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Michel Foucault Der Mut zur Wahrheit Die Regierung des Selbst und der anderen II Vorlesung am College de France 198]184 Aus dem Französischen von Jürgen Sehröder
Suhrkamp
Veröffentlicht mit freundlicher Unterstützung des Französischen Ministeriums für Kultur Centre National du Livre und der Maisan des Seiences de l'Homme, Paris Titel der Originalausgabe: Le courage de la verite. Le gouvernement de soi et des autres II Coursau College de France (1983-1984) © Editions du Seuil und Editions Gallimard 2009 Diese Ausgabe wurde unter der Leitung von Ewald und Alessandro Fontana von Fn!deric Gros herausgegeben
Fran~ois
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:/ /dnb.d-nb.de abrufbar. © der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2010 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Satz und Druck: Memminger MedienCentrum Printed in Germany Erste Auflage 2010 ISBN 978-3-518-58544-3 I
2 3 4 5 6 -
15 14 13 12 II 10
Inhalt Vorwort
..................................
7
Vorlesung I (Sitzung vom r. Februar I984, erste Stunde)
I3
Vorlesung I (Sitzung vom r. Februar I984, zweite Stunde)
42
Vorlesung 2 (Sitzung vom 8. Februar I984, erste Stunde)
54
Vorlesung 2 (Sitzung vom 8. Februar I984, zweite Stunde) Vorlesung 3 (Sitzung vom I 5. Februar I 984, erste Stunde)
IOI
Vorlesung 3 (Sitzung vom I 5. Februar I 984, zweite Stunde)
I30
Vorlesung 4 (Sitzung vom 22. Februar I984, erste Stunde) Vorlesung 4 (Sitzung vom 22. Februar I984, zweite Stunde)
I88
Vorlesung 5 (Sitzung vom 29. Februar I984, erste Stunde)
207
Vorlesung 5 (Sitzung vom 29. Februar I984, zweite Stunde)
233
Vorlesung 6 (Sitzung vom 7· März I984, erste Stunde) Vorlesung 6 (Sitzung vom 7· März 1984, zweite Stunde)
Vorlesung 7 (Sitzung vom 14. März 1984, erste Stunde) Vorlesung 7 (Sitzung vom 14. März 1984, zweite Stunde) Vorlesung 8 (Sitzung vom 21. März 1984, erste Stunde)
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349
Vorlesung 8 (Sitzung vom 21. März 1984, zweite Stunde) ........
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Vorlesung 9 (Sitzung vom 28. März 1984, erste Stunde)
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Vorlesung 9 (Sitzung vom 28. März 1984, zweite Stunde) ........
417
Frederic Gros, Situierung der Vorlesungen . . . . . . . . .
440
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausführliches Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . .
461 467 475
Vorwort
}.fichel Foucault hat am College de France von Januar 1971 bis zu seinem Tod im Juni 1984 gelehrt, mit Ausnahme des Jahres :977, seinem Sabbatjahr. Sein Lehrstuhl trug den Titel: »Geschichte der Denksysteme«. Dieser wurde am 30. November 1969 auf Vorschlag von Jules Vuillemin von der Generalversammlung der Professoren des College de France an Stelle des Lehrstuhls der »Geschichte des philosophischen Denkens« eingerichtet, den J ean Hippolyte bis zu seinem Tod innehatte. Dieselbe Versammlung wählte :\lichel Foucault am 12. April 1970 zum Lehrstuhlinhaber. 1 Er "''·ar 43 Jahre alt. Michel Foucault hielt seine Antrittsvorlesung am 2. Dezember '970.2 Der Unterricht am College de France gehorcht besonderen Regeln: Die Professoren sind verpflichtet, pro Jahr 26 Unterrichtsstunden abzuleisten (davon kann höchstens die Hälfte in Form von Seminarsitzungen abgegolten werden). 3 Sie müssen jedes Jahr ein neuartiges Forschungsvorhaben vorstellen, wodurch sie gezwungen werden sollen, jeweils einen neuen Unterrichtsinhalt zu bieten. Es gibt keine Anwesenheitspflicht für die Vorlesungen und Seminare; sie setzen weder ein Aufnahmeverfahren noch ein Diplom voraus. Und der Professor stellt auch keines aus. 4 In der Terminologie des College de France Michel Foucault hatte für seine Kandidatur ein Plädoyer unter folgender Formel abgefaßt: »Man müßte die Geschichte der Denksysteme unternehmen« (»Titre et Travaux«, in: Dits et Ecrits, 1954-1988, hg. v. Danie! Defert und Fran~ois Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange, Paris 1994, Bd. I, 1964-1969, S. 842-846, bes. S. 846; dt. »Titel und Arbeiten«, in: ders.,Dits et Ecrits. Schriften, Bd. I, 1954-1969, Frankfurt/Main 2001, S. 1069-1075, bes. S. 1074f.). 2 In der Editions Gallimard im März 1971 unter dem Titel L'Ordre du discours (Die Ordnung des Diskurses) publiziert. 3 Was Michel Foucau!t bis Anfang der 8oer Jahre machte . .;. Im Rahmen des College de France. r
heißt das: Die Professoren haben keine Studenten, sondern Hörer. Die Vorlesungen von Michel Foucault fanden immer mittwochs statt, von AnfangJanuar bis Ende März. Die zahlreiche Hörerschaft aus Studenten, Dozenten, Forschern und Neugierigen, darunter zahlreiche Ausländer, füllte zwei Amphitheater im College de France. Michel Foucault hat sich häufig über die Distanz zwischen sich und seinem Publikum und über den mangelnden Austausch beschwert, die diese Form der Vorlesung mit sich brachte. 5 Er träumte von Seminaren als dem Ort echter gemeinsamer Arbeit. Er machte dazu verschiedene Anläufe. In den letzten Jahren widmete er gegen Ende seiner Vorlesungen immer eine gewisse Zeit dem Beantworten von Hörerfragen. Ein Journalist des Nouvel Observateur, Gerard Petitjean, gab die Atmosphäre 1975 mit folgenden Worten wieder: »Wenn Foucault die Arena betritt, eiligen Schritts vorwärtspreschend, wie jemand, der zu einem Kopfsprung ins Wasser ansetzt, steigt er über die Sitzenden hinweg, um zu seinem Pult zu gelangen, schiebt die Tonbänder beiseite, um seine Papiere abzulegen, zieht sein Jackett aus, schaltet die Lampe an und legt los, mit hundert Stundenkilometern. Mit fester und durchdringender Stimme, die von Lautsprechern übertragen wird, als einzigem Zugeständnis an die Modernität eines mit nur einer Lampe erhellten Saals, die ihren Schein zum Stuck hochwirft. Auf dreihundert Sitzplätze pferchen sich fünfhundert Leute, saugen noch den letzten Freiraum auf ... Keinerlei rhetorische Zugeständnisse. Alles transparent und unglaublich effizient. Nicht das kleinste Zugeständnis an die Improvisation. Foucault hat 5 Michel Foucault verlegte 1976 in der- vergeblichen - Hoffnung, die Hörerschaft zu reduzieren, den Vorlesungsbeginn von 17 Uhr 45 am späten Nachmittag auf 9 Uhr morgens. Vgl. den Anfang der ersten Vorlesung (am 7.}anuar 1976) von »Il faut defendre Ia societe«. Coursau College de F rance ( r 97 5-76), unter der Leitung von FranIch schweige, damit ihr plappern könnt. « 40 Diogenes Laertius berichtet, daß er in dieser Zurückgezogenheit sein Gedicht schrieb, und zwar in Begriffen, die absichtlich dunkel sind, damit nur die fähigen Leute es lesen können und man Heraklit nicht dafür schmähen kann, daß er von jedem beliebigen gelesen wird. 41 Diese Rolle, diese Charakterisierung des Weisen, der grundsätzlich schweigt und nur spricht, wenn er [esJ will, und auch dann [nur] in Rätseln, steht im Gegensatz zur Persönlichkeit und den Merkmalen des Parrhesiasten. Der Parrhesiast ist nicht jemand, der sich grundsätzlich in Zurückhaltung übt. Im Gegenteil, seine Aufgabe, seine Pflicht, seine Mission besteht im Sprechen, und er hat nicht das Recht, sich dieser Aufgabe zu entziehen. Das sieht man gerade an Sokrates, der in der Apologie recht häufig daran erinnert: Gott hat ihm die Funktion zugewiesen, die Menschen zu befragen, sie am Ärmel zu packen, ihnen Fragen zu stellen. Und dieser Aufgabe wird er sich nicht entziehen. Selbst wenn er vom Tod bedroht ist, wird er seine Aufgabe zu Ende führen, bis zu seinem letzten Atemzug. 42 Während der Weise sich in Schweigen hüllt und auf die Fragen,
iie man ihm stellen mag, nur sehr sparsam, so wenig wie mög~ich antwortet, stellt der Parrhesiast unablässig, ständig und unerträglich Fragen. Zweitens, während der Weise, gerade vor dem Hintergrund seines schweigsamen Wesens, in Rätseln spricht, muß der Parrhesiast so klar wie möglich sprechen. L~nd während schließlich der Weise sagt, was der Fall ist, indem ·er das Sein der Dinge und der Welt beschreibt, ergreift der Par::hesiast das Wort und sagt zwar auch, was der Fall ist, aber er bezieht sich auf die Einzigartigkeit der Individuen, Situationen :md Gelegenheiten. Seine besondere Rolle besteht nicht darin, das Sein der Natur und der Dinge auszusagen. Ständig begegnen wir bei der Untersuchung der parrhesia diesem Gegensatz zwischen dem nutzlosen Wissen, das das Sein der Dinge und der Welt aussagt, und dem Wahrsprechen des Parrhesiasten, der sich immer bemüht, in Frage stellt, sich an die Individuen und Situationen hält, um zu sagen, was sie in Wirklichkeit sind, um den Individuen die Wahrheit über sie selbst zu sagen, die sich ihren eigenen Augen entzieht, um ihnen ihre gegenwärtige Situation, ihren Charakter, ihre Fehler, den Wert ihres Verhal:ens und die möglichen Folgen ihrer Entscheidungen zu offenbaren. Der Parrhesiast offenbart seinem Gesprächspartner nicht, was der Fall ist. Er enthüllt ihm oder hilft ihm zu erkennen, was er selbst ist. Die dritte Modalität des Wahrsprechens, die man mit dem \'>Ordnungen der Wahrheit« nennen könnte, denen man in verschiedenen Gesellschaften begegnet, in Form von Rollen oder in Form von bestimmten Figuren schließlich miteinander verbinden. Mir scheint - jedenfalls habe ich Ihnen das, wenn auch nur schematisch, zu zeigen versucht-, daß man in der griechischen Kultur am Ende des 5. und zu Beginn des 4· Jahrhunderts diese vier großen Ausprägungen der Veridiktion, die sich in einer Art von Rechteck anordnen lassen, ausmachen kann: die des
Propheten und des Schicksals, die der Weisheit und des Seins, die der Lehre und der techne und die der parrhesia und des erhos. Aber auch wenn sich diese vier Modalitäten auf diese Weise gut entziffern lassen, wenn sie in dieser Epoche voneinander unterschieden und tatsächlich getrennt sind, besteht doch eines der Merkmale der Geschichte der antiken Philosophie (und wohl auch der antiken Kultur im allgemeinen) darin, daß es zwischen dem Modus des Wahrsprechens, der für die Weisheit charakteristisch ist, und dem Modus des Wahrsprechens, der die parrhesia auszeichnet, eine Tendenz zur gegenseitigen Verbindung in einer Art von philosophischer Modalität des Wahrsprechens gibt, ein Wahrsprechen, das sich deutlich vom prophetischen Wahrsprechen und auch von der Lehre der technai unterscheidet, für die die Rhetorik ein Beispiel darstellt. Wir werden sehen, wie ein philosophisches Wahrsprechen hervortritt oder sich zumindest ausbildet, das mit immer größerem Nachdruck Anspruch darauf erhebt, das Sein oder die Natur der Dinge auszusagen, und zwar nur insofern, als dieses Wahrsprechen ein Wahrsprechen über das ethos in Form der parrhesia anstreben, artikulieren und begründen könnte. In diesem Sinne kann man sagen, daß Weisheit und parrhesia, natürlich nur bis zu einem bestimmten Punkt, miteinander verschmelzen. Jedenfalls werden sie voneinander gleichsam angezogen. Es wird gleichsam ein Phänomen der Gravitation von Weisheit und parrhesia geben, eine Gravitation, die sich in jenen berühmten Persönlichkeiten der Philosophen äußert, die die Wahrheit über die Dinge sagen, aber vor allem ihre Wahrheit den Menschen anvertrauen, und zwar die ganze hellenistische und römische oder griechisch-römische Kultur hindurch. Hier haben wir, wenn Sie so wollen, eine Möglichkeit für die Untersuchung einer Geschichte der Ordnung der Wahrheit im Hinblick auf die Beziehungen zwischen parrhesia und Weisheit. Wenn man diese vier großen, grundlegenden Modi betrachtet, über die ich gerade gesprochen habe, könnte man sagen, daß das mittelalterliche Christentum andere Annäherungen voll49
zogen hat. Die griechisch-römische Philosophie hatte die parrhesiastische Modalität und die Modalität der Weisheit einander angenähert. Mir scheint, daß man im mittelalterlichen Christentum eine andere Art von Zusammenstellung findet: die Zusammenstellung der prophetischen und der parrhesiastischen Modalität. Die Wahrheit über die Zukunft zu sagen (über das, was den Menschenaufgrund ihrer Endlichkeit und der Struktur der Zeit verborgen ist, über das, was die Menschen erwartet, und über das Bevorstehen des noch verborgenen Ereignisses) und dann den Menschen die Wahrheit über sich selbst zu sagen, diese beiden [Modalitäten] wurden in einer Reihe von Diskurs[ typen] und außerdem auch von Institutionen auf ganz einzigartige Weise aufeinander bezogen. Ich denke an die Predigt und an die Prediger, vor allem an jene Prediger, die im Ausgang von der franziskanischenund dominikanischen Bewegung die ganze abendländische Welt und das ganze Mittelalter durchqueren und die eine enorme historische Rolle für den Fortbestand- aber auch für die Erneuerung und den Wandel- [der] Drohung in der mittelalterlichen Welt spielen. Diese großen Prediger spielten in jener Gesellschaft zugleich die Rolle des Propheten und die Rolle des Parrhesiasten. Wer das drohende Bevorstehen des Morgen, des Reichs der letzten Tage, des Jüngsten Gerichts oder des heranrückenden Todes kundtut, sagt zugleich den Menschen, was sie selbst sind, und sagt ihnen offen, in voller parrhesia, was ihre Fehler, ihre Verbrechen sind und in welchen Punkten und wie sie ihre Lebensweise ändern müssen. Angesichts dessen scheint mir, daß dieselbe mittelalterliche Gesellschaft, dieselbe mittelalterliche Kultur auch die Tendenz hatte, die beiden anderen Ausprägungen der Veridiktion einander anzunähern: die Modalität der Weisheit, die das Sein der Dinge und ihr Wesen offenbart, und die Modalität der Lehre. Die Wahrheit über das Sein und die Wahrheit über das Wissen zu sagen war die Aufgabe einer Institution, die für das Mittelalter genauso charakteristisch wie die Predigt war: die Universität. Die Predigt und die Universität scheinen mir für das
:\littelalter eigentümliche Institutionen zu sein, in denen man ieweils die Verknüpfung von zwei der Funktionen erkennen kann, über die ich gesprochen habe, und die eine Ordnung der Veridiktion, eine Ordnung des Wahrsprechens definieren, die sich stark von derjenigen unterscheidet, die man in der hellenistischen und griechisch-römischen Welt antrifft, wo vielmehr varrhesia und Weisheit miteinander kombiniert wurden. Und die Moderne, werden Sie mich fragen? Das weiß ich nicht so genau. Das wäre zweifellos zu untersuchen. Man könnte sich vielleicht vorstellen- aber das sind Vermutungen, ja nicht einmal Vermutungen, sondern beinahe inkohärente Äußerungen -, daß man die Modalität des prophetischen Wahrsprechens in einer Reihe von politischen Diskursen, von revolutionären Diskursen wiederfindet. In der modernen Gesellschaft spricht der revolutionäre Diskurs wie jeder prophetische Diskurs im Namen eines anderen. Er spricht, um eine Zukunft zu offenbaren, die bis zu einem gewissen Grad schon die Gestalt des Schicksals hat. Was die ontologische Modalität des Wahrsprechens betrifft, das das Sein der Dinge aussagt, so würde diese sich wohl in einer bestimmten Modalität des philosophischen Diskurses wiederfinden. Die fachmännische Modalität des Wahrsprechens ordnet sich viel stärker um die Wissenschaft als um die Lehre herum an oder jedenfalls um einen Komplex, der aus den Institutionen der Wissenschaft und Forschung und den Institutionen der Lehre besteht. Mir scheint, daß die parrhesiastische Modalität gerade als solche verschwunden ist und man sie nur noch gestützt auf eine dieser drei Modalitäten findet. Wenn der revolutionäre Diskurs die Form einer Kritik der bestehenden Gesellschaft annimmt, spielt er die Rolle eines parrhesiastischen Diskurses. Der philosophische Diskurs als Analyse, als Reflexion auf die Endlichkeit des Menschen und als Kritik von allem, sei es im Bereich des Wissens oder dem der Moral, was die Grenzen der Endlichkeit des Menschen überschreiten kann, spielt wohl in gewisser Weise die Rolle der parrhesia. Was den wissenschaftlichen Diskurs betrifft, so spielt er ebenfalls diese parrhesiasti-
sehe Rolle, wenn er - und in seiner Entwicklung muß er das tun - sich als Kritik der Vorurteile, des bestehenden Wissens, der herrschenden Institutionen, der gegenwärtigen Handlungsweisen entfaltet. Das ist es, was ich Ihnen sagen wollte.''. ,,. M. F. fährt fort: Ich hatte beabsichtigt, zu Beginn über die Art und Weise zu sprechen, wie ich die parrhesia dieses Jahr untersuchen will. Aber wozu würde das nützen? Ich hätte fünf Minuten und dann müßten wir nächstes Mal wieder von vorne anfangen. Also, wenn Sie wollen, gehen wir einen Kaffee trinken. Ich könnte Ihnen auch sagen, daß ich Ihre Fragen gerne beantworten würde. Aber ich fürchte, daß das keine große Bedeutung bei Hörerschafren ... haben würde. [Antwort auf eine Frage aus dem Publikum wegen des geschlossenen Seminars:} Es gibt zwei Dinge, die ich Ihnen sagen möchte, einmal zu dieser Frage und dann noch zu einem weniger wichtigen Thema. Was das Seminar angeht, gibt es hier, wie gesagt, ein institutionelles und juristisches Problem. Im Prinzip haben wir nicht das Recht, ein geschlossenes Seminar zu veranstalten. Und als ich doch einmal ein solches durchführte- z. B. jenes [über] Pierre Riviere, vielleicht erinnern sich einige daran -,gab es Beschwerden. Und in der Tat haben wir juristisch nicht das Recht, ein geschlossenes Seminar zu veranstalten. Nur gibt es eben, wie mir scheint, bei bestimmten Arten von Arbeiten einen Widerspruch, wenn man [einerseits] von den Professoren verlangt, öffentlich Rechenschaft über ihre Forschungen abzulegen, und sie [andererseits] daran hindert, ein geschlossenes Seminar durchzuführen, in dem sie diese Forschungen gemeinsam mit Studenten verfolgen können. Mit anderen Worten, man kann von einem Professor verlangen, in der öffentlichen Lehre Rechenschaft über seine Forschungen abzulegen und sonst nichts, wenn es sich um Forschungen handelt, die er ganz alleine durchführen kann. Das ist, wenn Sie so wollen, einer der rein technischen Gründe, warum ich seit Jahren Vorlesungen über die antike Philosophie halte, weil es letztendlich genügt, daß man die zweihundert Bände von Bude zur Verfügung hat. Damit hat es dann sein Bewenden. Man braucht keine Arbeitsgruppe. Aber wenn - und gerrau das möchte ich tun - ich die Regierungspraktiken, -formen, -rationalitäten in der modernen Gesellschaft untersuchen will, kann ich das wirklich nur in einer Gruppe tun. Nun verstehen Sie doch wohl- dadurch sollte sich hier niemand verletzt fühlen-, daß dieses Auditorium keine Gruppe bilden kann. Daher möchte ich das Recht erhalten, die Lehre in zwei Teile aufzuspalten: eine öffentliche Lehre, die den Statuten entspricht; aber auch eine Lehre oder eine Untersuchung in einer geschlossenen Gruppe, was mir die Bedingung dafür zu sein scheint, die öffentliche Lehre halten oder zumindest auf dem neuesten Stand halten zu können. Es ist, glaube ich, ein Widerspruch, von den Leuten zu verlangen, Forschung und öffentliche Lehre
Anmerkungen Vgl. zu diesen beiden Begriffen und ihrer unterschiedlichen Bedeutung L'Hermeneutique du sujet, a.a.O., (z.B. S.3or-3o6 und 436-437; dt.: S.387-394 und 553-555). 2 Vgl. zu dieser Dimension der sokratischen Rede schon die Vorlesung vom 2. März 1983, in: Le Gouvernement de soi et des autres, a.a.O., s. 286-296; dt.: s. 391-405. 3 Platon, Des Sokrates Verteidigung, 21a-e, S.11-12. +Eine Szene, die von Alkibiades im Gastmahl (2oa-22od) geschildert wird; vgl. den Hinweis auf dieselbe Szene in der Vorlesung von 1982, L'Hermeneutique du sujet, S. 49; dt.: S. 74· 5 Vgl. die Analyse dieses Dialogs in den Vorlesungen vom 6. und r 3· Januar 1982, in: L'Hermeneutique du sujet, S. 3-77; dt.: S. r 5-110. 6 Platon, Laches, 20oe, übers. v. L. Georgii, in: Platon: Sämtliche Werke, r. Bd., Heidelberg 1982, S. 203. !
zu betreiben, wenn man der Forschung, die sie durchführen sollen, nicht die institutionelle Unterstützung zuteil werden läßt, die dafür notwendig ist. Zweitens dann noch eine ganz kleine Sache. Ich werde Ihnen wahrscheinlich- Sie wissen, daß ich von einer Woche zur anderen nie genau weiß, was ich tun werde- entweder nächste Woche oder vielleicht die Woche darauf eine Vorlesung oder eine halbe Vorlesung über eines der letzten Bücher von Dumezil halten. Sie wissen schon, das über den schwarzen Mönch in Varennes, das sich mit Nostradamus befaßt und einen zweiten Teil über Sokrates enthält (über den Phaidon und den Kriton). Da es sich um einen schwierigen Text handelt, würde ich, wenn einige unter Ihnen ihn vorher lesen wollen oder dazu Gelegenheit haben - natürlich ist das keine Pflicht, wir sind hier nicht in einem geschlossenen Seminar und Sie können tun, was Ihnen beliebt -, wahrscheinlich in zwei Wochen oder vielleicht auch schon nächste Woche gern darüber sprechen. [Frage aus dem Publikum:}- Im Rahmen eines Seminars oder im Rahmen der Vorlesung? -Im Rahmen der Vorlesung. Nur bin ich mir dessen wohl bewußt, daß, wenn ich darüber eine Vorlesung halten will, die Leute in etwa eine Vorstellung davon haben sollten, was in dem Buch steht. Das war's, vielen Dank.
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Vorlesung 2 (Sitzung vom 8. Februar 1984, erste Stunde).
Die euripideische parrhesia: ein Privileg des hochgeborenen Bürgers.- Kritik der demokratischen parrhesia: schädlich für den Staat, gefährlich für den, der sie ausübt. - Sokrates' politische Zurückhaltung. - Demosthenes' Erpressung/Herausforderung. -Die Unmöglichkeit einer ethischen Differenzierung in der Demokratie: das Beispiel des Staats der Athener. - Vier Prinzipien des griechischen politischen Denkens. - Die platonische Wende. -Das aristotelische Zögern. -Das Problem des Scherbengerichts.
[Ich möchte gern das Problem der] parrhesia an der Stelle wieder aufnehmen, an der ich es letztes Jahr verlassen hatte, und versuchen, einen bestimmten Wandel schematisch darzustellen, den ich in dieser Geschichte der parrhesia für wichtig halte. Es geht dabei um den Übergang von einer Praxis, einem Recht, einer Pflicht der Veridiktion, die gegenüber dem Staat und seinen Institutionen und gegenüber dem Status des Bürgers bestimmt werden, zu einem anderen Typ von Veridiktion, einem anderen Typ von parrhesia, der seinerseits nicht durch die Beziehung auf den Staat (die polis), sondern auf die Art und Weise des Handelns, des Seins und des Verhaltens der Individuen (das ethos) und auch im Hinblick auf ihre Konstitution als moralisches Subjekt charakterisiert ist. Anhand dieses Wandels einer parrhesia, die sich an der polis ausrichtet, in eine parrhesia, die sich am ethos orientiert, möchte ich Ihnen heute auch zeigen, wie sich die abendländische Philosophie zumindest in ihren Grundzügen als Form der Praxis des wahren Diskurses ausbilden konnte. Zunächst jedoch [eine] kurze Erinnerung. Entschuldigen Sie, daß diese Ausführungen schematisch und wiederholend [für] diejenigen sind, die letztes Jahr da waren, aber vielleicht sind sie unverzichtbar, um die Dinge zu klären und das Problem erneut zu vergegenwärtigen. Sie erinnern sich, daß es letztes Jahr um die parrhesia im politischen Bereich und im Rahmen der demokratischen Institutionen ging. Das Wort parrhesia ist 54
erstmals in den Texten von Euripides verbürgt. Und hier erschien der Begriff der parrhesia als Bezeichnung des Rechts zu sprechen, des Rechts, öffentlich das Wort zu ergreifen, gewissermaßen zu sprechen, um seine Meinung über einen Bereich von Dingen auszudrücken, die den Staat angehen. Sein Wort in den Angelegenheiten des Staats zu sagen, dieses Recht wird von dem Ausdruck parrhesia bezeichnet. Anhand einiger Texte ...-on Euripides konnten wir erstens sehen, daß diese parrhesia, dieses Recht, sein Wort zu sagen, ein Recht ist, das man nicht besitzt, wenn man nicht Bürger durch Geburt ist. Sie erinnern sich an Ion, der nicht als Sohn eines Vaters, der nicht Bürger \"On Athen war, und einer unbekannten Mutter nach Athen zurückkehren wollte.l Um seine parrhesia auszuüben, wollte er ein Geburtsrecht haben. Zweitens konnten wir auch sehen, daß man dieses Recht der parrhesia nicht besitzt, wenn man in einen fremden Staat verbannt wurde. Sie erinnern sich an den Dialog zwischen Jokaste und Polyneikes in den Phoinikerinnen. Jokaste trifft Polyneikes, der aus dem Exil zurückkehrt, und fragt ihn: Aber was ist denn die Verbannung, ist sie so schlimm? Und Polyneikes antwortet ihr: Gewiß, sie ist das Schlimmste, was man ertragen kann, denn im Exil besitzt man die parrhesia nicht, man hat nicht das Recht zu sprechen, man ist also der Sklave (der doulos) der Herren und kann sich ihrem Wahnsinn nicht einmal widersetzen. 2 Drittens hatten wir schließlich gesehen, daß man diese parrhesia, selbst wenn man Bürger ist, selbst wenn man in seiner eigenen Stadt ist, selbst wenn man sie durch das Geburtsrecht besitzt, verlieren kann, wenn die Familie auf die eine oder andere Weise von einem :VIakel, einer Entehrung, irgendeiner Schande betroffen wird. Das war der Text des [Hippolytos]", als Phädra ihre Liebe gesteht und befürchtet, daß ihr eingestandener Fehler ihre eigenen Kinder, ihre eigenen Söhne der parrhesia beraubt. 3 Die parrhesia erschien also in allen diesen Texten als ein Recht und ein Privileg, die zum Leben eines hochgeborenen, ehrenhaften >Fürs erste sind die Menschen frei, der Staat quillt über in der Freiheit der Tat (eleutheria) und der Freiheit des Worts (parrhesia), und jedem ist erlaubt zu tun, was er will!>das schönste« ist: »[ ...]wenn ich dir Richtlinien (epitedeumata) geben könnte, womit du dich beschäftigen sollst und was du unterlassen mußt, um deine Polis und dein Königreich am besten zu regieren. Für Privatleute nun gibt es viele Voraussetzungen, die zu ihrer Erziehung beitragen [... ]. Alleinherrscher aber haben diese Möglichkeiten nicht, im GegenteilSie [d. h. die Könige und Herrscher; M. F.], die mehr als alle anderen Erziehung nötig hätten, bleiben, wenn sie an die Macht gekommen sind, ihr Leben lang ohne Kritik.?rochen habe, die vier großen Formen des Wahrsprechens in :ier griechischen Kultur schematisch darzustellen (das pro?hetische Wahrsprechen, das Wahrsprechen der Weisheit, das \'i:'ahrsprechen der techne und das Wahrsprechen der parrhe;ia ), dann lassen sich anhand dieser vier Modalitäten des WahrS?rechens durchaus vier grundlegende philosophische Einstel\:ngen definieren, die entweder miteinander kombiniert sind oder sich gegenseitig ausschließen oder miteinander im Streit :iegen. Es lassen sich vier Weisen auffinden, die Frage nach der c:letheia, die Frage nach der politeia und die Frage nach dem :·rhos miteinander zu verknüpfen. \;(·enn wir die Philosophie als Diskurs bestimmen, der die Fra~e nach der Wahrheit niemals stellt, ohne zugleich die Frage ::ach der politeia und die Frage nach dem ethos zu stellen, der r,ie die Frage nach der politeia stellt, ohne die Frage nach der ·,:\'"ahrheit und nach der ethischen Differenzierung zu stellen, .:er nie die Frage nach dem ethos stellt, ohne nach der Wahrheit ·..:.nd der Politik zu fragen, können wir auch sagen, daß es vier 'X"eisen gibt, diese drei Fragen miteinander zu verbinden, um sie aufeinander verweisen zu lassen oder sie miteinander zu;ammenzuschließen. ~~ran könnte diejenige Einstellung eine prophetische nennen, :iie innerhalb der Philosophie über die Grenze der Gegenwart ::lnaus den Augenblick und die Form verheißt und vorhersagt, ::1 denen sich schließlich, pünktlich und endgültig das Hervorxingen der Wahrheit (aletheia), die Ausübung der Macht (po::·reia) und die moralische Bildung (ethos) zugleich ereignen c:::erden. Die prophetische Einstellung in der Philosophie hält 97
den Diskurs der verheißenen Versöhnung zwischen aletheia,
politeia und ethos. Zweitens ist die Einstellung der Weisheit in der Philosophie jene, die den Anspruch erhebt, in einem grundlegenden, einzigartigen und einzigen Diskurstyp zugleich zu sagen, wie es um die Wahrheit, um die politeia und um das ethos steht. Die Einstellung der Weisheit in der Philosophie ist der Diskurs, der die grundlegende Einheit der Wahrheit, der politeia und des ethos zu denken und zu sagen versucht. Die technische Einstellung oder die Einstellung der Lehre in der Philosophie ist dagegen jene, die nicht versucht, den Punkt des Zusammenfallens von aletheia, politeia und ethos in einer Zukunft zu verheißen oder ihn in einer grundlegenden Einheit zu finden, sondern die formalen Bedingungen des Wahrsprechens (darum kümmert sich die Logik), die besten Formen der Ausübung der Macht (darum kümmert sich die politische Analyse) und die Prinzipien des moralischen Verhaltens (darum kümmert sich ganz einfach die Moral) in ihrer irreduziblen Besonderheit, ihrer Getrenntheit und Unvergleichlichkeit zu bestimmen. Wir können sagen, daß diese Einstellung in der Philosophie der Diskurs der Heterogenität und der Trennung zwischen aletheia, politeia und ethos ist. Es gibt, wie mir scheint, in der Philosophie noch eine vierte Einstellung. Das ist die parrhesiastische Einstellung, jene, die eben hartnäckig und immer wieder von neuem beginnend versucht, die Frage nach der Wahrheit mit der Frage nach ihren politischen Bedingungen und nach der ethischen Differenzierung, die den Zugang zu ihr eröffnet, zu verknüpfen; die stets und immer die Frage nach der Macht mit der Frage nach ihrem Verhältnis zur Wahrheit und zum Wissen einerseits und mit der ethischen Differenzierung andererseits verknüpft; die schließlich unablässig das moralische Subjekt mit der Frage nach dem wahren Diskurs, durch den sich dieses moralische Subjekt konstituiert, und mit den Machtverhältnissen, in denen sich dieses Subjekt bildet, verknüpft. Das ist der parrhesiastische Diskurs und die entsprechende Einstellung in der
Philosophie: ein Diskurs der Nichtreduzierbarkeit der Wahrheit, der Macht und des ethos und zugleich ein Diskurs ihrer notwendigen Beziehung zueinander, der Unmöglichkeit, die Wahrheit (aletheia ), die Macht (die politeia) und das ethosohne wesentliche, grundlegende Beziehung untereinander zu denken. Soviel für heute. Nächstes Mal werde ich versuchen, drei Texte zu erklären oder zumindest mich auf sie zu stützen. Jene unter Ihnen, die sie lesen wollen, möchte ich darauf hinweisen, daß es sich in erster Linie um die Apologie des Sokrates handeln wird; z"·eitens um den Laches; und drittens um den Schluß des Phaidon. In diesem Zusammenhang werde ich versuchen, etwas auf die Interpretation und Analyse dieses Textes einzugehen, die Dumezil in seinem Buch Der schwarze Mönch in Varennes gegeben hat.
