texten – den elaborierten und einigen mittellangen Bearbeitungen der zweiten Textgruppe sowie in der chanson de geste und in der mittelenglischen romance – nur als eine Station auf dem Wege zu vollkommener, immerwährender Freundesnähe: Der Machtbereich wird verlassen, um mit dem Kameraden das restliche Leben zu verbringen und gemeinsam zu sterben. Die Freundschaft ist damit die effektivste Vergesellschaftungsform hinsichtlich des Herrschaftserwerbs, des Machtzuwachses und – für _____________ 2
Vgl. Einleitung 3 sowie Althoff 1990 und 1992, Epp 1999, Jaeger 1999 und Oschema 2006.
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mindestens einen der Gefährten – der Steigerung des sozialen Ranges. Dass diese Dimension politischer Relevanz zugunsten eines gemeinsamen Lebens der Freunde in einigen Texten zurückgestellt werden kann, streicht die Intensität der personalen Freundschaftsbindung heraus. Die identitäts- und herrschaftskonstituierende Macht des Freundesbundes wird nicht nur deutlich, wenn sie mit der analog gerichteten Wirksamkeit anderer Bindungen verglichen wird: Sie allein gewährleistet effektiv stabile Identität und Machtgewinn bzw. -sicherung. Hinzu kommt, dass besonders die verwandtschaftlichen und die zwischengeschlechtlichen Verhältnisse eine identitäre Bedrohung für die Gefährten darstellen können. Aus der Freundschaft resultiert keine derartige Gefährdung für die Kameraden: Dass beide für den Freund jeweils Tod und Blutvergießen in Kauf nehmen, ist an die Effektivität der freundschaftlichen Allianz geknüpft, die auch über die ausschließlich nach außen gerichtete Gewaltsamkeit gekennzeichnet ist. Die Freundschaft bildet in dieser Hinsicht ebenfalls das kraftvollste Bündnis. Es funktioniert zudem, indem die Wirkprinzipien anderer Vergesellschaftungsformen inkorporiert (Verwandtschaft) bzw. suspendiert (Herrschaft) und transformiert (des illegitimen in ein legitimes Geschlechterverhältnis) werden. Insofern erstreckt sich die Wirkmacht des zentralen Männerbundes auf alle anderen Sozialbindungen, konzipiert sich aber gleichzeitig in rigoroser Abgrenzung zu ihnen: Es sei an die Vereinnahmung der agnatischen Linie in das Freundschaftsbündnis erinnert, bei der zwar eine verwandtschaftliche Strukturierung der freundschaftlichen Bindung vorgenommen, diese aber gänzlich neu entworfen wird. Der Versuch, weibliche Partizipation aus einer rein männlich gedachten Blutlinie auszublenden, weist dem Geschlechterverhältnis nicht nur einen sekundären Rang zu, sondern zeigt zudem die grundsätzliche Tendenz einer Maskulinisierung der literarischen Amicus-Amelius-Welt. Die Übertragung von Herrschaft und die Konstitution von Verwandtschaft sind zwar nach wie vor an zwischengeschlechtliche Beziehungen gebunden, aber das Textkorpus imaginiert einen Neuentwurf dieser scheinbar unumgänglichen Konstellation. In der ersten Textgruppe und in den Grenzfall-Texten (Gruppe 3) werden zwischengeschlechtliche Relationen zwar aufgewertet – und sei es in einer narrativen Ausgestaltung ihrer Bedrohlichkeit –, gleichwohl wird die zeitlich begrenzte Signifikanz dieses Bindungstyps stets unterstrichen. Trotzdem erscheint in diesen Texten die – temporäre und z.T. erzwungene – Möglichkeit, dass männliche Identität sich in Relation zu Weiblichkeit formiert. Das zentrale Vergesellschaftungsmodell, die Freundschaft, konstituiert sich indes mehrheitlich nicht
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über die Einbeziehung, sondern über den Ausschluss von Geschlechterverhältnissen.3 Dies bildet einen entscheidenden Unterschied zu dem von LéviStrauss beschriebenen Modell sozialer Verknüpfungen, in dem zwischengeschlechtliche Beziehungen zwar männlicher Homosozialität untergeordnet sind, aber dennoch die zivilisatorische Basis von Gesellschaft bilden. Laut Lévi-Strauss verleiht die Verschwägerung höhere soziale Stabilität als die auf bloßer Gleichheit beruhende Blutsbrüderschaft: Dieser weist er eine rein „mechanische Solidarität“ zu, während jene „eine organische Solidarität“ beinhalte. „Die [Bluts-]Brüder sind einander nahe, aber nur aufgrund ihrer Ähnlichkeit, so wie die Pfosten der Hütte oder die Pfeifen der Flöte. Die Schwäger dagegen sind solidarisch, weil sie einander ergänzen und füreinander funktionale Wirksamkeit besitzen.“4 LéviStrauss’ Aussage trifft insofern zu, als er implizit eine Perspektive einnimmt, die auf eine langfristige soziale Dauer über Generationen abzielt und die Einbindung möglichst vieler Clanmitglieder privilegiert. Durch Frauentausch und Heirat entstehen soziale Netze, die großflächige Vergesellschaftung gewährleisten. Die Vorstellung, dass eine ‚organische‘ Verbindung erst durch eine Frau geschaffen werden kann, perpetuiert indes eine misogyne Sichtweise, die dem weiblichen Körper einen naturhaften Status zuweist. Die männliche Verfügungsgewalt über diesen Körper – etwa zu ‚organischen‘ Reproduktionszwecken – aber konstituiert Kultur. Zudem existiert Verwandtschaft in diesem Denkmodell stets in einer heteronormativen Matrix,5 so dass sich auch wirksames homosoziales Begehren ausschließlich in einer über den Frauentausch vermittelten Form manifestieren kann und eines ‚organischen‘ Mediums bedarf, an dem beide Männer partizipieren: Der Bruder der Frau teilt mit ihr die gemeinsame Substanz des Blutes, ihr Ehemann verfügt – mindestens – im prokreativen Akt über ihren Körper, um sein Blut mit dem ihren – und damit in übertragener Form auch mit dem ihres Bruders – zu vermischen. _____________ 3
4 5
Diese Konstellation wird in der Forschung oft ignoriert, so von Peschel 2001 und von Schmid 2001 und (ähnlich) Schmid 2005. Beide arbeiten mit einem heteronormativen, psychologisierenden Modell, das allerdings nur von Schmid theoretisch reflektiert wird: Beide setzen – mit jeweils unterschiedlichen Akzentuierungen – die Freundschaft als der Kindheit oder der Adoleszenz entsprechende Beziehungsform an, die von einer ‚erwachsenen‘, heterosexuellen Liebe abgelöst werde. Obgleich Schmid 2005, S. 37 und S. 41, selbst zu erkennen scheint, dass diese Beschreibung an den tatsächlichen Gegebenheiten in den Amicus-Amelius-Texten (bzw. im Engelhard, dem sich diese Untersuchungen vorrangig widmen) vorbeigeht, hält sie an dieser These grundsätzlich fest und modifiziert sie hinsichtlich eines ‚Rückfalls‘ der Freunde in die Latenzzeit. Lévi-Strauss 1981, alle Zitate auf S. 646. Die Universalgültigkeit von Inzestverbot und Exogamie transportiert diese Prämisse der Heterosexualität jeglicher Gesellschaftlichkeit. Zur Kritik an Lévi-Strauss aus gendertheoretischer Sicht vgl. Rubin 1975, Butler 1991, bes. S. 63-74, Butler 2001 und Butler 2004.
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Die Amicus-Amelius-Texte formulieren indes literarisch die Möglichkeit einer derartigen ‚organischen‘ Allianz ohne weibliche Mediatisierung, indem im Kindesopfer über Gewalt das Freundesblut zusammengeführt wird. Vor dieser narrativen Sequenz zeigt das Textkorpus zudem die Wirksamkeit der sogenannten ‚mechanischen‘ Solidarität: Allein die Freundesgleichheit garantiert unbedingten Zusammenhalt und Schutz und nicht selten wird die Stabilität und Dauerhaftigkeit der Bindung im gemeinsamen Tod visualisiert. Die aus Lévi-Strauss’scher Perspektive als minderwertiger und ineffektiver erscheinende Vergesellschaftungsform bildet in der mittelalterlichen Amicus-Amelius-Welt das engste und zweckmäßigste Bündnis. Im Übrigen kann auch diese Allianz schon als ‚organische‘ bezeichnet werden, da körperliche Gleichheit die Vorstellung der Partizipation an einer gemeinsamen Identität generiert. Homosoziales Begehren bedarf in diesen Texten keiner Vermittlung über Frauen, da gerade die exklusive Aufeinanderbezogenheit der Protagonisten als Idealmodell entworfen wird. Lévi-Strauss verankert die Blutsbrüderschaft in einer quasi ‚natürlichen‘, d.h. vorkulturellen Dimension: „Die erste Form der Solidarität fügt nichts hinzu und vereint nichts; sie beruht auf einer kulturellen Grenze, die sich mit der Reproduktion einer Art der Verknüpfung zufriedengibt, deren Vorbild die Natur liefert. Die andere verwirklicht eine Integration der Gruppe auf einer neuen Ebene.“6 Diese ‚Natürlichkeit‘ von Männerbindungen, die auf Gleichheit basieren, könnte auf historischer Ebene eine Vorgängigkeit dieser Bündnisse vor zwischengeschlechtlichen Formen friedlicher Anerkennung bezeichnen. Für einen mittelalterlicher Kontext bedeutet das Konzept der Minne wechselseitigen gewaltfreien Umgang, der die Autonomie und Eigenständigkeit der Beteiligten erfordert. Die damit bezeichnete Selbständigkeit und Freiwilligkeit macht ein solches Verhalten zum Standesprivileg, denn nur, wer über sich selbst zur gänze verfügt, kann sein Wohlwollen dem Ebenbürtigen aus freien Stücken schenken. Minne ist daher gerade nicht auf Beziehungen zwischen Mann und Frau zu beschränken, sondern findet in gleicher affektiver Intensität zwischen Männern statt, die einander als Ebenbürtige erkannt haben.7
Klinger betont, dass homosoziale Minne den notwendigen Hintergrund für zwischengeschlechtliche Minne bildet.8 Diese Aussage bezieht sich nicht nur darauf, dass vasallitische Terminologie auf das Geschlechterverhältnis übertragen wird, sondern auf homosoziale Minne als grundsätzliche Vorbedingung dafür, dass ein analoges zwischengeschlechtliches Modells entstehen kann. Die konstitutive Subjekthaftigkeit, die auf _____________ 6 7 8
Lévi-Strauss 1981, S. 646f. Klinger 2001, S. 140f. Klinger 2001, S. 141, Anm. 221.
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Mündigkeit und Rechtsstatus der Beteiligten beruht, ist nur im homosozialen, adligen Kontext völlig gewährleistet. Wenn eine dieser Positionen auf eine adlige Dame übertragen wird, bedeutet dies daher, dass zwischengeschlechtliche Minne im Vergleich zum homosozialen Begehren sekundär und abgeschwächt ist, da der Subjektstatus der Dame – etwa als eigenständig handelndes Rechtssubjekt – nicht vorbehaltlos vorausgesetzt werden kann. Zu Recht ist immer wieder betont worden, dass bei der höfischen Minne – und vor allem im Minnesang – allein die Formation des männlichen Subjekts, das sich durch dieses spezifische Verhaltensprogramm vervollkommnet, im Mittelpunkt steht.9 Ferner wurde in diesem Zusammenhang von der Forschung behauptet, dass sich unter Maske der Dame der Herr verbirgt, dem im eigentlichen Sinne vom Ritter die höfische Minne entgegengebracht wird.10 Dieser vollständige Ausschluss von Weiblichkeit aus Minnemodellen schießt über die Gegebenheiten in den literarischen Texten allerdings hinaus.11 Gleichwohl ist zu konstatieren, dass das primäre, homosoziale Konzept das sekundäre, zwischengeschlechtliche Konzept generierte: Ein ‚Relikt‘ des ersten, das sich im zweiten wiederfindet, ist die Konzentration auf das männliche Subjekt. Aus der Perspektive von Ebenbürtigkeit und Eigenständigkeit der Minne-Subjekte kann indes auch die Liebe zwischen Herr und Vasall nicht die ‚ursprüngliche‘12 Minne-Form sein. Stattdessen bildet die friedliche Zuwendung zweier gleicher, adliger Männer zueinander das Paradigma für Minnebeziehungen. In den Amicus-Amelius-Texten wird mit der innigen und exklusiven Bindung der Protagonisten, die einander zum Verwechseln gleichen, ein solches Modell entworfen. In den Amicus-Amelius-Texten, die zwischengeschlechtliche Minne schildern, kann die unausgewogene Subjekthaftigkeit der Beteiligten problematisch werden: Dies wird besonders in der mittelenglischen romance und in der anglonormannischen Verserzählung deutlich, in dem die Subjekt-Objekt-Positionen vertauscht werden und allein die Dame begehrt und über den Fortgang der Ereignisse entscheidet. Dass Amys nicht freiwillig in die Beziehung einwilligt, ist für sie nicht von Bedeutung und _____________ 9 10 11 12
Vgl. nur Kasten 1988 und Duby 1997. Vgl. Duby 1995. Vgl. weiter Marchello-Nizia 1981 und Rouillan-Castex 1984. Ingrid Kasten 1986 hat gezeigt, dass sich in der deutschsprachigen Minnelyrik das Konzept des Frauendienstes vorrangig auf das Verhältnis zwischen den Geschlechtern bezieht und nicht – wie bei den Trobadors – auch als Herrendienst zu verstehen ist. Ich verwende die Begriffe ‚ursprünglich‘, ‚primär‘ etc. in diesem Zusammenhang nicht mit Hinblick auf die Rekonstruktion eines tatsächlichen ‚Ursprungs‘, der greifbar wäre, oder eines logischen, ungebrochenen, chronologischen Ablaufs, sondern ausschließlich, um grundsätzliche Tendenzen zu beschreiben, die gleichwohl von Brüchen durchsetzt sein können.
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Konzeptionen von Liebe, Herrschaft und Heiligkeit
bringt weiter die prekäre Verfasstheit männlicher Identität hervor: Amys’ Passivität steht dem auf Gleichartigkeit und Ausgewogenheit gerichteten homosozialen Handlungsmodell diametral gegenüber. Die verschiedenen zwischengeschlechtlichen Variationen in den einzelnen Amicus-AmeliusTexten inszenieren das Geschlechterverhältnis zwar auf je eigene Weise, zeigen aber jeweils die heikle Konstellation des Subjektstatus, sofern Minne im Spiel ist:13 Eine auch auf Gleichheit basierende zwischengeschlechtliche Bindung wird einzig im Engelhard entworfen, doch wird auch hier die Bedrohlichkeit der Minne diskutiert, wenn Engelhard durch die Liebeskrankheit seine Selbstbeherrschung verliert. Dass später Engeltrut ihren – zunächst vorhandenen, wenn auch eingeschränkten – Subjektstatus verliert, ist für den Text nicht von vordergründigem Interesse. Grundsätzlich verweisen die in den Texten auftauchenden Probleme, die an das Geschlechterverhältnis gekoppelt sind, auf eine prinzipielle Differenz zwischen homosozialer und zwischengeschlechtlicher Minne: Freundschaft rekurriert auf unkomplizierte Nähe und Freiwilligkeit und wird um so mehr gesellschaftlich anerkannt und hochgeschätzt, als Gleichheit im Spiel ist. Geschlechterverhältnisse sind ungleich schwerer einzugehen, zumindest solche, die auf Dauer angelegt sind: Soziale Verbote und wechselseitiger Zwang binden zwischengeschlechtliche Beziehungen an drohende Strafe und Selbstverlust. Dieses negative Feld der Gefährdung wird durch die Freundschaft gewaltsam aufgelöst, da durch das manipulierte Gottesurteil die Bindung zwischen den Geschlechtern in die Legitimität überführt wird. Die relative Losgelöstheit der zwischengeschlechtlichen von der homosozialen Beziehung zeigt sich auch darin, dass der nicht involvierte Kamerad zum Zeitpunkt des Beginns der Liaison abwesend ist. Einzig in der Historia septem sapientum werden beide Beziehungstypen enger miteinander verknüpft. Zwischengeschlechtlichkeit wird durch die Männerallianz ermöglicht. Die Gefährten sind aufgrund verschiedener Differenzen sich selbst nicht mehr genug, andere Beziehungsformen werden zur Formierung von Identität benötigt. Damit weicht die Amici-Geschichte aber massiv von der ursprünglichen AmicusAmelius-Konstellation ab, in der die Gleichheit der Freunde unangefochten das zentrale Modell männlicher Identitätsformation bildet. Der Amicus-Amelius-Erzählraum eröffnet einen Blick darauf, wie als ursprünglich gedachte soziale Konstellationen, die an spezifische Begehrensformationen gekoppelt sind, in ihrer ständigen literarischen Umformung verändert werden. Obgleich die Frauenfiguren letztlich nicht mit der grundsätzlichen Homosozialität kompatibel sind, demonstrieren die _____________ 13
In den hagiographischen Texten, in denen Amelius die Prinzessin vergewaltigt, ist sein Subjektstatus nicht gefährdet.
Wirksamkeit einzelner Beziehungstypen
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Texte Integrationsversuche, etwa durch das Minnemodell, die den Frauenfiguren z.T. wichtige narrative und identitätskonstituierende Positionen zuweisen. Narrative Grundstruktur und handlungsdynamische Verknüpfungen in den Amicus-Amelius-Texten aber beruhen auf einem rein homosozialen Verständnis von Zuneigung, Zusammengehörigkeit und Macht: Im Amicus-Amelius-Entwurf von Homosozialität werden spiegelnde Gleichheit und wechselseitige Treue verabsolutiert und eine gemeinsame Identität der freiwillig Verbündeten zelebriert. Diese Form männlicher Identitätsbildung beruht auf einem Modell positiv gewerteter Unterschiedslosigkeit, das als idealtypisch markiert wird. Hinsichtlich der von Alois Hahn und Cornelia Bohn vorgenommenen Definition partizipativer Identität als Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe ist abschließend zu vermerken, dass in den Amicus-Amelius-Texten ein solches identitäres Modell dahingehend modifiziert wird, dass der Freundschaftsbund zwar eine Gemeinschaft darstellt, aber kaum als ‚Kollektiv‘ zu bezeichnen ist, da die Zahl der Gefährten auf zwei begrenzt ist. Diese kleinstmögliche Gruppe nur als Sonderform kollektiver Identität zu bestimmen, würde den Blick für die Eigentümlichkeit des Freundschaftsmodells verstellen: Die Amicus-Amelius-Freundschaft schreibt nicht nur die Teilnehmerzahl fest, sondern auch noch deren Eigenschaften, die auf Gleichheit und Ununterscheidbarkeit beruhen. Von Freundesidentität als partizipativer Identität ist insofern zu sprechen, als Identität tatsächlich über die Zugehörigkeit zum Freundespaar gestiftet wird; von anderen Zugehörigkeitsrelationen unterscheidet sich dieses Modell aber dadurch, dass sich eine absolute Aufeinanderbezogenheit der Gefährten in ihrer größtmöglichen Ähnlichkeit manifestiert. So wird eine Zusammengehörigkeit der Kameraden verdeutlicht, deren Ausmaß das aller anderen identitätsstiftenden Vergesellschaftungsformen übertrifft. Hahn / Bohn beschreiben zusätzlich ein zweites Modell mittelalterlicher Identitätsbildung: Neben dem Konzept partizipativer Identität existiert „eine völlig anders geartete ‚spirituelle‘ Selbstthematisierung, in der sich, zumindest vom Anspruch her, ein Individuum aus seiner Familie löst [...], um als Einzelner um sein Heil zu ringen.“14 Auf eine Vorstellung einer unsterblichen, unverwechselbaren Einzelperson als Seele vor Gott wird in den Amicus-Amelius-Texten punktuell angedeutet, gleichzeitig jedoch modifiziert: So erscheinen Amicus und Amelius am Schluss von Andreas Kurzmanns mittellanger Legendenfassung als von Christus gechront [...] in der englischen stat (Oettli 1986a, S. 175, V. 1157f.). Das Prinzip der Zweiheit gilt auch hier, um – wie der gemeinsame Tod und das Grabwunder – die Zusammengehörigkeit der Freunde endgültig zu bestätigen. _____________ 14
Hahn / Bohn 2002, S. 10.
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Konzeptionen von Liebe, Herrschaft und Heiligkeit
Der exklusive Zweierbezug verringert so zum einen die Kollektivitätskomponente partizipativer Identität und verdoppelt zum anderen die Vorstellung der unverwechselbaren Einzelperson. Die Freundschaft erscheint als spezifisches identitätsstiftendes Modell, das zwar in mittelalterlichen Denk- und Ordnungsstrukturen verankert ist, gleichzeitig aber ein abweichendes Modell gespiegelter Identität entwirft, das stets auf zwei Partizipierende rekurriert und damit Vorstellungen sowohl von kollektiver Identität als auch von Unverwechselbarkeit modifiziert.
