Manfred Weinland
Die Wahrheit der Bractonen Bad Earth Hardcover Band 23
ZAUBERMOND VERLAG
Was steckt wirklich hinte...
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Manfred Weinland
Die Wahrheit der Bractonen Bad Earth Hardcover Band 23
ZAUBERMOND VERLAG
Was steckt wirklich hinter »Charlie«, dem scheinbar von Yael geschaffenen Wesen? Und warum ist es ihm so wichtig, die Rubikon und vor allem die von Jarvis aufgenommene Ganfleiche ins Ankh-System zu bringen, dass er dafür sogar die Kontrolle der RUBIKON an sich reißt? Nur unter großen Anstrengungen und Opfern gelingt es, in das hermetisch abgeschirmte System einzudringen – doch dort erwartet die Crew um John Cloud das Unfassbare …
Was bisher geschah … Auf der Suche nach Saskana, der Heimatwelt des verstorbenen Boreguir, wird die RUBIKON-Crew im Zentrumsgebiet der heimatlichen Milchstraße Zeuge eines Raumgefechts. Eine goldene Kugel wird von fremden Raumschiffen angegriffen und vernichtet. Der Gloride Fontarayn wird als einziger Überlebender geborgen. Er stammt aus Andromeda und führt die RUBIKON hinter den Ereignishorizont des zentralen Milchstraßen-Black-Holes, wo sich eine sogenannte CHARDHIN-Perle befindet, die zu einem universellen Netz von Stationen gehört, welche zu jeder Zeit existieren. Mit Mühe kann die RUBIKON-Crew den Gefahren der Station trotzen. Wieder heil zurück im Normalraum, begegnen sie einem weiteren Gloriden namens Ovayran. Zum ersten Mal erfahren sie etwas über die Treymor, die Fontarayns Schiff vernichteten. Um der TreymorGefahr Herr zu werden, beschließt man den Aufbruch zur Andromeda-Perle. Bei einer Transition dorthin wird die RUBIKON jedoch zweihundert Jahre weit in die Zukunft geschleudert … und findet Andromeda völlig anders vor, als von Fontarayn beschrieben. Es häufen sich die Anzeichen, dass die Satoga, die vor zwei Jahrhunderten nach Andromeda aufbrachen, um sich dort friedlich anzusiedeln, verheerende Kriege gegen die hier beheimateten Völker geführt haben. Aber es kommt noch schlimmer: Die Andro-Perle steht kurz vor der Aufgabe durch die Gloriden und ihren Perlenweisesten. Als letzten Gefallen will er die RUBIKON in die Vergangenheit versetzen und ihr so die Möglichkeit geben, die Hintergründe des rasanten Verfalls des universellen Netzwerks aufzudecken. Scobee will diesen Transfer jedoch nicht mitmachen sondern bricht stattdessen mit Ovayran in dessen Schiff Richtung Milchstraße auf. John Cloud und die RUBIKON passieren indes die Portalschleuse der Andromeda-Perle und erreichen ihrerseits die Milchstraße, jedoch in einer anderen Zeit.
Nicht identifizierbare Objekte umschwärmen die MilchstraßenPerle. Cloud und Jarvis begegnen schließlich einem der legendären ERBAUER. Er nennt sich Kargor und übernimmt die volle Befehlsgewalt über die RUBIKON, die zu einer Mission in die Milchstraße aufbricht, von der laut Kargor der Fortbestand des ganzen Universums abhängen könnte. Im System Butterfly-M2 wird man schließlich fündig. Dort residiert der »Zeitverbrecher« Darnok, ganz in seinem Streben nach Rache aufgehend. Die Besatzung der RUBIKON überwältigt ihn, doch es sind Jahrzehntausende in der Milchstraße vergangen, als das Entartungsfeld endlich erlischt. Jahrzehntausende, in denen sich die Menschen auf der Erde und sämtliche anderen bekannten Hochzivilisationen, vom Rest der Galaxie abgeschnitten, fortentwickelt haben. Auch die Erde ist nicht mehr wiederzuerkennen. Ihr Besuch endet in einem Beinahe-Desaster, denn sie und der Mond sind zu einem von der sogenannten »Oortschale« umschlossenen Hohlweltkonstrukt geworden, in dessen Vakuumzone eine ganz neue Menschenspezies aktiv ist: die Vaku-Farmer. Bei ihrem Vorstoß zerstört die RUBIKON unbeabsichtigt »Weiden« der Farmer, worauf John Cloud vor ein Tribunal gestellt wird. Oberster Richter ist der mit einem Residenz-Gigahirn verwobene Reuben Cronenberg, der eine bizarre Unsterblichkeit erlangt hat. Der RUBIKON mit John Cloud gelingt die Flucht aus Cronenbergs Machtbereich, als eine Flotte von Treymor-Schiffen über der Erde auftaucht. Kurz darauf steht ein sehr viel angenehmeres Wiedersehen auf dem Programm: Kargor führt die Crew wieder mit Scobee zusammen und offenbart das Angksystem mit all seinen Geheimnissen. Als es dort auf dem Planeten Portas – wohin es zeitweise auch Jiims Sprössling Yael verschlägt – Anzeichen gibt, die darauf schließen lassen, dass die ERBAUER, die sich selbst Bractonen nennen und als Schöpfer unseres Universums zu erkennen geben, endlich wieder den Weg zurück in ihr angestammtes Kontinuum finden könnten, verabschiedet sich Kargor von der RUBIKON-Mannschaft, die enor-
men Zuwachs von den Angkwelten erhalten hat. In der Anomalie eines Milchstraßenplaneten trifft sie ausgerechnet auf Sobek. Der bringt die RUBIKON in seinen Besitz und steuert gemeinsam mit seiner Gefährtin Siroona die alte Heimat der Foronen, Samragh, an. Dort kommt es zum Duell mit Mecchit, der das wieder erblühende Foronenreich mit harter Hand regiert. Sobek siegt, Mecchit stirbt … aber dann kommt alles anders als erwartet. Ein in den Randgebieten Samraghs auftauchendes Phänomen – Tausende Sterne verschwinden ohne erkennbaren Grund – lockt Sobek an, und die Fremdtechnik aus der Anomalie, mit der er die RUBIKON unter seine Kontrolle bringen konnte, wird im Einflussbereich des Unfassbaren zerstört. Sobek stirbt. Und Siroona erhält von John Cloud die Chance ihr Volk auf einen friedlichen Weg zu führen. Bald darauf machen wieder einmal die Treymor von sich reden. Der Aquakubus, die vielleicht größte technische Leistung der Foronen, befindet sich in ihrer Gewalt. Nur noch Taurt und ein paar Getreue leisten Widerstand. Die RUBIKON kann dem dortigen Terror mit knapper Not entkommen, Tovah'Zara transitiert mit unbekanntem Ziel. Niemand ahnt, dass der Kubus im irdischen Sonnensystem auf Höhe der einstigen Jupiterbahn rematerialisiert. Und dass Reuben Cronenberg, der uralte Herrscher auf Terras Thron, kurz darauf Besuch von einem Wesen hält, das die Treymor gerufen haben. Es gehört einer Spezies an, die von den Käferartigen als VÄTER verehrt wird. Und es scheint aus einer über 13 Milliarden Lichtjahre entfernten Galaxie zu kommen … Indes verweilt die RUBIKON immer noch bei den Koordinaten, wo der Aquakubus den Ortungssystemen entwischte. Und einmal mehr rückt das Angkdorf in den Brennpunkt des Interesses. Erst recht, als es sich verändert. Die RUBIKON fliegt den Planeten Kentyr an. Ein Wesen aus Nabissmaterie lotst sie dorthin. Dieses Wesen scheint »Charly« übernommen zu haben, Yaels imaginären Freund. Es begleitet Jarvis zu einem Außeneinsatz auf Kentyr, in dessen Verlauf die Leiche eines toten Ganf geborgen wird. Jarvis schließt den Leichnam in seiner Körperhülle ein und kehrt
damit an Bord zurück, wo »Charly« ihnen eröffnet, dass sie unverzüglich zu den Koordinaten des Angksystems aufbrechen müssen – falls sie die Heimat von Milliarden Bractonen und Menschen noch retten wollen. Und dann stirbt auch noch einer der Gefährten der ersten Stunde.
1. Varx intermediierie, lauschte in die Weite des Alls, das in ihm eingeschlossen war. Es war so gewaltig wie das Weltall außerhalb. Niemand hatte Varx je erklärt, warum das so war oder wie es überhaupt sein konnte. Darüber zu grübeln, war für den Sternling jedoch keine Option. Es war. Und er genoss es. Wann immer es seine Zeit erlaubte, durchwanderte sein Geist die kosmischen Weiten. Über die Wunder – und Tragödien –, die er dabei sah, sprach er mit niemandem, nicht einmal mit anderen Sternlingen, von denen es etliche an Bord der RUBIKON gab. Sie gehörten … irgendwie zumindest … ebenso zur Besatzung wie die Menschen und Angehörigen anderer Spezies, die hier Quartier gefunden hatten. Das Raumschiff war ihre neue Heimat. Auch das war für Varx so selbstverständlich geworden, dass er keinen Gedanken an das Davor verschwendete. Er akzeptierte das von den Bractonen Verordnete. Basta. »Varx?« Der Ruf kam von draußen, und es kostete den Sternling keinen messbaren Moment, um aus seinem inneren Kosmos in den äußeren zurückzukehren. Vor ihm stand Bergamon, ein Artgenosse. »Es hat begonnen«, sagte Bergamon, als Varx ihn aus den Galaxienclustern seines Körpers heraus anstarrte. »Was meinst du?«, fragte Varx. »Spürst du es nicht?« »Sag mir einfach, was du meinst.« Er schätzte Bergamon. Was er nicht an ihm schätzte, war seine Geschwätzigkeit, die außergewöhnlich war für Sternlinge. Varx selbst war eher wortkarg, und es kostete ihn Überwindung, mehr zu artikulieren als unbedingt erforderlich. Bergamon machte dieses Manko – das Varx gar nicht als solches
empfand – mehr als wieder wett. »Die Veränderung.« Varx musterte den anderen Sternling genauer. »Du hast dich verändert?« »Nicht ich – unsere Umgebung!« Varx sah sich um. Und erschrak. In der kurzen Zeitspanne, die er das Intern-All durchkreuzt hatte, war Umwälzendes an Bord in Gang geraten. Ein Blick genügte, die künstlichen Dämme brechen zu lassen, die das Wissen darüber bislang in Varx zurückgehalten hatten. Bergamon war ihm einen kleinen Schritt voraus gewesen. »Es beginnt – du hast recht«, wandte er sich an den anderen Sternling, während seine Blicke weiterhin auf Boden, Wänden und Decke des veränderten Schiffes ruhten. »Die Präsenz der Allgewaltigen ist … beglückend.« »Wann werden sie sich bei uns melden?« »Das wissen nur sie allein. Seien wir so geduldig wie … wie vor dem Moment.« Nachdem sie sich voneinander getrennt hatten, begab sich Varx gezielt in die Nähe von Menschen. Unter ihnen war eine Hektik entbrannt, wie der Sternling sie bislang noch nicht erlebt hatte. Gerade das geordnete Zusammenleben und das zielgerichtete Vorgehen dieser Spezies hatte ihn stets beeindruckt. Darin unterschieden sich die Menschen aus dem Angksystem nicht merklich von denen, die bereits auf der RUBIKON ansässig gewesen waren, als die Auserwählten der Bractonen an Bord gegangen waren. So wie ich. Ich bin auch … ein Auserwählter. Ein strenges Ausleseverfahren war dem Tag vorausgegangen, an dem Commander John Cloud darüber informiert worden war, dass er mit Mannschaftszuwachs zu rechnen hatte. Varx kannte keine Details über die Art und Weise, wie die Bractonen der kleinen Stammcrew diese Potenzierung schmackhaft gemacht hatten – hatten sie überhaupt gefragt, oder Cloud vor vollendete Tatsachen gestellt? –, aber er hatte sich verhältnismäßig schnell an Bord eingelebt. Ihn
wunderte nur die geringe Beachtung, die die Schiffsführung ihm und seinesgleichen bislang geschenkt hatte. Es kam ihm unlogisch und unnormal vor, dass keiner aus der Kerncrew wirkliche Anstrengungen unternahm, herauszufinden, welche Funktion die ERBAUER dem Kontingent zugedacht hatten, das sich so klar erkennbar von den Angkmenschen unterschied. Aber es hat auch viel Zeit gebraucht, bis die Funktion der Angks durchschaut und verstanden wurde, erinnerte sich Varx. Offenbar setzt die Schiffsführung Prioritäten – bislang gab es ja auch genug Ablenkung, genügend Herausforderungen, die erst bewältigt werden mussten … Jüngst erst der Aquakubus, die Treymor. Zu all dem hatte Varx seine ureigene Meinung. Er war Individuum und Persönlichkeit wie jeder Sternling. Sein Denken unterlag keiner Einschränkung – zumindest keiner für ihn selbst spürbaren. Und er hätte sich gefreut, wenn er als genau das auch von allen an Bord wahrgenommen worden wäre. Doch nur die Angkstämmigen erfüllten ihm diesen Wunsch. Zu John Cloud, Scobee, Jarvis und wie sie alle hießen, fehlte ihm hingegen noch der Bezug und die Bindung, die diese den Crewmitgliedern aus Fleisch und Blut entgegenbrachten. Manchmal fragte er sich, ob sich daran überhaupt je etwas ändern würde. Vielleicht betrachtete der Commander die Sternlinge als eine auferzwungene »Beigabe«, ohne die er seine aufgestockte Besatzung nicht bekommen hätte. Aber hätte er sich nicht gerade dann allmählich Gedanken über den Sinn und Zweck einer solchen machen müssen …? »Varx!« Es war dem Sternling eine Genugtuung, dass wenigstens die Angkstämmigen in der Lage waren, ihm und seinesgleichen ihre Individualität auch anzumerken. Aus den wenigen Begegnungen mit Nicht-Angkgeborenen wusste er, dass für sie ein Sternling offenbar aussah wie der andere. »Rotak«, begrüßte Varx den hochgeschossenen Mann, der ihn er-
späht hatte, kaum dass er das »Dorf« betrat. »Sei gegrüßt.« Der Angk lächelte gequält, wie es dem Sternling schien. »Hast du es schon gehört?« »Wovon sprichst du?« »Von der Entdeckung! Dem Fund … ich weiß nicht, wie ich es nennen soll. Jelto hat es offenbar entdeckt. Mittels der Aura, die ihn umgibt, wenn er … du weißt schon!« »Wenn er sich den Pflanzen zuwendet.« Rotak nickte angespannt. »Wir fürchten, es könnte eine Hinterlassenschaft der Treymor sein. Es muss schnell geklärt werden. Vor allem, ob und wenn ja, welche Bedrohung davon ausgeht …« »Ich verstehe«, sagte Varx. »Du meinst die strukturelle Umbildung.« »Die …?« Rotak sah ihn fragend an. Nein, korrigierte sich Varx, nicht nur fragend, sondern misstrauisch. Verwundert stellte Varx fest, dass die Angks von den Vorgängen ebenso überrascht wurden wie die nicht im Reich der Bractonen Geborenen. Er beschloss, sich in Zurückhaltung zu üben. Oder beschloss es etwas in ihm? Er war verunsichert, fühlte sich zum ersten Mal, so lange er zurückdenken konnte, nicht frei in dem, was er sagen durfte. Was passiert mit mir? Bin ich am Ende doch nicht so autark, wie ich immer dachte? »Was weißt du darüber?«, fragte Rotak auch schon, für ihn folgerichtig. »Nicht mehr als du«, log Varx. Es erschreckte ihn, wie leicht es ihm fiel, die Unwahrheit zu sagen. Warum tat er das? Jetzt – in diesem Moment – hätte er unter Beweis stellen können, dass er ein gleichwertiges Mitglied der Besatzung war. Stattdessen … täuschte er den Angk, vor dem er eigentlich großen Respekt hatte. Er lauschte in die grenzenlose Tiefe seines inneren Kosmos, als könnte er dort den Grund für sein Verhalten finden. Rotak bemerkte den nur einen Moment dauernden Rückzug auf die Internebene gar nicht. Aber seine Worte verrieten, dass sich sein erwachter Argwohn noch nicht wieder gelegt hatte. »Sicher?«
»Aber ja.« »Du hast da aber gerade einen Begriff verwendet, der so noch nicht fiel im Zusammenhang mit der Entdeckung … strukturelle Umwandlung. Was meinst du damit?« »Das war meine Interpretation der Dinge. Mehr nicht. Man hört etwas und macht sich seine Gedanken. Du nicht?« Rotak schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Vielleicht sollte ich mit John sprechen. Vielleicht sollten wir beide mit John sprechen …« Auf eine Lüge folgte meistens die nächste Lüge. Auch Varx sah sich in diese teuflische Logik verstrickt und wusste sich nicht anders zu helfen, als zu beteuern: »Ich wollte dich nicht gegen mich aufbringen. Eigentlich kam ich ins Dorf, um den Grund für die Aufregung zu erfahren, die überall ausgebrochen ist. Dabei schnappte ich wohl den Begriff auf – vorhin, kurz bevor wir uns begegneten.« »Du meinst, ein anderer Angk benutzte diese Formulierung?« »Ich glaube …« »Wer?« »Das weiß ich nicht mehr.« Rotak fasste ihn noch schärfer ins Auge. »Varx, du musst mir sagen, wenn du etwas über die Ursache dessen weißt, was von Jelto entdeckt wurde. Du bist es mir und allen anderen an Bord schuldig!« Varx fühlte sich in die Enge getrieben – aber auch das war von außen nicht erkennbar. »Ich kenne die Ursache nicht. Ich biete mich an, mit euch zusammen danach zu forschen – aber hätte ich eine Erklärung, wäre mein erster Weg zum Commander, um sie ihm mitzuteilen!« Warum tue ich das? Ich mache es immer schlimmer! Sekundenlang starrte Rotak ihn so eindringlich an, wie er es wahrscheinlich noch bei keinem Sternling getan hatte. Dann wich plötzlich die extreme Anspannung, die ihn ergriffen hatte, aus seinem Körper. »Ich glaube dir«, sagte er und seufzte. »Entschuldige. Ich bin ein wenig überreizt. Ich mache mir Sorgen. Ich war gerade auf dem Weg, John unserer Unterstützung zu versichern. Und mit uns meine ich … uns alle.«
»Natürlich«, sagte Varx und verwünschte seine unbedachte Redseligkeit, die er an Bergamon immer beanstandete. Irgendwie, begriff er mehr und mehr, verändert sich nicht nur das Schiff, sondern verändere auch ich mich … Ob es den anderen Sternlingen ebenso erging? Bevor die Unterhaltung wieder unangenehme Formen annehmen konnte, näherte sich ein anderer Angk und rief: »Habt ihr es schon gehört?« »Was?«, fragte Rotak. »Ein Mitglied der Besatzung soll gestorben sein.« Rotak schüttelte den Kopf, wirkte erschrocken. »Wer?« »Dieser Aurige. Das Pflanzenwesen. Cy …«
Varx war nicht erschüttert. Der Tod hatte für ihn keinerlei Schrecken. Aber er akzeptierte und verstand, dass dies für Menschen – und für die meisten an Bord vertretenen Spezies – anders war. Rotak verlor nach der für ihn offenbar schwer verdaulichen Nachricht das Interesse an Varx. Kurz darauf entfernte er sich mit dem anderen Angk. Offenbar hatte sich sein Misstrauen gelegt, weil seine Gedanken nun um anderes kreisten. Varx fühlte sich erleichtert. Er sah sich um. Nahm das Flair seiner Umgebung in sich auf. Hier war die Präsenz derer, denen er diente, am stärksten spürbar. Offenbar ein Kulminationspunkt. Hier … würde es zuerst passieren. Sein Blick fiel auf ein Gewächs, das die Todesbestrahlung durch die Treymor überstanden hatte. Ein Baum. Soweit Varx wusste, hatte man den Schössling, aus dem er sich entwickelt hatte, vom Planeten Rof mitgebracht. In der Kürze der Zeit hätte er nicht diese Größe erreichen dürfen – aber Jelto hatte nachgeholfen. Der Florenhüter schien eine besondere Beziehung dazu zu pflegen, nannte ihn »Lebensbaum«. Für Varx war es eher ein Überlebensbaum. Der Großteil der Crew rätselte, wie ausgerechnet diese Pflanze der Letalstrahlung hatte trotzen können.
Varx hätte es ihnen sagen können, denn er sah – wie jeder Sternling – das wahre Gesicht des Baumes, das nur darauf wartete, hervorzubrechen. Plötzlich spürte er einen Sog. Eine Anziehungskraft, die nicht seinen Körper erfasste, sondern seinen Geist. Eine Weile trotzte er ihr, ohne sagen zu können, warum, denn die Quelle war … autorisiert. Und noch bevor er ihm schließlich nachgab, sah er, wie aus verschiedenen Richtungen andere Sternlinge auftauchten und ins Dorf strömten. Einer von ihnen war Bergamon, der auch Varx entdeckte und zu ihm stieß. »Es geht los«, sagte er. »Vielleicht«, erwiderte Varx. »Vielleicht …?« Varx wunderte sich selbst über seine Zurückhaltung, setzte sich aber schließlich doch in Bewegung und ging auf die Quelle der Anziehungskraft zu. Ein Haus. Als sie es betraten, erlebten sie eine Überraschung. Hinter der Schwelle sah es aus wie eine Landschaft auf einem Planeten. Eine gewaltige Pyramide erhob sich vor ihnen. Varx und all die anderen Sternlinge hielten darauf zu. Das Wesen, das sie im Innern empfing, war aus anorganischer Substanz, das erkannte Varx sofort. »Ich bin der Mittler«, sagte es. »Ihr müsst mir gehorchen.« Nirgends regte sich Widerspruch. Nur irgendwo in Varx schien irgendein Missklang aufzusteigen. Trotzdem hörte er sich fragen: »Was sollen wir tun?« Und mit seiner Stimme erhob sich der Chor der anderen Sternlinge, die alle dasselbe zu erfahren trachteten.
2. Es war ein Drama. Und eine Tragödie. Wie es immer war, wenn jemand starb, den man gemocht, geschätzt und respektiert hatte – und der einfach gegangen war. Cy war gestorben. Cy war tot. Noch immer hing diese Erkenntnis wie ein fahler Schleier im Raum, der alles Licht und alle Farben, vor allem aber jede Freude und Ausgelassenheit in einer Weise dämpfte, wie Jelto es noch nie zuvor an Bord des Schiffes erlebt hatte. Licht und Farben waren in Wahrheit unverändert. Was sich verändert hatte, war allein die Wahrnehmung dieser Dinge. Für jeden, der den Aurigen näher gekannt und über einen langen Zeitraum begleitet hatte, war das so. »Wohin gehen wir?«, fragte Aylea, die gemeinsam mit dem Florenhüter einen der zahllosen Korridore der RUBIKON durchschritt. »Zu seiner Kabine.« »Er ist immer noch dort?« »Alles ist unverändert. Die Zeit steht still für ihn.« »Was heißt das?« »Dass Sesha ihn mit einem Stasisfeld bestrahlt, um …« »Um?« »… seinen Zerfall zu stoppen.« »Ist es bei Aurigen so wie bei … Menschen? Verwesen sie?« »Der Verfall eines Lebewesens beginnt spätestens mit seinem Ableben. Davon ausgenommen sind möglicherweise anorganische Lebensformen …« »Wie die Jay'nac?«, fragte Aylea, aber es klang nicht, als beschäftige sie sich wirklich mit dieser Frage. Jelto hatte den Eindruck, dass sie ihn einfach am Reden halten wollte. Jeder verarbeitete seinen Schmerz anders.
»Wie die Jay'nac – beispielsweise, ja.« »Aber Cy ist … war eigentlich eine Pflanze, nicht wahr?« »Vereinfacht ausgedrückt könnte man das so sagen.« »Dann ist ein Stasisfeld aber doch etwas übertrieben, oder? Ich meine …« »Ich verstehe, worauf du hinaus willst. Und du hast sicherlich recht. Aber ich bat die KI darum.« »Du …?« Jelto nickte, blieb einen Moment stehen – worauf auch Aylea innehielt –, musterte die allmählich zur jungen Frau reifende Erdgeborene, lächelte aufmunternd und setzte seinen Weg fort – was Aylea automatisch veranlasste, sich ihm wieder anzuschließen. »Hey«, rief sie. »Was ist? Willst du mir nicht sagen, warum du diese aufwändige Form der Konservierung veranlasst hast?« Aylea war zusammen mit Jelto an Bord der RUBIKON gekommen. Während sie ins Ghetto verbannt worden war, wohin die Master unliebsame Personen abschoben, war es sein Job gewesen, dafür zu sorgen, dass keiner Menschenseele die erfolgreiche Flucht aus der Gefängnisstadt gelang, die aus den Ruinen des ehemaligen Beijing – Peking – hervorgegangen war, irgendwann nachdem die dortige Master-Residenz einem Anschlag zum Opfer gefallen war. Ein Attentat mit weitreichenden Folgen, denn die Keelon, die hinter der Erderoberung steckten, waren einzigartige Geschöpfe mit einzigartigen Fähigkeiten. Allein kraft ihres Geistes und Willens konnten sie den Zeitfluss verändern, vorwärts oder rückwärts fließen lassen, langsam oder schnell. Bei der Vernichtung einer ihrer über die Metrops der Erde verteilten Basen waren Gewalten frei geworden, die sich die Attentäter nicht hatten erträumen können. Als Folge war das Gebiet des Ghettos mit Anomalien gespickt gewesen. Zeitanomalien. Wer damit in Berührung kam, bezahlte dies mit rapider Alterung oder sofortigem Tod … oder irgendeinem anderen Spuk, den er zeitlebens nicht mehr los wurde. Jelto hatte sich oft gefragt, wie sein Leben weiter verlaufen wäre, wenn er damals nicht John Cloud und Scobee begegnet wäre. Hätte er weiter aggressive Pflanzenarten aus allen Teilen der Milchstraße
betreut, die einen Vegetationswall um das Ghetto bildeten, der für keinen normalen Bewohner zu überwinden gewesen war? Wahrscheinlich. Er war sich seiner Schuld nicht bewusst gewesen, hatte die Folgen für unschuldige Opfer nicht überschaut. Heute war das anders. Manchmal litt er unter den Schatten seiner Vergangenheit. Doch diese Schuldgefühle waren in letzter Zeit von etwas überstrahlt worden, anderem Schmerz. Die Treymor hatten seinen Garten an Bord der RUBIKON dem Erdboden gleichgemacht. Kein Gewächs hatte die tödliche Strahlungswelle überstanden, mit der die Käferartigen Jagd auf versteckte Besatzungsmitglieder gemacht hatten. Zum Glück hatte die RUBIKON den Händen der Treymor wieder entrissen werden können. Aber die Kollateralschäden waren ganz besonders am ehemaligen hydroponischen Garten sichtbar geblieben. Bis heute, Wochen später, hatte Jelto noch nicht die Energie aufgebracht, einen Wiederaufbau in Angriff zu nehmen. Zumal mysteriöse Veränderungen an Bord stattfanden, deren Tragweite noch kaum jemand überblicken konnte. Etwas hatte begonnen, die RUBIKON von innen heraus zu … ja, zu überwuchern. Sichtbar wurde es im Licht von Jeltos Zellkernaura. Und nur auf diese Weise. Aber selbst das … diese latente Gefahr … rückte für den Moment in den Hintergrund. Zumindest für ihn, denn er war in ganz privater Mission unterwegs. Dass Aylea regelrecht darum gebettelt hatte, ihn zu Cy begleiten zu dürfen, hatte er in einem ersten Impuls ablehnen wollen. Doch dann waren ihm zwei Dinge klar geworden, die ihn letztlich umgestimmt hatten: Zum einen war Aylea nicht mehr das kleine Mädchen, das uneingeschränkt von den dunklen Seiten des Lebens abgeschirmt werden musste, und zum anderen war es ihr gutes Recht, sich in der Weise von Cy zu verabschieden, die sie für angemessen hielt. Erst vor der Tür zu Cys Quartier antwortete Jelto auf Ayleas Frage. Kurz bevor er Sesha bat, das Trennschott für sie zu öffnen. »Ich möchte unseren Freund erhalten«, sagte er. »Ich möchte nicht, dass er … vergeht.«
»Ist das nicht das Los der Toten?« »Das mag es in früheren, archaischen Zeiten gewesen sein – aber wenn Technologien, Möglichkeiten, zur Verfügung stehen, der Zersetzung Einhalt zu gebieten, wäre es …« Er zögerte, gab sich einen Ruck. »… unangemessen, sie nicht zu nutzen.« Das Schott glitt zur Seite. Jelto hob sein linkes Bein, um die Schwelle zu übertreten. Ayleas nächste Worte ließen ihn regelrecht erstarren. »Ich glaube, ich verstehe.« Es war ihr Tonfall, der ihn zurückhielt. »Was verstehst du?« Er setzte den Fuß noch außerhalb der Kabine auf. »Du gibst dir die Schuld.« »Woran?« Er wusste, wie unglaubwürdig es wirkte, sich so begriffsstutzig zu geben, trotzdem konnte er nicht aus seiner Haut. »Du weißt woran. An seinem Tod.« »Das ist Unsinn.« »Glaub ich nicht.« »Deine Fantasie geht mit dir durch.« Er räusperte sich und betrat die Kabine. Es sah aus wie eine Flucht. Aber Aylea ließ sich nicht abschütteln. »Glaub ich nicht«, wiederholte sie. Als sie beide in Cys ehemaligem Quartier waren, glitt hinter ihnen das Türschott wieder zu, und wie von einem Magneten angezogen wanderten ihre beider Blicke hin zu dem toten Freund. Er lag in einem Meer von Blüten. Ausgerechnet die waren ihm zum Verhängnis geworden. Bis kurz vor seinem Tod hatte er prachtvoller als jemals zuvor ausgesehen. Aber genau das war die Crux: Aurigen erblühten nur ein einziges Mal in ihrem Leben – kurz vor dem Tod. Der Körper ahnte das Ende voraus, bevor die Persönlichkeit, die ihn bewohnte, es erkannte. Und wenn sie auf solch zynische Weise darauf gestoßen wurde, war es offenbar immer zu spät, um noch etwas dagegen zu tun. Nicht nur Sesha hatte dies versucht, mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln, sondern auch Jelto. Sie waren beide gescheitert.
Ich bin gescheitert, dachte Jelto. Es erschreckte ihn, wie leicht Aylea ihn durchschaute. »Geh«, sagte er rau. »Geh hin zu ihm und verabschiede dich von ihm – deshalb bist du doch mitgekommen.« »Und du?« »Ich werde es nach dir tun.« »Und zum dritten Mal: Glaub ich nicht!« Sie stemmte die Fäuste in die schmale Taille und sah ihn herausfordernd an. »Was soll das?« Er legte Ärger in seine Stimme. »Du kannst mich nicht täuschen. Und dich selbst auch nicht.« Jetzt ärgerte er sich wirklich. Darüber, dass er sie immer wieder unterschätzte, weil er sich von ihrem unschuldigen Äußeren in die Irre führen ließ. Aylea gehörte zur neuen Menschheit. Sie war kein Klon, aber sie war das Kind zweier Eltern gewesen, die ihren hohen Intellekt an sie weitervererbt hatten. Dass sie im Ghetto gelandet war, hatte andere Gründe, an einem niedrigen IQ lag es mit Sicherheit nicht. Und über den ausgeprägten Verstand hinaus besaß sie auch noch das, was man Einfühlungsvermögen und Sensibilität nannte. Ja, sie durchschaute ihn mühelos, auch wenn sie nicht wissen konnte, was sein letzter und größter Antrieb gewesen war, um die Stasisbestrahlung zu initiieren. Plötzlich wich alle Spannung aus seinem Körper. Er sank leicht in sich zusammen. Eben noch auf Streitlust programmiert, drückte seine Haltung jetzt nur noch eines aus: Kapitulation. »Okay«, sagte er. »Okay was?« »Du hast gewonnen.« Sie schüttelte vehement den Kopf, blickte zu Cy. »Niemand kann hier gewinnen. Er ist tot. Cy ist tot.« Vielleicht waren sie schon vorher da gewesen, aber er bemerkte sie erst jetzt: Tränen rannen über ihre Wangen. Verzweifelt hob er die Arme. Insgeheim fürchtete er, dass sie es ablehnen würde, sich von ihm trösten zu lassen, aber da irrte er er-
neut. Es war, als hätte sie nur auf diese Geste gewartet. Mit einem Satz war sie bei ihm, jetzt doch ganz Kind, und er schlang die Arme um sie, spürte die heißen Tränen durch den Stoff seiner Kleidung hindurch, als sie ihr Gesicht dagegen presste. Eine Weile, minutenlang, standen sie nur da. Über ihre Schulter hinweg konnte Jelto zu Cy schauen, und es war verrückt, aber etwas in ihm hoffte, dass die Todesstarre enden und sich die Zweige und Blätter wie früher bewegen würden, wenn sie sich getroffen und miteinander gesprochen, miteinander gescherzt hatten. Cys Humor war so trocken gewesen wie die Blätter, die er in regelmäßigen Abständen fallen ließ, um Platz für neue Knospen zu schaffen. Und Cy war ein großer Geschichtenerzähler gewesen, für die er nur wenige Worte gebraucht hatte. Das war sein Talent gewesen: mit knappen Sätzen »Filme« vor seinen Zuhörern entstehen zu lassen. Und er hatte spannende Dinge erlebt, vor allem, als er im »diplomatischen Dienst« CLARONs stand und in eine Falle der Jay'nac geraten war … An das und vieles mehr musste Jelto denken, während er gleichzeitig bemüht war, Aylea zu trösten. Nachdem er lange genug mit sich gerungen hatte, war seine Entscheidung gefallen. »Willst du mir … helfen?«, überraschte er sie. Sie löste sich von ihm und trat einen Schritt zurück. Mit feuchten Augen sah sie zu ihm auf. »Helfen? Wobei?« Als er es ihr sagte, war ihr erster Reflex Empörung. »Jelto!« Wie gut er sie verstand. Er ertrug ihre Verachtung und nahm sich Zeit, es ihr genau zu erklären. Und ganz allmählich wandelte sich Ablehnung in Faszination. Und Faszination in die Hoffnung, vielleicht nicht ganz Abschied von ihm nehmen zu müssen – wenn man Jelto gewähren ließ …
Scobee war in ihrer Kabine. Sie blickte in den Spiegel, der ihre Ab-
bilder nicht nur zeigte, sondern speicherte, Tag für Tag. Bei Bedarf konnte sie sie abrufen, nebeneinanderstellen, via bloßem Augenschein oder mittels eines speziellen Programmsegments Seshas analysieren. Auf diese Weise entging ihr keine noch so kleine Nuance im Alterungsprozess. Ihr war klar, dass John oder ein x-beliebiges anderes männliches Crewmitglied sich niemals so verhalten hätte, obwohl ihnen dieselben Möglichkeiten offen standen. Aber wahrscheinlich war es wirklich ein weibliches Phänomen, so starke Gewichtung auf das eigene Aussehen zu legen. Sie war nicht unzufrieden, obwohl sich das eine oder andere Detail im Laufe der Jahre natürlich verändert hatte. Es war ja nicht nur zum Nachteil geschehen, manchmal förderte das Alter auch angenehme Merkmale zutage. Manchmal. Eher selten … An diesem Punkt, an dem sie bei ihrer Selbstbetrachtung fast täglich anlangte, lächelte sie normalerweise in nachsichtiger Selbstironie. Danach war ihr heute jedoch nicht zumute. Heute hatte sie sich vor den Spiegel gestellt, weil sie sich ansehen wollte, während sie ihrer Traurigkeit freien Lauf ließ. Cy war tot. Sie konnte es noch gar nicht fassen. Weil … Wir werden weniger. Es ist meine Schuld, ich weiß, aber ich habe uns, unterbewusst zumindest, nach all der Zeit, nach all den überstandenen Gefahren, für … unsterblich gehalten. Was für eine Närrin ich war. Dabei ahnte sie, dass sie damit nicht allein stand. Gefahr in dem Übermaß, wie ihr die Mannschaft immer wieder trotzen musste, nutzte und stumpfte ab. Man konnte gar nichts dagegen tun. Es war wie in einem langen Krieg, in dem man sich von Schlacht zu Schlacht, von Gefecht zu Gefecht, Hinterhalt zu Hinterhalt schleppte und irgendwann verwundert feststellte, dass man immer noch lebte. Und ab genau dem Moment, da man anfing darüber nachzudenken, hörte die Glückssträhne gemeinhin auf.
Sie starrte in ihr Gesicht und fragte sich, wann man sie wohl einmal betrauern würde. Und wie. Der Tod war Teil des Lebens. Aber ein verleugneter Teil. Niemand mochte ihn. Der Tod war Synonym für Verlust, für Angst und das, was sie gerade fühlte. Leere. Unendliche Leere. Früher, in ihrem ersten Leben auf der Erde des 21. Jahrhunderts, hätte sie es nicht in ihren kühnsten Träumen für vorstellbar gehalten, dass sie eines Tages über eine außerirdische Lebensform weinen könnte, die aussah wie ein kugelförmiges Gestrüpp. Aber sie hatte Cy nicht als Gestrüpp, sondern als wertvolles denkendes Wesen kennengelernt. Es war schrecklich zu wissen, dass sie ihm nie mehr auf einem der Gänge der RUBIKON oder in der Bordzentrale begegnen würde; oft in Begleitung Algorians, mit dem ihn die längste Freundschaft verbunden hatte. Wie musste erst der Aorii sich fühlen. Oder ging seine Spezies anders mit Trauer um? Nein, entschied Scobee. Sie erinnerte sich, wie Algorian unter dem Tod seines Hassbruders Rofasch gelitten hatte. Ein letztes Mal für diesen Tag starrte sie in die Augen, die ihr gehörten, und fragte sich, wie es wohl war, tot zu sein. Dieses Wissen hast du mir voraus, kleiner Freund, dachte sie warm. Sie schaltete den Spiegel ab. Er wurde blind. Wenig später meldete sich John über die Bordsprechanlage. Zuerst druckste er herum, dann sagte er, worum ihn Jelto gebeten hatte. »Das hast du ihm erlaubt?« »Sie waren Freunde, enge Freunde, bis zuletzt.« »Das waren wir auch – er und ich«, erwiderte sie aufgebracht. »Wir sprachen über das Sterben, als ich noch nicht glauben konnte, dass es ihn wirklich ereilen würde.« Cloud schwieg kurz, dann sagte er: »Es war ein Fehler, ich entschuldige mich. Ich werde sofort Verbindung zu ihm aufnehmen und ihm sagen, dass ich anders entschieden habe und er nicht –«
»Warte«, unterbrach sie ihn. »Vielleicht ist es gar nicht so schrecklich, wie ich im ersten Moment dachte. Vielleicht ist es sogar das, was er sich selbst gewünscht hätte.« »Das weiß ich nicht.« »Ich auch nicht. Aber er fürchtete sich nicht vor dem, was ihn erwartete. Er akzeptierte es. Lange bevor ich es akzeptieren konnte.« »Tust du das denn?« »Ich fange gerade damit an. Und du? Wie gehst du damit um?« Wieder schwieg die Stimme des Commanders. Eine gefühlte Minute verstrich, bevor er sagte: »Du bist mir weit voraus. Ich habe noch nicht mal damit begonnen, es an mich heranzulassen. Wirklich heranzulassen. Ich blende es aus. Versuche, nicht daran zu denken.« »Das ist keine Lösung.« »Das ist mir egal. Cy ist tot.« Er sagte es, als würde es ihm erst in diesem Moment wirklich bewusst. »Ja«, sagte sie. Dann unterbrach sie die Verbindung und überlegte, ob sie nachsehen sollte, wie weit Jelto mit seinem Vorhaben bereits gekommen war. Irgendwann verließ sie ihre Kabine und ließ sich überraschen, wohin ihre Beine sie trugen.
Algorian wurde von einem Gedanken aufgeschreckt, der selbst die Nebel um sein Bewusstsein durchdrang – Nebel, mit denen er sich selbst beschenkt hatte, um es überhaupt ertragen zu können. Er wollte aufhören, daran zu denken, was passiert war. Und für eine Weile hatte er es sogar geschafft. Bis … … sich dieses Schreckgespenst in sein Gehirn gebohrt hatte. Ein Albtraum. Wie konnten sie es wagen …? Ohne Rücksicht auf seine Verfassung zu nehmen, torkelte er aus seiner Kabine, in der er sich verkrochen hatte, und eilte zu der mentalen Quelle, die er geespert hatte.
Nicht gezielt, sondern so, als hätte etwas tief in ihm drin selbst im Medikamentenrausch wie ein Radar unablässig die komplette RUBIKON gescannt auf der Suche nach irgendwelchen Gedanken, die sich mit dem toten Freund beschäftigten. Und dabei war er auf etwas gestoßen, was er so nie erwartet hätte. »Aufmachen! Mach auf!« Er hämmerte mit der Faust gegen das Türschott, hinter dem der unglaubliche Frevel vorbereitet wurde. Wenig später öffnete Jelto. Er wirkte irritiert von Algorians Verhalten, fast verstört. Weil ich dich ertappt habe, dachte Algorian. Wie kannst du nur …?
»Ich will nichts Böses«, verteidigte sich Jelto. »Du weißt selbst, dass das nicht wahr ist«, hielt Algorian dagegen. »Wäre es anders und hätte nicht dein Schuldbewusstsein dafür gesorgt, dass deine Gedanken an dein Vorhaben wie ein mentales Leuchtfeuer strahlen, hätten sie mich nicht in meinem … Dösen erreicht.« »Du siehst furchtbar aus. Was –« »Es geht nicht darum, wie ich aussehe oder ich mich fühle, es geht darum, dass hier kein Toter entweiht wird – erst recht kein toter Freund!« »Das hatte ich auch nicht vor.« »Sondern?« »Er war auch mein Freund. Und alles, was ich vorhabe, ist, ihn zu ehren.« »Indem du ihn zur Schau stellst …?« »Indem ich ihm einen Platz bei uns gebe. Zwischen uns. Wäre es besser, ihn zu …« Jelto schluckte. »… vergraben. Oder zu verbrennen? Je nach Kulturkreis gibt es die verschiedensten Rituale, das weißt du als Aorii ebenso gut wie ich als Mensch.« »Es geht darum, was er gewollt hätte. Was seiner Art als Aurige entspricht.« »Und das weißt du? Habt ihr euch darüber unterhalten? Hat er Wünsche angemeldet, wie in einem Testament, du verstehst schon?