Anmerkungen : Xenophon, Hieran,§ r, in: CEuvres cornpletes, I, übers. v.P. Chambry, Paris 1967, S. 399· : Ebd. 3 ·So bemüht sich der Tyrann, stets zu wissen, was die Untertanen sagen oder tun; er unterhält Beobachter, wie in Syrakus die Potagogides, und "·ie Hieron die Otakusten aussandte, wo immer eine Zusammenkunft stattfand, denn dann reden die Menschen weniger offen, da sie diese Horcher fürchten, und wenn sie offen reden, wird es leichter bekannt>keine Politik gemacht«, wie wir es ausdrücken würden, ich habe mich nicht zur Rednerbühne vorgedrängt, weil ich sonst tot wäre; und dem letzten Text von Sokrates, der wohlgemut seinen Tod annimmt und darum bittet, daß man den Göttern eine bestimmte Schuld in Form eines Hahns bezahlt) der ganze Zyklus von Sokrates' Tod in seiner Beziehung zum Wahrsprechen und zu den tödlichen Risiken statt, die man mit dem Wahrsprechen eingeht. Zuerst also die Apologie. Ich werde mit einer Bemerkung beginnen, die wir jedoch einstweilen auf sich beruhen lassen, weil wir später noch auf sie zurückkommen werden. Sie [bezieht sich auf] die allerersten Zeilen der Apologie. Da es um einen juristischen Diskurs geht, beginnt Sokrates' Rede, so berichtet es zumindest Platon, wie jede gute juristische Rede bzw. wie viele Plädoyers [mit dem Satz]: Meine Gegner lügen, aber ich sage die Wahrheit. 1 Das ist das mindeste, was man in der Tat sagen kann, wenn man sich vor einem Gericht gegen seine Ankläger wendet. Meine Gegner lügen, ich sage die Wahrheit. Zweitens sagt Sokrates: Meine Gegner können geschickt reden (deinoi legein); 2 im Gegensatz dazu spreche ich ganz einfach, ganz direkt und ohne Geschick und Zurichtung. Auch hier haben wir ein traditionelles Thema. Und auch hier fügt er hinzu (was für diese Art von Diskurs nicht ungewöhnlich ist): Sie können geschickt reden, während ich ganz einfach und ganz direkt spreche. Übrigens sind sie so geschickt im Reden, daß sie den EinI02
druck erzeugen wollen, daß ich es bin, der geschickt reden kann. Aber gerade darin lügen sie: Ich kann nicht geschickt reden.3 Diese Stelle würde vielleicht keine eingehenderen Kommentare mehr verdienen, wenn in dieser rhetorischen Form, in dieser völlig herkömmlichen Form der Präsentation der juristischen Rede nicht eine bestimmte Notiz aufträte, derzufolge Sokrates sagt: Meine Gegner lügen, meine Gegner, die geschickt reden können, aber sie sind so geschickt im Reden, daß sie es sogar schaffen, mich beinahe »vergessen zu machen, was ich bin«. Durch sie (hyp' auton) habe ich beinahe die Erinnerung an mich selbst (emautou epelathomen) verloren. 4 Ich :nöchte nun, daß wir diese Bemerkung etwa so wie den Vorrat eines Eichhörnchens bewahren, und zwar in Anbetracht dessen, worüber wir später sprechen, einen kleinen Vorrat, von dem wir anschließend Gebrauch machen werden. Ich möchte nur, daß sie im Gedächtnis behalten, daß die Geschicklichkeit der Gegner, der anderen im Reden so weit gehen kann, daß dadurch ein Vergessen seiner selbst hervorgerufen wird. Folglich können wir gewissermaßen in Entsprechung dazu und auf negative Weise spüren, daß wir uns auf die umgekehrte Behaupmng [einstellen] sollen. Wenn die Geschicklichkeit des Redens die Selbstvergessenheit hervorruft, dann führt die Schlichtheit [des] Redens, das Reden ohne Zurichtung oder ohne Schmuck, das unmittelbar wahre Reden, das Reden der parrhesia also, seinerseits zur Wahrheit unserer selbst. Zweitens möchte ich Sie auch darauf hinweisen, daß das, was man den Zyklus von Sokrates' Tod nennen könnte - jene Gruppe von Texten, die die Apologie des Sokrates (den Prozei~), den Kriton (Unterredung zwischen Sokrates und Kriton i:n Gefängnis über eine mögliche Flucht) und schließlich den Phaidon (Erzählung von Sokrates' letzten Augenblicken) umfaßt- mit der Erwähnung von etwas beginnt, das während des ganzen Zyklus von Bedeutung sein wird: die Gefahr, sich selbst zu vergessen. Von diesem Beginn (sie hätten es fast geschafft, daß ich mich selbst vergessen hätte) bis zum »vergeßt nicht«, was Sokrates' allerletzte Worte (me amelesete: vernachlässigt 103
nicht, vergeßt nicht) sind, 5 die wir auf jeden Fall kommentieren müssen, geht es während dieses ganzen Zyklus um das Verhältnis zwischen der Wahrheit über sich selbst und das Vergessen seiner selbst. Unter diesem Zeichen wird sich Sokrates' Prozeß abspielen, Sokrates' Diskussion über sein mögliches Exil und seine mögliche Rettung und schließlich Sokrates' Tod. Bleiben wir vorerst an dieser Stelle stehen und behalten wir uns diese Bemerkung für später vor. Ich möchte nun auf den Text eingehen, von dem ich gesprochen habe, der sich bei 3 rc der Apologie befindet und in dem es um die Frage geht: Soll man Politik betreiben? Oder vielmehr: Warum hat Sokrates keine Politik gemacht? Unmittelbar vor dieser Passage hat Sokrates gerade erklärt, wie er die Bürger Athensaufgesucht hat, wie sehr er sich darum gekümmert hatdarauf werden wir zurückkommen -, wie sehr er Sorge für sie getragen hat (»wie ein Vater oder älterer Bruder«). 6 Er hat sich also um die Athener wie ein Vater oder älterer Bruder gekümmert. Aber sobald er dies gesagt hat, wendet er schon selbst folgendes ein: Aber »vielleicht könnte auch dies jemanden ungereimt dünken, daß ich, um einzelnen zu raten, umhergehe und mir viel zu schaffen mache«, öffentlich (demosia) es aber nicht wage, dem Staat Ratschläge zu erteilen (symboulein te polei), indem ich mich dem Volke präsentiere und mich an es wende (anabainon eis to plethos, strenggenommen: auf die Rednerbühne steigen, um sich ans Volk zu wenden)/ Auch hier kommt ein technisches Wort vor. Symboulein bedeutet, an der Ratsversammlung teilzunehmen, an den beratenden Instanzen des Staats. Warum wage ich also nicht öffentlich, indem ich die Rednerbühne besteige, an den Entscheidungen der Stadt, des Stadtstaats teilzunehmen? In dieser Beschreibung einer politischen Rolle, wo jemand aufsteht, sich erhebt, zum Volk spricht und an den Beratungen des Staats teilnimmt, haben wir offensichtlich die Beschreibung der Bühne demokratischer Institutionen, die der parrhesia einen Platz hätten einräumen sollen. Was Sokrates anspricht, ist ebendiese mögliche Figur des politischen Parrhesiasten, der es 104
trotz der Gefahren, trotz der Drohungen akzeptiert, sich zu erheben, weil es im Interesse des Staats liegt. Indem er möglicherweise sein Leben riskiert, sagt er die Wahrheit. Hier könnte man an die Anekdote, die Geste, die berühmte Haltung Solons erinnern, die in der griechischen Literatur sehr oft erwähnt wird. Sie finden diese Episode im Staat der Athener ,·on Aristoteles im Kapitel q, 8 bei Plutarch (Das Leben SoIons)9 und auch bei Diogenes Laertius.l 0 In dem Augenblick, da Athen im Begriff ist, seine Freiheit zu verlieren, weil Peisistratos seine persönliche Autorität durchsetzt, d. h. die Tyrannis sich anschickt, in seinem eigenen Namen die Herrschaft über Athen auszuüben, in diesem Augenblick entschließt sich der alte Solon, der diesem Aufstieg des jungen Peisistratos beiwohnt, zur Volksversammlung zu kommen. Peisistratos hatte seinen Willen offenbart, die Tyrannis auszuüben, indem er sich eine Leibgarde bewilligen ließ - darin bestand in den griechischen Stadtstaaten das herkömmliche Mittel für einen Bürger, die Macht zu ergreifen: sich mit einer Leibgarde zu umgeben. Cnd angesichts dieses Ereignisses kommt Solon zur Volks..-ersammlung. Er kommt als einfacher Bürger Athens zur Versammlung, aber bewaffnet mit einem Brustpanzer und einem Schutzschild, wodurch er offenbar macht, was sich gerade ereignet, nämlich daß Peisistratos, indem er sich eine Leibgarde geben ließ, die Bürger als Feinde betrachtet, gegen die er möglicherweise wird kämpfen müssen. Wenn sich der Herrscher so zeigt, daß er eine Militärmacht ausübt und durch die bewaffne:e Streitmacht die anderen Bürger bedroht, ist es verständlich, daß die Bürger [ihrerseits] bewaffnet kommen. Solon kommt also zur Volksversammlung mit einem Brustpanzer und einem Schutzschild. Um die Volksversammlung dafür zu tadeln, daß sie Peisistratos ermächtigt hat, sich mit einer Leibgarde zu umgeben, sagt er zu seinen Mitbürgern: »Athener, die einen von euch übertreffe ich an Klugheit, die andern an Tapferkeit; an Klugheit die, welche den Trug des Peisistratos nicht merkten, J.n Tapferkeit die, welche es zwar merkten, aber aus Furcht schwiegen.« 11 Sie sehen hier Solons doppelte parrhesia: die 105
parrhesia im Hinblick auf Peisistratos, da er durch die Hand-
lung, die er [vollzieht], indem er im Brustpanzer und vollständig bewaffnet zur Volksversammlung kommt, zeigt, was Peisistratos im Begriff zu tun ist. Er enthüllt die Wahrheit des Geschehens und richtet zugleich eine wahre Rede an die Volksversammlung, indem er jene kritisiert, die nicht verstehen, aber auch [jene], die schweigen, obwohl sie verstehen. Er dagegen wird sprechen. Nach dieser Rede Solons, der anprangert, was gerade geschieht, und seine Mitbürger kritisiert, antwortet die Ratsversammlung, daß Solon in Wirklichkeit im Begriff ist, verrückt zu werden (mainesthai). Worauf Solon erwidert: »Kurze Zeit, und es wird mein Wahn sich allen enthüllen, wenn sich die Wahrheit den Weg freimacht für jedermanns Blick.« 12 Hier haben wir gerade ein typisches Beispiel für die Praxis der parrhesia, das natürlich a posteriori konstruiert wurde. Genau diese Praxis der parrhesia will Sokrates nicht übernehmen, diese Rolle will er nicht spielen. Er wagt nicht öffentlich, dem Staat Ratschläge zu erteilen, indem er sich an das Volk wendet. Sokrates wird nicht Solon sein. Dann stellt sich aber die Frage, wie Sokrates die Tatsache rechtfertigt, daß er nicht Solon sein wird, daß er die Rednerbühne nicht besteigen wird und daß er die Wahrheit nicht demosia (öffentlich) sagen wird. Der Grund, den er dafür angibt, daß er diese Rolle nicht zu spielen braucht, ist wohlbekannt. Er hat nämlich eine bestimmte, ihm vertraute Stimme gehört, die Stimme eines Gottes oder Dämons, die sich von Zeit zu Zeit in ihm und für ihn bemerkbar macht, eine Stimme, die ihm zwar nie etwas Positives vorschreibt, die ihm nie sagt, was er tun soll, [aber] von Zeit zu Zeit ertönt, um ihn davon abzuhalten, etwas auszuführen, was er gerade tun wollte oder hätte tun können. 13 Augenscheinlich geht es genau darum. Warum macht sich ihm die Stimme bemerkbar? Um ihn davon abzubringen, Politik zu betreiben. Die Stimme bringt ihn, der sich doch um die Bürger wie ein Vater oder ein älterer Bruder kümmert, davon ab, sich politisch handelnd um sie zu kümmern. Was bedeutet dieses ro6
Verbot? Warum dieses Zeichen? Warum diese Stimme, die ihn in dem Augenblick von der politischen parrhesia abhält, in dem er seiner wahren Rede diese Form, diesen Schauplatz und dieses Ziel hätte geben können? An dieser Stelle bringt Sokrates eine Reihe von Überlegungen ;-or, die auf den ersten Blick als alleinige Erklärung dieses Verbots oder jedenfalls dieses negativen Zeichens gelten könnten, das die Stimme des Dämons an ihn gerichtet hat. Diese scheinbare Erklärung ist die schlechte Funktionsweise der demokratischen parrhesia oder allgemeiner der politischen parrhesia. Es ist das Unvermögen, das einen befällt, wenn man es mit den politischen Institutionen zu tun hat, die parrhesiastische Rolle ordentlich, völlig und bis zum Schluß zu spielen. Und warum? Ganz einfach wegen der Gefahr, in die man sich begibt. Bei diesem Text möchte ich verweilen: »[W]enn ich schon vor langer Zeit unternommen hätte, Staatsgeschäfte zu betreiben, so wäre ich auch schon längst umgekommen«. 14 Sie erinnern sich, ich hatte Ihnen diesen Text das letzte Mal vorgelesen. Und Sokrates fügt hinzu: >>Werdet mir nur nicht böse, wenn ich die Wahrheit rede! [Die Wahrheit, d. h., wenn ich Politik betrieben hätte, wäre ich umgekommen; M. F.] Denn kein Mensch kann sich erhalten, der sich - sei es nun euch oder einer anderen Volksmenge- tapfer widersetzt und viel Ungerechtes und Gesetzwidriges im Staate zu verhindern sucht.« 15 Auch wenn wir rasch über diesen Text hinweggehen, so ist die Sache doch klar: \'V'arum habe ich keine Politik betrieben? Weil, wenn ich Politik betrieben hätte, wenn ich mich hervorgetan hätte, um zu euch zu sprechen, um euch die Wahrheit zu sagen, ihr mich hättet umkommen lassen, wie alle diejenigen umkommen, die in ihrem Staat auf großherzige Weise Ungerechtigkeiten und Gesetzwidrigkeiten verhindern wollen. Nur muß man etwas näher zusehen, vor allem muß man sich die Beispiele und Rechtfertigungen ansehen, die Sokrates anführt. Denn die Beispiele, die er zur Stützung der Behauptung gibt, daß man sein Leben riskiert, wenn man sich an die Volksversammlung wendet, um ihr die Wahrheit zu sagen, sind eigenartig und zugleich 107
ganz paradox, weil es sich sowohl um Beispiele als auch um Widerlegungen handelt. 16 Um Beispiele handelt es sich, insofern es um solche Fälle geht, in denen die politischen Institutionen, seien sie nun demokratisch, tyrannisch oder oligarchisch, diejenigen behindern oder behindern wollen, die auf der Seite der Gerechtigkeit und der Rechtmäßigkeit des Wahrsprechens stehen. Aber diese Beispiele sind zugleich Widerlegungen, weil man in ihnen gerade sieht, daß Sokrates in zwei konkreten Fällen, die er erwähnt, diese Erpressung und Bedrohung nicht hingenommen hat. Er hat sich ihnen gestellt und in beiden Fällen das Risiko zu sterben auf sich genommen. Darum geht es. Dafür, daß man sich wirklich dem Tod aussetzen kann, wenn man die Wahrheit im Rahmen einer demokratischen Regierungsform sagen will, gibt Sokrates ein ganz konkretes Beispiel, das er seiner eigenen Erfahrung und seinem eigenen Leben entnimmt. Der Schauplatz des Geschehens liegt im Jahre 406, als Sokrates durch die Rotation der politischen Verantwortung- hier handelt es sich nicht um eine gewissermaßen persönliche Tätigkeit, für deren Übernahme er selbst die Entscheidung getroffen hätte, sondern seinem eigenen Stamm oblag es, die Prytanie auszuüben - zum Prytanen bestimmt wurde. Zu dieser Zeit wurde aber gerade ein Verfahren gegen athenische Generäle eingeleitet, die in der Schlacht bei den Arginusen siegten und die aus einer Reihe von Gründen nach der Schlacht und ihrem Sieg die Leichen nicht begraben hatten -was sowohl eine Ruchlosigkeit als auch eine etwas zweifelhafte politische Geste war. Aber lassen wir das beiseite. In der Volksversammlung gibt es also Leute, die eine Klage gegen die Generäle, die bei den Arginusen kämpften, erhoben. Und was tut Sokrates nun? »Da war ich unter den Prytanen der einzige, der sich euch widersetzte, damit ihr nichts gegen die Gesetze tun möchtet, und euch entgegenstimmte.« 17 Die Volksversammlung hat aber die Generäle tatsächlich verurteilt, und sie wurden schlichtweg hingerichtet. Nun, trotz der Tatsache, daß die ganze Volksversammlung für diese Verurteilung stimmte, habe ich, sagt Sokrates, »euch entgegengeI08
srimmt«. »Und obgleich die Redner [Verfechter der Verurteilung der Generäle; M. F.] bereit waren, mich anzugeben und gefangenzusetzen, und ihr es fordertet [sagt Sokrates zum Volk ,-on Athen; M. F] und schrieet, so glaubte ich doch, ich müßte ~ieber mit dem Recht und dem Gesetz die Gefahr bestehen, als :nich zu euch gesellen in einem so ungerechten Vorhaben aus Furcht des Gefängnisses oder des Todes.« 18 Hier haben wir ein Beispiel dafür, das hinreichend beweist, daß man in der Demokratie sein Leben riskiert, wenn man die Wahrheit zugunsten der Gerechtigkeit und des Gesetzes sagen will. Aber zur glei.::hen Zeit, da Sokrates zeigt, daß man tatsächlich dieses Risiko =~ngeht, zeigt er auch, daß er dieser Gefahr wirklich entgegengetreten ist und die typische Rolle des politischen Parrhesiasren gespielt hat. Es ist wahr, daß die parrhesia gefährlich ist, aber es ist ebenso wahr, daß Sokrates den Mut hatte, die Risiken dieser parrhesia einzugehen. Er hatte den Mut, das Wort zu ergreifen, er hatte den Mut, eine gegenteilige Meinung vor einer Volksversammlung abzugeben, die versuchte, ihn zum Schweigen zu bringen, ihn zu verfolgen und ihn schließlich zu bestrafen. ~ach diesem paradoxen Beispiel (dem Beweis, daß die parrhesia in der Demokratie gefährlich ist, zugleich aber auch einem Beispiel dafür, daß Sokrates dieses Risiko eingeht) führt Sokra:es ein anderes an, das er einer anderen Episode der athenischen Geschichte und einer anderen Form des politischen Systems entlehnt. Er bezieht sich auf jene kurze Zeit, in der Athen am Ende des 5. Jahrhunderts unter der oligarchischen Regierung der Dreißig stand, einer autoritären und blutigen Regierung. Hier zeigt er nun, daß es in einer autoritären und oligarchischen Regierungsform genauso gefährlich wie in einer Demokratie ist, die Wahrheit zu sagen. Zugleich zeigt er aber auch, wie gleichgültig das für ihn war und wie er das Risiko eingegangen ist. Er erinnert an den Augenblick, als die Dreißig Tyrannen einen Bürger verhaften lassen wollten, dessen Name Leon von Salamis war und der zu Unrecht angeklagt wurde. Um ihn zu verhaften, hatten die Dreißig Tyrannen vier Bürger
aufgefordert, diese Verhaftung vorzunehmen. Unter diesen vier Bürgern hatten sie Sokrates ausgewählt. Als nun die drei anderen fortgegangen waren, um Leon von Salamis gefangenzunehmen, >>zeigte ich auch da nun [erinnert Sokrates seine Ankläger; M.F.] wiederum nicht durch Worte, sondern durch die Tat (ou logo all' ergo), daß der Tod, wenn euch das nicht zu bäurisch klingt, mich auch nicht das mindeste kümmerte [emoi thanatou melei oud' hotioun; ich weise Sie auf [den Ausdruck] »melei« hin, dem wir noch oft begegnen werden; M. F.], nichts Ruchloses aber und nichtsUngerechtes zu begehen mich mehr als alles kümmerte [und wieder: toutou de to pan melei; M.F.].« 19 Ein spiegelbildliches und umgekehrtes Beispiel. Umgekehrt, weil wir uns in einer aristokratischen, oligarchischen Regierungsfarm befinden. Spiegelbildlich, weil die parrhesia in dieser Regierungsform zwar nicht möglich ist, Sokrates aber doch gleichfalls das Risiko auf sich genommen hat. Sie sehen, worin das Problem besteht. Sokrates hat gerade gesagt: Warum habe ich mich nie demosia (öffentlich durch Besteigen der Rednerbühne) um die Bürger gekümmert und will mich auch auf diese Weise nicht um sie kümmern, obwohl ich mich doch mit ihnen befasse? Weil ich in diesem Fall sterben würde. Wie kann er so etwas sagen und als Rechtfertigung seiner Haltung Beispiele anführen, durch die er zwar zeigt, daß es gefährlich ist, in denen er aber die Gefahr und den Tod auf sich nimmt? Kann man sagen, daß die Todesgefahren, die die schlechte politische Funktionsweise dem Parrhesiasten auferlegt, daß der Tod, dessen Risiko man auf sich nimmt, wenn man die Wahrheit sagt, die wahren Gründe waren, aus denen Sokrates sich nicht auf der politischen Bühne hervorgetan und niemals das Wort gegenüber dem Volk ergriffen hat? Er, der doch zweimal (in der Demokratie und in der Oligarchie) das Risiko des Todes auf sich genommen hat, um der Wahrheit und der Gerechtigkeit Geltung zu verschaffen, er, der doch gerade in der Apologie, die er vorträgt, den ganzen Text über erklärt und erklären wird, daß er keine Angst vor dem Tod hat, wie kann er da sagen: Ich habe keine Politik gemacht, weil ich umgekommen wäre, wenn I IO
ich es getan hätte. Die Frage ist folgende: Können diese Gefahren der wirkliche Grund für seine Enthaltung sein? Die Ant..,...,·ort, die man geben muß, ist zugleich nein und ja. Offensichtlich nein, ich möchte betonen, daß Sokrates nicht aus Angst ,·or dem Tod und um diesem zu entrinnen auf die politische Tätigkeit verzichtet hat. Aber dennoch kann man sagen: Ja, er hat sich genau wegen dieser Gefahren enthalten, nicht aus _\ngst vor dem Tod, sondern weil er umgekommen wäre, wenn er sich in die Politik eingemischt hätte, und er als Toter - das sagt er in dem Text- weder sich selbst noch den Athenern von ::\utzen hätte sein können. 20 Die Furcht vor dem Tod, die persönliche Beziehung des Sokrates zu seinem eigenen Tod ist also nicht der Grund, weshalb er die Wahrheit in Form der politischen Veridiktion nicht sagen wollte. Es ist nicht diese persöniiche Beziehung, sondern eine gewisse Beziehung der Nützlichkeit, eine gewisse Beziehung zu sich selbst und zu den _-\thenern, diese nützliche, positive und günstige Beziehung ist der Grund, weshalb die Bedrohung, die die politischen Systeme für die Wahrheit darstellen, ihn daran gehindert hat, diese \\'ahrheit in politischer Form auszusprechen. Daß er sich vor dem Tode hüten solle, wurde ihm ja durch jenes negative Zei·.::hen, durch jenen Ruf der dämonischen Stimme empfohlen. Aber nicht deshalb, weil der Tod ein Übel ist, das es zu vermeiden gilt, sondern weil Sokrates nichts Positives hätte bewirken können, wenn er gestorben wäre. Zu den anderen und zu sich sdbst hätte er keine wertvolle, nützliche und günstige Beziehung aufbauen können. Das dämonische Zeichen, das Sokrates in dem Augenblick, als er vor die Volksversammlung hätte tre:en können, von der todbringenden Politik abgebracht hat, dieses Zeichen hat also bewirkt - und das ist wohl auch seine Funktion gewesen -, gerade diese positive Aufgabe und den Auftrag, den er erhalten hatte, zu schützen. Das weist also auf die Mission hin, mit der der Gott Sokrates betraut hat und die es gegen die fruchtlosen Gefahren der Polir.ik zu verteidigen gilt. Man darf nicht vergessen- darauf soll:en wir zurückkommen-, daß dieser ganze Zyklus von SokraI I I
tes' Tod die Interpunktion einer Reihe göttlicher Eingriffe heraufbeschwört. Hier haben wir nun eine solche. Welche positive Aufgabe, welche nützliche Aufgabe ermöglicht und schützt diese göttliche Intervention, die in dem Augenblick, in dem die politische parrhesia für Sokrates eine ernsthafte Möglichkeit dargestellt hätte, einen Bruch einführt? Die ganze Apologie, oder zumindest der erste Teil, ist der Bestimmung und Charakterisierung dieser Aufgabe gewidmet, die nützlich ist und die vor dem Tod geschützt werden muß. Diese Aufgabe ist eine bestimmte Ausübung, eine bestimmte Praxis des Wahrsprechens, die Verwirklichung eines bestimmten Modus der Veridiktion, der sich völlig von jenen unterscheidet, die auf der politischen Bühne stattfinden können. Die Stimme, die Sokrates gegenüber diese Empfehlung ausspricht oder ihn vielmehr von der Möglichkeit des politischen Redens abbringt, diese Stimme bezeichnet die Einsetzung eines anderen Wahrsprechens gegenüber dem politischen Wahrsprechen, nämlich die Veridiktion der Philosophie: Du wirst nicht Solon sein, du sollst Sokrates sein. Was ist diese andere Praxis des Wahrsprechens, deren wesentlichen, grundsätzlichen, grundlegenden Unterschied gegenüber dem politischen Wahrsprechen die göttliche Stimme bezeichnet? Das wird im gesamten ersten Teil der Apologie erzählt, und ich glaube, daß man dieses andere Wahrsprechen, das durch die Vorsicht des Sokrates, dem Tod aus dem Wege zu gehen, herbeigeführt wird, schematisch durch drei Momente beschreiben kann. Das erste Moment dieser Veridiktion findet man im Verhältnis zu den Göttern, im Verhältnis zu Apollon, im Verhältnis zur Prophezeiung. Wie wir sehen werden, ist auch das nicht gleichgültig. Chairephon, Sokrates' Freund, ging zum delphischen Gott, um ihn zu fragen: Welcher Grieche ist weiser als Sokrates? Sie wissen, daß die Antwort des Gottes auf diese Frage, die nicht von Sokrates, sondern von einem seiner Freunde gestellt wurde, lautete: Niemand ist weiser als Sokrates. 21 Natürlich ist diese Antwort wie alle Antworten des Gottes rätselhaft, und derjenige, der sie empfängt, ist niemals ganz sicher, ob er sie 112
richtig versteht. Sokrates versteht sie in der Tat nicht. Und er fr2.gt sich wie alle oder fast alle, die solche rätselhaften Antwor:en von dem Gott empfangen haben: Ti pote legei ho theos ?22 \\'as sagt der Gott mit verschlüsseltem Wort: ainittetai? 23 ) 'X"enn Sokrates sich diese herkömmliche Frage im Anschluß an c:e herkömmlich rätselhafte Antwort des Gottes stellt, muß :::an aber gleich darauf hinweisen, daß er keine Interpreta~ionsmethode vorschlägt, um den Sinn der Worte des Gottes herauszufinden. Er versucht nicht, den zugrundeliegenden Sinn zu entziffern, er versucht nicht zu erraten, was der Gott gesagt hat. Sokrates' Erklärung dessen, was er in jenem Augenblick getan hat, ist überaus interessant. Er sagt: Die Antwort mf Chairephons Frage wurde mir überbracht, und da ich mich ~ragte, weil ich sie nicht verstand: Was könnte der Gott gemeint haben?, habe ich eine Untersuchung vorgenommen. Das verwendete Verb ist zetein (man begegnet dem Wort zetesis). 24 Er hat eine Untersuchung vorgenommen, und die Untersuchung 'besteht, wie gesagt, nicht darin, etwas zu interpretieren oder zu entziffern. Es geht nicht um eine Exegese dessen, was der Gott gemeint haben könnte und was er hinter einer allegorischen Form oder hinter einem zur Hälfte wahren und zur Hälfte trügerischen Diskurs verborgen hätte. Die Untersuchung, die So:.;.:-ates vornimmt, ist eine Untersuchung, [die darauf abzielt] herauszufinden, ob das Orakel die Wahrheit gesprochen hat. Sokrates will das, was das Orakel gesagt hat, auf die Probe stelien r.Jaire l'epreuve].'' Er besteht darauf, dieses Orakel der Prü,_ Foucault eröffnet hier im Umfeld der Ausdrücke zetein und exetazein ein Wortfeld der Untersuchung und Prüfung, das im Französischen neben recherche und enquete vor allem die Ausdrücke epreuve/eprouver, ::erification/verifier, examen/examiner und test/tester umfaßt. Es wurde darauf verzichtet, den entsprechenden Wörtern und Wendungen quasi terminologisch deutsche Begriffe zuzuordnen, da Foucault sie nicht streng terminologisch gebraucht und in wichtigen Fällen auch Mißverständnisse provoziert würden. So trägt das französische verifier einen starken Akzent auf dem Moment der Kontrolle, wird von Foucault aber :J.atürlich im unmittelbaren Bezug zur veridiction gebraucht. Um zumindest stellenweise zu verdeutlichen, welche Vielfalt von französischen Ausdrücken sich hinter dem deutschen »prüfen/Prüfung« verberII3