2. Terminologische Implikationen: Liebe und Freundschaft Sind die einzelnen Beziehungsmodelle in den vorangehenden Kapiteln analysiert und hinsichtlich ihrer spezifischen Konstituenten untersucht worden, möchte ich abschließend auf die bereits ganz zu Anfang angedeutete Indifferenz der Amicus-Amelius-Texte hinsichtlich der Terminologie von Freundschaft und Liebe zurückkommen. Damit steht das Textkorpus in einer auch terminologischen Tradition, die sich über Aelreds von Rievaulx Amicitia spiritalis bis zu Ciceros Laelius de amicitia verfolgen lässt. In beiden Freundschaftstraktaten werden jeweils die grundsätzlichen Begriffe amor, amicitia und amicus etymologisch miteinander verknüpft. So meint Aelred Ab amore, ut mihi uidetur, amicus dicitur; ab amico amicitia,15 und greift damit Ciceros Diktum auf: amor enim, ex quo amicitia nominata est, princeps est ad benevolentiam coniungendam.16 Damit wird eine wesensmäßige Verbindung der Konzepte amor und amicitia markiert. Cicero führt aus: a natura mihi videtur potius quam ab indigentia orta amicitia, adplicatione magis animi cum quodam sensu amandi quam cogitatione, quantum illa res utilitatis esset habitura.17 Aelred bewertet die Freundschaft höher als die Liebe: Fons et origo amicitiae amor est, nam amor sine amicitia esse potest, amicitia sine amore numquam.18 Im Folgenden soll systematisiert werden, welche begrifflichen Zuordnungen die AmicusAmelius-Texte vornehmen. Dabei wird die Frage nach Zusammenhängen und Differenzierungen zwischen den jeweiligen Modellen aus dieser Sicht noch einmal in den Blick genommen. Zunächst werden alle untersuchten _____________ 15 16 17
18
Aelred von Rieval, Freundschaft, I. 19. „Ich halte dafür, amicus, der Freund, leitet sich her von amor, die Liebe. Von amicus der Freund wiederum amicitia die Freundschaft“ (S. 11). Cicero, Laelius, VIII, 26. „Die Liebe nämlich, amor, wovon das Wort ‚amicitia‘ abgeleitet ist, gibt den ersten Impuls, ein Band der Zuneigung zu knüpfen“ (S. 37). Cicero, Laelius, VIII, 27. „[I]ch glaube, daß die Freundschaft eher aus unserem ureigenen Wesen als aus einer Notlage entspringt, mehr durch die Verbindung, die sich zwischen Geist und einem gewissen Liebesempfinden vollzieht, als durch die Überlegung, wie groß der Vorteil sei, den Freundschaft bringen werde“ (S. 37/39). Aelred von Rieval, Freundschaft, III, 2. „Quelle und Ursprung der Freundschaft ist die Liebe, Liebe ohne Freundschaft kann es geben, Freundschaft ohne Liebe niemals“ (S. 55).
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Konzeptionen von Liebe, Herrschaft und Heiligkeit
Der exklusive Zweierbezug verringert so zum einen die Kollektivitätskomponente partizipativer Identität und verdoppelt zum anderen die Vorstellung der unverwechselbaren Einzelperson. Die Freundschaft erscheint als spezifisches identitätsstiftendes Modell, das zwar in mittelalterlichen Denk- und Ordnungsstrukturen verankert ist, gleichzeitig aber ein abweichendes Modell gespiegelter Identität entwirft, das stets auf zwei Partizipierende rekurriert und damit Vorstellungen sowohl von kollektiver Identität als auch von Unverwechselbarkeit modifiziert.
2. Terminologische Implikationen: Liebe und Freundschaft Sind die einzelnen Beziehungsmodelle in den vorangehenden Kapiteln analysiert und hinsichtlich ihrer spezifischen Konstituenten untersucht worden, möchte ich abschließend auf die bereits ganz zu Anfang angedeutete Indifferenz der Amicus-Amelius-Texte hinsichtlich der Terminologie von Freundschaft und Liebe zurückkommen. Damit steht das Textkorpus in einer auch terminologischen Tradition, die sich über Aelreds von Rievaulx Amicitia spiritalis bis zu Ciceros Laelius de amicitia verfolgen lässt. In beiden Freundschaftstraktaten werden jeweils die grundsätzlichen Begriffe amor, amicitia und amicus etymologisch miteinander verknüpft. So meint Aelred Ab amore, ut mihi uidetur, amicus dicitur; ab amico amicitia,15 und greift damit Ciceros Diktum auf: amor enim, ex quo amicitia nominata est, princeps est ad benevolentiam coniungendam.16 Damit wird eine wesensmäßige Verbindung der Konzepte amor und amicitia markiert. Cicero führt aus: a natura mihi videtur potius quam ab indigentia orta amicitia, adplicatione magis animi cum quodam sensu amandi quam cogitatione, quantum illa res utilitatis esset habitura.17 Aelred bewertet die Freundschaft höher als die Liebe: Fons et origo amicitiae amor est, nam amor sine amicitia esse potest, amicitia sine amore numquam.18 Im Folgenden soll systematisiert werden, welche begrifflichen Zuordnungen die AmicusAmelius-Texte vornehmen. Dabei wird die Frage nach Zusammenhängen und Differenzierungen zwischen den jeweiligen Modellen aus dieser Sicht noch einmal in den Blick genommen. Zunächst werden alle untersuchten _____________ 15 16 17
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Aelred von Rieval, Freundschaft, I. 19. „Ich halte dafür, amicus, der Freund, leitet sich her von amor, die Liebe. Von amicus der Freund wiederum amicitia die Freundschaft“ (S. 11). Cicero, Laelius, VIII, 26. „Die Liebe nämlich, amor, wovon das Wort ‚amicitia‘ abgeleitet ist, gibt den ersten Impuls, ein Band der Zuneigung zu knüpfen“ (S. 37). Cicero, Laelius, VIII, 27. „[I]ch glaube, daß die Freundschaft eher aus unserem ureigenen Wesen als aus einer Notlage entspringt, mehr durch die Verbindung, die sich zwischen Geist und einem gewissen Liebesempfinden vollzieht, als durch die Überlegung, wie groß der Vorteil sei, den Freundschaft bringen werde“ (S. 37/39). Aelred von Rieval, Freundschaft, III, 2. „Quelle und Ursprung der Freundschaft ist die Liebe, Liebe ohne Freundschaft kann es geben, Freundschaft ohne Liebe niemals“ (S. 55).
Terminologische Implikationen
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Bindungsformen betrachtet, die Untersuchung dann aber auf einen Vergleich zwischen Kriegerfreundschaft und zwischengeschlechtlicher Liebe hin perspektiviert, da die Überschneidungen der Wortregister hier besonders frappant sind. Verschiedene Studien haben beschrieben, dass das mittelalterliche Vergesellschaftungssystem für verwandtschaftliche, freundschaftliche und feudaladlige Beziehungen keine klar voneinander getrennten Vokabulare aufweist. Alle drei Bündnisformen verfügen über unspezifische Begriffe, wie die Bezeichnungen vriunt oder ami zeigen, die für alle Allianzen gelten.19 Manuel Braun hat für das mhd. vriunt „eine Grundbedeutung ‚nahestehende Person‘“20 veranschlagt, bei der die Bedeutungen ‚Verwandter‘ und ‚Freund‘ verschwimmen und ineinander übergehen können.21 Das „geringe Bedürfnis nach Präzision“22 von sozialen Relationen hat Dorothea Kullmann für die chansons de geste beschrieben: „In allen Fällen geht es nur darum, das gesamte Spektrum von Personen abzudecken, die einem nahestehen und Unterstützung gewähren könnten, nicht darum, verschiedene Kategorien von Helfern voneinander abzugrenzen.“23 Die Funktion der Hilfeleistung bedingt demnach eine „Unschärfe der Terminologie“.24 Huguette Legros, die sich ebenfalls mit den chansons de geste beschäftigt, betont, dass mit der Verwendung der Wörter amistié,25 amour und ami gleichzeitig „un sens juridique et un sens affectif“26 transportiert wird. Dass diese Begriffe später auch für zwischengeschlechtliche Beziehungen benutzt werden können, sieht sie mit dem Verfall der ursprünglichen, homosozialen Allianzstrukturen begründet. Durch den zunehmenden Verlust des rechtlichen Wortsinns verengte sich die Bedeutung auf eine rein affektive Dimension, so dass nun auch Geschlechterverhältnisse an diesen Begrifflichkeiten partizipieren konnten.27 Innerhalb des Amicus-Amelius-Korpus folgen die erste Textgruppe und die Grenzfall-Texte (Gruppe 3) durchgängig diesen begrifflichen Konventionen. Da die Kriegerfreundschaft als zentrales Modell gilt, kristallisiert _____________ 19 20 21 22 23 24 25
26 27
Vgl. nur Bloch 1989 und Nolte 1990. Braun 2006, S. 72. Vgl. Braun 2001, S. 285-344, zur Analyse von Freundschaft – auch in Zusammenhang mit Verwandtschaftsterminologie – im frühneuhochdeutschen Prosaroman. Kullmann 1992, S. 7. Kullmann 1992, S. 8. Kullmann 1992, S. 9. Kullmann geht davon aus, dass Verwandtschaft und Feudalbeziehungen die grundlegenden mittelalterlichen Beziehungstypen sind; vgl. ebd., S. 13. Für diesen Terminus macht Legros als früheste Bedeutung in den ältesten chansons de geste ausschließlich einen Vertragscharakter geltend. Vgl. Legros 1980, S. 132, und Legros 1988, S. 115. Legros 1980, S. 132. Vgl. Legros 1980, S. 134f.
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sich vor allem in der zweiten Textgruppe eine spezifische Verwendung des Begriffsinventars heraus, das den Sonderstatus des Freundesbundes herausstellt. Schon im Blick auf die Narration privilegieren die legendenhaften Texte (Gruppe 2) das Freundschaftsmodell massiv, alle anderen sozialen Bündnisse werden quasi ausgeschlossen. Sowohl das Verhältnis der Freunde zum Herrscher als auch das zu seiner Tochter wird – im Vergleich mit der ersten Gruppe und den Grenzfall-Texten – stark zugunsten der Freundschaft zurückgenommen. Einzig Amicus’ Herkunft bzw. seinem Erbland werden in der zweiten Textgruppe neben dem Männerbund noch zusätzliche Bedeutung zugeschrieben. Gleichwohl kommt – im Gesamtkontext der Erzählung – allein der Freundschaft identitätsstiftende Wirkung in jeglicher Hinsicht zu. Die Verabsolutierung der Freundschaft spiegelt sich auch in den terminologischen Besonderheiten dieser Textgruppe wider. Die Freundschaft wird nicht nur über die verschiedenen Formen der Gleichheit und über das damit verbundene Handlungsmodell der Prüfungen beschrieben. An dieses Modell sind zudem in besonderem Maße Zuneigung und Zusammengehörigkeit gekoppelt, die auch über die Begrifflichkeit transportiert werden. Von allen sozialen Relationen wird einzig der Freundesbund mit spezifischen Begriffen bezeichnet: mlat. societas, amicitia, familiaritas und fedus amoris, mfrz. société, amistié, compaignie und amour, mhd./fnhd. früntschaft, geselleschaft, kumpanige, liebe, mndl. vriendscap und me. felaschup, trew luff. Dementsprechend werden die Freunde nicht nur hinsichtlich ihres adligen Ranges, sondern auch als Zugehörige zu dieser Allianz bezeichnet: mlat. socius, sodalis, amicus, aber auch frater, mfrz. compaing, compaignon, ami, auch frere, mhd./fnhd. geselle, friunt, liep, kumpan, aber auch mnd. brôder, mndl. geselle, vrient und compaen, me. frend, felow und auch brother und anord. félagi. Es wird deutlich, dass sich das Freundschaftsvokabular mit einer Bruderterminologie überschneiden kann: Einige Texte verdeutlichen so eine Vorstellung von Freundschaft, die auch als artifizielles oder „fiktives Bruderverhältnis“28 zu begreifen ist. In der mittelenglischen romance dominiert in der gegenseitigen Anrede der Freunde brother. Auch in der anglonormannischen Verserzählung wird das Wort frere gebraucht. Manuel Braun hat für deutschsprachige Texte beschrieben, dass in der Figurenrede „‚Bruder‘ metaphorisch in einer Sprache der Freundschaft gebraucht werden kann“.29 Für die chanson de geste Ami et Amile hat Huguette Legros dar_____________ 28 29
Kullmann 1992, S. 12. Sie bezieht sich auf die Annäherung von Bruderverhältnis und compagnonnage. Braun 2006, S. 69. Er analysiert in seinem Aufsatz Etymologie und Bedeutungsverschiebungen von ‚Bruder‘ und ‚Freund‘. Braun lokalisiert den metaphorischen Gebrauch des Wortes ‚Bruder‘ zunächst in der Sphäre des religiösen Sprachgebrauchs und setzt den „Durchbruch der ‚Bruder‘-Anrede unter Freunden“ (S. 69) erst im Prosaroman der Frühen
Terminologische Implikationen
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auf hingewiesen, dass für die Bezeichnung der Freunde die Worte compain / compaingnon überwiegen30 und dass hier nur zweimal das Wort frere (in der Anrede) gebraucht werde.31 Dies geschieht, nachdem der Engel Ami das Blut als Heilmittel für den Aussatz offenbart hat. Legros interpretiert das Wort frere als Verweis auf die durch das Kinderblut gestiftete Blutsbruderschaft.32 In Hermann Korners Fassung der Amicus-Amelius-Geschichte werden die beiden Gefährten im ersten Teil, nachdem sie sich êwighe trûwe und vrunschop (Pfeiffer 1864, S. 262, Z. 6) geschworen haben, stets mit brôder bezeichnet, danach (mit dem Ausbruch des Aussatzes) aber durchgängig als vrunt/d. Hier verschwimmt die Terminologie nicht nur auf der Ebene der Figurenrede, sondern auch auf der der Narration. Der verwandtschaftliche Horizont, in den die Amicus-Amelius-Freundschaft spätestens mit dem Blutopfer eingebettet wird, scheint somit in einigen Texten schon vor dieser Episode auf. Nicht zuletzt die Namen der Gefährten (Amicus, Ami) verorten sie ausdrücklich im Freundschaftssystem, das so als wesensmäßiges Zentrum der Protagonisten erscheint. Zu diesem semantischen Feld gehören auch die Verben, die den gegenseitigen Umgang der Freunde miteinander oder bestimmte emotionale Zustände beschreiben: mlat. coniugere unamini concordia et dilectione, mfrz. amer, fnhd. holt sein, jn ganczer lieb an[sehen]. Andreas Kurzmann benutzt zusätzlich mehrfach die Adverbien liepleich (z.B. Oettli 1986a, S. 156, V. 312; S. 160, V. 491) und frewntleich (S. 156, V. 314), die den Gegensatz zu veintleich (S. 156, V. 306) bilden. Die elaborierten Texte der zweiten Gruppe überhöhen diese terminologische Exklusivität der Freundschaft, von der die anderen Bindungen nahezu ausgeschlossen sind, indem der Freundesbegriff explizit auf eine christlich-religiöse Ebene überführt wird. Im nächtlichen Gespräch des aussätzigen Amicus mit dem Erzengel Raphael antwortet jener auf die Frage, ob er schlafe: Je ne dor pas, bea chiers compains (Moland / D’Héricualt 1856, S. 65).33 Diese Antwort beruht offenkundig auf einer Verwechslung, da Amicus glaubt, sein Gefährte Amelius, bei dem er schläft, habe ihn angesprochen. Der Engel aber deutet den Freundesbegriff religiös aus: Tu es bien respondu, quar tu es compains des celestiaus citieins, tu es ensegu Job et Thobie _____________ 30 31 32
33
Neuzeit an. Siehe zum unfesten Freundschafts- und Verwandtschaftswortschatz auch Braun 2001. Vgl. Legros 1988, S. 116, und Legros 2001, S. 49f. Vgl. Dembowski 1987, V. 2823 und V. 2826. Vgl. Legros 2001, S. 44. Sie geht ferner davon aus, dass das epische Freundschaftskonzept an dieser Stelle in ein spirituelles Freundschaftsmodell überführt werde, indem mit der Thematik des Aussatzes und des Kindesopfers eine neue, religiöse Dimension der Freundschaft entfaltet werde. Vgl. Legros 1988, S. 121-128, und Legros 2001, S. 156-158 und S. 369-389. „Ich schlafe nicht, schöner, teurer Freund.“
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per patience (S. 65).34 Indem die Terminologie der Freundschaft in diesem Sprechakt aufgegriffen und neu ausgedeutet wird, wird der Freundesbund der Sphäre der Heiligkeit angenähert. Amicus’ Verwechslung des Engels mit Amelius rekurriert zudem auf den vorangegangenen Identitätentausch der Freunde: Die Identitätenverwirrung beim Zweikampf wird aus einem rechtlich fragwürdigen in einen angelischen Kontext transferiert. Die am Ende der Texte mit dem Grabeswunder schließlich stattfindende ‚Verheiligung‘ der Freunde scheint hier bereits auf und benennt heiligmäßige Verhaltensweisen und ‚Engelhaftigkeit‘ der Kameraden. Durch die begriffliche Verknüpfung von Freundschaft und Heiligmäßigkeit an dieser Stelle wird der Männerbund erneut christlich determiniert und durch die postulierte religiöse Vorbildlichkeit noch strenger von den anderen Vergesellschaftungsformen abgegrenzt.35 Begriffssysteme wie das der Freundschaft existieren in der zweiten Textgruppe für die anderen Beziehungsformen nicht. Die Zuneigung des Hofes zu den Freunden wird zwar mit ähnlichen Worten charakterisiert: ab omnibus dilectos et ab omnibus honoratos (elaborierte Vita, Kölbing 1884, S. ci, Z. 9f.)36 und gemynt (Berlin, Mgq 261, Oettli 1986a, S. 180, Z. 95) werden die Kameraden von der Hofgesellschaft, doch wird dies – mit Ausnahme von Karls Wohlgesinntheit den Kameraden gegenüber – nicht weiter ausgeführt. Über Verwandtschaft wird gänzlich ohne derartige Begrifflichkeiten gesprochen. Auch hinsichtlich des Geschlechterverhältnisses weisen die elaborierten Fassungen keinerlei Terminologie auf, die auf ein enges Verhältnis schließen ließe; nach der Hochzeit wird Amicus’ Gattin als uxor oder coniux bezeichnet. Im Grunde aber sind es Amicus und Amelius, die Gott in vita coniunxit, ita et in morte eos separari noluit (elaborierte Vita, Kölbing 1884, S. cix, Z. 25),37 wie der Text gegen Ende betont. Von den mittellangen Bearbeitungen dieser Textgruppe ist die von Andreas Kurzmann hervorzuheben: Das Wort liepleich erscheint nicht nur im Kontext der Freundschaft, sondern auch zur Kennzeichnung des Verhaltens von Amicus’ Frau gegenüber Amelius, den sie für ihren Mann hält (Oettli 1986a, S. 160, V. 518). Aber auch Amelius’ Gattin empfängt den aussätzigen Amicus liepleich (S. 168, V. 832); liepleich (S. 168, V. 837) speist ihn das Grafenpaar; liepleich (S. 166, V. 748) wurde Amicus auch schon vom Papst empfangen. Jeglicher friedlicher, wohlmeinender Umgang kann _____________ 34 35 36 37
„Du hast gut geantwortet, denn du bist der Freund der Himmelsbewohner, du sitzt neben Hiob und Tobias wegen deiner Geduld.“ Für die lateinische Fassung vgl. Kölbing 1884, S. cv, Z. 17-30, und für die kymrische vgl. Williams 1982, Z. 519-528, und die Übersetzung von Gaidoz 1879/80, S. 228/229. „von allen geliebt und von allen geehrt“ „im Leben [vereinte], und ebenso wollte Er sie im Tod nicht trennen“ (nach Kuefler 2000, S. 456)
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mit diesem Wort beschrieben werden und ist in diesem Text nicht auf die Freundschaft beschränkt. Die Vokabeln, die den Verkehr zwischen Amicus und der Prinzessin beschreiben, sind indes ganz anderer Art: mit ganczer gir an[sehen] (S. 157, V. 384), spil (V. 386) und vncheusch (S. 158, V. 425). Immerhin spricht Amicus seine Frau später mit liebs weib (S. 171, V. 952) an. In den Seelentrost-Texten verbinden Amicus und die Prinzessin liep und gewalt. Das lateinische Exempel nennt die illegitime Vereinigung familiaritas (vgl. Klapper 1914, S. 339, Z. 33) und benutzt damit das gleiche Wort wie die elaborierte lateinische Fassung für den vertrauten Umgang der Freunde miteinander. Insgesamt ist in dieser Textgruppe eine starke Diskrepanz zwischen den verschiedenen Verhältnissen hinsichtlich des verwendeten Vokabulars zu verzeichnen: Die fast vollständige Absenz einer der Freundschaft parallelen (oder gleichen) Begrifflichkeit für die anderen Sozialbindungen verweist auf die nur untergeordnete Signifikanz der anderen Beziehungen als emotionale Allianz und damit für die Identitätsbildung der Protagonisten. Andreas Kurzmann, der eine der Freundschaft analoge Umgangsweise auch für andere Bindungen einräumt, schließt das voreheliche Geschlechterverhältnis aus diesem Komplex aus. Der grundsätzliche Vorrang des freundschaftlichen Männerbundes zeigt sich somit auch darin, dass eine spezifische Freundschaftsterminologie existiert, die in den Texten in eine christlich-religiöse Bedeutungsdimension gestellt wird. Stets ist die Freundschaft an die gegenseitige Treue gekoppelt: mlat. fides, mfrz. foi, mhd. triuwe, me. faith & gude treuth und anord. trú bezeichnen alle neben wechselseitiger Treue und Verbundenheit der Gefährten den christlichen Glauben. Über diese terminologische Verknüpfung wird die Freundschaft in ein religiöses Deutungssystem eingebunden. Alle anderen Bindungen aber werden mehr oder weniger ausgeschlossen. Das ausschließliche Interesse der zweiten Textgruppe an der Freundschaft kann als ein Konstituens dieser Gruppe gelten. Wie im Laufe meiner Untersuchung bereits deutlich geworden ist, trifft dies nicht für die erste Textgruppe und die Grenzfall-Texte zu. In den einzelnen Bearbeitungen werden jeweils eine oder mehrere weitere Bindungsformen schärfer konturiert, so dass die Berücksichtigung anderer sozialer Beziehungen neben der Freundschaft als ein konstitutives Merkmal dieser beiden Textgruppen bestimmt werden kann. Hinsichtlich der Verwendung einer spezifischen Terminologie gibt es Divergenzen: Radulfus Tortarius unterscheidet begrifflich nicht streng zwischen den einzelnen Bindungsarten, da er zwar amicicia (vgl. Ogle / Schullian 1933, V. 134; V. 318), sotius (V. 279) und fidus Amicus (V. 159) exklusiv dem Freundesbund vorbehält, zusätzlich aber von amor (V. 307) spricht. Auch Beliardis wird von amor (V. 143, V. 145) erfasst, worauf sich die Schilderung des
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Liebeswahns anschließt. Das Herrscherpaar liebt die Gefährten (diligerent, V. 140).38 In der mittelenglischen romance wird das Verb loved sowohl für die freundschaftliche Verbindung (vgl. Le Saux 1993, st. 12, V. 7f.) als auch für die zwischen Herrscher und Freunden (st. 15, V. 1) benutzt. Das Substantiv love erscheint sowohl bezüglich der Freundschaft (st. 12, V. 11) als auch mit einiger Häufigkeit im Geschlechterverhältnis, allerdings nur von Seiten Belisaunts (z.B. st. 40, V. 2; st. 47, V. 8; st. 51, V. 5). Die Gefährten bezeichnen sich meist als brother (z.B. st. 21, V. 11; st. 166, V. 4), seltener werden sie frende (st. 2, V. 5) genannt; der Graf redet Amys mit frend (st. 22, V. 4) an. Gegenseitiges Schwören einer Treuebindung (trowth plyght, st. 2, V. 8; st. 54, V. 4; V. 8) findet sowohl in homosozialen Allianzen als auch in der zwischengeschlechtlichen Bindung statt. Da in dieser Beziehung der Schwur wie das Verhältnis erzwungen werden, wird die zwischengeschlechtliche Relation aber implizit abgewertet. Ausschließlich für das Geschlechterverhältnis scheint das Wort lemman, ‚Geliebte(r)‘ (st. 47, V. 10; st. 191, V. 2) reserviert zu sein, wobei es sowohl von Belisaunt gebraucht wird, um die erwünschte Beziehung zu Amys zu bezeichnen, als auch nach der Heirat von Amys, als er seine Gattin anspricht. Ähnliches stimmt für die anglonormannische Verserzählung: amur und amer werden für die Freundschaft (z.B. Fukui 1990, V. 1; V. 135; V. 958), die zwischengeschlechtliche Liebe (V. 230; V. 263) und die herrschaftliche Bindung (V. 33; V. 101) in Anspruch genommen. Sowohl freundschaftlich als auch zwischengeschlechtlich sind amy (V. 68) bzw. amye (V. 280) verwendbar. Nur für den Freundesbund gelten frere (z.B. V. 433; V. 992) und compaignon (z.B. V. 69; V. 468) bzw. compaignie (V. 1236). Auch für die Geschlechterrelation existiert ein exklusiver Begriff: dru (V. 302; V. 737) bezieht sich offenbar explizit auf Personen, die an einem intimen, zwischengeschlechtlichen Umgang partizipieren.39 In Lille 130 gilt für alle drei Bindungsformen das Verb amer (Woledge 1939, S. 452f.). Dementsprechend findet sich auch ami/e (S. 453f.) sowohl für die Freundschaft als auch für zwischengeschlechtliche Liebe. Für den Freund findet sich zusätzlich compaingnon (S. 453). Ausschließlich weibliches Begehren, das sich auf einen der Freunde richtet, wird durch das Verb couvoiter40 (S. 452f.) bezeichnet. In der Historia septem sapientum lässt sich ein ähnlicher Umgang mit dem Vokabular beobachten: In der Innsbrucker Hs. etwa werden das Substantiv amor und das Verb diligere sowohl für die gleichgeschlechtliche _____________ 38 39 40
Vgl. zur Synonymie lateinischer Termini für personale Bindungen auch van Eickels 2007, S. 24f. Vgl. zu drüerie und dru auch Baldwin 1994, S. 70. Entsprechend heißt der intime zwischengeschlechtliche Umgang in der anglonormannischen Verserzählung la covine (Fukui 1990, V. 327).