Wenn das so ist, bin ich der Letzte, der es nicht respektiert.« Algorian esperte in den Gedanken des Florenhüters und fand dort die Bestätigung für die gerade gemachte Äußerung. Sein Zorn verrauchte ein wenig und er entschied sich, mit offenen Karten zu spielen. »Nein«, sagte er. »Was ›nein‹?« »Er hat nicht mit mir gesprochen und keine Wünsche angemeldet, wie im Falle seines Ablebens zu verfahren sei. Aber ich kenne die Gepflogenheiten, die auf der Spore herrschten, von der er stammt.« »Wie war die dortige Zeremonie – und war sie für alle gleich?« »Für alle, ja«, bestätigte Algorian unbehaglich. Er erinnerte sich, wie sie auf Cy und dessen Spezies gestoßen waren. Damals hatten sie einen idealen Wirt für die Bewusstseinskopien jener Oberhäupter gesucht, deren Planeten der Völkergemeinschaft CLARON angehörten. Cy hatte sich als perfekt erwiesen. Aber bevor er geholt worden war, hatte man ihn ausgiebig beobachtet. Ausspioniert wäre das treffendere Wort, dachte Algorian beklommen. »Sie wurden … entsorgt«, sagte er. »Von einer Maschine. Und dieselbe Maschine stellte aus dem toten wieder lebendiges Material her … neue Aurigen.« Jelto wirkte betroffen. »Das habe ich nicht gewusst.« »Nicht einmal Cy hat es in voller Tragweite und letzter Konsequenz gewusst. Ich wollte nicht, dass er es erfährt.« »Stimmt es, dass die Aurigen genetische Züchtungen der Jay'nac waren, von denen sie sich wertvolle Erkenntnisse über organisches Leben erhofften?« »Dieses Gerücht habe ich auch gehört.« »Stimmt es?« »Einiges spricht dafür.« Jelto schüttelte sich. Nachdem er sich wieder gefangen hatte, fragte er: »Und dann regst du dich über mein Vorhaben auf? Wäre es dir lieber, ihn …« Er zögerte, flüsterte fast, als er schließlich fortfuhr. »… ihn zu entsorgen?« Wahrscheinlich flüsterte er, weil sie nicht allein waren. Aylea be-
fand sich in der Kabine. Sie stand bei dem Toten und hielt sich völlig aus ihrem Streit heraus. »Natürlich nicht!« »Was willst du dann?« Je länger er mit Jelto sprach, desto überzeugter wurde er, dass er dem Freund unrecht tat. Und dessen brennendes Schuldgefühl verriet letztlich nur, wie schwer er es sich selbst machte, seine Entscheidung in die Tat umzusetzen. Von Leichtfertigkeit oder gar einer Schändung konnte keine Rede sein. »Ich will, dass du … behutsam mit ihm umgehst, wenn du tust, was du vorhast. Und –« »Und was?« »Dass du einen guten Platz für ihn auswählst.« »Du stellst dich also nicht mehr gegen das Vorhaben?« Algorian machte eine Geste der Verneinung. »Wenn du willst und wenn ich kann, helfe ich dir sogar.« »Ich auch«, sagte Aylea aus dem Hintergrund. »Und ich ebenfalls.« Sie wandten die Gesichter der Tür zu, durch die Scobee gerade getreten kam. Ihre Autorisation benötigte hier keine Hilfe beim Offnen des Schotts, so wie die Situation in der Kabine sich darbot. Jelto nickte. »Dann lasst uns gemeinsam einen Platz für ihn aussuchen – ihn einstimmig beschließen. Sobald das geschehen ist, werde ich mich um die … Beisetzung kümmern. Um meine Version einer solchen … Und was den Platz angeht – hätte ich schon einen Vorschlag …«
»Was tust du da?« Jelto hatte seine Aura gezündet und Algorian zu sich gewunken. Flüsternd hatten sie Worte gewechselt. Und nun gingen sie langsam nebeneinander durch die Kabine. »Wir informieren uns über die Verhältnisse«, gab Algorian zur
Antwort. »Bislang sieht es gut aus. Sehr gut sogar.« Systematisch durchmaßen sie den Raum. Es war jedoch erkennbar, dass Jelto es vermied, mit seinem Aurenlicht in Berührung mit Cy zu kommen. Alle Anwesenden übten sich in Geduld; inzwischen war ihnen klar geworden, was die beiden untersuchten. Nach wenigen Minuten stellte das Duo seine Bemühungen ein. Das Ergebnis schien zumindest Jelto sichtlich zufriedenzustellen. »Es ist, wie es erhoffte.« »Keine unsichtbaren … Mitbewohner?«, fragte Aylea. »Wie in vielen Bereichen des Schiffes? Auch in deinem Garten …« »Nein. Keine unsichtbaren Mitbewohner. Hoffen wir, dass es so bleibt.« »Warum hast du solches Interesse daran?«, fragte Scobee. »Ich meine, dass ausgerechnet Cys Kabine ›schädlingsfrei‹ ist. Mir wäre es wichtiger, wir könnten das von der RUBIKON als Ganzes sagen …« »Darauf habe ich keinen Einfluss.« »Das habe ich damit auch nicht sagen wollen. Aber wozu das Ganze?« »Ich sagte doch, dass ich einen Vorschlag hätte, Cy die ihm gebührende letzte Ruhestätte zu ermöglichen.« »Vorschläge sind willkommen – keine Frage. Also?« »Hier«, sagte Jelto. Er machte eine Geste, mit der er die Kabine umriss. »Seine Kabine?« Scobee schien nicht begeistert. »Als eine Art Mausoleum, oder wie?« Auch in den Gesichtern der anderen war Skepsis zu lesen. »Mausoleum? Nein! Cy war ein lebensfrohes Geschöpf. Und er wäre sicher auch im Tode umgeben von artverwandtem Leben.« »Ich fürchte, ich verstehe es nicht. Diese Kabine? Artverwandtes Leben?« »Zum besseren Verständnis muss ich vielleicht eines vorwegnehmen«, sagte Jelto. »Ich habe mich entschlossen, den zerstörten hy-
droponischen Garten nicht wieder aufzubauen.« »Oh.« Scobee nickte zögernd. »Das ist deine Entscheidung. Niemand kann dich dazu zwingen. Aber ich glaube, ich spreche im Namen aller, wenn ich sage, dass wir alle hofften, du würdest einen Neuanfang wagen.« »Das werde ich – aber nicht am gleichen Ort, wie zuvor.« »Und das heißt?« »Ich werde ihn hier neu beginnen.« Scobees Blick war immer noch ein einziges Fragezeichen. »Das ist eine Kabine. Sie ist viel zu klein, um –« Jelto winkte ab, nickte und bat: »Hört euch meine Idee, meinen Vorschlag an. Wenn ihr es nicht wollt, akzeptiere ich es. Aber es gibt an Bord ein Vorbild für meinen Plan. So groß wie dort soll es hier gar nicht werden. Aber groß genug.« »Von welchem Vorbild redest du?« »Kalser«, sagte Jelto. »Pseudokalser … die Welt der Nargen …«
3. Jelto und Algorian hatten es gemeinschaftlich entdeckt – aber bislang war das, was er im speziellen Licht seiner Florenhüter-Aura zu sehen vermochte, nicht aus dem Verborgenen hervorgebrochen. Nicht einmal Sesha vermochte es zu sehen, wahrzunehmen, obwohl die KI daran arbeitete, wie Assur wusste, die spezielle Frequenz von Jeltos Aurenlicht künstlich nachzuahmen. Wie weit die diesbezüglichen Fortschritte gediehen waren, wusste Assur nicht. Sie befand sich mit ihrer Tochter Winoa in ihrem Haus im Angkdorf … irgendwo im Bauch der RUBIKON. »Wie hast du geschlafen, mein Kind?«, begrüßte sie ihre Tochter, als sie zum Frühstück in der offenen Wohnküche erschien. Das Haus war groß genug für drei, vier Personen. Gegenwärtig wohnten darin aber nur zweieinhalb – der »halbe« Bewohner hieß John Cloud, mit dem Assur seit geraumer Zeit liiert war. Aber Cloud hatte auch noch sein eigenes Zuhause, die Kabine, die er bewohnte, seit er auf der RUBIKON heimisch geworden war, und es sah so aus, als wollte er die auch nicht so schnell aufgeben. Assur war es nur recht. Nach der gescheiterten Verbindung mit Rotak, aus der Winoa hervorgegangen war, wollte sie nichts überstürzen. Gefühle zu einem Menschen, das hatte sie schmerzvoll erfahren müssen, konnten sich ändern; sehr drastisch mitunter. Rotak hatte ihr nicht weh getan oder sich sonst wie schlecht benommen, sie und er hatten sich einfach … ja, verloren mochte der treffende Ausdruck sein. Es war ein schleichender Prozess gewesen, nicht von heute auf morgen gegangen. Am Ende konnten sie froh sein, dass sie noch einigermaßen miteinander umzugehen vermochten – schon wegen Winoa. Winoa mochte den »Neuen« ihrer Mum, daraus machte sie kein Hehl. Aber auch nicht daraus, dass sie ihren leiblichen Vater liebte. Alles in allem konnte Assur damit sehr gut leben. Rotak war immer
für seine kleine Ex-Familie da, wenn er gebraucht wurde, und das warf ein ausschließlich positives Licht auf seinen Charakter. Warum dann ihre Beziehung, ihre Liebe gescheitert war … Assur wusste es nicht. Sie wollte es auch gar nicht analysieren, sie hatte damit abgeschlossen. Rotak tat sich damit fühlbar schwerer. Vielleicht hatte er sich noch Hoffnungen gemacht – bis der andere Mann in Assurs Leben getreten war. Seither schien es Anstrengung für ihn zu bedeuten, Assur bei Begegnungen in die Augen zu schauen. Sie wünschte sich nichts mehr, als dass auch er bald eine neue Partnerin finden würde, damit er aufhörte, vergossener Milch nachzuweinen. »Es geht«, sagte Winoa und setzte sich auf den Hocker gegenüber ihrer Mutter. Zwischen ihnen standen all die Kleinigkeiten, die Assur so schätzte, um in den Tag zu starten: frisch gebrühter Kaffee (ihr Lieblingswachmacher), frisch gebrühter Tee (Winoas bevorzugtes Getränk – Tee in allen Geschmacksrichtungen), Brötchen, Marmelade, andere Brotaufstriche und -beläge … Ein bisschen sah es aus wie im Hotel, hatte John beim ersten gemeinsamen Frühstück gemeint. Wobei er den beiden Angks erst einmal die Bedeutung des Wortes »Hotel« hatte erklären müssen. In seinen ersten Lebensjahrzehnten hatte es solche Einrichtungen auf der Erde noch gegeben. Auf den Angkwelten nie, wie seine Gastgeber ihm erst einmal glaubhaft hatten machen müssen. Assur fand das Konzept eines Hotels beachtlich. Aber eine Nachfrage dafür an Bord zu finden, wäre ihr vermutlich schwergefallen. Sie lächelte. Weil sie an John dachte. »Du denkst an ihn, stimmt's?«, fragte Winoa auch prompt über den Rand ihrer Tasse hinweg, an der sie vorsichtig nippte. »An wen?« »Tu nicht so. An ihn.« »John?« »Commander John«, grinste Winoa. Ihre Augen funkelten. Sie hatte sich in der letzten Zeit verändert. Nicht nachteilig, im Gegenteil.
Ob er daran schuld war? »Und du? Wie läuft's mit deinem Verehrer?« Schlagartig verschwand das Grinsen. »So was fragt man seine Tochter nicht!« »Ach? Aber die Tochter darf alles, ja? Du bist doch viel neugieriger als ich.« »Das«, betonte Winoa und ließ ihre Augen noch mehr funkeln, »geht ja wohl gar nicht.« »Zicke.« »Mama!« »Hey, meinst du, ich weiß nicht, was in dir abgeht? Du bist jetzt in dem Alter …« »Hör auf! Hör sofort auf, sonst … sonst kannst du allein weiterfrühstücken!« »Das würde ich mir an deiner Stelle überlegen. Sieh dir nur all die leckeren Sachen an …« Assur ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, lachte. Schließlich entspannte sich Winoa und langte tüchtig zu. Kauend fragte sie nach einer Weile: »Sind alle Jungs so schwer von Begriff?« »Alle«, erwiderte Assur. »Jedenfalls in eurem Alter.« »Und so … so unglaublich schüchtern?« Assur schüttelte den Kopf. »Nicht alle.« Bevor ihre Tochter daraus etwas Negatives ableiten konnte, fügte sie schnell hinzu: »Nur die Besten.« »Aha.« »Er ist also schüchtern und schwer von Begriff?« Winoa zögerte, nickte dann. »Und, wie Jarvis es ausdrückte, noch dazu ein Alien!« »Seit wann redest du mit Jarvis?« Ausgerechnet, dachte Assur – schon etwas besorgt. »Er ist nett.« »Hm.« »Du magst ihn nicht?« Assur schlürfte hörbar etwas Kaffee. Dann sagte sie: »Nicht in Vorbildfunktion – sonst: doch, er ist gerade heraus. Manchmal …
nein: oft … zu gerade heraus. Sehr impulsiv.« »Genau das mag ich. Ich wünschte, Yael würde sich eine Scheibe abschneiden.« Assur schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wo dein Problem ist. Es gibt doch eine ganz einfache Methode, herauszufinden, ob ihr beide füreinander die Richtigen seid. Muss ja nicht fürs Leben sein, aber lebt und genießt diese Phase!« »Was für eine Methode meinst du?«, fragte Winoa wie beiläufig. Natürlich versuchte sie, sich und ihrer Mum weiszumachen, dass sie gerade über gar kein so wichtiges Thema sprachen. Wie MutterTochter-Gespräche eben so waren – manchmal. »Na, ganz einfach: Fühlst du dich wohl, verdammt wohl, in seiner Gegenwart?« Winoa nickte. »Kannst du dich gar nicht an ihm sattsehen und -hören?« Winoa nickte. »Und ist da so ein komisches Kribbeln … hier etwa …?« Sie rieb sich den Bauch. Winoa zögerte, nickte dann aber mit gesenkten Augen um so heftiger. »Dann«, sagte Assur und lächelte, »ist es so wie bei John und mir – und ich würde sagen: Er ist der Richtige!« Erstaunlicherweise hellte das Winoas Laune offenbar nicht auf. »Was ist denn jetzt los, Kleines?« Assur schob ihre freie Hand über den Tisch und legte sie auf die ihrer Tochter. »Woher will ich wissen, dass ich auch die Richtige für ihn bin? Dass er genauso fühlt und denkt?« »Auch da gibt es eine einfache Methode.« Winoa sah sie an. »Frag ihn.« Winoa stöhnte. »Wow. Wie klug. Danke für nichts!« »Warum so aufgebracht?« »Weil ich ihn das nie fragen würde!« »Aber wenn er nichts von sich aus sagt und du nie fragst … werdet ihr ewig nebeneinander her und aneinander vorbei
schmachten.« Winoa stellte ihre Tasse geräuschvoll ab. Tee schwappte über. »Dann ist es eben so!« Assur schüttelte den Kopf. »Falsche Einstellung. Außerdem: Ich mag den Jungen. Von mir aus dürft ihr gerne …« Winoas Ausbruch brachte sie zum Verstummen. »Ooooooh! Mama! Du kapierst es nicht. Das ist so peinlich …!« Assur wollte einlenken, aber bevor sie dazu kam, überwältigten sie die Gefühle. Gefühle, die nichts mit der gerade geführten Unterhaltung zu tun hatten. Eher mit … ihrer Umgebung … dem Haus … Wie ferngesteuert rutschte sie vom Hocker, kam zum Stehen und griff nach Winoas Arm. »Was ist?«, fragte ihre Tochter. »Lass uns gehen.« »Gehen?« »Schnell!« »Aber …« »Mir ist etwas eingefallen. Ein wichtiger Termin«, log Winoa, um langwierigen Erklärungsversuchen aus dem Weg zu gehen. Was hätte sie auch sagen sollen? Sie … sie fühlte ja nur, dass etwas nicht stimmte, und zuletzt, als sie so empfunden hatte, waren sie in Gefilde abgerutscht, von denen auch heute noch niemand mit Gewissheit sagen konnte, wo sie eigentlich lagen. Das Raumschiff schien eine normalerweise unsichtbare zweite Ebene zu haben, und die Angkhäuser waren unter bestimmten Umständen Portale, die dorthin führten … »Was für ein Termin?« »Erzähl ich dir unterwegs. Komm jetzt. Bitte.« Sie verließen Hals über Kopf das Haus. Erst als sie im Freien waren, atmete Assur wieder leichter. Sie starrte auf das kleine Gebäude, das nur eines in einer Reihe von vielen war. Auf den Straßen des Dorfes bewegten sich ein paar Bewohner. Nur wenige, die meisten hielten sich entweder in ihren Häusern auf oder waren im Schiff unterwegs. Die Kunstsonne an der Decke simulierte einen echten Him-
mel. Sogar eine leichte Brise wurde von Sesha generiert. »Warum bleiben wir stehen? Ich dachte, wir müssten –« Assur gab sich einen Ruck, nickte und eilte mit Winoa an ihrer Seite vom Gelände des Dorfes. Sie überlegte fieberhaft, ob sie jetzt völlig hysterisch geworden war, denn nirgends gab es ein Anzeichen dafür, dass ihre Ahnung sie nicht trog. Wohin sollte sie gehen? Und wie sollte sie Winoa erklären, was sie gerade tat? Ironischerweise kamen ihr ihre eigenen Worte und Ratschläge in den Sinn, die sich auf Yael bezogen hatten. Ihr Credo vorhin war schließlich gewesen: einfach darüber reden! Vielleicht wäre das auch in ihrem Fall die einfachste und klügste Entscheidung gewesen. »Okay, ich geb's zu – ich wollte dich nicht beunruhigen. Den Termin gibt es nicht. Es war etwas anderes, das mich veranlasste, aus dem Haus zu gehen.« Winoa sah sie merkwürdig an. »Was?« »Es … ich weiß nicht, ob du dich erinnern kannst, wie es sich anfühlte, kurz bevor wir vor nicht langer Zeit auf die … auf die düstere Seite des Schiffes gezogen wurden … Wir beide, später kam Yael dazu.« »Ich erinnere mich noch sehr gut. Und so war es eben für dich?« Assur nickte. Sie merkte selbst erst jetzt, wie verstört sie war. »Ich glaube nicht, dass wirklich Gefahr bestand. Wahrscheinlich leide ich unter traumatischen Anwandlungen. Ich bin froh, dass du es offenbar besser weggesteckt hast als ich …« »Wir müssen mit dem Commander sprechen! Ich meine mit John …« Assur nickte. »Ja. Vielleicht. Aber nicht auf dem offiziellen Weg.« »Was heißt das?« »Ich glaube, es war Einbildung. Deshalb will ich nicht die Pferde scheu machen. Ich spreche mit ihm, versprochen. Aber privat …« »Wann?« »Sobald er sich eine Pause gönnt.« Winoa zuckte die Achseln. »Sollen wir bis dahin zurück ins Haus
gehen?« »Nein!« Sie erschrak selbst über die Hysterie, die in ihrer Stimme schwang. Beherrschter wiederholte sie: »Nein. Lieber nicht.« »Sondern?« »Wenn du mir einen Gefallen tun willst – und damit ich mir keine Sorgen machen muss –, besuch doch Yael. Oder deine Freundin Aylea.« Winoa überlegte kurz. »Aylea ist eine gute Idee. Und du?« »Ich würde dann zu John gehen. In seine Kabine. Und dort auf ihn warten …« Winoa grinste für eine Tochter gegenüber ihrer Mutter schon geradezu unverschämt. »Beruhige dich aber auch bitte. Und falls deine Anwandlungen auch in Johns Kabine keine Ruhe geben, gib mir Bescheid. Ich komme sofort.« »Das weiß ich, Kind. Danke.« Sie küsste Winoa auf die Stirn. Dann trennten sich ihre Wege.
Cys Tod hatte Yael nicht nur psychisch mitgenommen, sondern auch körperlich ausgelaugt. Er hatte den Aurigen gemocht. Mitten am Tag hatte Yael sich deshalb ins Baumhaus zurückgezogen und in sein Schlafgeschirr gelegt, das ihn langsam pendelnd ins Vergessen wiegte. Kurz darauf war er bereits der Realität entrückt, eingeschlafen, und träumte. Er fand sich in einer paradiesischen Welt wieder. Das satte Grün der Vegetation breitete sich wie ein Teppich von Horizont zu Horizont und bot den perfekten Kontrast zu dem üppigen Blütenmeer unbekannter Blumen, die für Farbenspiele und bunte Tupfer sorgten. Obwohl träumend, gelang es dem jungen Nargen, sich zu fragen, wo diese bezaubernde, sinnesbetörende Welt wohl sein mochte. In der Ferne erhoben sich riesige Bauten, deren Spitzen die Schönwetterwolken berührten, hier und da sogar in ihnen verschwanden. Pyramiden, dachte Yael. Der Anblick brachte eine besondere Saite in ihm zum Klingen. Mit Pyramiden hatte er so seine Erfahrungen
gemacht. Im Grunde begleiteten sie ihn schon sein ganzes Leben. Da war die Tote Stadt von Pseudokalser, wohin er manchmal Ausflüge mit seinem Orham Jiim unternahm. Die Tote Stadt war halb in ewigem Eis versunken und hatte ein reales Vorbild auf der originalen Heimatwelt der Nargen gehabt – wenngleich vor nunmehr rund dreißigtausend Jahren. So viel Zeit war in der Milchstraße – und nur dort – nach Darnoks unseligem Racheakt verstrichen. Der Keelon hatte den Zeitablauf einer ganzen Galaxie beschleunigt und zugleich sämtliche Hochzivilisationen, die überlichtschnelle Raumfahrt beherrscht hatten, auf das Niveau des Dampfmaschinenzeitalters zurückgeschmettert. Ein nach wie vor nicht wirklich vorstellbarer Akt der Aggression, der um so unvorstellbarer wurde, wenn man Darnok so kannte, wie ihn einige aus der RUBIKON-Crew vor seinem verwerflichen und unentschuldbaren Vorgehen gekannt hatten. Sie alle beschrieben Darnok als freundliches Wesen, das früh in die Geschicke der Menschheit eingegriffen und sich schützend vor den heutigen Commander der RUBIKON, John Cloud, und dessen Mitstreiter gestellt hatte. Tatsächlich war es Darnok gewesen, der Cloud einerseits vor den Eroberern der Erde gerettet hatte, indem er ihn und seine Gefährten zweihundert Jahre in die Zukunft versetzte, und ihn andererseits dorthin geführt hatte, wo er dieses unglaubliche Raumschiff, in dem sie sich befanden, für sich hatte in Besitz nehmen können. Im Aquakubus, der heute von den Treymor beherrscht wurde und jüngst mit unbekanntem Ziel transitiert war … Im Traum wurde Yael nicht bewusst, wie sehr er in das Webwerk aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verstrickt war, das die Situation prägte, in der sich die RUBIKON-Besatzung heute bewegte. Obwohl im eigentlichen Sinn noch ein Kind – wenngleich sein Äußeres ihn als erwachsenen Nargen auswies –, war Yael längst zu einer festen Größe innerhalb der Schiffsgemeinschaft geworden. Die Zeiten, da er sich wie ein Außenseiter gefühlt und benommen hatte, waren vorbei. Und vielleicht lag das ein klein wenig auch an einem hübschen Angkmädchen namens Winoa. Er lächelte im Schlaf. Aber nur kurz, dann wirkte sein Gesicht wieder hochkonzentriert
– ein Spiegel dessen, was er im Traum alles auf- und wahrnehmen musste. Und dieser Traum entführte ihn weiter in paradiesische Gefilde. Yael fühlte sich auf unbeschreibliche Weise … heimisch. Als würde er schon immer hierher gehören. Als käme dieser Ort dem am nächsten, was alle emotional geprägten Geschöpfe des Universums mit Heimat verbanden – viel mehr noch als der Ort, an dem er tatsächlich lebte, die RUBIKON. Hier war er aus einem Ei seines Elters geschlüpft, und die Bedingungen an Bord hatten ihn zeitlebens geprägt. Dann hatte er Kalser kennengelernt, das echte Kalser, bei einem Besuch, und ihm war eines klar geworden: Mit der eigentlichen Heimat seiner Spezies, dem Planeten, auf dem Jiim einst geschlüpft war, verband ihn persönlich nichts. Nicht mehr jedenfalls als mit der holografischen Kalser-Nachbildung an Bord, in der sein Orham und er die meiste Zeit zubrachten. Früher zumindest. Auch das hatte sich geändert. Yael schlenderte immer häufiger, begleitet und geführt von Winoa, durch andere Bereiche des riesigen Schiffes. Das Angkdorf war ihr bevorzugter Aufenthaltsort, aber sie unternahmen auch Exkursionen in ferne Bereiche, in denen sie oft keinem anderen Besatzungsmitglied begegneten. Hier waren sie einander noch nähergekommen. Umarmungen, zärtliche Berührungen … Yael bewegte sich im Schlaf. Die Gurte und Metallverbindungen seines Geschirrs, in dem er hing, knarrten und klapperten leise. Kein Yael Nahestehender ahnte etwas von den sich überlagernden Szenen und Bildern, in denen dessen Geist gerade badete. Yael war im Paradies einer Welt, von der er im Traum nicht einmal ahnte, wie sie hieß oder ob und wo sie existierte, wenn es sie denn real geben mochte. Aber das scherte ihn nicht weiter. Ein Paradies war dazu da, dass man es genoss, nicht hinterfragte. Und dass man es mit der oder den Personen teilen wollte, die einem am meisten bedeuteten. Und so kam Winoa ins Spiel. Momentan war sie diejenige, um die seine geheimsten Gedanken und Sehnsüchte kreisten, auch wenn sein Verstand ihm immer wieder Hürden in den Weg stellen wollte,
indem er ihn darauf hinwies, dass es zu nichts führen konnte, wenn sich zwei artfremde Geschöpfe ineinander verliebten. Die Möglichkeiten körperlicher Vereinigung und Befriedigung waren begrenzt, das fing schon beim Küssen an. Menschen hatten Lippen, wunderbar weich, Nargen nicht. Yaels Mundränder waren hart, und er fürchtete jedes Mal, wenn Winoa ihn dort mit ihrer Zartheit berührte, dass sie zurückschreckte vor so viel Strenge und Härte. Ihr selbst schien es nichts auszumachen. Zumindest versicherte sie das glaubhaft und unterstrich es dadurch, dass sie … nun ja, dass sie es immer wieder tat, gar nicht genug bekommen konnte von diesem … Küssen. Yael genoss es ebenfalls, und der Genuss siegte letztlich über die Zweifel. Doch die letzte Nähe, das wussten beide, würden sie nicht herstellen können. Nicht in der Weise, wie es Exemplaren ihrer jeweiligen Gattung untereinander beschieden wäre … wobei die Sache bei Yael noch komplizierter war, da Nargen im Grunde keinen Partner zur Fortpflanzung brauchten. Was sie aber nicht daran hinderte, enge soziale Bindungen aufzubauen und zu vergleichbaren Gefühlen fähig zu sein, wie Menschen sie aufbrachten. Oder besondere Menschen: Angks. Yael war von Anfang an fasziniert gewesen von dem Crewzuwachs, der im Angksystem an Bord gekommen war. Daran hatte sich bis heute nichts geändert. Wieder lächelte er im Schlaf, im Traum … Das Paradies war voller Leben, voller Wärme und Farben. Und je länger der Traum währte, desto überzeugter wurde Yael, dass er den Namen dieses Ortes kannte. Mehr noch: dass er hier schon einmal gewesen war. In Wirklichkeit, nicht nur in seiner Fantasie … Er wurde hart aus seinem Traumkonstrukt gerissen, als ein schriller Alarmton durch die RUBIKON losdröhnte und jeden an Bord – ganz gleich, ob er wach war oder schlief, sich in einer künstlichen Enklave wie Kalser aufhielt oder nicht – darauf hinwies, dass Gefahr im Verzug war.
Cloud konnte eine Weile nur stumm auf das starren, was aus dem Dorf der Angks geworden war. Sesha hatte ihn darauf aufmerksam gemacht und die Bilder moderiert, die er sich kurz darauf aus dem Inneren des geschlossenen Sarkophags ansah. Begonnen hatte der ganze Trouble mit der alarmierenden Behauptung der KI, dass übergangslos der Kontakt zu tausenden von Angks abgebrochen sei. Sämtliche, die sich in den Dorfhäusern befunden hatten, als das hier – was genau? – begonnen hatte. Von lediglich 56 Ausnahmen war die Rede – und es erleichterte Cloud zum einen maßlos, dass sich unter diesen Ausnahmen sowohl Assur als auch deren Tochter befanden. Laut KI sollte sich Assur in seiner Privatkabine aufhalten, während Winoa bei ihrer Freundin Aylea weilte … Was für ein glücklicher Zufall! Weniger glücklich war das ungewisse Schicksal all der anderen Angks, zu denen Sesha jede Verbindung verloren hatte. Das war ein Aspekt der sichtbaren Ungeheuerlichkeit. Der zweite: Es gab kein Angkdorf mehr! Dort, wo sich Minuten zuvor noch die Szenerie erhoben hatte, an die sich längst auch alle Nicht-Angks an Bord gewöhnt hatten … erstreckte sich nunmehr etwas, das aussah, als hätte ein mit Allmacht versehener Riese ein besonders ansehnliches Kuchenstück aus irgendeinem Planeten herausgeschnitten und anstelle des verschwundenen Dorfes drapiert. Es waren keine einstöckigen Häuschen mit malerischen Fassaden und einfallsreichen Accessoires mehr, die sich unter dem Licht der Kunstsonne im Bauch der RUBIKON erstreckten – plötzlich standen da ganz und gar andere Bauten. Dutzende Pyramiden, die meisten klein, aber eine, im Zentrum, ein wahres Monument an Größe – dieser Koloss war als einziger goldfarben, während die anderen den Farbton der verschwundenen Angkhäuser übernommen hatten: Anthrazit. Aber das wirklich Beklemmende an diesem neuen Bild war, dass die Straßen zwischen den Gebäuden wie leergefegt waren. Kein
Mensch hielt sich außerhalb auf. Cloud fiel eher beiläufig auf, dass auch der Baum verschwunden war, der als einziges Gewächs die Killerstrahlung der Treymor überstanden hatte. In der neuen Stadtlandschaft hätte Cloud nicht einmal auf Anhieb zu sagen vermocht, wo die einstige Position des Rog-Baums gewesen war … Er atmete tief durch. Dann zog er seine Sinne aus den Nervensträngen und Sensoren des Schiffes zurück und öffnete den Sarkophagdeckel. Scobee war da, als er sich aus der halb liegenden in die aufrechte Sitzposition wuchtete. Der Sitz machte die nötige Veränderung klaglos mit. »Wo sind die anderen?«, begrüßte er Scobee. »Ich weiß es nicht. Ich war wohl der Zentrale am nächsten, als der Alarm losging.« »Du hast Kenntnis von dem, was passiert ist?« »Sesha war so freundlich …« Sie zeigte zur Mitte, wo die Holosäule in 3D wiedergab, was Cloud gerade noch sehr viel intensiver geschaut hatte. Aber auch die Holodarstellung reichte, um ihm einen Schauder über den Rücken zu jagen. »Ein Hammer – oder?« »Thors Wumme war ein Scheiß dagegen!« Er sah sie verblüfft an. »Ich rede wie Jarvis, stimmt's?« »Es sei dir verziehen.« »Danke, Commander.« »Sesha – Komplex abriegeln! Welche Maßnahmen schlägst du vor?« »Was befiehlst du? Energieschirm?« »Okay. Aber ausreichend gekennzeichnet und gesichert. Ich will nicht, dass jemand zu Schaden kommt – keiner von uns jedenfalls.« Er spürte Scobees brennende Blicke, während die KI den erhaltenen Befehl umsetzte. Flimmernd baute sich eine Energieglocke auf, die sämtliche Pyramiden in sich aufnahm. Als dies ohne Zwischenfall gelungen war, atmete Cloud ansatz-
weise auf. Obwohl sich an der simplen Rechnung, dass mehrere tausend Angks mit dem Dorf verschwunden waren, nicht das Mindeste geändert hatte. Cloud stand auf und ließ seinen Blick durch die Zentrale schweifen. »Wo ist er?« »Wen meinst du?« »Der, dem wir diesen Mist wahrscheinlich verdanken – zumindest mit verdanken!« »Du meinst … Charly?« »Den neuen Charly, ja!« »Er ist unmittelbar nach Jarvis' Rückkehr von Kentyr verschwunden und hat sich seither keinem von uns wieder gezeigt – jedenfalls ist mir nichts von einer solchen Begegnung bekannt.« Cloud nickte. »Ich habe Sesha auf ihn angesetzt – ohne Erfolg. Es gibt offenbar Objekte, die sie nach wie vor nicht zu orten vermag, wenn die es nicht wollen.« Er seufzte. »Frag mich mal, ob mir das Angst macht!« »Macht es dir Angst?« »Ja, verdammt! Aber ich kann's nicht ändern! Ich überlege schon die ganze Zeit, wie ich ihn aus seinem Versteck locken kann. Ich bin sicher, er sieht und hört alles von Relevanz – wahrscheinlich wohnt er sogar unserem Gespräch bei, nur wir merken es nicht.« »Vielleicht befindet er sich dort, wo gerade unser nächstes und bislang größtes Problem aufgetaucht ist …« Er nickte. »Im ehemaligen Angkdorf. In einer dieser Pyramiden.« »Wäre zumindest eine Option …« »… der wir nachgehen werden.« »Wie?«, fragte Scobee. »Jedenfalls ohne das Leben auch nur eines Besatzungsmitglieds zu –« »Oh!«, unterbrach ihn Scobee – sogar schneller als die KI es vermochte. Cloud folgte ihrem Blick, der sich an das Bild der Pyramiden geheftet hatte. »Achtung! Ein Zwischenfall!«, meldete nun auch Sesha.
»Wir sehen es«, unterbrach Cloud die KI. »Wo bei allen marsianischen Göttern kommt der plötzlich her? Ist das Jiim … oder Yael?« Er kniff die Augen zusammen. »Yael!«, entschied er eine Sekunde später selbst. Das goldene Gefieder war unverwechselbar – vor allem seit Jiim sein Nabiss eingebüßt hatte. »Viel wichtiger als seine Identität dürfte vielleicht die Frage sein, was er da macht«, warf Scobee ein. »Dieser Wahnsinnige fliegt in vollem Karacho Richtung Pyramiden … Gleich wird er gegen die Energieglocke donnern …!« Cloud wollte den Befehl geben, sie noch einmal abzuschalten. Yaels Sicherheit ging vor. Aber dann beschleunigte der junge Narge sein Tempo plötzlich mit aberwitzigen Werten … … und hatte den Schild auch schon erreicht. »O nein …«, stöhnte Scobee. Während Cloud mit einem brennenden Gefühl unter dem Brustbein verfolgte, wie Yael sich von dem Hindernis nicht stoppen ließ. »Person hat die Glocke passiert«, meldete Sesha aus dem Off. Cloud hatte die KI noch niemals bass erstaunt gehört – hier war es der Fall. »Er … scheint unverletzt zu sein«, rann es aus Scobees Mund. »Er fliegt weiter, als wäre nichts gewesen …« »Hast du eine Strukturlücke geschaltet?«, wandte sich Cloud an Sesha. »Eine Strukturlücke wurde geschaltet«, bestätigte die KI, die sich anhörte, als ringe sie immer noch um ihre Fassung. »Aber nicht von mir …«
Yael landete im Schatten der großen Pyramide. Eine Stimme aus dem Nichts sagte: »Mach keine Dummheiten, Junge, komm zurück! Du begibst dich in Lebensgefahr. Wir müssen erst klären, was es mit den Bauten auf sich hat, die wie Pilze aus dem Boden geschossen sind und das alte Angkdorf verdrängt haben …« Die Stimme des Commanders.
Yael machte gar nicht erst den Versuch, sein Handeln zu rechtfertigen. Was hätte er schon sagen und erklären können? Er hatte den unwiderstehlichen Zwang verspürt, hierher zu kommen, kaum dass er aus seinem Schlaf gerissen worden war. Und hier war er nun. Es war wie ein Déjà-vu. Das letzte Mal, als er Pyramiden gesehen hatte, war das nach seinem Transfer durch Winoas Haus gewesen. Winoa und ihre Mutter waren dem Phänomen ebenfalls zum Opfer gefallen und … ja, irgendwo gelandet. Wenn er sich umsah, stellte er sich die Frage, ob die Pyramiden von damals einfach nur … herübergerutscht waren. Aus der Dimension … oder wie immer man es bezeichnen musste … in der sie zuvor existiert hatten. Und ob das Angkdorf, wie zum Ausgleich der Kräfte und Gesetzmäßigkeiten, dafür dorthin hatte verschoben werden müssen, wo die Pyramiden eine Lücke hinterlassen hatten … Was für eine abstruse Theorie – fand er selbst. Trotzdem beschäftigte sie ihn weiter. Er stand vor der Pyramide und suchte vergeblich eine Zugangsmöglichkeit. »Yael! Gib Antwort – ich bitte dich …!« Das war nicht mehr John Cloud, das war Yaels Elter – Jiim. Yael setzte zu einer Antwort an, zögerte, überwand sich. »Ich höre dich, Orham.« »Was ist in dich gefahren? Du hättest sterben können … Komm zurück, sofort. Die fremden Bauten müssen untersucht werden, aber nicht von dir!« Sterben können? Erst als Yael hinter und über sich sah, bemerkte er die Anzeichen einer Gefahr – eine flimmernde Energieglocke. Vorhin hatte er sie gar nicht bemerkt. Nicht bewusst jedenfalls. »Ich wollte dich nicht ängstigen …« »Das tust du aber! Komm zurück. John will Bots vorschicken. Sie können die Pyramiden in Augenschein nehmen, ohne dass Leben in Gefahr geraten!« Obwohl er Jiims Worten lauschte, suchte Yaels Blick weiterhin un-
vermindert nach einem Hinweis auf eine Tür, ein Portal, das ins Innere der riesigen Pyramide führte. »Ich fühle … mich der Situation gewachsen.« »Weil du nicht du selbst bist«, hielt Jiim ihm vor. »Überleg genau – du bist doch nicht aus freien Stücken durch die Energieglocke …« Yael dachte nach. Er war erwacht. Er hatte eine Präsenz von etwas gefühlt, die alles übertraf, was er jemals wahrgenommen hatte. Doch nun … war sie weg. Er stand da und wusste nicht, wie es weitergehen sollte. »Yael! Hörst du mich? Ich bin's, Winoa. Hör auf deinen Orham. Er meint es nur gut. Wir haben furchtbare Angst um dich … und um all die Verschwundenen! Du machst es nicht besser, wenn du …« Weinte sie? Ihre Ansprache hatte in einem Schluchzen geendet. Yael fasste einen Entschluss. »In Ordnung. Ich komme.« Seufzer der Erleichterung – offenbar von Winoa und Jiim. »Könnt ihr das Ding … kurz abschalten?« Er war sicher, dass sie ihn sehen konnten, und zeigte auf die Energieglocke. »Natürlich. Man soll sein Glück nicht überstrapazieren«, sagte Cloud. Yael verzichtete bewusst aufs Fliegen und ging betont langsam auf die Barriere zu, die erst erlosch, als er zwei Schritte davon entfernt war. Ein Ring von Spinnenbots hatte sich dahinter eingefunden. Sie huschten herein, als Yael hinaustrat. Der Narge hatte nicht gewusst, dass es so viele von ihnen gab. Hinter ihm baute sich die Glocke wieder auf, die Bots jagten auf die Pyramiden zu. Yael blieb eine Weile stehen und sah zu, wie auch sie sich die Zähne an den Bauten ausbissen. Auch sie fanden keine Zutrittsmöglichkeit. Schließlich kehrte er den Geschehnissen den Rücken und suchte die Zentrale auf, wo er schon sehnsüchtig erwartet wurde.
Noch bevor Yael eintraf, enterte Jarvis die Bordzentrale. »Wo warst du?«, empfing ihn Scobee, auch Cloud wurde aufmerksam, wartete auf die Antwort des Freundes. »Ich hatte mich ein bisschen zurückgezogen.« Schon das allein klang angesichts der aktuellen Geschehnisse … merkwürdig. »Alles in Ordnung bei dir?«, fragte Cloud. »Nein«, sagte Jarvis. »Nein …«, echote Scobee. Sie war aufgestanden und hatte ein paar Schritte vom Podest herunter gemacht. Winoa folgte ihr, offenbar auch aufmerksam und neugierig geworden. Sie war kurz zuvor mit Aylea eingetroffen, hatte auf Clouds Bitte hin zu Yael gesprochen und wahrscheinlich nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass er sich zur Umkehr hatte überreden lassen. Jiim hatte in einem der Kommandositze Platz genommen. Stocksteif und angespannt wartete er auf Yaels Erscheinen. »Du siehst völlig fertig aus«, sagte Scobee, als sie Jarvis ein paar Schritte vom Podest entfernt erreichte und sich vor ihn stellte. Das zwang ihn, stehen zu bleiben – oder sie zu umgehen. Er blieb stehen. »So fühl ich mich auch.« »Was ist los?« Cloud trat zu ihnen. »Weiß ich nicht. Ich war schrecklich müde. Eigentlich kenne ich das so nicht mehr, seit ich …« Er klopfte sich gegen die Brust. Es klang, als würde Metall auf Metall schlagen und widersprach damit dem rein optischen Eindruck, den Jarvis dank Kargors Kristall lieferte. »… hier drin stecke.« »Das war zu befürchten«, sagte Cloud. Jarvis sah ihn trübsinnig aus kleinen, verquollenen Augen an. Es war erstaunlich, wie bereitwillig seine Maske seinen inneren Zustand widerspiegelte. Er wollte etwas erwidern, aber in diesem Moment erschien Yael. Langsam und zögernd trat er in die Zentrale, auf seine Weise ebenso verunsichert wie Jarvis.