fung auf seine Wahrheit hin ZU unterziehen [soumettre aIa verification]. Und um die Art und Weise dieser Untersuchung (zetesis) zu bezeichnen, verwendet er ein bestimmtes Wort, das von Bedeutung ist, nämlich das Wort elenchein, 25 welches bedeutet, Vorwürfe, Einwände machen, Fragen stellen, jemanden einem Verhör unterziehen, dem, was jemand gesagt hat, widersprechen, um herauszufinden, ob das Gesagte wirklich zutrifft oder nicht. Gewissermaßen handelt es sich also um eine Diskussion. Er wird also das Orakel nicht interpretieren, sondern es diskutieren, es einer Diskussion unterziehen, es einer Gegenrede aussetzen, um herauszufinden, ob es wahr ist. Um das Orakel dieser Überprüfung [verification] und nicht einer Interpretation zu unterziehen, unternimmt nun Sokrates eine regelrechte Rundreise, eine richtige Kreuzfahrt (was er plane nennt),26 um schließlich herauszufinden, ob die Prophezeiung sich tatsächlich als unbestreitbar (anelenktos)2 7 herausstellen und ob sie sich in Wahrheit als begründet erweisen kann. Es ist wichtig, das Einzigartige an dieser Haltung des Sokrates genau zu erfassen. Zwar besitzt er wie Chairephon selbst gegenüber dem Orakel jene Ehrfurcht, die bewirkt, daß er das, was das Orakel ihm sagt, aufnimmt und sich darüber Fragen stellt. Man sieht jedoch, wie weit wir von der gewöhnlichen Haltung gegenüber der Prophezeiung und den Worten des Orakels entfernt sind. Worin besteht nun diese gewöhnliche Haltung, die man ständig antrifft, der man lange Zeit begegnen wird, die wir letztes Jahr, wie Sie sich erinnern, feststellen konnten, als wir Euripides' Ion und jene Konsultationen des Orakels untersuchten, bei denen der Vater und die Mutter herauszufinden versuchten, was aus ihrem Sohn geworden ist oder ob sie eventuell einen Sohn haben würden ?28 Erstens in dem Versuch der Interpretation, um so genau wie möglich zu verstehen, was das Orakel gesagt hat, und dann abzuwarten, um zu sehen, ob sich das Orakel wirklich erfüllt, oder auch in dem Versuch, die Verwirklichung des Orakels zu verhindern, gen kann, werden an einigen wichtigen Stellen der Vorlesung vermehrt die Ausdrücke des Originals angegeben. II4
wenn das, was man verstanden hat, eine Gefahr oder ein Un:::ück ist. Mit anderen Worten: Die Worte des Orakels zu inter?retieren und seine Folgen in der Wirklichkeit abzuwarten oder zu verhindern. Die herkömmliche, gewöhnliche Haltung gegenüber den Worten des Orakels ist durch dieses Spiel zwischen Interpretation und Abwarten in der Wirklichkeit ge~ennzeichnet. Die sokratische Haltung ist nun aber eine völlig :ndere. Es geht nicht darum, eine Interpretation vorzunehmen, sondern eine Untersuchung, um die Wahrheit des Orakels zu :rüfen [tester] und auf die Probe zu stellen [eprouver]. Es geht darum, das Orakel zu diskutieren. Und diese Untersuchung :1.immt die Gestalt einer Diskussion, einer möglichen Widerlegung an, einer Probe [preuve ], die die Rede des Orakels nicht :::n Bereich einer Wirklichkeit zur Geltung bringt, in dem es sich tatsächlich vollzieht, sondern im Bereich einer Wahrheit, in dem man es als einen wahren oder falschen Iogos annehmen kann. Interpretation und Erwartung im Bereich des Wirkli.:hen, das ist die gewöhnliche Haltung. Untersuchung und Prü~ng [epreuve] im Spielraum der Wahrheit, das ist die Haltung ,:es Sokrates gegenüber der Prophezeiung. Hier haben wir das erste Moment der sokratischen Haltung, der sokratischen Veridiktion und des Auftrags, den Sokrates empfing, die Wahrneit zu sagen. Das zweite Moment: In welcher Form wird Sokrates diese :rufende Untersuchung [recherche verificatrice] durchführen? '::\.ie wird er konkret versuchen herauszufinden, ob das Orakel iie Wahrheit gesagt hat? Wie wird er, anstatt abzuwarten oder zu verhindern, daß es sich verwirklicht, diese Diskussion mit dem und gegenüber dem Orakel führen? Er hat gesagt, daß es sich um einen Rundgang handle, um eine Untersuchung, die er i-"ihrt (eine plane: er wird herumwandern und dabei versuchen, das Orakel zu prüfen [tester]). Und auf diesem Rundgang durch die Stadt und zu ihren Bürgern unternimmt er seine Un:ersuchung bei verschiedenen Kategorien von Individuen und 3ürgern vor. Zunächst bei einem Staatsmann, dann bei ande::-en; auf der zweiten Etappe folgt der Dichter; auf der dritten 115
Etappe sind schließlich die Handwerker an der Reihe. Dieser Rundgang ist, wie Sie sehen, ein Rundgang durch die Stadt, durch die Körperschaft der Bürger von oben nach unten. Vom Staatsmann, der von solcher Bedeutung ist, daß er seinen Namen nicht nennt,Z 9 bis zum letzten Handwerker durchwandert Sokrates die gesamte Stadt. 30 Und in dem Maße, in dem er auf diese Weise unter den Bürgern, die den Staat bilden, hinabsteigt, stößt er auf immer solidere Kenntnisse. Während der erste Staatsmann, den er besuchte, vielen, und vor allem sich selbst, gelehrt zu sein schien, es aber in Wirklichkeit keineswegs war, stellt er dagegen fest, daß die Handwerker vieles [wissen], und zwar viel mehr als Sokrates selbst weiß. Aber alle, gleichgültig ob unwissende Staatsmänner oder wissende Handwerker, haben die Eigenschaft gemein, daß sie Dinge zu wissen glauben, die sie in Wirklichkeit nicht wissen, während Sokrates weiß, daß er sie nicht weiß. Er besitzt zwar nicht das Wissen bestimmter anderer Bürger (der Handwerker), aber er besitzt auch nicht ihre Unwissenheit. Dies (diese Untersuchung, dieses Infragestellen, diese Befragung, diese Prüfung [examen] der anderen im Vergleich mit ihm selbst) nennt Sokrates in diesem Text exetasis. 31 Exetazein bedeutet, etwas einer Prüfung unterziehen [soumettre a l'examen]. 32 Und diese Prüfung [examen] ist in erster Linie eine bestimmte Weise zu prüfen [verifier], ob das Orakel die Wahrheit gesagt hat. [Zweitens] besteht diese Weise der Prüfung, ob das Orakel die Wahrheit gesagt hat, darin die Seelen zu prüfen [eprouver], zu prüfen, was sie über die Dinge, ihre Arbeit, ihre Tätigkeit wissen und was nicht (ob es sich nun um einen Staatsmann, einen Dichter oder einen Handwerker handelt), aber auch, was sie über sich selbst wissen (was sie darüber wissen, daß sie etwas wissen und daß sie nicht wissen). Schließlich geht es bei dieser exetasis nicht nur darum, die Seelen im Hinblick darauf zu prüfen, was sie über die Dinge und sich selbst wissen und was nicht, sondern auch darum, diese Seelen der Seele des Sokrates gegenüberzustellen. Sokrates, der bescheidenerweise prüfen [verifier] wollte, ob das Orakel wirklich die Wahrheit sprach, II6
als es behauptete, daß er der weiseste Mensch sei, und der seine eigene Unwissenheit vor dem vermeintlichen Wissen der anderen zu zeigen bzw. geltend zu machen versuchte, erscheint schließlich als derjenige, der in der Tat mehr als die anderen weiß, zumindest insofern er seine eigene Unwissenheit kennt. So wird Sokrates' Seele zum Prüfstein (basanos? 3 der Seele der anderen . .\uf diese Weise vollzieht sich also die exetasis. Der erste Schritt erfolgt aufgrund der Aussage des Gottes: sich fragen, untersu::hen (das ist die zetesis ), indem man die Prüfung [verification] durch die Diskussion (elenchos) praktiziert. Diese Prüfung :Ummt die konkrete Form der Nachforschung an (plane). Man durchwandert die Stadt, unterzieht jeden dieser exetasis, die ierauszufinden gestattet, was er weiß, was er nicht weiß, was er über die Dinge weiß, was er von sich selbst weiß, und prüft dessen Wissen und dessen Unwissenheit, indem man [seine Seele] mit dem Prüfstein vergleicht und an diesem reibt, der die Seele von Sokrates ist. Das dritte Moment dieses Zyklus: Diese Prüfungen, diese exetasis, diese Untersuchungen, die Sokrates so durch den ganzen Staat, von oben nach unten, vornimmt, haben ihm natürlich viele Feindseligkeiten eingebracht- insbe50ndere die Anklagen von Meletos und Anytos, gegen die er sich ja gerade in der Apologie verteidigt. 34 Und dennoch ließ sich Sokrates trotz dieser Feindseligkeiten- die nicht von den Anklagen des Meletos und Anytos herstammen, sondern viel weiter zurückgehen, wobei die Anklagen des Meletos und _\nytos gewissermaßen nur die letzte Auswirkung und die allerletzte Episode darstellen- nicht von den Gefahren zurückhalten, die sie möglicherweise mit sich brachten. Das sagt er :::i.brigens an dieser Stelle ganz klar: Ein Mann, der auch nur ein weniges nütze ist, müsse nicht »Gefahr um Leben und Tod[ ...] :n Anschlag bringen[Ein Mann, der] auch nur ein weniges nutz ist,[ ...] müsse[ ...] vielmehr allein darauf sehen, wenn er etwas tut, ob es recht getan ist oder unrecht, ob es eines rechtschaffenen Mannes Tat oder eines schlechten.« 36 Folglich darf er der Tatsache, daß er dadurch sterben könnte, keine Beachtung schenken. Mit dieser Form des Wahrsprechens oder der Veridiktion haben wir eine bestimmte Form der parrhesia vor uns, wenn man unter parrhesia den Mut zur Wahrheit versteht, den Mut, die Wahrheit zu sagen. Wir haben hier eine parrhesia, die offensichtlich in ihrem Fundament und in ihrem Ablauf ganz verschieden von der politischen parrhesia ist. Diese neue parrhesia, diese andere parrhesia wird [Sokrates] auf ganz besondere Weise ausüben. Was ihre Form angeht, so bestimmt er sie als einen Auftrag, einen Auftrag, der ihm am Herzen liegt, von dem er niemals abrücken wird, den er beständig bis zum Ende erfüllen wird. Sie sehen auch, daß er von diesem Gesichtspunkt aus nicht dem Weisen ähnlich sein wird. Er wird beispielsweise nicht Solon ähnlich sein, der zwar auf eigene Gefahr hin im Staat das Wort ergreift, um die Wahrheit zu sagen, aber nur von Zeit zu Zeit. Die übrige Zeit bleibt er in seiner Weisheit schweigsam. Der Weise ergreift das Wort, wenn die Dringlichkeit es verlangt. Darüber hinaus zieht er sich in das Schweigen seiner eigenen Weisheit zurück. Sokrates dagegen hat eine Mission, fast möchte man sagen, einen Beruf, jedenfalls hat er einen Auftrag. Es ist von großer Bedeutung, daß er sich nicht mit jenem Weisen vergleicht, der nur von Zeit zu Zeit das Wort ergreift, sondern mit einem Soldaten, der seine Stellung hält. 37 [Betrachten wir etwa Solon], den man in früherer Zeit gebeten hat, dem Staat Gesetze zu geben, und der, als er sah, daß diese Gesetze pervertiert wurden und Peisistratos die Tyrannis [ausübte], zu dieser Gelegenheit die Kleidung eines Soldaten anII8
legt, seinen Schild ergreift, seinen Brustpanzer überstreift und genau in diesem Moment bei der Volksversammlung erscheint, um die Wahrheit erstrahlen zu lassen. Stellen wir ihm Sokrates gegenüber, der sich sein ganzes Leben lang als eine Art von Soldat unter den Bürgern verstanden hat, der jeden Augenblick bereit sein muß zu kämpfen, sich und die Bürger zu verteidigen. Was ist nun das Ziel dieses Auftrags? Was soll er im Sinne dieses Auftrags tun, den der Gott ihm gegeben und den er beschützt hat, indem er ihm sagte: Betreibe vor allem keine Politik, denn du würdest umkommen? Das Ziel dieses Auftrags besteht natürlich darin, ständig über die anderen zu wachen, sich wie ein Vater oder älterer Bruder um sie zu kümmern. Aber wozu? Um sie anzustacheln, sich nicht um ihr Vermögen, ihren Ruf, ihre Ehren und ihre Ämter zu kümmern, sondern um sich selbst, d. h. um ihre Vernunft, um die Wahrheit und um ihre Seele (phronesis, aletheia, psyche). 38 Sie sollen sich um sich selbst kümmern. Diese Bestimmung ist entscheidend. Das Selbst im Verhältnis von sich zu sich selbst, das Selbst in diesem Verhältnis des Wachens über sich wird [erstens] durch die phronesis bestimmt, d. h. durch die gewissermaßen praktische Vernunft, die handelnde Vernunft, die das Treffen guter Entscheidungen und die Vertreibung falscher Meinungen ermöglicht. Zweitens wird das Selbst auch durch die aletheia bestimmt, insofern sie tatsächlich das Maß sein wird, woran sich die phronesis hält, wonach sie sucht und was sie schließlich erlangt. Aber zugleich ist sie das Sein, insofern wir gerade in Form der psyche (der Seele) mit ihm verwandt sind. Wenn wir eine phronesis haben und gute Entscheidungen treffen können, dann deshalb, weil wir ein bestimmtes Verhältnis zur Wahrheit haben, das ontologisch in der Natur der Seele fundiert ist. Von dieser Art ist nun die Mission des Sokrates, eine Mission, die, wie man sieht, in ihrem Ablauf, ihrer Form und ihrem Ziel von der politischen parrhesia, von der politischen Veridiktion, von der wir bislang gesprochen haben, ganz verschieden ist. Sie hat eine andere Form und ein anderes Ziel. Dieses andere Ziel be119
steht tatsächlich darin zu erreichen, daß die Menschen sich um sich selbst kümmern, daß jede Person sich um sich selbst [als] vernünftiges Wesen kümmert, das in einem Verhältnis zur Wahrheit steht, welches sich auf das Sein seiner eigenen Seele gründet. In diesem Sinne haben wir jetzt eine parrhesia auf der Achse der Ethik. Bei dieserneuen Form der parrhesia geht es eben um die Begründung des ethosals desjenigen Prinzips, anhand dessen sich das Verhalten in Abhängigkeit vom Sein der Seele als vernünftiges Verhalten bestimmen läßt. Zetesis, exetasis, epimeleia. Zetesis ist das erste Merkmal der sokratischen Veridiktion (die Untersuchung). Exetasis ist die Prüfung [examen] der Seele, der Vergleich und die Prüfung [epreuve] der Seelen. Epimeleia ist die Sorge um sich selbst. Sokrates' Untersuchung des Sinnes, den man den Worten des Orakels geben sollte, hat ihn zu diesem Unternehmen der gegenseitigen Seelenprüfung geführt mit dem Ziel, jeden dazu anzustacheln, sich um sich selbst zu kümmern. Untersuchung, Prüfung, Sorge. Untersuchung dessen, was der Gott sagt, Prüfung der Seelen durch gegenseitigen Vergleich, Sorge um sich als eigentliches Ziel dieser Untersuchung: Sie sehen, daß wir es hier mit einer Gesamtheit zu tun haben, die die sokratische parrhesia, die mutige Veridiktion des Sokrates im Gegensatz zur politischen Veridiktion bestimmt, die ihrerseits nicht [in Form einer] Untersuchung durchgeführt wird, sondern sich als die Behauptung einer Person manifestiert, daß sie in der Lage sei, die Wahrheit zu sagen; die nicht die Prüfung und den Vergleich der Seelen praktiziert, sondern sich in ihrer Einsamkeit mutig an eine Volksversammlung oder an einen Tyrannen wendet, der sie nicht hören will; die nicht auf die epimeleia abzielt (die Menschen anzustacheln, sich um sich selbst zu kümmern), sondern den Leuten sagt, was sie tun sollen, und dann, nachdem dies gesagt wurde, sich von ihnen abwendet und sie ihren Kräften entsprechend mit sich selbst und mit der Wahrheit zurechtkommen läßt. Das berühmte Verbot des Dämons, das Sokrates gehört hat, als er hervortreten [und] öffentlich auf der Rednerbühne hätte I20
>prechen können, dieses berühmte Verbot des Dämons, das ihn zurückgehalten und ihn daran gehindert hat, sich auf den öf:entlichen Platz zu begeben, hat in der Tat eine Teilungslinie gezogen und, wie mir scheint, im griechischen und somit im :.bendländischen Denken die Trennung zwischen [einer] Praxis des politischen Wahrsprechens, die ihre Gefahren besitzt, und e:ner anderen Praxis des Wahrsprechens markiert, die sich ganz anders gebildet hat, die ganz anderen Regeln gehorcht ;md mit ganz anderen Zielen verbunden ist, die jedoch- das Beispiel und die Geschichte Sokrates' beweisen es zur Genüge - genauso gefährlich ist. Folglich haben wir zwei Arten des J.Iutes, die Wahrheit zu sagen, die sich um diese rätselhafte Li::ie herum abzeichnen und aufteilen, eine Linie, die von der Stimme des Dämons, die Sokrates zurückgehalten hatte, gezogen bzw. markiert wurde. L nd nun möchte ich folgende Bemerkungen hinzufügen. In der Darstellung der anderen Form mutiger Veridiktion, jener .mderen Form der Veridiktion, die der Seinsgrund des ganzen ersten Teils der Apologie ist, diesem zugrunde liegt und ihn durchzieht, findet man leicht Hinweise auf andere Typen der Veridiktion, über die ich letztes Mal und vorletztes Mal gesprochen habe (die Veridiktion der Prophezeiung, die Veridik:ion der Weisheit, die Veridiktion der Lehre). Ich hatte Ihnen auf schematische und gewissermaßen synchronische Weise zu sagen versucht, daß man in der griechischen Kultur vier große Formen des Wahrsprechens finden könne: das Wahrsprechen des Propheten, das Wahrsprechen des Lehrers, des Technikers {des Mannes der techne) und dann die Veridiktion des Parrhesiasten. Ich glaube, daß die anderen drei Formen der Veridiktion (Prophezeiung, Weisheit und Lehre) in der Apologie des Sohates explizit vorkommen. Sokrates hat bei seinem Versuch der Bestimmung, worin seine Mission besteht, ganz ausdrücklich die unterscheidenden Punkte zu den anderen Formen der Veridiktion gekennzeichnet, und er hat gezeigt, wie er seinen eigenen Weg zwischen [diesen] verfolgte. Erstens - das haben wir vorhin gesehen, das war sogar unser 121
Ausgangspunkt-, im Vergleich mit der prophetischen Veridiktion hat Sokrates in der Tat die Mission seiner parrhesia mit dem prophetischen Wort des Gottes begonnen, den man dort befragt hatte, wo er eben seinen prophetischen Diskurs hält, nämlich in Delphi. In diesem Sinne stützt sich also Sokrates' gesamte neue parrhesia- worauf er aus einer Reihe von Gründen großen Wert legt- auf die Prophezeiung des Gottes, was ihm erlaubt, den Vorwurf der Gottlosigkeit abzuweisen. Wir hatten aber auch gesehen, und das ist wichtig, daß Sokrates dieser Prophezeiung des Gottes oder, wenn Sie so wollen, der prophetischen Haltung und der Anhörung der wahren Rede des Propheten eine Reihe von Wendungen verleiht, indem er die Worte des Gottes einer Untersuchung unterzieht, die in einer Befragung umgesetzt wird und auf die Wahrheit gerichtet ist. Er hat das prophetische Wort und seine Wirkungen aus dem Bereich der Wirklichkeit, in dem seine Verwirklichung erwartet wird, in den Spielraum der Wahrheit transponiert, in dem man prüfen will, ob dieses Wort wirklich wahr ist. Es handelt sich also um die Transposition der prophetischen Veridiktion in den Bereich der Wahrheit. Zweitens gibt es in dem Text auch einen sehr offensichtlichen Bezug auf das Wahrsprechen der Weisheit, auf das Wahrsprechen des Weisen. Sie finden sie an der Stelle, wo Sokrates an die Anklage erinnert, deren Opfer er ist, eine sehr alte Anklage, die viel weiter zurückgeht als die des Anytos und des Meletos. Diese Anklage bestand in der Behauptung, daß Sokrates gottlos sei, daß er schuldig sei, daß er eine Ungerechtigkeit begangen habe (adikein), weil er versuchte zu erkennen, was sich im Himmel und unter der Erde zuträgt, und dadurch die schwächere Rede zur stärkeren machte (eine herkömmliche Formel, um auszudrücken, daß er zur Verwechslung des Falschen mit dem Wahren anreizte). 39 Das Wort, das hier verwendet wird, ist zetein (suchen), dasselbe Wort, das Sokrates verwendete. Denn Sokrates will gerade zeigen, daß das, was er tut, im Gegensatz zu den gegen ihn erhobenen Anklagen, sich völlig von der zetesis unterscheidet, vonjener Tätigkeit, die darin besteht, 122
das zu suchen (zetein ), was im Himmel oder unter der Erde vor sich gehen könnte. Bei r8d fordert er seine Zuhörer heraus, je:nanden zu finden, der ihn von diesen Dingen so hätte reden hören. Er hat nie darüber gesprochen, was im Himmel und un:cr der Erde vorgeht, und außerdem zeigt er in der gesamten Apologie, daß das, womit er sich beschäftigt, überhaupt nicht das Sein der Dinge und die Ordnung der Welt ist, was hingegen der Diskurs der Weisheit zum Gegenstand hat. Er spricht nicht vom Sein der Dinge und von der Ordnung der Welt, sondern •:on der Prüfung [epreuve] der Seele. Die sokratische zetesis steht insofern im Gegensatz zu der des Weisen, der danach strebt, das Sein der Dinge und die Ordnung der Welt zu beschreiben, als es bei der zetesis (der Erforschung) der Seele um die Seele und die Wahrheit der Seele geht. Es gibt also nicht nur eine Unterscheidung im Hinblick auf das prophetische Wahrsprechen, sondern auch eine Unterscheidung bzw. einen Gegensatz im Hinblick auf das Wahrsprechen der Weisheit. Schließlich kennzeichnet Sokrates drittens auch den Unterschied zwischen seiner Veridiktion und dem Wahrsprechen jener, die bestimmte Techniken kennen und besitzen und in der Lage sind, diese zu lehren. Auch hier sagt er es ganz ausdrücklich mit Bezug auf die gegen ihn erhobene Anklage, als man behauptete, daß er versucht habe, die Untersuchungen, die er durchgeführt hatte, zu lehren (didaskein). 40 Worauf er auch hier auf zweierlei Weisen antwortet. Auf die Sache bezogen und unmittelbar, indem er recht energisch verkündet, daß er sich nicht wie jene Sophisten, nämlich Gorgias, Prodikos oder Hippias, verhält, die ihr Wissen gegen Geld verkaufen und gewöhnliche Lehrer sind. 41 Aber dann antwortet er auch durch die ganze Apologie hindurch, indem er seine beständige Unwissenheit hervorkehrt und zeigt, daß er nicht wie ein Lehrer ruhig und ohne Risiko denen, die wissen, sein eigenes Wissen beibringt bzw. das, was er zu wissen vorgibt oder zu wissen glaubt. Im Gegensatz dazu zeigt er den anderen mutig, daß sie nicht wissen und daß sie sich um sich selbst kümmern müssen. 123
Insgesamt begründet Sokrates also gegenüber den rätselhaften Worten des Gottes eine Untersuchung, eine Befragung, die nicht zum Ziel hat, die Verwirklichung dieser Worte abzuwarten oder sie zu verhindern. Er verschiebt die Wirkungen, indem er sie in einer Untersuchung der Wahrheit verankert. Zweitens macht er im Vergleich zu den Worten, der Veridiktion, dem Wahrsprechen des Weisen den Unterschied durch eine radikale Unterscheidung des Gegenstands fest. Er spricht nicht von derselben Sache, und ihre Untersuchung bezieht sich nicht auf denselben Gegenstandsbereich. Schließlich begründet Sokrates gegenüber der Rede des Unterrichts einen Unterschied durch eine Umkehrung, wenn Sie so wollen. Dort, wo der Lehrer sagt: Ich weiß, und: Hört mir zu, sagt Sokrates: Ich weiß nichts, und wenn ich mich um euch kümmere, dann nicht, um euch das Wissen beizubringen, das euch fehlt, sondern damit ihr lernt, euch um euch selbst zu kümmern, da mir klar ist, daß ihr nichts wißt. Sie sehen also, daß Sokrates in diesem Text der Apologie im Grunde zwei Dinge tut, die ich folgendermaßen zusammenfassen werde: Erstens, sein eigenes Wahrsprechen von den anderen drei großen [Modalitäten] des Wahrsprechens, denen er um sich herum begegnet (Prophezeiung, Weisheit, Lehre) radikal zu unterscheiden; zweitens, wie ich Ihnen erklärt habe, zu zeigen, inwiefern für diese Form der Veridiktion, die parrhesia, Mut notwendig ist. Aber dieser Mut soll nicht auf einer politischen Bühne zum Einsatz kommen, auf der sein Auftrag in der Tat nicht erfüllt werden könnte. Diesen Mut zur Wahrheit muß er in Form einer nicht-politischen parrhesia ausüben, einer parrhesia, die sich durch die Prüfung der Seele vollzieht. Dies wird nun eine ethische parrhesia sein. Als Schlußfolgerung möchte ich folgendes sagen. Man sieht hier, wie sich eine andere parrhesia abzeichnet, die man nicht der Gefahr der Politik aussetzen darf, zum einen, weil sie eine ganze andere Form aufweist, weil sie mit der Rednerbühne und den Formen der Rhetorik, die dem politischen Diskurs eigentümlich sind, unverträglich ist, und weil sie andererseits Gefahr 124
~icfe, zum Schweigen gezwungen zu sein, gleichgültig, ob sie ;·ersuchen würde, sich in einer Demokratie oder in einer Oligzchie zu manifestieren. [Dennoch] ist diese parrhesia, die man -.-or dem politischen Risiko bewahren muß, für den Staat nicht ;;;eniger nützlich. Das wiederholt Sokrates unablässig durch die gesamte Apologie hindurch: Wenn ich euch dazu anstache:e, euch um euch selbst zu kümmern, dann bin ich für den ganzen Staat von Nutzen. Und wenn ich mein Leben schütze, dann gerade im Interesse des Staates. Im Interesse des Staates ~regt es, den wahren Diskurs, die mutige Veridiktion zu schützen, die die Bürger anhält, sich um sich selbst zu kümmern. S;;hließlich wird sich die Philosophie- als mutige Veridiktion, 2-ls nicht-politische parrhesia, die jedoch in einer wesentlichen Beziehung zum Nutzen für den Staat steht - entlang der gesamten Kette dessen entfalten, was man die große Kette der Sorge und der Fürsorge nennen könnte. Weil der Gott sich um die Menschen sorgte, hat er Sokrates als den weisesten MensÜ Kriton, das Leben ist =ine Krankeit! >Kriton, ich bin dem Äskulap einen Hahn schuldig« zuweisen sollte, durch »Ü Kriton, das Leben ist eine Krankheit« auszudrücken sei, so hat er doch innerhalb derselben Passage diese traditionelle Interpretation reformuliert: >>Ich bewundere die Tapferkeit und Weisheit des Sokrates in allem, was er tat, sagte- und nicht sagte. Dieser spöttische und verliebte Unhold und Rattenfänger Athens, der die übermütigsten Jünglinge zittern und schluchzen machte, war nicht nur der weiseste Schwätzer, den es gegeben hat: er war ebenso groß im Schweigen. Ich wollte, er wäre auch im letzten Augenblicke des Lebens schweigsam gewesen- vielleicht gehörte er dann in eine noch höhere Ordnung der Geister. War es nun der Tod oder das Gift oder die Frömmigkeit oder die Bosheit- irgend etwas löste ihm in jenem Augenblicke die Zunge, und er sagte: >0 Kriton, ich bin 134
dem Asklepios einen Hahn schuldig.< Dieses lächerliche und furchtbare >letzte Wort< heißt für den, der Ohren hat: >Ü Kri:on, das Leben ist eine Krankheit!< Ist es möglich! Ein Mann ;-,·ie er, der heiter und vor aller Augen wie ein Soldat gelebt hat - war Pessimist! Er hatte eben nur eine gute Miene zum Leben gemacht und zeitlebens sein letztes Urteil, sein innerstes Gefühl versteckt! Sokrates, Sokrates hat am Leben gelitten! ü nd er hat noch seine Rache dafür genommen- mit jenem verhüllten, schauerlichen, frommen und blasphemischen Worte! :\iußte ein Sokrates sich auch noch rächen? War ein Gran Großmut zu wenig in seiner überreichen Tugend? - Ach Freunde! Wir müssen auch die Griechen überwinden!« 10 '~ :\"ietzsche hat also völlig klar gesehen, daß zwischen diesen \\"orten, die Sokrates im Ietzen Augenblick seines Lebens aussprach, und dem ganzen Rest dessen, was er gesagt und getan hatte und was er während seines ganzen Lebens gewesen war, daß zwischen diesen Worten und seinem Leben ein Widerspruch bestand. Und er löst diesen Widerspruch auf, indem er sagt, daß Sokrates schwach wurde und nun dieses Geheimnis =mhüllt hat, dieses dunkle Geheimnis, das er nie ausgespro:hen hatte, wodurch er im letzten Augenblick alles, was er gesagt und getan hatte, entkräftet. Dasselbe Gefühl des Unbehagens führt Dumezil zu völlig anderen Schlußfolgerungen über den Sinn, den man diesem Text z'.lweisen sollte. Jedenfalls kann man die Behauptung, daß die Interpretation »Das Leben ist eine Krankheit« nicht funktio:1ieren kann, daß man sie nicht einfach akzeptieren und geradewegs und im seihen Atemzug alles, was Sokrates zuvor gesagt ::ar und was er jetzt sagt, sehen und denken kann, durch eine Reihe von Texten begründen - darunter natürlich viele Texte im ganzen Werk Platons, aber auch manche Texte, die sich ganz in der Nähe von diesem hier befinden und im Phaidon selbst srehen. Daß das Leben keine Krankheit ist, daß das Leben an sich kein ' Die Lesung des Zitatendes ruft einen Schwall von Gelächter in der Zu:törerschaft hervor.