Terminologische Implikationen
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(Roth 2004, S. 436, Z. 117; S. 460, Z. 414) als auch für die zwischengeschlechtliche Beziehung (S. 437, Z. 125; S. 441, Z. 178)41 herangezogen. Auch Gottes Liebe ist amor (S. 457, Z. 374). Ausschließlich im Kontext der Männerfreundschaft erscheinen socius (S. 440, Z. 174) und frater (S. 461, Z. 423).42 Im Engelhard tritt durch den umfänglichen Gebrauch von Beziehungs- und Liebesvokabular stärker als in den anderen Texten hervor, dass es sowohl terminologische Überschneidungen zwischen den einzelnen Bindungen gibt, einige Vokabeln aber auch für spezifische Beziehungen reserviert sind. Dies trifft insbesondere für gleich- und zwischengeschlechtliche Minne zu: minne, trûtgeselle und friunt werden unspezifisch gebraucht.43 Allerdings fällt auf, dass das Substantiv geselleschaft, das stets im Kontext der gleichgeschlechtlichen Beziehung steht, als Bezeichnung für die Männerbindung dominiert, während minne viel seltener erscheint. Auch trûtgeselleschaft ist zu finden.44 Als minne dagegen wird das Verhältnis von Engeltrut und Engelhard am häufigsten bezeichnet, seltener ist bei ihnen von friuntschaft die Rede, gelegentlich von trûtschaft, nie aber von geselleschaft.45 Dagegen sprechen sich Engelhard und Dietrich zwar zuweilen als herzefriunt (Reiffenstein 1982, V. 4318) (meist aber als geselle) an, allerdings scheint friuntschaft kein Terminus zu sein, der ihre Bindung beschreibt. Neben den Überschneidungen gibt es mithin begriffliche Trennungen und Präferenzen, die die beiden Beziehungstypen voneinander abgrenzen. Dass die Freundschaft nicht friuntschaft genannt wird, wohl aber die zwischengeschlechtliche Liebe, beleuchtet eine terminologische Praxis, die minne und friuntschaft sowie minne und geselleschaft zusammendenkt, friuntschaft und geselleschaft aber zu trennen scheint. Minne erscheint dabei meist in einem Kontext, der mit leit und Komplikationen _____________ 41
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Vgl. auch das signum dileccionis (Roth 2004, S. 454f., Z. 347f.), „das Zeichen der Liebe“, das seine Frau von Alexander fordert, und den Umstand, dass Alexanders Frau einen Ritter dilexit amore inordinato (S. 455, Z. 355), ihn also „mit unordentlicher Liebe liebte“. Ähnliches gilt mit einigen Abweichungen für die anderen Bearbeitungen. In Hans von Bühels Fassung etwa gibt es auch ein exklusives Wort innerhalb des Geschlechterverhältnisses: Florentina wird von Lodovicus als bůle (Keller 1841, V. 8132) angesprochen. Vgl. Reiffenstein 1982 für minne (gleichgeschlechtlich: V. 807; zwischengeschlechtlich: V. 1919), herzetrût geselle (gleichgeschlechtlich: V. 1489, zwischengeschlechtlich: V. 2347), friunt (zwischengeschlechtlich: V. 2375, gleichgeschlechtlich: V. 5658). Im Druck aus dem späten 16. Jahrhundert findet sich Liebe statt des – rekonstruierten – Terminus minne; vgl. etwa Steinhoff 1987, S. 42*, Sp. 1, und S. 85*, Sp. 2, zu den analogen Stellen. Bei den anderen angeführten Begriffen sind es jeweils die entsprechenden frühneuhochdeutschen Vokabeln Gesellschaft, Trauwt / Draut Geselle, Freund, Freundtschafft. Vgl. vor allem Reiffenstein 1982 V. 1-851, V. 1254-1695 und V. 4122-4584, in denen es vorrangig um die Männerfreundschaft geht. Vgl. für geselleschaft nur V. 787, V. 4340, für geselle V. 683, V. 4234, für trûtgeselleschaft V. 1433. Vgl. Reiffenstein 1982 für friuntschaft V. 1246, V. 2931, V. 3714; für trûtschaft V. 2402.
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Konzeptionen von Liebe, Herrschaft und Heiligkeit
verknüpft ist,46 während geselleschaft die unverbrüchliche Treuebindung benennt.47 Selten wird brüederlîche zur näheren Kennzeichnung der Beziehung zwischen Engelhard und Dietrich verwendet (V. 541; V. 685). Eingebettet in diesen Gebrauch ist indes die explizite Verneinung einer etwaigen tatsächlichen Verwandtschaft.48 Ein herzetrût gemahele (V. 3592) ist nur Engeltrut, und zwar nach vollzogenem Geschlechtsverkehr im Baumgarten. Engelhard greift auf das Wort friedel (V. 3869) zurück, um seine heimliche Bindung an Engeltrut öffentlich zu beschreiben, wobei er vorgibt, dass eine solche Bindung gerade nicht vorliegt. Das Verb minnen wird auch benutzt, um Einstellung und Umgangsmodus des Hofes (vgl. V. 1651) und König Fruotes (vgl. V. 3557) gegenüber den Gefährten zu charakterisieren. Nicht zu vergessen ist allerdings gerade bei einer solchen terminologischen Analyse, dass der Druck aus dem späten 16. Jahrhundert der eigentliche Textzeuge ist. Die Zuordnung von Begrifflichkeiten und Beziehungsmodellen im rekonstruierten mittelhochdeutschen Engelhard könnte eine spezifisch frühneuhochdeutsche Konstellation reproduzieren. Die zu den Grenzfall-Texten gehörende chanson de geste bedient sich des umfangreichen Wortfeldes um amor (amer, ami/e), um sämtliche Beziehungsformen zu bezeichnen (z.B. Dembowski 1987, V. 917, V. 566 und V. 526). Auffällig ist, dass hier der verwandtschaftliche Kontext nicht – wie in den anderen Texten – ausgespart wird (vgl. V. 2243, V. 2919). Desirrer erscheint unspezifisch für die Kriegerfreundschaft und die zwischengeschlechtliche Beziehung (z.B. V. 120; V. 688). Das Wort frere und sogar compaingnie tauchen außer im Freundesbund (z.B. V. 200; V. 2823) auch im zwischengeschlechtlichen Verhältnis (V. 1176; V. 3433) auf. Frere kann hier schließlich sogar den tatsächlichen Bruder (V. 2525) bezeichnen, aber auch als Anredeform für den Pilger (V. 91) gebraucht werden. Compain (z.B. V. 192) und compaingnon (z.B. V. 16) scheinen exklusiv innerhalb der freundschaftlichen Bindung benutzt zu werden,49 dru/e (V. 700; V. 1163) dagegen nur in der zwischengeschlechtlichen. Das Wort amistié wird hier vornehmlich zur Bezeichnung von Bindungen außerhalb des Freundesbundes herangezogen: So kann sie die geschworene Treue in der Lehnsbindung (V. 2208) wie die Zuneigung der Vasallen zum Herren (V. 2220) _____________ 46 47
48 49
Vgl. etwa zur gleichgeschlechtlichen minne V. 805-816, wo sterbens nôt (V. 809) und leit (V. 813) antizipiert werden, und zur zwischengeschlechtlichen minne etwa V. 1696-2409, wo Minne als Minnekrankheit, als trûren unde sendez leit (V. 1742) erscheint. Siehe auch V. 5656-5662, in denen Dietrich viele Termini zusammenstellt, um seine Beziehung zu Engelhard zu beschreiben: ich / mit triuwen sîn geselle was / und zeime friunde in ûz erlas / mit herzen und mit muote. / vor lîbe und vor dem guote / hân ich in geminnet ie. / geselleschaft bôt ich im hie […]. Vgl. Reiffenstein 1982, V. 680-685. Dies stimmt mit den Ergebnissen von Legros 1980 überein, die die französische Literatur insgesamt betrachtet.
Terminologische Implikationen
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bezeichnen. Die höfische Begrüßung zwischen Belissant und Lubias wird mit dem gleichen Terminus belegt (V. 1996), hier allerdings mit dem Hinweis, dass diese amistié schon bald zerstört sein würde. Für das Miracle gilt hinsichtlich amour, aimer und ami/e Ähnliches. Hinzu kommen die sowohl für die Freundschaft als auch für das Geschlechterverhältnis benutzten Wendungen, in denen mon desir et mon cuer (vgl. Paris / Robert 1879, V. 16f.; V. 641)50 und mon cuer et m’amour (V. 90; V. 548)51 kombiniert werden, um Tiefe und Stärke des Zusammengehörigkeitsgefühls in beiden Beziehungen zu unterstreichen. Da die zwischengeschlechtliche Liebe nur in eine Richtung – von der Prinzessin zu Amille – verläuft, die Freundschaft aber gegenseitig ist, ist jener wiederum weniger Signifikanz zuzusprechen. Nicht zu vernachlässigen ist auch in diesen Textgruppen das Konzept der triuwe, dem eine herausragende Bedeutung im freundschaftlichen Männerbündnis zukommt und mit dem letztlich alle – auch die rechtlich und moralisch zweifelhaften – Handlungen legitimiert werden. In der zweiten Textgruppe, die ein christlich-religiöses Deutungsmuster favorisiert, ist die Treuebindung exklusiv der Freundschaft vorbehalten. Dass die Gefährten auch dem Herrscher durch ähnliche Pflichten verbunden sein müssten, thematisiert diese Gruppe nicht. Die Bearbeitungen, die zur ersten Textgruppe gehören, und die Grenzfall-Texte kontrastieren diese Konstellation, indem auch andere soziale Bindungen an Treue geknüpft werden können. Die Bindung an den Herrscher verbleibt meist in einem Vakuum theoretischer Treuepflicht, die durch die Kameraden ignoriert wird. Nur in der mittelenglischen romance und in der anglonormannischen Verserzählung, verkürzt auch in Lille 130, wird dieses Bündnis expliziert und hinsichtlich seiner dilemmatischen Effekte für die Freunde beleuchtet. Der erste der drei Texte entwirft zusätzlich die zwischengeschlechtliche Beziehung als Treueverhältnis: In der mittelenglischen romance nötigt Belisaunt Amys, ein Treuegelöbnis abzulegen. Da dieses Treueversprechen aber erzwungen ist, fehlt ihm die vorbildliche Freiwilligkeit, die ein wichtiges Kennzeichen der Freundschaft ist. Die geschworene Treuebeziehung ist gleichwohl gültig, muss aber durch die forcierte Entstehung in ihrer positiven Bewertung hinter den Freundesbund und das herrschaftliche Bündnis zurückfallen. Neben diesem Text spricht auch der Engelhard von zwischengeschlechtlicher triuwe (vgl. Reiffenstein 1982, V. 2303; V. 2910). Dies korreliert mit der identitätsstiftenden Signifikanz des Geschlechterverhältnisses in Konrads Text. Allerdings nimmt zwischengeschlechtliche triuwe im quantitativen Vergleich mit der Erwähnung der _____________ 50 51
„mein Begehren und mein Herz“ „mein Herz und meine Liebe“
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Konzeptionen von Liebe, Herrschaft und Heiligkeit
zwischenmännlichen triuwe der Freunde nur einen Bruchteil dieser ein. Alle anderen Texte konzipieren die zwischengeschlechtliche Beziehung nicht explizit als Treuebindung. Während in der zweiten Textgruppe die Strategie vorherrscht, allein die Freundschaft mit einem spezifischen Vokabular zu beschreiben und den anderen Bindungen ein solches weitgehend vorzuenthalten, wählen die anderen beiden Textgruppen also eine andere Vorgehensweise. Ihrem Interesse an weiteren Beziehungsformen entspricht, dass sie teilweise die Terminologie vom Freundesbund auf andere soziale Verhältnisse ausweiten. Verwandtschaft hat nur zuweilen an der Begrifflichkeit von Liebe und Freundschaft teil. So wird etwa in der chanson de geste52, im Engelhard 53 und im Fragment II der Eichstätter Hs., das zu den elaborierten hagiographischen Texten gehört,54 das verwandtschaftliche Verhältnis in Zusammenhang mit dem Terminus ‚Liebe‘ gebracht.55 Herrschaftliche und zwischengeschlechtliche Beziehungen können über ein Begriffssystem beschrieben werden, das sich mit dem der Freundschaft überschneidet, wodurch die emotionale wie identitätsstiftende Bedeutung dieser Bindungsformen – im Gegensatz zur hagiographischen Textgruppe – deutlich erhöht wird. In mehreren Texten stimmt dies indes nur für die eine Seite: Oft richtet die Prinzessin ihre Liebe auf einen der Freunde, ohne dass von Freundesseite etwas Gleichartiges zurückkäme. Zwischengeschlechtliches Begehren stiftet hier weibliche Identität; für die männliche Freundesidentität bleibt es irrelevant bzw. wirkt es bedrohlich. Nicht zuletzt die unterschiedliche Verknüpfung der einzelnen Beziehungen mit dem Treuekonzept rekurriert auf ihre variierenden Wertigkeiten. Gleichwohl verweisen die übereinstimmenden Begrifflichkeiten auf eine Analogie der Bündnisse: Emotionale Involviertheit und ihre körperlichen Manifestationen, das Begehren nach Nähe sowie bestimmte Handlungsmuster, die diese Zusammengehörigkeit herbeiführen und vollziehen, entsprechen einander zu beträchtlichen Teilen, auch wenn sie in den einzelnen Texten ungleichmäßig verteilt sind. Da in den meisten Bearbeitungen der ersten Textgruppe und in den Grenzfall-Texte neben der Freundschaft vorwiegend das Geschlechterverhältnis ausformuliert wird, werden die Korrespondenzen zur Freundschaft hier besonders deutlich. Auch wenn in einigen Texten einer der Gefährten quasi unwillentlich ein zwi_____________ 52
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Vgl. Dembowski 1987, V. 2910, V. 3219. Vgl. auch das Verhaltensmuster von baisier et acoler („küssen und umarmen“, V. 2806, V. 3417), mit dem Amile seinen Söhnen und Girart seinem Vater Ami entgegentritt. Vgl. Reiffenstein 1982, V. 6185, V. 6363 und V. 6420. Vgl. Rosenfeld 1968, S. 50, V. 25f. Fast alle Texte entwerfen trotzdem ein Verbundenheitsgefühl, wenn einer der Freunde seine Kinder töten muss.
Terminologische Implikationen
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schengeschlechtliches Verhältnis eingeht, werden spezifische Handlungen vollzogen, die offenbar zur Konstituierung einer solchen Beziehung erforderlich sind und so Aufschluss über die Organisation enger Bindungen geben. In der Forschung ist bereits mehrfach auf die grundsätzliche Indifferenz mittelalterlicher Texte hinsichtlich der terminologischen Codierungen von Beziehungstypen hingewiesen worden. Ute von Bloh schreibt zu Konrads Engelhard: Weder ist demnach der Liebreiz und die Vornehmheit einer Person geschlechtsspezifisch, die sie für die höfische Liebe und Freundschafft prädisponieren, noch sind Liebe und Freundschafft als zwei unterschiedliche Typen einer Bindung aufgefaßt, wenn der Freundschaft Liebe eignet wie umgekehrt die Liebe einer freundschaftlichen Bindung gleichgesetzt ist.56
Die begriffliche Indifferenz wird in der Forschung sehr unterschiedlich bewertet. So geht etwa Georges Duby von der Existenz „des échanges amoureux entre guerriers“57 aus, allerdings ohne zu spezifizieren, was genau damit gemeint ist. Yannick Carré betont nicht nur, dass in den chansons de geste „le monde masculin possède presque toujours l’exclusivité de l’amour.“58 Er unterstreicht auch: „[I]l s’agit véritablement d’amour, une forme d’amour particulière à la civilisation médiévale, tout comme les gestes qui la manifestent“.59 Die Möglichkeit körperlicher Intimität will er aber zu Recht nicht an ein modernes Konzept von Homosexualität geknüpft wissen.60 Richard M. Zeikowitz geht für die mittelenglische romance Amys and Amylion explizit von „eroticism or passion underlying the relationship“61 aus und verortet den Entwurf dieses Textes innerhalb eines „late medieval normative homoerotic desire“,62 also innerhalb eines normativen kulturellen Codes, der zwischenmännliches Begehren begünstigt und an dem verschiedene Diskurse partizipieren. Auf der anderen Seite werden weiterreichende Zusammenhänge zwischen den Beziehungsmodellen, die sich aus der begrifflichen Ähnlichkeit ergeben könnten, von der Forschung oft negiert. So beschreibt C. Stephen Jaeger umfassend eine Sprache der Liebe zwischen Männern, lehnt aber jeglichen ‚tatsächlichen‘ Bezug dieser Sprache auf eine leibliche Realität ab: „[T]he texts treated here are grounded in male desire; but just as unques_____________ 56 57 58 59 60 61 62
Von Bloh 1998, S. 319. – Vgl. aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive etwa van Eickels 2002, S. 23-26, und Oschema 2006, S. 150-155. Duby 1984, S. 59. Carré 1992, S. 143. Carré 1992, S. 143. Carré 1992, S. 147. Zeikowitz 2003, S. 36. Zeikowitz 2003, S. 2.
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Konzeptionen von Liebe, Herrschaft und Heiligkeit
tionably there is something in the discourse that screens off or remains oblivious to a sexual element in this desire.“63 Positiven Bekundungen gleichgeschlechtlicher Liebe schreibt er einen rein rhetorischen Charakter zu, die in einem anderen Bedeutungskontext zu verankern seien als dem des ‚Erotischen‘, etwa in spezifischen Machtstrukturen, die Herrschaft erotisieren. Den vehementen Ausschluss zwischenmännlicher Liebe, die außerhalb des Rhetorischen in einer konkret-körperlichen Dimension anzusiedeln ist, begründet er mit dem Argument, dass die Anwendung eines anachronistischen Homosexualitätskonzeptes auf das Mittelalter nicht zulässig sei. Damit hat er ganz sicher recht,64 doch die Anerkennung der Existenz von – wie auch immer geprägten – Formen körperlicher Vertrautheit muss nicht zwangsläufig auf ein modernes Konzept kohärenter, sexueller Identität zurückgreifen. Mittelalterliche Gesten gleichgeschlechtlicher Liebe müssten auch ganz und gar nicht – wie Jaeger stillschweigend voraussetzt – innerhalb des Bereiches anzusiedeln sein, den in der Moderne das Feld des ‚Sexuellen‘ einnimmt. Indem dieses Feld aber – nicht nur von Jaeger – für einen mittelalterlichen Kontext als existent vorausgesetzt und von vorbildlichen Männerbeziehungen abgekoppelt wird, werden unhinterfragt eine universelle mittelalterliche Heterosexualität und Heteronormativität unterstellt, die ebenfalls Anachronismen darstellen.65 Mit ähnlichen Konsequenzen argumentiert Andreas Niederhäuser: Er scheint von einer grundsätzlichen Konkurrenz zwischen gleich- und zwischengeschlechtlichen Relationen auszugehen. So bestätigt er zwar den Umstand, dass „die Sprache der erotisch-sexuellen Liebe und die Sprache der Freundschaft noch weitgehend ineinander [fallen]“,66 postuliert aber nichtsdestotrotz eine unvereinbare Differenz zwischen den Beziehungstypen. Obgleich beide Relationen durch gleiche ethisch-moralische Ansprüche und durch Affekte, die Niederhäuser als zwangsläufige Anerkennung eines gleichwertigen adligen Körpers beschreibt, gekennzeichnet seien, streitet er einen etwaigen „erotischen Charakter“67 der Männerbündnisse ab. Zur Begründung bedient er sich einer logischen Inkonsistenz: Die terminologische Indifferenz, die ja gerade die eindeutige Zuordnung von körperlicher Intimität an nur ein Beziehungsmodell verhindert, dient ihm _____________ 63 64 65
66 67
Jaeger 1999, S. 15. Vgl. nur Smith 1991, S. 1-30, und Fradenburg / Freccero 1996. Zur Geschichte der Homosexualitäten vgl. Hergemöller 1999. Vgl. die Aufsätze in Burger / Kruger 2001, besonders Lochrie 2001 zur Infragestellung eines heteronormativen Mittelalters. Zu Sexualitäten im Mittelalter vgl. etwa den Sammelband von Lochrie / McCracken / Schultz 1997. Zur Konzeptualisierung von Sexualität vgl. grundsätzlich Bristow 1997. Niederhäuser 2001, S. 66. Niederhäuser 2001, S. 63.