»Junge …« Jiim eilte ihm entgegen. Als er an Scobee vorbei wollte, hielt sie ihn am Flügel fest. Verwundert sah er sie an, blieb aber stehen. »Überfall ihn nicht gleich«, riet sie ihm. »Deine Gefühle gehen mal wieder mit dir durch – das macht dich sympathisch. Aber im Moment scheint er das nicht gebrauchen zu können. Lass ihm ein bisschen Zeit.« Es fiel Jiim sichtlich schwer, sich diesbezüglich an die Kandare zu nehmen. Doch Yael unterstrich Scobees Einschätzung, indem er sich sofort Winoa zuwandte, nicht seinem Elter. Bei ihr blieb er wortlos stehen. Sie nahm seine Hand und drückte sie stumm. Ihr Blick versuchte, ihm Mut zuzusprechen. Irgendwie war die Situation insgesamt eher bedrückend. Hinzu kam, dass sie die Lage bei den Pyramiden nicht aus den Augen verlieren durften. »Was war da los?«, wandte sich Cloud an Yael. »Was hat dich veranlasst, dich wie ein Kamikaze …« Er fing Scobees vorwurfsvollen Blick auf und mäßigte sich sofort – obwohl es ihm innerlich gegen den Strich ging, Yael immer und überall wie ein rohes Ei zu behandeln. »Ich weiß es nicht – ehrlich.« Yael hob seinen Blick und sah Cloud an. »Ich hatte das Gefühl, hinfliegen zu müssen. Die Pyramiden … sie könnten identisch sein mit denen, die wir …« Er blickte zu Winoa. »… vor einiger Zeit fanden. Hier an Bord … oder wo auch immer es wirklich war.« Cloud erinnerte sich an die Geschehnisse, in deren Verlauf auch Assur … (Sein Blick suchte nach ihr, er hatte sie in die Zentrale gebeten, aber bislang war sie nicht erschienen) … mit ihrer Tochter in eine unbekannte Sphäre versetzt worden war, in der Yael meinte, von etwas angesprochen worden zu sein. »Winoa?«, wandte sich Cloud an das Mädchen. Sie nickte, den Blick in die Holosäule gerichtet, wo die Pyramidenansammlung zu sehen war. »Könnte sein … möglich … Nur war dort, wo wir waren, alles grau in grau …« Das wiederum bestätigte Yael mit einem Nicken.
»Dann könnte es sein, dass das Damalige dich heute wieder angesprochen hat – auf geistiger Ebene«, spekulierte Cloud. Yael wirkte stark verunsichert. »Ich weiß nicht – es war anders. Die Anziehung war da. Aber es kam mir eher vor, als würde ich diesmal die unbekannte Präsenz spüren und mich genötigt fühlen, mich zu ihr zu begeben. Nur …« »Nur?« »Nur als ich ankam, ignorierte sie mich. Es war, als … wollte sie mich nicht mehr. Als wollte sie mir zu verstehen geben, du hattest deine Chance und hast sie nicht genutzt. Jetzt ist es zu spät …« »Junge …« Nicht nur Jiim muteten Yaels Worte suspekt an. Es hielt ihn nicht länger auf Distanz. Er eilte zu seinem Kind, als müsste er es vor sich selbst beschützen. Zu wirr klangen dessen Ausführungen. Endlich trat auch Assur in die Zentrale. »Mum!« Winoa winkte sie zu sich. Assur gesellte sich zu ihnen, suchte Clouds Blick, lächelte. Am liebsten hätte er sie in die Arme genommen, so groß war immer noch seine Erleichterung, dass sie nicht zu den Verschwundenen gezählt werden musste. »Ihr hattet unwahrscheinliches Glück«, begrüßte er sie und beschränkte sich darauf, ihr kurz die Hand auf die Schulter zu legen. Sie verstand seine Zurückhaltung im Kreise der anderen und ihrer momentanen Situation. »Es war mehr als Glück – fürchte ich«, erwiderte sie und konnte sich der Aufmerksamkeit aller nur noch gewisser sein. »Wie meinst du das?«, fragte Cloud. »Ich mache mir größte Vorwürfe … Ich hätte gleich zu dir kommen und es sagen müssen …« »Ruhig, ganz ruhig. Niemand macht dir Vorwürfe. Erzähl, was los ist. Es geht um das Verschwinden des Dorfes …?« »Und der Menschen. Vor allem der Menschen«, seufzte Assur. Es war offensichtlich, wie nah ihr das Ganze ging. Sie erzählte von dem Gefühl unbestimmter Gefahr, das sie veranlasst hatte, ihr Haus kurz vor dem Auftauchen der Pyramiden mit ihrer Tochter zu verlassen.
Danach verstand Cloud besser, was sie sich vorwarf. Trotzdem blieb er dabei: »Es hätte nicht viel geändert, wenn du zu mir gekommen wärst. Ich bin sicher, dass das Ereignis nicht aufzuhalten war – nicht von uns jedenfalls.« »Aber das Dorf hätte rechtzeitig evakuiert werden können«, beharrte sie. »Rotak … all die vielen Menschen …« »Noch gibt es keinen Beweis dafür, dass sie zu Schaden gekommen sind.« Sie sah ihn ungläubig an. »Glaubst du das wirklich?« »Ja.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, ich könnte es auch. Aber …« »Was?« Sie blickte zu ihrer Tochter. »Ich weiß nicht, wie es bei dir ist, aber ich … fühle mich verlassen. Es ist, als wäre ein Teil von mir, an den ich mich so gewöhnt hatte, dass ich ihn kaum bemerkte, als er da war, abhandengekommen.« Winoa zögerte, nickte dann. Auch sie wirkte verstört. »Wir werden uns darum kümmern«, versprach Cloud. »Die Bots sind dabei, die Pyramiden unter die Lupe zu nehmen. Ich erwarte in Kürze –« »Commander, es gibt ein Problem«, meldete sich Sesha. »Die Bots …« Cloud blickte zur Holosäule. »Was ist mit ihnen? Gibt es schon ein Ergebnis?« »Ja.« »Welches?« Die Pyramiden wirkten unverändert – und doch hatte sich etwas verändert. Am Gesamtbild. »Sie sind soeben verschwunden.«
Der nächste Paukenschlag. »Verschwunden …« Cloud verdaute die Nachricht nur mühsam. »Was heißt das konkret? Ich meine, wie sind sie verschwunden?« »Soll ich die Sequenz einspielen?«, fragte Sesha.
»Wenn es eine Aufzeichnung gibt, natürlich!« »Ich beginne …« Schon während die Ankündigung erfolgte, nahmen alle Versammelten auf dem Kommandostand Platz. Die Sitze reichten gerade aus für Cloud, Jarvis, Scobee, Assur, Winoa, Jiim und Yael. In der Holosäule tauchten die Bots wieder auf. Sie schwärmten zwischen den Pyramiden umher und suchten augenscheinlich nach einer Zugangsmöglichkeit. Vergeblich. Doch dann … »Jetzt«, kündigte Sesha an. »Aufgepasst …« Es sah aus, als würden Eisenspäne von einem Supermagneten angezogen. Ganz gleich, wo sich die Bots in diesem Moment befanden, es traf jeden. Sie wurde in die jeweils nächstgelegene Pyramide, in der sich eine Dreiecksöffnung gebildet hatte, eingesogen. Hinter ihnen schloss sich die Öffnung wieder. Das Ganze war eine Sache von zwei, drei Sekunden. Jiim fand als Erster die Sprache wieder. Er beugte sich zu seinem Sohn hinüber und meinte unheilschwanger: »Das hätte auch dir passieren können – ich darf gar nicht daran denken!« Obwohl Cloud dem Nargen prinzipiell recht gab, bezweifelte er doch, dass Yael ein ebenso harmloser Spielball der Gewalten geworden wäre wie die Spinnenbots. Yael hatte mehr als einmal bewiesen, dass ungeheure Fähigkeiten in ihm schlummerten. Vielleicht waren genau diese Fähigkeiten der Grund, weshalb er die Aufmerksamkeit der Pyramidenbewohner auf sich gezogen hatte. Der Pyramidenbewohner? Wer sagt denn, dass irgendjemand darin wohnt? Außer den Angks vielleicht – aber dann wäre es wohl eher eine Gefangenschaft … »Ist es möglich, Ausschnitte hoch zu vergrößern, die uns Aufschluss darüber geben, wie es in den Pyramiden aussieht?«, wandte sich Cloud an die KI. »Du weißt schon, die Öffnungen, die kurz entstanden … Erlauben sie Einblicke ins Innere?« Sesha zoomte mehrere Beispiele heran. Doch zu keiner Zeit war irgendetwas jenseits der Torschwelle zu erkennen.
»Einen Versuch war es wert.« »Wo wir gerade dabei sind«, sagte Scobee, »könnte Sesha doch auch noch einmal den Übergang von Angkdorf zu Pyramidenstadt dokumentieren – auch darüber gibt es bestimmt Aufzeichnungen. Sesha?« »Korrekt.« »Einspielen«, befahl Cloud. Gemeinsam wurden sie Zeugen, wie es zu der unseligen Verwandlung gekommen war. Eben noch bewegten sich gut aufgelegte Menschen durch die Dorfstraßen … und im nächsten Moment … »Stopp! Noch mal zurück! Langsam …«, rief Cloud, als übergangslos die Pyramiden das vertraute friedliche Bild ersetzten. »Hast du etwas gesehen?«, fragte Assur. »Vielleicht.« Cloud wollte sich nicht festlegen. »Ab hier – Einzelbilder, Sesha!« Die KI hatte ein perfektes Timing. Mit einem Bild pro Sekunde Fortschritt wechselte die Holodarstellung von nun an in winzigen Nuancen. Bis Cloud wieder rief: »Stopp!« Das Bild fror ein. »Da ist das, was ich meine … Sesha, markieren! Dort, bei der größten Pyramide, links unten …« Spätestens jetzt erkannten auch die anderen, worauf er hinaus wollte. »Charly«, platzte Aylea heraus. »Dieser Typ, der sich für Charly ausgibt …! Aber – was macht er da??«
Es war nicht klar ersichtlich, was er tat. Es schien, als stünde er einfach nur da. »Ich würde sagen«, meldete sich Jarvis zu Wort, und es klang angestrengt, »er steckt dahinter. Er hat das … gemacht.« Cloud ließ es unkommentiert – zunächst jedenfalls – und ließ die Szene in Normaltempo weiterlaufen.
Charly war nur einen kurzen Moment zu sehen, dann verschwand er. »Ich würde das nicht zu negativ sehen«, sagte Cloud nach einer Weile, in der eine heftige Diskussion unter allen Anwesenden entbrannte. »Bislang hat dieses Wesen keinen unbedingt feindseligen Eindruck hinterlassen. Von ihm wissen wir, dass das Angksystem Hilfe braucht – und bedenkt man seine bereits demonstrierten Möglichkeiten, wäre es ihm wahrscheinlich ein Leichtes, uns jederzeit außer Gefecht zu setzen oder zu versklaven, wenn er dies wirklich wollte.« »Ich teile deine Einschätzung nur bedingt«, hielt Scobee dagegen. »Ich habe mittlerweile auch eine These, woran Cy gestorben sein könnte.« »Woran?«, fragte Cloud angespannt. »Es könnte an dem liegen, was an Bord in Gang gekommen ist – Pyramiden inklusive. Aber nicht nur. Ich meine auch das, was Jeltos Aurenlicht sichtbar macht: Auf einer Art ›zweiter Ebene‹ bereitet sich eine eklatante Veränderung des Schiffes vor. Möglich, dass Cy die damit einhergehenden Nebeneffekte sehr viel stärker zu spüren bekam als wir anderen. Sein Metabolismus ist anders aufgebaut.« »Du meinst, Cy ging an dem zugrunde, was wir bislang nur unter bestimmten Voraussetzungen überhaupt wahrzunehmen imstande sind?«, vergewisserte sich Cloud, es richtig verstanden zu haben. »Wie habe ich mir das vorzustellen? Wie eine allergische Reaktion, eine Verseuchung? Und heißt das, dass wir anderen über kurz oder lang auch in Schwierigkeiten geraten werden?« »Das kann ich nicht sagen«, erwiderte Scobee. »Es ist nur eine These. Wahrscheinlich werden wir sie auch in absehbarer Zeit weder widerlegen noch bestätigen können.« »Und was hat Charly damit zu tun?«, fragte Jiim. »Alles«, antwortete Winoa. »Ihr habt es doch gesehen. Er war kurz bei den Pyramiden. An einen Zufall glaube ich nicht.« »Sondern?«, fragte Assur. »Dass er es initiiert hat. Und damit meine ich nicht nur den ›Umbau‹ des Dorfes, sondern auch das, was die RUBIKON als Ganzes
angeht – was sie ganz allmählich verändert und verfremdet …«
4. Die Zentrale hatte sich weitestgehend geleert. Nur zwei waren geblieben. Zwei, die Gesprächsbedarf hatten. »Wir haben ein Problem, John«, sagte Jarvis. »Ich meine, abgesehen von Cys plötzlichem Tod und jetzt auch noch den Vorgängen im Dorf …« »Ich weiß«, unterbrach ihn der Commander. »Dich.« Jarvis hatte das Gefühl zu erzittern. »Ja, mich. Beziehungsweise …« »Das Ding, das in dir steckt.« »Die Leiche, ja. Der Tod spielt momentan eine ziemlich dominierende Rolle«, sagte Jarvis düster. »Glaubst du, mir gefällt es? Aber der Typ … du weißt schon … meinte, es wäre die einzige Möglichkeit, Kentyr davor zu bewahren, weiter im Sumpf verschiedener Wirklichkeiten zu ersticken.« »Der Typ, von dem du redest, ist seit eurer Rückkehr unauffindbar«, erwiderte Cloud. »Frag mich mal, ob mir das gefällt. Und frag mich mal, ob mir gefällt, dass er durch die zurückliegende Aktion, die einen Planeten retten mag … oder auch nicht, wer will das schon so genau wissen … dich in Gefahr bringt. Der tote Ganf in dir ist doch nicht plötzlich handzahm geworden …« »Ich versuche aber, es mir einzureden.« »Dann hoffen wir, dass es kein böses Erwachen gibt. Eigentlich hätte ich dir längst befehlen müssen, ihn auszuschleusen. Bevor er dich irreparabel und in vergleichbarer Weise schädigt wie Kentyr und seine Bewohner.« »Du wirst lachen«, erwiderte Jarvis. »Ich hatte schon daran gedacht, genau das zu tun – auch ohne Befehl. Es ist ein komisches Gefühl, daraus will ich gar kein Hehl machen.« Cloud überlegte kurz. »Dann sollten wir das vielleicht tun.« »Was?«
»Uns seiner entledigen. Des Kadavers. Oder wie immer man es nennen soll, was jetzt in dir ist.« »Soll ich wirklich …?« Cloud nickte entschieden. »Und … der Typ?« »Müsste schon vorbeikommen, wenn er sein Veto einlegen will und uns einen guten Grund dafür nennen kann.« »Darauf würde ich mich nicht verlassen. Seit seiner Sichtung bei der Pyramide … hat man nichts mehr von ihm gesehen oder gehört.« »Eben.« »Ich werde mich also … aus der RUBIKON ausschleusen?« »Erst dich, und wenn du im freien Weltall bist, es. Danach kommst du zurück an Bord. Notfalls transitierst du. Vielleicht garantiert das am ehesten, dass du ihn auch wirklich los wirst.« »Glaubst du, er könnte mich verfolgen?« Es sollte spöttisch klingen, aber noch während er es sagte, spürte Jarvis etwas, das sich anfühlte wie … wie Nano-Gänsehaut, die sich über seinen Körper breitete. »Der Typ meinte … Moment, ich zitiere … dass Ganf selbst im Tode nicht ohne Macht und Einfluss sind. Was der Leichnam ja nachdrücklich bewiesen hat auf Kentyr.« Jarvis erhob sich aus dem Kommandositz. »Dann geh ich mal. Ich teile deine Einschätzung. Deshalb werde ich das Schiff nicht umständlich durch eine Schleuse verlassen, sondern …« »… gleich transitieren.« »Genau. Einwände?« Cloud schüttelte den Kopf. »Im Gegenteil, ich begrüße es. Viel Glück.« »Moment … Wie ist unsere momentane Position?« »Warteschleife. Leerraum. Kentyr liegt gut zehn Lichtjahre hinter uns.« »Dann ist es gut …« Sie waren beide keine Angsthasen, aber sie wollten auch um jeden Preis verhindern, dass das … tote Wesen in Jarvis noch einmal zur Gefahr für irgendjemanden werden konnte.
»Ich springe jetzt.« Cloud nickte. Jarvis löste den Mechanismus aus, der seinen künstlichen Körper wie ein Kleinraumschiff in die Transition gehen ließ – nur ohne vorher Geschwindigkeit aufnehmen zu müssen, wie es bei Raumschiffen nötig war – und sah schon nicht mehr, was Cloud im Moment des Sprungs sah. Er merkte nur, dass er sich allenfalls eine Mikrosekunde im eisigen Weltraum aufhielt, ehe er wieder zurücksprang. Clouds Miene sprach Bände. »Was ist passiert?«, fragte Jarvis trotzdem. »Er hat es schon wieder getan.« »Wer hat was schon wieder getan?« »Der Typ. Er kam von irgendwo herangeschossen und verschmolz in dem Moment mit dir, als du das Schiff verlassen hast. Er müsste jetzt ebenso in dir sein wie der Leichnam des Ganf … spürst du ihn nicht?«
Nein, wollte Jarvis sagen. Aber der Typ war schneller. Der Typ, der sich Charly, Yaels imaginären Freund, und Jiims Nabiss unter den Nagel gerissen hatte, um sich einen Aktionskörper mit Fabeleigenschaften zu erschaffen. »Wenn du mich auch nicht spüren kannst – ›hören‹ kannst du mich – oder?« »Verdammt!« Jarvis' lauter Fluch verriet John bereits alles. »Schmeiß ihn raus – dazu bist du in der Lage. Dein Körper muss ihn abstoßen. Fremde Materie … Sterne und Galaxien, ich weiß natürlich nicht, wie man das macht, aber du solltest es können. Es ist dein Körper!« Jarvis wusste, warum sein Freund auf ihn einsprach, als wäre er ein kleines Kind. Wahrscheinlich fürchtete er, dass Jarvis bereits unter der Fuchtel des falschen Charly stand – oder zumindest kurz davor war, unterjocht zu werden. Die Worte waren Anleitung zum Widerstand.
Schön, dachte Jarvis, hilflos wie selten. Dann müsste ich jetzt nur noch das Biest in mir orten können. Aber genau daran haperte es. »Ich will dich nicht knechten«, behauptete der Eindringling, und seine Gedanken bohrten sich wie eine ohrenbetäubend laute Stimme in das Bewusstsein seines Wirts. »Sondern?« Jarvis entschied sich, verbal zu antworten, damit John wenigstens aus seinen Dialogfetzen Rückschlüsse ziehen konnte. Der irritierte Ausdruck auf dem Gesicht des Commanders verschwand schnell. »Ihr … unterhaltet euch?« Jarvis nickte. »Was sagt er? Oder besser: Was will er?« »Was willst du?« »Verhindern, dass du einen Fehler machst.« »Inwiefern?« »Du darfst dich des Leichnams nicht entledigen. Er wird gebraucht.« »Ach? Und von wem? Da draußen kann er niemandem mehr schaden, und darum allein geht es doch! Es dauert vielleicht Millionen von Jahren, bis er sich wieder irgendeinem Sonnensystem nähert. Und die Wahrscheinlichkeit, dass dieses dann bewohnt ist, dürfte verschwindend gering sein!« »Darum geht es eben nicht.« »Worum dann?« »Um den Toten.« »Der ist aber schon tot. Toter geht nicht, oder?« »Du willst es nicht verstehen.« »Bleiben wir beim ›kann‹ – ich kann nicht. Aber klär mich auf … Typ!« »Ganf sind wertvoll. Selbst in diesem … Zustand. Es darf nicht sein, dass er verloren geht. Genau genommen ist seine Entdeckung ein Glücksfall. Dadurch eröffnen sich uns unerwartete Möglichkeiten. Es könnte endlich gelingen, die Transformation abzuschließen. Ich bereite diesbezüglich schon alles vor. Du musst dich nicht mehr lange gedulden.« »Glücksfall? Transformation? Für mich klingt das alles nicht so, als käme es uns zugute. Der Crew meine ich. Dem Schiff.«
»Du irrst.« »Wenn das wirklich so ist, hättest du es mir … uns … vielleicht ja auch mal früher sagen können. Es ist ja nicht so, dass alle Leute beratungsresistent und unzugänglich für Argumente sind – so sie ihnen einleuchten.« Cloud blickte fragend. Jarvis machte eine wegwerfende Handbewegung. »Also«, sagte der falsche Charly in ihm. »Kann ich mich darauf verlassen, dass du nicht noch einmal versuchst, die Ressource zu verschwenden?« »Nennst du so die Leiche? Ressource? Na toll!« »Kann ich?« »Und wenn?« »Gäbe es keinen Grund, länger in dir zu verharren.« »Scheiße, okay. Überredet. Zisch ab!« »Das hörte sich alles nicht wirklich seriös an«, konnte sich John einen Kommentar nicht verkneifen. Aber ebenso wie Jarvis wurde er Sekunden später Zeuge, wie etwas aus dem Kunstkörper herausschoss und sich unmittelbar zwischen Jarvis und dem Commander zu der Gestalt formte, die sie bereits kannten. Charlys Erscheinungsbild war nach wie vor das des Feindes und Aggressors, vor dem er mehrfach gewarnt hatte, ohne ihm bislang einen Namen und einen verständlichen Background gegeben zu haben. Stahlblau und grob humanoid wirkte die Gestalt, die keine Physiognomie im gewohnten Sinn hatte. Dennoch fühlte sich Jarvis unweigerlich davon beobachtet. Schlimmer noch: durchschaut. Als bliebe kein noch so gut gehütetes Geheimnis vor diesem augenlosen »Gesicht« verborgen. »Da bist du ja wieder«, seufzte der Commander. »Dann hat der kleine Trick, dich aus der Reserve zu locken, offenbar gefruchtet.« Jarvis sah John fassungslos an. Meinte der Freund ernst, was er da von sich gab? Das Manöver sollte geplant gewesen sein, um Charly zum Auftauchen zu animieren?
Cloud lächelte freudlos. Und Jarvis grübelte, ob er den Mann, der die RUBIKON entdeckt und nutzbar gemacht hatte und seither – von kleineren Unterbrechungen abgesehen – führte, womöglich bisweilen immer noch unterschätzte.
»Ich bin Tecum.« Der Typ hatte einen Namen. Und rückte endlich damit raus. »Nicht mehr … Charly?« »Nein, nicht mehr.« »Was heißt das?«, fragte Cloud. »Existiert der Charly, den wir kannten, überhaupt noch?« »Hat er je existiert?«, stellte das Wesen aus Nabissmaterie die Gegenfrage. »Existieren wir?« »Ich hoffe.« »Seid euch dessen nicht zu sicher …« »Du machst einem ja Mut«, seufzte Cloud. »Lass dich nicht von ihm besoffen quatschen«, mischte sich Jarvis ein. »Das hat er gerade schon bei mir versucht …« »Offenbar mit Erfolg.« Cloud zwinkerte ihm zu. Jarvis stemmte empört die Fäuste in die Hüften, schwieg aber. »Also …«, sagte Cloud. »Tecum … Wir müssen reden.« »Das ist richtig. Wir müssen noch einmal zurück nach Kentyr.« Verblüfft tauschten Cloud und Jarvis Blicke. Nachdem er die Aussage einigermaßen verdaut hatte, fragte Cloud: »Hast du dich umentschieden? Willst du den toten Ganf wieder –« »Darum geht es nicht«, sagte der Mitternachtsblaue. »Worum dann?« »Um eine andere Ressource, die dort lagert. Es wäre töricht, sie auch dort zu belassen. Die Salmonen … wie die Kentyrer sich selbst nennen … haben zwar einen Mythos darum gestrickt, können selbst aber wenig damit anfangen.« Cloud begriff sofort, wovon er sprach. »Du meinst den Rohstoff, aus dem die Ganf das Metall für ihre Schmieden gewonnen haben –
und aus dem sie Rüstungen wie das Nabiss schufen.« Tecum bestätigte dies. »Du willst die Kentyrer bestehlen?« »Sie werden nichts davon merken.« »Wie soll das gehen?« Tecum trat näher auf Cloud zu, baute sich vor ihm auf. Andere wären von der erdrückenden Ausstrahlung des Blauschwarzen vielleicht eingeschüchtert worden, doch Cloud hatte sich geschworen, das nicht zuzulassen. Und es fiel ihm nicht einmal schwer, sich mental gegen die Präsenz zu wappnen, mit der ihn Tecum zu beeindrucken versuchte. Das wiederum schien Tecum zu beeindrucken. »Kennst du dein Schiff nicht?« Es klang weder anmaßend noch vorwurfsvoll, eher … erstaunt. »Nicht mehr, vielleicht«, gab Cloud unumwunden zu. »Es offenbart neuerdings Seiten, die mir Sorge bereiten. Du weißt nicht zufällig, wovon ich spreche?« »Es muss dir keine Sorge bereiten.« »Dann bin ich ja beruhigt. – Zurück zu deinem Vorhaben.« »Die Bergung der Ressource.« Cloud nickte. »Wofür brauchst du sie? Ich wollte Kentyr eigentlich meiden. Mir scheint, als wäre die Welt im Umbruch – die Einflüsse, die der Ganf-Leichnam ausübte, sind noch nicht erloschen. Es wird Jahre, vielleicht Jahrzehnte dauern, bis –« Wieder unterbrach ihn Tecum. »Auf Kentyr gibt es nur noch die Ressource, die ihm Bedeutung verleiht. Nicht seine Bewohner. Sie sind Nebensache.« »So denken Menschen nicht«, widersprach Cloud und dachte bei sich: Nicht mehr zumindest. Aber es gab Zeiten, in denen nichts anderes zählte als Ressourcensicherung und Expansion … Er verdrängte das aufkeimende Unbehagen. Tecum widerlegte die Aussage nicht. »Wir kehren um«, erklärte er lediglich. »Es ist nötig und wird dieses Schiff stärken. Dieses Schiff und die, die darin leben. – Ist das ein Grund für Menschen?« »Dazu werde ich mich erst äußern, wenn ich Details kenne. Wie
soll das Unternehmen vonstattengehen? Ist die RUBIKON überhaupt in der Lage, das Vorkommen zu fördern? Du sagtest, die Kentyrer würden es gar nicht bemerken. Das scheint mir wenig glaubhaft. Schon wenn die RUBIKON in die Atmosphäre eintaucht, werden Turbulenzen entstehen, die einen Sturm über der Stadt entfachen, der wohl niemandem verborgen bleiben wird.« »Den Sturm werden und sollen sie auch bemerken«, erwiderte Tecum. »In seinem Schutz wird es ein Kinderspiel. Hör zu …« Und er erklärte dem Mann, der das Schiff offiziell befehligte, wie genau er vorgehen wollte. Jarvis stand dabei, als ginge ihn das alles nichts an. Er hatte Schweißperlen auf der Stirn. Sie wirkten so real wie er selbst. Zunächst unbeachtet von Cloud und Tecum spürte er, wie der Fremdkörper in ihm langsam Wirkung entfaltete. Erst als er zu schwanken begann und hinstürzte, wurden die beiden aufmerksam. Cloud war sofort neben ihm, beugte sich zu ihm hinab. »Jarvis …« Tecum drängte ihn beiseite und legte den Arm um Jarvis' Schulter. »Schon gut«, sagte er. »Ich kümmere mich um ihn. Er hat Vorrang. Ich werde ihn stabilisieren, bis … bis das nicht mehr nötig ist.« Jarvis hörte die Worte, ohne ihnen wirklich folgen zu können. Etwas beeinträchtigte sein Denken. Aber er spürte, wie sich aus dem Arm, der um ihn lag, etwas absonderte, förmlich in ihn tropfte und sich sofort über seinen ganzen Nanokörper verteilte. Wenige Sekunden später ging es ihm wieder gut. Tecum löste sich von ihm. Jarvis stand auf, schüttelte sich wie ein nasser Hund … und sah verwundert zu dem Mitternachtsblauen. »Was hast du getan?« »Dich stabilisiert. Er hatte begonnen, auf dich einzuwirken. Das habe ich unterbunden.« »Wie?« »Ich habe dir von meiner Stärke etwas abgegeben. Es wird halten, bis wir so weit sind.« »Bis wir mit was so weit sind?«, fragte Cloud argwöhnisch. Tecum winkte ab, verwies auf die Dringlichkeit dessen, wovon er zuvor gesprochen hatte. Nichts schien ihm wichtiger zu sein als Res-
sourcengewinn. »Steckst du hinter dem Verschwinden der Dorfbewohner – und zuletzt der Bots, die wir in die Pyramidenstadt sandten?« »Beides hat mit Sicherheitsmaßnahmen zu tun.« »Sicherheitsmaßnahmen?« »Die Bewohner sind nicht verschwunden«, behauptete Tecum. »Sie werden gebraucht. Und momentan auf ihre Aufgabe vorbereitet.« »Er ist größenwahnsinnig!«, dröhnte Jarvis. »Wir müssen ihm das Handwerk legen! Er hat gerade zugegeben, dass er hinter dem Auftauchen der Pyramiden und dem Verschwinden der Angks steckt – das reicht doch wohl, um ihm unsere Sicht der Dinge zu verklickern. Und ihm zu zeigen, wer die Macht an Bord ausübt!« Cloud gab ihm im Stillen recht. Er brauchte einen Bürgen, der bestätigte, dass er auf Tecums Worte etwas geben konnte und die Verschwundenen nicht doch einer Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt waren. Nach kurzer Rücksprache mit dem Wesen aus Nabiss willigte dies ein. »Ich gewähre Zugang und Einblick, bestehe aber darauf, dass eure KI sich in ihrer Bewertung auf den rein gesundheitlichen Aspekt beschränkt! Für alles andere ist es noch zu früh.« Cloud war bereit, sich darauf einzulassen. »Ich werde mich nicht ewig hinhalten lassen«, sagte er. »Aber für den Moment bin ich einverstanden.« »Sesha?« »Commander?« »Tecum gewährt dir – und zum jetzigen Zeitpunkt, wie er sagt, nur dir allein – einen groben Einblick ins Innere der …« Er wandte sich an Tecum: »Es ist doch die große Pyramide, von der wir sprechen? Wo die Angks sich befinden?« Das Wesen aus Nabiss bejahte. »… Zugang in die große Pyramide. Scanne sie. Und informiere mich über Zahl und Zustand der Angks darin. Mehr Information billigt er uns zurzeit nicht zu. Ich habe versprochen, das vorläufig zu tolerieren. Und ich verbiete dir klipp und klar, mir vor einer er-
neuten Autorisation durch Tecum Details über die Verhältnisse in der Pyramide zu verraten, die über die genannten Parameter hinausgehen. – War das verständlich?« »Absolut«, sagte die KI. »Tecum?«, wandte sich Cloud an das Wesen aus Nabiss. »Ich bin positiv von deiner Vorgehensweise überrascht. Ja, ich akzeptiere diese Vorgehensweise. Eure KI kann jetzt scannen.« Schon eine Minute später meldete Sesha den Vollzug. Und bestätigte Tecums Aussagen in vollem Umfang. Sämtliche vermisste Angks befanden sich in dem großen Pyramidenbau. Und sämtliche Angks waren in guter bis sehr guter körperlicher Verfassung. »Wären dann noch die Bots«, meinte Jarvis. »Ich habe ihre Rückgabe bereits veranlasst. Sie sind unbeschädigt. Wie ich schon sagte, es war eine reine Sicherheitsmaßnahme. Die Pyramiden fühlten sich angegriffen …«
Die RUBIKON kehrte nach Kentyr zurück. Tecum, der Cloud in allen verlangten Punkten einen Schritt entgegengekommen war, leitete mit dem Einverständnis des Commanders das Unternehmen. Zu diesem Zweck hatte er in einem der Kommandositze Platz genommen und sich über die darin befindlichen Schnittstellen mit der RUBIKON verlinkt. Wie genau, vermochte Cloud nicht zu sagen – und wahrscheinlich wäre selbst Sesha eine Analyse schwergefallen. Auf Geheiß des Mitternachtsblauen steuerte der Rochenraumer in die Atmosphäre des Planeten, rührte die Luft auf, säte Sturm. Die RUBIKON selbst blieb hinter ihrem Tarnschirm verborgen. Die Salmonen zogen sich in ihre Häuser zurück, und das gewaltige unsichtbare Raumschiff senkte sich über der bedeutenden Stadt Feool herab, über dem Pfropfen, der die Quelle des Nabissrohstoffs versiegelte – der sogenannte Mahnstein, der aus jenen entstanden war, die sich einst geopfert hatten, um dem Unheil, das vom »Stahlbad« ausging, für immer Einhalt zu gebieten. Ferencs Orden hatte sich geopfert – nun wurde das Konglomerat verschlungener versteinerter Körper im Toben des entfachten Sturms mit Traktorstrahlen
angehoben – und Tecum leitete die Schritte ein, die nötig waren, um den Materiestrom aus dem Quell herauszuziehen. Aber er leitete ihn nicht in vorbereitete Tanks, sondern … »Dimensionswälle deaktiviert«, meldete sich unvermittelt Sesha aus dem Off. »Was?«, reagierte Cloud auf dem falschen Fuß erwischt. »Dimensionswälle deaktiviert«, wiederholte die KI. »Hey! Stopp!«, befahl Cloud, an sie und an Tecum gewandt. »Was geht hier vor? Wir haben nicht darüber gesprochen, dass –« Doch Tecum ließ sich in seinem einmal begonnenen Tun nicht beirren, geschweige denn aufhalten. Er ignorierte Clouds Bedenken. »Das Schiff muss seine realen Dimensionen darbieten, sonst kann es nicht gelingen.« »Kann was nicht gelingen? Was macht es für einen Unterschied? Die Tankkapazität ist mit oder ohne Wall absolut identisch.« »Ich rede nicht von Tankkapazität.« »Aber darüber sprachen wir – erinnere dich! Der Rohstoff soll in Tanks eingelagert werden und –« »Das war der alte Plan. Ich habe umentschieden. Wir kürzen das Prozedere ab.« Cloud ballte die Hände zu Fäusten. »Du spielst nicht mit offenen Karten …« »Es geht um zu viel.« Mehr sagte Tecum nicht zu seiner Rechtfertigung. Über die in die Holosäule eingeblendeten Bilder und Daten sah Cloud, dass die von Tecum geschaltete unsichtbare Pipeline zu arbeiten begann. Aus der entplombten Öffnung in Feools Boden wurde mit der Förderung der Ressource begonnen. Man konnte es auch Diebstahl nennen. So oder so – die Kentyrer wurden um einen Bodenschatz betrogen, der rechtmäßig ihnen gehörte, ob sie nun etwas damit anfangen konnten und wollten oder nicht. Tief im Herzen hatte dies Cloud von Anfang an widerstrebt. Er hatte sich nur überreden lassen, weil Tecum unablässig darauf pochte, dass sich die Ressource als unschätzbarer Vorteil für die Bewoh-
ner des verschollenen Angksystems erweisen würde. Leeres Geschwätz. Er hat uns reingelegt – mich vor allen Dingen. Was bin ich für ein Commander …? »Sofort alle Aktionen einstellen!«, rief er. »Ich befehle es! Sesha! Befugnisse von Tecum sperren. Er ist raus! Ich übernehme ab sofort wieder.« Er aktivierte den Sarkophagdeckel, wollte mit dem Schiff verschmelzen. Aber der Deckelmechanismus streikte. »Sesha!« »Die KI wurde ruhiggestellt«, meldete sich stattdessen Tecum zu Wort. Sein Äußeres hatte sich zu verändern begonnen. Offenbar wollte er nicht länger die Spezies abbilden, vor der er ausgiebig gewarnt hatte. In dem Sitz, den er vereinnahmte, formte sich ein schneckenartiges Wesen. Ein Ganf. So sieht die Leiche aus, die Jarvis mit sich herumträgt, dachte Cloud. Die Schneckenähnlichkeit beschränkte sich auf die Weichheit, die ölig glänzende Haut und die Augen, die am Ende daumendicker Stiele saßen. Nicht dazu passten die dünnen Extremitäten, die Ärmchen und Beinchen darstellten und die trotz ihrer zerbrechlich anmutenden Feinheit zu enormer Kraftentwicklung fähig waren – bei den echten Ganf und bei diesem Imitat wohl ohnehin. »Ruhiggestellt«, empörte sich Cloud. »Damit demaskierst du dich selbst – wer oder was immer du bist!« »Ich bin nicht euer Feind …« »Nur glaubt dir das jetzt keiner mehr!«, versetzte Cloud. »Jarvis?« »John?« Der Freund blickte zu ihm – aber er wirkte nicht ganz wach, wie benommen. »Ich brauche dich …« »Darauf … warte … ich … schon … die … ganze … Zeit … Ich … schnapp … ihn … mir …«
Es war kein Plan dahinter. Jarvis handelte aus dem Bauch heraus. Gemeinsam mit John hatte er das Eintauchen der RUBIKON in die Lufthülle des Planeten beobachtet, zugesehen, wie der Rochenraumer bis auf knapp fünf Kilometer über der Oberfläche hinabgesunken war und seither dort verharrte. Ein exakt vertikal ausgerichteter Balken vom Schiff aus zum Boden hätte genau die Stelle getroffen, unter der sich das einstige Stahlbad befand. Und diese Ressource hatte Tecum, der eigenen Aussage zufolge, anzapfen wollen. Nun aber … »… falsches Spiel …«, hörte Jarvis John sagen, nachdem Tecum beträchtliche Zweifel an seiner Vertrauenswürdigkeit offenbart hatte. Und dann die folgenschweren Worte: »Ich brauche dich …« Damit gab es für Jarvis kein Halten mehr. Allein – irgendetwas bremste ihn. Er wollte sich auf Tecum stürzen. Aber er war oder wurde gehemmt. Und er ahnte auch, wovon. Dennoch versuchte er, sein Versprechen in die Tat umzusetzen. Kein Plan. Pure Aktion, die an Verzweiflung grenzte. … schaffe es nicht … wisperte es durch Jarvis' Bewusstsein … muss aber … muss … Er stemmte sich aus seinem Sitz. Ihm gegenüber, halb verdeckt von der Holosäule, thronte Tecum in einem der anderen Sarkophagsitze. Dorthin musste er. Jarvis musste ihn einfach nur erreichen, und dann … »Jarvis! Was ist mit dir? Geht es wieder los?« Er hörte Johns Stimme wie durch Watteberge. Und er sah auch alles nur noch verschwommen. Ihm war heiß. In diesem Körper war ihm noch nie heiß gewesen. Das musste die verdammte Leiche sein! Oder … Oder das, was er mir eingeimpft hat. Dieses Teufelszeug. Nabissmaterie … Er merkte, wie er noch langsamer wurde. Wie sich diese Langsamkeit nun auf alles übertrug. Auf Körper, Sprechorgane, Gehör, selbst auf sein Denken!
Aber er wollte es schaffen, wollte John unbedingt beistehen. Vielleicht war Tecum zu überwinden, wenn er ihn dorthin beförderte, wo der Tod eingelagert war – wenn er ihn auch noch aufnahm, in sich einsperrte, die Umwelt vor ihm schützte und isolierte … Es wäre ein interessantes Experiment geworden. Aber es scheiterte. Weil Tecum vorgesorgt hatte. Die Substanz, die er von sich ab- und in Jarvis gegeben hatte, war nicht nur in der Lage, dessen Nanostruktur zu stabilisieren und besser gegen die schädliche Einflussnahme der Ganfleiche abzuschirmen. Sie war auch Tecums Mikroarmee, mit der er die Bastion Jarvis im Rekordtempo überrannte und einnahm. Jarvis erstarrte vollends, lange bevor er Tecum erreichte und gegen ihn vorgehen konnte. Und Tecum wurde aktiver denn je.
»Was hast du mit ihm gemacht?« Cloud wollte aus dem Sitz springen und mit bloßen Fäusten gegen Tecum vorgehen. Doch eine unsichtbare Hand hielt ihn fest, drückte ihn zurück in den Sitz. »Dasselbe wie mit eurer KI«, erwiderte Tecum, ohne den Anschein zu erwecken, in diesen Minuten wirklich viel Konzentration auf das zu verwenden, was sich innerhalb der Zentrale ereignete. Sein Hauptaugenmerk galt den Geschehnissen draußen. Die Holosäule offenbarte in einer Großeinspielung und etlichen Zusatzfenstern, was im Zielgebiet und um die RUBIKON herum vor sich ging. »Ruhiggestellt«, fügte Tecum hinzu. »Was bedeutet das? Ist es reparabel? Korrigierbar?« »Ich bin kein Barbar«, behauptete Tecum. Daran aber zweifelte Cloud längst. »Du trittst mein Vertrauen mit Füßen!« »Deine zweifelhafte Moral verstellt dir den Blick«, erwiderte Tecum ungerührt. »Moral ist in bestimmten Fällen wichtig – hier nicht.