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Übel ist, wird deutlich ausgesprochen, und zwar, wie gesagt, nicht nur im Rest des platonischen Werkes, sondern eben gerade im Phaidon, ganz in der Nähe unserer Stelle. Ein Beispiel dafür haben wir im Abschnitt 62b: Das ist der berühmte Textder übrigens Gegenstand vieler Diskussionen war, vielleicht werden wir bei Gelegenheit darauf zurückkommen -, in dem Sokrates ein pythagoreisches Apophtegma zitiert, demzufolge »wir uns in derphroura befinden« 11 -was manchmal mit »Gefängnis« übersetzt wird, manche durch »Gehege« oder »Verwahranstalt>Kriton, wir sind dem Asklepios einen Hahn schuldig.«). Dumezil bemerkt, daß sich die Aufforderung zwar an Kriton richtet, daß aber unmittelbar danach die Schuld nicht als die des Kriton bezeichnet wird, sondern als eine Schuld, die wir zu entrichten hätten - zumindest Kriton 140
:.1::1d Sokrates und vielleicht sogar Kriton, Sokrates und die anderen, jedenfalls bestimmt und wenigstens Sokrates und Kri:on..23 Worauf könnte sich nun aber diese Schuld, die sie beide eingegangen wären und deren Kriton sich völlig bewußt wäre, beziehen, da er ja der Aufgeforderte ist? Die Lösung dieses P:-oblems ist von dem einzigen Dialog zu erwarten, in dem 1\..riton und Platon in einer vertraulichen Unterredung erscheicen. Aus dem genannten Grund wendet sich Dumezil also diesem Dialog zu, aber was wird er in ihm suchen? Sie wissen, daß Kri:on in diesem Dialog Sokrates den Vorschlag macht, ihn ent:wmmen zu lassen. Ein ganzes Komplott von Freunden wurde ::iazu auf die Beine gestellt, und es würde genügen, daß Sokrates :!.essen Grundidee annimmt, damit es sogleich verwirklicht "''erden kann. Kriton macht nun eine Reihe von Punkten gel:end, um seinen Vorschlag zu unterstützen und um Sokrates Arpmente für seine Annahme zu liefern. Er sagt Sokrates, daß er 5ich erstens selbst verraten würde, wenn er nicht fliehen würde;24 zweitens würde er seine eigenen Kinder verraten, wenn er Jen Tod annähme und sie einem Leben aussetzte, in dem er c:ichts für sie tun könnte; 25 schließlich wäre es eine Schande für Sokrates' Freunde gegenüber den anderen Bürgern und der öfiendichen Meinung, wenn man ihnen den Vorwurf machen ~önnte, nicht alles getan zu haben, nicht alles versucht zu haoen, nicht alle Möglichkeiten genutzt zu haben, um Sokrates zu retten. 26 So würden Sokrates und seine Freunde gewisser:7laßen vor und durch die öffentliche Meinung entehrt. J'.uf genau diesen Punkt wird Sokrates antworten. Auf dieses ?:-oblem der vorherrschenden Meinung, der landläufigen Mei::ung, der unentwickelten Meinung wird Sokrates seine Anto;·orr an Kriton aufbauen, indem er die Frage stellt: Muß man 1.uf das Urteil von jedermann Rücksicht nehmen? Muß man Rücksicht nehmen auf die Meinung, die die Menschen teilen? Oder gibt es Menschen, auf deren Meinung man Rücksicht ::ehmen muß, und andere, auf deren Meinung man keine Rücksicht zu nehmen braucht? Um auf diese Frage zu antwor141
ten, bemüht Sokrates ein Beispiel, das die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen den Meinungen der Menschen beweisen solL Dieses Beispiel bezieht sich gemäß eines in den platonischen Dialogen äußerst verbreiteten Verfahrens auf den Körper, auf die Pflege, die man dem Körper zuteil werden lassen soll, und auf die Gymnastik. Er sagt zu Kriton: Aber du verstehst doch wohl, daß man nicht einfach so blind der Meinung der Leute folgen darf? Du sagst mir, daß die Meinung der Leute mich und euch verurteilen wird, wenn ich nicht fliehe. Aber wenn es um die Gymnastik geht, wenn es um die Pflege geht, die man dem Körper zuteil werden lassen soll, folgt man dann der Meinung von jedermann oder der Meinung derer, die sich damit auskennen? Wenn man der Meinung von allen und jedem folgt, was geschieht dann? Man befolgt eine schlechte Diät, und der Körper wird das Opfer von tausend Übeln. Er verdirbt, wird ruiniert, zerstört (Sokrates verwendet das Wort diephtarmenon: zerstört, dem Verfall ausgesetzt, beschädigt)P Wenn es stimmt, so Sokrates, daß man im Hinblick auf den Körper die Meinung der Wissenden befolgen soll, der Gymnastiklehrer, die fähig sind, einem einen guten Diätplan zu geben, ohne den man tausend Tode leidet, meinst du dann nicht, daß man nicht nur im Hinblick auf den Körper, auf das, was ihm nützlich oder schädlich ist, sondern auch im Hinblick auf das Gute und das Böse, auf das Gerechte und das Ungerechte dasselbe tun soll? Wenn man den Meinungen derer folgt, die den Unterschied zwischen dem Gerechten und dem Ungerechten, dem Guten und dem Bösen nicht kennen, würde dann nicht »das [...],was es auch sei von dem unsrigen, worauf Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit sich beziehen« 28 Gefahr laufen, beschädigt, verdorben, zerstört (diephtarmenon) zu werden? »Das, was es auch sei von dem unsrigen, worauf Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit sich beziehen«, ist selbstverständlich die Seele. Es ist interessant zu sehen, daß sie hier nicht benannt wird. Ihr Platz wird gewissermaßen leer gelassen. Der Beweis, daß die Seele als unsterbliche Substanz existiert, wird im Phaidon entwickelt werden. Vorerst existiert sie und ist ein Teil von
~:1s selbst. Lange bevor die Seele metaphysisch begründet -;;:ird, wird hier die Beziehung zu sich selbst in Frage gestellt. -~ :::1er Teil von uns selbst, der sich auf die Gerechtigkeit und die -_-ngerechtigkeit bezieht, läuft Gefahr, diephtarmenon (zer':ört, verdorben: gerrau dasselbe Wort wie für den Körper) 29 zu 7-:erden, wenn man der Meinung von allen und jedem folgt und "'enn man sich statt dessen nicht an die Meinung der Wisseni::n hält. 0ie Schlußfolgerung aus all diesen Dingen ist also: Man soll ~::h um die Meinung der Menge >>nicht sorgen« (Sokrates ver-c:c:ndet das Verb phrontizen), 30 sondern allein um das, was ;:7.-ischen dem Gerechten und dem Ungerechten zu entscheii;:n gestattet. Und hier nennt er die Wahrheit. Die Wahrheit, so Sduates, entscheidet darüber, was gerecht und was ungerecht :;;:. ::'vian soll also nicht der Meinung der Menge folgen, soniern, wenn man sich um sich selbst kümmern will, wenn man ;::h um >>das, was es auch sei von dem unsrigen>epimeleisthai« genannt wird. Die Heilung, von der Sokrates hier spricht, gehört zu alljenen Tätigkeiten, durch die man sich um jemanden kümmert, ihn pflegt, wenn er krank ist, über seinen Diätplan wacht, damit er wieder gesund wird, ihm Nahrungsmittel vorschreibt, die er einnehmen soll, oder Übungen, die er ausführen soll, durch die man ihn auch darauf hinweist, welche Handlungen er unternehmen und welche er unterlassen soll, durch die man ihm hilft, die wahren Meinungen zu entdecken, die er befolgen soll, und die falschen Meinungen [vor denen er I50
sich hüten soll], also [das], wodurch man ihn mit wahren Dis:O:ursen speist. All das gehört zum epimelesthai. Wir können :uch sagen, daß diese umfangreiche, vielgestaltige Tätigkeit der ::pimeleia (der Sorge für sich und die anderen, der Sorge für die Seelen) in einer Reihe von Fällen die dringlichste, intensivste ·.:nd notwendigste Form annehmen kann. Dabei handelt es sich :.::n diejenigen Fälle, in denen gerade eine falsche Meinung das Risiko birgt, eine Seele zu schädigen und krank zu machen. ~dan sollte sich daran erinnern, daß der ganze Todeszyklus des Sokrates, den ich in der letzten Stunde darzustellen versucht habe, dieser große Zyklus, der mit der Apologie beginnt, sich ::n Kriton fortsetzt und mit dem Phaidon endet, gerade von diesem Thema der epimeleia durchsetzt ist. Irr der Apologie des Sokrates habe ich Ihnen vorhin zu zeigen ':ersucht, wie Sokrates seine parrhesia, sein mutiges Wahrsprechen als ein Wahrsprechen bestimmte, dessen endgültiges Ziel :md dessen ständige Beschäftigung darin bestand, die Mens.:hen zu lehren, sich um sich selbst zu kümmern. Sokrates kümmert sich zwar um die Menschen, aber nicht im Rahmen :ier Politik: Er will sich um sie kümmern, damit sie lernen, sich :.::n sich selbst zu kümmern. Der ganzen Apologie liegt also die5es Thema der epimeleia und der Sorge zugrunde. Im Kriton stellt man ebenfalls fest, daß dieses Thema der Sorge, ier epimeleia gegenwärtig ist. Es kommt in einem kleinen De:ail vor, das deshalb von B,edeutung ist, weil wir ihm wiederbegegnen werden. Es bezieht sich auf Sokrates' Kinder. Als Kri:on zu ihm sagt: Aber schließlich wirst du dich nicht um deine ~inder kümmern können. Wie willst du dich um sie kümmern, 7:enn du stirbst ?38 Das ist ein Problem der epimeleia, auf das Sükrates etwas später, nämlich im Phaidon, antworten wird. Abgesehen von diesem kleinen Detail ist die epimeleia, die Sorge, die Besorgnis ganz allgemein das zentrale Thema des Kri::on. Man [begegnet] ihm ganz einfach in der Prosopopoiie der Gesetze wieder. 39 Diese Gesetze, die Sokrates ins Spiel bringt, ~als er fragt]: Wenn ich fliehen würde, glaubst du nicht, daß die Gesetze sich vor mir erheben würden?, sagen ihm: Aber wer rp
hat sich um deine Geburt gekümmert? Bist du nicht damit zufrieden, wie die Ehen in deinem Staat geschlossen werden? Wer hat sich um dich gekümmert, als du ein Kind warst, und wer hat dich großgezogen? Wer kümmert sich um das, was im Staat vor sich geht [.. .':-]? Die Gesetze sind gerade die Boten der epimeleia. Genauso wie es im Phaidon heißen wird, daß man der Welt nicht entfliehen soll, weil wir von den Göttern behütet werden (epimelesthai: die Götter kümmern sich um uns), 40 ist im Kriton der Grund, warum man nicht aus dem Gefängnis fliehen soll (d. h., die Stadt verlassen und ins Exil gehen), daß die Gesetze des Staats wie die Götter über die ganze Welt wachen, sich um die Bürger kümmern und wachsam sind. Sie sind fürsorglich. Man findet hier dasselbe Thema der epimeleia wieder. Was sagt Sokrates seinen Schülern schließlich und vor allem im Phaidon, als der Augenblick des Todes näherrückt, mit seinen vorletzten Worten? Hier ist der Text absolut eindeutig. Im Abschnitt I I 5b (ob Sokrates den Schierling noch trinken wird oder ihn schon getrunken hat, weiß ich nicht mehr, jedenfalls ist der Tod in diesem Augenblick schon nahe, 41 fragt Kriton, der doch der beste von Sokrates' Schülern ist: Welche Weisungen gibst du uns für deine Kinder (da kommen sie schon) oder für alle anderen Dinge? Was verlangst du von uns zu tun, daß es dir genehm sei ? Kriton, derselbe, den man am Ende darum bittet, etwas Bestimmtes zu tun (einen Hahn zu opfern) [fragt]: Was sollen wir für deine Kinder tun? Er dachte an den Letzten Willen, an das Testament. Und Sokrates antwortet: »Was ich immer sage[...], nichts Besonderes weiter.« 42 Was sagt Sokrates immer, das nichts Besonderes ist und seinen Letzten Willen darstellt, den er seinen Kindern, seiner Umgebung, seinen Freunden übermitteln will? »Tragt Sorge für euch selbst (hy-
mon auton epimeloumenoi).« 43 Das ist Sokrates' Vermächtnis, sein Letzter Wille. Übrigens erinnert dieser Letzte Wille des Sokrates, der im Phaidon so klar * Ende des Satzes unverständlich.
:ormuliert wird, an das, was die Apologie in einem spiegelbildlichen Moment sagt. In der Apologie gibt es drei Momente bzw. drei Reden: die erste Rede, in der Sokrates sich verteidigt; die zweite Rede, in der er vorschlägt, was seine Strafe sein soll; und die dritte Rede, in der er die Tatsache zur Kenntnis nimmt und akzeptiert, daß er zum Tode verurteilt wurde. In diesem letzten Teil der Apologie, wo er sein Todesurteil zur Kenntnis nimmt :md akzeptiert, [in seiner] letzten Rede, als er schon todgeweiht ist, sagt Sokrates im Abschnitt 41e folgendes: »An meinen Söhnen, wenn sie erwachsen sind [eine weitere Erwähnung der Kinder; die Kinder werden insgesamt dreimal erwähnt: in der Apologie nach der Verurteilung; im Kriton in Form eines Einwands von Kriton; und schließlich im Phaidon in der Passage, die ich Ihnen gerade vorgelesen habe; M. F.], nehmt eure Rache ihr Männer, und quält sie ebenso, wie ich euch gequält habe, wenn euch dünkt, daß sie sich um Reichtum oder um sonst irgend etwas eher bemühen (epimelesthai) als um die Tugend.«44 Epimelesthai aretes: Sie sollen sich um ihre Tugend kümmern. Das sind Sokrates' letzte Worte in der Apologie, der Rede, mit der er sich an seine Richter wendet. Das sind die letz:en Worte, die Sokrates zu seinen Freunden spricht, als sie ihn fragen: Was sollen wir tun? Sein Letzter Wille, der vor den Bürgern und im Kreis seiner Freunde ausgesprochen wird. ::.Joch eine Kleinigkeit zu diesem Problem der Sorge um sich selbst: In den letzten Zeilen des Phaidon gibt es eine Stelle, wo Sokrates' Schüler ebenfalls fragen: Was sollen wir für deine Beerdigung tun? Er antwortet, indem er selbst ein Bad nimmt, damit nach seinem Tod die Frauen seinen Körper nicht zu waschen brauchen. Er trägt Sorge für sich selbst und sogar für seinen Körper. 45 Jedenfalls, wenn man ihn fragt: Was sollen wir für deine Kinder mn und welche Empfehlungen gibst du deinen Freunden?, lauten Sokrates' letzte Worte und sein Letzter Wille: Was ich immer gesagt habe, »Kümmert euch um euch selbst«, das ist mein Letzter Wille. Es gibt aber noch einen kleinen Zusatz. Dieser kleine Zusatz besteht gerade in der Erwähnung dessen, 153
was man dem Asklepios schuldig ist, die Erwähnung jenes Opfers, das man entrichten soll, das Versprechen gegenüber Äskulap. Als Dank wofür? Nun, als Dank für die Hilfe, die der Gott als Gott der Heilung allen zuteil werden ließ, d. h. Sokrates und seinen Schülern, die sich darum bemüht haben, sich um sich selbst zu kümmern (epimelesthai), für sich selbst zu sorgen, für sich selbst Sorge zu tragen, zu »therapeuein« (im Sinne von sich kümmern und heilen), wie Sokrates oft sagt. Und die letzten Worte (nach: »Gebt dem Asklepios einen Hahn«), die allerletzten Worte, nach denen Sokrates nie wieder sprechen wird, habe ich schon mehrmals zitiert, nämlich: me amelesete (vernachlässigt nicht, keine Vernachlässigung). Ich habe mich lange bei der Tatsache aufgehalten, daß dieses Nicht-Vernachlässigen, das Sokrates seinen Schülern anempfiehlt, sich auf das Opfer eines Hahns bezog. Es bezieht sich tatsächlich ausdrücklich und direkt auf das Opfer eines Hahns, also auf eine bestimmte Krankheit. Aber diese Krankheit ist eine solche, von der man geheilt werden kann, wenn man sich um sich selbst kümmert und gegenüber der man jene Fürsorge für sich selbst walten lassen kann, die einen die eigene Seele erkennen läßt und wie diese mit der Wahrheit verbunden ist. Etymologisch gesehen, gehört das Wort >>amelesete« zu jener Familie, der wir schon so oft begegnet sind, zu einer Familie von Wörtern, die die verschiedenen Weisen des sich Sorgens, des Sorgetragens, der Fürsorge bezeichnen. An dem Äskulap darzubringenden Opfer erkennt man deutlich, daß die letzten Worte (»vernachlässigt nicht>Weshalb wir aber das beschlossen haben [uns an euch zu wenden, um euch über die Erziehung unserer Kinder um Rat zu fragen; M. F.], lieber Nikias und Laches, das sollt ihr vernehmen, wenn ich auch ein wenig umständlich sein muß[ .. .]. Nun, wie ich gleich anfangs sagte, wir •:- Im Manuskript schreibt Foucault, daß er in der antiken Moral einerseits eine Spannung sieht »zwischen der Sorge um die anderen im Rahmen der Politik, die die ethische Sorge um sich und die anderen so schwierig zu machen scheint, und andererseits der ethischen Sorge um sich und die anderen, von der man so häufig verlangt, daß sie zur politischen Sorge wie zu ihrem Seinsgrund und zu ihrer Erfüllung oder wie zu einer ihrer wesentlichen Pflichten führe«, und andererseits eine Beziehung des gegenseitigen Ausschlusses zwischen >>tun, was einem gefällt>sich um sich selbst kümmern••Mein Verhalten«, so Laches, »Nikias, zu solchen Reden ist einfach, oder, wenn du willst, nicht einfach, sondern zweifach. Denn gar wohl könnte mich einer bald für einen Redenfreund, bald wieder für einen Redenfeind halten. Denn wenn ich einen Mann über die Tugend oder irgendeine Weisheit sprechen höre, der in Wahrheit ein Mann und dessen wert ist, was er spricht, dann freue ich mich über die Maßen, wenn ich den Redenden und seine Reden zusammen betrachte, daß beide so zusammenpassen und stimmen. Und ein solcher scheint mir erst recht ein Liebling der Musen zu sein, der nicht die Lyra oder sonst Werkzeuge heiteren Spiels zur schönsten Tonart gestimmt hat, sondern in Wahrheit das Leben, indem er selbst in seinem Wandel die Reden zusammenlautend mit den Werken gestimmt hat, recht eigentlich in dorischer Tonart, nicht in ionischer, ich denke auch nicht in phrygischer oder lydischer, sondern in jener, welche allein der echte hellenische Wohllaut :st. Ein solcher nun macht, daß ich mich freue, wenn er sich ;·ernehmen läßt, und daß ich jedem ein Redenfreund zu sein scheine. So begierig nehme ich das von ihm Gesprochene an! Wer aber das Gegenteil hiervon tut, der verdrießt mich, und nur um so mehr, je besser er zu sprechen scheint, und er macht, daß ich umgekehrt als ein Redenfeind erscheine. Von des Sokrates Reden indessen habe ich keine Kenntnis; sondern zu,:örderst mußte ich, wie es scheint, seine Taten erproben, und da habe ich ihn als einen Mann erfunden, welchem edle Reden :md jeglicher Freimut (pases parrhesias) wohl anstehen sollten. Besitzt er nun auch dieses, so gehe ich gern Hand in Hand mit dem Manne und es soll mir Vergnügen machen, von einem sol195
chen geprüft zu werden (exetazesthai), nicht aber Verdruß, von ihm zu lernen. Vielmehr auch ich stimme dem Solon bei, indem ich nur eines noch beifüge, nämlich alternd wünsche ich vieles gelehrt zu werden, nur aber von wackern Männern 15 [hier wieder der Hinweis auf Solon, den Nikias schon zuvor gegeben hatte; M. F.]. Denn darin muß er mir beistimmen, daß auch der Lehrer ein guter sein muß, damit ich nicht, wenn ich mit Unlust lerne, ungelehrig erscheine. Ob aber der Lernende jünger sei oder noch keinen Namen habe, oder ihm sonst etwas der Art anhafte, darum kümmere ich mich nicht. Dich also, Sokrates, fordere ich auf, mich zu lehren und zurechtzuweisen (elenchein), wie du willst, und auch zu erlernen, was ich meinerseits weiß. So bist du bei mir angeschrieben seit jenem Tage, an welchem du die Gefahr mit mir geteilt und eine Probe deiner Tüchtigkeit gegeben hast, wie sie der geben muß, der sie in rechter Weise geben will. Rede also, was dir lieb ist (leg' oun ho ti soi philon), ohne irgend dabei unser Alter in Rechnung zu nehmen!« 16 Diese Antwort ist mit einer gewissen Sorgfalt zu lesen. Wir haben die Neigung, diese Passage etwas voreilig zu interpretieren, indem wir Laches den folgenden Sinn zuschreiben: Laches habe gesagt: Ich akzeptiere es, daß Sokrates mich befragt, Sokrates ist befugt, mir die Fragen zu stellen, die er will, und zwar insbesondere mit Bezug auf die Tapferkeit. Warum? Weil ich feststellen konnte, daß Sokrates in der Schlacht von Delion selbst tapfer war. Auf diese berühmte Schlacht hatte er schon weiter oben angespielt, als er sagte: >>So bist du bei mir angeschrieben seit jenem Tage, an welchem du die Gefahr mit mir geteilt [.. .].« 17 In dieser Schlacht wurden die Athener besiegt, und Sokrates bewies darin eine besonders tapfere Haltung. Gewöhnlich interpretiert man diese Stelle folgendermaßen: Laches akzeptiert dieses Gespräch über die Tapferkeit, weil er weiß, daß Sokrates in jener Schlacht von Delion tapfer war. Wenn man den Text aber [so] deutet, dann beachtet man seine Bewegung nicht. Erstens geht es in diesem Stadium des Gesprächs noch nicht um die Tapferkeit. Wir sind immer noch bei
der ersten Frage, nämlich: Lysimachos und Melesias haben Kinder und fragen sich, ob man sie den Umgang mit Waffen lehren und sie Stesilaos anvertrauen soll. Wer könnte ihnen wohl dabei helfen? Wir sind immer noch bei dieser Frage, nämlich der Frage nach der Pflege, die man den Kindern zuteil werden lassen soll. Wir sind nicht bei der Frage nach der Natur der Tapferkeit. Diese wird erst später eingeführt. Wenn man sich den Text ansieht, fällt einem zweitens auf, daß es nicht nur noch nicht um die Frage nach der Tapferkeit im allgemeinen geht, sondern daß sich Laches noch nicht einmal genau auf Sokrates' Tapferkeit bezieht. Er bezieht sich zwar auf die Ereignisse der Schlacht bei Delion, aber er verwendet nicht das Wort, das Tapferkeit im strengen Sinne bedeutet (andreia) und erst später bei r 9od auftaucht. 18 Er spricht viel allgemeiner von der Tugend, vom Wert, von der arete des Sokrates. Die Tapferkeit ist natürlich ein Teil der Tugend, aber Laches bezieht sich eben auf diese Tugend, diesen Wert im allgemeinen. Was sagt er nun aber wirklich? Ich glaube nicht, daß er sagt: Ich akzeptiere, daß Sokrates mir Fragen über die Tapferkeit stellt, weil er selbst tapfer war. Ganz [am] Anfang des Textes, J.ls er auf eine Frage antwortet (bin ich nun ein Freund oder ein Feind der Reden?), sagt er: Ich bin sowohl ihr Freund als auch ihr Feind, ich kenne mich mit den Reden eigentlich nicht gut ms. Im Grunde versuche ich nicht, die Reden in gute und schlechte aufzuteilen. Um jene, die ich annehmen werde, von denen zu unterscheiden, die ich ablehne, halte ich mich nicht so sehr an den Inhalt der Reden, sondern vor allem daran, ob ein Einklang besteht zwischen dem, was der Redner sagt (der Rede selbst), und was er ist. Wenn das Leben (der bios) des Redners stimmt, wenn es einen Einklang zwischen der Rede und dem S.ein von jemandem gibt, dann nehme ich die Rede an. Wenn die Beziehung zwischen der Lebensweise und der Weise zu reden harmonisch ist, akzeptiere ich die Rede und bin philologos Freund der Reden). Genau das geschieht nun im Hinblick auf Sokrates. Laches sagt nicht: Sokrates mag von der Tapferkeit sprechen, weil er selbst tapfer ist. Viel allgemeiner wird er viel197
mehr alles, was Sokrates freimütig sagen wird, akzeptieren. Er akzeptiert sogar, von diesem noch relativ jungen Mann, nämlich Sokrates, getestet und geprüft zu werden, er, der ein alter heimgekehrter General ist. Warum akzeptiert er das alles ? Eben weil es diesen Einklang, diese Harmonie zwischen dem gibt, was Sokrates sagt, zwischen der Art und Weise, wie er die Dinge sagt, und seiner Lebensweise. Die sokratische parrhesia als Freiheit, zu sagen, was er will, wird gekennzeichnet und beglaubigt durch den Ton von Sokrates' Leben. Die Bewegung ist also nicht: Von der Tapferkeit des Sokrates (in der Schlacht von Delion) zu seiner Qualifikation, seiner Sachkundigkeit in Sachen Tapferkeit. Die Bewegung ist vielmehr: von der Harmonie zwischen Leben und Reden des Sokrates zur Praxis eines wahren, freien und freimütigen Diskurses. Das freimütige Sprechen schließt an den Lebensstil an. Nicht die Tapferkeit in der Schlacht beglaubigt die Möglichkeit, über die Tapferkeit zu sprechen. Wir haben hier eine recht bedeutende und bezeichnende Stelle in bezugauf zwei Dinge, die mich gerade dieses Jahr interessieren. Erstens, die Verknüpfung zwischen der epimeleia (der Sorge) und einer bestimmten Modalität der sokratischen Rede. Die sokratische Rede ist genau das, was in der Lage ist, die Sorge, die die Menschen sich selbst gegenüber tragen, zu übernehmen, insofern die sokratische parrhesia eben eine Rede ist, die an das Prinzip »Kümmert euch um euch selbstiele betrachten. Es gibt eine Persönlichkeit, die sowohl in der Geschichte des ~ynismus, in den Beziehungen zwischen dem kynischen Denii:cn und Leben und dem stoischen Denken- vor allem für Se::::ca- sehr wichtig war, nämlich der berühmte Demetrius. Se~:;;ca zitiert ihn oft, und zwar immer mit größtem Lob, wenn er :i:n »unseren Demetrius« nennt 9 und sagt, daß er wohl eine der :>.:merkenswertesten Gestalten der Philosophie seiner Zeit ist, -:r,·c;nn nicht gar der Philosophie aller Zeiten. So, wie er in den -:-::xten Senecas erscheint, führte dieser Demetrius offenbar ein ;;;wiß einfaches, armes Leben, da Seneca in einem seiner Briefe 62,3) von ihm sagt, daß er den Umgang mit Demetrius gegeniber den mit Purpur gekleideten Leuten vorzieht. Den mit ?urpur gekleideten Leuten stellt er Demetrius als »seminudus« halbnackt) entgegen. 10 Von demselben Demetrius erzählt Se::eca in De beneficiis (VII. Buch), daß er entschieden und heftig "ine große Geldsumme abgelehnt hatte, die der Kaiser, in diesem Fall war es Caligula, ihm angeboten hatte. Demetrius soll iiese Ablehnung mit einem Kommentar begleitet haben. Er soll gesagt haben, was vollkommen kynisch klingt: Wenn er ::r.ich in Versuchung führen wollte, dann hätte er das ganze Reich anbieten müssen. 11 Damit wollte er natürlich nicht sa;en, daß er es akzeptiert und der Versuchung nachgegeben hät:e, wenn man ihm das ganze Reich angeboten hätte, sondern iaß die Versuchung eine Probe war, eine Probe des Durchhal255