Terminologische Implikationen
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als Beweis dafür, dass die z.T. erotischen Formeln in Männerbeziehungen nur eine sprachliche Konvention seien. Als Begründung erörtert er, wie sich andere literarische Texte im Diskursfeld der Sodomie explizit und negativ über zwischenmännlichen sexuellen Umgang äußern. Doch es wird nicht deutlich, warum ein anti-sodomitischer Diskurs eine solche Wirkkraft und Definitionsmacht besitzen sollte, dass er als Hintergrund für alle anderen existierenden Texte dienen und zudem noch einen allgemeingültigen Deutungsrahmen bereitstellen soll, der etwa ideale Kriegerfreundschaft stets mit einem Raster ‚gefährlicher‘ Akte und Handlungen hinterlegt, selbst wenn dieser Rahmen nicht explizit aufgerufen wird. Texte, in denen vorbildliche Bindungen zwischen Männern verhandelt werden, müssen nicht notwendigerweise aus einer Perspektive produziert oder rezipiert werden, die deviante, sodomitische68 Sexualitäten bewertet.69 Die Disparatheit dieser Diskurse hat Allan Bray beschrieben:70 Verschiedene Denk- und Wertungsmodelle – etwa vorbildliche Männerfreundschaft und sodomitische Praktiken – können unabhängig voneinander existieren, und selbst, wo beide gleichzeitig ‚gewusst‘ werden, muss nicht notwendig eine Verbindungslinie gezogen werden.71 Auch Klaus van Eickels betont, dass „der idealisierende Diskurs männlicher Liebe und Freundschaft während des gesamten Mittelalters (und darüber hinaus) unverbunden neben dem repressiven Diskurs von Sünde und Laster [stand]“.72 _____________ 68
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Hinzu kommt, dass im Konzept der Sodomie ganz unterschiedliche Dinge zusammengefasst werden: Zwischenmännliche sexuelle Akte sind nur ein Teil in einem großen Spektrum sündhafter sexueller Aktivitäten. Dass zur Sodomie auch ‚heterosexuelle‘ Akte gehören, die nicht dem ehelichen Fortpflanzungsbestreben unterliegen, verdeutlicht die grundsätzliche Inkompatibilität dieses Modells zum Vergleich mit Männerfreundschaften. Zur Sodomie vgl. etwa Brundage 1987, Bullough 1979 und 1982, Greenberg 1988, Jordan 1997 und Hergemöller 1998 und 2000. Deshalb sehe ich auch nicht, dass das gemeinsame Händehalten der Freunde im Engelhard als eine Handlung gilt, die als grenzüberschreitend wahrgenommen werden könnte und deshalb vom Text näher erläutert werden muss. [B]î henden hæten si dô sich / durch geselleschaft genomen (Reiffenstein 1982, V. 1316f.). Diese Stelle impliziert keinerlei ‚gefährliche Nähe‘, wie Ute von Bloh 1998, S. 330, argumentiert: „Durch die zusätzliche Erläuterung, daß die Gesellschafft ihr Verhalten begründe, würde dann das Mißverständnis einer homoerotischen Nähe abgewehrt.“ Ich sehe hier keine unsichtbare Grenze, sondern eine wertungsneutrale Beschreibung freundschaftlicher Handlungsmuster. Vgl. Bray 1982, S. 58-80. Bray beschäftigt sich mit dem frühneuzeitlichen England. Dies zeigt Judith Klinger, Fremdes Begehren (unveröffentlichtes Manuskript), in ihrer Analyse des Eneasromans: Hier werden in einem Text sowohl gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen abgelehnt (der ‚Homosexualitätsvorwurf‘ an Eneas; vgl. V. 10632-10673) als auch eine vorbildliche Männerfreundschaft dargestellt (Nisus und Euryalus; vgl. V. 65336837), ohne dass beide Konzepte sich gegenseitig berühren und ohne dass diese in ihrer positiven Wertung durch jene beeinträchtigt würde. Van Eickels 2002, S. 380. – Zeikowitz 2003, S. 12, argumentiert, dass „attacks made against male-male intimacy do not represent a rejection of male same-sex intimacy per se but
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Konzeptionen von Liebe, Herrschaft und Heiligkeit
Die Kriegergesellschaft des frühen Mittelalters und die höfisch-ritterliche Gesellschaft, die sich aus ihr entwickelte, assoziierten [...] soziale und emotionale Bindungen zwischen Männern nicht mit einer Neigung zu homosexuellem Verhalten. Die Sprache der männlichen Liebe und die entsprechenden Rituale physischer Intimität blieben damit in vollem Umfang verfügbar für eine überhöhende Konzeptualisierung rechtlicher, sozialer, politischer und emotionaler Bindungen.73
Eine notwendige Verbindung und uneingeschränkte Vergleichbarkeit von – aus moderner Perspektive zusammenhängenden – Akten und Gesten hinterfragt Judith Klinger: Sie verweist auf die Existenz unterschiedlicher Semantisierungskontexte, in denen einzelnen Handlungen ganz verschiedene Bedeutung zukommt. Es kann demnach kein alleiniges kohärentes Sinnsystem unterstellt werden, das allen Deutungszusammenhängen gleichermaßen unterliegt und diese stets in eine bestimmte Richtung hin steuert. Sie illustriert dies am Beispiel des Kusses, dem in verschiedenen Kontexten unterschiedlichste Signifikanz zukommt und der sich einer grundsätzlichen semantischen Vereinheitlichung verwehrt.74 Der jeweilige Kontext legt dagegen eine – je spezifische – Verdichtung der Bedeutung nahe. Da in den Amicus-Amelius-Texten nie die Befürchtung grenzüberschreitender Handlungen thematisiert wird und nie irgendein Hinweis auf die Verortung der Gesten vorbildlicher Freundschaft innerhalb eines sodomitischen Deutungssystems erscheint, kann von einer grundsätzlichen Trennung der Konzepte Kriegerfreundschaft und zwischenmännlicher Sodomie – zumindest im Amicus-Amelius-Universum – ausgegangen werden. Diese Trennung bezieht sich auf die Bewertung der einzelnen Konzeptionen; gleichwohl zeigt die Freundschaft zwischen Amicus und Amelius, dass die Dimension körperlicher Nähe und die Rolle des Begehrens nicht allein rhetorischen Charakters ist, sondern über bindungskonstituierende und narrationsbildende Kraft verfügt. Kriegerfreunde können Berührungen austauschen und körperliche Nähe demonstrieren, ohne dass diese Verhaltensweisen innerhalb eines negativen, sodomitischen Kontexts bewertet würden. Zum einen ist also nicht davon auszugehen, dass vorbildliche Männerfreundschaften grundsätzlich mit einem antisodomitischen Deutungssystem verkoppelt werden, wenn die untersuchten Texte keinerlei Verknüpfungen erkennen lassen. Zum anderen sind die möglichen Implikationen terminologischer Überschneidungen von zwischen- und gleichgeschlecht_____________ 73 74
rather the vilification of certain relations deemed by some to be politically dangerous and/or economically disadvantageous“. Van Eickels 2002, S. 381, vgl. dort auch S. 23-29. Vgl. Judith Klinger, Fremdes Begehren (unveröffentlichtes Manuskript), Einleitung. Zur Polyvalenz des Kusses vgl. Schreiner 1980 und Carré 1992.
Terminologische Implikationen
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lichen Beziehungen nicht einfach zu vernachlässigen.75 Die begrifflichen Gleichsetzungen implizieren, dass die Beziehungsmodelle konzeptuell gleich sind. Innerhalb des Amicus-Amelius-Korpus existiert diese Konstellation hauptsächlich in den Texten der ersten Gruppe und in den GrenzfallTexten (Gruppe 3). In diesen Gruppen der Amicus-Amelius-Texte eignet demnach den verschiedenen Bindungstypen trotz der massiven Unterschiede, die sie kennzeichnen, eine gemeinsame Basis, die sich in der terminologischen Indifferenz spiegelt. In Radulfus Tortarius’ Verserzählung besitzt nur die Freundschaft, nicht aber die zwischengeschlechtliche Liebe exklusives Vokabular. Die Liebe der Prinzessin wird mit dem Wort amor beschrieben, das auch für die Freundschaft benutzt wird. Für den Männerbund bzw. für die Freunde existieren aber noch weitere Begriffe (amicicia; sotius; fidus amicus), so dass zwar eine Unschärfe bei der Abgrenzung vorliegt, aber auf Seiten der Freundschaft eindeutig ein terminologisches Plus zu verzeichnen ist. Demnach ist der Freundesbund mehr als amor,76 die Verbindung der Gefährten verfügt im Vergleich zum Geschlechterverhältnis über zusätzliche Konstituenten und Kennzeichen. Amor beschreibt das Begehren der Prinzessin nach Amelius, das durch die körperliche Vereinigung gestillt wird. Wenn die Freundschaft aber mehr ist als amor, muss sie dies miteinschließen.77 Ein Unterschied besteht indes hinsichtlich des weiblichen Wahns (rabies), der als Modus des weiblichen amor imaginiert wird, und der im Männerbündnis so nicht auftaucht. Das Begehren nach körperlicher Vereinigung aber müsste demnach auch die Freundschaft kennzeichnen. Das Bild, in dem sich dies besonders augenfällig äußert, ist das des gemeinsamen Grabes der Freunde, das in Radulfus’ Text bereits ganz zu Beginn aufgerufen wird. Wie oben beschrieben, wird in einigen Texten die terminologische Indifferenz an zusätzliche exklusive Begriffe gekoppelt, von denen einige ausschließlich an die Freundschaft, andere nur an das Geschlechterverhältnis angelagert sind. In diesen Fällen existiert also eine gemeinsame Teilmenge zwischen den Beziehungstypen, beide Verhältnisse verfügen zudem aber über zusätzliche, je spezifische Bedeutungen und Konstituenten. In der mittelenglischen romance wird die zwischengeschlechtliche Liebe wie das homosoziale Bündnis als Treuebindung entworfen; die Einfor_____________ 75 76
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Mit ähnlichem Tenor wie die eben besprochenen Ansätze von Jaeger und Niederhäuser argumentiert etwa auch Konstan 1996, bes. S. 154. Vgl. die Analogie zur bereits erwähnten Argumentation von Aelred, dass amor sine amicitia esse potest, amicitia sine amore numquam (Aelred von Rieval, Freundschaft, III, 2). („Liebe ohne Freundschaft kann es geben, Freundschaft ohne Liebe niemals“, S. 55.) Die gleiche begriffliche Konstellation samt ihrer Konsequenzen findet sich im Miracle. In den meisten zu der Historia septem sapientum gehörenden Texten findet sich die ungleiche Verteilung von exklusiven Bezeichnungen für die Freundschaft ohne Entsprechung auf der zwischengeschlechtlichen Seite.
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derung zwischengeschlechtlicher Treue aber besteht im Vollzug des Beischlafes. In der chanson de geste, im Miracle und in Lille 130 wird durch die Überrumpelungstaktik deutlich, dass körperliche Intimität das einzige Fundament der zwischengeschlechtlichen Relation ist. In den genannten Bearbeitungen existiert offenbar ein exklusiver Bedeutungsraum auch für die zwischengeschlechtliche Liebe, der in den einzelnen Texten je unterschiedlich besetzt ist. In Lille 130 benennt das Verb couvoiter ziemlich genau den Unterschied: Das aktive, einseitige weibliche Begehren, das zur Aneignung des männlichen Partners führt, steht der Gemeinsamkeit bzw. den aufeinander ausgerichteten Aktivitäten der Freunde diametral gegenüber.78 In der mittelenglischen romance und im Engelhard verweisen die – im Engelhard minimalen – begrifflichen Unterschiede auf ein verwandtschaftlich codiertes Verhaltensmuster für das Männerbündnis (brother; brüederlîche) und auf die (geheime) eheliche Gemeinschaft, die zwischen den Geschlechtern eingegangen wird: lemman wird auch nach der Eheschließung benutzt; herzetrût gemahele und friedel nach der vollzogenen körperlichen Vereinigung. Das Sondervokabular, das die Bindungstypen nicht teilen, bezieht sich mithin auf die Anschlussmöglichkeit an andere Vergesellschaftungsformen bzw. für das (außereheliche) Geschlechterverhältnis auf eine Überführung in einen neuen (legitimen) Bindungstyp.79 In der chanson de geste und in der anglonormannischen Verserzählung taucht das Wort dru/e einzig innerhalb der zwischengeschlechtlichen Bindung auf. Es scheint sich auf intimen Umgang beziehen, so dass eine bestimmte Form leiblicher Vertrautheit auf das Geschlechterverhältnis eingeschränkt bleibt. Es wird z.T. im Kontext ehelichen Beischlafs benutzt, dort aber nur, um die Erwartung der Dame durch das praktizierte keusche Beilager zu frustrieren (chanson de geste: Dembowski 1987, V. 1163; anglonormannischer Text: Fukui 1990, V. 737). In der chanson de geste erscheint drus (Dembowski 1987, V. 700) auch zur Bezeichnung von Amiles Status gegenüber der Prinzessin, nachdem diese ihn im Bett überlistet und zum sexuellen Akt verführt hat. Drue kennzeichnet umgekehrt Belissants Status gegenüber Amile (eigentlich Ami), als Karl seine Tochter an ihn als sa fame et sa drue (V. 1756)80 übergibt. Im anglonormannischen Text wird ein wei_____________ 78
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Karl dagegen liebt Amis (l’emmoit, Woldege 1939, S. 452): Eine körperliche Dimension muss auch hier angenommen werden, wird aber vom weiblich konnotierten couvoiter abgegrenzt. Die enge Bindung an den Herrn, die in diesen beiden Texten ebenfalls über das Freundschafts- und Liebesvokabular beschrieben wird, teilt demzufolge ebenfalls spezifische Verhaltensweisen und Konstituenten mit den hier analysierten Beziehungstypen. Körperveränderung (Engelhard) bzw. -einsatz (mittelenglische romance) des Herrn nach der Offenbarung des Treuebruchs rekurrieren gleichfalls auf eine an den Körper gekoppelte, enge Bindung. „als Gattin und Liebste“ (Vielhauer 1979, S. 70)
Terminologische Implikationen
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teres dru von Amys gebraucht, um die Illegitimität, ja sogar die Schandhaftigkeit der von der Herrschertochter geforderten Liaison herauszustellen: Si ceo poet estre aparceu / Qe de moy feissez vostre dru, / Ne serrioms nous en fyn honye? (Fukui 1990, V. 301-303)81 Es eröffnet sich eine Bedeutungsvielfalt, die sich von einem heimlich-illegitimen über einen legitimen, aber nichtöffentlichen, bis hin zu einem legitim-öffentlichen Zusammenhang der Geschlechterbeziehung erstreckt, so dass sich eine spezifische Signifikationsebene, die der zwischengeschlechtlichen Bindung eignet und durch dru/e bezeichnet wird, nur schwer veranschlagen lässt. Sowohl der Bezug zur Ehe (sa fame et sa drue) als auch zu heimlicher Illegitimität kristallisiert sich heraus: Diese Bedeutungsdimensionen sind einzig der zwischengeschlechtlichen Relation angelagert, da die Freundschaft von Beginn an eine legitime Beziehungsform bildet, die in der heimlichen Sphäre zwar Komplotte schmiedet, aber nicht auf diese angewiesen ist, um Körperkontakt zu realisieren.82 Der Zusammenhang von dru und Ehe stellt ebenfalls die Unvergleichbarkeit von Freundschaftsbund und legitimierter Geschlechterbeziehung heraus. Die für die Freundschaft exklusiven Termini aber beziehen sich auf die spezifische Konzeption des Männerbundes, die in den Amicus-Amelius-Texten entwickelt wird. In diesen Bearbeitungen scheint die zwischengeschlechtliche Bindung an – illegitime, da voreheliche, und eheliche – sexuelle Akte und damit verbundene körperliche Nähe geknüpft zu sein; die Freundesbindung aber wird zu davon abweichenden, spezifischen Formen des Begehrens und der Gleichheit in Bezug gesetzt. Aufgrund der terminologischen Konstellationen ist eine Ebene körperlicher Nähe aber nicht per se aus dem Freundesbund auszuschließen. Bezeichnet amor etwa in Radulfus Tortarius das zum körperlichen Vollzug strebende Begehren in der zwischengeschlechtlichen Beziehung, dann ist ein korrespondierendes Element auf Seiten der Männerfreundschaft, die ebenfalls mit amor bezeichnet werden kann, zu veranschlagen. Eine Vereinigung, die der zwischengeschlechtlichen analog wäre, wird in den Texten nicht dargestellt. Die Texte präparieren aus dem engen Umgang und der Zuneigung der Gefährten keinen ‚sexuellen‘ Akt heraus, der als solcher von modernen Rezipientinnen und Rezipienten erkennbar wäre. Diese spezifische Form körperlicher Nähe steht also eindeutig außerhalb des mittelalterlichen Freundschaftsentwurfs. Wie _____________ 81 82
„Wenn es ersichtlich ist, dass Ihr aus mir Euren Geliebten gemacht hättet, wären wir dann nicht schließlich entehrt?“ Die Beschränkung des Terminus dru/e auf zwischengeschlechtliche Bindungen gilt indes nicht für die ‚verwilderten‘ Amicus-Amelius-Texte. Dort können auch die Freunde untereinander als dru und die Freundschaft als druerie bezeichnet werden. Vgl. Einleitung 1, Anm. 3. Auch außerhalb des Amicus-Amelius-Textkorpus erscheint dru in gleichgeschlechtlichen Bindungen, etwa in verschiedenen Hss. der chanson de Roland; vgl. Judith Klinger, Fremdes Begehren (unveröffentliches Manuskript).
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Konzeptionen von Liebe, Herrschaft und Heiligkeit
bereits gesagt, muss der – mehr oder minder explizit benannte – zwischengeschlechtliche sexuelle Akt jedoch kein Ausweis besonderer Nähe der Beteiligten sein, die qualitativ höherwertiger wäre als die beschriebene Nähe der Kameraden. Diese Umgangsform erscheint stattdessen als partikularisierter Modus des Körperkontakts, der sich einer Einordnung in ein umfassenderes, übergeordnetes Konzept von immerwährender Gemeinschaft querstellt, wie die stets nur temporäre Bedeutung des Geschlechterverhältnisses beweist. Die Amicus-Amelius-Texte beschreiben die Vertrautheit und Zusammengehörigkeit der Gefährten innerhalb eines Komplexes von Gleichheit, emotionalen Gesten und gegen andere gerichtete gewaltsame Handlungen, der gänzlich anders organisiert ist als das zwischengeschlechtliche Verhältnis oder als moderne Imaginationen körperlicher Nähe. Die Abwesenheit eines erkennbaren sexuellen Aktes muss nicht darin begründet sein, dass enger, körperlicher Umgang a priori aus der Freundschaft ausgeschlossen ist.83 Im Gegenteil vermitteln die Texte ein hohes Maß von uneingeschränkter Nähe zwischen den Freunden. Es dominieren aber andere Formen des Körperkontakts. Innige Berührungen und Gewaltsamkeit konstituieren eine Bedeutungsmatrix freundschaftlicher Vereinigung, die sich von sexuellem Verkehr unterscheidet, aber nichtsdestotrotz körperliche Nähe beinhaltet.84 Dass eine dem Geschlechterverhältnis vergleichbare – und erkennbare – erotische Intimität nicht beschrieben wird, kann darauf beruhen, dass körperliche Vertrautheit in einer alteritären Konzeptualisierung von Liebe und Nähe verortet ist, die sich nicht an einem modernen „Standard der ‚Sexualisierung‘ und ‚Erotisierung‘“85 orientiert. Der zwischengeschlechtliche intime Umgang erscheint dagegen als isolierte Aktivität, die nur schwerlich in einem umfassenden Konzept von Liebe verankert werden kann. Zwischengeschlechtlicher Sex muss gleichwohl sichtbar gemacht werden, weil die verlorene Intaktheit des weiblichen Leibes den Grund für die Anklage bildet, und weil er in einigen Texten die einzige Verbindung zwischen den Geschlechtern ist. Der gemeinsame Gebrauch von amor verweist so gleichzeitig darauf, dass Begehren jeweils in körperlichem Vollzug verankert, dass aber die Vollzugsformen in gleich- und zwischengeschlechtlichen Bindungen unvereinbar sind, da sie in gänzlich anderen Konzepten mit variierenden Vorstellungen von umfassender Inklusion vs. partikularisierender Einschränkung verortet sind. Diese terminologischen _____________ 83
84 85
Jaeger 1999, S. 25, fasst die Situation für die Literatur des Mittelalters zusammen: „Very few texts of any genre from any milieu in the Middle Ages represent sex between males as ennobling or exalting. They are, however, only slightly fewer than the texts which represent sex between men and women as exalting.“ Vgl. Kap. I.4. Judith Klinger, Fremdes Begehren (unveröffentlichtes Manuskript).