Hier zählt das Resultat.« »Und das wäre?«, ächzte Cloud, der den Eindruck hatte, dass sich der Druck der unsichtbaren Umklammerung, die ihn in den Sitz zwang, erhöhte. »Schnelligkeit, Effizienz … die Ressource.« Es war sinnlos, mit ihm zu diskutieren. Und sinnlos, ihm Widerstand zu leisten. Er schien spielerisch damit fertig zu werden. Trotzdem gab Cloud nicht auf. Den Blick in die Holosäule versenkt, in der sichtbar wurde, wie das flüssige Erz der Quelle so kontrolliert in die Höhe gezogen wurde, als würde es durch ein transparentes Rohr von etwa drei Metern Durchmesser geleitet, spielte er seinen letzten Trumpf aus. »Notfallprogramm Code Delphi – aktivieren!« Die RUBIKON war bereits mehrfach von fremden Mächten »erobert« worden – samt KI. Das hatte Cloud unmittelbar nach Verlassen des Aquakubus veranlasst, sich Gedanken über eine mögliche Prävention zu machen – eine, die auch noch funktionierte, wenn Sesha bereits »überwältigt« war. So war Code Delphi entstanden. Es bedeutete nichts anderes als das Einfrieren jeder Funktion an Bord. Der Status im Moment der Programmausrufung wurde gehalten, um mögliche Komplikationen und Gefährdungen von Schiff und Besatzung einzudämmen – aber ansonsten funktionierte von einem Moment zu anderen nichts mehr. Innerhalb der Zentrale gingen die Lichter aus. Selbst die Holosäule sank in sich zusammen. Völlige Dunkelheit umgab Cloud – und so wie hier war es in diesem Moment in jedem Bereich der RUBIKON. Wie insgeheim erhofft, verschwand sofort der unsichtbare Druck auf ihn. Tecum schien überrascht. Damit war schon viel erreicht. Cloud nutzte die Chance. Ein Handgriff, und ein verborgenes Fach in seinem Sitz sprang auf. Cloud ertastete zwei Gegenstände. Der eine wechselte in die linke, der andere in die rechte Hand.
Als das Licht der Taschenlampe aufflammte und den Sitz erreichte, in dem Tecum gethront hatte, erlebte er jedoch eine Überraschung. Eine, die den Blaster in seiner Rechten nutzlos machte. Der Sitz war verlassen. Tecum war … … neben ihm! Ein Schlag, hart wie mit einer Eisenstange, und Clouds Waffe entglitt seinen Fingern. Sie wurde irgendwo außerhalb der Reichweite des Lampenstrahls geschleudert. Und auch die Lampe selbst erwies sich als Fehlkalkulation. In dem Moment, da sich das stählerne Ärmchen Tecums um Clouds Hals legte und ihn in den Würgegriff nahm, begann der ganze Körper des Schneckenartigen heller als eine Sonne aufzuleuchten und badete die Zentrale in goldenes Licht. »Narr!«, schnarrte Tecum. »Wie oft soll ich es noch beteuern? Ich – bin – nicht – dein – Feind!« Cloud wünschte, er hätte es glauben können. Aber Tecums Verhalten stand in eklatantem Widerspruch zu all seinen bisherigen Beteuerungen …
Draußen tobte noch immer der Sturm, der die Bewohner von Feool in ihren Häusern hielt. Aber die Förderung der Nabissmaterie aus den Tiefen der Planetenrinde war zum Stocken gekommen. Die Traktorstrahlen blieben aktiv, allerdings in einem Modus, der den Ist-Zustand konservierte, ohne den Fortgang der Förderung zu betreiben. Die Säule stand still in der unsichtbaren Pipeline. Und je länger dieser Zustand andauerte, desto höher wurde die Wahrscheinlichkeit, dass auf Kentyr doch jemand aufmerksam wurde – mit unabsehbaren Folgen. Die Einheimischen mochten sich einfach nur erschrecken und rätseln – oder in eine Massenpanik verfallen. Im schlimmsten aller Fälle würden Personen zu Schaden kommen, und das wollte Cloud unter allen Umständen vermeiden. »Wenn du wirklich … nicht unser … Feind bist … beende es!«, keuchte er.
»Du weißt nicht, wie wichtig die Substanz ist …« »Dann … hast du es … versäumt … es mir zu … erklären!« »Vielleicht.« »Stell es … ab … Dann können wir … verhandeln!« Tecum löste plötzlich die Umklammerung. Er wich zurück Die Intensität seines Leuchtens nahm inzwischen Rücksicht auf menschliche Netzhäute. »Wir verhandeln nicht. Nicht über diesen Punkt. Er ist besiegelt. Du wirst es hinnehmen müssen – wie noch anderes mehr. Aber es bleibt auch dabei: Ich bin nicht dein Feind. Wir schätzen dich und deine Gefährten. Ihr habt viel vollbracht. Nichts davon blieb verborgen. Aber es gibt Notwendigkeiten. Das frühere Stahlbad, so wurde beschlossen, ist eine einmalige Chance. Sie zu vertun, wäre unentschuldbar – und würde sich bitter rächen. Davon sind sie überzeugt.« »Sie?« »Die hinter mir stehen.« Cloud rieb sich den schmerzenden Hals. Er blickte an Tecum vorbei und sagte: »Hinter dir steht niemand. Ich sehe keinen.« Vielleicht verwirrte ihn die Reaktion, zumindest aber brachte sie ihn für eine Weile zum Schweigen. Doch auch diese Zeitspanne ließ er nicht unnütz verstreichen. Cloud erlebte eine weitere Demonstration der Macht, die sich in der RUBIKON etabliert hatte. Summend baute sich die Holosäule wieder auf, gleichzeitig gingen die Lichter und Anzeigen in der Zentrale wieder an. Tecums Eigenleuchten hingegen verblasste. Aus sonnenhellem Gold wurde wieder mattes Mitternachtsblau. Und im nächsten Moment wurde auch die unterbrochene Bergung des Bodenschatzes wieder aufgenommen.
Er konnte nichts dagegen tun. Tecum agierte, wie es ihm beliebte. Selbst Code Delphi hatte nur vordergründig funktioniert – genau so lange, wie Tecum es zuließ. Doch jetzt hatte er das Ruder wieder an
sich gerissen und schien keine weitere Verzögerung mehr hinnehmen zu wollen. Und die Holoübertragung verriet, wohin das geförderte Flüssigerz tatsächlich gelangte. Kein Tankraum nahm es auf. Wie eine gigantische Amöbe waberte und wucherte es über die Außenhaut der RUBIKON, suchte und fand jede noch so kleine freie Stelle und umpanzerte sie mit einer Schicht, deren Dicke anfangs noch schwankte und erst endgültig wurde, als der Nachschub aus der Tiefe versiegte, der Quell erschöpft war. »Zehn Zentimeter«, las Cloud den Wert aus der Holosäule ab. »Du hast das Schiff umlackiert, gratuliere. Ich wollte es schon immer in …« Er stockte. Das Rotgold, das er gerade noch gesehen hatte, wechselte in ein dunkles, schmutziges Grün … gefolgt von einem Anthrazitton. »Es changiert!« »Ist das ein Problem?«, fragte Tecum, der nicht verriet, ob er den Sarkasmus bemerkt hatte, den Cloud in seine erste Bemerkung gelegt hatte. »Du kannst es noch fixieren. Aber dafür ist später genug Zeit.« Tecum redete, als würde er Cloud tatsächlich noch als Kommandant der RUBIKON sehen – obwohl er alles tat, um ihn an der Ausübung seiner Autorität zu hindern. »War's das?«, fragte Cloud. »Ich meine – das, weshalb wir gekommen sind? Hast du jetzt deine ›Ressource‹?« »Sie gehört nicht mir – sie ist jetzt Teil deines Schiffes.« »Über das du gebietest.« »Temporär. Zum Besten aller.« »Das behaupten Wahnsinnige immer.« »So denkst du von mir?« »Du gibst mir allen Anlass. Und um es zu präzisieren: Ich spreche von Größenwahn.« »Du siehst mich völlig falsch.« »Ganz ehrlich?« »Nur zu.« »Ich würde dich am liebsten gar nicht mehr sehen!« »Du wirst mich noch brauchen.«
»Ach?« »Du weißt nicht, was dich beim Angksystem erwartet.« »Wer sagt, dass ich dort noch hin will?« »Du kannst mich nicht täuschen. Die Menschen dort sind dir wichtig. Sie sind so, wie du die Menschen auf der Erde gerne hättest – aber dort hat sich alles verändert.« »Angk ist kein Ersatz für die Erde.« »Aber du würdest alles tun, um die dortigen Welten und Bewohner vor Schaden zu bewahren.« Cloud verzog keine Miene, auch sein Tonfall blieb neutral, als er sagte: »Und genau das missfällt mir an dir – du bist so unerträglich selbstgefällig. Was weißt du schon von der Erde – oder meiner Beziehung zu den Angks?« »Du würdest dich wundern.« »Das meinte ich – selbstgefällig!« »Wenn das alles ist, was zwischen uns steht …« »Da ist noch einiges mehr. Er hier zum Beispiel …« Cloud zeigte auf Jarvis, der immer noch völlig erstarrt, wie eine Statue, dastand. »Oder die Bord-KI – sie zu fesseln … oder was immer du ihr angetan hast … war nicht unbedingt ein friedlicher oder auch nur freundlicher Akt.« »Sie ist frei, sobald wir Fahrt aufgenommen haben.« »Fahrt wohin?« »Das dürfte klar sein. Zum momentan heißesten Ort der Milchstraße.« »Heiß?« »Man könnte auch sagen: umkämpftesten. Du denkst, der Protoschild sei alles, was überwunden werden muss, um ins Angksystem zu gelangen – aber du täuschst dich. Es gibt noch andere Faktoren. Und genau deshalb war es wichtig, das hier …« Er zeigte in die Holosäule, wo die RUBIKON sich in einem Glanz darbot wie noch nie. »Dieser ›Lack‹ hat sämtliche Schleusen unbrauchbar gemacht – wie sollen wir künftig das Schiff verlassen?« Tecum führte offenbar eine Korrektur der Bilddarstellung durch. Die RUBIKON wurde herangezoomt, ein imaginäres Kameraauge
»flog« langsam über sie hinweg. Es dauerte nicht lange, bis Cloud verstand, was Tecum damit demonstrieren wollte. Der – zumindest von Clouds Seite – unerwünschte Belag war nicht fugenlos auf der Außenhülle erstarrt. Dort, wo sich Schleusen und vergleichbare Luken befanden, zeichneten sich noch immer Linien ab, die darauf schließen ließen, dass … »Wie hast du das hingekriegt?«, fragte Cloud, erstmals bereit, der vollbrachten Leistung Respekt zu zollen, auch wenn er nach wie vor unsicher war, ob sie zum Vorteil der RUBIKON erbracht worden war. »Ich habe es hingekriegt – das muss reichen.« Dir vielleicht, Arschloch, dachte Cloud ungnädig. Er wurde Zeuge, wie Tecum das Unternehmen Kentyr abschloss. Dazu gehörte, dass der Mahnstein wieder an Ort und Stelle gerückt wurde. Ob der Diebstahl der Ressource tatsächlich unbemerkt von Feools Bewohnern geblieben war, würden sie vielleicht nie erfahren. Die RUBIKON beschleunigte in den sturmumtosten Himmel hinauf, durchstieß die letzte Atmosphärenschicht und erreichte das lackschwarze All. Im selben Moment kam Bewegung in Jarvis.
»Beruhige dich.« »Ich soll mich beruhigen?« »Er behauptet, es nur für uns getan zu haben.« »Und das glaubst du ihm?« Jarvis' Augen funkelten so wütend wie selten. »Ich weiß es nicht. Aber vermutlich werden wir es bald erfahren.« »Wann?« »Spätestens, wenn wir dort eintreffen, wohin er uns schon die ganze Zeit lotsen will.« »Ins Angksystem.« »Genau.«
»Aber da wollen wir auch hin – oder?« »Ich wollte zu unseren eigenen Bedingungen hin – inzwischen sieht es aber so aus, als würde er sie diktieren.« »Und das stinkt dir.« »Du sagst es.« »Warum lässt du mich dann nicht von der Kette?« »Weil ich Angst habe, dass er dich wieder kaltstellt. Es scheint ihn nur ein müdes Lächeln zu kosten.« »Der Typ lächelt?« Cloud hatte für Jarvis' typischen Gesprächsstil nur ein Achselzucken übrig. Andererseits zeigte die Wortwahl des Freundes, dass er keinen bleibenden Schaden davongetragen hatte. »Dir scheint es wieder besser zu gehen.« »Einigermaßen«, maulte Jarvis. »War schon toller.« Ebenso wie Cloud schien er sich nicht daran zu stören, dass der »Typ«, von dem sie die ganze Zeit geredet hatten, sich immer noch in Sichtweite zu ihnen befand. Tecum wiederum schien sich nicht provozieren zu lassen. Zumindest nicht, solange eine bestimmte Grenze – die er bestimmte – nicht überschritten wurde. »Wenn du dann so weit bist …«, erklang unvermittelt sein Organ. Er meinte Jarvis. Und Jarvis wusste es, obwohl die Augen am Ende der Stiele auf dem Ganfkopf sonst wohin hätten blicken können. »So weit – wofür?«, fragte er. »Dich zu erleichtern.«
»Wohin gehen wir?« »An den Ort, den ich vorbereitet habe.« »Für die … Leiche?« »Für die Leiche.« »Wann? Ich meine, wann hattest du Gelegenheit, etwas vorzubereiten?« »Ich war nicht fortwährend in der Zentrale präsent, oder?« »Nein.«
»Damit ist deine Frage beantwortet.« Jarvis nickte unzufrieden. »Wie man's nimmt. Du bist ne komische Type, aber das weißt du, oder?« »Nicht komischer als du.« »Auch wieder wahr. Aber nicht so sympathisch.« Tecum blieb kurz stehen. Sie hatten die Zentrale vor drei Minuten verlassen, und Tecum hatte John versichert, sich künftig wieder mehr an die Hierarchie an Bord halten zu wollen – falls Umstände nicht das Gegenteil erforderten. Den Gesichtsausdruck des Commanders hatte Jarvis fotografiert und in sein spezielles Archiv abgelegt. Man wusste nie, zu welchem feierlichen Anlass man solche Dinge gebrauchen konnte. »Das ist dir wichtig«, sagte Tecum. Es klang nicht wie eine Frage, sondern wie eine Feststellung. »Dass du anderen sympathisch bist.« »Klar.« »Warum?« »Macht das Leben leichter.« »Von welchem Leben sprichst du?« Jarvis spürte, wie sich etwas in ihm zusammenzog. »Du meinst, ich hab keins. Aber da täuschst du dich. Ich bin vielleicht nicht mehr so lebendig, wie ich es gerne wäre – aber auch nicht so tot wie …« »… ich?« »Das hast du gesagt.« »Und du gedacht.« »Und wenn?« »Wäre es nur die halbe Wahrheit.« »Verrat mir die ganze.« »Ich bin nicht nur das, was du siehst.« »Ich kannte einen, der das auch immer behauptet hat.« »Wer?« »Eine andere Type – ein ERBAUER. Kargor hieß er. War übrigens ähnlich großkotzig wie du.« »Vielleicht hast du ihn nur ebenso fehleingeschätzt wie mich?« »Kann sein.« »Ich merke, er war nicht nur großkotzig …«
»Hm.« »Wenn ich es richtig mitbekommen habe, verdankst du ihm dieses Ding … das die meisten täuschen kann und dich rundum lebendig erscheinen lässt.« »Bis auf die Angks«, bestätigte Jarvis bereitwillig. »Die lassen sich nicht ins Bockshorn jagen. Warum auch immer.« »Und mich.« »Du siehst auch hinter die Maske?« »Aber ja.« »Dann lass mal deine fallen. Wäre nur fair, oder?« »Fair ist auch so etwas, was dir wichtig ist – dir und anderen Menschen.« »Hast du damit ein Problem?« »Nein. Ich teile diese Meinung nur nicht.« »Dann bist du also nicht nur Unsympath aus Überzeugung, sondern auch Überzeugungstäter in Sachen Unfairness?« »Du drehst einem das Wort im Mund um.« »Ja, das höre ich öfter.« Jarvis grinste. Bis ihn etwas wie eine Welle durchlief und ihm das Grinsen vom Gesicht wischte. »Verdammt«, fluchte er. Tecum schien genau zu wissen, was in ihm vorging. »Es war klar, dass es nur befristet sein kann. Deine Hülle ist nicht ideal für das, was ich ihm zumute.« »Das hätte ich dir vorher sagen können. Tu etwas. Ich will das nicht noch mal erleben. Es fühlte sich an wie …« Die nächste Welle, die ihn zum Verstummen brachte, war zehnmal stärker und kräftezehrender als die erste. Tecum trat neben ihn und stützte ihn. Gleichzeitig strömten von ihm wieder Partikel auf Jarvis über, die offenbar dazu dienen sollten, seinen Zustand noch einmal – ein letztes Mal – zu stabilisieren. »Warum«, ächzte Jarvis, »nehmen wir keinen Transmitter? Das würde uns schneller dorthin bringen, wo –« »Es würde uns umbringen – uns beide und mit uns auch das Schiff zerstören.« »Warum das?« Jarvis war ehrlich schockiert.
»Weil die Instabilitäten, die ich gerade zu bekämpfen versuche, in dem Moment außer Kontrolle geraten würden, da wir die ›Abkürzung‹ durch ein übergeordnetes Kontinuum nähmen.« »Wenn das wirklich so ist, kommt deine Warnung verdammt spät. Ich hätte schon x-mal durch einen Türtransmitter gehen können, seit wir von Kentyr zurück sind …« Tecum verneinte das kategorisch. »Ich habe aufgepasst.« »Auf mich?« »Du bist nur das Gefäß – worum es mir geht, steckt in dir drin, schon vergessen?« »Du bist echt ein riesengroßes Arschloch!« »Ich weiß. Und jetzt weiter. Wir sind gleich da. Und wir werden schon erwartet.« »Von wem? Lerne ich endlich die kennen, die – wie sagst du doch immer? – hinter dir stehen?« »Nein«, sagte Tecum. »Die, die uns erwarten, kennst du bereits – nur nicht in dieser Funktion.« Mehr verriet er auch auf mehrmaliges Nachfragen nicht. Dafür tauchte bald darauf das auf, was aus dem Angkdorf geworden war.
Pyramiden. Jarvis hatte längst eine Aversion gegen sie entwickelt. Irgendwie bedeuteten sie selten etwas Gutes. Aber er hatte keine Wahl. Tecum lenkte ihn schnurstracks darauf zu. Auf das veränderte Bild einer scheinbar unter Wüstensonne glänzenden Bautenansammlung. Die Pyramiden hatten das alte Angkdorf ersetzt. Dass Tecum mit die Hände im Spiel dabei hatte, war ein bislang unbestätigter Verdacht, der sich nun aber zu bewahrheiten schien. »Warst du das?«, fragte Jarvis, als sie das erste Gebäude von Dutzenden erreichten. »Nein«, sagte Tecum. Lüge oder Wahrheit?
»Wer dann?« »Sie«, sagte er. »Die, die …« »… hinter dir stehen.« Jarvis seufzte. Er spürte die Last des träumenden Toten, der mehr wog, als irgendein Lebewesen seiner Größe sonst wo im Universum wiegen konnte – zumindest kam es Jarvis so vor. »Ganf. Die Ganf stehen hinter dir – oder täusche ich mich?« Tecum schwieg. »Und du?«, fragte Jarvis. »Bist du auch einer? Hat dich vielleicht sogar ein anderer … Träumer … Toter … in diese Hülle gepflanzt. Bist du ihr … Wegbereiter?« Tecum schwieg immer noch. »Aber wo sind sie? Auf dem Schiff? Wieso haben wir sie nie bemerkt?« »Ihr habt auch die Verwandlung nicht bemerkt – bis kurz vor ihrem Ausbruch.« Jarvis sah den Schneckenartigen an. »Ihr nehmt uns unser Schiff!« Es auszusprechen, mit Wut und auch ein bisschen Verachtung auszusprechen, verlangte eine Menge Kraft. Kraft, die er eigentlich gar nicht mehr frei verfügbar hatte, weil sich alle Energie in ihm auf das Eine konzentrierte – den Widerstand gegen das Gift des Träumers. »Ihr müsst aufhören damit«, sagte Tecum. Es klang freundlich, wie ein gut gemeinter Ratschlag. »Womit?« »Euch dagegen zu wehren.« »Wogegen?« »Die Mutation.« »Von welcher –« »Des Schiffes. Es transformiert. Aber es ist ein schwieriger Prozess. Erst wenn er zu Ende ist, werdet ihr erkennen, dass eure Sorge unbegründet war.« »Du und deine leeren Versprechungen …«, lallte Jarvis. Er redete wie im Delirium. Nur mit Tecums Hilfe konnte er sich überhaupt noch auf den Beinen halten. »Ist es … noch weit?« »Nein«, sagte das Wesen aus Nabiss. »Wir sind da. Hier … diese
Pyramide ist es. Sieh nur, sie öffnet sich uns schon. Treten wir ein. Gleich wird alles gut …«
Gleich wird alles gut … Selten hatte Jarvis größere Zweifel an einer Aussage gehabt wie an dieser. Er fühlte sich mehr als schlecht. Und so wie es sich anfühlte, hatte er eigentlich kaum noch Hoffnung, dass sich alles doch noch zum Besseren wenden konnte. Genau das aber versprach Tecum ihm gerade. »Gehen … wir …« Mittlerweile fiel jedes Wort schwer. Seine Systeme waren geschädigt, daran gab es keinen Zweifel – auch nicht am Verursacher der Beeinträchtigungen. Eine Leiche – ein totes Wesen wurde ihm zum Verhängnis! Es gab lichte Momente, in denen Jarvis sich fragte, ob er sich insgeheim nicht sogar danach sehnte, endlich dorthin zu gehen, wohin ihm sein originaler Körper schon vor Jahren vorausgeeilt war. Die Nanohülle, deren Verbund zunehmend auseinanderbrach, war ein Kompromiss – nicht mehr und nicht weniger. Und nichts, womit sich auf Dauer, sozusagen endlos, »leben« ließ. Leben … Ein Begriff, der so abstrakt für Jarvis geworden war wie der Tod … Er erzitterte. Dabei hatte er das Gefühl, dass sämtliche Atome seines Nanokörpers durcheinandergewirbelt wurden, sich nur mühsam wieder so zusammenfanden, wie es von Jarvis vorgegeben worden war – seit er gelernt hatte, mit der »Prothese« umzugehen. Sie traten in die Pyramide. Tecum war permanent an seiner Seite. Wieder und wieder impfte er ihm winzige Dosen Nabisssubstanz ein, mit denen der vorzeitige Kollaps verhindert werden sollte. Nicht nur das Sprechen fiel immer schwerer, auch das Sehen und Hören. Unscharf und düster präsentierte sich das Innere des Gebäudes. Seltsame Klänge erfüllten die Luft. Gesang? Musik? Natürliche Geräusche? Jarvis wusste es nicht zu bestimmen. Um ihn herum war Bewe-
gung. Schatten. Schemen. Mal kamen sie näher, mal wichen sie vor ihm zurück. »Gleich …«, hörte er Tecum sagen. »Gleich sind wir da. Die Stätte ist vorbereitet. Nur noch wenige Schritte …« Leise, wie aus einem Kilometer Entfernung, drangen die Worte an Jarvis' Sensoren. Er kam sich blind und taub vor. Wie ein Tattergreis, der sich kaum noch auf den Beinen halten, kaum noch irgendetwas aus eigener Kraft tun konnte. »Sterben … lass mich … sterben …« Tecum ignorierte sein Flehen. Ein Flehen, von dem Jarvis gar nicht sicher war, dass es seinem geheimsten Sehnen auch wirklich entsprach. Er war einfach nur völlig am Ende, körperlich und geistig. Das Gift des toten Träumers sicherte tiefer und tiefer in seine Nanozellen. Visionen überrollten ihn. Visionen, die ihm Dinge offenbarten, die noch kein Mensch vor ihm geschaut hatte – vielleicht überhaupt kein anderes Wesen außer diesem, das in ihm steckte und sich über den Tod hinaus die Fähigkeit bewahrt hatte, Erinnerungen zu speichern und gegebenenfalls auch damit zu spielen. Traumgespenster. Irrlichter. Jarvis war zeitweise nicht mehr er selbst, sondern der Ganf, den er auf Kentyr geborgen hatte. Er begleitete ihn auf seinen Reisen durch das unendliche All, auf Planeten, wie sie exotischer kaum sein konnten, mal einsam, mal überbordend vor Spezies, die alle irgendwie in Zusammenhang mit dem Träumer zu stehen schienen … »Wir sind da – leg dich hin«, dirigierte ihn Tecum. »Leg dich einfach hin und … öffne dich.« Jarvis war nicht überzeugt, dass er das überhaupt noch konnte. Schwach … so schwach war er. Öffnen? Meinte Tecum …? »So ist es gut. Lass ihn heraus. Spürst du, wie er entweicht? Es ist wie ein Geburtsakt – merkst du das?« Jarvis wollte etwas erwidern – allein, ihm fehlte die Kraft. Alles wird gut.
Ein Satz wie eine gnädige Lüge. Er gab seinen inneren Widerstand auf. Er wollte nicht mehr kämpfen – wofür auch? Und als er sich fügte, wurde alles ganz leicht. Süßes Gift der Träume …
Tecum starrte auf das Wesen, das Jarvis, in dem sich eine senkrechte Naht gebildet hatte, entschlüpfte. Der Leichnam war unbeschreiblich schön. Das darin schlummernde Potenzial konnte Welten zerstören. Oder Welten retten. Tecum winkte die Helfer herbei, die es bislang nicht gewagt hatten, zu nahe zu kommen. »Kümmert euch um ihn«, forderte er sie auf. Und meinte damit nicht den toten Ganf, sondern das Robotwesen, das großen Schaden genommen hatte. »Säubert ihn. Nehmt ihn mit und unterzieht ihn der Katharsis.« Sie wussten, was sie zu tun hatten. Er ließ es sie wissen. Es waren Sternlinge – sie sogen jede Weisung in sich auf. Er war für sie wie ein Gott.
Jarvis erwachte. »Wer bist du?« »Ich bin Varx.« »Varx …« Der Name kam ihm bekannt vor. Vielleicht hatte er ihn schon einmal gehört. »Wo bin ich, Varx?« »In der Obhut.« »Wessen Obhut?« Er richtete sich auf. Er hatte gelegen. Absurderweise in einem Bett – obwohl er solche Dinge seit einer halben Ewigkeit nicht mehr für sein Wohlbefinden brauchte. »Wo ist … Tecum?« Varx schien nicht zu wissen, von wem er sprach. »Der, mit dem ich kam.«
»Der Mittler? Er kümmert sich um das, was du brachtest.« »Den … Leichnam?« Unwillkürlich blickte Jarvis an sich herab … und in sich hinein. Er fand keine Anzeichen mehr dafür, dass das Gift noch in ihm steckte. Auch die furchtbare Schwäche war verflogen. Er hatte das Gefühl, nach Tagen schwerer Krankheit erstmals wieder völlig »fieberfrei« und ohne sonstige Beschwerden aufgewacht zu sein. »Wie immer du es nennen magst.« Jarvis fand es merkwürdig, wie Varx sich ausdrückte. Er kannte Sternlinge. Er hatte nie eine tiefere Beziehung zu einem von ihnen hergestellt. »Bin ich noch immer in …« »Der Pyramide?« Er nickte. »Ja.« »Und wie seid ihr hinein gekommen?« »Wir wurden gerufen.« »Lass mich raten: vom ›Mittler‹.« »So ist es.« »Aber ihr seid eigentlich dem Commander unterstellt. Ihr und die Angks … ihr kamt an Bord, um euch seinem Befehl unterzuordnen. Johns Befehlsgewalt.« »Diese Weisung ist veraltet.« Jarvis sah Varx an. Eine Weile war er sprachlos. »Ihr widersetzt euch …?«, fing er an. »Du verstehst nicht«, fiel ihm Varx ins Wort. »Alles dient dem Zweck.« »Ach ja? Und welchem?« »Das weiß ich nicht. Noch nicht.« »Du redest, als würdest du den Aufenthalt hier auch nicht so ganz vertragen …« Varx schwieg. »Schon gut. Ich wollte dir nicht zu nahe treten. Kannst du mich … zu eurem ›Mittler‹ führen?« »Das geht nicht«, lehnte Varx ab.
»Warum nicht?« »Er darf nicht gestört werden. Seine Aufgabe ist heikel. Wenn sie misslingt …« »Wir reden immer noch von der Leiche, oder? Die aus mir entfernt wurde – hast du das mitbekommen?« »Ich habe es mitbekommen. Und ja, wir reden von dem, was du brachtest. Es ist von unschätzbarem Wert, glaube ich. Aber es so unterzubringen, dass es niemandem schadet, ist eine schwierige Angelegenheit. Die Pyramide ist ideal dafür. Trotzdem …« »Wenn du schon länger hier bist – hast du vielleicht zufällig irgendwelche Menschen gesehen? Angks, du weißt schon. Wir vermissen eine hohe Zahl von ihnen …« »Ich sah niemanden. Aber das heißt nicht, dass hier niemand ist.« »Sehr kryptisch. Mir wäre Klartext lieber.« »Du bist zu ungeduldig.« »Das habe ich schon öfter gehört.« »Wir haben für dich getan, was in unserer Macht steht. Wie fühlst du dich? Du warst kaum noch ansprechbar, als du uns übergeben wurdest.« »Ihr habt mir geholfen? Ich dachte, der –« »Er kümmert sich um das Wichtigere.« »Danke für die Blumen.« »Blumen?« »Vergiss es. Wann kann ich hier weg?« »Jederzeit.« »Ich werde nicht festgehalten?« »Natürlich nicht.« »Kannst du eine Nachricht an Te… den ›Mittler‹ überbringen?« »Ich kann es versuchen.« »Ich würde gern mit ihm sprechen. Hier irgendwo, in der Pyramide. Sobald er abkömmlich ist …« »Ich richte es aus.« »So lange kann ich mich hier umsehen?« »Die abgesperrten Bereiche bleiben dir verwehrt. Aber es ist offensichtlich, welche das sind. Du wirst es problemlos merken.«
Jarvis nickte. »Bis später – falls wir uns noch mal sehen.« Varx hob die Hand zum Gruß.
Das Material, aus dem die zentrale Pyramide gebaut worden war, schimmerte golden. Jarvis fragte sich, ob es sein konnte, dass sie aus dem gleichen Stoff bestand, der neuerdings die RUBIKON umpanzerte … und aus dem die Ganf einst ihre legendären Rüstungen hergestellt hatten. Rüstungen, die es in Silber und Gold gab. Damals auf Kalser, bei ihrem ersten Kontakt mit Jiim, hatte der Suprio des Dorfes am Schrund eine silberfarbene Rüstung verwaltet. Später, sehr viel später, als die Nargen kaum noch im Blickfeld der RUBIKONCrew gestanden hatten, war Jiim in der Toten Stadt einem Ganf begegnet, der ihm jene Goldrüstung geschenkt hatte, die Tecum ihm vor kurzem wieder abgenommen hatte – mit dem Hinweis, dass Jiim die Einflüsse des Nabiss nicht bändigen könne. Aber das Material, das von den Ganf so bevorzugt für besondere Zwecke eingesetzt wurde, war viel zu rar und wertvoll, um daraus ganze Gebäude zu errichten. Oder? Jarvis gestand sich ein, dass er keine Ahnung hatte. Vielleicht waren die Pyramiden, die das Angkdorf ersetzten, einem so besonderen Zweck gewidmet, dass er den immensen Aufwand lohnte. Anders als von Yael, Assur und Winoa berichtet, war diese Pyramide innen jedenfalls nicht komplett hohl. Sie hatte Stockwerke, zu denen man nur über eine gewendelte Rampe im Zentrum gelangen konnte. Jede Ebene war ohne Zwischenwände, auch die, auf der Jarvis Varx begegnet war. Bevor er die Rampe zum nächsthöheren Stockwerk genommen hatte, hatte sich Jarvis noch einmal nach dem Sternling umgesehen. Er hatte noch dort gestanden, wo er ihn verlassen hatte. Mittlerweile befand sich Jarvis auf der Rampe … … und erlebte eine Überraschung. Sie fing sofort an, sich drehen, kaum dass er darauf stand.
Und statt sich nach oben begeben zu können, wie er es vorgehabt hatte, transportierte ihn die gewundene Spirale abwärts. Jarvis widerstand dem ersten Impuls, der ihn dazu bringen wollte, sich dagegen zu wehren. Stattdessen ließ er es geschehen und erreichte kurze Zeit später eine in unbestimmter Tiefe gelegene Ebene. Der Abstieg von der Rampe war einfach, denn die Drehbewegung hatte aufgehört. Jarvis betrat eine Ebene, die von seltsamen Klängen erfüllt war. Und anders als erwartet, befand sich das Ende der Rampe nicht auch im Zentrum dieser Ebene, sondern an ihrem äußersten Rand. Daraus schloss er sofort, dass die Fläche hier um ein Beträchtliches größer als in dem höher gelegenen Stockwerk war. Die Mitte hier beanspruchte etwas anderes … Für einen kurzen Moment setzten die harmonischen Töne aus. Ein leiser Missklang kam auf … und dann stand Tecum neben Jarvis. »Die Neugier der Menschen ist eine verlässliche Konstante«, sagte er zur Begrüßung. »Die Wichtigtuerei deiner Gattung auch«, konterte Jarvis nicht ganz freundlich. »Ich gehöre keiner Gattung an.« »Aber du vertrittst sie – die Ganf.« »Das ist korrekt. Ich bin der Mittler.« »Ich bin der Jarvis. Und ich wollte nicht gehen, ohne mich bedankt zu haben. Ohne dich wäre ich zwar nie in die Verlegenheit geraten, mir eine Leiche aufzuhalsen, aber immerhin hast du mich nicht hängen lassen.« »Es ging nicht um dich.« »Ja, ich glaube, darüber sprachen wir schon. Trotzdem, Menschen finden es normal, sich bei jemandem zu bedanken, der ihnen das Leben gerettet hat.« »Auch darüber sprachen wir schon«, erwiderte Tecum. »Leben?« Jarvis lachte auf. »Du bist unverbesserlich.« »Ich halte dir nur den Spiegel vor – gefällt dir nicht die Art, wie du gemeinhin mit anderen kommunizierst?« »Tue ich das? Bin ich so penetrant?«
»Ich würde sage: ja.« »Tut mir leid.« »Das glaube ich nicht.« Jarvis zuckte mit den Achseln. »Darf man fragen, was aus der Leiche wurde?« Tecums Stielaugen pendelten kurz hin und her. Dann hob er eines seiner dünnen, ölig schimmernden Ärmchen und wies zur Mitte des Raumes. »Er ruht jetzt dort.« »Also ist das hier seine Gruft?« »Hier wird er behütet. Hier richtet er keinen Schaden an. Und es besteht Hoffnung, dass er seiner Bestimmung zugeführt werden kann.« »Er hat eine Bestimmung?« »Jeder Ganf hat eine.« »Hm, lass mich raten: Du verrätst mir nicht, welche.« »Ihr erfahrt es, wenn der Vorstoß zu den Herren gelingt.« »Ins Angksystem.« »Richtig.« »Okay, ich kann warten. Was mich aber brennend interessieren würde – wo sind all die Menschen, die du einkassiert hast?« »Einkassiert?« »Als du die Pyramiden hast erscheinen lassen. Seither sind tausende Besatzungsmitglieder spurlos verschwunden.« »Ihnen ist nichts geschehen.« »Und das soll ich glauben?« »Ihnen ist nichts geschehen. Aber auch sie haben eine Bestimmung. Ohne sie … ließe der Leichnam sich nicht sicher verwahren … ohne die Gefahr, dass er auch die RUBIKON verseucht, wie es ihm mit dir beinahe gelang.« »Oder mit einem ganzen Planeten.« »Oder mit einem ganzen Planeten«, pflichtete Tecum bei. »Ich wüsste trotzdem gern, wo sie sind. Wenn ich dem Commander gegenübertrete, wird er mich das als Allererstes fragen – verständlicherweise.«
Tecum schien zu zögern, doch dann gab er sich einen Ruck. »Sag ihm dies.« Er klatschte in seine kleinen Händchen, und das bislang Verborgene wurde sichtbar. Die Pyramide wurde transparent. Ob in Wirklichkeit oder als Folge einer Simulation, vermochte Jarvis nicht zu sagen. Auf seine körpereigenen Systeme war in diesem Moment kein Verlass. Aber er tendierte dazu, es als real hinzunehmen. Über ihm war ein Gebirge aus Menschen. Varx hatte gelogen – oder die Wahrheit nicht gekannt … aber war das möglich? Über sämtliche Etagen der Pyramide, bis in die Spitze, waren Angks »gestapelt«. Sie ruhten in nischenartigen Fächern, und Jarvis wusste, dass sie lebten, glaubte es, ohne einen einzigen stichhaltigen Beweis dafür zu haben. Im Gegensatz dazu befand auf der untersten Ebene, dort, wo er gerade mit Tecum stand, nur ein einziges »Fach«. In ihm lag der tote Ganf, den Jarvis von Kentyr mitgebracht hatte. Zwischen ihm und den Angks schien ein Energieaustausch stattzufinden – aber auch das war gefühltes Wissen. Dann erlosch die visionäre Schau, und Jarvis sank leicht in sich zusammen, weil er das Gefühl hatte, dass ungeheurer Druck von ihm genommen worden war. »Sie sind da, weil sie gebraucht werden«, verteidigte Tecum noch einmal die Maßnahme. »Sie tun, wofür sie da sind: Sie schützen dieses Schiff.« »Gegen das Traumgift eines Toten.« »So könnte man sagen.« »Wie lange?« »Bis der Tote seine Stätte außerhalb gefunden hat.« »Und die liegt …?« »Das kannst du dir denken.« »Im Angksystem.«
Jarvis kehrte nicht nur gesundet, sondern auch mit neuen Informa-
tionen in die Zentrale zurück. Cloud begrüßte ihn voller Erleichterung – offenbar hatte er sich wirklich um ihn gesorgt. Und das nicht unbegründet. »Um gleich zum Wesentlichen zu kommen«, demonstrierte Jarvis bewusst Stärke – daran hatte es seiner Meinung nach zuletzt viel zu sehr gehapert. »Ich habe die Angks gesehen – sie sind wirklich wohlauf. Na ja, nicht gerade first class untergebracht, eher nach Art der Japan-Schlafröhren zu Beginn des 21. Jahrhunderts … du erinnerst dich vielleicht, John … aber sie scheinen sich zumindest in keiner akuten Notlage zu befinden. Und Tecum hat mich auch überzeugen können, dass ihr Aufenthalt Sinn macht.« »Welchen?«, fragte Scobee, die ihn ebenfalls freudig begrüßte. Er berichtete, was er erfahren hatte. »Und sobald die absonderliche Fracht gelöscht werden konnte – im Angksystem, wie du glaubst, aus Tecums Angaben entnehmen zu können –, kehren die Angks aus der Pyramide zurück?« »So wurde es mir gesagt.« »Aber die Pyramiden bleiben?« »Darüber haben wir nicht gesprochen. Ich glaube, das ist unser kleinstes Problem …« Scobee zuckte mit den Achseln. »Das weiß ich nicht. Jeder Fremdkörper an Bord ist ein Problem. Das sollten wir nicht auf die leichte Schulter nehmen.« »Dennoch sind das gute Nachrichten – zumal im Zusammenhang mit Jarvis' Befreiung von dieser Heimsuchung«, kehrte Cloud das Positive hervor. »Schauen wir, was uns im Angksystem erwartet. Beziehungsweise bei der Chaoswolke, die es umgibt. Ich kann erst wieder ruhig schlafen, wenn ich weiß, dass den zigmillionen Angks und Bractonen wirklich nichts zugestoßen ist!«
5. Die RUBIKON steuerte ihr Ziel in Etappen an. Eine »Grundannäherung« wurde mittels Transition herbeigeführt, bis auf rund hundert Lichtjahre Entfernung zu den Koordinaten des Angksystems. Es folgte eine kurze Orientierungs- und Ortungsphase unter dem Schutz des Schmiegschirms, der auch als Tarnmantel diente – dienen sollte zumindest, denn eine absolute Garantie, dass es keine Mittel und Wege gab, ihn zu überlisten, gab ihnen niemand. Auch nicht die Bractonen, die daran ebenso »herumgepfuscht« (O-Ton Jarvis) hatten, wie an etlichen anderen Aggregaten. »Generalüberholung« hatte dies in ihrem Jargon geheißen. Aber Cloud hatte auch so manche Kröte schlucken müssen, ehe ihm der Nutzen der Veränderungen klar geworden war. Neben vielem anderen waren die ERBAUER vor allem eins: unverbesserliche Geheimniskrämer. So hatte er sie kennengelernt. Zuletzt als Freunde und Unterstützer, davor aber auch das eine oder andere Mal als Despoten. Kargor, diese Inkarnation aus Milliarden Bractonen, die Prismengestalt, war das beste Beispiel. Aber ohne ihn und sein Einwirken wäre wohl der Gefahrenherd Darnok noch immer nicht beseitigt, läge die Milchstraße nach wie vor unter dem unseligen Zeitrafferfeld, das zahllosen raumfahrenden Völkern zum Verhängnis geworden war und das Gesicht der Heimatgalaxie komplett umgekrempelt hatte. Die Erde war dabei ebenso wenig wiederzuerkennen wie andere bewohnte Welten, zu denen Cloud einmal Kontakt gehabt hatte. Die Erde … Sie war immer in seinen Gedanken, in seinem Herzen. Er krallte sich an den Strohhalm, dass die Verhältnisse dort vielleicht doch eines Tages wieder »normalisiert« werden könnten. Aber solange Reuben Cronenberg das Zepter schwang …
Cloud verdrängte die bitteren Bilder, die in ihm aufzusteigen drohten. Bitterkeit bot ihm die aktuelle Lage zur Genüge. Ein Mitglied seiner Besatzung, einer seiner engsten Freunde, war gestorben. Und ein unbekannter Einfluss breitete sich auf der RUBIKON aus, strukturierte sie optisch und architektonisch um. Und nichts schien diesen Vorgang stoppen – oder noch besser: rückgängig machen – zu können! Das waren Probleme und Tiefschläge genug. Aber über allem schwebte Tecums Aussage, dass sie gefälligst das Angksystem samt seiner Bewohner zu retten hätten. Das Angksystem! Wie um alles in der Welt sollten ein paar Winzlinge wie sie einer Entität, wie die Bractonen sie in ihrer Gesamtheit darstellten, helfen können? Aber noch während er sich das fragte, wurde Cloud bewusst, dass sie das schon einmal getan hatten: im Zentrum der Milchstraße, wo die Treymor mit einer riesigen Flotte versucht hatten, die Entstehung einer Negaperle abzusichern. Da haben wir die Kastanien aus dem Feuer geholt, dachte er. Zumindest einen großen Anteil daran gehabt. Ohne die RUBIKON wäre die Tridentische Kugel nicht unbeschadet hinter den Ereignishorizont gekommen. Ihn schauderte selbst in der Nachbetrachtung, wenn er sich das Unternehmen in Erinnerung rief. Eine Negaperle war etwas so Monströses, dass der menschliche Verstand wahrscheinlich gar nicht in der Lage gewesen wäre, ihre genaue Zusammensetzung zu erfassen. Dafür waren die Bractonen da gewesen. Sie hatten die entartete »Perle« unter immensem Aufwand erst zerstört und dann durch eine »unbefleckte« Station ersetzt, deren Aufgabe es sein würde, sich künftig wieder in das Netz der Ewigen Kette einzugliedern, mit dessen Hilfe die Bractonen dereinst, vor Jahrmilliarden, nichts Geringeres getan hatten, als das Universum zu generieren. »Ortungsechos!«, meldete Sesha, als die RUBIKON bereits wieder
in die Beschleunigung ging, um die vorläufig letzte Etappe zum Angksystem zurückzulegen. »Aus dieser Entfernung noch sehr schwach, aber zahlreich.« »Koordinaten?« »Identisch mit denen, zu denen wir unterwegs sind«, antwortete die KI. »Das heißt: Angk-System.« Sesha bestätigte. »Was genau bedeutet Ortungsechos?«, fragte Jarvis neben Cloud. »Raumschiffe?« »Die Zahl deutet darauf hin, aber Details kann ich noch nicht liefern.« »Wie hoch ist die Zahl?«, fragte Scobee, die ebenfalls im Rund des Kommandopodests saß. Für einen Moment glaubte Cloud, sich verhört zu haben, als die KI antwortete. Und wie ihm erging es wohl den meisten. »Zweihundertachtundsiebzigtausendvierhundertelf.« »Der Kasten spinnt!« Jarvis nahm kein Blatt vor den Mund. »Wiederhole, Sesha«, verlangte Cloud bedeutend zurückhaltender. Auch im zweiten Anlauf änderte sich die Zahl nicht. »So viele Raumschiffe gibt es nicht!«, beharrte Jarvis nicht unbedingt logisch. »Könnten es auch …« »Ja?«, ermunterte Cloud den Freund, der plötzlich stockte. »… Trümmer sein?«, vollendete Jarvis den Satz. »Du meinst … Planetentrümmer?« Jarvis nickte. »Sesha?« »Dann müssten sie energetisch aufgeladen sein. Aber ich kann momentan nichts dergleichen ausschließen. Geduld.« Von einer KI zur Geduld ermahnt zu werden, war nichts, was jemandem wie Jarvis schmeckte. Aber auch Cloud fiel es schwer. »Lässt sich schon etwas über die Verhältnisse vor Ort sagen?«, fragte er. »Wie lauten die Ortungsergebnisse dazu?« »Sie entsprechen den letzten Messungen vor dem Angksystem –
als wir dort zuletzt kreuzten. Nach der Rückkehr aus dem Milchstraßenzentrum«, antwortete die KI. »Damals nannten wir das, was wir anstelle des Sonnensystems vorfanden, eine protochaotische Wolke. Sie erwies sich als undurchdringlich und umspannte ein weit größeres Gebiet, als Sonne und Planeten des Angksystems es beanspruchen.« »Bis heute ist ungeklärt, ob die Welten dort überhaupt noch existieren«, warf Jarvis grimmig ein. »Und mit ihnen sämtliches Leben, das darauf ansässig war. Diese Type … ihr wisst schon, wen ich meine … spricht zwar davon, dass wir das Angksystem retten sollen, aber …« »Aber was, Jarvis?«, fragte Scobee. »Was ist? Du bist doch sonst nicht so zurückhaltend in deinen Meinungskundgebungen!« »Ich wollte nur sagen, vielleicht ist er nicht mehr auf dem neuesten Stand.« An diese Möglichkeit hatte Cloud auch schon gedacht. Woher genau »die Type« gekommen war, wussten sie bis zur Stunde nicht. Möglicherweise hatte er – beziehungsweise das, was ihn nun beseelte – seit langem an Bord der RUBIKON geschlummert. Aber es hatte erst die Nabissmaterie von Jiims einstiger Rüstung an sich reißen müssen, um stofflich auftreten zu können. Seither »beglückte« es die Besatzung sporadisch – eben wie es ihr gerade gefiel – mit ihrem Auftreten. Dabei gefiel sie sich im Orakeln. »Wir können es nicht ausschließen«, sagte er. »Vielleicht ist Tecum wirklich noch auf einem veralteten Wissensstand. Aber würde er dann von uns verlangen, die Initiative zu ergreifen, um das Angksystem zu retten?« »Vielleicht sollten wir ihn selber fragen«, schlug Jarvis vor. »Ich könnte noch mal damit drohen, den Kadaver aus mir zu entsorgen – das scheint ein wirksames Mittel zu sein, ihn aufzuscheuchen.« »Nicht nötig«, sagte Tecum. Niemand hatte gesehen, wie er gekommen war, aber plötzlich saß er bei ihnen in einem zuvor freien Sarkophagsitz. Er hatte sein Äußeres nicht verändert. Noch immer forderte es plakativ auf: Seht her,
ich bin der Feind, auf den ihr achten müsst. So sehe ich aus! Vergesst es nicht – wenn wir uns eines Tages begegnen … Verwirrt stellte Cloud fest, dass ihm die Gedanken gerade aufgedrängt worden waren durch das bloße Anschauen des Geheimnisvollen. Aber Effekte wie diese war er gewohnt. Als Tecum sich in vierzehn kleine Statuen aufgespalten und damit die Armlehnen der Kommandositze »dekoriert« hatte, hatte auch das bloße Anschauen genügt, um sich zu fühlen, als würde man von einer ganzen Horde dieser … Aggressoren überrannt. »Gut, dass du kommst«, begrüßte Jarvis die imposante Erscheinung. »Wir haben uns gerade gefragt, ob du vielleicht nicht auf dem neu-« »Ich weiß, worüber ihr diskutiert habt. Aber ich kann euch versichern, ich bin auf dem neuesten Stand. Das Angksystem existiert. Das Chaos war die letzte Möglichkeit, sie aufzuhalten.« »Sie?« »Die Belagerer.« »Du willst sagen …?« Clouds Blick wechselte unwillkürlich zurück in die Holosäule, wo Sesha gerade eine Simulation der Zielkoordinaten einblendete. Die Darstellung zeigte nicht nur eine Archivaufnahme der protochaotischen Wolke, sondern um sie verteilt auch eine immense Anzahl winziger leuchtender Pünktchen, von denen Cloud nicht bezweifelte, dass es exakt 278.411 waren. »… dass es natürlich Raumschiffe sind, die ihr geortet habt. Sie haben das noch geschützte Angksystem eingekesselt.« »Und wir sollen es mit fast dreihunderttausend gegnerischen Schiffen aufnehmen?« Jarvis dachte nicht daran, ruhig zu bleiben. Sein Dank für die Befreiung von der Ganfleiche beeinflusste nicht seine kritische Meinung, wie er gewohnt drastisch zum Ausdruck brachte. »Eins wird mir immer klarer – dringlicher als die Leiche aus mir zu entfernen, wäre es, diesen Typen da von Bord zu schmeißen!« Er drohte Tecum mit der Faust, was diesem nicht einmal eine Reaktion abrang.