tevermögens, durch die man sich selbst festigt und gegenüber der Welt seine eigene Souveränität behauptet. Wenn eine wirklich ernsthafte Prüfung nötig gewesen wäre, die ihm erlaubt hätte, sich zu vervollkommnen, sich zu festigen, sein Durchhaltevermögen zu steigern, dann hätte man ihm gewiß nicht eine Geldsumme geben müssen, sondern zumindest das ganze Reich. Diesem Angebot hätte er widerstehen sollen und gegenüber diesem Angebot hätte sein Sieg Sinn und Wert gehabt. Mit dieser seminudus Persönlichkeit, die alle Vorschläge, die man ihr machen könnte, ablehnt und seine Ablehnung mit entschiedenen und unverschämten Worten begleitet, die sich auf den Charakter der Prüfung beziehen, der er sein ganzes Leben unterzieht, haben wir eine Persönlichkeit, die tatsächlich vollkommen kynisch ist und zumindest einigen der Grundzüge der kynischen Lebensweise entspricht. Man darf jedoch nicht vergessen, daß Seneca denselben Demetrius auch als kultivierten Mann darstellt, der sicherlich ganz weit von jenen Straßenpredigern entfernt ist, auf die man das Bild des Kynikers häufig reduziert hat. In De beneficiis (VII. Buch) spricht Seneca auch von seiner Sprachgewalt. Er beschreibt die Art und Weise, wie Demetrius spricht, und stellt ihn folgendermaßen dar: Er ist ein Mann von vollendeter Weisheit, der die Sprachgewalt besitzt, die wichtigen Gegenständen angemessen ist, und der ungekünstelt spricht, ohne ausgesuchte Worte zu verwenden. Seine Sprachgewalt verfolgt ihren eigentlichen Gegenstand mit großer Geisteskraft und läßt sich von ihrer Bewegung (ihrem impetus) führenY Eine Bestimmung der nüchternen, wirkungsvollen Sprachgewalt, einer Sprachgewalt, die bis zu einem gewissen Grad zynisch ist, insofern sie auf jegliche Ausschmückung verzichtet. Es ist jedoch klar, daß diese Form der Sprachgewalt, die Seneca hier beschreibt, nichts mit dem Gekeife, der Unverfrorenheit, den Beleidigungen zu tun hat, die die Straßenprediger der Menge entgegenschleuderten. Übrigens hatte das Leben des Demetrius selbst nichts mit diesem Leben eines Volksagitators zu tun. Er ist ein Mann, der der römischen Aristokratie verbunden ist, der Berater einer ganzen
Gruppe von Leuten war, in der wir Thrasea Paetus oder Helvi:iius Priscus finden. Und als Thrasea Paetus zum Tode verur·:dt oder jedenfalls vom Kaiser zum Selbstmord gezwungen '"::rd, wird Demetrius zugleich mit mehreren Mitgliedern der;;elben Gruppe, wie z. B. Helvidius Priscus, verbannt. Er wird ::st dann zurückkehren können, als Vespasian im Jahre 69 die :~iacht übernimmt. Aber auch hier gehört er einer oppositio::cllen Gruppe an, die sich vor allem um diejenigen herum ge::ldet hat, die das Prinzip eines erblichen Kaiserreichs ableh:::·cn. Er gehört erneut der Gruppe von Helvidius Priscus an ·::nd wird ein zweites Mal zusammen mit den anderen Philoso:-·i1cn in den Jahren 71-75 vertriebenY Hier haben wir den ei;tmlichen Typus eines Philosophen, der kein Hofphilosoph, ;.Dndern ein philosophischer Berater, ein Berater der Seele und :"Dlitischer Berater aristokratischer Gruppen ist. Er hat nichts :::! tun mit den Straßenrednern . .\:n anderen Ende läßt sich der Kynismus durch eine Per;.~'inlichkeit wie Peregrinus symbolisieren, über den wir letztes },[al gesprochen haben. Er ist ganz im Gegenteil ein Vagabund, ~:n großtuerischer Vagabund, der zweifellos mit den antirömi;.,.:hen Volksbewegungen von Alexandria verbunden war, sich . n Rom mit seinem Unterricht an die idiotai richtete (an dieje::.:gen, die weder Kultur noch gesellschaftlichen oder politi;chen Status besitzen). Er wird aus Rom vertrieben. Anschlie:;cnd ist er wahrscheinlich Christ geworden, wenn man Lukian ;iauben darf. 14 Dieser Peregrinus sendet sein Vermächtnis, Ratschläge und Gesetze an verschiedene Städte, bevor er unter 3edingungen stirbt, die wir gleich noch betrachten werden. Er ::at die Rolle des Propheten, des Oberhaupts eines Thiasos gespielt oder wollte sie spielen, sagt Lukian in dem sehr kritischen Porträt, das er von ihm zeichnet. 15 Von den Menschen :-.;-urde er wie ein Kirchenfürst, ein Gesetzgeber und sogar wie c:n Gott behandelt. 16 :\ichts veranschaulicht wohl besser den Gegensatz zwischen diesen beiden Persönlichkeiten- Peregrinus, der die Welt des :-,fittelmeers durchstreift und sich mit den verschiedenen reli257
giösen und Volksbewegungen abgibt, und Demetrius, der in der römischen Aristokratie so gut verankert war- als ihr Verhältnis zum Tod und Selbstmord. Wir wissen nicht, wie Demetrius starb, aber wir wissen, weil Tacitus darüber berichtet, 17 daß Demetrius der Berater des Selbstmords von Thrasea Paetus war. Als Thrasea Paetus sich auf Geheiß des Kaisers umbringen sollte, ist Demetrius die einzige Person, die Zugang zu ihm hat. Thrasea Paetus hat sich mit ihm eingeschlossen, und sie haben in ganz sokratischer Weise ein Gespräch über die Unsterblichkeit der Seele geführt. Es war ein typisch griechisch-römischer Selbstmord, der in der großen Tradition der antiken Kultur stand, eindeutig philosophischen Charakter hatte und zugleich völlig mit einer Praxis im Einklang stand, der man zu jener Zeit in Rom und in der römischen Aristokratie begegnete. Demgegenüber haben wir den Selbstmord von Peregrinus. Denn Peregrinus hat sich getötet, aber auf ganz andere Art. Er hat sich getötet, indem er sich bei Olympia lebendig verbrennen ließ, nachdemer-wenn man Lukian Glauben schenkt, der, wie gesagt, ein sehr kritisches Bild entwirft- diesen Selbstmord geplant und die Menschen um sich herum versammelt hat und aus seinem Tod eine Art von großem Volksfest machte. 18 Es gibt also eine ganze Gruppe sehr verschiedener Haltungen, die sich stark voneinander unterscheiden, unter dieselbe Bezeichnung des Kynismus fallen und ein äußerst breites Spektrum abdecken, und zwar sowohl im Hinblick auf gesellschaftliche Regeln als auch im Hinblick auf das politische Leben oder religiöse Traditionen. Der Kynismus stellt im Grunde Schemata von ganz verschiedenen Haltungen bereit, die die Bestimmung der oder einer kynischen Haltung par excellence erschweren. Das ist also die erste Schwierigkeit, die erste Störung, auf die wir stoßen, wenn wir den Kynismus untersuchen wollen. Der zweite Grund, der diese Untersuchung erschwert, besteht in der Doppeldeutigkeit der Haltung, die ihm gegenüber eingenommen wurde- dieser Grund ist, wenn Sie so wollen, in-
:c:ressanter im Hinblick auf einen möglichen Fortschritt in der ::ig:entlichen Untersuchung der Eigenart des Kynismus-, vor :::em in der Zeit seiner stärksten Entwicklung, d. h. vom :. Jahrhundert v. Chr. bis zum 3. Jahrhundert, sagen wir [gar] :is zu Julian. Während dieser langen Zeit von vier Jahrhunder:,.::1 finden wir nämlich zwei Dinge, durch die die Haltung ge;enüber dem Kynismus gekennzeichnet war. Erstens natürlich ;ehr viele und sehr heftige Anschuldigungen. Mit welchem Ei,-er auch immer die antiken Philosophen miteinander gestritten :~1ben mögen, wie groß auch immer die Strenge gewesen sein :-:;ag, mit der man bestimmte philosophische Schulen bekämpft Sar, wie z. B. die Epikuräer, so erreicht doch keines der Phi',)sophenporträts die Heftigkeit jener, die vom Kynismus ;;:zeichnet wurden. Dem Kyniker wird seine Grobheit, seine ::..:·nwissenheit, seine Unbildung vorgeworfen. Beispielsweise ::caben wir folgendes [Porträt, das] Lukian- offensichtlich ein ;roßer Gegner der Philosophie im allgemeinen und des Kynis:-:;us im besonderen- vom Kyniker gezeichnet hat. Es steht in ~:nem Dialog mit dem Titel Die entlaufenen Sklaven, in dem C:::e Philosophie spricht. Dieser Text ist interessant, und wir werden ihm zweimal wiederbegegnen (ich möchte ihn jetzt als eines von zahlreichen ?orträts des Kynismus zitieren, die in der Antike im Umlauf o;;;aren, und wir werden ihm später aus einem ganz bestimmten Grund wiederbegegnen). In diesem Text spricht die Philoso?hie und schreibt gewissermaßen ihre eigene Geschichte und iie der Menschen, die mit ihr Umgang hatten oder die versucht haben, die Prinzipien und Regeln des philosophischen Lebens 1.ufzunehmen. In Absatz 12 der entlaufenen Sklaven sagt sie :=olgendes: »Diejenigen, über die ich mich beklage, sind ein Pack schlechter, pöbelhafter Kerle, die anstatt auf eine liberale Art unter meinen Augen aufgezogen worden zu seyn, entweder gebohrne Sklaven gewesen sind, oder um Taglohn gearbei:et, oder sonst niedrige Handwerke getrieben, geschustert, gezimmert, Kleider gereinigt oder Wolle gestrichen hatten. Von Kindheit an mit dergleichen Dingen beschäftigt, hatten sie 2 59
nicht einmal Gelegenheit gehabt, meinen Nahmen kennen zu lernen. Wie sie aber das männliche Alter erreicht hatten, und gewahr wurden, mit welcher Ehrerbietung meinen Freunden [d. h. den wahren Philosophen; M. F.] von dem großen Haufen begegnet wird, wie gut man ihre Freymüthigkeit im Reden aufnimmt, welchen Werth die Großen selbst auf ihren Umgang und ihre Dienste legen, wie man sich ihres Rates bedient und sogar ihren Tadel schweigend und mit niedergeschlagenen Augen duldet: so stach ihnen das alles gewaltig in die Augen[ ... ]. Sich auf alles das zu legen, was erfordert wird, um eine solche Rolle spielen zu können, war zwar zu weitläufig, oder vielmehr Leuten ihres Gelichters platterdings unmöglich. Bey dem Handwerke, das sie gelernt hatten, war nicht viel zu verdienen; dabei brachten sie mit aller ihrer Mühe und Arbeit kaum das Leben davon. Einige von ihnen drückte sogar die Sklavenkette, und das schien ihnen vollends ganz unerträglich zu seyn. Sie überlegen die Sache hin und her, und da sie keinen andern Ausweg sahen, warfen sie endlich, in der Schiffersprache zu reden, den Nothanker aus, und gründeten den Erfolg ihres Unternehmens - auf ihre Dummheit. Mit dieser und ihren vielvermögenden Gehülfinnen, Verwegenheit, Unwissenheit und U nverschämtheit, rückten sie nun künftig ins Feld, nachdem sie sich mit einem kräftigen Vorrath von neuen Schmährubriken und Grobheiten versehen hatten, die sie immer bey der Hand und auf der Zunge haben [.. .]. Und nun glauben sie, fehle ihnen nichts, als sich im äußerlichen Costum mir und meinen Freunden so ähnlich zu machen, als sie könnten[... ].« 19 Dieser Text ist wegen der ganzen gesellschaftlichen Landschaft interessant- darauf werde ich gleich zurückkommen-, in der der Kynismus erscheint. Man findet hier auch die Vorstellung, daß eine bestimmte Form des Kynismus nur eine Nachahmung, eine Karikatur, eine Grimasse, ein Schwindel im Verhältnis zum echten Kynismus ist. Jedenfalls haben wir hier ein Porträt der Grobheit, der Unwissenheit und der Unbildung jener, die im allgemeinen den Kynismus praktizieren. Bei Kaiser Julian, dem Autor von zwei unmittelbar gegen den 260
?-:ynismus gerichteten Texten, finden wir ein weiteres Porträt ..:es Kynismus, das äußerst aggressiv und negativ ist: die Rede ':;.,;gen den Kyniker Herakleios und die Rede mit dem Titel Ge>Der MännerEinsicht schafft dem Staat das Wohlergehen und auch dem Haus, nicht Zither- oder Flötenspiel.« 35 Für diese Auffassung des kynischen Unterrichts als Bildung und Rüstzeug für das Leben findet man die Theorie oder zumindest die theoretische Entwicklung in einem wichtigen Text Senecas. Am Anfang des VII. Buchs von Über die Wohltaten berichtet Seneca, auf welche Weise Demetrius den Unterricht in den Wissenschaften verstand. Verzeihen Sie, daß ich Ihnen das in einer schlechten Übersetzung vorlese, da die Bibliothek geschlossen war, aber das ist nicht weiter schlimm: »Hervorragend nämlich konnte das der Kyniker Demetrius sagen, ein meiner Meinung nach bedeutender Mann, auch wenn man ihn mit den bedeutendsten vergleicht: es pflegt mehr zu nutzen, wenn du wenige Vorschriften der Weisheit einhältst, sie dir aber gegenwärtig sind und zur Verfügung stehen, als wenn du zwar viel gelernt hast, du es aber nicht zur Hand hast. >Wieein großer Ringer ist nicht, wer alle Gänge und Hai-
:E:;riffe gelernt hat, deren Gebrauch im Wettkampf selten ist, ':::kens. Das philosophische Heldentum, das philosophische _;:ben als heldenhaftes Leben wurde durch diese kynische Tra.:.:::ion verankert und weitergegeben . .:::ur gleichen Zeit, da der Kynismus nun dieses Bild des philo:·?hischen Helden gestaltet hatte, da er dessen Vorzüge gel:::·::d machte, hatte er gerade dadurch einen beträchtlichen Ein>c:3 auf das, was sich [in Form einer] christlichen Askese . :::::=-•ickeln sollte, die in diesem [Vorbild] des Heldentums zu :·:.::em nicht unbeträchtlichen Teil verwurzelt war. Dieses phi: sophische Heldentum stellte so etwas wie eine philosophi•;he Legendensammlung dar, die das philosophische Leben :~bst auf eine bestimmte Weise, die man sich im Abendland ;~sdachte und praktizierte, und zwar bis heute, geformt hat. ,')n hier aus läßt sich die Vorstellung einer Geschichte der Phi·:>sophie begreifen, die etwas anders als diejenige sein könnte, :.::: man heutzutage traditionellerweise lehrt, eine Geschichte :::r Philosophie, die keine Geschichte der philosophischen :..::hren wäre, sondern [der] Lebensformen, -weisen und -stile, ~-·::-,e Geschichte des philosophischen Lebens als philosophi S. 92 f. 23 Demonax, in: Lucians von Samosata sämtliche Werke, 3· Teil, a.a.O., S. 229. 24 Dien Chrysostomos, IV. Rede: Über die Herrschaft, in: Sämtliche Reden, übers. v. W. Eiliger, Zürich und Stuttgart I967, § 2I-23, S. 69f. 25 Lukian, Demonax, a. a. 0., §7, S. 231. 26 Ebd., § 3 (•,diese Gleichgültigkeit gegen alles, was die gewöhnlichen Menschen am höchsten schätzen-ürde, das aber ihr wahres Ziel wäre. Sie verwendet gegenüber .::rrem Partner weder List noch Umwege. Sie verbirgt sich nicht ?vr den Augen der Zeugen und auch nicht vor den Augen ihres ? mners. Die wahre Liebe ist eine Liebe ohne Verheimlichung. Z.o;,·eitens ist die wahre Liebe eine Liebe ohne Beimischung, i.h. ohne Beimischung von Lust und Unlust. Sie ist auch eine _:_:ebe, mit der sich weder sinnliche Lust noch Seelenfreund:.:haft mischen. Sie ist also insofern eine reine Liebe, als sie un:;ennischt ist. Drittens ist die wahre Liebe (alethes eros) eine Liebe, die mit dem Geradlinigen, dem Gerechten überein>:cimmt. Sie ist eine geradlinige Liebe (euthys). An ihr ist nichts, ""a.s der Regel oder dem Brauch widerstreben würde. Und Kinließlieh ist die wahre Liebe eine Liebe, die niemals der VerL-:derung oder dem Werden unterworfen ist. Sie ist eine unver;i.11gliche Liebe, die immer dieselbe bleibt. Wenn Sie die Definition, die Bestimmung, das Porträt der wah:en Liebe in den sokratischen und platonischen Texten be:rachten, begegnen Sie ganz leicht diesen vier Bedeutungen der
aletheia wieder. Ich glaube, daß diese Bestimmung der wahren Liebe einen Fortschritt in der Erforschung des Wesens des wahren Lebens (alethes bios) ermöglicht, das jetzt unser Problem ist. Es ist übrigens nicht ganz ohne Bedeutung, daß die wahre Liebe in der platonischen Philosophie die Form des wahren Lebens schlechthin war - aber sie wird diese Rolle auch, wie Sie wissen, in einem ganzen Bereich der christlichen Spiritualität und Mystik spielen. Die wahre Liebe, das wahre Leben sind zwei Dinge, die seit dem Platonismus traditionellerweise zueinander gehören, und der christliche Platonismus wird dieses Thema in seiner ganzen Breite wieder aufnehmen. Lassen wir dies nun, aber das wäre ein sehr interessantes und sehr weites Forschungsfeld. Kommen wir nun zum alethes bios, den ich zunächst außerhalb seiner Bedeutung für die Kyniker und seiner ganz paradoxen Form, die er im Kynismus angenommen hat, einordnen möchte. [Das wahre Leben also], wie es in den philosophischen Texten der klassischen Epoche erscheint, im wesentlichen bei Platon, für das man aber zumindest Grundzüge, die natürlich weniger interessant und weniger entwickelt sind, bei Xenophon findet. Betrachten wir folgende Bestimmung. Ich werde nicht versuchen, den Begriff des alethes bios in seiner letztendlichen philosophischen Ausarbeitung bei Platon zu betrachten, sondern in seinen offensichtlichen, geläufigen Bedeutungen, die man in den platonischen Texten außerhalb jeglicher besonderen philosophischen Ausarbeitung findet. Der alethes bios ist natürlich erstens ein nicht verheimlichtes Leben, d. h. ein Leben, das sich in keinem seiner Teile mit einem Schatten umgibt. Er ist ein Leben, das sich dem vollen Licht aussetzen und sich, ohne zu zögern, dem Blick aller offenbaren kann. Eine Seins- und Verhaltensweise ist also wahr und bringt das wahre Leben zum Ausdruck, wenn sie nichts von ihren Absichten und ihren Zwecken verbirgt. Einen Hinweis auf diese Vorstellung des wahren Lebens als eines Lebens, das nichts verbirgt, finden wir im Hippias dem Kleineren in den Absätzen 364e-365a, wo es um den berühmten Vergleich,
den berühmten Gegensatz zwischen Odysseus und Achilles geht. Der Text, den Sokrates an dieser Stelle zitiert, ist ein Text .ms dem IX. Gesang der Ilias, wo Achilles, der sich an Odysseus wendet und ihn »erfindungsreicher Odysseus« (polyme);an Odysseu) nennt, zu diesem sagt: »Siehe, ich muß mein \\'ort ganz unumwunden verkünden, wie ich vollstrecken es werde und wie 's zu erfüllen ich denke; denn verhaßt ist mir je::er, der gleich wie des AYdes Pforten, welcher ein anderes birgt :,."TI Gemüt, ein anderes redet.« 4 Sokrates, der diese Ansprache ·.-on Achilles an Odysseus kommentiert, sagt: Odysseus ist der polytropotatos5 Mann, der Mann der tausend Wendungen, d. h. ::er, der seinen Partnern gegenüber verbirgt, was er im Schilde :Uhrt und was er tun will. Im Gegensatz zu Odysseus erscheint Achilles - der gerade dem erfindungsreichen Odysseus gesagt nat: Ich werde dir meine Absichten ohne Umschweife sagen, "'ie ich sie verwirklichen werde, ja nicht nur so, wie ich sie ver;;·irklichen will, sondern wie ich sie tatsächlich verwirklichen werde, wie ich weiß, [daß ich sie verwirklichen werde] - als \[ann der Wahrheit, ohne Umschweife. Zwischen dem, was er ienkt, und dem, was er sagt, zwischen dem, was er sagt, und iem, was er tun will, zwischen dem, was er tun will und dem, was er tatsächlich tut, gibt es keinen Schleier, keinen Umweg, ::ichts, was den Gedanken seiner Wirklichkeit berauben könn:e und zur Wirklichkeit des Handeins werden könnte. Wir ste~:en also im vollen Licht, und im Hinblick auf diesen Achilles ;agt Sokrates: Hier haben wir einen Mann, der haploustatos :md alethestatos (am einfachsten, direktesten und wahrsten; bc2plous ist derjenige, der keine Umwege kennt) 6 ist. Wenn es darum geht, einen Menschen, einen Charakter, eine Lebens..-.·eise, eine Lebensform zu bezeichnen, kommt die Verbindung von haplous und alethes ziemlich häufig vor. Sie finden übri:;ens diese Kopplung von haplous und alethes auch im Staat, im J:. Buch, wo die Existenzweise des Gottes als Wahrheit, wahres ::..eben, wahre Seinsweise charakterisiert wird. Von dieser Exi;:enzweise heißt es im Staat, daß sie einfach und wahr ist (ha:::Ioun kai alethes: ohne Umschweife und wahrhaft): >>Also ist
Gott offensichtlich von einfach-einheitlichem und wahrhaftem Wesen in Wort und Werk, wandelt sich weder selbst noch täuscht er andere, nicht in Erscheinungen, Worten oder Zeichen, die er entsendet, nicht im Wachen noch im Traum.« 7 Sie sehen also, wie diese Einfachheit, die eine Wahrheit der Lebensweise, die das wahre Leben ist, hier beschrieben wird: keine Veränderung und keine Täuschungen, die sich durch die Trennung, die Verschiebung zwischen einem Ereignis und den Worten, den Erscheinungen und den Zeichen ergeben könnten. Die zweite Bedeutung [des Ausdrucks] alethes bios entspricht dem, was ich Ihnen vorhin gesagt habe, [nämlich] daß alethes etwas Unvermischtes bezeichnet. Der alethes bios erscheint bei Platon als das Leben ohne Beimischung, ohne Beimischung des Guten und Schlechten, ohne Beimischung der Lust und des Leidens, ohne Beimischung des Lasters und der Tugend. Ein wahres Leben ist kein buntes Leben. All jene berüchtigte Buntheit (Buntheit des begehrlichen oder jähzornigen Teils der Seele, Buntheit der demokratischen oder tyrannischen Staaten, in denen die Begierden in ihrer Heftigkeit oder ihrer Eigenart ihren Ort haben) ist genau das, was einen daran hindert, das wahre Leben zu führen. Daß der buntgescheckte Mensch, der Mensch, der zum Opfer der Vielfalt seiner Begierden, seines Verlangens, der Bewegungen seiner Seele geworden ist, daß dieser Mensch zur Wahrheit nicht fähig ist, dies wird eben im Staat im VIII. Buch gesagt, wo es um die Beschreibung des demokratischen Menschen geht. Platon beschreibt ihn folgendermaßen: »[...] dann lebt er im Gleichgewicht seiner Freuden, überläßt der Lust, die ihn eben befällt[...], die Macht über ihn, bis sie gesättigt, und dann wieder einer anderen - und keine verschmäht er, denn sie alle verehrt er nach gleichem Teile. [...] So lebt er denn in den Tag hinein und schenkt sich dem Trieb, der ihn befällt, bald trunken, von Flöten bezaubert, bald nüchtern bei Wasser mager geworden, bald übt er Gymnastik, bald lungert er träge und sorgt sich um nichts, bald will er - so scheintes-gar philosophieren! Oft treibt er Politik, springt
mf, hält Reden, setzt Taten- wie es ihm gefällt!« 8 Dieses Leben des demokratischen Menschen, das manchmal untätig, :nanchmal geschäftig ist, sich manchmal den Lüsten hingibt, manchmal der Politik (wobei er, wenn er sich der Politik verschreibt, alles Beliebige sagt, was ihm durch den Kopf geht), dieses Leben ohne Einheit, dieses vermischte Leben, dieses der Vielfalt geweihte Leben ist ein Leben ohne Wahrheit. Es ist :licht imstande, so Platon, dem Iogos alethes (der wahren Rede) 9 einen Platz einzuräumen. Wir können einen weiteren Text zitieren, wo das wahre Leben dem vermischten Leben -:benso entgegengesetzt wird. Am Ende des Kritias erwähnt Platon kurz die Dekadenz von Atlantis - kurz vor dem Abbruch des Textes, dessen Ende verlorenging - und erklärt: ::-\ach dem glücklichen Leben, das die Menschen in Atlantis führten, kam eine Zeit, in der das Los bzw. der Anteil, der den :\Ienschen von Atlantis durch die Götter gegeben wurde, sich mit vielen sterblichen Elementen vermischt hatte. 10 Diese Mischung aus dem göttlichen Los, das das wahre Leben der Menschen von Atlantis auszeichnete, und den sterblichen Elemen:en war dafür verantwortlich, daß sie vom wahren Leben, von dem ihm eigentümlichen Glück und der es begleitenden Schönheit abgefallen waren. Sobald das Leben durchmischt wird, ist es nicht mehr das wahre Leben.':Drittens ist das wahre Leben bei Platon ein geradliniges Leben ,euthys). Gemäß der Bestimmung der Wahrheit als Geradlinigkeit, des Wahren als des Geradlinigen, ist das wahre Leben ein geradliniges Leben, d. h. ein Leben, das mit den Prinzipien, den Regeln und dem nomos übereinstimmt. Im berühmten VII. Brief erzählt Platon, wie er dazu kam, sich auf das Gesuch Dions nach Sizilien zu begeben, und daß er gezögert hat, diese ,_ Das Manuskript enthält hier eine Passage, die dem fünften Sinn von Wahrheit entspricht, auf den Foucault verzichtet hat (die Übereinstimmung mit dem Wesen): >>Der alethes bios ist ein Leben, das sich nicht den Anschein gibt, etwas zu sein, was es nicht ist. Es ahmt keine Form nach, die nicht seine eigene wäre. Das wahre Leben läßt sein ethos leicht erkennen« (Er stützt sich dabei auf das V. Buch von Platons Gesetzen, Abschnitt 738d-e).