Terminologische Implikationen
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Gegebenheiten beschreiben sowohl eine konzeptuelle Verkopplung von zwischengeschlechtlicher und homosozialer Liebe, die jeweils körperliche Intimität einschließt, als auch eine Inkompatibilität einer Darstellung und Bedeutung dieser Bindungen.86 Die Unvereinbarkeit von Männerfreundschaft und Geschlechterverhältnis inszenieren die Texte mit vornehmlich christlich-religiösem Sinnhorizont (Gruppe 2): Das Geschlechterverhältnis besteht einzig im zwischengeschlechtlichen sexuellen Akt, der meist als so losgelöst von Zuneigung und Gemeinschaft erscheint, dass dieser Umgang häufig nicht als ‚Liebe‘ bezeichnet wird. Der sexuelle Akt erscheint als negatives Gegenbild zu freundschaftlichen Verhaltensmustern. Der zwischengeschlechtliche sexuelle Akt, der ohne Zuneigung vollzogen wird, bleibt außerhalb jeglicher Vorstellungen von ‚Liebe‘; die leibliche Vereinigung der Gefährten aber wird in drastischen Bildern gestaltet: Dies zeigt besonders eindringlich das Grabeswunder, in dem noch die toten Freundeskörper zueinander streben und durch Gottes Hilfe für immer miteinander vereint werden. Als absolut zu denkende körperliche Nähe und immerwährende Vereinigung werden im Bild des gemeinsamen Grabes eingefangen, das die Fremdheit der Amicus-Amelius-Freundschaft für moderne Rezipientinnen und Rezipienten besonders deutlich markiert. Die Vorstellung zeitloser Leibesgemeinschaft, die noch – oder gerade – nach dem Tod besteht, setzt die Bedeutsamkeit von konkreter Nähe, die bis zur Auflösung der Körpergrenzen reicht, für die Freundschaft anschaulich in Szene. In der Tat erscheint das gemeinsame Grab als das Bild, das besonders nachdrücklich das starke Begehren nach und die endgültige Einlösung von körperlicher Nähe als konstitutive Komponenten der Kriegerfreundschaft vor Augen stellt. Die – in der literarischen Amicus-Amelius-Welt – leiblich vollzogene Vereinigung der Freunde in der letzten Ruhestätte zeigt „die physische Intimität und Nähe der Freunde sogar über den Tod hinaus“,87 und damit den nicht-rhetorischen Charakter der Liebe und Freundschaft _____________ 86
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Auch die Bindung an den Herrscher ist von diesen Überlegungen nicht ausgeschlossen, da auch hier von ‚Liebe‘ gesprochen wird. Insgesamt bleibt in den Amicus-Amelius-Texten dieses Verhältnis aber vager. Van Eickels 2002, S. 378. Van Eickels verweist weiter auf frühmittelalterliche Bestattungspraktiken: Selten wurden Ehepartner, häufig aber Männerpaare zusammen begraben. Vgl. ebd., S. 378-380, mit weiterführender Literatur.
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zwischen den Protagonisten. Mit modernen Begrifflichkeiten ist der ‚Intimität‘ dieses letzten Zusammenseins der Freunde kaum beizukommen; gleichwohl wird in diesem Bild die Bedeutsamkeit körperlicher unio, die Tiefe und Dauer des Männerbündnisses greifbar werden lässt, herausgestellt.
3. ‚Freundschaftsheilige‘? Heiligkeit durch Gleichheit und Gewalt Wie gezeigt, widmet sich die zweite Gruppe der Amicus-Amelius-Texte fast ausschließlich der Freundschaft, während die anderen Vergesellschaftungsformen in diesen Bearbeitungen kaum oder nur vage umrissen werden. Diese Tendenz korrespondiert mit der heiligmäßigen Aufladung der Freundschaft durch verschiedene narrative Strategien. Abschließend möchte ich auf den legendenhaften Kontext dieser Amicus-Amelius-Texte zurückkommen. Dieser manifestiert sich vor allem in der spezifischen Erzählstruktur der Bearbeitungen, über die das christlich-religiöse Deutungsmuster dieser Textgruppe transportiert wird: Wie bereits ausgeführt, erzählen die Texte etwa von der Taufe der Freunde durch den Papst. Einige der hagiographischen Bearbeitungen schließen mit dem gemeinsamen Tod und Grab der Kameraden. Die Texte benennen sich selbst bisweilen als Vita (elaborierte lateinische Fassung)88 oder als oder als legend von den czwain heilign (Andreas Kurzmanns mittellange Fassung) bzw. als historie van den zwen hilgen gesellichen vrunden Amico und Amelio (mittellange Bearbeitung Hs. Berlin, Mgq 261). Im Falle von Texten, in denen eine solche Klassifizierung absent ist, scheint die Struktur der Texte einer Bezeichnung als Vita zunächst entgegenzukommen: Die Bewährung von Tugenden mit posthumem Wunder werden nicht nur während der Heiligsprechung von Personen überprüft, sondern gehören auch zum Bauplan der Heiligenlegende. 89 Besonders die ältere Forschung hat die Heiligkeit der Freunde umfassend untersucht:90 So spricht William Calin – allerdings hinsichtlich der chanson de geste – von der höchsten christlichen Vervollkommnung, die sich _____________ 88
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Allerdings beginnt auch die Hs. D der mittelenglischen romance mit: Hic incipit vita de Amys et Amylion (Le Saux 1993, S. 23) („Hier beginnt die Vita von Amys und Amylion“), obwohl sie zur ersten Textgruppe gehört. Vgl. Jolles 51974, S. 23-61, hier S. 26f. Vgl. zur Legende auch Wyss 1984, der nicht von einer literarischen Gattung der Legende ausgeht, sondern von einer Vermischung des Legendenhaften mit anderen Gattungen. Er beschreibt den Heiligen als Zeugen für die Allmacht Gottes. Vgl. nur Calin 1966 und 1994, Vesce 1973 und Quereuil 1990.
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zwischen den Protagonisten. Mit modernen Begrifflichkeiten ist der ‚Intimität‘ dieses letzten Zusammenseins der Freunde kaum beizukommen; gleichwohl wird in diesem Bild die Bedeutsamkeit körperlicher unio, die Tiefe und Dauer des Männerbündnisses greifbar werden lässt, herausgestellt.
3. ‚Freundschaftsheilige‘? Heiligkeit durch Gleichheit und Gewalt Wie gezeigt, widmet sich die zweite Gruppe der Amicus-Amelius-Texte fast ausschließlich der Freundschaft, während die anderen Vergesellschaftungsformen in diesen Bearbeitungen kaum oder nur vage umrissen werden. Diese Tendenz korrespondiert mit der heiligmäßigen Aufladung der Freundschaft durch verschiedene narrative Strategien. Abschließend möchte ich auf den legendenhaften Kontext dieser Amicus-Amelius-Texte zurückkommen. Dieser manifestiert sich vor allem in der spezifischen Erzählstruktur der Bearbeitungen, über die das christlich-religiöse Deutungsmuster dieser Textgruppe transportiert wird: Wie bereits ausgeführt, erzählen die Texte etwa von der Taufe der Freunde durch den Papst. Einige der hagiographischen Bearbeitungen schließen mit dem gemeinsamen Tod und Grab der Kameraden. Die Texte benennen sich selbst bisweilen als Vita (elaborierte lateinische Fassung)88 oder als oder als legend von den czwain heilign (Andreas Kurzmanns mittellange Fassung) bzw. als historie van den zwen hilgen gesellichen vrunden Amico und Amelio (mittellange Bearbeitung Hs. Berlin, Mgq 261). Im Falle von Texten, in denen eine solche Klassifizierung absent ist, scheint die Struktur der Texte einer Bezeichnung als Vita zunächst entgegenzukommen: Die Bewährung von Tugenden mit posthumem Wunder werden nicht nur während der Heiligsprechung von Personen überprüft, sondern gehören auch zum Bauplan der Heiligenlegende. 89 Besonders die ältere Forschung hat die Heiligkeit der Freunde umfassend untersucht:90 So spricht William Calin – allerdings hinsichtlich der chanson de geste – von der höchsten christlichen Vervollkommnung, die sich _____________ 88
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Allerdings beginnt auch die Hs. D der mittelenglischen romance mit: Hic incipit vita de Amys et Amylion (Le Saux 1993, S. 23) („Hier beginnt die Vita von Amys und Amylion“), obwohl sie zur ersten Textgruppe gehört. Vgl. Jolles 51974, S. 23-61, hier S. 26f. Vgl. zur Legende auch Wyss 1984, der nicht von einer literarischen Gattung der Legende ausgeht, sondern von einer Vermischung des Legendenhaften mit anderen Gattungen. Er beschreibt den Heiligen als Zeugen für die Allmacht Gottes. Vgl. nur Calin 1966 und 1994, Vesce 1973 und Quereuil 1990.
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im Freundespaar manifestiere, und dem sich daraus ergebenden imitabileCharakter der Gefährten.91 Michel Quereuil hält die Freunde für eine Christusallegorie, da auch sie universelle Liebe repräsentieren.92 Nachvollziehbarer argumentiert hingegen Michel Zink: Er situiert die Heiligkeit der Gefährten im Beziehungsgefüge der Texte. Ihre „inaptitude à la vie conjugale“93 heilige die Kameraden: Ihre Ehen haben für die Freunde nur temporäre Bedeutung, die – in der von Zink untersuchten chanson de geste Ami et Amile – zugunsten der gemeinsamen Pilgerreise zurückgestellt oder – in den legendenhaften Texten – durch den Tod der bösen Ehefrau und durch das Keuschheitsgelübde des vorbildlichen Paares suspendiert wird. Zink sieht die Untauglichkeit zur Ehe in Verbindung mit der von den Texten favorisierten „détachement du monde, indispensable au salut“94. Neuere Arbeiten stehen den angeblich heiligmäßigen Aktivitäten der Gefährten eher kritisch gegenüber. So betonen Rosenberg / Danon die ungelöste Konflikthaftigkeit zwischen christlichen Werten und „the very material of the story.“95 Auch in den Texten, die eher – wie etwa der Seelentrost – exempelhaften Charakter haben, der einer Darlegung vorbildlicher Treue dienen soll, erscheint die Idealisierung der Verhaltensweisen der Freunde grundsätzlich problematisch. Als Illustration des Gebotes du neschalt nicht vntruwe wesen noch valsch (Großer Seelentrost, Schmitt 1959, S. 229, Z. 8) konzipiert, ist die vorbildhafte Gültigkeit der Freundestreue spätestens dann zu hinterfragen, wenn der eigentliche Wortlaut des entsprechenden Teiles des Dekalogs ins Spiel kommt, in dem es verboten wird, falsches Zeugnis abzulegen: Mynsche, du ne schalt nicht valschliken tugen (S. 223, Z. 3). Bezieht man dies auf die Amicus-Amelius-Geschichte, so erscheint sie eher als Suspendierung dieses Gebotes, wenn die Gefährten im Gottesurteilskampf ihre Identitäten tauschen.96 Gleich, ob Vita oder Exempel: Die Heiligmäßigkeit der Kameraden oder Exemplarität der Freundschaft muss im Lichte ihrer manipulierten und gewalttätigen Ausschreitungen gegen Repräsentanten anderer Sozialbindungen heikel erscheinen. Der von Hellmut Rosenfeld geprägte Begriff der ‚Freundschaftsheiligen‘97 ist von Edith Feistner kritisiert worden: Sie löst diesen Begriff als _____________ 91 92 93 94 95 96
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Vgl. Calin 1966. Quereuil 1990, S. 251f. Zink 1987, S. 23. Zink 1987, S. 23. Rosenberg / Danon 1996, S. 8. Diesen Punkt übergeht Edith Feistner 1989, S. 105-110, in ihrem sonst hervorragenden Aufsatz: Sie liest die Exempelversionen als gelungene Freundschaftsdidaxe. Zur gattungstheoretischen Differenzierung von Exempel und Legende vgl. Feistner 1998. Rosenfeld 1968, S. 44.
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contradictio in adiecto auf. „Freundschaft ist ja eine rein zwischenmenschliche und damit absolut innerweltliche Beziehung, was schon die demonstrativ symmetrische Struktur des gegenseitigen Treuebeweises nachdrücklich unterstreicht.“98 Die geistliche Stilisierung und Legendarisierung des Amicus-Amelius-Stoffes hält sie deshalb für misslungen. Deutlich wird diese Qualität der Freundschaft auch im posthumen Grabwunder, das ebenfalls nicht nach außen gerichtet ist (z.B. durch Heilung von Kranken), sondern nochmals die exklusive Zweierbeziehung überhöht.99 Während Feistner dies zum Anlass nimmt, die Vitafassungen als „tendenziöses Kunstprodukt“100 zu desavouieren, ist stattdessen zu fragen, warum die Kriegerfreundschaft als heiligmäßiger Lebensstil verherrlicht wird bzw. was die Gefährten in der Logik der Legende zu Heiligen macht. Im vorangehenden Kapitel diente das Girardsche Modell heiliger Gewalt der Analyse eines Subtextes, der die Amicus-Amelius-Texte durchzieht. Gewaltausübung und Opfermechanismus figurieren als symbolische Zusammenhänge, die der Freundschaftsgeschichte zugrundeliegen. Gewalt und Opfer aber stehen stets in Relation zum Heiligen. Der ‚Heiligkeitscharakter des Opfers‘ offenbart sich in seiner notwendigen Verbindung zur heiligen Gewalt: Seine Tötung überführt das Opfer in den Bereich des Heiligen; nur so kann sich seine soziale Wirksamkeit entfalten. Die legitime Gewalt aber ist konstitutives Merkmal des Heiligen. Sowohl bei Girard als auch in den Amicus-Amelius-Texten wird zugleich die Ambivalenz deutlich, die aus der Verknüpfung von Heiligem und Gewalt resultiert: Die Funktion des Heiligen besteht zwar darin, rechte und unrechte Gewalt zu differenzieren bzw. bösartige in gutartige Gewalt – im Opfermechanismus – umzuwandeln. Die Doppelnatur der Gewalt, die eine destruktive und eine rituell-religiöse Dimension zusammenschließt, rekurriert gleichwohl auch auf die Doppelnatur des Heiligen: Sie wirkt gemeinschaftsstiftend, kann gleichzeitig aber zerstören.101 Der ambivalente Zusammenhang von Heiligem und Gewalt manifestiert sich in besonderem Maße in Unterschiedslosigkeit, wie sie etwa bei Zwillingen auftritt. Die mit gesellschaftlicher Zerstörung assoziierte Entdifferenzierung ist stets an das Heilige zurückzubinden: „Die repräsentierte Unterschiedslosigkeit erscheint schließlich als der Unterschied par excellence – jener Unterschied nämlich, der das Monströse definiert und im Heiligen selbstverständlich eine erstrangige Rolle spielt.“102 Peter Strohschneider kennzeichnet den „Aus_____________ 98 99
Feistner 1989, S. 100. Wie bereits gesagt, bildet die anglonormannische Verserzählung, in der Blinde und Stumme am Grab der Kameraden geheilt werden, eine Ausnahme. Vgl. Fukui 1990, V. 1233-1239. 100 Feistner 1989, S. 104. 101 Vgl. Girard 1992, Kap. I und X. 102 Girard 1992, S. 99.
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schluß aus jener gesetzten und ‚gesetzlichen‘ Ordnung der Unterschiede“ als „Eingang in das Nichtunterschiedene“103, das die Sphäre des Heiligen bildet. Das Freundespaar übt ambivalente Gewalt aus und verkörpert Ununterschiedenheit: Insofern wird es in einem heiligen Bedeutungsraum verortet, der dem innerweltlichen Freundschaftsmodell hinterlegt ist. Der Anspruch der Heiligkeit, der von den Viten geäußert und von der chanson de geste aufgegriffen wird, beruht demnach auf dem identischen Äußeren der Gefährten, das sie – nicht explizit, sondern auf der Ebene des symbolischen Untertextes – als Partizipierende am Heiligen markiert. Die Gleichheit der Kameraden rekurriert innerhalb dieses Deutungssystems auf die „Distanzkategorie“104 der Heiligkeit, die sich ebenfalls über Unterschiedslosigkeit definiert und diese zugleich als absolutes Differenzmerkmal zum Profanen setzt. Die ambivalente Gewalt, die von den Freunden ausgeübt wird, ist in diesem Zusammenhang nicht mehr problematisches Verhalten, das tugendhaften, heiligmäßigen Handlungsmustern zuwiderläuft und das den Status der Geschichte als Heiligenvita zweifelhaft werden lässt. Stattdessen konstituiert sich das Heilige – in Gestalt der Gefährten – durch eben diese gewaltsamen Akte: Die Krise der Gleichheit wird durch Gewalt abgewendet, wodurch nicht nur die (heilige) Ununterschiedenheit gestärkt, sondern zudem die Gewalt selbst als Substanz des Heiligen105 zu dessen Produktion beiträgt. Damit deutet sich auch eine Klärung des Sachverhaltes an, dass die Freunde jeweils sowohl für den Gewaltausbruch als auch für seine Eindämmung verantwortlich sind: Die Zwiespältigkeit der Gewalt, die zwischen illegitim-unreiner und legitim-reiner Qualität changiert, bezieht sich auf das ambivalente Wesen der Heiligkeit, das eine Unterscheidung der Gewalt vornehmen bzw. die verschiedenen Existenzformen ineinander überführen kann, selbst aber außerhalb dieser Kriterien angesiedelt ist. Die beanspruchte Heiligkeit der Kameraden wirkt beunruhigend, da sie nicht – wie im herkömmlichen christlichen Legendenmuster – aufgrund von (menschlich) vorbildlichem Agieren nach ihrem Tode bestätigt und instrumentalisiert wird. Stattdessen erscheinen die Freunde als Verkörperung des Heiligen bereits auf Erden, eines Heiligen, das sich selbst gewaltsam in Abgrenzung von einer gesellschaftlichen Ordnung, die durch Differenzen konstituiert wird, konstruiert und deshalb Gefahrenpotential für das Nicht-Heilige bietet. Gesteht man die – zumindest implizite, symbolhafte – Wirksamkeit einer Konzeption des Heiligen zu, die auf Entdifferenzierung und Gewaltsamkeit beruht, dann ist der Status der _____________
103 Strohschneider 2000, S. 130. 104 Strohschneider 2000, S. 133. 105 Vgl. Girard 1992, S. 390.
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Konzeptionen von Liebe, Herrschaft und Heiligkeit
ferenzierung und Gewaltsamkeit beruht, dann ist der Status der Gefährten als ‚Freundschaftsheilige‘ zu bestätigen.106
_____________ 106 In den Texten, die nicht auf die Heiligkeit der Freunde verweisen, unterliegen zwar die gleichen symbolischen Zusammenhänge der Narration, diese werden aber nicht explizit als auf Heiligkeit verweisender Deutungsmodus wirksam.
IV. Ergebnisse und Ausblick: Identitätsbildende Modelle von Gleichheit und ihre Ablösung Gleich, ob die Einzeltexte der Bedeutungsdimension von Heiligkeit, die sich in der Freundesgleichheit und ihrer Gewalttätigkeit artikulieren kann, explizite Signifikanz zuweisen oder nicht, fest steht die identitätsstiftende Macht, die im Amicus-Amelius-Universum dem entworfenen Modell von Gleichheit zugeschrieben wird. Es erscheint als zentrale Konzeption, die die Identitätsformation der adligen Protagonisten bestimmt und in eine religiös-christliche Dimension überführen kann. Zusammenfassend ist zu sagen, dass das Band zwischen den Freunden in ihrer Gestaltgleichheit verkörpert wird. In dieser materialisieren sich verschiedene Konstituenten von Gleichheit und Identität. Analoge adlige Herkunft bzw. die Taufe durch den päpstlichen Paten erschaffen in der admissio-Phase eine grundsätzliche Similarität, die auf sozialer bzw. religiöser Ebene anzusiedeln ist. Damit die Gleichheit sichtbar und bedeutsam werden kann, müssen die gleichen Freunde durch körperliche Nähe – wie sie in Freundschaftsschließung und Lebensgemeinschaft praktiziert wird – aufeinander bezogen sein. Nähe bedingt indes nicht nur die Wahrnehmung von Gleichheit, sondern kennzeichnet zudem den spezifischen Bezug der Kriegerfreundschaft zur Emotionalität, die an Körperkontakt geknüpft ist. Die probatioPhase präzisiert freundschaftliches Verhalten innerhalb einer Matrix männlicher Aktivitäten, indem sie die Ausübung von Gewalt als signifikante Form markiert. Zudem werden verschiedene Modi von Gleichheit und gemeinsamer Identität durchgespielt: Die Körpersubstitution im Zweikampf und die Heilung des Freundes mit dem Kinderblut thematisieren verschiedene Strategien, wie Differenzen ausgemerzt werden und die Freundschaft gestärkt wird. Gewalttätiges Handeln und die Steigerung von Gleichheit bedingen einander im Amicus-Amelius-Modell. Diese Verknüpfung führt zu einer Annäherung der Identitäten der Freunde, die in der unio-Phase bis zu einer Auflösung der Körpergrenzen im Grab führen kann und nochmals die Bedeutsamkeit von Nähe unterstreicht. Gleichheit und Gewalt konstituieren die Identität der Protagonisten. Die Bedeutsamkeit eines solchen identitätsbildenden Modells von Gleichheit kann kaum überbetont werden: Nicht die Abgrenzung vom
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Ergebnisse und Ausblick
Anderen, sondern die angestrebte absolute Vereinheitlichung ist es, die die Identität der Freunde hervorbringt und stabilisiert.1 Die enge Beziehung zum Gleichen ist an Emotionalität und Macht gleichermaßen gekoppelt. Anders als in René Girards Modell, in dem zwischen gleichen männlichen Subjekten ausschließlich gewaltsame Rivalität als Beziehungstyp veranschlagt wird, zeigt sich in den Amicus-Amelius-Texten eine Bindung, die gänzlich anders organisiert ist. Nicht Gewalt und Rivalität, sondern Zuneigung und Zusammengehörigkeit kennzeichnen die Kriegerfreundschaft. Die mehrere Jahrhunderte umfassende Zeitspanne, in denen die Amicus-Amelius-Texte immer wieder neu rezipiert wurden, macht zudem die longue durée und damit die Wirksamkeit dieses identitären Modells, das auf Gleichheit beruht, deutlich. Dabei ist dieses Modell nicht allein auf Amicus und Amelius beschränkt, wenn es sich in diesem Korpus auch in seiner extremsten Form zu manifestieren scheint. Auch anderen mittelalterlichen Texten, die über enge Beziehungen erzählen, liegt ein solches Modell, das Identität und Gleichheit verknüpft, zugrunde. Allerdings ist es meist in abgemilderten Formen zu finden, die keine so weitreichende Gleichheitskonzeption ausformulieren, gleichwohl aber Gleichheit als Basis von Identitätsstiftung, Innigkeit und Dauer einer Beziehung voraussetzen. Dies gilt nicht nur für andere Männerfreundschaften, etwa zwischen Roland und Olivier, sondern auch für zwischengeschlechtliche Bindungen, wie die zwischen Tristan und Isolde, bei der ebenfalls Gleichheit auf spezifische Weise konstruiert wird. Aus dieser Perspektive ist auch die Verkopplung des Gleichheitsmodells mit der Konstituierung von Männlichkeit in den Amicus-AmeliusTexten zu beschreiben: Die Zugehörigkeit zum gleichen Geschlecht erscheint hier als ein notwendiges Element von Gleichheit, da es nicht nur – implizit – die Leiber der Gefährten analogisiert, sondern vor allem den Zugang der Kameraden zu gemeinsamen Handlungsräumen mit spezifischen Verhaltenscodizes eröffnet. Die Texte bieten einen Entwurf männlicher Freundschaft, in dem der Bedeutungskomplex des Männlichen sich nicht so sehr über seine Relationalität zum Weiblichen definiert, sondern als Besetzung eines Aktionsraumes der Gewalt zu sehen ist. Diese nach außen gerichtete Gewaltsamkeit geht einher mit emotionalen Gesten, die die Zusammengehörigkeit der Gefährten über Nähe und Körperkontakt codiert. Die von den Amicus-Amelius-Texten entworfene zwischenmännli_____________ 1
In ihrer Studie zu Zwillingsgeschichten des 12. und 13. Jahrhunderts arbeitet Ute von Bloh 2007 heraus, dass die ambivalente Gleichheit zwischen Zwillingen „nur ein provisorischer, weil gefährlicher Zustand sein [kann], der entweder eliminiert oder in den Dienst der Sozialordnung gestellt wird“ (S. 19). Diese Bindung, die über eine nicht zu überbietende Gleichheit verfügt, die verwandtschaftlich konstituiert ist, ist demnach in andere Regeln der Identitätsbildung eingebettet als die Amicus-Amelius-Freundschaft.