Cloud versuchte es sachlicher. »Handelt es sich um eine Flotte derer, die du uns schon die ganze Zeit als Widersacher der Bractonen verkaufen willst?« »Indirekt.« »Soll heißen?« »Das zu erkennen, seid ihr selbst in der Lage. Moment, ich beschleunige …« Bevor jemand fragen konnte, was er damit meinte, geisterte ein gequälter Laut durch das Schiff. »Das war … Sesha!«, mutmaßte Scobee alarmiert. Cloud war unsicher. »Sesha? Melde dich!« Schweigen. Stattdessen kam Bewegung in die Holosäule. Die Simulation dort verschmolz mit der realen Darstellung des Weltalls. »Wir … werden schneller!«, ächzte Jarvis. »Das hat er damit gemeint. Er hat die wichtigsten Systeme unter seine Gewalt gebracht und Sesha mundtot gemacht, und jetzt …« »Und jetzt beschleunigt er mit eigentlich unmöglichen Werten«, unterbrach ihn Cloud. »Er handhabt die RUBIKON, als gehöre sie ihm. Das hatten wir schon mal, erinnert euch.« »Kargor«, sagte Scobee bleich. »Ich bin nicht Kargor«, erklärte Tecum. »Und dass ihr es bislang versäumt habt, die volle Leistungsfähigkeit des von den Bractonen modifizierten Schiffes abzurufen, ist euer Versäumnis, nicht meines. Was ihr gerade erlebt, ist keine Zauberei, sondern Technik, die über Jahrmillionen verfeinert wurde.« »Wie bescheiden – Jahrmillionen«, spöttelte Jarvis. »Die Bractonen sprachen bislang eher in Kategorien wie Jahrmilliarden …« »Vergesst die Bractonen«, sagte Tecum. »Seht euch das Problem an.« Ebenso abrupt, wie die Beschleunigung eingesetzt hatte, endete sie auch wieder. Aber in dieser kurzen Spanne waren sie der protochaotischen Wolke bis auf wenige Lichtwochen näher gerückt. Fast so schnell wie mittels einer Transition. Und das Problem, von dem Tecum gesprochen hatte, wurde durch
einen Hochleistungsscan unverzüglich in der Holosäule herangezoomt. Bis zu diesem Moment waren 278.411 Belagerer eine bloße Behauptung gewesen. Nun wurden sie zur apokalyptischen Realität. Und zur Bedrohung. Denn sie waren überall – und schlugen ohne Zögern zu.
»Schildbelastung bei neunzig Prozent«, meldete Sesha. Die RUBIKON war in glühendes Plasma getaucht. Für einen Moment glaubte Cloud nicht, dass der Schmiegschirm standhalten würde. Aber das tat er. Noch. Ein Ausweichmanöver trieb den Rochenraumer mit halber Lichtgeschwindigkeit an dem martialischen Raumschiff vorbei, das sie aufs Korn und unter Beschuss genommen hatte. Es war ein Gigant. Noch nie zuvor hatten sie es mit einem Kriegsschiff dieser Klasse zu tun bekommen. Die Feuerkraft überstieg jede Vorstellung. Die Plasmawerfer der RUBIKON hatten nicht annähernd dieses Kaliber. Der Nachteil des Giganten wiederum wurde ebenso schnell offensichtlich – seine relative Trägheit. Fast mühelos setzte der Rochenraumer sich von ihm ab, beschleunigte abermals, wollte in die Transition gehen, um wirkliche Distanz zu den Fremdschiffen herzustellen … … und wurde erneut kalt erwischt. Von einem Zwerg im Vergleich zu dem Riesen vorhin. David und Goliath schienen hier in trauter Gemeinsamkeit zusammenzuarbeiten. WOOOAAAMMMM! Noch nie zuvor hatte Cloud den Raumschiffkörper wie einen Gong klingen hören, als … der Schild unter nadelfeinem Treffer binnen weniger Sekunden zusammenbrach und der Energiestrahl die
Außenhülle der RUBIKON berührte. Aber das WOOOAAAMMMM, stellte sich heraus, war ein gutes Zeichen, nicht der Anfang vom Ende. Es begleitete nämlich das Zerstäuben der Strahlbahn, die vom Nabissmantel förmlich abperlte, daran zerplatzte und ohne Schaden anzurichten in den umliegenden Weltraum abgeleitet wurde. Dass sich die Ressource, wie Tecum es nannte, so schnell bezahlt machen würde, hätte Cloud nicht im Traum gedacht. »Sprung!«, befahl er nichtsdestotrotz. »Verschleiert! Zufallskoordinaten – Minimum ein Lichtjahr, Maximum zwei.« Die RUBIKON ging in die Transition, als eine massierte Gegnerschaft schon begann, einen Ring um sie zu schließen. Dann wechselte die Wiedergabe in der Holosäule. Auch die Ortung meldete keine unmittelbaren Echos. Die RUBIKON hatte »verschleiert« transitiert – das bedeutete, dass der Gegner den Wiedereintrittspunkt im Idealfall nicht lokalisieren konnte. Aber galt das auch für diesen Gegner? »Verdammt!«, fluchte Cloud und sah zu Tecum. »Wenn ich es richtig gesehen habe, befanden sich unter den Einheiten der Armada auch Treymorschiffe bekannten Typs – aber die, die uns angriffen, waren völlig unbekannter Bauart. Kannst du mir sagen, was das zu bedeuten hat? Wer ist das da draußen?« Bevor Tecum antworten konnte, mischte sich Jarvis ein. »Oder anders ausgedrückt: Mit wem alles haben die Bractonen es eigentlich noch verschissen?« Tecum wartete die Einspielung der Ortungsergebnisse ab, die während der kurzen Feindberührung aufgezeichnet worden waren. Nach dem Studium der Daten sagte er schließlich: »Es stand zu befürchten, dass sie sich der Einmaligkeit der Chance bewusst sind und sie nicht verstreichen lassen wollen. Die Position des Angksystems ist kein Geheimnis mehr – wie über lange, lange Zeit hinweg. Ich erkenne Einheiten der Auruunen …« Er ließ die dazugehörigen Ortungsergebnisse einspielen. Die Schiffe waren ringförmig. »Zu unserem Glück waren sie tief im Pulk und weit von unserer Position
entfernt, bei der wir auftauchten. Ich weiß nicht, ob das Nabiss auch gegen sie gehalten hätte …« »Auruunen?« »Der Ewige Feind«, antwortete Tecum. Übergangslos veränderte sich seine Gestalt. Als mitternachtsblauer Humanoide stand er vor ihnen. »Der Aggressor, den ich euch einzuschärfen versuchte …«
»Der Ewige Feind …«, echote Cloud. »Mit Ewigkeit hatten es doch vorzugsweise die Bractonen. Was mich aber am meisten interessieren würde – wir haben darüber nämlich noch nie wirklich und schon gar nicht erschöpfend gesprochen: Wie konnte sich ein solcher Gegner etablieren – in einem von den Bractonen erschaffenen und auch kontrollierten Kosmos? Und … welche Beziehung besteht eigentlich zwischen denen, die du normalerweise zum Vorbild deiner Erscheinungsform machst, den Ganf und den ERBAUERN?« »Du wirst vieles, wenn auch vielleicht nicht alles erfahren – sobald wir den Belagerungskessel überwunden haben.« »Das hast du immer noch vor?« Cloud war ehrlich erstaunt. »Nach dem, was uns hier empfangen hat?« »Es gibt keine Alternative«, erwiderte Tecum, der die Auruunenmaske ablegte, sich wieder als Ganf präsentierte. »Sollte die Bastion Angksystem fallen, wird nichts mehr so sein, wie es einmal war.« »Was nichts daran ändert, dass wir vermutlich nicht an ihnen vorbeikommen werden«, warf Scobee ein. »Die RUBIKON mag ein gutes Schiff sein, aber sie vollbringt keine Wunder.« »Eine direkte Konfrontation sollte, wenn irgend möglich vermieden werden«, pflichtete Tecum ihr bei. »Aber es gibt andere Wege. Wir werden den Wall um Angk durchbrechen – und zwar so, dass uns keiner der Verfolger zu folgen vermag.« »Wie?«, fragte Cloud. »Wie ist dein Plan? Wäre es möglich zu transitieren – mitten ins Herz der protochaotischen Wolke, wo sich, wenn ich es richtig verstehe, immer noch das Angksystem befindet?« »Wenn dies möglich wäre«, erwiderte Tecum, »hätten sie …« Er
zeigte zu der Unzahl von Feindschiffen, die die Wolke belagerten. »… es längst getan.« »Es ist also nicht möglich?«, fragte Jarvis. Tecum verneinte. »Und wie sollen wir dann hineinkommen? Gibt es einen Tunnel, durch den wir uns unbemerkt hineinstehlen könnten?« Tecum starrte ihn mit seinen Stielaugen an. Jarvis hielt dem Blick eine Weile stand. Dann wurde es ungemütlich für ihn. Gleichzeitig stieg ein Verdacht in ihm auf. »Nein, oder? Das war jetzt nur so dahin gesponnen. Wie sollte das funktionieren? Ein Tunnel? Den hätten deine Auruunen doch auch längst entdeckt …« »Er hat recht«, mischte sich Cloud ein. »Wenn du einen Plan hast, dann auf den Tisch damit. Jetzt, auf der Stelle!« »Gut«, lenkte Tecum ein. »Wir werden einen Tunnel … oder zumindest etwas Ähnliches … graben. Die Mittel dazu befinden sich an Bord.« »So, so, und wovon redest du?« »Sternlinge«, sagte Tecum. »Ich rede von kosmischer Einmaligkeit. Nicht einmal die Auruunen verfügen über sie. Und diesen Vorteil werden wir nutzen.« »Ich bin Sternlingen in den Pyramiden begegnet«, erinnerte sich Jarvis. »Dorthin haben sie sich zurückgezogen.« »Dorthin wurden sie zurückgezogen. Von mir«, sagte Tecum. »Um sie auf den Moment vorzubereiten, von dem ich gerade sprach. Aber um sie wirklich mit Aussicht auf Erfolg für unseren Zweck einsetzen zu können, müssen wir noch einmal auf maximal zehn Lichtwochen Entfernung an die Protowolke heran. Größer ist die Reichweite des Transfers, den wir anstreben, nicht.«
»Wie groß ist die Chance, dass wir unentdeckt bleiben und unser Vorhaben durchführen können?«, fragte Cloud, nachdem die RUBIKON ihre Position abermals korrigiert hatte. Bis zu den nächsten Feindschiffen waren es zwei Lichttage – bis
zur Wolke ein Vielfaches … aber noch innerhalb der von Tecum genannten Reichweitentoleranz gelegen. »Das lässt sich in Prozenten nicht ausdrücken«, sagte Tecum. »Beruhigend.« »Die Wahrheit«, erwiderte das Wesen aus Nabiss. »Um eine Wahrscheinlichkeitsberechnung anstellen zu können, brauchten wir Fakten, über die wir einfach nicht verfügen.« »Nein?«, fragte Cloud argwöhnisch. »Bislang hörte sich das für mich an, als wäre die Gegnerschaft dir wohlvertraut. Du hast sofort Einheiten der Auruunen identifizieren können. Und auch sonst mit ein paar netten Details aufwarten können …« »Tut mir leid«, erwiderte Tecum. »Aber die Daten sind veraltet. Stark veraltet. Darauf lässt sich nicht bauen.« Cloud wusste, dass er das Gegenteil nicht würde beweisen können. Seit wenigen Minuten kreuzten sie antriebslos und unter dem Vollschutz der Tarnvorrichtung jenseits der feindlichen Verbände. »Wie auch immer«, sagte Cloud. »Jetzt bist du an der Reihe – beziehungsweise die, die du glaubst, für unsere Zwecke zum Einsatz bringen zu können.« »Ich habe alles Nötige veranlasst«, sagte Tecum. »Sämtliche an Bord befindliche Sternlinge verlassen soeben die Pyramidenstadt und begeben sich in den nächstgelegenen Hangar.« »Wozu?«, fragte Cloud, der noch keine Details über das Vorhaben erfahren hatte. »Um sie auszuschleusen«, sagte Tecum. »Auszuschleusen? Du willst sie …?« »Sie müssen aus dem Schiff – anders funktioniert es nicht.« »Und was genau?« Cloud schüttelte den Kopf. »Ich müsste lügen, wenn ich sagte, dass mir das gefällt. Sternlinge sind Geschöpfe, die sich meinem Verständnis entziehen. Aber sie erwecken den Eindruck, Individuen mit eigenen Charakteren zu sein. Ich würde sie ungern …« »… opfern?« Tecums Stielaugen krümmten sich, ohne dass klar wurde, was diese Reaktion bedeutete. »Das würde ich auch höchst
ungern. Wir brauchen sie noch. Mindestens so dringend, wie wir das Nabiss brauchten, das jetzt die Außenhülle panzert. Aber ich bin sicher, alles wird gutgehen.« »Und wenn nicht?« »Werden wir keine Gelegenheit mehr haben, Sternlinge zu betrauern.«
Sie verfolgten das Geschehen von der Zentrale aus. Der »harte Kern« der Crew. Lediglich Tecum verabschiedete sich mit dem Hinweis, die Aktion vor Ort koordinieren zu wollen – aber niemand betrachtete ihn auch tatsächlich als Mitglied der Crew. Kaum war er draußen, konnte sich Jarvis nicht verkneifen, festzustellen: »Er hat uns den Arsch gerettet, oder? Nicht nur mir ganz speziell, indem er mich von der beschissenen Leiche befreite, sondern uns alle – durch diese ›Ressourcen‹-Aktion. Ohne das Aufpeppen der Außenhülle wären wir bereits Geschichte … Oder sehe ich das zu enthusiastisch?« »Man könnte auch einwenden, dass er uns erst in den Schlamassel geführt hat«, gab Scobee zu bedenken. »Er wollte, dass wir hierher fliegen.« »Aber nicht eigennützig«, gab nun auch Cloud seinen Senf dazu. »Wenn er auch nur halbwegs vertrauenswürdig und ehrlich in der Äußerung seiner Motive ist, geht es ihm um die Bewohner des Angksystems – die sich offenbar nicht anders zu schützen wussten als mit dieser Radikalmaßnahme. Ich weiß nicht, wie sie die Chaoswolke generieren und wie lange sie sie aufrecht erhalten können, aber Fakt scheint zu sein: Wenn sie zusammenstürzt oder von den Belagerern überwunden werden kann, dürfte das letzte Stündlein aller geschlagen haben, die sich dahinter verschanzen.« »Niemand weiß, ob seine Lüge nicht schon da beginnt, wo er behauptet, die Menschen und Bractonen auf den sechs Planeten lebten noch«, gab Jiim zu bedenken. Seine Flügel zuckten nervös. Er warf immer wieder Blicke zu Yael, als befürchtete er, dass sein Sprössling
mit neuen Überraschungen aufwartete – irgendwelchen unvorhersehbaren Extratouren. Und ein wenig nahm er Tecum vielleicht auch noch krumm, dass der ihm seine Rüstung abgenommen hatte, um an die Nabisssubstanz zu kommen. Auch wenn eben jener Tecum durchaus nachvollziehbar versichert hatte, dass er Jiim mit dieser Aktion mehr nützte als schadete. Offenbar war der Narge den Kräften des Nabiss nicht gewachsen. Früher oder später hätte dies schwerste Schädigungen nach sich ziehen können. Okay, sagte Tecum. Aber inzwischen war Cloud ihm wieder gewogener. Alles, was bislang auf die Kappe des Geheimnisvollen ging, schien mit etwas Abstand betrachtet stets nur zum Vorteil der RUBIKON und ihrer Crew geschehen zu sein. »Hat irgendwer eine Ahnung, was uns erwartet? Wie Tecum die Passage öffnen will?«, wandte er sich an seine Freunde. »Passe«, seufzte Scobee. »Dito«, murmelte Jarvis. Ähnliche Bekundungen kamen von allen Anwesenden. »Dann lasst es uns ansehen«, meinte Cloud. Ein Segment der Holosäule zeigte den Hangar, in dem sich sämtliche Sternlinge, die es an Bord gab, versammelt hatten, und gerade war zu sehen, wie Tecum zu ihnen trat. Der größere Bereich der Holosäule zeigte die unmittelbare Umgebung der RUBIKON. Ein paar vereinzelte Minifenster hielten das Geschehen in der Ferne, bei der protochaotischen Wolke im Auge. »Wir beginnen«, kündigte Tecum an. Doch dann stutzte er und sagte: »Einer fehlt.« »Was soll das heißen?«, fragte Cloud. »Ein Sternling fehlt.« »Was macht dich so sicher?« »Ich weiß es.« »Ist das ein Problem?« »Nur insoweit, dass ich mich jetzt nicht mehr darum kümmern kann. Ich bin nur … überrascht.«
Cloud fragte: »Ist das Vorhaben dadurch gefährdet?« »Nein.« »Sicher?« »Ich sagte es gerade …« »Müssen von unserer Seite her noch Vorkehrungen getroffen werden?«, fragte Cloud. »Um es nicht zu brutal aussehen zu lassen, sollte vielleicht die Luft abgepumpt werden, bevor ich die Außenschleuse öffne – und bevor Einwände kommen: Weder die Sternlinge noch ich brauchen Luft und Wärme, um zu existieren.« »Ist das sicher?« Auf die Sternlinge bezogen war das das Erste, was Cloud hörte. »Würde ich es sonst behaupten?« Cloud zögerte immer noch. »Ich kann die Schleuse auch ohne diese Vorkehrung öffnen – dann werden die Auserwählten hinaus gewirbelt. Im Endeffekt liefe es auf dasselbe hinaus.« »Du wärst in der Lage, die Schleuse gegen meinen Willen zu öffnen?« Im Grunde war es eine rein rhetorische Frage. »Ich will sie nicht ohne dein Einverständnis öffnen – reicht das?« »Okay«, sagte Cloud. »Sesha?« »Commander?« »Du hast es gehört. Atmosphäre langsam aus dem Hangar entweichen lassen. Dann Hangartor öffnen.« Die KI trat in Aktion. Schon kurze Zeit später war alles, wie von Tecum erbeten. Er führte die Sternlinge an die Kante, hinter der das Weltall wie ein unendlicher Abgrund gähnte. Auf akustischem Weg konnte er sich im Vakuum nicht mehr verständigen, weder mit den Sternlingen noch mit der Zentralebesatzung. Aber offenbar verstanden die Gestalten, die selbst wie komprimiertes Weltall aussahen, was er als Nächstes von ihnen erwartete. Wie Lemminge stürzten sie sich über die Kante, zu dutzenden.
»Was tun sie da? Das sieht … lächerlich aus«, murmelte Scobee. Tatsächlich erinnerte das Manöver der Sternlinge an Fallschirmspringer, die sich in großer Höhe aus einem Flugzeug warfen und dann ihre Körper so ins Spiel brachten, dass sie sich in der Atmosphäre aufeinander zu bewegen konnten. Nur gab es hier keine Luft, und es funktionierte trotzdem, dass die Sternlinge zueinander fanden, sich an den Händen fassten und immer weiter von der RUBIKON wegtrieben. Dabei formten sie mehr und mehr einen absolut exakten Ring von etwa zwanzig Meter Durchmesser. Zwanzig Meter. Und wieder die Frage: Was sollte das? Cloud hatte zunächst einen vagen Verdacht gehabt, was Tecum beabsichtigte. Den Sternlingen eilte der Ruf voraus, dass sie in der Lage waren, sich selbst zu Portalen zu machen. Gegenstände oder Menschen waren auf diese Weise schon befördert worden – auf eine nie erforschte Weise. Bislang hatte Assur ihm nur von solchen Fällen erzählt, die sich ereignet hatten, als sie und die anderen Angks noch auf Gismo und den anderen bewohnten Planeten des Systems gelebt hatten. Im Nachhinein betrachtete er es als Versäumnis, diese »Gabe« nie näher erforscht zu haben. Aber insgeheim hatte er sich vorgestellt, dass Tecum die Fähigkeit der Sternlinge konzentrieren und so für die RUBIKON nutzbar hatte machen wollen. Aber wie sollten zwanzig Meter Durchmesser dafür reichen, selbst wenn das Schiff sich hinter seinen Dimensionswällen minimierte? Oder wollte Tecum … die RUBIKON auf ein Format verkleinern, wie es noch nie zuvor versucht worden war? Die inneren Dimensionen beibehalten, die äußeren hingegen – Cloud beendete seine Spekulation. Weil sich im Zentrum des von den Sternlingen geformten Rings etwas tat. Dort tauchte plötzlich Tecum auf! Ein Blick auf die Holosequenz, die den Hangar zeigte, bestätigte, dass sich Tecum nicht mehr darin aufhielt. »Es geht los«, meldete Sesha.
»Sagt wer?«, fragte Cloud. »Tecum. Er steht in Funkverbindung mit mir.« »Das kann er also auch«, brummte Jarvis. Was er noch konnte, demonstrierte er Sekunden später. Es sah aus, als würde Tecum explodieren, aber in Zeitlupe. Dabei verteilte sich seine Substanz zielgenau und gleichmäßig auf die Sternlinge, die im Moment der Berührung ebenfalls eine erschreckende Metamorphose durchliefen. Sie verloren zuerst ihre humanoide Form, wodurch aus dem Kreis, den sie bildeten, ein wahrhaftiger Ring wurde, wie aus Metall gegossen. Und dieser Ring expandierte in seiner nächsten Entwicklungsphase, wurde groß und größer, bis er die Größe erreicht hatte, die Tecum offenbar von Anfang an geplant hatte. Das Einzige, was Cloud daran wirklich verblüffte, war, dass Tecum sich offenbar geopfert hatte, um – Ein leiser Schrei von Winoa lenkte seinen Blick weg von der Holosäule. Winoa starrte entgeistert hinter Cloud. Als er sich umdrehte, erkannte er den Grund. Hinter ihm stand Tecum. Unversehrt. »Wir sollten keine Zeit verlieren«, sagte er ruhig. »Offenbar ist man aufmerksam geworden.« Cloud überwand seine Überraschung und sparte sich auch die Frage, wie Tecum einerseits im Sternlings-Ring aufgegangen sein und andererseits hier wieder bei ihnen erscheinen konnte. »Sesha? Ortung?« »Mehrere Einheiten im Anflug.« »Ist unsere Tarnung aufgeflogen?«, fragte Jarvis. »Wahrscheinlicher dürfte sein, dass der Ring geortet wurde«, sagte Cloud. An Tecum gewandt, fragte er: »Und da sollen wir durch?« »Welchen Sinn hätte es sonst gemacht, ihn zu erschaffen?« »Das ist kein Grund.« »Er sichert euer Überleben – und eure Versetzung in die Wolke. Dorthin, wohin euch die Belagerer nicht folgen können.«
»Das ist ein Grund.« Cloud navigierte die RUBIKON eigenhändig über die Steuerkonsole seines Sitzes. Irgendwo in der Nähe flammte etwas auf. Geschosse? Cloud beschleunigte. Die RUBIKON glitt durch den Ring, der sich so schnell verengte, dass es für einen Beobachter fast den Eindruck hatte, als würde er sich in die Außenhülle des Schiffes brennen. Gleichzeitig raste eine Plasmakugel auf die RUBIKON zu. Der Treffer schien unvermeidlich. Doch eine Mikrosekunde vor dem Aufprall war die Stelle, wo die RUBIKON hätte sein müssen, leer. Eine aberwitzige Achterbahnfahrt, in deren Verlauf die meisten Besatzungsmitglieder ohnmächtig wurden, presste die RUBIKON durch ein Nadelöhr. Eine aberwitzige Achterbahnfahrt durch eine andere Dimension schloss sich an. Cloud hatte das Gefühl, einem Transportvorgang beizuwohnen, der im Normalfall ohne messbaren Zeitverlust vonstattenging. Aber dies war nicht der Normalfall. Die freigesetzten Energien und Tricks wurden von den Kräften der protochaotischen Wolke ausgebremst; so stark, dass Effekte wahrnehmbar wurden, die kein menschlicher Verstand hätte ertragen sollen. Die ebendiesen menschlichen Verstand an die Grenze seines Fassungsvermögen trieben … Es war haarscharf. Auch Cloud verlor infolge der Belastung kurzzeitig das Bewusstsein, und als er wieder zu sich kam, war mehr als fraglich, ob sich das Raumschiff überhaupt an dem von Tecum versprochenen Ort befand. »Wir haben … es nicht … geschafft«, krächzte Jiim, der offenbar auch gerade wieder zu Bewusstsein gekommen war. »Das ist nicht – das Angksystem … seht doch …!«
Auf den ersten Blick waren sie falsch – das glaubte auch der gebeu-
telte Cloud zunächst. Denn das Erste Reich der Bractonen hatte einen ganz eigenen Charakter, der sofort ins Auge stach. Selbst in einem relativ engen Ausschnitt, wie die Holosäule ihn gerade lieferte. Der Clou des Sieben-Planeten-Systems war, dass sechs seiner Welten auf geniale Weise miteinander verbunden waren – über die sogenannten Energiestraßen. Und diese hochflexiblen »Tunnel«, die durch den Weltraum verliefen und dabei ein einzigartiges Muster knüpften, waren so leuchtend und dominant, dass sie vom Weltraum aus sofort ins Auge stachen. Hier nicht. Hier gab es keine gleißenden Linien von Kobaltturm zu Kobaltturm, über die der gesamte Waren- und Menschenaustausch innerhalb des Angksystems stattfand. »Wenn wir nicht im Zielsystem angekommen sind – wo dann?«, fragte Cloud. »Sesha – Systemansicht und Analyse!« Er sah sich zu Tecum um, dachte schon, er wäre verschwunden, doch dann sah er ihn, nur ein paar Schritte von der Stelle entfernt, wo Cloud ihn zuletzt bemerkt hatte. »Wie kommst du darauf, dass wir falsch sein könnten?«, fragte das Wesen aus Nabiss. »Die Energiestraßen –« »Das ist kein Kriterium.« »Nein? Seit wann?« Tecum schwieg, während Sesha die verlangte Gesamtansicht in die Holosäule projizierte. Das Bild, das ihnen dargeboten wurde, bestätigte Tecums Behauptung … und widerlegte die allgemeinen Befürchtungen. Sieben Planeten auf ein und derselben Umlaufbahn um ihr Muttergestirn, dabei in einem absolut identischen Abstand zueinander … das war ein unumstößliches Merkmal des Angksystems. Cloud glaubte nicht, dass es noch ein zweites, genauso aufgebautes Planetensystem irgendwo im Universum gab. Noch dazu eins, in das Tecums Aktion sie von der protochaotischen Wolke aus geführt hatte. »Ich würde erst mal sagen«, meldete sich Scobee zu Wort, »puuuuuh! Wir habens geschafft – gerade noch eben so, wenn ich die letz-
ten Bilder richtig gedeutet habe. Dieses Plasmageschoss …« »Es war knapp«, bestätigte auch Tecum. »Ja«, meinte Cloud zurückhaltend, denn so recht freuen konnte er sich über den Erfolg nicht, »aber um einen hohen Preis.« Scobee sah ihn an. Assur sah ihn an. Und während er ihren Blicken schweigend standhielt, dämmerte ihnen langsam, was er meinte. Schließlich war es Yael, der leise sagte: »Die Sternlinge. Sie haben sich für uns geopfert.« Auch dem Letzten wurde dies nun bewusst. Nur Tecum schien anderer Meinung zu sein. »Sie erfüllten ihre Aufgabe – wie ein jeder dies auf die eine oder andere Weise zu tun hat.« »Manchmal«, fauchte ihn Scobee daraufhin zornfunkelnd an, »ist es besser, einfach mal die Klappe zu halten!« »Ich war noch nicht fertig«, sagte Tecum ungerührt. »Doch«, stellte sich Cloud auf Scobees Seite. »Für den Moment schon. Scobee hat recht, lass es so stehen. Offenbar ist dir nicht klar, dass wir auch Geschöpfen, die den meisten von uns fremd und fremdartig geblieben sind, obwohl sie sich schon so lange zwischen uns bewegten, das Recht auf Leben zubilligen. Es war nicht richtig, sie zu opfern. Vielleicht hätte es andere Wege –« »Erstens«, unterbrach ihn Tecum, »hätte es keinen anderen Weg hierher gegeben, es sei denn, die Chaoswolke wäre von hier aus abgeschaltet worden. Und zweitens will ich euch die ganze Zeit klar machen, dass die Sternlinge immer noch existieren. Nur ihre Daseinsform hat sich verändert. Sie sind miteinander verschmolzen. Und spielen jetzt eine fast noch wichtigere Rolle als bei unserem Transfer.« »Das saugt er sich aus den Fingern!«, beschuldigte Jarvis das Wesen aus Nabiss. »Sesha!«, wandte sich Tecum direkt an die KI, die ihm offenbar keinen Wunsch abschlagen konnte – wie sich einmal mehr zeigte. »Du hast auch unseren Transfer aufgezeichnet, das weiß ich. Die
Aufnahmen sprechen für sich, davon bin ich überzeugt. Und um das Klima von Vertrauen, das sich allmählich zwischen uns bildet, nicht wieder im Keim durch Misstrauen zu ersticken – zeig sie uns!« Wenig später lieferte die KI den von Tecum geforderten Bildbeweis, wenn auch in anderer Weise als von den gespannten Betrachtern erwartet. Der Ring, durch den die RUBIKON ins Angksystem »geschlüpft« war, hatte sich während der Passage immer mehr verengt und schließlich fest um ihre Kontur gelegt. In den Detailbildern sah es so aus, als wären die Sternlinge im letzten Moment auf die Hülle übergeflossen und hätten sich in die Nabisspanzerung gerettet. »Wenn sie wirklich da drin sind – kannst du sie auch wieder herausholen?«, fragte Cloud, der nach dieser »Beweisführung« noch nicht bereit war, Tecum Absolution zu erteilen. »Theoretisch wäre dies möglich – aber gegenwärtig und unter den herrschenden Bedingungen nicht ratsam.« »Warum?« »Weil die Sternlinge weiterhin eine überlebenswichtige Aufgabe erfüllen.« »Welche?« »Sie schützen uns vor den herrschenden Einflüssen. Das vermögen sie nicht allein, aber sie unterstützen den Schutz, den ein anderer Faktor garantiert.« »Das ist genau der Tecum, den ich hinter mir gelassen zu haben hoffte«, knurrte Jarvis. »Wie war das noch mal mit dem zarten Pflänzchen Vertrauen? Denkst du, es festigt unser Miteinander, wenn du schon wieder auf Rätselonkel machst?« »Wir sind gerade erst angekommen. Ich bin bereit, mein Wissen zu teilen, zu moderieren und zu vermitteln. Das ist meine Aufgabe. Dafür wurde ich gesandt. Aber ich werde euch behutsam in neue Erkenntniswelten führen – überschätzt euch nicht. Euch steht mehr als ein Schock bevor. Das Bild, das ihr bisher von diesem Ort und seinen Bewohnern hattet, trügt. Im Moment ist es ehrlicher als jemals zuvor … Vertraut mir.« »Neue Erkenntniswelten«, seufzte Cloud. »Ich kann es kaum er-
warten. Womit fangen wir an?« »Vielleicht mit einer Warnung«, meldete sich Sesha in ihrer launigsten Manier. »Irgendetwas stimmt mit unserer Umgebung nicht. Ich bin noch dabei, es zu analysieren. Aber die bisherigen Messungen … geben zur Sorge Anlass …«
Wo bleibt eigentlich das Begrüßungskomitee?, fragte sich Cloud schon die ganze Zeit. Der Wortwechsel mit Tecum hatte ihn kurz von seiner Verwunderung abgelenkt, nicht von Angk I oder einer der anderen Welten des Systems aus angefunkt worden zu sein. Es musste ein Frühwarnsystem existieren, das Ankömmlinge meldete – erst recht, seit dem Rückzug hinter den Mahlstrom aus protochaotischer Energie. Seshas Warnmeldung lenkte Clouds Überlegungen sofort in andere Richtungen. Dass etwas mit der RUBIKON-Umgebung, also dem Weltraum draußen, nicht stimmte, musste erst noch spezifiziert werden – und doch heizte es seine Fantasie sofort an. Er befürchtete, dass Tecum und sie zu blauäugig an das Unternehmen herangegangen waren, ins Angksystem zu gelangen. Da waren sie nun – aber es war denkbar, dass nicht einmal das Wesen aus Nabiss wusste, wie weit die Versuche der Belagerer, das System in Bedrängnis zu bringen, bereits gediehen waren. Sie mochten noch keinen Zugang für sich selbst gefunden haben – aber möglicherweise war es ihnen gelungen, Waffen einzusetzen, die Einfluss auf das Innere der Wolke nehmen konnten. Oder sie nutzten die Wolke selbst, um die ihr innewohnenden Kräfte gegen die Angkwelten zu richten … Noch während Seshas Untersuchungen im Gange waren, informierte er Tecum und die anderen über seine Spekulationen. Das Wesen aus Nabiss wirkte im ersten Moment nachdenklich – sofern sich das an der Mimik einer Ganfnachbildung überhaupt erkennen ließ. Dann aber sagte er: »Das System ist noch sicher. Daran ändert auch die Beobachtung eurer KI nichts.«
»Du nimmst sie nicht ernst?« »Doch. Aber ich bin nicht überrascht von ihren Erkenntnissen.« »Die Energiestraßen sind erloschen.« »Niemand benutzt sie in diesem Stadium.« »Was heißt das?« »Zudem wäre es Verschwendung von Ressourcen.« »Aha, sein Lieblingsthema«, konnte sich Jarvis einen Einwand nicht verkneifen. Ansonsten überließen er und die anderen Cloud die Gesprächsführung. »Du meinst Energieverschwendung?«, fragte Cloud. »In der Tat. Es sind enorme Ressourcen erforderlich, um die protochaotische Wolke zu generieren. Das Aufkommen der momentanen Systemsonne reicht dafür allenfalls wenige Jahre. Vielleicht weniger, für den Fall, dass Versuche stattfinden, die Wolke zu zerstören. Die dann zu generierende Leistung wird den heutigen Bedarf um ein Vielfaches übertreffen.« Clouds Gedanken waren an dem Begriff »die momentane Systemsonne« hängen geblieben. Eine merkwürdige Ausdrucksweise – fand offenbar nicht nur er. »Das klingt, als hätten die Bractonen schon einige Sonnen für ihr System … verbraucht«, nahm er den Faden auf. »Aber wie sollte so etwas möglich sein? Du hast dich wahrscheinlich nur unglücklich ausgedrückt …« »Es gab viele Sonnen, ja. Aber diese hier könnte die letzte sein, denn unter den gegebenen Umständen, wird eine Neuinstallation nicht durchführbar sein. Sollte diese ausbrennen, bricht der Schutzschild zusammen, und es werden auch nicht mehr genügend Restenergien zur Verfügung stehen, um den Neustart einzuleiten.« »Neuinstallation … Neustart … Wir reden hier doch von Sternen – oder missverstehe ich etwas?«, konnte sich Jarvis nicht mehr zurückhalten. Tecum überging den Einwand. »Dieser Verbrauch an Sonnen … so es ihn wirklich gibt – bedeutet er, dass das Angksystem schon häufiger unter Beschuss stand? Sich schon häufiger hinter den Chaosschild zurückziehen musste?«
Tecum verneinte. »Die Herren waren darauf vorbereitet, ihn eines Tages als Trumpf zu ihrem Schutz ziehen zu müssen. Aber diese Situation ist einzigartig, gab es noch nie.« Sesha meldete: »Ich bin mit meiner Umgebungsanalyse fertig.« »Und?«, wandte sich ihr Cloud sofort zu. »Mit welchem Ergebnis? Hat sich dein Verdacht einer … Unstimmigkeit bestätigt?« »Durchaus.« »Inwiefern.« »Wir haben es mit einer Zeitanomalie zu tun.« »Genauer!« »Die Zeit außerhalb der RUBIKON scheint … stillzustehen.«
6. »Du bist die Erste, der ich es zeige.« Jelto blickte ernst drein. Aylea nickte. Er hatte sie zu Cys Kabine gebeten und draußen auf dem Gang davor auf sie gewartet. Der gelungene Vorstoß ins Angksystem war fast völlig an ihm vorbei gegangen. Auch Aylea hatte ihn nur über einen kleinen Bildschirm in einem der Aufenthaltsräume verfolgt – im Beisein einiger Angks, denen es freigestellt worden war, ob sie sich an der Sicherung des Ganf-Leichnams in der großen Pyramide beteiligen wollten oder nicht. Bislang hatten sich erst wenige für ein Aufgehen in der Schutzgemeinschaft entschieden, und darüber war Aylea froh. Früher war die RUBIKON völlig unterbesetzt gewesen für ein Schiff ihrer Größe. Dann waren die Angks und Sternlinge an Bord gekommen – plötzlich hatte man das Leben gespürt, das in viele Winkel Einkehr gefunden hatte. Nun war es wieder still geworden, viel zu still. Aber vielleicht empfand sie das auch nur so stark, weil einer ihrer Freunde für immer gegangen war … Sie bat Jelto, von der Tür wegzutreten, weil sie bemerkt hatte, dass etwas darauf stand, es aber nicht lesen konnte, solange er es verdeckte. Er ging zur Seite. CY MEMORIAL PARK Sie las es zweimal, ehe sie sagte: »Schön. Gehen wir dann rein?« Vielleicht hatte er sich mehr Begeisterung für das Schild erhofft, aber dann zeigte er es nicht. Nickend löste er den Türöffner aus. Das Schott glitt zur Seite. Er verneigte sich und machte eine Handbewegung, die ihr signalisierte, dass er ihr den Vortritt lassen wollte. Sie blickte auf völlige Schwärze im Türrahmen, die auch nicht von