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Einladung anzunehmen. Er ließ sich jedoch überzeugen, als er gewahr wurde, daß Dion seine Prinzipien so mühelos angenommen und sein Leben nach Regeln geformt hatte, die [er] ihm gegeben hatte. 11 Diese Bekehrung Dions zur Philosophie, zumindest jedoch die Bildung, die er empfing, erlaubte Platon zu hoffen, daß mit Hilfe Dions der Stadtstaat von Syrakus und vielleicht ganz Sizilien sich dieser Form von Gesetz unterordnen würden. Es gab also zu jener Zeit eine Hoffnung für alle, ein alethinos bios (ein wahrhaftes Leben) 12 zu führen. Das wahrhafte Leben, das also das Versprechen Platons gegenüber den Siziliern ist oder vielmehr seine Hoffnung, als er nach Sizilien ging, ist das Leben nach den Regeln, die Platon oder die Philosophie den Menschen vorzuschlagen vermag, und zwar nicht nur in ihrem privaten Leben wie bei Dion, sondern auch in ihrem gesellschaftlichen, öffentlichen, politischen Leben. Es sind Gesetze und eine politische Ordnung, was Platon den Siziliern und Syrakusern vorschlagen will." Wir können diese Passage übrigens mit einem Text aus dem Gorgias vergleichen, wo wir ebenfalls diesem Begriff des wahren Lebens begegnen. Ganz am Ende, als Platon über das Gericht der Seelen spricht. Im Mythos des Gorgias stellen sich die Seelen nach ihrem Tod ihren Richtern vor, insbesondere Rhadamanthys. Sokrates sagt: Rhadamanthys, Richter der Seelen und der Hölle, hat gewiß viel zu tun. Er begegnet Seelen, die zu ihm kommen und die Seelen großer Könige sind. Er läßt sich von diesen Seelen der großen Könige nicht beeindrucken, denn er sieht sofort, daß es in diesen Seelen keinen einzigen gesunden Teil gibt, »alles ist verzerrt durch Lüge und Hoffart [und Betrug; M.F.], und nichts Gerades (euthys) ist an ihr.« 13 Warum ist nichts Gerades an ihr? Weil diese Seele ohne Wahrheit (aneu aletheias) gelebt hat: 14 »Ja, infolge von Leichtsinn, Üppigkeit, Hochmut und Maßlosigkeit im Handeln erblickt er '' Im Manuskript steht hier ein erstes Zitat aus dem X. Buch von Platons Staat, Abschnitt 6o4b-c, in dem es um den Vorwurf an die Dichter geht, daß sie nur Nachahmungen hervorbringen. Aber die Passage ist durchgestrichen.
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an der Seele eine Fülle von Mißverhältnis und Häßlichkeit.« 15 Vielgestaltige Seelen, buntgescheckte Seelen, Seelen, die von Begierden, Leichtsinn, Üppigkeit durchdrungen sind, Seelen ohne Wahrheit. Rhadamanthys wird deshalb diese Seelen fortschicken, damit sie die Strafe erleiden, die sie verdienen. 16 Aber es geschieht auch, so Sokrates weiter, daß Rhadamanthys Seelen von ganz anderer Art entdeckt; Seelen, die entweder die Seelen von Philosophen sind oder eventuell auch von gewöhnlichen Bürgern, von Bürgern wie die anderen. Aber ob es sich nun um die Seele eines Philosophen oder die von jemand ganz Gewöhnlichem handelt, diese Seelen haben fromm (hosios) und in der Wahrheit (met'aletheias) 17 gelebt, ohne sich fruchtloser Rastlosigkeit hinzugeben. Da diese Seelen in der Wahrheit (met'aletheias) gelebt haben, »bewundert Rhadamanthys ihre Schönheit« und schickt sie auf die Inseln der Glückseligen.18 Nach dieser Beschwörung zwei er entgegengesetzter Schicksale der Seelen (die einen werden bestraft, weil sie ohne Wahrheit waren; die anderen werden belohnt und in die ewige Glückseligkeit geschickt, weil sie mit der Wahrheit gelebt haben), erfolgt Sokrates' Entschluß: Ich will mich durch die Erforschung der Wahrheit bemühen, mich so vollkommen wie möglich zu machen »im Leben und im Sterben«. 19 Das Leben mit der Wahrheit ist also der gerade Weg. Schließlich die vierte Bedeutung des Ausdrucks bios alethes, ,;lethinos bios bei Platon: Dieses wahre Leben ist ein Leben, das sich den Störungen, den Veränderungen, dem Vergehen und dem Verfall entzieht und das sich unverändert in der Identität seines Wesens hält. Diese Identität des Lebens im Verhältnis zu sich selbst läßt es jedem Element der Veränderung entrinnen ·0.nd sichert ihm einerseits eine Freiheit, verstanden als U nabhängigkeit, Nicht-Abhängigkeit, Nicht-Versklavung gegenüber allem, was es der Herrschaft und Beherrschung unterwerfen könnte, und gewährt ihm andererseits die Glückseligkeit :eudaimonia), verstanden als Herrschaft des Selbst über sich und als Genuß des Selbst durch sich. Dieses wahre Leben als Leben der vollkommenen Beherrschung und des umfassenden 295
Glücks wird, wie wir vorhin gesehen haben, im Kritias angesprochen: Es ist das Leben jener Bewohner von Atlantis, die, bevor die sterblichen Elemente sich mit ihnen vermischt haben, ein wahres und glückliches Leben führten. Die Wahrheit des Lebens ist sein Glück, seine vollkommene Glückseligkeit. Ebenso gibt es im Theaitetos im Hinblick auf ganz ähnliche Werte in den Abschnitten I74c-r76a eine wohlbekannte Stelle, wo Platon das geschäftige, lärmende und mußelose Leben all jener beschreibt, die, da sie mit allen Problemen der praktischen Existenz vertraut sind, die Fähigkeit haben, ohne weiteres mit diesen Problemen zurechtzukommen, die aber ihre gesamte Zeit damit verbringen. Demgegenüber beschwört er das Leben all jener, die, weil sie die wahre Wahrheit betrachten, in den alltäglichen Tätigkeiten ungeschickt und lächerlich sind und die thrakischen Mägde zum Lachen bringen. Aber diese Leute, die im alltäglichen Leben so ungeschickt sind, können >>in Wohlklang der Rede eingreifend, würdig [... ]preisen das wahrhafte Leben (bion alethe) der seligen Götter und Menschen«.20 Das wahrhafte Leben ist demnach das göttliche und glückselige Leben. Das sind also, wenn Sie so wollen - ganz schematisch und, wie gesagt, ohne eine präzisere philosophische Ausarbeitung als background für die Analyse zu versuchen, die ich jetzt vornehmen möchte - die Bedeutungen, die man der Vorstellung des wahren Lebens (alethes bios) zuerkannte. Was wir jetzt festhalten müssen- ich werde damit jetzt nur beginnen und nächstes Mal weitere Ausführungen anschließen -, ist [die Rolle, die] der Kynismus für diese Vorstellung des alethes bios gespielt hat. Ganz zu Beginn des Lebens von Diogenes, so erzählt Diagenes Laertius, gibt es eine Reihe von wichtigen Episoden oder Andeutungen. Zuerst haben wir die Andeutung der Tatsache, daß Diogenes der Sohn eines Geldwechslers war, eines Bankiers, der mit Münzen umzugehen hatte und sie gegeneinander tauschen mußte. Dann findet man den Hinweis auf die Tatsache, daß Diogenes oder sein Vater wegen einer Unterschlagung- strenggenommen wegen
Falschmünzerei - aus Sinope verbannt wurden, wo sie ursprünglich herstammten und wohnten. Der dritte Hinweis auf dieses Thema der Münzen besteht schließlich darin, daß Diogenes, der aus Sinope verbannt war, sich nach Deiphi begab und den Gott, Apollon, bat, ihm einen Rat und eine Meinung zu geben. Und der Rat ApoBons sei gewesen, daß Diogenes :\1ünzen fälschen oder ihren Wert ändern sollte.21 Dieses Prinzip »Präge die gangbare Münze um« wurde in der kynischen Tradition regelmäßig für zwei Zwecke benutzt. Erstens, um das Verhältnis zwischen Sokrates und Diogenes auszugleichen und zwischen beiden eine Ausgewogenheit herzustellen. Genau wie Sokrates vom delphischen Gott jene Prophezeiung, jenen Hinweis, jene Zuschreibung der Rolle empfangen hatte, daß er der weiseste aller Menschen sei, so erhält Diogenes, der sich nach Delphi begibt und den Gott fragt, wie es um ihn selbst steht, folgende Antwort: »den Wert der :\Jünze ändern«. Sokrates und Diogenes haben also beide einen A.uftrag empfangen. Diese Spiegelbildlichkeit, diese Nähe zwischen Sokrates und Diogenes wird die ganze kynische Tradition hindurch aufrechterhalten werden. In den Texten, die er im +·Jahrhundert gegen die Kyniker und zugunsten des wahren Kynismus schreibt, läßt es J ulian, der mit sehr großem Respekt .,-on Diogenes spricht, nie daran fehlen, von Sokrates und Diogenes zugleich zu reden: Der eine, der die Worte des delphischen Gottes gehört hatte, wußte von sich, daß er der weiseste ?vfensch war, und versuchte, sich selbst zu erkennen; der andere hatte vom delphischen Gott einen anderen, ganz verschiedenen Auftrag erhalten, nämlich den Wert der Münzen zu ändern. Es gibt also eine Spiegelbildlichkeit zwischen diesen beiden Persönlichkeiten. Die zweite Bedeutung dieses Gebots ist offenbar viel schwieriger zu bestimmen. Was bedeutet denn eigentlich >>den Wert der Münzen ändern« (paracharattein to nomisma)? Um dieses Thema herum werde ich nächstes Mal versuchen, das Problem des wahren kynischen Lebens zu entwickeln. Jetzt möchte ich Sie nur auf folgendes hinweisen: Im Zusammenhang mit dem 297
Thema »den Wert der Münzen ändern« muß man erstens die bestehende Nähe zwischen dem Geld und dem Brauch, der Regel, dem Gesetz- auf die das Wort selbst hinweist- geltend machen. Nomisma ist die Münze. Nomos ist das Gesetz. Den Wert der Münze zu ändern bedeutet auch, eine bestimmte Einstellung gegenüber der Konvention, der Regel, dem Gesetz einzunehmen. Der zweite Punkt steht ebenfalls im Zusammenhang mit der Vorstellung der paracharaxis. Paracharattein (ändern, verändern) bedeutet nicht, die Münze abzuwerten. Manchmal begegnet man der aufschlußreichen Bedeutung von eine Münze »verfälschen«, damit sie von ihrem Wert verliert, aber hier bedeutet das Verb im wesentlichen und vor allem: von einer bestimmten Münze, die ein bestimmtes Bildnis trägt, dieses Bildnis auszulöschen und es durch ein anderes zu ersetzen, das ebensoviel darstellt und dieser Münze ermöglicht, mit ihrem wahren Wert umzulaufen. Die Münze soll nicht über ihren wahren Wert hinwegtäuschen. Man soll den ihr eigenen Wert wiederherstellen, indem man ihr ein anderes, besseres und angemesseneres Bildnis aufprägt. Das ist es, was durch dieses so bedeutende kynische Prinzip bestimmt wird, den Wert der Münze zu ändern. Mir scheint- damit werde ich aufhören und nächstes Mal weitermachen - daß das, worum es im Kynismus im Hinblick auf das wahre Leben geht, vor allem darin besteht, die Münze des alethes bios zu nehmen und sie so ähnlich wie möglich im Hinblick auf die ursprüngliche Bedeutung, die sie empfangen hat, neu zu prägen. Von diesem Gesichtspunkt aus ändern die Kyniker sozusagen zwar nicht das Metall dieser Münze. Aber sie werden das Bildnis verändern, und anhand derselben Prinzipien des wahren Lebens - das unverborgen, unvermischt, gerade und stabil, unvergänglich, glücklich sein soll- werden sie, indem sie unablässig bis an die Grenze gehen und diese Themen einfach ins Extrem treiben, ein Leben erscheinen lassen, das gerade das Gegenteil dessen ist, was traditionellerweise [als] das wahre Leben anerkannt wurde. Die Münze neu zu prägen, das Bildnis zu ändern und das Thema des wahren Lebens gewisser-
maßen eine Fratze schneiden zu lassen. Der Kynismus als Fratze des wahren Lebens. Die Kyniker haben versucht, das in der Philosophie traditionelle Thema des wahren Lebens eine Fratze schneiden zu lassen. Anstatt im Kynismus eine Philosophie zu erblicken, die aufgrund ihrer Popularität, oder weil sie im Konsens und der gebildeten philosophischen Gemeinschaft niemals das Bürgerrecht empfangen hat, eine Philosophie des Bruchs sei, sollte man ihn vielmehr als eine Art von Grenzübergang, eine Art von Extrapolation anstatt von Exteriorität, als eine Extrapolation der Themen des wahren Lebens und eine Rückkehr dieser Themen in eine Art von Figur betrachten, die mit dem Vorbild des wahren Lebens übereinstimmt, ihm zugleich aber auch eine Fratze schneidet. Es handelt sich viel eher um eine Art von karnevalesker Kontinuität mit dem Thema des wahren Lebens als um einen Bruch mit den Werten, die in der klassischen Philosophie galten, wenn es sich um das wahre Leben handelte. Verzeihen Sie mir, ich habe mein Versprechen fast überhaupt nicht erfüllt, Ihnen zu sagen, was ich Ihnen heute sagen sollte. Ich werde versuchen, den Kynismus nächstes Mal abzuschlie,, :!:>en.
Anmerkungen >>Überhaupt aber mache ich Profession, ein Prophet der Wahrheit und Freymüthigkeit zu sein« (Der Verkauf der philosophischen Sekten, § 8, a.a.O. [s. oben, S. 23 I, Anm.6], S. 375). :! Gregor von Nazianz, Predigt 25; vgl. oben, Vorlesung vom 29. Februar, erste Stunde. 3 Vgl. inL'Usage desplaisirs, Kap. V (»Le veritable amour«, a.a.O., S. 251269; dt.: Der Gebrauch der Lüste, »Die wahrhafte Liebe«, S. 287-3 IO). 4 Platon, Hippias der kleinere, 36sa, in: Platon: Sämtliche Werke, r. Bd., übers. v. L. Georgii, Heidelberg I982, S. I 53· 5 Ebd., 364c, S. I 52· 6 Tatsächlich ist es Hippias, der Achilles auf diese Weise im Abschnitt 364e charakterisiert (»[Homer] beleuchtet[... ] den Charakter eines jeden der beiden Männer, so zwar, daß Achilles wahrhaftig sein solle und gerade (haploustatos kai alethestatos)« (ebd.). r
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7 Platon, Der Staat, II. Buch, 382e, übers. v. K. Vretska, Stuttgart 198o, S. Ip. 8 Platon, Der Staat, VIII. Buch, 561b-56rd, a.a. 0., S. 37If. 9 »Aber ein wahrhaftiges Wort (logon alethe) empfängt er nicht, noch läßt er es in seine Burgiogenes gezwungen gewesen, die Stadt zu verlassen, sei aus;ewandert und in Athen ins Exil gegangen. 11 Diagenes Laer::us erzählt noch weitere Versionen mit Bezug auf dasselbe T:':lema. [Einigen dieser Versionen] zufolge- er zitiert Eubu~~des - hat Diagenes selbst, und nicht sein Vater, Geld ge:.ilschtP Nach anderen Quellen hätte Diagenes spontan das Orakel von Deiphi befragt- in dieser Version scheinen weder ~: selbst noch sein Vater Geld gefälscht zu haben -, und das {)rakel soll ihm gesagt haben: »Fälsche die Münze« oder »än±ere den Wert der Münze«. 13 Schließlich kombiniert derselbe Diagenes in einer komplizierteren Version die von ihm zuvor ;enannten Versionen und sagt: Manchen zufolge hätte Dioge::es in seiner Kindheit und Jugend Münzen gefälscht, die sein Yater ihm gegeben hätte - hier finden wir den Vater und sein \/erhältnis zum Geld wieder -, weshalb Diogenes' Vater als \"erantwortlicher dieser Fälschung ins Gefängnis kam und dort ;:arb. Diagenes wäre zur Strafe verbannt worden oder selbst :usgewandert. Er wäre nach Deiphi gegangen und hätte dem .±dphischen Gott die Frage gestellt: Wie wird man berühmt? ::nd das Orakel hätte ihm dann gesagt: Präge die Münze um. 14 Sie sehen, daß in dieser Erzählung alles miteinander kombi::iert wurde: der Vater, die Fälschung des Geldes durch Dioge::es und dann das delphische Gebot »Präge die Münze um« paracharaxon to nomisma). Immerhin wird das Prinzip, die Münze umzuprägen, regelmäGig mit dem Kynismus assoziiert, und in den Lebensbeschreijungen, die Diagenes Laertius erzählt, finden wir eine ganze R.eihe von Anekdoten, die die Kyniker regelmäßig mit dem Geld, seiner Verwendung, seinem richtigen oder verfälschten Gebrauch assoziieren. So war beispielsweise Diagenes Laer:ius zufolge Monimos, der der erste Schüler von Diagenes dem Kyniker gewesen sein soll, Diener eines Bankiers. 15 Krates sei ::in überaus reicher Mann gewesen, der, nachdem er das Vermögen seines Vaters geerbt hatte, dieses Vermögen aufgegeben :.1nd das Geld an die Armen verteilt hätte, wenn er nicht das ganze geerbte Bargeld einer anderen Version zufolge ins Meer
JIJ
geworfen hat. 16 In der Lebensbeschreibung von Menippos, die Diogenes Laertius nach Hermippos zitiert, sei Menippos ein Wucherer gewesen, der Schätze angehäuft hätte, aber am Ende von seinen Gegnern ruiniert worden sei und sich aus Verzweiflung erhängt hätteY Was Bion von Borysthenes betrifft- der sich an der Grenze zwischen einer bestimmten Form des Platonismus und des Kynismus befindet-, so erzählte er Diogenes Laertius zufolge, daß sein Vater, nachdem er die Steuerbehörde betrogen hatte, mit seiner ganzen Familie verkauft worden sei. Und so sei Bion von Borysthenes zum Sklaven geworden.18 Wie Sie sehen, wird sehr oft, wenn es um die Kyniker geht, eine Geschichte über das Geld, die Bank, den Geldwechsel erzählt. Wichtig ist jedoch und das möchte ich festhalten, daß das Prinzip >>Präge die Münze um«, >>Ändere den Wert deiner Münze« als ein Lebensprinzip und sogar als das grundlegendste und charakteristischste Prinzip der Kyniker gilt. Als Julian beispielsweise seine beiden großen Reden gegen die Kyniker schreibt, nimmt er sehr oft auf dieses Prinzip Bezug: die Münze umprägen, den Wert der Münze ändern. In der Rede Gegen die unwissenden Hunde - erinnern Sie sich, ich habe letztes Mal darüber gesprochen- stellt Julian den Kynismus als eine Art von universeller Philosophie dar, deren wesentliche Züge man in allen anderen Philosophien wiederfindet und deren Grundprinzipien nicht nur bis auf Herkules zurückgehen, sondern auf den Ursprung der Menschheit. In derselben Passage spricht Julian aus, was für ihn die beiden Prinzipien des Kynismus sind; er macht darauf aufmerksam, daß diese beiden Prinzipien genausoweit zurückgehen wie der pythische Apollon. Die beiden Prinzipien sind nämlich erstens >>Erkenne dich selbst« und zweitens »paracharaxon to nomisma« (bewerte dein Geld neu, präge deine Münze um, ändere ihren Wert). Und er fügt folgendes hinzu: Wenn das Prinzip, an das die Kyniker sich binden und auf das sie sich berufen, nicht an Diagenes allein gerichtet wurde, weil es ja auch insbesondere an Sokrates gerichtet wurde und allgemeiner noch an alle gerichtet
war (es war in das Tor des Tempels selbst eingraviert), wurde dagegen das Prinzip »paracharaxon to nomisma« nur an Dio;enes gerichtet. Julian zufolge hätte sich also von diesen beiden sroßen grundlegenden Prinzipien, von diesen universalsten Prinzipien der Philosophie das eine an alle und an Sokrates gerichtet (»Erkenne dich selbst«), während das andere Diagenes allein vorbehalten geblieben sei (»Präge deine Münze ::m«).t9 In der anderen Rede (Gegen den Kyniker Herakleios) stelltJu)ian, der noch einmal an die beiden delphischen Prinzipien er:.nnert (»Erkenne dich selbst«, >>Ändere den Wert deiner Münze«), die wichtige und interessante Frage nach dem Verhältnis iieser Prinzipien. 20 Soll man seine Münze umprägen, um sich selbst zu erkennen oder kann man seine Münze umprägen, indem man sich selbst erkennt? Julian entscheidet sich für die zweite Lösung, wenn er sagt, daß der, der sich selbst kennt, ge::;.au weiß, was er ist und nicht bloß, was er zu sein scheint. Der Sinn, den Julian der Gegenüberstellung und Koordinierung dieser beiden Gebote gibt, wäre also folgender: Das grundlegende Gebot ist >>Präge deine Münze um«; aber diese Umprägung kann sich nur über den Weg und die Vermittlung des »Erkenne dich selbst>Hundes«. Zu den Gründen, aus denen Diagenes »der Hund« genannt worden war, gibt es verschiedene Interpretationen. Die einen haben mit einem bestimmten Ort zu tun: wegen des Ortes, den Diagenes als sein Heim wähltePAnderen Interpretationen zufolge sei diese Bestimmung eine Folge dessen, daß er das Leben eines Hundes geführt habe. Da er von den anderen als Hund betrachtet wurde, habe er sich dieses Attribut zu eigen gemacht und sich zum Hund erklärt. Auch hier spielt der Ursprung der Formel eigentlich keine Rolle. Das Problem besteht vielmehr darin, welche Bedeutung sie annimmt und wie man sie in dieser kynischen Tradition benutzt, die man im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung erkennen kann. Bei einem Kommentator von Aristoteles 23 - aber auch andere Autoren nehmen oft darauf Bezug- finden wir folgende Interpretation des bios kynikos, die kanonisch gewesen zu sem
;;cheint. Erstens ist das kynikos Leben insofern wie das Leben :i:tes Hundes, als es ohne Schamgefühl, ohne Scham, ohne :nenschliche Ehrfurcht ist. Es ist ein Leben, das in der Öffent:ichkeit und in den Augen aller das tut, was allein die Hunde :.:.nd Tiere zu tun wagen, während es die Menschen gewöhnlich ·;erbergen. Das Leben des Kynikers ist das Leben eines Hunjes, da es unzüchtig ist. Zweitens ist das kynische Leben das Leben eines Hundes, weil es wie das der Hunde gleichgültig :sc. Gleichgültig gegenüber allem, was geschehen mag, ist es an =-ichts gebunden, begnügt sich mit seinem Besitz und kennt ;;;eine anderen Bedürfnisse als jene, die es unmittelbar befriedi;en kann. Drittens gleicht das Leben der Kyniker dem Leben o:ines Hundes, es erhielt das Attribut kynikos, weil es gewisser:naßen ein Leben ist, das bellt, ein diakritisches (diakritikos) Leben, d. h. ein Leben, das imstande ist, sich zu schlagen, die Feinde anzubellen, das die Guten von den Schlechten zu unterodurch seine leibliche Erscheinung den Beweis erbringen, daß das schlichte und einfache Leben unter freiem Himmel auch die Gesundheit nicht schädigt«. 9 Genau das tat Diogenes: denn er ging umher »strahlend von Gesundheit und [zog] gerade durch sein glänzendes Aussehen die Augen der Menge auf sich«. 10 Der Kyniker ist also wie die sichtbare Statue der Wahrheit. Von allen überflüssigen Verzierungen befreit, von allem, was für den Körper gewissermaßen das Gegenstück zur Rhetorik wäre, aber zugleich blühend und in voller Gesundheit: das eigentliche Sein des Wahren, das durch den Körper sichtbar gemacht wird. Das ist einer der ersten Wege, einer der ersten Pfade, demgemäß das kynische Leben eine Offenbarung der Wahrheit sein soll. Aber das kynische Leben hat noch weitere Verantwortlichkeiten, andere Aufgaben gegenüber der Wahrheit. Das kynische Leben soll auch eine genaue Selbstkenntnis beinhalten. Nicht nur die Statue der Wahrheit, sondern auch die Arbeit der Wahrheit des Selbst an sich selbst. Diese Selbsterkenntnis soll zwei Aspekte annehmen. Erstens soll der Kyniker immer in 400
der Lage sein, seine Fähigkeiten ordentlich und korrekt zu beurteilen, so daß er die Prüfungen bestehen kann, denen er [ausgesetzt] sein mag, so daß er vermeidet, daß er in der Arbeit an sich selbst nur Situationen begegnet, in denen er besiegt werden könnte. Der Kyniker ist wie ein Athlet, der sich auf 0 lympia vorbereitet. Aber offensichtlich handelt es sich um einen Kampf, der darüber hinaus ernst ist, weil es ein Kampf gegen die Übel ist, gegen die Laster und die Versuchungen. Diese Einschätzung seiner selbst, dieses Maß, das man von sich selbst nehmen soll, bevor man sich den Prüfungen stellt, bringt Epiktet im Absatz 5 r zum Ausdruck, als er seine Empfehlungen dem gibt, der Kyniker sein will: »Nimm erst mal einen Spiegel und betrachte deine Schultern, deine Hüfte und deine Schenkel.«11 Aber diese Selbsterkenntnis soll außerdem noch etwas anderes sein. Sie soll nicht nur eine Selbsteinschätzung sein, sondern auch eine ständige Wachsamkeit über sich selbst, eine Wachsamkeit, die sich wesentlich auf die Bewegung der Vorstellungen selbst beziehen soll. Erinnern Sie sich an jene Passage, die ich Ihnen letztes Mal zitierte, wo Epiktet sagte: Genau wie der Zimmermann als Rohstoff das Holz verwendet, so soll der Kyniker seine Seele als Rohstoff für seine eigene Arbeit nehmen. 12 Die Bewegung der Vorstellungen soll unablässig Gegenstand dieser Wachsamkeit sein. Der Kyniker soll der Wächter seines eigenen Denkens sein. Im Hinblick auf die moralische Person und den Gebrauch der Vorstellungen sagtEpiktet daher- auch hier sehen Sie leicht, wie stark die stoische Abwandlung in diesem Text ist, aber im Augenblick spielt das keine Rolle-: »[ ...] da solltest du einmal sehen, was er für Falkenaugen hat; dann würdest du sagen: >Argos war nichts gegen ihn!«< 13 Folglich soll jeder sich selbst gegenüber wie ein Argos sein. 14 Alle Augen, die er besitzt, sollen auf ihn selbst gerichtet sein. Und Epiktet fährt fort: >>Ist etwa seine Zustimmung vorschnell, sein Wollen vergeblich, sein Begehren fruchtlos, sein Meiden umsonst [das sind die vier großen Kategorien des Stoizismus; M. F.], sein Vorhaben erfolglos? Wo gäbe es bei ihm Murren,
Kleinmut oder Neid? In der Hinsicht ist seine Achtsamkeit groß (prosoche kai syntasis).« 15 Sich selbst messen also, aber auch über sich selbst wachen, Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und ständiger Blick auf den Fluß der eigenen Vorstellungen, das soll den Kyniker auszeichnen. Aber dieses Verhältnis zur Wahrheit seiner selbst, zu den eigenen Fähigkeiten und zum Fluß der Vorstellungen soll von einem anderen sekundiert werden, das ein Verhältnis des Überwachens der anderen ist. Der Kyniker, der sich selbst gegenüber ein Argos ist, soll nicht nur die tausend Augen, mit denen er ausgestattet ist, auf sich selbst richten, sondern auch auf die anderen. Er soll betrachten, was sie tun, was sie denken, und ihnen gegenüber eine ständige Prüfung durchführen. Daher rührt die Bedeutung des Verbs episkopein, das Epiktet mehrmals wiederholt, wenn es darum geht, die Tätigkeit der Kyniker zu bestimmen. Die Kyniker sind die Episkope der anderen. Erinnern Sie sich an jene Passage von Epiktet, die ich Ihnen letztes Mal zitierte, wo er die Verdienste jenes anständigen Familienvaters bewertet, der zufällig zwei oder drei rotznasige Gören in die Welt setzt. 16 Gegenüber diesem haben die Kyniker ihrerseits im Hinblick auf die gesamte Menschheit eine Aufgabe, eine Verantwortlichkeit und ein Verdienst, die viel größer sind, weil sie nach Maßgabe ihrer Kraft ihre Überwachung (episkopountes) aller Menschen ausüben, indem sie beobachten, was sie tun, wie sie ihr Leben verbringen, worum sie sich kümmern und was sie entgegen ihren Pflichten vernachlässigen. Prüfung, Überwachung der anderen, die dem prüfenden Blick unterstellt werden. Das ist noch eine weitere Funktion, eine weitere Modalität [der Umsetzung] der Praxis der Wahrheit. Es sollte jedoch klar sein, daß die Kyniker, wenn sie das tun, wenn sie die anderen prüfen und ihre Handlungen überwachen, wenn sie die Art und Weise belauern, wie sie ihr Leben verbringen, nicht zu den Leuten gehören- vor denen die Griechen übrigens große Angst hatten und die sie so häufig kritisierten-, die sich um die Angelegenheiten der anderen küm-
mern, sich in sie einmischen, ihre Nase überall hineinstecken. Von diesem Makel, dieser Einstellung, die von den Griechen so beständig kritisiert wurde, muß der Kyniker abstehen, wenn er sich ordentlich um die Angelegenheiten der anderen kümmertY Indem er sich um die anderen kümmert, soll der Kyniker sich tatsächlich darum kümmern, was bei den anderen zur Menschheit im allgemeinen gehört. Insofern der Kyniker sich so um die anderen kümmert, indem er jene polypragmosyne vermeidet, die sich in die Angelegenheiten von allen und jedem einmischt, indem er in den Handlungen der anderen nur das betrachtet, was zur Menschheit gehört, kümmert er sich offenbar also zugleich um sich selbst, weil auch er ein Teil der Menschheit ist. Auf diese Weise steht seine eigene Solidarität mit der Menschheit in Frage. Sie ist der Gegenstand seiner Sorge, seiner Besorgnis, seiner Überwachung, wenn er die Handlungsweise der Menschen betrachtet, wenn er sieht, wie sie ihr Leben verbringen und wenn er sich fragt, wofür sie Sorge tragen. Der Kyniker ist also jemand, der, indem er sich um die anderen sorgt, um zu wissen, worum sich die anderen sorgen, sich zugleich und dadurch um sich selbst kümmert. So haben wir bei Epiktet in den Absätzen 96 und 97 folgende Passage: Warum »sollte er da nicht getrost zu seinen Brüdern, seinen Kindern frei von der Leber weg sprechen [hier sind wir mitten in der parrhesia; M. F.], überhaupt zu seinen Verwandten ?« 18 Syngeneis: das bezeichnet natürlich die gesamte Menschheit. Der Kyniker ist »nicht etwa ein Mensch, der sich um Dinge kümmert, die ihn nichts angehen fpolypragmon: jemand der sich zu sehr um die Angelegenheiten der anderen kümmert; M. F.], oder etwa übertrieben geschäftig; denn er kümmert sich ja nicht um fremde Angelegenheiten, wenn er das menschliche Treiben beobachtet, sondern um seine eigenen.«19 Andernfalls müßte man auch meinen, daß »der General, der seine Truppen besichtigt (episkope)«, sie durchmustert (exetaze), sie überwacht und diejenigen züchtigt, die die Disziplin durcheinanderbringen, polypragman (vorwitzig) ist, wenn man jemanden wie den Kyniker, der sich um die Angele-
genheiten der Menschen kümmert, polypragman nennen sollte.20 Ein General hat nicht als vorwitzig zu gelten, wenn er sich um seine Soldaten kümmert, wenn er sie mustert und überwacht. Er ist kein Vorwitziger, weil sich der Blick des Generals gewissermaßen nicht auf das individuelle Leben der Soldaten richtet, sondern auf all das, wodurch der Soldat ein Teil der Armee ist. Genauso wie der General, der sich um seine Soldaten kümmert, sich auch um die gesamte Armee kümmert und somit auch um sich selbst, da er ja ebenfalls ein Teil von ihr ist und die Verantwortung für sie trägt, ist auch der Kyniker, wenn er sich um die Menschheit wie ein General kümmert, der seine Inspektion vornimmt, kein polypragmon. Er ist kein Vorwitziger, der sich in das Privatleben eines jeden hineindrängen würde, er stellt die gesamte Menschheit in Frage, zu der er selbst gehört. Die Sorge um die anderen fällt somit genau mit der Sorge um sich selbst zusammen. Nun bezweckt aber - und das ist ein neuer Aspekt dieser Arbeit an der Wahrheit - die Überwachung seiner selbst, die zugleich eine Überwachung der anderen ist oder die Überwachung der anderen, die zugleich Überwachung seiner selbst ist, eine Veränderung, die in Epiktets Text unter zwei Aspekten erscheint: eine Veränderung im Verhalten der einzelnen; aber auch ein Verhalten in der allgemeinen Konstellation der Welt. Erstens eine Veränderung im Verhalten. Der Kyniker soll den anderen durch die Reden, die er hält, die Kritiken, die er austeilt, die Skandale, die er verursacht, zeigen, daß sie sich ganz und gar im Irrtum über das Gute und Böse befinden und daß sie das Wesen des Guten und des Bösen dort suchen, wo es in Wirklichkeit nicht ist. Der Kyniker soll sich auf diese Weise an die Leute wenden, die ihn umgeben, und ihnen sagen: >>Wehe, ihr Menschen, wohin treibt ihr? Was tut ihr Elenden? Wie Blinde irrt ihr hin und her! Ihr seid vom wahren Wege abgekommen [ihr folgt einem anderen Weg: allen hodon; M. F.] und geht in die Irre [nachdem ihr den wahren Weg (ten ousan) verlassen habt]; ihr sucht euer Heil und das Glück, wo es nicht ist, und wenn es euch ein anderer zeigen will, wollt ihr ihm nicht
glauben!« 21 Diese Passage ist interessant, weil sie einerseits zeigt, was der eigentliche Gegenstand des kynischen Diskurses ist, der Gegenstand seiner verbalen Intervention, das Ziel der »Diatribe«, um diese besondere Ausdrucksform zu verwenden, die für die Kyniker charakteristisch war. Das Ziel dieser Intervention besteht darin, den Menschen zu zeigen, daß sie sich irren, daß sie die Wahrheit anderswo suchen, daß sie das Prinzip des Guten und des Bösen an der falschen Stelle suchen, daß sie den Frieden und das Glück anderswo suchen, daß sie sich nicht dorthin wenden, wo diese Dinge sich wirklich befinden. Betrachten Sie die ganze Bedeutung, die in diesem Spiel das Anderswo und das Andere spielen: Ihr sucht den Frieden und das Glück anderswo, ihr folgt einem anderen Weg. Nun erinnern Sie sich aber daran, daß das Prinzip des Kynismus gerade in der Behauptung besteht, daß das wahre Leben ein anderes Leben ist. Einer der wesentlichen Punkte der kynischen Praxis hat gerade damit zu tun, daß der Kyniker, indem er- wir hatten das letztes Mal gesehen- die traditionellsten Themen der klassischen Philosophie wiederaufnimmt, den Wert dieser Münze ändert und offenbar macht, daß das wahre Leben im Vergleich mit dem traditionellen Leben der Menschen, einschließlich der Philosophen, nur ein anderes Leben sein kann. Ein wahres Leben ist nur als anderes Leben möglich, und vom Gesichtspunkt dieses anderen Lebens wird man das gewöhnliche Leben der gewöhnlichen Leute gerade als etwas anderes als das wahre Leben erscheinen lassen. Ich lebe auf andere Weise und durch die Andersheit meines Lebens zeige ich Ihnen, daß das, was Sie suchen, anderswo ist als dort, wo Sie es suchen, daß der Weg, den Sie einschlagen, ein anderer Weg ist gegenüber dem, den Sie nehmen müßten. Und das wahre Leben- das zugleich Lebensform, Selbstverwirklichung, Plastik der Wahrheit ist, aber auch ein Unternehmen des Nachweises, der Überzeugung, der Überredung durch die Rede -hat die Funktion zu zeigen, daß, obwohl es anders ist, es die anderen sind, die sich in der Andersheit, im Irrtum, dort befinden, wo sie nicht sein sollen. Die
Aufgabe der kynischen Veridiktion besteht also darin, alle Menschen, die kein kynisches Leben führen, an diese Lebensform zu erinnern, die das wahre Leben ist. Nicht die andere, die sich im Weg geirrt hat, sondern dieselbe, die der Wahrheit treu ist. Dadurch bezieht sich Epiktet auf eine Lebensform, die nicht bloß eine Reform der Individuen wäre, sondern eine Reform der ganzen Welt. Man soll nämlich nicht meinen, daß der Kyniker sich an eine Handvoll Menschen wendet, um sie zu überzeugen, daß sie ein anderes als ihr tatsächliches Leben führen sollten. Der Kyniker wendet sich an alle Menschen. Allen diesen Menschen zeigt er, daß sie ein anderes Leben als das führen, das sie eigentlich sollten. Und dadurch taucht zwangsläufig eine ganz andere Welt auf, die jedenfalls im Horizont der kynischen Praxis sein und deren Ziel ausmachen muß::· '' Das Manuskript enthält hier präzisere Angaben, die nicht in die Vorlesung aufgenommen wurden: »Epiktet bezieht sich zumindest in dieser Passage auch auf das wahre Leben, als ob es eine andere Welt sei. Man darf diese andere Welt nicht wie Platon verstehen, d. h. als eine Welt, die den Seelen nach ihrer Erlösung vom Körper versprochen wäre. Es handelt sich um einen anderen Zustand der Welt, um eine andere >Katastasis< der Welt, um einen Stadtstaat der Weisen, wo für den kynischen Aktivismus kein Bedarf wäre. Die Bedingung jedoch, um zu diesem wahren Leben zu gelangen, besteht darin, daß jeder Mensch eine Beziehung der Wachsamkeit gegenüber sich selbst ausbildet. Das Prinzip des wahren Lebens ist weder im Körper noch in der Ausübung der Macht noch im Besitz eines Vermögens zu suchen, sondern in sich selbst. In allen diesen Gedanken geht vieles auf den Stoizismus zurück, aber man sieht klar formuliert, was den wichtigsten historischen Kern des Kynismus ausmacht: nämlich daß das wahre Leben das Leben der Wahrheit ist, das die Wahrheit offenbart, das die Wahrheit in der Beziehung zu sich selbst und den anderen praktiziert, und zwar so, daß dieses Leben der Veridiktion die Verwandlung der Menschheit und der Welt zum Ziel hat. DerKynismus hat zur philosophischen Lehre zweifellos nur ganz wenig beigetragen: Er hat kaum mehr getan, als ihr die traditionellsten und geläufigsten Formeln zu entlehnen. Aber er hat dem philosophischen Leben eine so einzigartige Form gegeben, er hat die Wirklichkeit eines anderen Lebens so stark betont, daß er [für] Jahrhunderte die Frage nach dem philosophischen Leben geprägt hat. Eine geringe Bedeutung in der Geschichte der Lehren.