Modelle von Gleichheit und ihre Ablösung
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che Begehrensstruktur formiert sich über Gewalt, körperliche Nähe und Vertrautheit. Ferner ist die Freundschaft in einem größeren Feld homosozialer Bindungen angesiedelt, das die grundsätzliche soziale Verortung männlicher Identität innerhalb von Männerbeziehungen herausstellt. Da Geschlechterbeziehungen nur punktuell bedeutsam werden, lässt sich in diesem Zusammenhang von einem homosozialen Kontinuum sprechen, das das literarische Amicus-Amelius-Universum organisiert. Das in einigen Texten ausformulierte Geschlechterverhältnis erscheint – etwa im Engelhard – zudem konzeptionell nicht als konkurrierende Bindung, sondern als Parallelentwurf, da auch hier Gleichheit zwischen den Partnern favorisiert wird. Gleichzeitig wird in den höfisch akzentuierten Fassungen (Gruppe 1) deutlich, dass ein alleiniger Geltungsanspruch des Freundschaftsbundes durch die Verhandlung anderer Beziehungstypen modifiziert und abgemildert wird, wenn auch die Kriegerfreundschaft immer zentral bleibt. In Amicus und Amelius zeigt sich das Modell identitätsstiftender Gleichheit in einer extremen Form: In der Ununterscheidbarkeit der Freunde materialisiert sich das ordnungsstiftende Prinzip der Gleichheit, das diese Texte organisiert. Die größstmögliche Ähnlichkeit zweier adliger Männer wird durch parallele Gewalthandlungen noch gesteigert. Begreift man die „diskursive[] Produktion von Körpern als Materialisierung kultureller Ordnungen“,2 so erscheinen die gewalttätigen, ununterscheidbaren Freundesleiber als buchstäbliche Verkörperung des literarischen Modells, das Gleichheit und Identität verknüpft. Mithin erscheinen die literarisch konstituierten Freundesleiber als ‚utopische Körper‘, in denen sich Phantasmen und (textuell produzierte) Stofflichkeit vereinen und so Bedeutung stiften.3 Einen interessanten Weg nimmt dieses spezifische Modell von Gleichheit im spätmittelalterlichen Strang der ‚verwilderten‘ AmicusAmelius-Texte. Aufgrund ihrer narrativen Struktur sind diese Bearbeitungen dem Amicus-Amelius-Korpus zuzuordnen, denn sie verfügen sowohl über die Konstruktion der Freundesgleichheit als auch die beiden aufeinander bezogenen Freundschaftsbeweise. Gleichwohl sind diese Fassungen vom Textkorpus abzugrenzen, da sich in ihnen ein Beziehungsgeflecht entfaltet, das das ursprüngliche Amicus-Amelius-Modell modifiziert. Diese Textgruppe, die im 15. Jahrhundert einsetzt, entwirft eine Genealogie, in die Amicus und Amelius eingebunden werden und in der Gleichheitskonzeptionen als textgenerierende Momente wirken. Hinsichtlich der anfangs durchgeführten Klassifizierung des Amicus-Amelius_____________ 2 3
Klinger 2002, S. 282. Vgl. zur diskursiven Verfasstheit von Körpern aus gendertheoretischer Perspektive vor allem Butler 1997. Zum utopischen Körper vgl. Foucault 2005, S. 23-36 und S. 53-65.
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Ergebnisse und Ausblick
Korpus sind diese Bearbeitungen in der Gruppe der Grenzfall-Texte zu verorten, da sowohl adlig-höfische als auch christliche Sinnhorizonte massiv aufgerufen werden. Zu dieser Gruppe gehören vier handschriftliche Alexandrinerversionen aus dem 15. und diverse Drucke mit Prosaauflösungen aus dem 16. Jahrhundert.4 In diesen Texten vereinen sich gattungsspezifische Elemente des höfischen Romans mit der Handlungsstruktur der chanson de geste Ami et Amile zu einer hybriden Form. Karlheinz Stierle beschreibt diese gattungsmäßige Verbindung als Ursache einer Verwilderung des Romans: Erst wo ‚chanson de geste‘ und ‚höfischer Roman‘ sich zu einer neuen Struktur verbinden, wird die Form des Romans zu einer dialektischen Form, die immer neu hervorgeht aus einem gattungskonstitutiven Widerspruch, der gleichsam die Unruhe bildet, die den Roman immer wieder neu aus seinen Verfestigungen und Begrenzungen ausbrechen ließ.5
Diese Entgrenzung des Erzählten in einer „endlosen narrativen Bewegung“6 benennt Stierle mit dem Begriff der ‚Verwilderung‘. Die hier zu besprechende Amicus-Amelius-Textgruppe arbeitet mit einer Vervielfältigung von Personen und Handlungssträngen, die sie zur Klassifizierung als ‚verwilderte‘ Texte qualifiziert. Die ursprüngliche Geschichte wuchert zu einem äußerst umfangreichen Text, der an die eigentliche Amicus-AmeliusErzählung alle möglichen neuen Abenteuer und bereits existierendes literarisches Personal anschließt und so eine Unendlichkeit der erzählten Welt imaginiert. Nicht wegen der Ausuferung der Amicus-Amelius-Geschichte aber ist die Zuordnung dieser Textgruppe zum Amicus-Amelius-Korpus prekär, sondern aufgrund der Bedeutungsproduktion, mit der die neuen, aneinandergereihten Handlungssequenzen und Personenkonstellationen auf das Amicus-Amelius-Freundschaftsmodell als idealisierte, identitätsbildende Konzeption einwirken und dies grundlegend verändern. In diesen Fassungen werden zwei ursprünglich getrennte, um 1200 nur lose verknüpfte chansons de geste enger miteinander verbunden:7 Die genealogische Lücke zwischen Ami et Amile und Jourdain de Blaye wird in diesem Vorgang geschlossen, indem die Geschichte von Amilles8 Söhnen _____________ 4
5 6 7 8
Arras, Bibliothèque municipale, 696 (704); 1465 (a); Basel, Universitätsbibliothek, F.IV.44; 1425 (b); Chantilly, Musée Condé, 471 (618) (c); Paris, Bibliothèque Nationale de France, fonds français 12547 (p). Zu den Handschriften siehe Neufang 1914 und Matsumura 1999, S. xvii-xix; zu a: Mone 1836, Sp. 353-358, Winst 2004; zu b: Scarpatetti 1977, S. 186; zu c: Matsumura 1987; zu p: Hofmann 1882, S. ix-xi. Zu den Inkunabeln siehe Woledge 1939, S. 442-444, und Moland / D’Héricault 1856, S. xxviii. Stierle 1980, S. 258. Stierle 1980, S. 260. Vgl. Kap. II.1.3. Nach Neufang 1914 wähle ich die Namen Ami und Amille, wenn ich über diese Textgruppe spreche.
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eingefügt und dann auf Amis Enkel Jourdain verwiesen wird.9 Hinzu kommt die Geschichte der Eltern des Freundespaares: Die lignage wird also in beide Richtungen ausformuliert, so dass Ami und Amille das Zentrum bilden. Die Texte entwerfen eine Freundesgenealogie von Doppelgängern, die sich von konventionellen verwandtschaftlichen Strukturen distanziert und eine verdoppelte Agnationslinie produziert, die sich aus aufeinanderfolgenden Männerpaaren konstituiert. Tatsächliche Blutsverwandtschaft ist in diesem Zusammenhang nicht von Notwendigkeit: Zwar beruht die Verbindung zwischen dem ersten und dem zweiten Paar noch auf herkömmlicher Verwandtschaft, da auf die Freundesväter das Freundespaar selbst folgt. Beim anschließenden Zwillingspaar handelt es sich aber streng genommen um Amilles Söhne, die allerdings im Bedeutungskontext der Geschichte zu den Söhnen beider Freunde werden. Die folgende Generation bilden Amis Enkel Jourdain, der von Amis Sohn Girart abstammt, und sein Doppelgänger Garnier. Kontinuität erwächst nicht aus einer sich fortschreibenden einzelnen Blutlinie, sondern aus dem Rückgriff auf beide Freundeslinien, die gleichberechtigt nebeneinander existieren, sich in diesem Entwurf aber miteinander vermischen und als zusammengehörig wahrgenommen werden. Zunächst wird die Aufmerksamkeit auf Amilles Vater Antiaume, den Grafen von Auvergne, und Amis Vater Henri, Antiaumes Seneschall, gelenkt. Das ursprünglich herrschaftliche Verhältnis verändert sich besonders durch die gemeinsame Gefangenschaft und Rettung im Orient dahingehend, dass die hierarchisch organisierte Relation zunehmend als Freundschaft entworfen wird. Die Gemeinschaft der Väter präfiguriert die ihrer Söhne: Dem ersten vergleichsweise gering ausgeprägten Modell von Freundschaft und Gleichheit folgt mit Ami und Amille die in dieser Arbeit beschriebene Konstellation eines nicht verwandten, aber ununterscheidbaren Freundespaares. Zusammengehörigkeit wird über die gleichen Körper der Gefährten angezeigt. Die Statusdifferenz zwischen den Gefährten bildet hier einen Differenzierungsmodus, der in den anderen AmicusAmelius-Texten nicht so stark ausgeprägt ist. Während in den übrigen Bearbeitungen der Rangunterschied im Laufe der Narration entweder teilweise überbrückt (Aufstieg des rangniederen Freundes) oder ausgelöscht wird (gemeinsamer Kriegsdienst bis zum Tode), bleibt in diesen Amicus-Amelius-Bearbeitungen die Differenz stets präsent. So steht Ami immer in Amilles Schatten, da es permanent Amille ist, dessen Taten beschrieben werden oder der für beide spricht, obwohl Ami an seiner Seite _____________ 9
Auch auf der chanson de geste Jourdain de Blaye basiert analog eine ‚verwilderte‘ spätmittelalterliche Alexandrinerversion. Vgl. dazu Matsumura 1999. Auf diese Version greifen einige Texte des Ami-Amille-Stranges zurück: Die jeweiligen Enden beziehen sich in variierendem Umfang auf den Anfang von Jourdain de Blaye en Alexandrins.
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ist. Diese Unterscheidungstendenz findet sich auch auf körperlicher Ebene: Amille besitzt – wie seine Söhne und Amis Enkel – ein Muttermal.10 Obgleich die Gefährten sich auch hier einander zum Verwechseln ähneln, wird mit dem Muttermal eine Differenzierung der Freundesleiber vorgenommen, die den Gleichheitsentwurf zurücknimmt. Allerdings wird dies nicht als Problem markiert, wie dies etwa beim Statusunterschied in Konrads Engelhard der Fall ist. Die Differenz bleibt trotz Amis Aufstieg präsent. Im Tod scheint der Unterschied zunächst ausgelöscht zu werden: Die Freunde begeben sich auf eine gemeinsame Pilgerreise, auf der sie von Ogier von Dänemark erschlagen werden. Ogier befällt Reue, und er lässt die Gefährten in Mortier begraben, woraufhin Wunder an ihrem Grab geschehen. Die heiligen Körper werden wieder ausgegraben; eine Abtei wird gegründet. Dieses aber trägt nur Amilles Namen: abeye saint amille (a, Bl. 99r).11 Obgleich die toten Leiber letztlich in ewige Unterschiedslosigkeit eingehen, wird Ami auch hier seinem Kameraden untergeordnet. Diese Beziehungskonstellation spiegelt sich bereits in der Elterngeschichte, die von einem herrschaftlichen Verhältnis erzählt, das aber von absoluter Treue und amour getragen wird. Eine Variation der Doppelgängerthematik schließt sich an die AmiAmille-Sequenz an: Amilles Söhne Antiaume und Florisset sind Zwillinge. Während Ami und Amille als identische, aber nicht miteinander verwandte Freunde ein Paar bilden, stellt nunmehr Verwandtschaft das Einheit stiftende Moment dar. Im Gegensatz zu Ami und Amille dominiert der Versuch, die Brüder deutlich zu differenzieren. Die beiden werden voneinander abgegrenzt, indem sie als dreijährige Knaben getrennt werden und völlig unterschiedliche Lebenswege beschreiten. Die Brüder wachsen an unterschiedlichen Orten und mit unterschiedlichen sozialen Einbindungen auf und wissen nicht um ihre Herkunft oder die Existenz eines Bruders. Schließlich stehen sich die jugendlichen Kämpfer unerkannt im Kampf gegenüber: Der unvergleichbar starke Florisset wurde von Löwen aufgezogen und kämpft auf der heidnischen Seite; der bei einem Förster aufgewachsene, ausgezeichnete Bogenschütze und Kämpfer Antiaume kämpft im Karlsheer.12 In einer Kampfespause, die aufgrund der kriegerischen Ebenbürtigkeit der Kontrahenten eingelegt werden muss, wird die _____________ 10 11 12
Vgl. a, Bl. 1r, und p, Bl. 2r. Vgl. a, Bl. 98r-99r, und p, Bl. 88v-89v. Damit wird das Erzählschema der getrennten und deutlich voneinander unterschiedenen Zwillinge aufgegriffen, wie es ähnlich in der Geschichte von Valentin und Namelos, die ebenfalls im späten Mittelalter mehrfach bearbeitet wird, vorkommt. Vgl. etwa die Ausgabe der mittelniederdeutschen Bearbeitung von Langbroek / Roeleveld 1997. Zum Vergleich von Freundschafts- und Verwandtschaftsentwurf in Amicus und Amelius und Valentin und Namelos vgl. Winst 2009.
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Verwandtschaft, vor allem aber der Status der Kämpfer als Karlsenkel offengelegt. Die ausbrechende Liebe wird in eine baldige Trennung der Zwillingsbrüder überführt. Beide heiraten bekehrte heidnische Prinzessinnen (Florisset muss selbst erst konvertieren) und nehmen deren Länder in Besitz.13 Ihre Bindung ist nicht wie die von Ami und Amille von Nähe geprägt, sondern im Gegenteil von Trennung und – temporärer – Gegnerschaft. Trotz vorbildlicher Herrschaftsaneignung sterben sowohl Antiaume als auch Florisset offenbar ohne Nachkommen. Für die genealogischen Anstrengungen der Textgruppe bleibt dies jedoch folgenlos, da das Freundespaar mit Amis Sohn Girart noch einen weiteren Sohn besitzt. Obgleich von ihm nicht durchgängig die Rede ist, garantiert er die Dauer der Freundesdynastie über die Textgrenzen hinaus: Er heiratet Ermengart und zeugt mit ihr Jourdain. In der chanson de geste Jourdain de Blaye und ihren Ausläufern verfügt auch Jourdain temporär über einen Doppelgänger,14 der aber an seiner Stelle sterben muss.15 Die jeweilige Protagonisten-Doppelung demonstriert den Zusammenhang zwischen Geschlechtern und Generationen, der auf einer Ästhetik der Zweizahl beruht. Adlige vorbildliche Identität wird gesteigert, indem einem jeden Herren stets ein Gefährte zugeordnet wird. Die Zusammengehörigkeit der Helden konstituiert sich über variierende Elemente: amour (p, Bl. 15r; 18r) und geteilte Erfahrungen schließen die Freundesväter und die Freunde selbst zusammen; körperliche Gleichheit gilt für Ami und Amille, aber auch für Amilles Zwillingssöhne und für Jourdain und Garnier; an gemeinsamem Blut partizipieren Amilles Söhne, durch das Kindesopfer aber auch Ami und Amille. Das homosoziale Universum, das bereits in den anderen Amicus-Amelius-Texten erschaffen wurde, wird zu einer männlichen ‚Doppelgängerdynastie‘ ausgeweitet. Ute von Bloh hat die Bedeutung von ‚Doppelgängern‘ in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Texten herausgearbeitet: „Die ununterscheidbar ähnliche Person ist im Mittelalter und in Früher Neuzeit [...] als Partner imaginiert, die zu ihrem Double in einer positiv konnotierten Beziehung steht.“16 Sie betont, dass Doppelungen „identitätsstabilisierend[]“17 wirken, was auch für die hier betrachteten Texte zutrifft.18 _____________ 13 14 15 16
Vgl. a, Bl. 107v-188v, und p, Bl. 97r-161v. Zum Begriff und zur Figur des Doppelgängers in mittelalterlicher Literatur vgl. von Bloh 2005. Vgl. Jourdain de Blaye, L. 6-20: Garnier, der Sohn von Seneschall Renier, wird an Jourdains Stelle dem Verräter Fromont ausgeliefert und von diesem getötet. Von Bloh 2005, S. 342. Sie betont die Alterität mittelalterlicher ‚Doppelgänger‘ im Gegensatz zu Doppelgängern in moderner Literatur. „Mittelalter und Frühe Neuzeit aber kennen den Terminus des Doppelgängers nicht, und ebenso wenig etwa das Verhältnis zum Doppelgänger als entfremdeter Teil des Subjekts“ (S. 341). „Gleichwohl phantasieren auch mittelalterliche oder frühneuzeitliche Texte das Thema der Doppelungen aus“ (S. 342).
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Funktioniert der diachrone Zusammenhang zwischen den Freundesvätern, den Freunden selbst und ihren Söhnen durch echte Blutsverwandtschaft, zeigen sich spätestens an der Figur des Jourdain neue Parameter von Verwandtschaft: Jourdain ist streng genommen nur Amis Enkel, gleichwohl erscheint er als Nachfahre des Freundespaares. Dies resultiert nicht nur aus dem simplen Umstand, dass sukzessive über die aufeinanderfolgenden Generationen erzählt wird. Im gesamten AmicusAmelius-Korpus sind die Gefährten und die Söhne des gesunden Freundes durch die bereits beschriebenen Geschehnisse beim Blutsopfer miteinander verbunden, da durch sie eine spezifische Form von Freundesverwandtschaft konstruiert wird. Haben sich die Blutslinien der Gefährten bei der zweiten Freundschaftsprobe vermischt, so erfolgt in der ‚verwilderten‘ Amicus-Amelius-Textgruppe eine weitere Verschränkung der einzelnen Geschlechter zu einer gemeinsamen Dynastie. Erschienen Amilles wiederauferstandene Kinder durch ihre Beteiligung an Amis wundersamer Heilung schon quasi als Söhne der Freunde, wird durch die narrative Ausformulierung der Ereignisse um das Zwillingspaar dieser Eindruck weiter verstärkt. Zwar ist Amille der eigentliche Vater, doch er erscheint zur Zeugung von Zwillingssöhnen nur dadurch prädestiniert, dass er selbst einen Gefährten hat, dem er zum Verwechseln ähnelt und mit dem er eine gemeinsame Identität teilt. Nachdem die Zwillinge Antiaume und Florisset gestorben sind, schwenken die Texte problemlos zu Amis Blutlinie, nämlich zu seinem Sohn Girart und seinem Enkel Jourdain über, um an ihnen die Weiterführung der lignage zu demonstrieren, ohne dass ein Bruch zwischen den einzelnen Clans wahrnehmbar wäre. Die Textgruppe arbeitet mit einer weiteren literarischen Strategie, um dieser spezifischen genealogischen Konzeption Nachdruck zu verleihen. Als Marker der Freundesdynastie fungieren Muttermale und Körperzeichen, die in verschiedenen Generationen auftauchen. Amille ist der erste, der durch ein Muttermal [e]n maniere si comme dun fier trencant (p, Bl. 2r)19 auf seiner Hand gekennzeichnet ist. Das Zeichen wird nach Amilles Geburt als positiver Hinweis auf seine spätere Gewaltsamkeit und die dadurch zu erringende Herrschaft gedeutet.20 Amilles Söhne Antiaume und Florisset tragen ebenfalls Körperzeichen: Nach ihrer wunderbaren Wiederauferste_____________ 17 18 19 20
Von Bloh 2005, S. 349. Vgl. zu Zwillingen in mittelalterlichen Erzählungen von Bloh 2007. Sie arbeitet die Ambivalenz der Zwillingsgleichheit heraus, die „erzählstrategisch beseitigt oder mit den mitlaufenden Ordnungsmustern harmonisiert wird“ (S. 14). „wie von einer scharfen Klinge“ Vgl. p, Bl. 2v. Der von einem Zauberer gerufene Teufel liefert diese Deutung, nachdem zuvor alle anderen an der Interpretation gescheitert sind.