der Helligkeit des Gangs gemildert wurde. »Es ist nur ein Gag«, sagte Jelto, als er ihr Zögern bemerkte, »um dir die Überraschung nicht zu nehmen. Eine Art Vorhang aus künstlicher Dunkelheit, nur auf die Schwelle beschränkt. Du kannst einfach hindurchtreten.« Aylea machte zwei Schritte. Der erste brachte sie mit der Nasenspitze bis vor die Wand aus Schwärze. Der zweite in die Welt dahinter, in der sich Holo- und Dimensatorentechnik zu etwas vermengten, das Pseudokalser zwar als entferntes Vorbild hatte, aber aussah wie … Aylea war sekundenlang sprachlos. Spürte den Wind. Roch das Gemisch von Düften. Endlich, da war Jelto bereits neben sie getreten, sagte sie: »Das ist unfassbar ähnlich. Wie – wie hast du das auferstehen lassen?« Es war eine bis in die Details genaue Nachbildung des zerstörten hydroponischen Gartens. »Es war gar nicht so schwer. Du musst dir vorstellen, dass Sesha ja jeden Bereich des Schiffes optisch einsieht und auch in sich abspeichert. In bestimmten Abständen werden Updates erstellt. Aber schon früh nach der Zerstörung wurde von mir erbeten, das hier dauerhaft abzuspeichern.« »Weil du schon wusstest, was du einmal daraus machen willst?«, fragte sie. »Nein. Eher als Erinnerung. Für die düsteren Stunden, die auch mich manchmal heimsuchen …« Sie verstand, was er meinte. Den Kinderschuhen war sie längst entwachsen. »Gehen wir ein Stück?«, fragte er. »Du willst sicher auch das Eigentliche sehen.« »Unbedingt«, versicherte sie, genoss aber jeden Schritt tiefer in die Welt, in der es keine einzige echte Pflanze gab – noch nicht, wenn sie Jelto richtig verstanden hatte. Als würde er ihre Gedanken lesen, sagte er: »Ich werde nach und nach Illusion durch Wirklichkeit ersetzen. Schrittweise und langsam, mit Bedacht. Ich will nichts überstürzen. Außerdem brauche
ich erst neuen Samen …« Minutenlang gingen sie die angelegten Wege entlang. Schließlich gelangten sie zu dem Platz, der im alten Garten nicht existiert hatte. Nicht in dieser Form jedenfalls. Er war dem Namenspatron des Parks gewidmet. Und der … zierte ihn auch. Ein mannshoher Sockel erhob sich aus dem Rund der Fläche, die zu allen Seiten von welliger Landschaft und leuchtendem Blütenmeer gesäumt wurde. Blüten waren Cy zum Verhängnis geworden … oder besser gesagt, hatten sein Sterben eingeläutet. Aber hier waren sie Lebensfreude pur, und das fand Aylea nur angemessen. Es entsprach dem Wesen ihres verstorbenen Freundes, der nie – oder selten – Trübsal geblasen hatte. Sie blickte hinauf zu dem Sockel und konnte nicht verhindern, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten. Dort oben war er – Cy. Tot, aber unvergänglich. Fixiert und konserviert von einer Technik, mit der schon die alten Foronen den Zahn der Zeit betrogen hatten. »Er ist permanenten Staseschauern ausgesetzt«, erläuterte Jelto. »So wie er jetzt zu uns herabblickt, wird er es immer tun – vielleicht noch, wenn wir beide schon längst nicht mehr sind.« Damit konnte Aylea leben, mit solchen Aussichten. »Das hast du wundervoll gemacht«, sagte sie. »Die anderen werden auch begeistert sein. Ich fürchte nur, im Moment wird kaum jemand die Zeit aufbringen, herzukommen. Du hast mitgekriegt, was passiert ist?« »Wir befinden uns wieder im Angksystem«, sagte Jelto und lächelte nachsichtig. »Ganz weltfremd bin ich nicht.« »Das wollte ich damit auch nicht sagen.« »Ich weiß.« Sie ließ die Umgebung auf sich wirken. Nach einer Weile fragte sie: »Könnte ich kurz mit ihm allein sein?« »Ich hatte gehofft, dass du das fragen würdest – es zeigt mir, dass
ich alles richtig gemacht habe.« Lächelnd ging er davon. »Ich warte am Ausgang.«
Kaum war Jelto verschwunden, hatte Aylea Mühe, sich auf ihre Gedanken an Cy zu konzentrieren. Vielleicht lag es daran, dass ihr Verstand immer noch daran zu knabbern hatte, es zu akzeptieren, dass dies einmal Cys Kabine gewesen war. Und immer noch war. Nur hatten die Dimensatoren den darin verfügbaren Raum auf das X-fache der ursprünglichen Größe aufgebläht. Und Holotechnik projizierte anhand alter Aufnahmen ein täuschend real wirkendes Abbild des vernichteten Gartens hinein. Sie seufzte, entschied sich zum Verlassen des Parks, wollte ein anderes Mal wiederkommen, wenn sie sich vorher besser auf das eingestellt hatte, was sie hier erwartete. »Mach's gut, alter Freund. Ich vermiss dich!« Sie kehrte dem Denkmal den Rücken. Aber noch in der Bewegung … stutzte sie. Drehte sich wieder zurück. Unsinn … sie hatte sich getäuscht. Da war niemand. Auch wenn sie für einen klitzekleinen Moment geglaubt hatte, hinter dem Sockel luge jemand hervor … Sie wandte sich zum Gehen. Ein Stimmchen sagte: »Entschuldige …« Sie wirbelte herum. Da stand er. Sie erschrak weniger, als dass sie verblüfft war. »Ich dachte, ihr wärt alle … na ja, gegangen. Oder wie man es nennen soll. Durch euch kam die RUBIKON durch die Chaoswolke. Ich hab die Übertragung gesehen. Und jetzt seid ihr wieder hier?« Das Wesen aus geformtem Weltall schüttelte den Kopf. »Nur ich«, sagte es. »Aha. Und warum versteckst du dich hier.« »Um nicht gefunden zu werden.« »Prima. Der Lacher ist dir sicher. Muss ich mir merken: versteckt sich, um nicht gefunden zu werden. Klasse Schenkelklopfer, Kom-
pliment.« Sie wollte gar nicht so schnodderig reagieren, aber vielleicht kompensierte sie damit ein Fünkchen Angst, das das Auftauchen des Sternlings in ihr geschürt hatte. Aber dann erinnerte sie sich, dass sie immer noch auf sie herabschaute – zumindest ihrem Gefühl nach –, und sie riss sich am Riemen. »Dann frag ich mal anders: Vor wem versteckst du dich?« »Vor dem Mittler.« »Wer soll das sein?« »Bei euch nennt er sich Tecum.« »Dieses Ding, das sich aus Jiims Rüstung manifestiert hat … und aus dem, was wir mal als Charly kannten, Yaels imaginären Freund?« »Er ist kein Ding. Er wurde gesandt. Er trägt ihren Willen in sich.« »Wessen Willen?« »Darüber darf ich nicht sprechen.« »Verbietet wer? Das Ding?« Sie blieb dabei. Sie hatte Tecum ein paarmal gesehen, aber etwas an ihm missfiel ihr, ohne dass sie es beim Namen hätte nennen können. »Tecum?« Der Sternling verneinte. »Es steckt in mir. Ich bin auserwählt. Ich unterliege … Regeln.« Aylea gewöhnte sich langsam an ihn. »Und was tust du hier? Hast du einen Namen?« »Ich bin Varx. Ich verstecke mich. Ich hoffe, hier findet er mich nicht.« Sie nickte langsam. »Okay, ich denke, wie sprechen beide von ein und derselben Person. Das ›Ding‹ lass ich mal stecken. Ich wollte dich nicht ärgern.« »Klar.« So klar war das auch wieder nicht, fand Aylea. »Varx also«, sagte sie. »Warum bist du nicht bei den anderen? Wo auch immer die jetzt sind … Hm.« Sie zuckte mit den Achseln. »War vielleicht ganz schlau von dir, dich nicht für dieses Himmelfahrtskommando zu melden.«
»Sie sind nicht tot.« »Kann sein.« »Sie sind mit der Schiffshülle verschmolzen.« »Auch okay, wenn du meinst … Aber du wolltest das nicht, was?« »Nein.« »Warum?« »Das ist schwer zu sagen.« »Versuchs.« »Oder auch ganz einfach.« »Umso besser.« »Ich wollte mich nicht verlieren.« Sie furchte die Stirn. »Dich nicht verlieren?« »Ich wusste, was kommen würde. Was der Mittler verlangte, konnte nur gelingen, indem alle Individualität aufgegeben wurde.« »Und das wolltest du nicht. Kann ich verstehen. Aber die anderen Jungs habens getan – zum Glück, möchte ich mal sagen. Ich glaube, dadurch sind wir jetzt erst mal übern Berg.« »Da war kein Berg.« »Ist nur ne Redensart.« »Oh. Ich erinnere mich. Er sprach auch auf diese Weise.« »Wer?« »Lange her.« »Hm.« »Ich bin alt, weißt du?« »Wie alt?« »Ich war dabei, als die ersten Menschen kamen.« Sie sah ihn forschend an. Schließlich dämmerte ihr, dass er das Angksystem meinte. »Du warst dabei, als Prosper und die anderen das System erreichten und hier ihre Familien gründeten?« »Du kanntest Prosper?«, fragte er. »Prosper … Mérimée?« »Aber ja!« Es war ein komischer Gedanke, jemandem gegenüberzustehen, der den Werdegang des ehemaligen Zirkusdirektors aus dem Ghetto noch verfolgt hatte, als dieser durch seine Entführung allen anderen Mitgliedern der RUBIKON-Stammbesatzung aus dem Blick ge-
raten war. »Wann kam er auf den Angkwelten an? Es müssen …« »… Jahrzehntausende eurer Zeitrechnung sein, o ja«, bestätigte Varx und erweckte dabei den Anschein, sich selbst mehr und mehr in Erinnerungen an das Damals zu verlieren, je länger sie darüber sprachen. »Das war der Plan. Euch in der Vergangenheit auszusetzen, um euch in der Zukunft, unserer Gegenwart, in rauen Mengen verfügbar zu haben. Hier im Reich der Bractonen ist eine zweite Menschheit, unabhängig von der ersten und unter den Fittichen der ERBAUER entstanden. Für mich ist das alles ein Wunder. Normalerweise hätte es nicht funktionieren dürfen. All die Erbkrankheiten, die vorprogrammiert sind, wenn Blutsverwandte miteinander Nachwuchs zeugen … und dazu kam es unweigerlich. Der Genpool war stark beschränkt. Ich verstehe nicht –« »Es wurde lenkend eingegriffen«, pflichtete Varx ihr bei. »Anders hätte die Kolonie nicht überdauern können.« »Ja«, sagte sie. »Und du … warst dabei. Bist du Prosper auch persönlich begegnet? Und wem noch?« »Vielen, nach und nach. Allen eigentlich. Irgendwann. Aber Prosper … besonders. Sahbu natürlich noch …« »Sahbu, seine rechte Hand …« »Sie trennten sich früh. Jeder ging seine eigenen Wege. Welten gab es genug.« Sie schwieg eine Weile. Dann streckte sie die Hand aus und wartete, dass Varx sie ergriff. Es dauerte eine Weile, bis er verstand, was sie erwartete. Dann schüttelten sie sich die Hände. »Freut mich«, sagte Aylea. »Freut mich sehr, dich kennenzulernen, Varx. Wenn ich dir irgendwie helfen kann. Ich würde dich gerne wiedersehen. Mit dir zu reden, ist so … inspirierend.« Plötzlich legte sich wieder ein Schatten über die Physiognomie des Sternlings. »Ich weiß nicht, wie lange ich mich verstecken kann …« »Das musst du doch nicht. Ich rede mit John. Er hat für deine Lage Verständnis. Er –«
»Der Commander hat darauf keinen Einfluss«, hielt Varx dagegen. »Der Mittler entscheidet.« »Aber er kann sich für dich verwenden. Ich bin überzeugt, dass Tecum Wert auf ein gutes Verhältnis zur Schiffsführung legt. Du wirst sehen, alles wird –« »Geh jetzt besser.« »Warum?« »Ich will dir nicht schaden. Und wenn er uns zusammen findet …« »Ich hab keine Angst! Erst recht nicht vor dem!« Das schien Varx zu imponieren. »Vielleicht«, sagte er. »Vielleicht was?« »Sehen wir uns wieder.« »Das wär schön.« »Aber geh jetzt lieber.« »Wo finde ich dich?« »Hier. Aber erzähl niemandem von mir. Versprich es.« Sie zögerte. »Ich wollte mit John sprechen. Er wird –« »Mit niemandem, bitte!« Sie willigte widerstrebend ein. »Ich komme morgen wieder. Brauchst du etwas? Essen? Trinken?« »Nein. Ich habe alles.« »Dann bis dann.« Sie ging ein paar Schritte. Als sie sich umdrehen und ihm noch einmal winken wollte, war Varx verschwunden. Und schon jetzt mutete die Begegnung so unwirklich an, dass Aylea sich fragte, ob sie überhaupt stattgefunden hatte. Vielleicht halluzinierte sie einfach … »Alles in Ordnung?«, fragte Jelto, als sie ihn am Ausgang traf. »Ja. Wann darf ich wiederkommen?« »Jederzeit. Das weißt du doch.« Sie lächelte. Er schien noch etwas fragen zu wollen. Doch dann verabschiedete er sie und blieb allein im Park zurück. »Du darfst ruhig Werbung für das Cy Memorial machen«, gab er ihr mit auf den Weg. »Je mehr Besucher kommen, desto besser.« Es lag ihr auf der Zunge, Jelto in ihr Erlebnis einzuweihen. Er war
ein guter Freund, vielleicht ihr bester. Und fast immer wusste er Rat. Aber sie hatte Varx ein Versprechen gegeben. »Ich werde den Park weiterempfehlen, keine Frage. Und selbst wiederkommen, wenn's dir nichts ausmacht. Ich finde großartig, was du hier tust.« »Danke, Aylea. Schön, dass es dir gefällt. Komm, so oft du nur willst. Und wenn sich die Gelegenheit ergibt, nehme ich dich gerne mit, um die ersten echten Gewächse mit dir zusammen auszusuchen.« »Du meinst auf einem Planeten?« »Natürlich auf einem Planeten.« »Das wäre super.« Er lachte. Seine Freundlichkeit machte es ihr umso schwerer, den Mund zu halten. Ihm die Begegnung mit Varx vorzuenthalten, kam ihr schon wie ein kleiner Verrat vor. An ihrer Freundschaft.
7. Zeitstillstand? Cloud versuchte, sich die Dimension des Gehörten vorzustellen. Laut Seshas Messungen gab es innerhalb der protochaotischen Wolke, die das Angksystem nach allen Richtungen umschloss, keinerlei Zeitfluss mehr. Selbst die Planeten und das Muttergestirn schienen davon betroffen. Gismo, Nomad, Schaggrom, Arrankor und wie sie alle hießen, drehten sich nicht mehr um ihre Sonne, und auch die Sonne selbst, die ihre Welten mit Licht und Wärme zu versorgen hatte, wirkte wie eine eingefrorene Momentaufnahme. Das war Irrsinn, vor allem, weil … … es ein Ding der Unmöglichkeit war, dass die RUBIKON sich scheinbar normal in diesem zeitstarren Raum bewegte, und in ihr alles seinen Gang nahm, überall Bewegung herrschte, Lebendigkeit … »Was geht da vor? Tecum?« »Damit war zu rechnen«, gab das Wesen aus Nabiss lapidar zur Antwort. »Ach? Wirklich?« Der Sarkasmus, der aus Clouds Mund kam, war so ätzend, dass Verletzungsgefahr bestand. »Damit war zu rechnen? Danke auch, dass du uns vorgewarnt hast!« »Die Stasis ist Teil der Maschinerie.« »Welcher ›Maschinerie‹?« »Die das System schützt. Und die Chaoswolke generiert.« »Ich dachte, die Sonne liefert die erforderlichen Energien. Aber wenn sie so erstarrt ist wie alles andere da draußen, kann sie diesem Anspruch nicht gerecht werden …« »Du begehst einen Denkfehler.« »Einen?« Cloud lachte an der Grenze zur Hysterie. »Wenn du mich fragst, ist das alles ein Denkfehler – du inbegriffen! Es reicht! Wir werden hier verschwinden. Hier kann es nicht sicher sein, und du hast meine Mannschaft schon mehr als genug in Gefahr gebracht!«
»Wir können nicht von hier verschwinden.« »Das ›Wir‹ schloss dich auch nicht unbedingt mit ein.« »Du wirst unsachlich.« »Ich will nicht mehr darüber diskutieren!« »Ich auch nicht. Es gibt keine Diskussion. Wir sind gekommen, um vielleicht etwas zur Rettung des Systems und seiner Bewohner tun zu können.« Cloud nickte. »Aber wenn man Hilfe von jemandem erwartet, muss man ihm auch Informationen gewähren, über die man selbst verfügt und die von unschätzbarem Wert für jede Mission sein könnten. Du hingegen lässt uns am ausgestreckten Arm verhungern! Du behandelst uns nicht wie Freunde oder auch nur gleichberechtigte Partner, denen du Respekt schuldest, sondern wie … Lakaien.« »Ich unterliege selbst Beschränkungen. Bin nicht frei.« »Jetzt macht er einen auf Tränendrüse«, kommentierte Jarvis säuerlich. »Er ist nicht frei … schnief.« »Ich bin der Mittler. Die mich schickten, entscheiden. Sie sind für all dies verantwortlich, sie haben überall an Bord den Stempel ihres Wirkens hinterlassen.« »Das waren die Bractonen. Sie hatten das Schiff in der Mangel. Sie haben uns einen Zuwachs an Mannschaft beschert«, sagte Cloud. »Du aber scheinst mit ihnen wenig bis gar nichts am Hut zu haben. Als Erscheinungsform wählst du den Körper eines Ganf, ohne typisches Gehäuse zwar, aber immer noch klar als Ganf erkennbar. Und wenn du vom Angksystem sprichst, lag dein bisheriger Schwerpunkt ebenfalls stets auf den Ganf, von denen wir bis vor kurzem nicht einmal wussten, dass sie in irgendeiner Verbindung zu den Bractonen stehen. Dann aber kam die Sache mit Charly und der Nonzone. Die Nonzone umgab das Angksystem schon vor der protochaotischen Wolke, offenbar ebenfalls als eine Form von Schutz gedacht. Und möglicherweise gibt es … auch wenn für mich schwer vorstellbar … innerhalb jener Sphäre Ganf. Ganf, die für uns zuvor stets mit Kalser, der Heimat der Nargen, verbunden waren. Du stellst mit deinem Kommen und Wirken alles infrage und auf den
Kopf. Und ich werde den Verdacht nicht los, dass dahinter durchaus Vorsatz steht. Du willst unser Wissen gering halten und ein gewisses Maß an Verwirrung stiften, um möglichst ungestört agieren zu können. Nein, mach mir nichts vor. Für dich sind wir keine Retter in der Not, sondern einfach nur Werkzeuge. Wer steckt hinter dir? Und was geht wirklich vor da draußen? Was bedeutet es und was können wir gegebenenfalls für diejenigen tun, die unschuldig in den Strudel dieser kosmischen Fehde gerieten?« Tecum hatte den Redeschwall über sich ergehen lassen. Stumm und ähnlich erstarrt wie die Welt jenseits der RUBIKON-Hülle. Cloud wartete auf seine Stellungnahme. Jeder in der Zentrale wartete darauf. Tecums Reaktion aber fiel anders aus als erhofft. »So ein Feigling!«, rief Scobee, als sie statt auf das Wesen aus Nabiss von einem Moment zum anderen ins Leere blickte. Tecum hatte sich, wie schon häufiger praktiziert, einfach aus der Szenerie ausgeklinkt. Er war verschwunden. Die Empörung darüber schlug hohe Wellen – änderte aber nichts an der Misere, in der sie steckten. Eigentlich hatten sie ins Angksystem gewollt. Nun waren sie hier … und fühlten sich von dem betrogen, den sie zuletzt allmählich als Verbündeten zu akzeptieren begonnen hatten … Schlimmer konnte es nicht mehr kommen! Eine These, wie geschaffen, um widerlegt zu werden …
Sie hatte kaum Schlaf gefunden, mit sich gehadert. Sie war fest überzeugt, dass John ein Hilfeansinnen nicht abgelehnt hätte – und dass sich ihr neu gewonnener Bekannter überhaupt unnötig Sorgen machte, dieser Tecum könnte ihm ans Leder wollen. Obwohl – nein, ganz sicher war sie sich nicht. Letztlich behielt sie das Geheimnis für sich, so schwer es ihr auch fiel. Allerdings war sie der Meinung, dass Tecum Varx längst hätte ausfindig machen können, wenn er dies gewollt hätte. Es gab Hin-
weise genug, dass er sämtliche Einrichtungen und Gerätschaften der RUBIKON beliebig für sich nutzen konnte – und was wäre leichter gewesen, als Varx über Sesha zu lokalisieren? Vielleicht irrte sie sich. Vielleicht auch nicht. Fakt war jedenfalls, dass sie gerade mal zehn Stunden, nachdem sie sich von dem Sternling im Park verabschiedet hatte, wieder im Cy Memorial vorstellig wurde. Von Jelto war bei ihrer Ankunft nichts zu sehen. Vielleicht war er anderweitig beschäftigt, irgendwo im oder außerhalb des Parks. Die Lage im Angksystem hatte Aylea nicht weiter verfolgt – eigentlich ein Unding, denn wenn sie eines normalerweise war, dann brennend interessiert an sämtlichen Geschehnissen in und um die RUBIKON herum. Dass dies momentan nicht so der Fall war, obwohl möglicherweise dramatische Ereignisse auf der Tagesordnung standen, verriet ihr, wie fasziniert sie von Varx, dem abtrünnigen Sternling, war. Sie lief den Weg zum Denkmal entlang und hatte kaum Augen für die herrliche Umgebung, die bereits beim zweiten Besuch fast zur Selbstverständlichkeit geworden war. Aber das mochte an ihrer Anspannung liegen. Sie war nur auf die Wiederbegegnung mit Varx fixiert. Ob er überhaupt noch da war? Sie befürchtete, er könnte sich einen anderen Unterschlupf gesucht … oder sich Tecum »gestellt« haben. Aylea konnte – oder wollte – sich nicht vorstellen, dass dem Sternling tatsächlich eine empfindliche Strafe drohte. Beim Denkmal, wo alles unverändert wirkte, sah sie dann ihre Befürchtung bestätigt. Minutenlang hielt sie Ausschau nach Varx, der sich im Dickicht der Holobüsche verborgen halten mochte – wahrscheinlicher aber war, dass er hier nicht mehr anzutreffen war. Sie wollte sich schon wieder ganz geknickt auf den Rückweg machen, als sie plötzlich ein Gefühl hatte, als würde ein Schatten auf sie fallen. Sie blickte zum Himmel. Kein Wölkchen trübte ihn. Ihr nächster Gedanke war, dass sie vielleicht auf Varx Anwesenheit reagierte. Dass er gleich aus dem Dickicht treten und zu ihr kommen würde.
Doch nichts passierte, und zu rufen wagte sie nicht. Erst als sie erneut den Rückweg antreten wollte, wiederholte sich die Beklemmung. So etwas hatte sie bei der ersten Begegnung mit dem Sternling nicht gespürt. Daraus folgerte sie, dass es nichts mit ihm zu tun hatte. Ein anderer Gedanke schlich sich in ihr Denken ein: Konnte es sein, dass das Unheimliche, das schon den alten hydroponischen Garten infiltriert hatte, nun auch Cy Memorial für sich entdeckt und erobert hatte? Bei dieser Vorstellung schauderte sie wirklich zusammen. Sie beschleunigte ihren Schritt, hielt sich aber auf dem markierten Weg, wagte keine Abkürzung. Eine Biegung … … und sie prallte zurück. Rasch verbarg sie sich hinter Hecken und Bäumen. Von einem Herzschlag zum anderen wusste sie, was sie so aus der Fassung brachte – ein anderer Besucher des Parks, einer mit einem geradezu brutal dominanten Charisma. Sie war ihm noch nicht persönlich begegnet, kannte ihn aber aus Holoübertragungen. Dort vorne bewegte sich dieses Ding aus Nabiss durch Cy Memorial. Und in dem kurzen Moment, den Aylea es gesehen hatte, war der Eindruck entstanden, dass es nach etwas suchte. Akribisch suchte. Plötzlich verstand Aylea die Ängste von Varx – denn sie hegte nicht den geringsten Zweifel, dass es der Sternling war, nach dem Tecum fahndete. John … ich muss John informieren – sofort! Sie wollte sich flüsternd an Sesha wenden – obwohl sie fürchtete, dass der Sucher selbst ein Wispern hören würde. Aber so weit kam es nicht. Eine kalte Hand packte ihren Arm und zerrte sie herum. Entdeckt!
Sie öffnete bereits den Mund zu einem Hilfeschrei, als sich eine zweite kalte Hand darauf presste. Sie sah in das unendliche All … das sich in Varx' Zügen zeigte. Leise, an der Grenze zum Hörbaren, bat der Sternling Aylea, still zu sein – und ihm zu folgen. Sie nickte. Vorsichtig zogen sie sich tiefer ins Dickicht zurück, Richtung Denkmal. Erst als sie hoffen konnten, eine ausreichende Distanz zwischen sich und Tecum gebracht zu haben, wagte Aylea zu sprechen. »Du brauchst nichts zu sagen – jetzt verstehe ich dich. Aber wir wenden uns an Sesha – und sie informiert den Commander. Dir wird nichts geschehen!« Und mir auch nicht – hoffentlich, dachte sie. Varx hielt sie immer noch am Arm, und sie glaubte, ihn zittern zu spüren. Offenbar war er einverstanden und wartete, dass sie ihre Ankündigung wahr machte. »Sesha!«, rief Aylea halblaut. »Antworte!« Die KI schwieg. »Sesha – bitte!« Keine Reaktion. »Das ist nicht normal«, wandte sich Aylea an Varx. »Sonst reagiert sie sofort.« Varx schien weniger verblüfft darüber als sie. Sein Zittern verstärkte sich. »Er … das ist er …« »Was meinst du damit?« »Er … unterbindet die Kontaktaufnahme.« »Dazu wäre er fähig?« »Er ist mächtig wie ein Gott.« Aylea wunderte sich, dass Sternlinge sich philosophisch mit Göttern auseinandersetzten. »Unsinn. Warte, ich versuche es noch mal …« Sie sammelte sich, überlegte, was sie verkehrt gemacht haben könnte. »Se-«
Weiter ließ Varx sie nicht kommen. Eine Hand wechselte wieder auf ihren Mund, die andere löste sich von ihrem Arm und zeigte in eine bestimmte Richtung. Eine Sekunde später sah Aylea ihn kommen. Er glitt wie das personifizierte Verhängnis durch die holografische Vegetation. Geradewegs auf sie zu! Sie spürte fast körperlich, wie sich Varx neben ihr verkrampfte. »Kommst du … mit?«, wisperte er fast tonlos. Sie nickte, dachte an erneute Flucht, erneuten Rückzug innerhalb des Parks. Aber Varx hatte anderes im Sinn. Er war wie von Sinnen vor Panik. Packte Aylea und riss sie mit Schwung an sich. Sie erwartete, gegen ihn zu prallen – stattdessen fiel sie. Als hätte sich ein Loch im Boden aufgetan. Ein tiefes, dunkles Loch … Was –, dachte sie. Dann erfolgte, verspätet, doch noch der Aufprall. Benommen richtete sie sich neben Varx auf. Sie verstand nicht, was passiert war. Verstand nicht, wo sie war …
»Vorstoß!«, entschied Cloud, nachdem Tecum – zumindest vorerst – verschwunden blieb. »Wohin willst du?«, fragte Jarvis. »Angk I«, sagte er. »Nach Gismo, der Steuerwelt des Angksystems. Ich denke, dass wir dort am ehesten Ansprechpartner finden, die sich nicht vor jeder Antwort drücken. Von Gismo wissen wir, dass die dortigen Anlagen im Normalfall dazu da sind, die schwierige gemeinschaftliche Umlaufbahn der sieben Planeten zu synchronisieren. Demzufolge gibt es dort Technik auf höchstem Niveau, und vielleicht befindet sich auf Angk I auch die Anlage, die für die protochaotische Wolke verantwortlich zeichnet.« »Wenn wirklich alle Zeit da draußen erstarrt ist, verstehe ich nicht,
warum wir hier drinnen von den verbundenen Effekten verschont bleiben«, sagte Scobee. »Ob es auch etwas mit der erhaltenen Panzerung zu tun hat – oder der Integration der Sternlinge in sie?« »Für mich grenzt dieses Nabiss zwar an Magie«, sagte Cloud, »aber ich weigere mich, ihm alles zuzutrauen. Offen gestanden: Ich habe keine Ahnung, warum wir verschont sind. Vielleicht haben wir unsere Eigenzeit mitgebracht? Irgendeine Erklärung gibt es, sonst würden wir diese Unterhaltung nicht führen. Und inwieweit der Aussage zu trauen ist, dass der Zeitfluss draußen komplett zum Erliegen gekommen ist, werden wir sehen, wenn wir uns Gismo anschauen. Sesha – Annäherung einleiten!« Die, die standen, setzten sich auf ihre jeweiligen Plätze auf dem Kommandostand. Cloud war erleichtert, dass die Technik selbst unter den – draußen – herrschenden Erschwernissen tadellos funktionierte. Bislang zumindest. Was ihm weniger gefiel, war ihr Mitreisender, von dem er sich eigentlich eine Bereicherung erhofft hatte. Inzwischen jedoch wurde Tecum mehr und mehr zur Last. Und er schien auch nicht über seinen Schatten springen zu können oder zu wollen. Er überlegte, was wäre, wenn das Wesen aus Nabiss gar nicht mehr auftauchte. Und kam zu der festen Überzeugung: Das wäre vielleicht nicht mal das Schlechteste! Wir schaffen es auch ohne seine Hilfe – vielleicht eher als mit. Insgeheim wünschte er sich fast, Tecum könne diesen Gedanken auffangen. Sie näherten sich rasch der erstarrten Welt Gismo – erstarrt in absoluter Weise. Nicht nur die Planeten drehten sich nicht länger um die Sonne, sondern sie rotierten auch nicht mehr um ihre eigene Achse. Stillstand pur. Und auf der Oberfläche … »Da kommen die ersten Bilder«, sagte Jarvis. In der Holosäule schoss der Planet heran, der große Ähnlichkeit mit der Erde hatte, auch wenn seine Landmassen anders gezeichnet waren. Aber es war – wie im Übrigen auch die anderen bekannten
Angkwelten – ein lebensfreundlicher Ort. Hier hatten die damaligen Zwangssiedler ideale Voraussetzungen gefunden, um sich eigene Lebensgrundlagen zu schaffen, Bindungen einzugehen, Nachwuchs zu zeugen und über die übrigen Welten zu zerstreuen. Wenn Cloud sich recht erinnerte, hatte es in den Anfangszeiten klare Planetenzuweisungen für die Entführten gegeben, und sie hatten »Schlüssel« erhalten, mit denen die Nutzung der Energiestraßen über die kobaltblauen Türme reglementiert wurde. Nach etlichen Generationen hatten sich diese Regeln gelockert und waren schließlich anders gehandhabt worden als in den schwierigen ersten Jahrzehnten und Jahrhunderten. Bei ihrem letzten Besuch hatte sich das Angksystem als ein Sammelplatz erfrischend aufgeschlossener und kooperativer intelligenter Geschöpfe präsentiert, zu denen neben Menschen und Bractonen eben auch »Exoten« wie die Tavner und Sternlinge gehörten. Ein Schmelztiegel, der befruchtend für alle Beteiligten wirkte. Cloud hatte sich augenblicklich in diese Menschheit verliebt, weil sie in gewisser Weise einer Idealvorstellung nahekam, der die ursprüngliche Menschheit auf der fernen Erde schon lange entrückt war. Doch von der spirituellen Atmosphäre damals war das Gismo der Gegenwart Lichtjahre entfernt. Angk I barg kein Leben mehr – keines, das wirklich und fühlbar lebte, jedenfalls. Und das, obwohl die Straßen und Plätze, die Wiesen und Felder, Berge und Täler gepflastert waren mit schmetterlingsartigen Bractonen, Menschen, schildkrötenhaften Tavnern und weltraumspiegelnden Sternlingen. Sie waren alle noch immer da – aber ebenso erstarrt wie der Wind und jeder Halm auf den Wiesen und Äckern, jedes Blatt an Baum und Gebüsch, jede Blume, jedes Haar und jeder noch so locker fallende Stoff am Körper irgendeines dieser Individuen. Es war Scobee, die die Stille nach dem Schock brach. »Ich verstehe den Sinn nicht. All das gehört ihnen. Es ist ihr Lebensraum! Wieso verteidigen sie ihn, indem sie ihr Wichtigstes aufgeben? Ihre Handlungsfreiheit …?«
»Das ist auch mir ein Rätsel. Es widerspricht jeder Logik«, stimmte Cloud ihr zu. »In dem Moment, da der Wall fällt, indem die Belagerer einen Weg finden, ihn zu überwinden, sind alle zur Wehrlosigkeit verdammt! Theoretisch könnten sie abgeschlachtet werden, ohne noch einmal ins Leben zurückgekehrt zu sein … Das ist nicht das Verhalten, das Menschen in Zeiten der Bedrohung an den Tag legen! Ich bin sicher, niemand hat auch nur einen von ihnen gefragt, ob er damit einverstanden ist, dass die Zeit … wie auch immer … angehalten wird!« »Du meinst, die Bractonen haben sämtliche Mitbewohner des Systems vor vollendete Tatsachen gestellt?«, fragte Jarvis. »Ich weiß allmählich selbst kaum noch, was ich glauben soll. Am Allerwenigsten verstehe ich die Rolle der Ganf bei dem Ganzen.« »Die Ganf sind alles«, sagte das Wesen aus Nabiss, das lautlos wieder bei ihnen aufgetaucht war. »Auch wenn die Bractonen dasselbe von sich behaupten würden.« Cloud fuhr zornentbrannt herum. Er schoss förmlich aus seinem Sitz und baute sich vor Tecum auf. »Deine Orakelsprüche machen weder die Lage hier noch unsere eigene auch nur ein Quäntchen besser! Du bist wieder da – deshalb rufen wir aber nicht hurra! Ordne dich ein und unter, oder gib zu, dass du ein ganz falsches Spiel mit uns treibst! Ich hatte begonnen, dir deine lauteren Motive abzunehmen. Aber seit unserer Ankunft hier kommt einfach zu wenig. Du enthältst uns nach wie vor wertvolles Wissen vor. Ich kann das nicht länger akzeptieren!« »Du hast keine Handhabe gegen mich«, behauptete das Wesen aus Nabiss. »Ich diene nur meinen Herren – sonst niemandem. Ich kann euch zerque-« Tecum brach ab. Tecum begann zu schwanken. Dort, wo er stand, schien die Realität … Sprünge zu bekommen. Das, was bislang nur Jelto und Algorian zu Gesicht bekommen hatten, wucherte in atemberaubender Geschwindigkeit aus diesen Sprüngen in die hier etablierte Wirklichkeit herüber und begann, über Tecums Hülle zu kriechen. Wie ein Rankgewächs in Zeitraffer. Im einen Moment war Tecum noch frei –
im nächsten von oben bis unten bedeckt mit etwas, das an … Korallen mit metallischem Schimmer erinnerte. Er war das Riff, an dem sie sich festsetzten, festsaugten. Fremd und bizarr stand er da, noch fremder und bizarrer als sonst. Ganz still stand er da. Als hätte der Bewuchs ihn nicht nur zum Verstummen gebracht, sondern mit einer Kruste überzogen, die jede noch so kleine Bewegung unterband. Nicht nur Cloud wurde von dem Geschehen kalt erwischt, auch die anderen auf dem Kommandostand. Sesha fragte, ob sie Maßnahmen ergreifen solle. Gern, dachte Cloud, aber welche? Er wollte etwas sagen, aber in dem Moment, bildete sich die Verkrustung an Tecum so blitzartig wieder zurück, wie sie über ihn gekommen war. Auch die Risse im Gefüge der Wirklichkeit, dort wo er stand, schlossen sich, als wären es Wunden, die narbenlos verheilten. »Was war denn das?«, stammelte Scobee, die ebenso wie alle anderen um ihre Fassung rang. Eine kleine Demonstration, was uns blüht, wenn wir … es gegen uns aufbringen. Es? Er fragte sich selbst, was genau er damit meinte. »Tecum?«, wandte er sich an das Wesen aus Nabiss. »Kannst du mich hören?« »Ich höre.« Völlig verändert der Tonfall. Fast … demütig. Cloud wollte es kaum glauben. »Was ist gerade passiert? Mit dir … und überhaupt …« »Ich wurde … gemaßregelt.« »Gemaßregelt!« Jarvis ließ keinen Zweifel, wie sehr ihn das freute – auch wenn er nicht annähernd verstand, was Tecum genau damit meinte. »Von wem?« »Meinen Herren.« »Was hat ihnen missfallen?« »Mein Umgang …« »Mit uns?«
»Und der Situation.« »Wo sind deine Herren?« »Sie sind hier.« »Hier? Wo hier?« Tecum machte eine unbestimmte Geste – oder eine, die das ganze Schiff umschloss. »Reden wir von …« Cloud zögerte. »… leibhaftigen Ganf?« »Ja.« »Wie sollten sie an Bord gekommen sein – ohne dass uns das Geringste auffiel?« »Das … werden sie … euch selbst sagen?« »Wow!«, entfuhr es Jarvis. »Will er damit sagen –« »Sie berufen mich ab«, erklärte Tecum mit Grabesstimme. »Sie wollen von nun an die Sache selbst in die Hand nehmen. Sie sind unzufrieden mit meinem Vorgehen. Ich hätte zu große Mängel … Defizite … wurde mir erklärt …« So, wie er sprach, tat er Cloud schon fast wieder leid. »Wo sind sie?«, fragte er. »Wann werden wir sie zu sehen bekommen?« »Bald … sehr bald … Sie sagten mir, sie wollten die bereits eingeleitete Entwicklung nun extrem beschleunigen. Der Leichnam in der Pyramide versetzt sie dazu in die Lage. Er ist wie ein Kraftwerk. Aber …« Tecum neigte sich nach vorn, als würde er gleich fallen. »Aber?« »… ihr werdet danach …« Tecum knickte noch stärker ein, verformte sich und wurde zu einem unförmigen Klumpen, der entfernt einem Stadium ähnelte, das auch Jarvis von seinem Nanokörper kannte, wenn er seinen inneren Zusammenhalt verlor. Trotzdem war er noch in der Lage, Worte zu formulieren. »… euer Schiff …« Cloud hielt es nicht länger auf seinem Platz. Er stand auf und ging vorsichtig auf das Ding zu, zu dem sich Tecum mehr und mehr zurückbildete. »… kaum …« Ein Seufzer.