Metaphysische Erfahrung der Welt, historisch-kritische Erfahrung des Lebens: Hier haben wir zwei grundlegende Kerne in der Entstehung der europäischen oder abendländischen philosophischen Erfahrung. Wir sehen jedenfalls, wie mir scheint, daß sich im Kynismus die Matrix dessen abzeichnet, was die ganze christliche und moderne Tradition hindurch eine geachtete Lebensform war, d. h. die Matrix eines Lebens, das der Wahrheit gewidmet ist, das sowohl der tatsächlichen Manifestation der Wahrheit (ergo) als auch der Veridiktion, dem Wahrsprechen, der Manifestation im Diskurs (logo) der Wahrheit gewidmet war. Und diese Praxis der Wahrheit, die das kynische Leben charakterisiert, hat nicht nur zum Ziel, daß gesagt und gezeigt wird, was die Welt in ihrer Wahrheit ist, sondern sie hat auch zum Ziel, und zwar zum letzten Ziel, zu zeigen, daß die Welt ihre Wahrheit nur finden kann, daß sie sich nur verwandeln und anders werden kann, um zu finden, was sie in Wahrheit ist, um den Preis einer Veränderung, einer völligen Änderung, nämlich der völligen Veränderung im Verhältnis, das man zu sich selbst hat. Und in dieser Rückkehr von sich zu sich selbst, in dieser Sorge um sich liegt das Prinzip des Übergangs zu dieser anderen Welt, die der Kynismus verspricht. Das ist im großen und ganzen das, was ich Ihnen über den Kynismus sagen wollte. Mein Vorhaben- und hier gehe ich zum zweiten Teil dessen über, was ich Ihnen heute sagen wollte war nicht, beim Kynismus zu verweilen, sondern Ihnen zu zeigen, wie der Kynismus zu einer anderen Form, einer anderen Bestimmung der Verhältnisse zwischen dem wahren Leben, dem anderen Leben und der parrhesia, dem Diskurs der Wahrheit führen konnte und auch tatsächlich geführt hat. Es ist klar - wie gesagt, ich möchte darauf nicht zurückkommen -, daß das Porträt des Kynikers, das wir Epiktet zeichnen sahen, in keiner Weise eine genaue historische Darstellung des kynischen Lebens ist. Es kann keineswegs als klare und zusammenhängende Darstellung der allgemeinen Prinzipien des kyniEine beträchtliche Bedeutung in der Geschichte der Lebenskünste und in der Geschichte der Philosophie als Lebensform.«
sehen Lebens betrachtet werden. Es ist ein Gemisch, ein Gemisch aus Lehren und ein Gemisch aus Praktiken. Aber wenn ich die Analyse des Kynismus bis zu diesem Punkt getrieben habe, wenn ich am Ende als letzten Bezugspunkt diesen Text von Epiktet über den Kynismus genommen habe, der gewissermaßen unrein und vermischt ist, dann deshalb, weil ich zeigen wollte, wie sich um den Kynismus herum eine Reihe von Themen angeordnet haben, die anderen Philosophien entlehnt wurden, insbesondere dem Stoizismus, und wie der Kynismus durch diese Kombination eine bestimmte Form annehmen konnte, die, wie gesagt, zweifelsohne im Vergleich mit dem, was vermutlich die wahre kynische Lehre in ihrer Reinheit, Einfachheit und Ungeschliffenheit war, unrein und vermischt ist. Aber an dieser etwas vermischten und ziemlich rätselhaften Persönlichkeit, die Epiktet im Gespräch 22 des III. Buchs darstellt, konnten Sie schon eine Reihe von Elementen erahnen, denen wir später und insbesondere in der christlichen Erfahrung wiederbegegnen werden. Denn die Vorstellung eines Missionars der Wahrheit, der zu den Menschen kommt, um ihnen das asketische Beispiel des wahren Lebens vorzuführen, um sie an sich selbst zu erinnern, um sie wieder auf den rechten Weg zu bringen und ihnen eine andere Katastasis der Welt zu verkünden, diese Persönlichkeit geht natürlich einerseits bis zu einem gewissen Grad auf das sokratische Erbe, ein modifiziertes Erbe, zurück, aber Sie sehen auch, daß sie sich bis zu einem gewissen Grad dem christlichen Vorbild annähert. Nächstes Jahr werde ich vielleicht versuchen- aber mit allen Vorbehalten, denn ich gestehe, daß ich mir darüber noch nicht im klaren bin, ich habe mich noch nicht entschlossen-, die Erforschung dieser Themen etwas fortzusetzen. Ich werde vielleicht versuchen, die Geschichte der Lebenskünste, der Philosophie als Lebensform, der Askese in ihrem Verhältnis zur Wahrheit eben im Christentum nach der antiken Philosophie weiterzuverfolgen. Jedenfalls möchte ich Ihnen heute einfach eine ganz kurze
Skizze vorstellen, eine Art von Ausgangspunkt für derartige Analysen. Für mich ist es ein Ausgangspunkt, wenn ich sie weiterführe; für Sie ist es eine Anregung, wenn Sie sie Ihrerseits wieder aufgreifen. Was ich Ihnen sagen werde, ist also vollkommen vorläufig, völlig ungewiß und noch ganz im Fluß. Es handelt sich um Ideen, die mir gekommen sind und die ich versucht habe, auf eine Reihe von Texten und Stellen zu stützen (aber natürlich unter dem Vorbehalt, daß man vielleicht alles neu bearbeiten, alles wieder einreißen und ganz anders von neuem beginnen müßte). Jedenfalls würde ich die Dinge folgendermaßen sehen. Wenn ich den Übergang von einer heidnischen zur christlichen Askese zu analysieren hätte, dann scheint mir, daß ich mich im Augenblick ungefähr in folgende Richtung bewegen würde. Erstens- das ist ziemlich naheliegend- müßte man versuchen, die bereits wohlbekannte und ziemlich gut bestimmte Kontinuität zwischen den Praktiken der Askese, den Formen der Ausdauer, den Arten von Übungen, die man im Kynismus findet, und denen, die einem im Christentum begegnen, etwas zu rekonstruieren. Mir scheint nämlich, wie gesagt unter dem Vorbehalt von etwas präziseren Ergebnissen, daß zwischen dem, sagen wir aktivistischen, aggressiven, sich selbst und den anderen gegenüber unnachgiebigen Kyniker und dem christlichen Asketen eine Reihe von Gemeinsamkeiten besteht. Man könnte beispielsweise versuchen, die ganz wichtige Geschichte der Beziehungen zur Ernährung, zum Fasten, zur Askese im Hinblick auf die Ernährung zu verfolgen, die viel wichtiger ist als die Geschichte der Sexualität und die in der Antike und im Urchristentum wiederum von zentraler Bedeutung war. Der Augenblick, in dem die sexuelle Askese die Oberhand über die Probleme der Nahrungsaskese gewinnt, findet später statt. Zu Beginn ist jedenfalls das Problem der Nahrungsaskese ganz wichtig. Sie erinnern sich, wie bedeutend es [für] die Kyniker war. Sie finden es in ziemlich ähnlichen Formulierungen bei den Christen wieder, mit dem Unterschied jedoch, daß die Christen die Praktiken des Verzichts der Kyniker unendlich
viel weiter getrieben und versucht haben, sie noch zu radikalisieren. Sie wissen, daß es beim Kynismus darum ging, durch eine kontinuierliche Arbeit an sich selbst zu einem Punkt zu gelangen, an dem die Befriedigung der Bedürfnisse völlig erreicht wäre, ohne daß man der Lust selbst irgendein Zugeständnis machen würde. Oder besser, um das Maximum an Lust mit einem Minimum an Mitteln zu erreichen, praktizierte der Kyniker eine Art von reduzierter Ernährung. Die Reduktion der Ernährung, die Reduktion dessen, was man ißt und trinkt, auf diejenige elementare Nahrung und diejenigen elementaren Getränke, die ein Maximum an Lust mit den geringsten Kosten verschaffen, danach strebte man im großen ganzen im Kynismus. Im Christentum begegnen wir jedoch etwas anderem. Wir finden zwar dieselbe Vorstellung, daß man die Grenze anstreben soll, aber diese Grenze besteht keineswegs in einem Gleichgewicht zwischen dem Maximum an Lust und dem Minimum an Mitteln. Im Gegenteil wird es um die Reduktion jeglicher Lust gehen, und zwar so, daß weder dieN ahrung noch die Getränke jemals an sich irgendeine Art der Lust hervorrufen. Es gibt also zugleich eine Kontinuität und eine bestimmte Bewegung zu einer Grenze hin. Man könnte auch an die christliche Askese denken, und zwar sowohl, wie sie sich mit großer Intensität im 3· und 4· Jahrhundert entwickelt, als auch, wie sie anschließend begrenzt, reguliert und in bestimmte Formen des Zönobitismus integriert und fast schon sozialisiert wird. Bevor sie jedoch die Formen des Zönobitismus in seinem gewissermaßen wilden und freien Aspekt angenommen hat, findet man in dieser Askese wie im Kynismus die Themen des Skandals, der Gleichgültigkeit gegenüber den Meinungen der anderen, auch der Gleichgültigkeit gegenüber den Machtstrukturen und ihrer Vertreter. Ich zitiere Ihnen aus dem Immerwährenden Gebet bei den Vätern einen Text, der sich auf den Abt Theodor von Pherme bezieht, der eines Tages Besuch von einem Mächtigen erhielt. Gerade als dieser Mann ihn besucht, bemerkt ein anderer Asket, daß der Abt Theodor eine entblößte Schulter und nackte Brust hat. 410
Er weist den Abt darauf hin, welcher erwidert: Sind wir die Sklaven der Menschen? Ich treffe jedenfalls die Menschen, so wie ich bin. Wenn mich einer besucht, antworte ihm nichts Menschliches (anthropinon). Wenn ich esse, sag ihm: Er ißt. Wenn ich schlafe, sag ihm: Er schläft. Mit dem Ausdruck »Menschlichkeit« bezieht sich der Text wohl auf die Menschlichkeit in ihrer Materialität, aber so, daß diese an Konventionen gebunden ist, durch die sie in der Form dessen, was für die gesamte Menschheit annehmbar ist, gemildert und sozialisiert wird. Wenn man ißt, dann ißt man. Wenn man schläft, dann schläft man. Diese Roheit der materiellen Existenz soll gegen alle Werte der Menschlichkeit behauptet werden. In der christlichen Askese finden Sie auch einen gewissermaßen bestialischen Zug, der in einer Reihe von Texten offen zutage tritt. Beispielsweise berichtet Gregor der Große von St. Benedikt, daß er sich in seiner Höhle versteckte, als die Hirten ihn entdeckten, und als sie ihn im Dickicht mit einer Tierhaut bekleidet sahen, glaubten sie zuerst, daß er ein Tier sei.22 Die Tiernatur des christlichen Asketen kommt sehr häufig in den Geschichten über das Eremitenturn vor. Oder auch die folgende Geschichte, [die denen der] heiligen Anachoreten [entnommen ist] und die im dritten Band der Moines d'Orient von Festugiere übersetzt wurde. 23 Es handelt sich um einen Einsiedler, der vollkommen nackt lebte und der, so der Text, wie die Tiere Gras aß. Er konnte nicht einmal den Geruch eines Menschen ertragen. Hier geht es um die Behauptung der vollen Tiernatur, und der Ruf dieses Einsiedlers ist so, daß ein Christ, der selbst sehr asketisch, aber in der Askese weniger fortgeschritten ist, ihn treffen möchte und ihn verfolgt. Der Christ, der ihn verfolgt, ist so arm und hat sich so um seine eigene Armut gesorgt, daß er nur mit einem Leinensack bekleidet ist. Aber der Einsiedler selbst ist nackt. Der Einsiedler flieht nun vor dem Mann, der versucht, ihn zu verfolgen und ihm zu begegnen. Der andere läuft hinter ihm her und verliert dabei seine Bekleidung. Er ist nun also genauso nackt wie der Einsiedler, den er verfolgt. In diesem Augenblick bleibt der Einsiedler, der 411
bemerkt hat, daß sein Verfolger seine Bekleidung verloren hat, stehen und sagt zu ihm: Ich bleibe stehen, weil du jetzt den Schlamm der Welt abgeworfen hast. Man müßte auf all das genauer eingehen, aber mir scheint doch, daß man in diesen Praktiken des asketischen Lebens eine Reihe von Elementen wiederfinden würde, die in einer Kontinuität zur kynischen Askese stehen, manchmal mit ihr übereinstimmen, aber auch über sie hinausgehen. Nur hat die christliche Askese im Vergleich zur kynischen Tradition eine Reihe von anderen Elementen beigetragen. Auch hier wäre ich geneigt, gegenwärtig zwei Dinge hervorzuheben, die mir wichtig zu sein scheinen, wenn ich eine solche Geschichte des Übergangs von der kynischen Askese zur christlichen Askese zu schreiben hätte. Erstens gibt es in der christlichen Askese natürlich eine Beziehung zum Jenseits, und nicht zu einer anderen Welt. Selbst wenn Sie also in einer Strömung des Christentums -das ist gewiß eines der großen Probleme, wie man bei Origenes sehen kann- das Thema einer bestimmten Katastasis der Welt finden (Origenes hätte »Apokatastasis« gesagt), durch die die Welt zu ihrem ursprünglichen Zustand zurückkehrt, so ist doch die Vorstellung im Christentum recht beständig, daß das andere Leben, dem sich der Asket widmen soll und das er erwählt hat, nicht einfach nur zum Ziel hat, diese Welt zu verwandeln- wie gesagt, was auch immer das Thema der Katastasis oder der Apokatastasis sein mag -, sondern es hat auch und vor allem den Zweck, den Menschen, eventuell allen Christen, der gesamten christlichen Gemeinschaft Zugang zu einer anderen Welt zu verschaffen. Insofern kann man, glaube ich, sagen, daß einer der Gewaltstreiche des Christentums bzw. seine philosophische Bedeutung darin bestand, daß es das Thema eines anderen Lebens als wahres Leben und die Idee eines Zugangs zum Jenseits als Zugang zur Wahrheit miteinander verbunden hat. [Einerseits] ein wahres Leben, das ein anderes Leben im Diesseits ist, [andererseits] der Zugang zumJenseits als Zugang zur Wahrheit und zu dem, was folglich die Wahrheit dieses
wahren Lebens begründet, das man im Diesseits führt: Diese Struktur ist, wie mir scheint, die Kombination, der Punkt der Begegnung, der Verbindungspunkt zwischen einer ursprünglich kynischen Askese und einer Metaphysik platonischen Ursprungs. Das ist sehr schematisch, aber mir scheint, daß wir hier einen der ersten großen Unterschiede zwischen der christlichen und der kynischen Askese haben. Die christliche Askese ist schließlich durch eine Reihe von historischen Prozessen, die man natürlich genauer betrachten müßte, dazu gelangt, die platonische Metaphysik mit dieser Vision, mit dieser historischkritischen Welterfahrung zu verbinden. Der zweite große Unterschied ist von ganz anderer Art. Es handelt sich um die Bedeutung, die im Christentum, und nur im Christentum, etwas beigemessen wird, das man weder im Kynismus noch im Platonismus antrifft, nämlich dem Prinzip des Gehorsams, des Gehorsams im weiten Sinne des Begriffs. Gehorsam gegenüber Gott, verstanden als Herr (als despotes), dessen Sklave und Diener man ist; Gehorsam gegenüber Seinem Willen, der zugleich die Form des Gesetzes annimmt; Gehorsam schließlich gegenüber denen, die den despotes (den Herrn und Meister) vertreten und die von Ihm eine Autorität erhalten haben, der man sich völlig unterwerfen muß. Mir scheint also, daß der andere Wendepunkt in dieser langen Geschichte der erzählten Askese als Kontrapunkt gegenüber dem Verhältnis zumJenseits das Prinzip eines Gehorsams einem anderen gegenüber im Diesseits und vom Diesseits aus ist mit dem Ziel, Zugang zum wahren Leben zu erlangen. Ein wahres Leben gibt es nur durch den Gehorsam gegenüber dem anderen, und ein wahres Leben gibt es nur mit dem Ziel, Zugang zumJenseits zu erlangen. Diese Art und Weise, das Prinzip des anderen Lebens als wahres Leben an den Gehorsam gegenüber dem anderen im Diesseits und an den Zugang zum Jenseits in einem anderen Leben zu heften, diese Art und Weise, ein platonisches Element und ein anderes, das eigentlich christlich oder jüdisch-christlich ist, miteinander zu verketten, diese Verbindung wird für die beiden großen Wendepunkte der kynischen
Askese sorgen und den Übergang von der kynischen zur christlichen Form herstellen. Man bräuehre also den Unterschied zwischen dem Heidentum und dem Christentum gar nicht als einen Unterschied zwischen einer christlichen asketischen Moral und einer nicht-asketischen Moral der Antike zu charakterisieren. Das ist, wie Sie wissen, ein völliges Hirngespinst. Die Askese war eine Erfindung der heidnischen Antike, der griechischen und römischen Antike. Wir dürfen also nicht die nicht-asketische Moral der heidnischen Antike der asketischen Moral des Christentums entgegensetzen. Wir dürfen auch nicht, meine ich, so wie etwa Nietzsche, eine antike Askese, nämlich die des gewalttätigen und aristokratischen Griechenlands, im Gegensatz zu einer anderen Form der Askese charakterisieren, die die Seele vom Körper trennt. Der Unterschied zwischen der christlichen Askese und anderen Formen, die sie vorbereitet haben und ihr vorausgingen, muß in dieses zweifache Verhältnis gestellt werden: das Verhältnis zum Jenseits, zu dem man dank dieser Askese Zugang hätte, und das Prinzip des Gehorsams dem anderen gegenüber (Gehorsam dem anderen gegenüber im Diesseits, Gehorsam gegenüber dem anderen, der zugleich Gehorsam gegenüber Gott und den Menschen ist, die ihn vertreten). Auf diese Weise könnte man sehen, wie sich ein neuer Stil des Selbstverhältnisses abzeichnet, ein neuer Typ von Machtverhältnissen, eine andere Ordnung der Wahrheit. Diese grundlegenden Veränderungen, die äußerst komplex sind und die ich jetzt nur ganz schematisch skizziere, kann man, glaube ich, ganz gut auf der Oberfläche anhand der Entwicklung des Begriffs der parrhesia als Weise der Selbstbeziehung und Beziehung zu den anderen verfolgen, anhand der Ausübung des Wahrsprechens in der christlichen Erfahrung. Diesen Begriff der parrhesia in der christlichen Erfahrung als Verhältnis zumJenseits und zu Gott, als Verhältnis des Gehorsams gegenüber den anderen und gegenüber Gott, möchte ich Ihnen jetzt kurz erläutern. Wir machen fünf Minuten Pause und sprechen dann über die parrhesia in den ersten christlichen Texten.
Anmerkungen I Epiktet, Gespräche, in: Epiktet, Telesund Musonius, Buch III, Gespräch 22, 95, übers. v. W. Capelle, Zürich I94S, S. I4I. 2 Ebd. 3 Ebd., III, 22, 48-49> s. I 35. 4 Ebd., III, 22, 6o, S. I36. 5 Ebd., III, 22, 96, S. I4L 6 »Denn Kundschafter (kataskopos) ist der Kyniker, dessen nämlich, was den Menschen gut und was ihnen schädlich ist. Und wenn er im Gelände scharf zugesehen hat, muß er zurückkommen und die Wahrheit berichten, ohne von Furcht benommen oder auf andere Weise von falschen Vorstellungen betört und verwirrt zu sein S.q2-I43· I6 Ebd., III, 22, 77, S. I39· I7 Vgl. zu dieser Kritik (hauptsächlich im Ausgang von Plutarchs De curiositate) L'Hermeneutique du sujet, a. a. 0., S. 2I0-2I3; dt.: S. 275-280. I 8 Epiktet, Gespräche, III, 22, 96, S. 141. I9 Ebd., III, 22, 97, S. I42. 20 Ebd., III, 22, 98, S. I42. 2I Ebd., III, 22, 26-27, S. IJZ. 22 Dialogues de Gregoire le Grand, Bd. II, II. Buch: Vie et miracles du venerable abbe Benoit, II, I, 8, übers. V. P. Antin, Paris I979> s. I37· 23 Les Moines d'Orient, übers. v.A.-J. Festugiere, Paris I96I-I965 (IIIII, III/z und III/3: Les Moines de Palestine). Foucault bezieht sich auf eine Anmerkung von Festugiere (III/3, S. I 5> Anm. n), der eine Anekdote über die Eremiten von Ägypten berichtet, »die völlig nackt leben, ohne weitere Kleidung als ihre Haare«. Festugiere zitiert einen Text aus Peri anakoreton hagion: »eiden anthropon boskomenon hos ta theria« (er sah einen Mann, der Gras abweidete wie ein wildes Tier; in: H. Koch, Quellen zur Geschichte der Askese und des Mönchtums in der Alten
Kirche, Tübingen 1933, S. II8-12o). Zu diesem Beispiel schreibt Festugiere: »Der Autor fügt hinzu, daß dieser Eremit flieht, da er den Geruch eines Menschen nicht ertragen kann. Der andere setzt ihm nach und wirft während dieser Verfolgung seine Tunika weg (lebetona). Der Eremit bleibt daraufhin stehen und, da er den Besucher nun ganz nackt sieht, empfängt ihn und sagt: »Weil du die hyle tou kosmou abgeworfen hast, habe ich auf dich gewartet« (ebd.).