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hung findet sich bei beiden par divine maistrie (a, Bl. 95r)21 ein Kreuz auf der Schulter, das der Erzähler als Indiz für die zukünftige Königswürde der Knaben interpretiert.22 Finden sich diese Male in allen Hss. dieser Textgruppe, gehen in der Hs. a die auf Herrschaft verweisenden Muttermale auch auf Jourdain über.23 Zwei Kreuze auf seiner Schulter erinnern an Antiaume und Florisset, zudem verfügt Amis Enkel über verschiedenfarbige Gliedmaßen, über die seine Mutter zunächst sehr besorgt ist. Die Eltern sind dann über die positive Auslegung eines Einsiedlers erfreut, der die Kreuze als Zeichen dafür deutet, dass Jourdain einstmals heidnische Königreiche unterwerfen wird. Die seltsam aussehenden Arme und Beine werden ebenfalls einer Deutung unterzogen: Das weiße Bein zeigt Jourdains Demut und Gerechtigkeit, er wird ein Beschützer der Armen werden. Das schwarze Bein verweist auf das große Leid, das ihm schon als kleinem Jungen widerfahren wird. Der linke, rote Arm steht für Jourdains Kampfkraft gegen die Sarazenen, denn sein Schwert wird bis zum Griff rot von Blut sein. Der rechte, gelbe Arm bedeutet Mut und Stärke.24 Die Körperzeichen ersetzen die tatsächliche Blutsverwandtschaft und erzeugen eine neue Form der Genealogiebildung. Die Male vererben sich nicht geradlinig von einer Generation zur nächsten, sondern wechseln innerhalb der Familien von Ami und Amille und bezeugen so erneut die Freundesverwandtschaft. Die Geblütslinien der Freunde durchdringen sich gegenseitig. Dies manifestiert sich auf den Körpern der Söhne und Enkel. Die körperliche Übereinstimmung hinsichtlich der Kreuzesmale bekundet neben der Zusammengehörigkeit auch den Herrschaftsanspruch ihrer jeweiligen Träger und unterstreicht so nochmals die politische Effektivität männlicher Bündnisse, die sogar dynastiebildend wirken. Die überbordende Kennzeichnung von Jourdains Leib durch verschiedene Farben scheint auch das Resultat der außergewöhnlichen Dynastie zu sein: Als letzter Abkomme der ‚Doppelgängerdynastie‘ stellt sein Körper nochmals die identitätsstiftende Kraft dieser lignage heraus. Seine Körperkennzeichen nehmen auf die anderen adligen Männerkörper Bezug und werden zudem _____________ 21 22
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24
„durch göttliche Macht“ Vgl. a, Bl. 94vf., und p, Bl. 85v. In der Hs. a steht an der Stelle des Wortes crois (p, Bl. 85v) ein kleines, gleichschenkliges Kreuz (Krückenkreuz bzw. vierfaches Tau- oder Antoniuskreuz). Die Benutzung von piktographischen Zeichen ist in dieser Hs. kein Einzelfall. Vgl. dazu Winst 2004. Vgl. a, Bl. 190r-191v. In den anderen Hss. endet die Geschichte mit der Geburt Jourdains, ohne dass körperliche Besonderheiten aufgezeigt werden. Zum Verhältnis der Hss. an dieser Stelle vgl. Neufang 1914, S. 79f. Zu den verschiedenen Enden der einzelnen Hss. vgl. Matsumura 1999, S. xviif. Der Druck Berlin, SBB-PK, Xx1283 R, aus dem 16. Jahrhundert stimmt mit der Hs. a überein. Vgl. Bl. 138r-139r. Von den bunten Armen ist erst in der Deutung des Einsiedlers die Rede, vorher wurden nur die Kreuze und die farbigen Beine erwähnt.
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an einen Prozess der Bedeutungsstiftung hinsichtlich adliger Gewaltausübung und Machtvisionen geknüpft.25 Die einzelnen Handschriften und Drucke inkorporieren in je unterschiedlich ausgeprägter Weise den Beginn der Jourdain-Geschichte: Während etwa die Hs. Paris, Bibliothèque Nationale de France, fonds français 12547, (p) am Ende nur kurz auf Jourdains Geburt verweist und damit den Blick auf eine weitere textuelle Welt eröffnet, berichten die Hs. Arras, Bibliothèque municipale, 696, (a) und der Druck Berlin, SBB-PK, Xx 1283 R ausführlicher über die Umstände der Geburt und die Beschaffenheit und Ausdeutung von Jourdains Körper.26 Die verschiedenfarbigen Körperteile aber, denen in der Exegese spezifische Bedeutung zugewiesen wird, existieren in der chanson de geste Jourdain de Blaye des 13. Jahrhunderts nicht: Erst in den ‚verwilderten‘ Jourdains de Blaye en Alexandrins aus dem 15. Jahrhundert findet sich diese Besonderheit. Teile des ‚verwilderten‘ Amicus-Amelius-Stranges kommentieren damit implizit ihre Stellung in spätmittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Erzählkonventionen, die auf bekannte Texte zurückgreifen, diese aber anschwellen lassen und dabei modifizieren.27 Die eigentliche Geschichte von Jourdain wird in den ‚verwilderten‘ Amicus-Amelius-Texten nicht mehr erzählt. So wird auch seine wesensmäßige Verknüpfung mit der ‚Doppelgängerdynastie‘ erst in Jourdain de Blaye offenbar: Der dem Verräterclan angehörende Fromont lässt Jourdains Eltern töten, um für Hardrés Tod (in Ami et Amile) Rache zu nehmen. Dass auch Jourdain getötet wird, verhindern Seneschall Renier und seine Frau Eremborc. Statt Jourdain an Fromont zu übergeben, händigen sie ihm ihren eigenen Sohn Garnier aus, der Jourdain zum Verwechseln gleicht.
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26 27
Diese spezifische Genealogie steht indes nicht als Gegenmodell herkömmlichen Formen verwandtschaftlicher Kontinuität gegenüber, sondern wird an andere Sippen und Clans angeschlossen. So wird die Freundesdynastie mit Karl dem Großen verknüpft. Aber auch der Verräterclan erscheint in diesen Texten. Vgl. zum Verräterclan in der chanson de geste Kap. II.1.3. Vgl. a, Bl. 188v-192r, p, Bl. 162r, und Berlin, Bl. 138v-140v. B (Basel, Universitätsbibliothek, F.IV.44) lässt den Schluss etwas länger ausfallen als p. Vgl. Matsumura 1999, S. xviif., zur Entsprechung der handschriftlich überlieferten Textenden mit den entsprechenden Passagen von Jourdain de Blaye en Alexandrins, der ‚verwilderten‘ Fassung der chanson de geste Jourdain de Blaye, die ebenfalls ins 15. Jahrhundert datiert.
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Por no seignor delivronz nostre fil, Onques Fromons ne sa gens ne le vit Et d’un aé et d’un samblant sont il, Se li feronz acroire que c’est il. (Jourdain de Blaye, V. 487-490)28
Fromont lässt Garnier enthaupten.29 Damit wird das Doppelgängermotiv ein weiteres Mal variiert: Hier wird der Statusniedere geopfert, um den Herrensohn zu retten. Es gibt keine Gemeinschaft oder Zusammengehörigkeit zwischen den ‚Doppelgängern‘, da der eine im Kindesalter für den anderen stirbt. Die identitätsstiftende Wirkung einer Bindung zu einem gleichen Mann schlägt für den einen in einen lebensbedrohlichen, für den anderen in einen rettenden Effekt um. Die Bedeutsamkeit dieser Bindung manifestiert sich auf einer ganz elementaren Ebene: Sie kann Leben und Tod bewirken. Während Jourdain lebt und nach seinen diversen Abenteuern Rache an der Verrätersippe nehmen wird, wird Garnier ausgelöscht. Auffällig ist das Interesse an den verschiedenen Vergesellschaftungstypen, das sich im Entwurf dieses Strangs der Amicus-Amelius-Texte artikuliert: Zum einen bildet die Freundschaft zwischen Ami und Amille auch hier ein zentrales Modell, das durch Gleichheit, Freiwilligkeit und Gemeinschaftlichkeit markiert ist. Zum anderen wird die Gleichheit von Amilles Söhnen an Verwandtschaft gekoppelt: Gleichheit bezieht sich hier nicht so sehr auf äußere Ähnlichkeit, sondern auf Ebenbürtigkeit im Kampf, die auf die gleiche Herkunft verweist. Gemeinschaft besteht nur punktuell. Gleichwohl kommt auch hier den Körpern Bedeutung zu: Da sie durch die Kreuzeszeichen markiert sind, die auf ihre Abstammung vom Freundespaar rekurrieren, schaffen die Zwillingsleiber dynastische Kontinuität. Neben diesen beiden zentralen Doppelgängerpaaren erzählen die Texte von peripheren Doppelgängerpaaren, die die Dynastie einleiten und ausklingen lassen: Sie sind durch vasallitisch-herrschaftliche Bindungen gekennzeichnet. Damit sind alle homosozial organisierten Bindungstypen in die Freundesdynastie integriert und unterstreichen das Anliegen der Texte, eine männliche lignage zu konstruieren, sowie grundsätzlich das homosoziale Universum, das sie entwerfen.30 _____________ 28
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„Für unseren Herrn liefern wir unseren Sohn aus, noch nie haben Fromont oder seine Leute ihn gesehen und da sie gleichen Alters und Aussehens sind, werden wir sie glauben machen, dass er es ist.“ Vgl. Jourdain de Blaye, V. 700-708. Doch auch Geschlechterverhältnisse wuchern in den ‚verwilderten‘ Amicus-Amelius-Texten. Ein Prinzip der Doppelung lässt sich für die Frauenfiguren der Ami-Amille-Handlung erkennen, da beide Helden jeweils nicht – wie in den anderen Texten – nur eine, sondern – nacheinander – zwei Frauen haben. So heiratet Amille zunächst Sadoine, die Prinzessin von Konstantinopel, die aber von Heiden in ihrer Burg verbrannt wird. Vgl. a, Bl. 50v-51r, und p, Bl. 44v-45v. Mit Belissant verbindet sie, dass auch sie Amille zu kämpferischen Ta-
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Männlichkeit ist in dieser Linie an kontinuierliche Gewaltausübung geknüpft: Neben der spezifischen Gewaltkonstellation des Amicus-AmeliusModells sind alle Protagonisten, die in dieser Textgruppe auftreten, fast unaufhörlich in Kämpfe gegen Heiden und Sarazenen verwickelt, so dass Gewalt stets in einen Bedeutungskontext gestellt wird, der adlige und christliche Deutungsmuster vereint. Amis und Amilles gewaltsamer Tod auf ihrer Pilgerreise wie der Verweis, dass Florisset als Märtyrer für den Glauben sterben wird,31 stilisieren die Krieger zudem zu Heiligen, so dass Gewalt und Heiligkeit erneut aufeinander bezogen werden. Die Figuren, die über Körperzeichen verfügen, die ihrerseits auf Herrschaftsfähigkeit und überlegene Gewaltsamkeit verweisen, lassen den identitären Zusammenhang von Gewalt und Männlichkeit besonders deutlich werden: Ihre gekennzeichneten Leiber macht diese Verkopplung nicht nur im aktiven Handeln, sondern auch auf der Zeichenebene sichtbar. Da mehrere Doppelgänger die Körpermale tragen, manifestiert sich in ihnen zudem die Vorstellung des identitären Modells, in dem Gleichheit und Gewalt gemeinsame Identität hervorbringen. Die aus Männerpaaren bestehende Freundesgenealogie rekurriert auf die Wirksamkeit eines homosozialen Modells identitätsstiftender Gleichheit, das in mehreren Variationen durchgespielt wird. Diese Akkumulation mündet indes in eine Neukonfiguration, die das ursprüngliche Modell hinter sich lässt: Mit dem Verweis auf Jourdain de Blaye wird das Doppelgänger-Motiv nur aufgenommen, um es hinter sich zu lassen. Das Doppelgängermodell wird ausgelöscht, als Garnier für Jourdain stirbt. Jourdains Identitätsbildung erfolgt dann nicht mehr in Zusammenhang mit dem Gleichheitsmodell, das die Beziehung zu gleichen Männern zentral setzt. Stattdessen wird für ihn seine eigene neugegründete Familie wichtig, und zwar besonders seine Tochter Gaudiscete. Er gibt seine französischen Erbländereien auf und wird Herrscher im Orient. Jourdain verlässt den westlichen Kulturraum und lässt die Konzeption einer exklusiven Zweierbindung zwischen männlichen Adligen zurück. Die narrative Verknüpfung von Ami et Amile mit Jourdain de Blaye in den ‚verwilderten‘ Amicus-Amelius-Texten präsentiert mithin einen chronologischen Ablauf, der Aufstieg und konzeptionelles Ende des doppelgängerischen Gleichheitsmodells beschreibt. Es ist indes nicht zu vergessen, _____________
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ten anspornt und mit überlegener Kampfeskraft ausstattet. Auch Ami ist vor seiner Hochzeit mit Lubias heimlich mit einer anderen Dame verbunden: Seine geheime Beziehung zu Flore, der Tochter des Duc von Lengres, findet ein abruptes Ende, da sie von ihrem Vater ins Verlies gesperrt und gefoltert wird. Vgl. a, Bl. 20v-25r, und p, Bl. 18v-22v. Als ihr Vater sie später mit Ami verheiraten will, hat sich Flore für ein keusches Leben in einer Abtei entschieden. Vgl. a, Bl. 48rf., und p, Bl. 42vf. Vgl. a, Bl. 175r, p, Bl. 153v, und Berlin, Bl. 130v.
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dass beide chansons de geste bereits um 1200 entstehen und damit sowohl die Amicus-Amelius-Freundschaft als auch die Distanzierung vom Doppelgängermotiv im Jourdain bereits einer früheren Zeit angehören. Beide Modelle existierten offenbar nebeneinander, ohne sich auszuschließen oder zu beschädigen. Erst in den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bearbeitungen werden die vormals unabhängigen Konzepte als fortlaufende Kette gedeutet, die einander im sukzessiven Ablauf ablösen. Im Erzählkontinuum der Doppelgängerdynastie, in der Variationen des Schemas zu einem genealogischen Text zusammengeschlossen werden, bildet Jourdain den Abschluss: So legen die Texte die Deutung nahe, die literarisch präsentierte Aufeinanderfolge der identitätsstiftenden Modelle als einen quasi historischen Prozess zu lesen. Obwohl das Freundschaftsmodell nach wie vor positiv gewertet wird, findet sich in diesen Amicus-Amelius-Texten ein literarisches Bewusstsein davon, dass sich das identitätsstiftende Modell männlicher Freundschaft zwischen Gleichen zersetzt. Die Verknüpfung der Freundschaft mit anderen Bindungstypen und die Neumodellierung anderer Vergesellschaftungsformen, von denen sich die Kriegerfreundschaft zuvor abgrenzte, erscheinen als Anfang vom Ende des Gleichheitsmodells. Durch den Zusammenschluss der verschiedenen Gleichheitskonzepte sowie durch den Ausblick auf deren Auflösung im Jourdain wird die Kraft dieses Modells nochmals sichtbar, gleichzeitig aber wird auf andere identitätsbildende Konzeptionen verwiesen, die vom ersten Modell abweichen und dieses ersetzen. Insofern weisen diese Texte bereits über das Amicus-AmeliusUniversum hinaus und deuten auf neue Welten hin, in denen andere Beziehungskulturen entworfen werden.
Anhang Das Amicus-Amelius-Textkorpus I. Klassifizierung nach Deutungs- und Sinngebungsmodellen 1. GRUPPE: Texte mit vorwiegend feudaladligem bzw. höfischem Sinnhorizont 1. Mittellateinische Versfassung von Radulfus Tortarius: Epistula II Ad Bernardum - spätes 11. Jahrhundert - Hs.: Vatikan, Vat. lat. Reginensis 1357 (12. Jh.) - Edition: Ogle / Schullian 1933, S. 256-267 - Übersetzung ins Englische: Leach 1937/1990, S. 101-105 2. Anglonormannische Verserzählung Amys and Amillyoun - von Fukui 1990 ins Ende des 12. Jh. datiert - Hss.: K1: Cambridge, Corpus Christi College, MS 50, fol. 94vb-102ra, 2. Hälfte des 13. Jh. L: London, British Library, MS Royal 12. C. XII, fol. 69ra-76rb, Ende 13. / Anfang 14.Jh. C: Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, 345 (olim Durlach 38), fol. 52ra-61vb; Ende 14.Jh. - Editionen: Fukui 1990 (L); Kölbing 1884, S. 109-187 (K mit Ergänzungen aus L, C im Apparat) 3. Mittelenglische romance Amys and Amylion - von Leach 1937/1990 ins 12. Jh., von Fukui 1990 ins späte 13. Jh. datiert - Hss.: A: Edinburgh, National Library of Scotland, MS Auchinleck W.4.1. (Adv. 19.2.1.), fol. 48d-61a; 1. Hälfte des 14. Jh. (Le Saux 1993) oder 2. Hälfte des 14. Jh. (Leach 1937 / 1990, Kölbing 1884) S: London, British Library, MS Egerton 2862, fol. 135a-147c; Ende 14. Jh. _____________ 1
Siglen nach Kölbing 1884.
Klassifizierungen
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D: Oxford, Bodleian Library, MS Douce 326 (Bodleian 21900), fol. 113; 2. Hälfte 15. Jh. H: London, British Library, MS Harley 2386, fol. 131a-137d und 138; 15. Jh. - Editionen: Leach 1937/1990 (A); Le Saux 1993 (D) 4. Lille 130: Ici parole de la grant amour qui fu entre Amiles et Amis - französische Prosaversion aus dem 14. Jh. - Hs: Bibliothèque de Lille, 130, fol. 75-78. - Edition: Woledge 1939, S. 452-456 5. Konrad von Würzburg, Engelhard - ausschließlich durch einen 1573 in Frankfurt am Main bei Kilian Han erschienenen Druck überliefert - Exemplar: Berlin, SBB-PK, Yg 2861 R2 - Edition des rekonstruierten mittelhochdeutschen Textes: Reiffenstein 1982 - Edition des Druckes in Abbildungen: Steinhoff 1987 - Übersetzung: Schmitz 1989 6. Vaticinium/Amici-Erzählung in der H-Redaktion der Historia septem sapientum Historia septem sapientum - lateinische Prosaversion - Gruppe I / II: Hs.: Innsbruck, Cod. 310, 138r-183v; 1342 - Gruppe III: Hs.: Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, 27983, 1386, 125ra-164rb - Gruppe IV: Hs.: München, Universitätsbibliothek, 2° Cod. ms. 672, 1. Drittel 15. Jh., 176ra-198va - ausschließlich Reductiones: Hs.: St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 939, 15. Jh., 365-3763 - Edition: Roth 20044
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Vgl. Steinhoff 1987, S. 3, zu weiteren Exemplaren. Gruppe IV und die Reductiones gehören aufgrund der Verkürzungen streng genommen nicht mehr zum Amicus-Amelius-Korpus. Gruppen und jeweilige Leithss. nach Roth 2004. Zu weiteren Hss. und Drucken siehe ebd., S. 15-109.
454
Anhang
Hans von Bühel, Dyocletianus Leben - alemannische Versfassung von 1412 - Hs.: Basel, Universitätsbibliothek, Cod. O. III. 14 - Edition: Keller 1841 Von den sieben Meistern - anonyme deutsche Versfassung aus dem 15. Jh. - Hs.: Erlangen, Universitätsbibliothek, B 11, Bl. 22r-154v - Edition: Keller 1846 Historia Septem Sapientum deutsch - Hs.: Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 149; Mitte 15. Jh. - Niederalemannische Prosafassung aus der Werkstatt von Diebold Lauber in Hagenau Die Historia von sieben weisen Meistern und dem Kaiser Diocletianus - Niederalemannische Prosafassung - Hs.: Gießen 104, Bl. 12r-57v; kurz nach Mitte des 15. Jh. - Edition: Steinmetz 2001 Die Hystorij von Diocleciano - frühneuhochdeutsche Prosabearbeitung aus dem 3. Viertel des 15. Jh. - Hs.: Wien, Schottenstift, Codex 407, Bl. - Edition: Steinmetz 1999 Von syben maistern vnd yrn peyspilen - elsässische Prosafassung - Hs.: Brno, Moravská knihovna / Universitní knihovna, Rkp 84 4°, 15. Jh., Bl. 334-517 - Edition: Roth 2008 Historia septem sapientum deutsch - bairische Prosafassung - Colmar, Bibliothèque de la ville, ms. 55, 1468/69, Bl. 123r-223r - Edition: Roth 2008 L’Ystoire des Sept Sages - französische Prosafassung - Druck: Genf, 23. Mai 1492 - Edition: Paris 1876, S. 55-205
Klassifizierungen
455
2. GRUPPE: Texte mit vornehmlich christlich-religiösem Deutungsmuster 1. Elaborierte Vita Lateinische Prosalegende Vita Amici et Amelii carissimorum - von Bédier 1885 und Leach 1937 / 1990 ins 12. Jh. datiert - Hss.:5 Paris, Bibliothèque Nationale, anc. f. lat. 6188, fol. 48r-61r; 14. Jh. St. Omer, St. Bertin 776; 13. Jh. - Editionen: Kölbing 1884, S. xcvii-cx (Paris); Mone 1836, Sp. 146-160 (St. Omer) - Übersetzung ins Englische: Kuefler 2000 Französische Prosalegende Li Amitiez de Ami et Amile - Hs.: Paris, Bibliothèque Nationale, anc. pet. f. fr. 25438 (= La Vallière 86), fol. 194-202; 13. Jh. - Edition: Moland / D’Héricault 1856, S. 35-82 Kymrische Prosalegende Kedymdeithyas Amlyn ac Amic - Hs.: Llyfr Coch o Hergest, Jesus College, Bodleian Library, Oxford, MS. 111, 14. Jh. - Edition: Williams 1982 - Übersetzung ins Französische: Gaidoz 1879/80 Zwei Fragmente einer mittelhochdeutschen Verslegende - Hs.: Eichstätt, Stadtbibliothek, N II No. 167: 2 Falzstreifen um den Rücken der ersten und letzten Papierlage; 13. Jh. - Edition: Rosenfeld 1968 (Nordische Amícus Rímur ok Amilíus - Hs.: Stockholm, Kungliga Biblioteket, A.M. chart. 2609c 4°; 17. Jh. - Edition: Kölbing 1884, S. 189-229) 2. Mittellange Vita Vincenz’ von Beauvais De duobus pueris consimilibus Amico et Amelio (mit passio) - lateinische Prosafassung im Speculum Historiale, cap. clxii-clxvi, clxix; 13. Jh. - Druck: Douai, Baltazar Bellerus, 1624 - Faksimile: Vincentius 1624/1965, S. 956-959 _____________ 5
Zu weiteren Hss. nicht nur für diese Vitafassung, sondern auch für die noch folgenden, besonders die lateinischen, vgl. die Listen von Leach 1937/1990, S. ix-xiv, und Oettli 1986a, S. 131-139.