Unmenschlich. Fast … schadenfroh. »Kaum was?«, drängte Cloud und trat noch näher an den Klumpen aus Nabiss heran, der wie schmutziges Gold schimmerte. »… kaum noch … wiedererkennen …!«, vollendete Tecum, was ihm ein Bedürfnis zu sein schien, noch loszuwerden. Cloud konnte das, was von ihm geblieben war, nur anstarren. Er streifte die Lähmung erst ab, als Jarvis neben ihn trat. »Er hat uns so oft hinters Licht geführt … es gibt keinen Anlass, ihm das zu glauben.« Cloud wünschte, er hätte diese Einschätzung geteilt. Aber da war immer noch wie eingebrannt das Bild in seinem Kopf, das der »Entmachtung« Tecums vorausgegangen war: dieser Aufriss der Wirklichkeit hier innerhalb der Zentrale, als etwas zu ihnen hereinkam und zu ihnen durchschimmerte, von dem er annahm, dass es das war, was schon die ganze Zeit auf irgendeinem leicht verschobenen anderen Realitätslevel ohnehin um sie herum existierte. Wenn sich die Schleusen und Dämme, die es zurückhielten, weiträumig öffneten, würde etwas über die RUBIKON hinwegschwemmen, von dem sie alle gerade erst einen winzigen Zipfel hatten erhaschen können. Und dieser winzige Zipfel war schon fast mehr, als sie verkraften konnten … beziehungsweise mächtig genug gewesen, einen nicht gerade ohnmächtigen Tecum spielerisch leicht in seine Schranken zu weisen. »Wir müssen die Crew über das in Kenntnis setzen, was gerade passiert ist. Es könnte der Auftakt zu schwerwiegenden Veränderungen sein, gegen die wir wahrscheinlich keine Mittel haben …« Fast so düster wie Tecums letzte Worte klang seine Stimme, während er sich an die Freunde und Gefährten wandte. »Sesha – übernimm das. Schnell. Wende dich an jedes Mitglied, das nicht hier anwesend ist, persönlich. Ich will, dass alle wenigstens vorgewarnt sind – auch wenn wir nicht wissen, was genau auf uns zukommt.« Die KI bestätigte aus dem Off. »Was machen wir damit?«, fragte Jarvis und wies auf den Klumpen.
»Vorläufig gar ni…«, setzte Cloud zur Antwort an. Sesha unterbrach ihn. »Mannschaftsangehörige Aylea ist unauffindbar.« Nicht schon wieder, dachte er. »Irrst du dich auch nicht? Soweit ich weiß, wollte sie Jelto bei seinem Cy Memorial-Projekt zur Hand gehen …« »Dort ist sie nicht. Ich empfange ihre Vital- und Mentalwerte von keinem Punkt der RUBIKON.« »Heißt das, sie ist …« Das »tot« wollte ihm nicht über die Lippen. Vor seinem geistigen Auge stieg Aylea überlebensgroß auf. Erstaunlicherweise zeigte dieses Bild sie so, wie sie bei ihrer allerersten Begegnung im Erdghetto ausgesehen hatte. Seither war viel passiert und hatte sie sich sichtlich gemausert … »Sie befindet sich nicht an Bord – weder tot noch lebendig«, reagierte die KI nüchtern. »Auch tot wäre sie anmess- und anhand ihrer gespeicherten Werte identifizierbar.« Cloud entschied, dass das die gute Nachricht war. Die schlechte musste er dennoch erst verdauen. »Suche fortsetzen. Und Möglichkeit mit einbeziehen, dass ein … Verlassen des Schiffes stattgefunden haben könnte …« »Diese Möglichkeit schließe ich aus.« »Genau das«, reagierte Cloud barscher als gewohnt, »verbiete ich dir.« »Verstanden, Commander.« »Ich beteilige mich an der Suche«, sagte Scobee, die neben ihn getreten war. »Du wirst nicht mehr ausrichten können, als –« »Ich nehme mir Algorian an die Seite. Wenn er sie allerdings auch nicht espern kann …« Cloud nickte. »Eine gute Idee. Dann hoffen wir nur, dass es noch ein Weilchen Ruhe gibt.« »Das, was Tecum ankündigte?« Er nickte abermals. »Wie ist das weitere Vorgehen generell?«, fragte Jarvis, während sich Scobee bereits entfernte. »Die Energiestraßen sind abgeschaltet.
Wenn wir auf einen der Planeten wollen, müssen wir ein Shuttle ausschleusen oder …« »… dich schicken.« Jarvis lächelte grimmig. »Vorläufig ist nichts von beidem geplant. Auf Gismo scheint alles Leben erstarrt – aber es gibt ja noch sechs andere Welten, auf denen uns vielleicht zur Abwechslung mal eine positive Überraschung erwartet.« »Du zählst Portas mit dazu?« Cloud zuckte mit den Achseln. Dabei ertappte er sich, wie er verstohlen seine Umgebung musterte, als gäbe es schon erste Anzeichen dafür, dass die Realität begonnen hatte, neue Risse zu bilden.
8. »Was ist passiert? Wo sind wir? Wo ist … Tecum geblieben …?« Ein seltsamer Ort, an dem sie sich wiederfand. Was war das, eine Stadt? Auf der RUBIKON? Sie bezweifelte es vom ersten Augenblick an. Und das machte ihr richtig Angst – fast noch mehr als das Nabisswesen und seine erdrückende Aura. »Hier wird er uns nicht finden – bitte verzeih.« »Was? Was soll ich verzeihen?« »Dass ich dich hierher mitnahm. Aber ich habe gefragt. Du … wolltest …« Das letzte Wort, die Behauptung dahinter, schien ihm selbst nicht geheuer zu sein. »Oder?«, fügte er verzweifelt hinzu. »Kann sein, dass ich dich missverstanden habe. Ich dachte, wir wollten tiefer in den Park fliehen. Stattdessen …« »… habe ich uns hierher gebracht.« »Wo ist ›hier‹?« Erst ihre Frage schien ihm die Tragweite seiner Tat bewusst zu machen. »Die Stadt im Berg.« »Die Stadt im Berg. In der RUBIKON gibt es Berge?« Sie hoffte immer noch, dass ihr Gefühl sie täuschte. Wenn das nicht mehr die RUBIKON war – was beim Ghetto war es dann? »Wir befinden uns nicht mehr an Bord«, machte Varx ihre letzte Hoffnung zunichte. »Wo dann?« »Auf Angk V.« »Angk V …« »Arrankor«, sagte Varx. »Hier lebte ich einmal – hier fand ich schon einmal Zuflucht. Vorhin … wusste ich mir nicht mehr anders
zu helfen … Sei nicht böse, ich bitte dich.« »Bring mich zurück! Sofort!« Sie versuchte, die Panik, die in ihr aufloderte, nicht überhandnehmen zu lassen. Ein frommer Wunsch. »Was ist? Bring mich zurück!« »Er wird mich zwingen, zu den anderen zu gehen. Aber das wäre wie Sterben. Ich will ich bleiben!« »Das ist das Einzige, was ich verstehe. Aber wir können nicht hier bleiben!« »Gib mir ein klein wenig Zeit, mich zu beruhigen.« »Du musst ruhig sein, um mich zurückbringen zu können?« »Ich … ich weiß nicht, ob ich dich überhaupt zurückbringen kann …« »Das lügst du!« Wie Eis schob sich Angst unter ihr Herz. Doch dann beruhigte sie sich. Wenn dies wirklich Arrankor, eine der Angkwelten war, brauchte sie um ihr Leben nicht zu fürchten. Hier lebten Menschen. Notfalls musste sie nur … »Okay«, sagte sie. »Man wird mein Verschwinden bemerken. Spätestens in ein paar Stunden. Bis dahin hast du dich entschieden, mich entweder zurückgebracht zu haben – oder ich versuche es auf eigene Faust.« »Auf eigene Faust?« Ihre plötzliche Entschlossenheit schien ihn zu überraschen. »Wenn diese Stadt …« Sie nahm sich endlich etwas mehr Zeit, ihre Umgebung zu betrachten. »… in einem Berg liegt, führt ein Weg daraus hinaus – oder?« »Natürlich.« »Und draußen ist eine bewohnte Welt …« »Arrankor.« »Dann finde ich schon Hil-« Sie schaffte es nicht, den Satz zu vollenden. Ihr wurde schwindlig. Sie hatte das Gefühl, alle Kraft aus dem Leib gesaugt zu bekommen. »… du mich …?« Wie aus weiter Ferne drangen Varx' Worte zu ihr.
Die Umgebung verlor an Helligkeit. Nein, erkannte sie. Ihr Augenlicht … erlosch. Und einen Atemzug später auch ihr Bewusstsein.
Varx war entsetzt über die Folgen seiner Tat. Er hatte egoistisch gehandelt. Was war nur aus ihm geworden? Früher war er die Selbstlosigkeit in Person gewesen. Irgendetwas in ihm hatte sich verändert, und er fürchtete, dass auch dahinter Tecum steckte. Der Mittler. Er hatte mit den Sternlingen an Bord etwas gemacht. Mit allen. Aber nur Varx hatte die Kraft gefunden, sich zu widersetzen. Weil Zweifel wach geworden waren. Zweifel daran, ob er sich für eine Sache wirklich opfern wollte. Zweifel, ob man ihn opfern durfte – ohne ihm einen freien Willen zuzugestehen. Die, mit denen er es über so lange Zeit davor zu tun gehabt hatte, waren rücksichtsvoller mit ihm umgesprungen. An sie erinnerte er sich mit Gefühlen, die dem nahekommen mochten, was Menschen … Freundschaft nannten. Ja, Freundschaft hatte ihn verbunden, erst mit Sahbu, später mit Prosper, den er in ihrem Auftrag nach Portas gebracht hatte … Portas. Der bloße Gedanke daran bereitete ihm Schmerz. Dies hier war Arrankor. Und vor ihm – das war ein Menschenkind namens Aylea. Das krank und kränker wurde. Ohne dass er auch nur ahnte, warum. Er wusste nur eins: Er durfte nicht zulassen, dass sie wegen ihm zu Schaden kam. Aber ihr Zustand verschlechterte sich rapide, sodass er sich schließlich keinen anderen Ausweg mehr wusste, als die Konsequenz auf sich zu nehmen. Wenn überhaupt, konnte Aylea nur an Bord der RUBIKON geholfen werden. Er hob sie hoch und strukturierte sich so um, dass er zum Tor wurde.
Dann versuchte er, sie in sich zu befördern, durch sich hindurch … und ihr gleichzeitig auf die Reise zu folgen. Schockiert musste er feststellen, dass seine Notlüge von vorhin furchtbare Wahrheit geworden war: Es ging nicht. Er konnte weder sie noch sich selbst zurückbefördern! Damit war ihr Schicksal besiegelt – und er ihr Mörder. Varx setzte sich mit ihr zu Boden und weinte bittere Tränen aus schwarzem, nie tauendem Eis …
»Vielleicht steckt sie in der Pyramide«, sagte Algorian, der bereitwillig auf Scobees Bitte eingegangen war, nach Aylea zu suchen – bislang ohne den geringsten Erfolg. »Das ehemalige Angkdorf ist der wahrscheinlich am schärfsten überwachte Ort des Schiffes«, erwiderte sie. »Ja, von außen. Aber alles, was drin ist, entzieht sich der Beobachtung«, gab der Aorii zu bedenken. »Auch deinen telepathischen Sinnen?« »Ich fürchte …« »Es wäre eine Option«, sagte Scobee nach kurzem Überlegen. »Aber ich halte sie für nicht sehr wahrscheinlich.« »Was ist deine Theorie?« »Ich habe keine. Ich kann dich nur bitten, nicht schon aufzugeben, sondern deine Suche auf mentaler Ebene fortzusetzen.« »Das ist selbstverständlich.« »Danke.« »Dafür nicht«, wiegelte er ab. Er war ernster als sonst. Der Tod seines Freundes Cy hatte ihn merklich in sich gekehrter gemacht. Scobee fragte sich, ob sie selbst auch anders auf Betrachter und Freunde wirkte als vor dem Verlust, der ihr nahe gegangen war. Sie selbst glaubte, noch die Alte zu sein – nur eben traurig. Aber sie hielt es für denkbar, dass man selbst dies gar nicht richtig einschätzen konnte. Sie liefen durch das Gewirr der Gänge im näheren Umfeld der Zentrale, der Quartiere und anderer häufig frequentierter Bereiche.
Irgendwo mussten sie schließlich anfangen, um die entlegeneren Winkel konnten sie sich immer noch kümmern. Scobee hatte nicht vor, Algorian nur Gesellschaft zu leisten. Sie wandte sich an Sesha. »Hast du inzwischen dein Bildmaterial durchforstet? Konntest du die letzten Minuten oder Stunden, in denen Aylea lokalisierbar war, rekonstruieren?« »Ich beende soeben den Suchdurchlauf«, kam die prompte Antwort. »In wenigen Sekunden liegen die Ergebnisse vor. Ich kann sie dir als Bildmaterial senden.« »Muss ich mich zu einer Konsole begeben?« »Nein, ich kann ein mobiles Hologramm einrichten – falls du deinen Weg nicht unterbrechen willst.« »Das wäre perfekt, danke!« »Ich habe die KI selten so kooperativ erlebt«, sagte Algorian, der offenbar trotz Konzentration in der Lage war, an seiner unmittelbaren Umgebung teilzuhaben und sogar ein Gespräch »nebenher« zu führen. »Wenn ich dich störe, musst du es sagen«, bot ihm Scobee dennoch an, weil sie genau das fürchtete: dass seine Konzentration unter ihrer Anwesenheit litt. »Ich sage es, wenn es so ist. Aber das Schiff ist momentan so leer … fast alle Angks sind in der Pyramide, die sie abschirmt … dass ich keine Mühe habe, Signale, die noch da sind, zu empfangen und voneinander abzugrenzen.« »Okay«, sagte sie. Vor ihr, in Kopfhöhe und leicht seitlich versetzt, baute sich lautlos eine würfelförmige Holografie auf. Sie hielt ihren Abstand exakt, obwohl Scobee nicht stehen blieb, sondern, an Algorians Tempo angepasst, weiterging. Alltagsszenen tauchten darin auf. Szenen aus dem Alltag der RUBIKON-Crew. Sie alle hatten eines gemein: Aylea kam darin vor. »Das sind die letzte vierundzwanzig Stunden, die sie anmessbar und sichtbar war«, erklärte die KI. »Ich beschleunige bis zu einer Begegnung, die mir beachtenswert erscheint.« »Du hast eine Auffälligkeit ermittelt? Noch vor ihrem Verschwin-
den?«, fragte Scobee, die eigentlich angenommen hatte, vorrangig die Minuten unmittelbar vor dem Verschwinden des Mädchens präsentiert zu bekommen. »Elf Stunden davor, ja«, bestätigte Sesha. Die Szene kam. Eine Begegnung mit Jelto – vor dem neuen Cy Memorial. Das allein war noch keine Überraschung. »Gibt es auch einen Ton?«, fragte Scobee. »Ich blende ihn auf, sobald es interessant wird.« Scobee überlegte, ob Sesha das aus Rücksicht auf Algorian so regeln wollte, aber sie erhob keinen Einspruch. Die Aufnahme sprang bis zu dem Punkt, den die KI als relevant einstufte. Aylea war wieder (oder noch?) an einem Ort, der große Ähnlichkeit mit Jeltos zerstörtem hydroponischem Garten hatte – offenbar die neuentstandene Parkversion, dachte Scobee, obwohl sie selbst noch keine Zeit gefunden hatte, ihn zu betreten. Aber da war das Denkmal mit dem toten Freund, und eigentlich beseitigte das jeden Zweifel. Es bedurfte gar nicht mehr der erläuternden Worte Seshas, die die Vermutung bestätigte. Jelto verabschiedete sich gerade von Aylea, ließ sie allein vor dem Sockel mit Cy zurück. Sesha griff noch einmal kurz ins Tempo des Ablaufs ein, spulte vor … und Scobee wurde Zeuge von Ayleas Begegnung mit … »Was ist das? Wer? Ein … Sternling?« Sesha bejahte. »Realzeit der Begegnung einblenden«, verlangte Scobee, die sofort sicher war, dass etwas nicht stimmen konnte. Und offenbar deckte sich ihre Meinung darin mit der der KI. Die Zeitangabe ließ keinen Zweifel. »Zu diesem Zeitpunkt waren wir schon im Angksystem angelangt«, sagte sie. »Das heißt aber auch …« »… dass eigentlich kein Sternling mehr hätte an Bord sein dürfen«, bestätigte die KI. »Allerdings …«, fügte sie nach einem Moment hinzu, »verweise ich auf diesen Moment …«
Das Bild im Holowürfel wechselte. Jetzt war Aylea nirgends zu sehen, aber Scobee erkannte die Szene trotzdem auf Anhieb. Der Hangar. Tecum und die versammelten Sternlinge kurz vor dem Ausstieg aus der RUBIKON. »Wir beginnen«, hörte sie Tecum sagen. Dann war zu sehen, wie er merklich stutzte und hinzufügte: »Einer fehlt.« »Was soll das heißen?«, war Clouds Stimme zu hören. Tecum: »Ein Sternling fehlt.« Cloud: »Was macht dich so sicher?« Tecum: »Ich weiß es.« Cloud: »Ist das ein Problem?« Tecum: »Nur insoweit, dass ich mich jetzt nicht mehr darum kümmern kann. Ich bin nur … überrascht.« Damit endete die Einspielung um Tecum. Aylea kehrte in den Focus zurück. »Du glaubst, bei dem Sternling im Park handelt es sich um den, dessen Fehlen Tecum postulierte?«, wandte sich Scobee an die KI. »Es ist die einzige logische Erklärung.« »In Ordnung. Ist die Identität des Sternlings bekannt?« »Eigenname Varx. Keine Auffälligkeiten während seines Aufenthalts an Bord.« »Okay, weiter. Hat er mit Ayleas Verschwinden zu tun?« »Mit hoher Wahrscheinlichkeit, obwohl …« »Was?« »… der Bildbeweis fehlt.« »Keine Aufzeichnung?« »Nein.« »Wie ist das möglich?« Während des weiteren Rundgangs von Scobee und Algorian spielte die KI alles in den Holowürfel ein, was von Aylea noch verfügbar war. Hin und wieder gab es kleine Vorläufe, um Irrelevantes zu überspringen, aber das Wesentliche konnte Scobee entnehmen. Aylea hatte nach der ersten Begegnung mit Varx den Park zehn Stunden später noch einmal aufgesucht. Offenbar hatte sie den
Sternling erneut besuchen wollen. Doch die Parkaufnahme brach ab, bevor es zu der Begegnung gekommen war. Das letzte Bild von Aylea zeigte sie vor dem Denkmal, der Gesichtsausdruck enttäuscht, weil sie offenbar keine Anzeichen von Varx fand … Dann setzten Bild und Ton gleichzeitig aus. »Wie kam es zu der Störung?« »Die Ursache war eine starke Störstrahlung, die sich ausschließlich auf den Dimensatorenraum im Cy Memorial beschränkte.« »Wie lange hielt sie an?« »Wenige Minuten.« »Und beim nächsten Bild nach dieser Phase war Aylea schon nicht mehr da?« »Korrekt.« »Und blieb spurlos verschwunden.« »Ja.« »Kann der Sternling hinter der Störung stecken?« »Theoretisch ja. Aber es gab in der Vergangenheit niemals Hinweise, dass sie a) aggressiv oder b) zu solchen Eingriffen in der Lage sind.« »Konntest du Varx nach den Geschehnissen noch einmal orten?« »Negativ.« »Das heißt, sie werden beide vermisst …« Scobee rief sich in Erinnerung, worum das Gespräch bei der ersten Begegnung gedreht hatte. Varx hatte offensichtlich Angst vor Tecum gehabt, sich sogar vor ihm versteckt. Hatte das Nabisswesen seine Hände im Spiel gehabt? Ging das Verschwinden von Aylea und Varx auf sein Konto? Es war das erste Mal, dass sie das Schicksal, das Tecum ereilt hatte, bedauerte. Ihn konnte sie dazu nicht mehr befragen. Mit anderen Worten: Ihre Ermittlungen waren in einer Sackgasse angelangt. »Wir brechen ab«, sagte sie, an Algorian gewandt. »Wir probieren es noch gezielt im Park, und wenn auch dort nichts zu espern ist …« »So schnell willst du aufgeben?« Sie schüttelte den Kopf. »Nicht aufgeben. Eine neue Taktik überle-
gen.« Er seufzte. »Ihr Menschen … ist das nicht dasselbe?«
Sie kam zu sich. Alles tat weh. Selbst das bloße Denken schien unablässig gegen innere Hürden anlaufen zu müssen, die nur mühsam übersprungen werden konnten. Matt. Leer. Ausgelaugt und durch eine Mangel gezogen … so fühlte sich Aylea bei ihrem Erwachen … das eigentlich schon mehr war, als sie sich zu erhoffen gewagt hatte. Sie hatte wirklich geglaubt, nie wieder die Augen zu öffnen. Das Gefühl vor der Ohnmacht war so überwältigend gewesen, dass sie geschworen hätte, es sei der Tod. »Sie ist wieder bei Bewusstsein.« Die Stimme war ihr unbekannt. Aylea öffnete die Augen. Es fiel ihr schwer, wie alles. Erst einen Spalt … das Licht schnitt regelrecht in ihre Netzhaut … dann mühsam Stück für Stück weiter … bis Gestalten verschwommen sichtbar wurden, Gestalten, die sie umstanden. »Lasst mich mit ihr reden.« Einer der dunklen Schemen schob sich nach vorn. »V-varx …?« Sie blickte zu ihm auf. »Ja. Ich bin froh, dass du die Krise überstanden hast.« »Kr … ise?« »Du wirst alles erfahren. Aber noch bist du sehr anfällig. Wir müssen Rücksicht nehmen.« »Wo …« Sie ließ den Blick schweifen, der allmählich wieder klarer wurde und alles fast schon gewohnt scharf an ihr Gehirn übermittelte. »… kommen die alle her?« Es waren Sternlinge wie Varx, daran gab es für Aylea keinen Zweifel. »Sind wir wieder …« »Nein«, sagte Varx schnell, als wollte er ihr ersparen, auszureden, wenn er ohnehin wusste, worauf die Frage hinauslief. »Wir sind nicht wieder auf der RUBIKON. Dort gibt es auch keine Sternlinge mehr. Ich war der Letzte. Die anderen wurden … missbraucht.«
Die Betonung, mit der er das letzte Wort belegte, verriet fast schon Hass. Aylea fand es mühsam, über Sternlinge zu sprechen. Sie fand es mühsam, über überhaupt irgendetwas zu sprechen. Varx hatte recht, sie brauchte noch Schonung … Und bereits während sie zu der Erkenntnis kam, war sie eingeschlafen.
Das nächste Erwachen fand nach unbestimmbarer Zeit statt. Diesmal war nur Varx bei ihr. Darüber war sie ganz froh. »Na?«, empfing er sie, als hätte er unaufhörlich nur neben ihr gestanden, auf sie herab geblickt und auf das kleinste Anzeichen gewartet, dass sie wieder zu sich kam. »Na?« Ihre Zunge mahlte im Mund. Ihr wurde bewusst, dass sie Durst hatte. »Wie lange habe ich geschlafen?« »Das lässt sich schwer sagen?« »Wieso?« »Es liegt an den … Verhältnissen.« »Ich verstehe nicht.« Sie richtete sich auf den Ellbogen auf. »Ich habe Durst. Kannst du mir etwas zu trinken geben?« Er ging in einen Nebenraum und kam kurz darauf mit einer Karaffe zurück. Aylea richtete sich noch weiter auf, bis sie kerzengerade saß. Dann nahm sie den Krug entgegen, setzte ihn an die Lippen und trank. Das Wasser schmeckte anders als das, das sie kannte. »Ich hoffe, du willst mich nicht vergiften«, scherzte sie, als sie den Krug zurückreichte. »Wir haben leider nichts anderes«, sagte Varx, »und wir selbst … brauchen es ja nicht. Nicht zum Trinken jedenfalls. Für andere Zwecke schon. Normalerweise. Früher …« Er redete noch viel seltsameres Zeug als bei ihren vorherigen Begegnungen. »Dir geht es besser, darüber bin ich erleichtert. Es grenzt an ein Wunder …«
»Jetzt übertreib mal nicht. Was hatte ich überhaupt? Ich neige nicht zu Krankheiten. Aber kaum war ich durch dich hindurch gefallen … komischer Vorgang übrigens … ging's mir echt dreckig. Ich bin immer noch nicht wieder die Alte, aber es wird. Ich spür's.« »Es ist keine Übertreibung. Vielleicht ist Wunder sogar noch untertrieben«, blieb Varx bei seiner Einschätzung. »Du wirst es selbst erkennen, sobald du kräftig genug bist, dass ich es dir zeigen kann.« »Ich bin kräftig genug.« Sie stand auf. Ein kurzer Schwindel, aber der verging, und danach fühlte sie sich tatsächlich recht sicher auf den Beinen. »Du überraschst mich immer mehr«, lautete Varx' Kommentar dazu. Sie wusste immer noch nicht, was genau ihn so verblüffte. »Los geht's«, sagte sie und setzte einen Fuß vor den anderen. Das Zimmer war klein und kahl, nackte Steinwände, wohin sie schaute, und die Fenster lagen so hoch, dass sie zwar Licht hereinließen, aber man selbst nicht durch sie nach draußen blicken konnte. Varx blieb wie angewachsen stehen. »Was geht los?« »Wir. Du musst dein Versprechen einlösen. Los, zeig's mir. Zeig mir den Ort, zu dem du mich verschleppt hast!«
Als sie aus dem Haus traten, erkannte Aylea die Stadt wieder, vor der sie nach ihrer überstürzten Flucht angekommen waren – sie hatten sie also nicht wieder verlassen. Wenn die Häuseransammlung und die umliegenden Felder real waren, wovon sie ausging, dann hatten vermutlich die Bractonen damit zu tun. Einer Stadt im Innern eines Berges das Flair von Weite und Freiheit, dazu einen wunderschönen Himmel und Wärme zu schenken, war gewiss nicht einfach, zumal hier offenbar keine Holotechnik zum Einsatz kam wie an Bord der RUBIKON. Das hier war eine andere Liga, erkannte sie neidlos an. Obwohl der Himmel vielleicht doch eine Nachbesserung vertragen hätte. Die Wölkchen dort oben standen alle still, und das wirkte mehr als unnatürlich, obwohl … auch kein spürbares Lüftchen ging.
Ohne Wind keine Wolkenbewegung, dachte Aylea. Auch recht … Die Umgebung der Stadt war von Ackern und Wiesen geprägt. Auf den Feldern wuchsen unterschiedliche Dinge, Getreide, Früchte … ganz genau war es aus der Entfernung nicht zu erkennen, nur dass alles prächtig zu gedeihen schien. Allein, es fehlten diejenigen, die die Felder bestellten oder die Ernte einfuhren. Dort draußen auf den Feldern, auf die Aylea von ihrer leicht erhöhten Warte aus einen unverstellten Blick hatte, bewegte sich nichts und niemand. Aber immerhin, sie waren auf Arrankor, wenn sie Varx Glauben schenken durfte, und hier gab es Menschen. Früher oder später würde – »Ich unterbreche ungern deine Betrachtung«, sagte Varx, »aber du hast ein Recht darauf, das Problem zu erfahren. Es ist zu wichtig und weitreichend, als dass ich es dir länger vorenthalten kann und will, jetzt, nachdem du wieder auf dem Damm bist …« »Du machst es aber spannend.« Ayleas Ärger über die Versetzung nach Arrankor hatte sich zu ihrer eigenen Überraschung völlig gelegt – zurzeit dominierte die Neugier. Sie legte den Kopf schief. War da Hammerschlag? Klirren? Sie glaubte sogar, ferne Stimmen zu hören. »Hier wohnen Leute!«, schlussfolgerte sie. »Komm, lass uns nach ihnen sehen!« »Es sind keine Leute in dem Sinn, wie du sie vielleicht erwartest«, sagte Varx zögernd. »Diese Stadt wurde schon vor langem aufgegeben – zumindest von denen, die hier ihren ersten Unterschlupf fanden.« »Menschen?« »Menschen der ersten Generation auf Arrankor, ja.« »Du meinst … Prosper und Konsorten?« »So könnte man sagen. Auch die zweite und dritte Generation verließ sich noch auf den Schutz des Berges. Später wurden die Menschen mutiger, und irgendwann kehrten diejenigen hierher zurück, die alles vorbereitet hatten, als noch keine Menschen das Angksystem auch nur betreten hatten.« Aylea musste nicht lange überlegen. »Du redest von dir … euch … den Sternlingen!«
Varx bejahte. »Dann willst du sagen, die Geräusche, die zu uns dringen, die Stimmen … daran ist kein einziger Mensch beteiligt?« »Nur Sternlinge.« »Warum dann die Äcker?« Sie zeigte in die Ferne. »Sie sind bestellt. Sie werden irgendwann geerntet werden. Was geschieht dann damit? Wird es … in eine Stadt gebracht, die von Menschen bewohnt ist? Ihr selbst braucht solche Nahrung doch nicht!« »Da hast du recht. Und früher war es so, wie du sagst. Aber dann geschah das, wofür niemand hier eine Erklärung hat. Und niemand eine Erklärung erhielt. Seither steht das Getreide auf den Feldern. Niemand muss sich mehr um es kümmern. Erstens, weil es sich nicht verändert …« Nicht verändert?, dachte Aylea. »Und zweitens?« »Zweitens, weil es keine Abnehmer mehr gibt.« Was er mir durch die Blume zu verstehen geben will, ist: Arrankor scheint entvölkert zu sein – zumindest was Menschen angeht … Aber das darf doch nicht wahr sein! »Was ist passiert?« »Ich kann es dir zeigen – aber nicht erklären.« »Dann tu das!« »Bist du dir sicher?« Sie funkelte ihn zornig an. »Okay«, sagte er schnell, »ich sehe, du bist dir sicher.« Er winkte sie zu sich. »Wir gehen zu Fuß. Ich würde unter den herrschenden Bedingungen ungern probieren, meine Fähigkeiten zum Einsatz zu bringen, auch wenn unsere Flucht hierher glückte. Auch die anderen raten davon ab. Alles ist sehr heikel geworden. Es gab Vorfälle …« »Deine Flucht«, fiel sie ihm ins Wort. »Ich wurde mehr oder weniger überrumpelt – das möchte ich nur noch einmal festhalten. Denn es beinhaltet, dass ich hier keinesfalls auf Dauer bleiben werde. Hast du das verstanden?« Varx wirkte betreten. Aber er bejahte. Dann gingen sie gemeinsam zum Ausgang der Stadt, wo ein befes-
tigter Weg geradewegs zu dem Stollen führte, der aus dem hohlen Berg hinausführte. »Wie lange werden wir brauchen, bis wir dort sind, wo du mit mir hin willst?« Varx zuckte in menschlicher Manier mit den Schultern. »Dir kommt es vielleicht wie ein, zwei Stunden vor. Aber leider wird nicht eine Sekunde vergehen …«
»Wenn es nicht mehr geht, machen wir eine Pause.« Aylea schüttelte energisch den Kopf. Sie wollte es schaffen, und sie würde es schaffen. Sie waren bereits mitten in dem breiten Stollen, der horizontal durch die Bergrinde nach draußen führte. Ins natürliche Licht der eigentlichen Sonne des Angksystems. Und obwohl Aylea sich durchaus schon fitter in ihrem Leben gefühlt hatte, war sie bei Weitem nicht so erschöpft, dass sie sich die Blöße einer Rast hätte geben müssen. Außerdem: Wenn sie sich jetzt aufhielten, dauerte es umso länger, bis sie das zu sehen bekam, wovon Varx ihr Antworten auf brennende Fragen versprochen hatte. Und anders war ihm offenbar auch nichts zu entlocken. Er wehrte eisern jeden ihrer Versuche ab, während des Marsches schon ein paar Andeutungen zu erhalten. Dann war es endlich so weit: Sonnenlicht stach in Ayleas Augen. Vor ihr breitete sich eine Ebene aus, in der wie Farbtupfer in größeren Abständen kleine Häuseransammlungen standen – Gehöfte, wie Varx erklärte. Und ganz fern am Horizont zeichnete sich sogar die Silhouette einer großen Stadt ab. »Leukerville«, sagte er. »Dort herrschte einmal Leben wie in keiner anderen Stadt von Arrankor.« Wieder sprach er in der Vergangenheitsform – und natürlich beunruhigte es Aylea. Aber zunächst einmal überraschte sie, dass auch hier draußen keine noch so schwache Brise wehte und die Wolken auch an diesem Himmel stillstanden. »Als hielte die Natur den Atem an …«
»Wenn du wüsstest, wie nah du damit schon an der Wahrheit bist.« Varx ging weiter, und sie schloss zu ihm auf. »Wie weit noch?« »Dort vorne.« Er streckte den Arm aus. Sterne leuchteten durch seine Haut. Er zeigte auf das nächstgelegene Gehöft. Sie erreichten es schon nach kurzer Wegstrecke über knöchelhohes Gras und sandige Flächen, wo Aylea unwillkürlich auch kleinere Tiere oder Insekten erwartete. Aber sie bemerkte keine, nur einmal lugte aus einem Bodenloch eine spitze befellte Schnauze hervor, dahinter zwei kugelrunde Äuglein, die scheu – oder entsetzt? – zu ihr blickten. Das Tier bewegte sich auch nicht, als Aylea zwei Schritte darauf zu machte. Es schien vor Angst wie erstarrt. »Ich tu dir doch nichts …« Varx zog sie von dem Bau weg und weiter. Dann waren sie auch schon am Ziel. »Was sind das für Punkte?«, fragte Aylea und zeigte hoch zum Himmel, wo winzige schwarze Flecken zu sehen waren, die keine Wolken sein konnten, und wann immer sie selbst sprach, wurde ihr erst bewusst, wie unfassbar still ihre Umgebung war. »Vögel«, sagte er. »Vögel? Sie bewegen sich nicht von der Stelle!« »Ich weiß.« Sie traten auf einen Hof zwischen insgesamt fünf Häusern, die ihm umringten. Und hier vergaß Aylea die Vögel sofort wieder. Denn hier waren die, nach denen sie sich längst mit jeder Faser sehnte. Menschen!
Der Freude folgte der Schock. »Was … ist mit ihnen?« »Geh hin und sieh selbst.« Aylea gehorchte nur zögernd. Der Hof war staubig. Sie wirbelte feine Sandschleier auf, die sich gar nicht mehr senken wollten.
Aber das bemerkte sie gar nicht. Ihr Blick haftete an den Leuten, die sich wie steinerne Statuen über den Hof verteilten und bei ihrem Erscheinen keinerlei Reaktion zeigten. Aylea hörte vor Unbehagen kurz auf zu atmen – dann sog sie hörbar die Luft wieder ein. Länger hielt sie es nicht aus. Im Gegensatz zu den Personen im Hof. Die gar nicht atmeten. Die mit keiner Wimper zuckten und sich keinen Millimeter aus der Haltung bewegten, in der sie wie eingefroren dastanden …! Zwei Schritte von einer hübschen, schlanken Frau, etwa doppelt so alt wie Aylea, blieb sie stehen. Weiter traute sie sich nicht. »Was ist mit ihnen passiert?« »Ich hätte versuchen können, es dir zu schildern, ohne dass du es mit eigenen Augen siehst«, sagte Varx, der nähergetreten war. »Aber das wäre nicht annähernd dasselbe gewesen. Man muss es sehen – mir selbst ging es nicht anders. Ich war schon hier, als du noch in der Bewusstlosigkeit gefangen warst … Mich traf es ebenso wie dich gerade.« »Obwohl es … Menschen sind?« »Ich war Menschen stets verbunden und bin es heute noch. Das hier … ist grauenhaft. Es kam von einem Moment zum anderen über sie. Seither stehen sie so. Manche liegen auch. Keiner ist gefallen, weil …« »Weil?« »Dafür die Zeit fehlt.« »Die Zeit fehlt?« Aylea verstand nicht, was er meinte – immer noch nicht. »Das Ganze ist ein Zeitproblem. Eine andere Erklärung gibt es nicht. Der Welt, die du hier siehst, mit allem, was darin ist, wurde die Zeit entzogen. Sie vergeht nicht mehr, weder langsam noch schnell. Es ist, als wäre sie aus ihr entfernt worden.« Die Worte trafen sie wie Dolchstöße. Dann aber schüttelte sie den Kopf. »Das ist Unsinn! Wenn es so wäre, würden wir … du und ich –« »Du und ich«, unterbrach er sie, »sind anders. Ich, weil ich ein Sternling bin und offenbar kein Sternling in der Zeitstarre gefangen
ist, wofür uns allerdings selbst die Begründung fehlt … und du, weil … ja, das weiß ich auch nicht. Vielleicht weißt du es.« »Ich?« Nein, sie hatte keine Erklärung. Sie hatte mit Zeit als Phänomen nichts am – Ihre Gedanken verfingen sich an Bildern, die so tief in ihrem Gedächtnis lagerten, dass sie nicht geglaubt hätte, ein Ereignis könnte sie jemals wieder an die Oberfläche spülen. Zumal das meiste ungeliebte Bilder waren … Das Ghetto! Auch die Väter und Mütter der Angkmenschen waren Bewohner des Erdghettos und dort Einflüssen ausgesetzt gewesen, die durchaus mit dem Phänomen Zeit zu tun hatten … Nach der Vernichtung eines der Keelon-Residenztürme hatten sich über das Gebiet des einstigen Beijing zahllose Anomalien verteilt, und es war fast unmöglich für die Ghettobewohner gewesen, nicht irgendwann einmal in Kontakt mit einer zu geraten. War es denkbar, dass sie, Aylea, von einer Anomalie berührt und beeinflusst worden war, ohne dass sie selbst je etwas davon bemerkt hatte? Sie breitete ihre Gedanken vor Varx aus, schloss aber mit Zweifeln über die eigene Theorie: »Dann müssten die Nachfahren von Prosper und Konsorten mindestens ebenso ›immun‹ sein wie ich. Sind sie aber ganz und gar nicht, wie man sieht …« Sie zeigte zu der Frau und allen anderen in der Nähe. »Wer weiß«, meinte Varx. »Im Gegensatz zu ihnen bist du noch ursprünglich.« »Was heißt das?« »Du kommst original aus dem Ghetto, wurdest … ich vermute es auch einmal … wahrscheinlich von einer Zeitanomalie getroffen. Die Angkmenschen sind anders. Sie wurden permanent genüberwacht und genoptimiert, sonst wären sie nie zu dieser Ausbreitung gelangt. Dabei kann aber auch das verloren gegangen sein, was dich mit Prosper Mérimée, Sahbu, Paula und all den anderen verbindet. Sie hätten unter den heutigen Bedingungen vielleicht … nach Anpassungsschwierigkeiten, die du ja auch hattest … überleben und aktiv bleiben können.«
»Du meinst, meine Schwäche und Ohnmacht lag daran, dass sich mein Organismus erst gegen die Einflüsse des … zeitlosen Raums zur Wehr setzen musste?« »Es wäre immerhin ein Erklärungsansatz.« Aylea nickte zurückhaltend. Dann trat sie einen Schritt näher an die Frau heran. »Sie sind nicht tot, oder? Falls der Einfluss, der sie zu dem da macht, endet, werden sie weitermachen, wie sie es getan hätten, wenn nichts dazwischen gekommen wäre …« »Dafür muss der Einfluss, die Kraft, die selbst Zeit zu entfernen vermag, erst einmal enden. Aber im Prinzip hast du sicher recht – ich nehme an, ihre Gedanken laufen für sie weiter, als wäre gar nichts geschehen. Es ist, als würde man einen Film anhalten und dann wieder weiterlaufen lassen.« »Dann müssen wir den finden, der sie angehalten hat – die ganze Welt!« Sie zögerte kurz. »Meinst du, Arrankor ist eine Ausnahme? Oder sieht es so auf allen Planeten innerhalb der Wolke aus?« »Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.« »Würdest du mir dabei helfen?« »Wobei?« »Den Schalter zu finden.« Er schien ihre Verzweiflung zu spüren, fast greifen zu können. Er wand sich unbehaglich – was wiederum sie spürte. »Kehren wir erst einmal in den Berg zurück.« »Wozu?« »Um gemeinsam, mit den anderen Sternlingen, zu beratschlagen, wie es weitergehen könnte. Zur Not …« Er schien sich zu verkrampfen. »Was?« »Zur Not würde ich mich sogar bereiterklären, es auf mich zu nehmen.« »Was genau?« »Dich zurück zur RUBIKON zu bringen, und mich selbst damit auch. Ich bin sicher, er wartet schon auf mich. Er duldet keine Eskapaden. Ich werde dienen müssen – wie die anderen Unglücklichen.« »Woher weißt du überhaupt, dass sie leiden?«
Er wandte sich ab. »Ich weiß es«, sagte er leise im Gehen. »Ich weiß es einfach …« Aylea folgte ihm niedergeschlagen. Je länger sie mit Varx zusammen war, desto weniger wollte sie, dass er sich ihretwegen in einen Schlamassel hineinritt, aus dem er sich nie mehr würde befreien können. Aber sie scheute sich auch, ihm das zu sagen. Weil sie Angst vor den Folgen für sich selbst hatte. Arrankor war keine Welt mehr für Menschen. Und vielleicht war sie das nie gewesen …
9. Von Gismo nach Nomad … Überall dasselbe Bild, auch wenn die Details variierten. Nomad galt als die Produktionsstätte der Gloriden – von den ERBAUERN Mortuas genannt. Und obwohl es noch anderes von Bedeutung auf dieser Welt gab, musste Scobee doch in erster Linie an die halbenergetischen Geschöpfe denken, die zur Wartung und Pflege der Tridentischen Kugeln herhalten mussten. Sie hatte lange Zeit eng mit ihnen zusammengelebt und war entsetzt über das Schicksal derer gewesen, die von den Treymor überwältigt und in den Aquakubus verbracht worden waren, wo sie laut John für obskure Experimente herhalten mussten. Sie wünschte, sie hätte Ovayran wieder bei sich gehabt … Scobee hatte den Commander gleich nach ihrer Rückkehr in die Zentrale über die neuen Erkenntnisse bezüglich Ayleas Verschwinden informiert. Er hatte die Hiobsbotschaft erst einmal verdauen müssen. »Wenn sie verschwunden bliebe«, sagte er, »wäre das ebenso irreversibel wie Cys Tod. Dann fehlten uns schon zwei von unserer Kernbesatzung.« »Seit wann so pessimistisch, John? Wie viele Situationen haben wir schon überstanden?« »Das war einmal. Merkst du nicht, wie nah die Einschläge schon gekommen sind? Mit etwas Pech haben wir noch viel mehr als nur zwei Verluste zu beklagen.« Er sah sie fast schon fatalistisch an. Sie ahnte, worauf er anspielte. »Die Angks?«, fragte sie dennoch, um sich zu vergewissern. »Ja, die Angks. Tausende von ihnen stecken in dieser Pyramide – auch und erst recht, nachdem Tecum zu dem da …« Er wies auf den noch nicht beseitigten Klumpen Nabiss. »… geworden ist!« »Dort erfüllen sie eine Aufgabe, über die man geteilter Meinung
sein kann – wie über alles, was von dem Typ …« Auch sie nickte zu Tecums Überbleibseln hin. »… initiiert wurde. Aber immerhin: Sie erfüllen eine Aufgabe.« »Was das angeht, haben wir nur Tecums Wort.« »Ein bisschen mehr schon. Jarvis?«, wandte sich Scobee an den Gefährten, der bislang dazu geschwiegen hatte. »Du hast sie doch gesehen. Es geht ihnen gut, sagtest du.« »Das dachte ich.« »Was heißt das?« »Das heißt, dass ich nicht mehr sicher weiß, ob ich dem, was ich zu sehen glaubte, rückhaltlos trauen darf.« »Du meinst, er könnte dich manipuliert haben?« »Manipulierte er nicht ständig? Auch Ayleas Verschwinden könnte mit ihm zu tun haben. Dieser Varx fürchtete sich vor ihm. Extrem sogar. Und Tecum war nicht ständig bei uns …« »Du meinst, er könnte sich beide geschnappt haben?« »Ich kann es nicht ausschließen. Wie gesagt, ich traue ihm nicht mehr. Und diejenigen, für die er arbeitete, trauten ihm offenbar ja auch nicht mehr, sonst könnte er hier immer noch den King raushängen lassen!« »Womit wir bei dem Punkt wären, der mir die größte Sorge bereitet«, nahm Cloud die Vorlage auf. »Ich glaube nicht, dass sie Tecum aus dem Spiel nehmen, ohne gleichzeitig einen Ersatz zu etablieren, der an seiner Stelle ihre Interessen hier vertritt.« »Du meinst, sie schicken einen anderen ›Mittler‹?«, fragte Scobee. »Alles andere wäre eine Überraschung.« Sie nickte. Was dann geschah, traf sie trotz aller Vorzeichen unvorbereitet … und ohne jede Chance zur Gegenwehr.