Vorlesung 9 (Sitzung vom 28. März 1984, zweite Stunde)
Die Verwendung des Begriffs parrhesia in den ersten vorchristlichen Texten: menschliche und göttliche Modalitäten. - Die parrhesia im Neuen Testament: vertrauender Glaube und Öffnung des Herzens. -Die parrhesia bei den Kirchenvätern: die Unverschämtheit. -Entwicklung eines antiparrhesiastischen Pols: die argwöhnische Selbsterkenntnis. -Die Wahrheit des Lebens als Bedingung für den Zugang zu einer anderen Welt.
Zunächst einige Hinweise - die auch hier völlig skizzenhaft und in Form von Hypothesen ausfallen- zu der sehr merkwürdigen Entwicklung der Bedeutung des Begriffs der parrhesia in den ersten christlichen Texten. Eigentlich möchte ich diese Hinweise um drei Probleme herum anordnen. Erstens die Verwendung des Wortes in vorchristlichen Texten (in jenen, die aus den jüdisch-griechischen Milieus hervorgingen, im wesentlichen bei Philon von Alexandria und in der Version der Septuaginta [der Bibel]; zweitens der Begriff der parrhesia in den apostolischen Texten, vor allem in den patristischen Texten, sowie [drittens] in denen der christlichen Askese der ersten Jahrhunderte. Zunächst einige Worte zur Verwendung des Begriffs in den jüdisch-hellenistischen Texten. Hier bin ich natürlich überhaupt nicht kompetent, und zwar aus dem ganz einfachen Grund, daß ich kein Hebräisch kann, was zumindest dann unverzichtbar wäre, wenn man die Version der Septuaginta etwas genauer untersuchen wollte. Ich beziehe mich auf Hinweise, die man in einer Reihe von bereits durchgeführten Untersuchungen finden kann. Unter denen, die am besten zugänglich sind, gibt es [die] von Schlier in dem Artikel »ParrhesiaEr war noch nackt[ ...], mit Freimut (en parrhesia) blickte er in Gottes Antlitz, noch nicht konnte er durch Geschmacks- und Gesichtssinn das Schöne beurteilen, einzig am Herrn hatte er seine Freude[...].« 18 Das überschneidet sich mit der Vorstellung eines ursprünglichen Lebens bei den Kynikern, das zugleich auch ein wahres Leben ist, zu dem man zurückkehren soll, ein Leben der Entsagung und Nacktheit. Sie finden hier die Vorstellung einer parrhesia als parrhesia des Gegenübers zu Gott wieder. In diesem ursprünglichen Zustand des Verhältnisses der Menschheit zu Gott haben die Menschen volles Vertrauen. Sie befinden sich in der parrhesia mit Gott: Öffnung des Herzens, unmittelbare Gegenwart, direkte Kommunikation der Seele mit Gott. Es gibt eine Reihe von Texten wie diesen hier, die aber am Ende vielleicht weniger aussage-
kräftig sind. Sie sehen, daß der Begriff der parrhesia mit dem positiven Wert des Verhältnisses zu den anderen erscheint, insofern man in der Lage ist, bis einschließlich zum Märtyrertod den Mut zur Wahrheit aufzubringen. Diesen Mut zur Wahrheit kann man nur insoweit haben, als man ihn in einer Beziehung des Vertrauens auf Gott verankert oder Wurzeln schlagen läßt, die uns Ihm in einer Art des Gegenübers am nächsten bringt, das zumindest bis zu einem gewissen Grad an das ursprüngliche Gegenüber des Menschen und seines Schöpfers erinnert. Das ist der positive Kern dieses Begriffs der parrhesia. Nur, insofern sich im Leben des Christentums, in der christlichen Praxis, in den christlichen Institutionen das Prinzip des Gehorsams durchsetzt, und zwar ebensowohl in der Beziehung zu sich selbst wie in der Beziehung zur Wahrheit, wird dieses Verhältnis des Vertrauens - worin die parrhesia bestand- des Menschen zu sich selbst, das sich auf ein Verhältnis des Vertrauens des Menschen zu Gott stützte, dieses Vertrauen (Vertrauen auf das Heil, Vertrauen, daß Gott einen hören wird, daß man Gott nahe ist, daß sich die Seele Gott öffnet) wird sich in einem gewissen Sinne verdunkeln, es wird gegenüber seinem eigenen Ursprung und seiner ursprünglichen Achse erzittern und sich gleichsam mit einem Schleier überziehen. Das Thema der parrhesia als Vertrauen wird durch das Prinzip eines zitternden Gehorsams ersetzt werden, bei dem der Christ Gott zu fürchten hat und die Notwendigkeit erkennen muß, sich dem Willen Gottes zu unterwerfen und dem Willen derer, die ihn vertreten. Wir werden sehen, wie sich das Thema des Mißtrauens gegenüber sich selbst entwickelt sowie die Regel des Schweigens. Aufgrund dessen wird die parrhesia als Öffnung des Herzens, als Vertrauensverhältnis, durch die der Mensch und Gott einander gegenüberstehen und ganz nahe sind, davon bedroht, immer mehr als eine Art von Arroganz und Dünkelhaftigkeit zu erscheinen. Das alles würde natürlich erfordern, weiter ausgearbeitet zu werden, aber Sie sehen, daß- sagen wir vom 4· Jahrhundert an, aber immer deutlicher im 5. und 6. Jahrhundert- sich im Chri-
stentum die Autoritätsstrukturen entwickeln, durch die die individuelle Askese innerhalb der institutionellen Strukturen, wie jener des Zönobitismus des kollektiven Mönchtums einerseits und jener des Pastorats andererseits gleichsam eingebettet wird, durch die die Leitung der Seelen Pastoren, Priestern oder Bischöfen anvertraut wird. Zugleich mit der Entwicklung dieser Strukturen wird das Thema eines Verhältnisses zu Gott, das nur durch den Gehorsam vermittelt werden kann, als Voraussetzung und Folge die Vorstellung nach sich ziehen, daß das Individuum nicht durch sich selbst in der Lage ist, sein Heil zu erlangen, daß es durch sich selbst nicht dazu fähig ist, dieses Gegenüber zu Gott wiederzufinden, das seine ursprüngliche Existenz charakterisierte. Und wenn es nicht in der Lage ist, durch sich selbst, durch die Bewegung seiner Seele, durch die Öffnung seines Herzens dieses Verhältnis zu Gott herzustellen, wenn es dieses Verhältnis nur durch die Vermittlung jener Autoritätsstrukturen herstellen kann, dann ist das eben ein Zeichen dafür, daß es sich selbst mißtrauen soll. Es soll nicht glauben, es soll sich nicht vorstellen, es soll nicht die Arroganz haben zu denken, daß es durch sich selbst fähig sei, sein eigenes Heil zu erlangen und den Weg der Öffnung zu Gott zu finden. Es selbst soll für sich ein Gegenstand des Mißtrauens sein. Es soll Gegenstand einer aufmerksamen, gewissenhaften, argwöhnischen Wachsamkeit sein. Durch sich und in sich selbst kann es nichts anderes als das Böse finden, und nur durch den Verzicht auf sich selbst und die praktische Umsetzung des allgemeinen Prinzips des Gehorsams kann der Mensch sein Heil erlangen. Diese parrhesia, die doch zu jener Art von Vertrauensverhältnis geworden war, zur Öffnung des Herzens, die den Menschen an Gott binden konnte, wird als solche verschwinden, oder vielmehr wird sie als Vertrauen im Lichte eines Mangels, im Lichte einer Gefahr, im Lichte eines Lasters erscheinen. Die parrhesia als Vertrauen ist dem Prinzip der Gottesfurcht fremd. Sie ist dem Gefühl entgegengesetzt, das notwendig ist für die Entfernung von der Welt und den weltlichen Dingen.
Die parrhesia erscheint als unvereinbar mit dem nun strengen Blick, den man auf sich selbst richten soll. Wer sein Heil erlangen mag- d. h., wer Gott fürchtet, wer sich fremd in der Welt fühlt, überwacht sich selbst und soll sich unablässig überwachen -, kann unmöglich diese parrhesia besitzen, dieses frohlockende Vertrauen, durch das er mit Gott verbunden war, zu Ihm getragen wurde, bis daß er Ihn in einem direkten Gegenüber erfaßte. Die parrhesia erscheint jetzt also als ein tadelnswertes Verhalten der Anmaßung, der Vertrautheit und des arroganten Selbstvertrauens. So finden wir eine Reihe von Texten, insbesondere in der asketischen Literatur und im Immerwährenden Gebet bei den Vätern. Beispielsweise haben wir folgendes Apophtegma: Sei nicht der Vertraute des Higumenen (des Vorstehers der Gemeinschaft), suche ihn nicht zu häufig auf, denn du wirst eine gewisse parrhesia daraus beziehen und schließlich wirst du deinerseits Vorsteher werden wollen. 19 Der berühmteste Text und der grundlegendste in dieser neuen Kritik der parrhesia ist das Apophtegma von Agathon (das erste in der alphabetischen Liste). Ein junger Mann besucht Agathon und sagt zu ihm: »Ich möchte mit den Brüdern zusammenleben; sag mir, auf welche Weise man das tun soll.« Agathons Antwort ist: »Behalte alle Tage deines Lebens die geistige Haltung eines Fremden, die du am ersten Tag hattest, als du zu ihnen gingst, um mit ihnen nicht zu vertraulich zu werden.« 20 Und er fährt fort: Was gibt es Schlimmeres als die parrhesia? Nichts, sagt er. »Sie ist einem großen Glutwind ähnlich: Wenn er entsteht, fliehen alle vor ihm, und die Frucht der Bäume verdirbt er.« 21 Der Kontext dieses Apophtegmas ist interessant, und er läßt sich sehr schematisch folgendermaßen rekonstruieren. Es geht, wie Sie sehen, um die Frage nach dem Leben in der Gemeinschaft. Es geht um einen jungen Mönch, der kommt, um die Askese zu praktizieren, aber gemeinsam mit den Brüdern. Nun gibt es aber in diesem neuen Leben, also mit den Brüdern, unter der Autorität eines Higumenen und mit einer gemeinsamen Regel eine Gefahr. Die Gefahr besteht darin, daß der Mönch, der auf
diese Weise mit den anderen verbunden ist, ein weltliches Leben im vollen Vertrauen führt, ohne sich selbst und den anderen zu mißtrauen, und daß er die parrhesia praktiziert, eine parrhesia, von der man weiß, daß sie Vertrauen in sich selbst, Vertrauen in die anderen, Vertrauen in das ist, was man gemeinsam erreichen kann, und folglich vergißt, daß man sich in einem wahrhaft asketischen Leben immer der Arbeit an sich selbst, der Entzifferung seiner selbst widmen muß, was ein Mißtrauen gegenüber sich selbst, Furcht im Hinblick auf das Heil und Zittern vor dem Willen Gottes einschließt. Dieser Text der Apophtegmata Agathons wird etwas später von Dorotheus von Gaza im IV. Buch seiner Unterweisungen wiederaufgenommen. Er nimmt dieses Apophtegma auf, um es zu kommentieren, und kommentiert es, indem er folgendes sagt, worin man, glaube ich, die Elemente jener anti-paTrhesia findet, die im Begriff ist, sich zu entwickeln: »Wir jagen aber die Furcht Gottes weit von uns [... ], weil wir weder das Gedenken an den Tod noch das Gedenken an die Strafen in uns haben, weil wir nicht auf uns selbst achthaben, weil wir uns nicht selbst prüfen, wie wir gelebt haben, sondern einfach so dahinleben und uns mit gleichgültigen Menschen abgeben, weil wir vertraulich sind. Das ist das Schlimmste von allem, das ist der völlige Untergang.« 22 Wenn man die verschiedenen Elemente betrachtet, die diese parrhesia charakterisieren, so zeigt sie sich darin, daß man die Gottesfurcht weit von sich jagt, indem man weder an den Tod noch an die Bestrafung denkt. In jenem vorgeblichen Gottvertrauen vollzieht man in Wirklichkeit eine Umkehr und wendet sich von der Gottesfurcht ab, einer Furcht davor, was im Augenblick des Todes geschehen wird, einer Furcht vor dem Jüngsten Gericht und einer Furcht vor den Strafen dieses Gerichts. Das zweite Merkmal dieser parrhesia, die jetzt zu einem Mangel und einem Laster geworden ist: Nicht nur fürchtet man Gott nicht, sondern man achtet auch nicht auf sich selbst. >>Wir jagen aber die Furcht Gottes weit von uns [... ],weil wir weder das Gedenken an den Tod noch das Gedenken an die Strafen in uns haben, weil wir nicht 431
auf uns selbst achthaben, weil wir uns nicht selbst prüfen.« 23 Sie sehen hier, daß die parrhesia jetzt eine Vernachlässigung seiner selbst ist, während sie früher Sorge um sich selbst war. Man kümmert sich nicht um sich selbst, man hat sich selbst gegenüber nicht das nötige Mißtrauen. Drittens: »weil wir einfach so dahinleben und uns mit gleichgültigen Menschen abgeben.« 24 Dieses Mal geht es um das Vertrauen auf die Welt. Die Vertrautheit mit der Welt, die Gewohnheit, inmitten der anderen zu leben, gutzuheißen, was sie tun und sagen, alle diese Bindungen sind der notwendigen Fremdheit, die wir gegenüber der Welt haben sollen, feindlich und entgegengesetzt. Dadurch wird also die parrhesia bestimmt: keine Furcht vor Gott, kein Mißtrauen gegenüber sich selbst, kein Mißtrauen gegenüber der Welt. Sie ist ein arrogantes Vertrauen. Dorotheus von Gaza fährt fort, indem er sagt, was ebenfalls interessant ist: »Die parrhesia (die Vertraulichkeit) ist aber sehr vielgestaltig: Es kann jemand vertraulich sein durch ein Wort, durch eine Berührung oder durch einen Blick. Durch die parrhesia gelangt man zu unnützem Geschwätz und dazu, Weltliches zu reden.« 25 In diesem gemeinschaftlichen, ZÖnobitischen Leben treibt die parrhesia zu unnützem Geschwätz und dazu, von weltlichen Dingen zu sprechen. »Parrhesia ist es auch, jemanden ohne Notwendigkeit zu berühren, seine Hand beim Lachen nach jemandem auszustrecken, jemanden zu stoßen oder etwas von ihm zu nehmen, ihn schamlos zu betrachten.« 26 Von dieser ganzen Vertrautheit, der physischen, körperlichen Vertrautheit, die man im Gemeinschaftsleben haben kann, soll man sich dadurch lösen, daß man sich selbst mißtraut, den anderen mißtraut und Gott fürchtet. Und schließlich besteht die parrhesia darin, daß man ohne Scham (anaidos) einen Bruder anblicktP »Denn ohne Ehrfurcht ehrt man selbst Gott nicht, noch beachtet man jemals irgendein Gebot.« 28 Sie sehen, daß die parrhesia hier auf ganz merkwürdige Weise gleichsam als Mangel an Ehrfurcht erscheint. Es ist nicht unmöglich, daß es hier einen ausdrücklichen Bezug aufalldas gibt, was im Verständnis der Griechen das Problem der parrhesia an das stoi432
sehe und kynische Problem der aidos oder der anaideia (Scham und Schamlosigkeit) knüpfte. Aber selbst ohne diesen ausdrücklichen Bezug finden wir hier das Problem der parrhesia als Selbstvertrauen wieder, das die notwendige Achtung, die den anderen gebührt, verkennt. Daraus folgt: die Entleerung der parrhesia als Arroganz und Selbstvertrauen; die Notwendigkeit der Achtung, die ihre ursprüngliche Form und ihre wesentliche Manifestation im Gehorsam haben muß. Wo Gehorsam herrscht, kann es keine parrhesia geben. Wir finden also das wieder, was ich Ihnen vorhin gesagt habe, nämlich daß das Problem des Gehorsams sich im Zentrum dieser Umkehrung der Werte der parrhesia befindet. Die positive Auffassung macht aus der parrhesia ein Vertrauen ':l.uf Gott, ein Vertrauen als das Element, durch das der Mensch die Wahrheit, mit der er beauftragt ist, sagen kann, wenn er ein Apostel oder ein Märtyrer ist. Die parrhesia ist auch das Vertrauen, das man in die Liebe Gottes hat und in die Art und Weise, wie Gott den Menschen empfangen wird, wenn der Tag des Jüngsten Gerichts kommt. Diese Auffassung der parrhesia hat um sich herum etwas auskristallisiert, was man den parrhesiastischen Pol des Christentums nennen könnte, demzufolge das Verhältnis zur Wahrheit im Gegenüber mit Gott hergestellt wird und im Vertrauen, einem menschlichen Vertrauen, das dem Ausfluß der göttlichen Liebe entspricht. Dieser parrhesiastische Pol scheint mir am Ursprung dessen gewesen zu sein, was man die große mystische Tradition des Christentums nennen könnte. Wer ausreichend Vertrauen in Gott besitzt, wer ein ausreichend reines Herz hat, um sich Gott gegenüber öffnen zu können, dem wird Gott durch eine Bewegung antworten, die sein Heil garantiert und ihm ermöglicht, einen Zugang zu einem ewigen Gegenüber mit [Ihm] zu haben. So sieht die positive Funktion der parrhesia aus. Dann gibt es im Christentum noch einen anderen Pol, einen anti-parrhesiastischen Pol, der nicht die mystische, sondern die asketische Tradition begründet. Das ist der Pol, demzufolge das Verhältnis zur Wahrheit nur im furchtsamen und ehrerbie433
tigen Gehorsam gegenüber Gott und in Form einer argwöhnischen Selbstentzifferung durch Versuchungen und Prüfungen hergestellt werden kann. Dieser anti-parrhesiastische, asketische Pol ohne Vertrauen, dieser Pol des Mißtrauens gegenüber sich selbst und der Furcht vor Gott ist nicht weniger wichtig als der parrhesiastische Pol. Ich würde sogar sagen, daß er in historischer und institutioneller Hinsicht viel wichtiger war, weil sich schließlich um ihn herum alle pastoralen Institutionen des Christentums entwickelt haben. Und das lange und schwierige Fortbestehen der Mystik, der mystischen Erfahrung im Christentum ist nichts anderes, wie mir scheint, als das Überleben des parrhesiastischen Pols des Vertrauens auf Gott, das nicht ohne Mühe an den Rändern gegen das große Unternehmen des anti-parrhesiastischen Argwohns weiterexistierte, den der Mensch sich selbst und den anderen gegenüber aus Gehorsam gegen Gott und in der Furcht und dem Zittern vor demselben Gott zu beweisen und zu praktizieren berufen 1St.
Künftig wird mit der Entwicklung des anti-parrhesiastischen, nicht-parrhesiastischen, asketischen Pols die Wahrheit über sich selbst oder auch das Problem der Beziehungen zwischen der Erkenntnis der Wahrheit und der Wahrheit über sich selbst nicht mehr die gewissermaßen volle und ganze Form einer anderen Lebensweise annehmen können, die zugleich eine Lebensweise der Wahrheit und eine Lebensweise wäre, durch die man die Wahrheit über sich selbst erkennen könnte. Künftig wird die Selbsterkenntnis (die Erkenntnis im Hinblick auf sich selbst, die Erkenntnis seiner selbst) eine der grundlegenden Bedingungen und sogar die Vorbedingung der Reinigung der Seele sein und folglich auch für den Augenblick gelten, in dem man endlich das Vertrauensverhältnis mit Gott erreichen kann. Man wird das wahre Leben nur unter der Vorbedingung erreichen, daß man diese Entzifferung der Wahrheit an sich selbst praktiziert hat. Die Wahrheit über sich selbst in dieser Welt entziffern, sich selbst im Mißtrauen gegenüber sich selbst und der Welt entzif434
fern, und zwar in der Furcht und im Zittern vor Gott, dies und dies allein kann uns Zugang zum wahren Leben verschaffen. Wahrheit des Lebens vor dem wahren Leben, in dieser Umkehrung hat die christliche Askese auf grundlegende Weise eine antike Askese verändert, die immer danach strebte, sowohl das wahre Leben als auch das Leben der Wahrheit zu führen und die zumindest im Kynismus die Möglichkeit behauptete, dieses wahre Leben der Wahrheit auch tatsächlich zu führen. Nun also, hören Sie, ich hatte vor, Ihnen einige Dinge zum allgemeinen Rahmen dieser Analysen zu sagen.''- Aber jetzt ist es zu spät. Also dann, dankeschön. , _ M. E bezieht sich hier auf die ganzen folgenden Ausführungen, die das Manuskript aus dem Jahr 1984 abschließen: »Beziehungen zwischen Subjekt und Wahrheit Al Diese in der Antike untersuchen: genauer in jener langen Zeitspanne, die sich vom klassischen Griechenland bis zu dem erstreckt, was man Spätantike oder den Beginn des Christentums nennt; hier handelt es sich um den anderen Aspekt des Ereignisses, das die Philosophiehistoriker gut kennen, bei dem die Beziehungen zwischen dem Sein und der Wahrheit nach dem Modus der Metaphysik bestimmt werden. BI Diese Beziehungen habe ich relativ unabhängig von dieser hier zu erforschen versucht(= eine Unabhängigkeit, die ebenso die Existenz von Beziehungen impliziert); ich habe sie vom Gesichtspunkt der Selbstpraxis zu erforschen versucht. a: d. h., indem ich die Analysen soweit wie möglich diesseits der Definition des Subjekts als Seele hielt und meinen Blick auf das Problem des Selbst, des Verhältnisses zu sich selbst fixierte; natürlich nimmt dieses Selbstverhältnis oft die Form der Beziehung zur Seele an, aber es wäre offenbar etwas reduktionistisch, wenn man sich damit begnügen würde, und die Verschiedenartigkeit der Bedeutungen, die mit dem Begriff der psyche verbunden werden, läßt sich verstehen oder zumindest erhellen, wenn man annimmt, daß die Beziehung zur Seele Teil eines Ganzen ist: Beziehung zum bios, zum Körper, zu den Leidenschaften, zu den Ereigmssen. b: und diese Beziehungen habe ich versucht als Themen von Praktiken zu analysieren, d. h. als Gegenstände der Bearbeitung nach technischen Verfahren, über die man nachdenkt, die man verändert und perfektioniert; die man lehrt und anhand von Beispielen weitergibt; die man sein ganzes Leben lang befolgt, und zwar entweder zu bestimmten privilegierten und ausgewählten Zeiten oder regelmäßig und kontinuierlich;
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diese Praktiken wurzeln in einer grundlegenden Haltung, nämlich im Kümmern um sich selbst, in der Sorge um sich; und sie haben zum Zweck, ein ethos, eine Weise zu sein und zu handeln, eine Weise des Verhaltens hervorzubringen, die gewissen rationalen Prinzipien entspricht und die Ausübung der Freiheit, verstanden als Unabhängigkeit, begründet; die Erforschung der Selbstpraktiken ist also die Untersuchung der konkreten Formen, Vorschriften und Techniken, die von der Sorge um sich in ihrer ethopoietischen Rolle befolgt werden. Cl Im Hinblick auf diese Beziehungen zu sich selbst dachte ich, daß man die Frage nach den Wahrheitsspielen stellen könnte, auf die sie sich berufen, auf die sie sich stützen und von denen sie bestimmte eigentümliche Wirkungen erwarten; und auf diese Frage gibt es mehrere Antworten: Die ethische Hervorbringung seiner selbst erfordert den Erwerb einer Reihe von mehr oder weniger zahlreichen und komplexen Erkenntnissen, die Bereiche betreffen, die mehr oder weniger ausgedehnt sind und dem Subjekt selbst mehr oder weniger nahe- oder fernstehen: die grundlegende Wahrheit über die Welt, das Leben, den Menschen usw.; praktische Wahrheiten über das, was man in diesen oder jenen Umständen tun soll; kurz, eine ganze Menge von Dingen, die gelernt werden müssen: die mathemata. Aber die Hervorbringung seiner selbst als ethisches Subjekt impliziert auch ein anderes Spiel der Wahrheit: Nicht mehr das Spiel des Erlernens, des Erwerbs wahrer Propositionen, mit denen man sich für das Leben und seine Ereignisse wappnet und ausrüstet, sondern das der auf sich selbst bezogenen Aufmerksamkeit, der Aufmerksamkeit auf das, was man zu tun fähig ist, auf den Grad der Abhängigkeit, den man erreicht hat, auf die Fortschritte, die man unternehmen muß und die zu tun bleiben; und diese Spiele der Wahrheit haben nichts mit den mathemata zu tun, sondern sind Übungen, die man an sich selbst vornimmt: Selbstprüfung; Prüfungen der Ausdauer und andere Kontrollen der Vorstellungen; die Dimension der askesis. Das ist nicht alles. Diese Übung der Wahrheit an sich selbst genügt nicht. Sie ist nur möglich und findet eine Grundlage nur in jener Haltung des Mutes zur Wahrheit: den Mut haben, die Wahrheit zu sagen, ohne etwas davon zu verbergen und trotz der Gefahren, die das mit sich bringt. Und hier begegnen wir dem Begriff der parrhesia: ursprünglich ein politischer Begriff, der sich, ohne diese ursprüngliche Bedeutung zu verlieren, abwandelt, indem er sich mit dem Prinzip der Sorge um sich selbst verbindet. Die parrhesia oder vielmehr das parrhesiastische Spiel erscheint unter zwei Aspekten: - der Mut, die Wahrheit demjenigen zu sagen, dem man helfen möchte und den man in der ethischen Bildung seiner selbst leiten möchte - der Mut, gegenüber allem die Wahrheit über sich selbst zu offenbaren, sich so zu zeigen, wie man ist.
An dieser Stelle erscheint der Kyniker: Er hat den unverschämten Mut, sich so zu zeigen, wie er ist; er besitzt die Kühnheit, die Wahrheit zu sagen; und in der Kritik, die er an den Regeln, Konventionen, Gebräuchen und Gewohnheiten übt, indem er sich in völliger Zwanglosigkeit und ganz aggressiv an die Herrscher und Mächtigen wendet, kehrt er das philosophische Leben und die Funktionen der politischen parrhesia um und dramatisiert sie auch. Ich weiß sehr wohl, daß ich den Eindruck erwecke, wenn ich die Dinge auf diese Weise präsentiere, dem Kynismus einen wesentlichen Ort in der antiken Ethik zuzuweisen und aus dem Kynismus eine absolut zentrale Figur zu machen, obwohl er doch zumindest von einem bestimmten Gesichtspunkt aus marginal und grenzwenig bleibt. Tatsächlich wollte ich mit dem Kynismus nur eine Grenze erkunden, eine der beiden Grenzen, zwischen denen die Themen der Sorge um sich und des Mutes zur Wahrheit sich entfalten. Es wäre also besser, die Dinge folgendermaßen zu präsentieren. Die antike Philosophie hat das eine mit dem anderen verbunden: das Prinzip der Sorge um sich selbst (die Pflicht, sich um sich selbst zu kümmern) und das Erfordernis des Mutes, die Wahrheit zu sagen und zu manifestieren. Tatsächlich hat es viele verschiedene Weisen gegeben, die Sorge um sich selbst und den Mut zur Wahrheit miteinander zu verbinden, und zweifellos kann man zwei extreme Formen, zwei entgegengesetzte Modalitäten erkennen, die jeweils auf ihre Weise die sokratische epimeleia und parrhesia weitergeführt haben. - Die platonische Modalität. Sie betont ganz entscheidend die Bedeutung und den Umfang der mathemata; sie gibt der Selbsterkenntnis die Form der Selbstbetrachtung und der ontologischen Anerkennung dessen, was die Seele in ihrem eigenen Sein ist; sie tendiert dazu, eine doppelte Spaltung herzustellen: zwischen Seele und Körper; zwischen der wahren Welt und der Welt der Erscheinungen; schließlich rührt ihre beträchtliche Bedeutung daher, daß sie diese Form der Sorge um sich selbst an die Begründung der Metaphysik binden konnte, während die Unterscheidung zwischen esoterischer Lehre und den allen zugänglichen Vorlesungen ihre politische Reichweite beschränkte. - Die kynische Modalität. Sie schränkt den Bereich der mathemata so streng wie möglich ein und verleiht der Selbsterkennmis die privilegierte Form der Übung, der Probe, der Praktiken der Ausdauer; sie versucht, den Menschen in der Nüchternheit seiner tierhaften Wahrheit zu offenbaren, und wenn sie gegenüber der Metaphysik zurückgeblieben ist, wenn sie ihrer großen historischen Nachwelt gegenüber fremd geblieben ist, so hat sie doch in der Geschichte des Abendlandes eine bestimmte Lebensweise hinterlassen, einen bestimmten bios, der auf verschiedene Weisen eine wesentliche Rolle gespielt hat. Wenn man die Frage nach den Beziehungen zwischen der Sorge um sich selbst und dem Mut zur Wahrheit stellt, dann scheint es, daß der Platonis-
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musund der Kynismus zwei große Formen darstellen, die sich gegenüberstehen und die jeweils eine andere Genealogie hervorgebracht haben: einerseits die psyche, die Selbsterkenntnis, die Arbeit der Reinigung, der Zugang zur anderen Welt; andererseits den bios, das Sich-selbst-auf-dieProbe-Stellen, die Reduktion auf die Tiernatur; der innerweltliche Kampf gegen die Welt. Aber was ich zum Abschluß hervorheben möchte, ist folgendes: Es gibt keine Einsetzung der Wahrheit ohne eine wesentliche Setzung der Andersheit; die Wahrheit ist nie dasselbe; Wahrheit kann es nur in Form der anderen Welt und des anderen Lebens geben.«
Anmerkungen I H. Schlier, »Parrhesia, parrhesiazomai«, in: G. Kittel, Hg., Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament; Stuttgart I949-I979, S. 869884. 2 S. B. Marrow, S.J., »Parrhesia and the N ew Testament