456
Anhang
Lateinische Prosalegende De sanctis Amico et Amelio (mit passio) - Hs.: Graz 873, fol. 199b-202a; 15. Jh. - Edition: Schönbach 1877, S. 850-864 Mittelniederländische Verslegende Van Amise ende van Amelise von Jacob van Maerlant (mit passio) - im Spieghel Historiael, mittelniederländische Übersetzung von Vincenz’ Speculum Historiale - Hs.: Den Haag, Koninklijke Bibliotheek, 20, fol. 201r-204b; 13. Jh. - Edition: Mak 1954 Mittelfranzösische Prosalegende De Amy de Berry et Amiles le conte d’Auvergne (mit passio) - Hs.: Toulouse 452, fol. 59v; 14. Jh. - Edition: Woledge 1939, S. 444-452 Altisländisches Prosafragment (ohne passio) - Hs.: Stockholm, Kungliga Biblioteket, Perg. 4° Nr 6, Bl. 1a-3a36; um 1400 - Edition: Kölbing 1874 - Faksimile: Slay 1972 Schwäbische Prosalegende (mit passio) - Hs.: Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. theol. et phil. 4° 81, Bl. 281v-286r (alte Folierung 286v-291r); 15. Jh. Schwäbische Prosalegende (ohne passio) - Hs.: München, Cgm 523, Bl. 92ra-96rb; 15. Jh. - Edition: Stammler 1963; Reiffenstein 1982, S. 241-249 Legend von den czwain heilign: Amelio, ains grauen sun, vnd Amico, ains ritters sun, vnd die warn gar geleich anen tadel von Andreas Kurzmann (mit passio) - frühneuhochdeutsche Versfassung (südbairischer Dialekt) - Hs.: Salzburg, Universitätsbibliothek, M I 138, 225r-248v; Mitte 15. Jh. - Edition: Oettli 1986a, S. 149-176 Mittelfränkische Prosalegende (ohne passio) - Hs.: Berlin, SBB-PK, Mgq 261, 256r-263r; 16. Jh. - Edition: Oettli 1986a, S. 177-185
Klassifizierungen
457
3. Minimale Vita Amicus-Amelius-Exemplum im mittelniederdeutschen Großen Seelentrost - 4. Geschichte zur Erklärung des 8. Gebots Mynsche, du ne schalt nicht valschliken tugen - Hs.: K: Kopenhagen, Det Kongelige Bibliotek, Thott. Fol. 58, fol. 96r-98r; 15. Jh.6 - Edition: Schmitt 1959, S. 229-233 Amicus-Amelius-Exemplum aus einem mitteldeutschen Seelentrost - 15. Jh. - Edition: Wackernagel 1839, Sp. 981-988 (ohne Angabe der Hs.) Mittelniederdeutsche Prosafassung in der Seelentrost-Tradition - Hs.: Hannover, Niedersächsische Landesbibliothek, I 239, 240r-245r; 16. Jh. - Edition: Oettli 1986a, S. 143-146 Lateinisches Exemplum De Amico et Amelio - Exempel Nr. 138 - Hs.: Breslau, Universitätsbibliothek, I.F. 115, 198vb-199va; 14. Jh. - Edition: Klapper 1914, S. 339f. - Übersetzung: Klapper 1914, S. 139-141 Mittelniederdeutsche Prosafassung in der Cronica Novella des Hermann Korner, einem Lübecker Dominikaner - niederdeutsche Übersetzung, die auf der Fassung D von Korners lateinischer Cronica Novella beruht - Hss.: Hannover, Niedersächsische Landesbibliothek, Cod. XIII 757; vor 1447 Wien, Cod. 3048; 1500 - Edition: Pfeiffer 1864, S. 261-265 (nach der Wiener Hs.) Mittelenglisches Exemplum Amicicia vera multum est laudabilis in der Übersetzung des Alphabetum Narrationum von Etienne de Besançon - Exempel Nr. LV - Hs.: London, British Museum, Additional MS. 25,719; 15. Jh. - Edition: Macleod Banks 1904/05 / 1987, S. 38-41
_____________ 6
Vgl. zu weiteren Hss. und Drucken die Ausgabe von Schmitt 1959, S. 11*-34*.
458
Anhang
3. GRUPPE: Grenzfälle 1. chanson de geste Ami et Amile - um 1200 - Hs.: Paris, Bibliothèque Nationale, fonds français 860, fol. 93a-111a.; 2. Hälfte 13.Jh. - Edition: Dembowski 1987 - Übersetzungen: ins Deutsche Vielhauer 1979 ins Französische Blanchard / Quereuil 1985 ins Englische Rosenberg / Danon 1996 2. Miracle de Nostre Dame d’Amis et d’Amille - Hs.: Paris, Bibliothèque Nationale, anc. fonds français 820, ii, 1a-14c; 15. Jh. - Edition: Paris / Robert 1876, S. 1-67. 3. Späte, ‚verwilderte‘ Ami-Amille-Texte - Hss.: Arras, Bibliothèque municipale, 696 (704); 1465 (a) (Roman d’Amille et d’Ami) Basel: Universitätsbibliothek, F.IV.44; 1425 (b) (Roman d’Amille et d’Ami) Chantilly, Musée Condé, 471 (618); 15. Jh. (c) (Roman d’Amille et d’Ami) Paris, Bibliothèque Nationale, fonds français 12547; 15. Jh. (p) (Roman d’Amille et d’Ami) - Druck: Berlin, SBB-PK, Abteilung Historische Drucke; Xx1283 R, 16. Jh. L’hystoire des nobles et vaillans cheualiers / nommez Milles et Amys / lesquelz en leur viuant furent plais de grandes prouesses.
Klassifizierungen
459
II. Klassifizierung nach den narrativen Positionen der Freunde Amicus-Amelius-Texte: 1.) Texte, in denen Amicus der Gotteskämpfer und Amelius der Kindstöter ist aus Gruppe 1: - Radulfus Tortarius’ mittellateinische Verserzählung - Vaticinium / Amici-Geschichte der H-Redaktion der Historia septem sapientum - alle Texte der Gruppe 2 - alle Texte der Gruppe 3 2.) Texte, in denen Amelius der Gotteskämpfer und Amicus der Kindstöter ist aus Gruppe 1: - mittelenglische romance - anglonormannische Verserzählung - Lille 130 - Konrad von Würzburg, Engelhard III. Klassifizierung nach den Namen der Freunde Amicus-Amelius-Texte: 1.) Texte, in denen die Freunde sehr ähnliche Namen tragen (Amicus und Amelius bzw. volkssprachige Varianten) aus Gruppe 1: - Radulfus Tortarius’ mittellateinische Verserzählung - mittelenglische romance - anglonormannische Verserzählung - Lille 130 - alle Texte der Gruppe 2 - alle Texte der Gruppe 3 2.) Texte, in denen sich die Namen der Freunde deutlich voneinander unterscheiden aus Gruppe 1: - Konrad von Würzburg, Engelhard (Engelhard und Dietrich) - Vaticinium / Amici-Geschichte der H-Redaktion der Historia septem sapientum (Alexander und Lodovicus bzw. volkssprachige Varianten)
Abkürzungsverzeichnis ATB EM FMSt GAG GRM HRG HWbPh HwdA JEGP JOWG L. LMA LiLi LIR MeLis MGH MTU PBB RUB st. Vl ZfdA ZfdPh ZfG ZfrPh ZHF
Altdeutsche Textbibliothek Enzyklopädie des Märchens Frühmittelalterliche Studien Göppinger Arbeiten zur Germanistik Germanisch-Romanische Monatsschrift Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte Historisches Wörterbuch der Philosophie Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens Journal of English and Germanic Philology Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft Laisse Lexikon des Mittelalters Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik Literatur – Imagination – Realität. Anglistische, germanistische, romanistische Studien Medien – Literaturen – Sprachen in Anglistik/Amerikanistik, Germanistik und Romanistik Monumenta Germaniae Historica Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur Reclams Universal-Bibliothek stanza Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur Zeitschrift für deutsche Philologie Zeitschrift für Germanistik Zeitschrift für romanische Philologie Zeitschrift für Historische Forschung
Literaturverzeichnis I. Verzeichnis der Primärtexte 1. Amicus und Amelius1 a) Nicht edierte Texte Arras, Bibliothèque municipale, 696 (704), 1465 (a) (Roman d’Amille et d’Ami) Basel, Universitätsbibliothek, F.IV.44, 1425 (b) (Roman d’Amille et d’Ami) Chantilly, Musée Condé, 471 (618), 15. Jh. (c) (Roman d’Amille et d’Ami) 2 Heidelberg, Cod. Pal. germ. 149, um 1450, Bl. 68-106, 60-67, 107, 108. (Historia Septem sapientum Deutsch) Paris, Bibliothèque Nationale, fonds français 12547, 15. Jh. (p) (Roman d’Amille et d’Ami ) Berlin, SBB-PK, Abteilung Historische Drucke; Xx1283 R, 16. Jh. L’hystoire des nobles et vaillans cheualiers / nommez Milles et Amys / lesquelz en leur viuant furent plais de grandes prouesses. Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. theol. et phil. 4° 81, 15. Jh., Bl. 281v-286r [alte Folierung: 286v-291r] (Von Amelius und Amicus) b) Editionen Buchner 1889 Georg Buchner (Hrsg.): Die Historia Septem Sapientum nach der Innsbrucker Handschrift v. J. 1342. Nebst einer Untersuchung über die Quelle der Seuin Seages des Johne Rolland von Dalkeith. (Erlanger Beiträge zur Englischen Philologie 5) Erlangen, Leipzig 1889. Dembowski 1987 Peter F. Dembowski (Hrsg.): Ami et Amile. Chanson de Geste. (Les Classiques Français du Moyen Age 97) Paris 1987. Fukui 1990 Hideka Fukui (Hrsg.): Amys e Amillyoun. (Anglo-Norman Text Society; Plain Texts Series 7) London 1990. Gaidoz 1879/80 H. Gaidoz (Hrsg.): L’Amitié d’Amis et d’Amiles. In: Revue Celtique 4 (1879/80), S. 200-244.
_____________ 1
2
Da die Titel der Amicus-Amelius-Texte einander meist sehr ähneln, habe ich nicht nach Titeln, sondern die Hss. nach Orten, die Editionen und Übersetzungen nach Herausgebern geordnet. Die Hss. Basel und Chantilly habe ich nicht eingesehen.
462
Literaturverzeichnis
Hofmann 1882 Amis et Amiles und Jourdains de Blaivies. Zwei altfranzösische Heldengedichte des kerlingischen Sagenkreises. Nach der Pariser Hs. zum ersten Mal hrsg. von Konrad Hofmann. 2., vermehrte und verbesserte Aufl. Erlangen 1882. Keller 1841 Dyocletianus Leben von Hans von Bühel. Hrsg. von Adelbert Keller. (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur von der ältesten bis auf die neuere Zeit 22) Quedlinburg, Leipzig 1841. Keller 1846 Adelbert Keller (Hrsg.): Von den sieben Meistern. In: ders.: Altdeutsche Gedichte. Tübingen 1846, S. 15-241. Klapper 1914 Joseph Klapper (Hrsg.): De Amico et Amelio. In: ders.: Erzählungen des Mittelalters in deutscher Übersetzung und lateinischem Urtext. (Wort und Brauch 12) Breslau 1914, S. 339f. Kölbing 1874 Eugen Kölbing (Hrsg.): Bruchstück einer Amícus ok Amilíus Saga. In: Germania N.F. 7 (1874), S. 184-189. Kölbing 1884 Eugen Kölbing (Hrsg.): Amis and Amiloun. Zugleich mit der altfranzösischen Quelle. Nebst einer Beilage: Amícus ok Amilíus Rímur. (Altenglische Bibliothek 2) Heilbronn 1884. (- Vita Amici et Amelii carissimorum: S. xcvii-cx - mittelenglische romance: S. 1-107; - anglonormannische Verserzählung: S. 109-187; - Amícus Rímur ok Amilíus: S. 189-229) Leach 1937/1990 MacEdward Leach (Hrsg.): Amis and Amiloun. (Early English Text Society 203) London 1937. Reprint Millwood 1990. Le Saux 1993 Françoise Le Saux (Hrsg.): Amys and Amylion. (Exeter Medieval English Texts and Studies) Exeter 1993. Macleod Banks 1904/05 / 1987 Mary Macleod Banks (Hrsg.): Amicus and Amelius. Amicicia vera multum est laudabilis. In: dies.: An Alphabet of Tales. An English 15th Century Translation of the Alphabetum Narrationum of Etienne de Besançon. From Additional MS. 25,719 of the British Museum. Parts I and II. (Early English Text Society Original Series 126 u. 127) London 1904/05. Reprint Millwood 1987, S. 38-41. Mak 1954 J.J. Mak (Hrsg.): Amijs ende Amelis. Een middeleeuwse vriendschapssage. Naar de berijming van Jacob van Maerlant tezamen met zijn latijnse bron uitgegeven door Dr J.J. Mak. (Zwolse drukken en herdrukken voor de maatschappij der nederlandse letterkunde te Leiden 13) Zwolle 1954. Moland / D’Hericault 1856 L. Moland / C. D’Héricault (Hrsg.): Li Amitiez de Ami et Amile. In: dies.: Nouvelles Françoises en prose du XIIIe siècle publiées d’après les manuscrits avec une introduction et des notes. Paris 1856, S. 35-82.
Primärtexte
463
Mone 1836 Franz Joseph Mone (Hrsg.): Die Sage von Amelius und Amicus. In: Anzeiger für die Kunde der teutschen Vorzeit 5 (1836), Sp. 145-167, 353-360, 420-422. (- Vita Amici et Amelii carissimorum: Sp. 146-160; - Lille 130: Sp. 161-167; - Auszüge aus a, Arras 696: Sp. 353-358) Oettli 1986a (s. Verzeichnis der Sekundärliteratur) (- Hannover, Niedersächsische Landesbibliothek, I 239, 240r-245r: S. 144-146; - Andreas Kurzmann; Salzburg, Universitätsbibliothek, M I 138, 225r-248v: S. 149-176; - Berlin, SBB-PK, Mgq 261, 256r-263r: S. 178-185) Ogle / Schullian 1933 Marbury B. Ogle / Dorothy M. Schullian (Hgg.): Epistula II: Ad Bernardum. In: dies.: Rodulfo Tortarii Carmina. (Papers and Monographs of the American Academy in Rome 8) Rom 1933, S. 256-267. Paris 1876 Gaston Paris (Hrsg.): L’Ystoire des Sept Sages. In: ders.: Deux Rédactions du Roman des Sept Sages de Rome. Paris 1876, S. 55-205. Paris / Robert 1879 Gaston Paris / Ulysse Robert (Hrsg.): Miracle de Nostre Dame d’Amis et d’Amille. In: dies.: Miracles de Nostre Dame par Personnages. Tome 4. Paris 1879, S. 1-67. Pfeiffer 1864 Franz Pfeiffer (Hrsg.): Amicus und Amelius. In: ders.: Niederdeutsche Erzählungen aus dem XV. Jahrhundert. In: Germania 9 (1864), S. 257-289, hier S. 261-265. Reiffenstein 1982 Ingo Reiffenstein (Hrsg.): Konrad von Würzburg. Engelhard. 3., neubearbeitete Aufl. der Ausgabe von Paul Gereke. (ATB 17) Tübingen 1982. (- München, Cgm 523: S. 241-249) Rosenfeld 1968 Hellmut Rosenfeld: Eine neuentdeckte deutsche Amicus-und-AmeliusVerslegende des 13. Jahrhunderts. In: PBB 90 (1968), S. 43-56. Roth 2004 Detlef Roth: ‚Historia septem sapientum‘. Überlieferung und textgeschichtliche Edition. 2 Bde. (MTU 126 / 127) Tübingen 2004. Roth 2008 Detlef Roth: Sieben weise Meister. Eine bairische und eine elsässische Fassung der „Historia septem sapientum.“ (Texte des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit 44) Berlin 2008. Schönbach 1877 Anton Schönbach (Hrsg.): De Sancto Amico et Amelio. In: ders.: Mittheilungen aus altdeutschen Handschriften. In: Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften zu Wien Phil. Hist. Kl. 88 (1877), S. 849-864, hier S. 850-864. Schmitt 1959 Margarete Schmitt (Hrsg.): Amicus und Amelius. In: dies.: Der Große Seelentrost. Ein niederdeutsches Erbauungsbuch des vierzehnten Jahrhunderts. (Niederdeutsche Studien 5) Köln, Graz 1959, S. 229-233.
464
Literaturverzeichnis
Slay 1972 D. Slay (Hrsg.): Romances. Perg. 4:0 Nr 6 in the Royal Library, Stockholm (Early Icelandic Mss. in Facsimile 10). Copenhagen, Roskilde, Bogger 1972. (- Amícus ok Amilíus : fol. 1-3r36) Stammler 1963 Wolfgang Stammler (Hrsg.): Die treuen Freunde (Amicus und Amelius). In: ders.: Spätlese des Mittelalters. I. Weltliches Schrifttum. (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 16) Berlin 1963, S. 27-34. Steinhoff 1987 Hans-Hugo Steinhoff (Hrsg.): Ein schöne Historia von Engelhart auss Burgunt. Der „Engelhard“ Konrads von Würzburg in Abbildung des Frankfurter Drucks von 1573. (Litterae 107) Göppingen 1987. Steinmetz 1999 Ralf-Henning Steinmetz (Hrsg.): Die Historij von Diocleciano. In Abbildungen aus dem Codex 407 des Wiener Schottenstifts. (Litterae 118) Göppingen 1999. Steinmetz 2001 Ralf-Henning Steinmetz (Hrsg.): Die Historia von den sieben weisen Meistern und dem Kaiser Diocletianus. Nach der Gießener Handschrift 104 mit einer Einleitung und Erläuterungen. (ATB 116) Tübingen 2001. Vincentius 1624 / 1965 Vincentius Bellovacensis [Vincenz von Beauvais]: De Amico et Amelio. In: ders.: Speculum Historiale. Douai 1624, Nachdruck Graz 1965, Liber 23, cap. clxii-clxvi, clxix, S. 956-959. Wackernagel 1839 Wilhelm Wackernagel (Hrsg.): Aus der Seele Trost, I. In: ders.: Altdeutsches Lesebuch. 1. Teil: Poesie und Prosa vom IV. bis XV. Jahrhundert. 2. vermehrte und verbesserte Aufl. Basel 1839, Sp. 981-986. Williams 1982 Patricia Williams(Hrsg.): Kedymdeithyas Amlyn ac Amic. Caerdydd 1982. Woledge 1939 Brian Woledge: Ami et Amile. Les versions en prose française. In: Romania 65 (1939), S. 433-456. (- De Amy de Berry et Amiles le conte d’Auvergne: S. 444-452; - Lille 130: S. 452-456) c) Übersetzungen Blanchard / Quereuil 1985 Ami et Amile. Chanson de Geste traduite en français moderne par Joël Blanchard et Michel Quereuil. (Traductions des Classiques Français du Moyen Age 37) Paris 1985. Gaidoz 1879/80 H. Gaidoz (Hrsg.): L’Amitié d’Amis et d’Amiles. In: Revue Celtique 4 (1879/80), S. 200-244. Kuefler 2000 Mathew Kuefler: Life of the dear friends Amicus and Amelius. In: Thomas Head (Hrsg.): Medieval Hagiography. New York / London 2000, S. 441-458.
Primärtexte
465
Klapper 1914 Joseph Klapper (Hrsg.): Von einem Freundespaar Amicus und Amelius. In: ders.: Erzählungen des Mittelalters in deutscher Übersetzung und lateinischem Urtext. (Wort und Brauch 12) Breslau 1914, S. 139-141. Leach 1937/1990 MacEdward Leach: The Amis and Amiloun Story of Radulfus Tortarius. In: Leach 1937/1990 (s. Verzeichnis der Primärtexte 1.b), S. 101-105. Rosenberg / Danon 1996 Ami and Amile. A Medieval Tale of Friendship, Translated from the Old French by Samuel N. Rosenberg and Samuel Danon. With a New Afterword by David Konstan. Ann Arbor 1996. Schmitz 1989 Konrad von Würzburg: Engelhard. Nach dem Text von Ingo Reiffenstein ins Neuhochdeutsche übertragen, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Klaus Jörg Schmitz. (GAG 501) Göppingen 1989. Vielhauer 1979 Amis und Amiles. Geschichte einer Freundschaft am Hofe Karls des Großen. Altfranzösisches Epos übertragen und eingeleitet von Inge Vielhauer. (Castrum Peregrini 136-137) Amsterdam 1979.
2. Weitere Primärtexte Acta Sanctorum De SS. Amico et Amelio. In: Acta Sanctorum Octobris 1765-1883. Société des Bollandistes. 1794 1.T.6, S. 124-126. Aelred von Rieval: Über die geistliche Freundschaft Lateinisch – deutsch. Ins Deutsche übertragen von Rhaban Haacke, eingeleitet von Wilhelm Nyssen. (Occidens. Horizonte des Westens 3) Trier 1978. Aelred of Rievaulx: Spiritual Friendship Translated by Mary Eugenia Laker. Introduction by Douglass Roby. (Cistercian Fathers Series 5) Kalamazoo 1977. Andreas Capellanus: De Amore Andreas aulae regiae capellanus: De Amore / Von der Liebe. Libri Tres / Drei Bücher. Text nach der Ausgabe von Emil Trojel. Übersetzt von Fritz-Peter Knapp. Berlin, New York 2006. Athelston A Middle English Romance. Edited by A. McI. Trounce. (Early English Text Society 224) London 1951. Reprint Millwood 1987. Athis und Prophilias In: Carl von Kraus (Hrsg.): Mittelhochdeutsches Übungsbuch. (Germanische Bibliothek I. Sammlung germanischer Elementar- und Handbücher, III. Reihe: Lesebücher 2) 2., vermehrte und verbesserte Aufl. Heidelberg 1926, S. 63-82. Cicero: Laelius de Amicitia M. Tulli Ciceronis: Laelius de Amicitia. Marcus Tullius Cicero: Laelius. Über die Freundschaft. Lateinisch –Deutsch. Hrsg. von Max Faltner. 2., verbesserte Aufl. München 1966.
466
Literaturverzeichnis
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Forschungsliteratur
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