Es war, als liefe ein Transformationsschub durch die RUBIKON, der das Raumschiff bis zur Unkenntlichkeit veränderte, dabei aber die Grundform unangetastet ließ. Was offenbar schon lange unter der Oberfläche schwelte und sich
auf diesen Moment der »Übernahme« vorbereitet hatte, brach nun offen hervor. Nicht mehr nur an einigen wenigen Stellen, die man als Brandherd hätte bezeichnen können, nein – überall! Wo eben noch vertrauter Stahl geschimmert hatte, ob als Boden, Decke, Wände oder Konsolenverkleidungen … wirkte von einem Moment zum anderen, als hätte sich eine Perlmuttschicht darüber geschoben. Der vermeintliche Schub machte vor nichts halt, auch nicht vor den Crewmitgliedern, und zwar dergestalt, dass der Paukenschlag der Transformation sie erst einmal handlungsunfähig machte. Ihnen wurde der berühmte Boden unter den Füßen weggezogen, und das fast wörtlich, wenn auch mit der Einschränkung, dass sich lediglich die Beschaffenheit des alten Bodens änderte. Cloud bildete, was den Schock anging, keine Ausnahme. Im Gegenteil, eigentlich traf es ihn noch härter, weil niemand so eng mit dem »Vorgängerschiff« verbunden gewesen war wie er. Er fühlte sich regelrecht orientierungslos, obwohl nicht und niemand mit körperlicher Gewalt gegen ihn und die anderen Mannschaftsmitglieder vorging. Die Psyche aber wurde einer Zerreißprobe sondergleichen ausgesetzt. Die altbekannten Sitze verschwanden. An ihre Stelle rückten absonderliche Konstruktionen, die kaum geschaffen schienen, um Menschenbedürfnisse oder die befreundeter Außerirdischer zu befriedigen. Die Holosäule verschwand sogar komplett. Von einem Moment zum anderen war sie weg. Und was an ihre Stelle rückte, verursachte mehr als nur leichtes Unbehagen. Der Klumpen aus Nabiss, erkannte Cloud, der wie alle anderen aus dem sich zersetzenden Sarkophagsitz aufgesprungen war und nun zwischen der veränderten Architektur stand. Der Klumpen markierte plötzlich die Mitte der Zentrale, blähte sich auf und verwandelte sich in einen obeliskartigen Dorn von etwa fünf Metern Höhe und zwei Metern Durchmesser. Er war übersät mit unbekannten Symbolen. Doch dabei blieb es nicht.
Über die Oberfläche des Objektes huschten Schatten, die sich so sehr verdichteten, bis es aussah, als wäre der Dorn von einer schwarzöligen Flüssigkeit ummantelt, in der sich – ebenso wie in der verschwundenen Holosäule – allmählich Bilder formten. Und noch während diese versuchten, sich zu manifestieren, trat das erste Wesen heraus. Cloud war kaum mehr überrascht, einen Ganf zu sehen … wenig später einen zweiten und dritten … und noch mehr … Was diese Gestalten von Tecum unterschied, war ihre Authentizität. Sie gaben nicht nur vor, Ganf zu sein – sie waren es. Kurz bevor sie den Obelisken verließen, waren sie schon erkennbar hinter der ölig schwarzen Haut, und sie wirkten unbekleidet, nackt. Als sie dann aber hervortraten, hinein in die Zentrale, schienen sie etwas von dem Obelisken an sich zu reißen, und noch in ihrer Austrittsbewegung schmiegte sich ledrig glänzender Schutz um Teile ihrer Körper. Cloud hatte keine Zweifel, zum ersten Mal jemandem gegenüberzustehen, der mehr zum Besten geben würde als Floskeln und Phrasen. Vor ihm standen Wesen von erhabener Macht, und schon ihre Blicke auszuhalten, ging an die Substanz. Er hatte selten eine Situation erlebt, in der er sich so steinzeitlich und unterlegen gefühlt hatte. »Sie werden uns alle umbringen«, hörte er Jarvis flüstern. Und fast konnte er sich keinen anderen Grund dafür denken, weshalb sie erschienen waren. Kein Zweifel, sie wollten das Schiff. Die Besatzung war nur unnützer Ballast …
»Wie kannst du so etwas denken?« Der Ganf, der die Stimme in seinen Kopf schickte, trat zu ihm, wandte sich dann aber sogleich Jiim zu, der sich schützend vor seinen Sprössling gestellt hatte.
»Ah, Nargen …« Cloud wusste, dass er in der Pflicht war, etwas zu tun. Die Blicke seiner Gefährten ruhten auf ihm. Und auch die Neuankömmlinge schienen sich vorwiegend auf ihn zu konzentrieren. »Dies ist unser Schiff!«, begann er und versuchte, sich zu straffen, Stärke und Autorität auszustrahlen. »Niemand hat vor, es euch zu nehmen.« Das hatte schon Tecum behauptet. »In unserem Namen«, bestätigte die Stimme in seinem Kopf. Klang zart, melodiös. Cloud nahm an, dass der Ganf, der ihm am nächsten stand, sie in ihn pflanzte. »Aber das ist schon passiert …« Cloud machte eine entschiedene Geste, die alles an Veränderung einschloss, was schon das bloße Auge in seiner Umgebung erkennen konnte. Er wollte gar nicht wissen, wie haarsträubend die Unterschiede in den nicht einsehbaren Bereichen waren. »Die Transformation war nötig, um eine Plattform zu schaffen, auf der wir uns endlich persönlich begegnen können«, sagte der Ganf. »Aber nicht nur dafür, sondern weil ihr gerüstet sein müsst.« »Wie habt ihr das überhaupt gemacht?«, drängte sich Jarvis dazwischen. Er kam mit dröhnenden Schritten heran. Jedes andere Wesen, das Cloud kannte, wäre wenigstens zusammengezuckt. Nicht so der Ganf. Keiner von ihnen. »Der Grundstein wurde gelegt, als euer Schiff in der Revision war.« »Revision?«, echote Cloud. »Es wurde doch aufgerüstet. Von den Bractonen.« »Was habt ihr damit zu tun?« »Alles!« Auch was das anging, hatte Tecum ähnliche Allüren an den Tag gelegt. Spätestens jetzt schwanden letzte Zweifel, wes Geistes Kind er gewesen war. »Beschäftigen euch die Bractonen als … Ingenieure?«, fragte Cloud … und duckte sich unwillkürlich, als
eine Welle von … ja, was? Amüsiertheit? … über ihn hinweg brandete. »Ihr habt es immer noch nicht verstanden?« »Was?«, fragte er, hin und her gerissen zwischen Ärger und Resignation. Er fühlte sich weder ernstgenommen noch respektiert. Und doch hatte er – anders als bei Tecum – keinen Moment das Gefühl, dass die Ganf aus Fleisch und Blut, die vor ihm standen, ihn absichtlich demütigen wollten. Sie verhielten sich nur unsagbar … unbeholfen. Als wären sie es nicht gewohnt, mit anderen Spezies auf Augenhöhe zu verhandeln. Verhandeln?, korrigierte Cloud sich selbst. Das hier ist keine Verhandlung. Sie sind hier, weil ihnen die RUBIKON ab sofort gehört.
Der Ganf trat so nahe zu Cloud, dass die Augen am Ende der Stiele sich gegen Clouds eigene Pupillen hätten pressen können, wenn er sie auch nur im 30-Grad-Winkel nach vorn geknickt hätte. So dicht hatte der Commander nicht einmal vor Tecum gestanden. »Ich bin Tecum. Der echte …«, behauptete das schneckenartige Wesen. »Und als der echte Tecum versichere ich dir, dass du irrst – was zu verstehen ist. Es ist keine einfache Situation – für uns alle nicht. Gemeinsam könnten wir aber daran gehen, die letzte Chance zu ergreifen.« »Behauptet auch der ›echte‹ Tecum«, fragte Cloud, »dass es ihm um die Bewohner des Systems hier geht?« »Er behauptet, dass es ihm um das System insgesamt geht. Und um die Bedeutung, die es für alle friedliebenden Geschöpfe des Universums hat!« »Warum dann diese Vorgehensweise?«, blieb Cloud kritisch. »Haben wir nicht oft genug unter Beweis gestellt, dass wir für die Angkwelten eintreten? Haben wir das nicht schon bewiesen?« »Diese Begegnung fände nicht statt, wenn dem nicht so wäre.« »Also …?« »Also verfolgen wir dieselben Interessen – eigentlich«, sagte der
Ganf, während sich seine mit ihm erschienen Artgenossen völlig im Hintergrund hielten und – bei näherer Betrachtung – auch keinerlei Aggression ausstrahlten. »Was für eine Rolle spielen die Auruunen, von denen dein Namensvetter aus Nabiss sprach?« »Zunächst einmal«, wich Tecum aus, »sollte euch die Rolle der Bractonen interessieren. Ihr müsst euch von bestimmten Irrtümern befreien und der Realität ins Auge blicken – bevor ihr dem Urfeind ins Auge blickt.« Cloud spürte, wie gern er dieses Gespräch in einer »gemütlicheren«, weil vertrauteren Umgebung geführt hätte. Aber die RUBIKON-Zentrale und wahrscheinlich sämtliche Bereiche des Schiffes hatte sich so dramatisch verändert, dass an ein Wohlfühlen gar nicht mehr zu denken war. »Die meisten eurer Wünsche werden bald Berücksichtigung finden. Meine Begleiter überwachen die Korrekturen.« »Ich verstehe immer noch nicht den Sinn der Umwandlung«, sagte Cloud. »Es kann nicht sein, dass das alles nötig war, damit ihr … zu uns kommen konntet. Aus was für einer Sphäre auch immer.« »Ich fürchte, du begehst einen grundsätzlichen Denkfehler.« »Welchen.« »Wir sind nicht auf eure Ebene gekommen.« »Sondern?« »Ihr wurdet auf unsere geholt.«
Der Unglaube wuchs … beziehungsweise wollte wachsen. Aber Tecum – dieser Tecum – war überzeugend in jedem einzelnen Wort, das er an Cloud und die Besatzung richtete. Weil etwas in seiner Stimme, die direkt in Köpfe ging, zum Ausdruck brachte, dass es die Wahrheit war – keine verdrehte Wahrheit und auch keine Manipulation, sondern Tatsache. Aber Cloud war ein gebranntes Kind, und so blieb ein Rest von Misstrauen, den auch die eindringlich zum Ausdruck gebrachte Lauterkeit des Ganf nicht vollständig zu übertünchen vermochte.
»Was ist das, was wir hier sehen? Immer noch die RUBIKON?« »Euer Schiff … ich glaube, manche von euch vermuteten es bereits, ohne es wirklich für sich akzeptieren oder auch nur in die treffenden Worte packen zu können … besitzt zwei Ebenen. Als wäre es gespiegelt worden. Diese Ebene hier liegt in einem normalerweise unzugänglichen Spektrum für euch.« Cloud schüttelte den Kopf. »Wir haben das Schiff von den Foronen übernommen. Da war es noch ohne doppelten Boden. Willst du wirklich behaupten, die Bractonen hätten diese Manipulation vorgenommen, ohne dass es für uns oder unsere KI Warnzeichen gab?« »Ihr überschätzt euch, erst recht eure KI.« »Mag sein, aber …« »Aber es stimmt. Erst nach der Optimierung durch die Bractonen konnten wir diese Basis einrichten.« »Basis?« »Stell es dir wie eine Apparatur vor, die es uns ermöglicht, aus der Nonzone hierher zu wechseln. Aber erst, seit ihr hier angekommen seid. Zuvor mussten wir uns der Apparatur bedienen, um euch überhaupt hierher zu holen … und im Vorfeld zu leiten. Nach Kentyr zum Beispiel. Auf Kentyr holtet ihr das an Bord, was momentan wie eine Batterie funktioniert, die die nötige Energie freisetzt, um unseren Handlungsspielraum auf dieser Ebene und notfalls auf der anderen … eurer … zu erhöhen.« »Den Leichnam eines eurer Artgenossen.« »Sehr richtig.« »Aber wie kann der so eine Kraft entwickeln, dass –« »Er hatte lange genug Zeit dafür. Normalerweise enden Ganf nicht so wie er. Wir sind ein enges Kollektiv. Sobald einer aus dem Kollektiv herausfällt, entartet er gewissermaßen. Wäre er in der Obhut der Gemeinschaft gestorben – was selten, fast nie geschieht, das Sterben meine ich –, hätte die Gemeinschaft ihn aufgefangen und alles, was aus ihm hervor strömt, selbst oder gerade im Tode, in gute Wege geleitet.« »Willst du damit andeuten, dass ihr eigentlich … unsterblich seid?«
»Der Tod war nie eine von uns akzeptierte Größe. Nicht einmal in der Frühzeit unserer Spezies.« Cloud wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. »Er wurde um so irrelevanter, je mehr wir uns dazu entschlossen, unsere Körperhüllen abzustreifen. Uns zu vergeistigen.« »So ähnlich war es auch bei den Bractonen«, murmelte Scobee. »Für eine lange Phase zumindest.« Wieder wirkte Tecum mehr als amüsiert, dass jemand die ERBAUER zur Sprache brachte – oder zum Vergleich heranzog. »Ihr habt die Körperlichkeit also aufgegeben«, hakte Cloud nach. »Damals auf Kalser? Als ihr von dort verschwunden seid und nur ein paar Hinterlassenschaften zurückließt? Und wenn ihr die Körperlichkeit aufgegeben habt, ist dann das, was wir hier sehen, wieder nur … Täuschung? Oder Hüllen, die ihr euch eigens erschaffen habt, um uns gegenüberzutreten?« Tecum verneinte mit der gewohnten Überzeugungskraft. »Es sind originale Körper, die in zwei Großdepots schlummern. Eines liegt auf Voosteyn …« »Eine der Bractonenwelten?«, rief Jarvis überrascht. »… von wo aus Hüllen auf die RUBIKON gelangten, von euch unbemerkt. Hierher, auf diese zunächst nur uns zugängliche Ebene. Hier warteten wir, bis der Zeitpunkt kam, da wir sie beseelen konnten … mussten.« Cloud schüttelte den Kopf. Er legte die Finger an die Schläfen, als hätte er Schmerzen. »Was ich immer noch nicht verstehe, und es wird auch nicht besser, ist, in welchem Verhältnis ihr zu den Bractonen, den Schöpfern des Universums, steht. Wie es kam, dass sie – für euch – an der RUBIKON manipulierten. Oder warum ihr in der Nonzone haust, die um das Angksystem liegt … Von dort aus seid ihr in die Körper hier geschlüpft, oder? Sehe ich wenigstens das richtig?« Tecum trat näher und streckte eines der filigranen Händchen aus, um sacht gegen Clouds Arm zu klopfen. Eine universelle Geste der Aufmunterung? Cloud wollte im ersten Moment zurückweichen, doch dann emp-
fand er die Berührung als angenehm und situationsangemessen. »Das siehst du richtig, und eigentlich ist es ganz leicht, die Rolle der Ganf zu verstehen. Verabschiedet euch zunächst von der Idee, dass die Bractonen immer zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden können. Sie glauben an alles, was sie im Späteren auch euch wissen ließen. Das Problem ist nur, es ist ihre Wahrheit.« »Eure … ist eine andere?« »Unsere ist die Realität. Die Bractonen wurden zu allen Zeiten von uns benutzt … so verwerflich das für euch auch klingen mag …«
Dass die Bractonen – momentan zumindest – keine Stellung zu Tecums Behauptungen beziehen konnten, machte es für Cloud und seine Gefährten nicht leichter, sie als zutreffend anzunehmen. »Dann seid ihr so etwas wie die Drahtzieher im Hintergrund?«, fragte Scobee. »So kann man es nennen.« »Aber die Bractonen haben euch nie auf mit einem Wort erwähnt …« »Das spricht nicht unbedingt gegen das, was ich euch gerade eröffne, oder?«, fragte der Ganf. Jiim überwand seine Schockstarre, in die ihn das Erscheinen eines offenbar realen Gottes seiner Vergangenheit versetzt hatte. Für ihn waren die Ganf stets etwas Heiliges und über allem Stehendes gewesen – somit mochte es für ihn sogar leichter sein, das Gehörte zu verdauen. »Darf ich etwas fragen, hohes Wesen?« Vorsichtig drängte er nach vorn, Yael folgte ihm noch zögernder. Der Ganf wandte sich ihm zu. »Frag, Adept.« Adept. Cloud fand das Wort merkwürdig im Zusammenhang mit Jiim. Aber er ließ es unkommentiert – ebenso wie der Narge selbst. »Stammt ihr ursprünglich von Kalser? Ich meine – war es eure Heimat, bevor ihr den Weg der Vergeistigung wähltet und euch für die Nonzone entschieden habt?« »Nein«, sagte Tecum. Einfach nur »nein«.
Jiim schien ebenso wie seine Freunde auf weitere Worte zu warten, doch der Ganf schien der Ansicht zu sein, bereits alles gesagt zu haben, was es dazu preiszugeben gab. Eingeschüchtert und ohne erneut zu versuchen, mehr Licht ins Dunkel des Ganf-Wirkens auf Kalser zu bringen, wich Jiim, wichen er und Yael, wieder zurück zu den Plätzen, wo sie vorher gestanden hatten. Cloud überlegte, ob er das Thema aufgreifen sollte. Irgendwann später vielleicht, beschloss er. Aktuell gab es andere Fragen und waren andere Entscheidungen zu fallen. »Wenn ich deine Äußerung für bare Münze nehme«, sagte er, »dann gilt die Belagerung des Angksystems höchstwahrscheinlich gar nicht in erster Linie den Bractonen oder Menschen hier, sondern …« »Rede weiter.« »… euch!« »Dem muss ich leider beipflichten.« »Den Auruunen geht es um euren Skalp?« Jarvis lachte laut und schallend auf. Nur wer ihn gut kannte, wusste, dass dieses Gelächter in diesem Moment kein Ausdruck von Amüsiertheit war. Es hatte einen Anflug von Hysterie. »Und dafür müssen sämtliche Bewohner des Angksystems büßen?« »Kriege sind Kriege. Es geht nie ohne Opfer.« Auch Cloud riefen Tecums Worte auf die Barrikaden. Er kam der geharnischten Antwort von Jarvis zuvor. »Eines habt ihr auf jeden Fall gemeinsam – ERBAUER und Ganf, meine ich. Ihr geht beide ziemlich sorglos mit Schicksalen anderer um.« »Sie sind natürlich von uns geprägt.« Die Art, wie Tecum nicht einmal versuchte, den Vorwurf zu entkräften, machte sprachlos. Für eine Weile zumindest. Schließlich war es wiederum Scobee, die den Finger in die Wunde einer Frage legte, die sich nach Tecums Eröffnungen aufgetan hatte. »Die Bractonen sind die Initiatoren und Schöpfer unseres Universums«, sagte sie. »Wie konntet ihr Gewalt über sie erlangen? Und wer sind diese Auruunen, dass sie selbst euch, als Siegern über die
ERBAUER gefährlich werden können …?« Cloud erwartete eine weitere Ausflucht – er erwartete alles, nur nicht, dass Tecum oder ein anderer Ganf tatsächlich auf die Frage eingehen würde. Doch Tecum sagte: »Ganz einfach. Wie haben die Bractonen nicht besiegen müssen – und das Universum haben sie auch nur in ihrer Vorstellung erschaffen …«
Die Stimmung in der veränderten Bordzentrale wurde immer seltsamer – und immer schwerer verdaulich, was die Ganf zum Besten gaben. Die Bractonen als Diener der Ganf, ohne dass sie sich ihrer Dienstschaft bewusst waren? Und die Bractonen im festen Glauben, das Universum erschaffen zu haben, selbst einem anderen Kontinuum zu entstammen, womit sie aber lediglich einer gezielten und gewollten Täuschung erlagen, die ihnen von den Ganf auferlegt worden war? Das war starker Tobak. Die Ganf setzten sich mit diesen Behauptungen, erst recht, wenn sie stimmten, in kein gutes Licht. Aber darauf schien Tecum keine Rücksicht nehmen zu wollen. Möglicherweise ging es ihm tatsächlich um die Aufdeckung der »Wahrheit«. Seiner Wahrheit, dachte Cloud und fragte sich unweigerlich: Wer sagt uns aber, dass nicht auch die Ganf von irgendjemandem benutzt/getäuscht werden? Gab es Realität, die für sämtliche darin eingebetteten Wesen in der Wahrnehmung gleich war, überhaupt? Die Frage setzte Schweiß frei. Cloud hasste sie. Er versuchte, sich der Problematik zuzuwenden, die für ihn selbst mit am wichtigsten war – für ihn und seine Leute. »Was ist mit der RUBIKON, mit uns?« Er zeigte zu den Gefährten. »Werden wir sie künftig nur noch in dieser … grotesk veränderten Weise ertragen müssen?« »Du empfindest es als grotesk?«, fragte Tecum. »Ja!« »Das lag nicht in unserer Absicht. Diese Seite ist dem Ideal ge-
schuldet, das wir aktuell für uns selbst als beglückend ansehen. Das war zu anderen Zeiten anders. Geschmack und Vorlieben ändern sich – auch bei vergeistigten Wesen.« »Darüber maße ich mir kein Urteil an. Für uns jedenfalls ist diese RUBIKON nur schwer erträglich …« »Es ist die Seite, die euch nicht kümmern muss. Wir haben euch hierher versetzt, um mit euch zu sprechen.« »Wäre es nicht möglich gewesen, auf ›unsere‹ Seite zu wechseln?« »Die Depotkörper sind durch die lange Lagerung anfälliger geworden, als wir es uns wünschen. Ich möchte sie nicht gefährden. Sie sind hier sicher. Ich weiß nicht, wie es drüben wäre. Deshalb wählten wir zunächst den Weg über den Mittler.« »Und wie geht es weiter?«, fragte Cloud. »Bestimmt ihr den künftigen Kurs des Schiffes – oder wir?« »Eine klare Frage verdient eine klare Antwort.« Cloud nickte, obwohl er mit nichts weniger rechnete. »Wir brauchen euch. Ihr seid loyal den Bractonen gegenüber. Ihr werdet auch uns gegenüber loyal sein.« »Das kann ich nur versprechen, wenn aufgehört wird, über unsere Köpfe hinweg zu entscheiden. Und wenn ein klares Zeichen gesetzt wird, dass wir ab sofort wieder eigenverantwortlich für uns sind.« »Wie sollte ein solches Zeichen aussehen?« Tecum schien bereit zu sein, einzulenken. »Es beginnt damit, dass die andere Seite des Schiffes unsere ist und bleibt – und wir dorthin zurückkehren.« »Das war ohnehin beabsichtigt.« »Und wenn wir dorthin zurückkehren, möchte ich sie so vorfinden, wie sie sein sollte – nicht so, wie sie zuletzt war:« »Was heißt das?« »Etwas von dem hier …« Cloud zeigte auf die stark verfremdete Umgebung. »… schwappt offenbar immer wieder rüber. Das muss aufhören.« »Wir haben es bereits in den Griff bekommen.« »Ach?« »Seit wir auf die Kräfte und Energien unseres toten Artgenossen
zurückgreifen …« »Damit wären wir am Kernpunkt: Holt die Leiche komplett herüber auf diese Ebene – und gebt uns das Dorf der Angks samt seiner Bewohner zurück!« »Ersteres leite ich in die Wege – Letzteres muss noch warten.« »Warten worauf?« »Dass wir auf Portas angelangt sind.«
10. Scobee schüttelte den Kopf, als könnte sie das gerade Erlebte dadurch abschütteln. Wie eine vorübergehende Trübung des Bewusstseins. Oder einen Traum, dessen Nachwehen sie nicht in Ruhe lassen wollten … Das Schlimmste ließ sich auf diese Weise verscheuchen. Die bizarren Veränderungen der Kommandozentrale – und, wie sie hoffte, des Schiffes insgesamt – waren verschwunden. Wohin sie blickte, präsentierte sich die RUBIKON in ihrem »Sonntagsstaat«. Als wäre sie gerade einer Werft entsprungen, zumindest aber einer Generalüberholung und -auffrischung. So einfach war es, die Fremde hinter sich zu lassen? »Wir wurden zurückversetzt«, sagte Jarvis, der die gleiche Schlussfolgerung zog wie sie. »Tecum hält sein Versprechen – alles wirkt wieder, wie es sein sollte. Sesha?« »Jarvis?« »Schön, dich zu hören … Hast du überhaupt mitbekommen, dass wir … weg waren?« »Durchaus.« »Und weißt du auch, wo wir waren?« »Nein.« »Hat sich im Angkdorf etwas getan? Bei den Pyramiden, du weißt schon.« »Die Pyramiden sind nicht mehr feststellbar. Moment, ich blende ein …« Sie meinte die Holosäule, die auch wieder existierte. Die Gefährten erhielten ein Bild, das sich kaum von dem früheren Angkdorf unterschied, wie sie alle es noch in Erinnerung hatten – allenfalls ein winziges Detail fehlte. »Der Baum. Der Lebensbaum von Rog, der die Treymorstrahlung überstand … ist weg!«, erkannte Jarvis. »Wenns sonst nichts ist«, meinte Scobee.
»Offenbar halten sie Wort.« »Moment!« Es war Yael, der ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Und der zur Sprache brachte, was bis zu diesem Moment allen anderen entgangen war – warum auch immer. »Wo ist eigentlich der Commander?«
Cloud sah die Gefährten aus der seltsam verfremdeten Version der RUBIKON-Zentrale verschwinden. Nur er blieb zurück – er und die Ganf-Delegation. »Wo sind sie hin?« »Zurück in ihre vertraute Umgebung. Das wolltest du doch«, sagte Tecum. Cloud nickte säuerlich. »Und ich bleibe hier? Offen gestanden hatte ich das anders gemeint.« »Du wirst ihnen in Kürze folgen, keine Sorge. Aber ich will dir noch etwas zeigen.« »Wie könnte ich ein solches Angebot abschlagen?« Cloud sah sich um. »Was?« »Es ist nicht hier.« »Wo dann?« »Folge mir.« Tecum setzte sich in Bewegung. Die anderen Ganf machten keine Anstalten, ihm zu folgen. Stattdessen wandten sie sich ab und irgendwelchen Instrumenten zu, die es auf der anderen Seite der RUBIKON nicht gab. Cloud heftete sich an die nicht vorhandenen Fersen des Ganf und holte ihn mühelos ein. Nebeneinander verließen sie die Zentrale, durcheilten Gänge. Unterwegs fragte Cloud irgendwann: »Weißt du zufällig, wo ein Besatzungsmitglied abgeblieben ist, das unter etwas fragwürdigen Umständen verschwand? Ihr Name ist Aylea …« »Denkst du, wir hätten etwas damit zu tun?«, fragte Tecum. »Wir haben deinen Namensvetter in Verdacht.« »Ich werde mich darum kümmern.« »Was heißt das?«
»Ich werde mich darum kümmern.« Cloud beschloss, abzuwarten, ob es sich dabei um ein ernstgemeintes Versprechen oder doch nur um einen Versuch handelte, das Thema beiseitezuschieben. Letzteres würde er nicht hinnehmen. Aylea war ihm wichtig. Und er hätte sich ebenso hartnäckig für jedes andere Mitglied der Crew eingesetzt. Schließlich erreichten sie ein Türschott, das, ebenso wie die Wände des Korridors, wie mit Perlmutt überzogen aussah. Das Schott glitt beiseite. Tecum betrat den Raum als Erster, Cloud folgte. Der Raum war leer und lag in Halbdunkel. »Was willst du mir hier zeigen?« »Etwas, das sich auf eurer Seite des Schiffes an entsprechender Stelle befindet.« »Ich bin gespannt – ich kann mir nicht vorstellen …« Seine Stimme versagte. Tecum hatte offenbar einen Vorgang ausgelöst, der beide Ebenen für gewisse Zeit überlagerte. Und geisterhaft sah Cloud übergangslos Objekte und Gerätschaften um sich herum auftauchen. Er konnte sie auf Anhieb zuordnen. Insbesondere das Gebilde, in dem eine Gestalt lag, die entfernt wie ein ins Riesenhafte vergrößerter Herzmuskel aussah. »Das ist – Darnok!« Tecum schwieg, was aber wohl Zustimmung bedeutete. »Warum zeigst du mir ausgerechnet ihn?« Innerhalb des Aquakubus war Darnok zeitweilig aus seiner Stase erweckt worden – die Treymor hatten dies zu verantworten gehabt, denn von Seiten der RUBIKON-Crew war nicht vorgesehen, den Keelon, der sich unsagbarer Vergehen schuldig gemacht hatte, in absehbarer Zeit aus dem Zustand zu holen, in dem er mit hundertprozentiger Gewissheit nie mehr Schaden anrichten konnte. Erstaunlicherweise hatte sich Darnok selbst nach dem »Freigang« gestellt und darum gebeten, wieder in die Stase zurückkehren zu dürfen. Cloud war nicht bereit, diese Geste überzubewerten. Nach wie vor
war er maßlos enttäuscht von den Untaten, die Darnok nur in einem Zustand völliger geistiger Umnachtung begangen haben konnte – was aber keine Entschuldigung sein konnte. All das Leid und Elend, das er über die Milchstraßenvölker gebracht hatte, war nicht mit einer simplen Geste, auch wenn sie Ansätze von Reue in sich tragen mochte, hinwegzuwischen! »Dieses Wesen«, sagte Tecum, »überrascht selbst uns Ganf.« »Das wiederum«, sagte Cloud kühl, »überrascht mich nicht.« »Fällt dir etwas an ihm auf?« Nein, wollte Cloud antworten. Aber dann sah er genauer hin … und bemerkte, dass Darnok nicht nur in einem typischen Stasebecken lag, sondern dass sein Körper umsponnen war von hauchdünnen … Drähten? »Er ist vernetzt. Mit beiden Seiten des Schiffes.« »Wozu? Eine zusätzliche Sicherheitsmaßnahme?« »So könnte man es nennen. Eine zusätzliche Sicherheitsmaßnahme für das Schiff – in der Umgebung, in der es gerade operiert.« »Es wäre Ressourcenverschwendung …« Lächelte Tecum? Cloud hatte keine Ahnung, wie es aussah, wenn Ganf lächelten, aber die veränderte Physiognomie deutete an, dass dies eines sein konnte. »… die hier schlummernden Kräfte nicht zu nutzen. Die Sternlinge sind nur ein hauchzarter Schutz gegen die Gewalten, die pausenlos versuchen, zu uns hereinzubrechen. Ihre natürliche Immunität lässt die Einflüsse der Nichtzeit draußen abprallen, aber was dieses Wesen Darnok beisteuert, ist in Nabiss nicht aufzuwiegen!« Spätestens nach diesen Worten wusste Cloud, woran ihn das Gespinst um Darnok und das Bild als Ganzes erinnerte: an Prosper Mérimée, als dieser von Kargor dazu verwendet wurde, das Zeitentartungsfeld in der Milchstraße zu neutralisieren. Damals, als Darnoks Terror noch in vollem Gange war … Prosper war eine lebende Zeitanomalie – seit seiner Ghettotage. Die Erinnerung an den Freund, der Cloud nur ein kurzes Wegstück begleitet hatte, machte ihm bewusst, dass er gerne mehr über
dessen Schicksal gewusst hätte, als er im Späteren erfahren hatte. Prosper war ebenso lange tot wie die anderen Gründer der Angkmenschheit. Von ihnen lebten nur noch Erinnerungen fort. »Gibt es über den Nutzen hinaus, den ihr aus Darnok zieht, einen Grund, warum du es mir unbedingt zeigen wolltest?« »Vielleicht«, räumte Tecum ein. »Und welchen?« »Wir Ganf mögen keine im Detail mit der euren identische Moral vertreten«, sagte Tecum, »aber bei uns ist es so, dass jeder, der sich eines Vergehens schuldig macht, stets die Möglichkeit der Rehabilitation erhält.« »Das ist normalerweise auch unser Bestreben.« »Und warum dann nicht im Fall von ihm?« Er zeigte auf Darnok. »Weil seine Vergehen so groß sind, dass keiner von uns auch nur im Ansatz weiß, wie sie gebüßt werden könnten in einer Form, die anschließende Rehabilitation bedeuten würde.« Tecum dachte augenscheinlich über die Antwort nach. Dann fragte er: »Aber ist das nicht eher euer Makel als seiner?« »Wie meinst du das?« »Ihr setzt an die Moral, die ihn für seine Taten verdammt, einen hohen Maßstab. Aber müsstet ihr nicht auch von euch verlangen, dass ihr Wege findet, diesem Wesen die Buße zu ermöglichen?« Darüber hatte Cloud sich tausendmal den Kopf zerbrochen. Und sich doch immer wieder eingestehen müssen, dass er keine Möglichkeit sah, Darnok den Weg zurück in die Gemeinschaft zu ebnen. Und er wusste aus dutzenden Gesprächen, dass die anderen Mannschaftsangehörigen auch keine Patentlösung hatten. »Offenbar sind wir nicht dazu fähig«, sagte er. Das Gefühl, vor einem Tribunal zu stehen, das über seine Verfehlungen befinden sollte, nahm überhand. »Vielleicht noch nicht«, sagte Tecum. »Aber vielleicht danach. Darnok setzt seine Gabe nicht unbewusst und unter Zwang für den Zweck ein, den ich dir nannte, sondern freiwillig.« Cloud glaubte sich verhört zu haben. »Aber«, hob er zum Widerspruch an, »das würde voraussetzen,
dass –« »– wir mit ihm gesprochen und ihn gefragt haben. Genauso ist es.«
»John!« Cloud war extrem verunsichert, was er von der Moral der Ganf halten sollte, als er wenig später ebenfalls zurück auf seine Seite der RUBIKON versetzt wurde. Er informierte seine Freunde über den Grund seiner Verspätung – und sie teilten ihm mit, dass die Angkhäuser wieder an Ort und Stelle waren, statt der Pyramidenbauten. »Die Angks hingegen sind noch nicht wieder eingezogen«, schloss Jarvis. »Das war ja angekündigt«, sagte Jarvis. Er war in Gedanken noch bei Darnok. Scobee merkte es. »Es ist nichts, was übers Knie gebrochen werden muss«, sagte sie. »Aber prinzipiell begrüße ich das Engagement. Sowohl das von ihm als auch das der Ganf.« Vielleicht ahnte sie auch, was er einwerfen wollte, denn sie ergänzte: »Wenn nur ihre eigenen Taten immer widerspruchsfrei zu dem wären, was sie an ethischen Grundsätzen anführen … Tecums Auftritt hier … ich meine den Tecum aus Nabiss … war keineswegs über alle Zweifel erhaben. Und immerhin war er ihr Sprachrohr …« Sie sah sich um. »Wo ist er überhaupt?« Der Klumpen Nabiss war aus der Zentrale verschwunden. Cloud wusste, dass er auf der »zweiten Ebene« angelangt und von den Ganf einer speziellen Befragung unterzogen worden war. Das Resultat hatte Tecum ihm vorhin, vor der einstweiligen Trennung, mit auf den Weg gegeben. Achselzuckend wandte er sich an seine Freunde. »Der Klumpen ist nicht mehr unser Problem. Er wird uns wohl nicht mehr belästigen.« Jarvis wollte wissen: »Hat Tecum noch irgendeine Andeutung gemacht, wie es hier weitergeht – im Angksystem? Der Status ist absolut unbefriedigend. Egal, wer hier letztlich das Sagen hat, Ganf oder Bractonen, es geht um Milliarden Lebewesen, die hier in Erstarrung
verharren!« »Die Belagerer nicht zu vergessen – angeführt von diesen Auruunen«, sagte Scobee. »Ich fange an zu zweifeln, dass es überhaupt eine Lösung gibt, ohne dass eine unfassbare Zahl von Opfern in die Waagschale geworfen werden muss. Das wäre furchtbar!« »Offenbar gibt es Pläne, die für beide Problematiken eine Lösung versprechen«, erwiderte Cloud. »Aber ich will nicht vorgreifen. Wir sind aufgefordert, uns nach Portas zu begeben. Dort soll uns alles Weitere mitgeteilt werden.« »Ausgerechnet Portas«, wurde Jarvis aufbrausend. »Sind diese Ganf denn noch bei Trost?«
11. Die Stadt im Berg hätte Aylea unter anderen Umständen vermutlich auf Jahre hinaus fasziniert. Varx hatte erzählt, dass hier Sahbu und andere den Grundstein für die Arrankor-Population der Angkmenschen gelegt hatten. Und wie die Sternlinge ihm und den anderen hier Ausgesetzten dabei unter die Arme gegriffen hatten. Dabei hatten sich Freundschaften entwickelt. Speziell Varx schien dazu fähig zu sein, wie er auch Aylea gegenüber demonstrierte. Es fiel nicht leicht, ihn als Freund anzunehmen. Aber dass ein Sternling in der Lage war, solche Bande zu Menschen zu knüpfen überraschte Aylea durchaus. Nach ihrer Rückkehr beratschlagten sie sich mit den noch in der Bergstadt wohnenden Sternlingen. Es wurde debattiert, ob Arrankor eine Sonderstellung innerhalb des Angksystems zukam, oder ob sämtliche Welten von dem überfallen worden waren, was konventionelles Leben – außer Aylea – zur Erstarrung brachte. »Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden«, sagte ein Sternling namens Loyroan. »Ihr müsstet nach einer der anderen Welten gehen – entweder aus deiner Kraft heraus, Varx, oder über einen kobaltblauen Turm.« »Funktionieren die Türme noch?«, fragte Varx. »Habt ihr nachgesehen?« »Niemand von uns will den Berg verlassen, geschweige denn Arrankor«, erwiderte Loyroan. »Es mag die Zeit kommen, da das Leben für die Geschöpfe wieder weitergeht. Wir sind gerüstet. Wir werden für sie da sein, wie wir stets für sie da waren.« »Interessiert euch wirklich gar nicht, warum kein Geschöpf mehr auf Arrankor leben kann? Es muss euch doch wahnsinnig machen, völlig im Dunkeln zu tappen. Vielleicht ist es nur der Auftakt zu etwas noch viel Schlimmerem, das euch dann auch betrifft! Ihr könntet euch besser schützen, wenn ihr Wissen sammelt, das euch einmal
selbst von Nutzen wäre!« »Wir sind zufrieden«, erhielt sie zur Antwort. Es waren ohnehin erschreckend wenige, die Varx' Ruf gefolgt waren. Kaum mehr als zwei Dutzend. Aylea wusste nicht, ob es in der Bergstadt nicht mehr Sternlinge gab – oder ob viele gar nicht erst hierher gefunden hatten. Sie waren so … lethargisch. Varx ragte aus der teilnahmslosen Masse wie ein Leuchtfeuer hervor. Woran lag das? An seinem Aufenthalt auf der RUBIKON? Waren nur solche Sternlinge überhaupt ausgewählt worden, das Angksystem zu verlassen und die Crew aufzustocken, die überdurchschnittlich aktiv und wissbegierig gewesen waren? Aylea war geneigt, dies zu glauben. »Stimmt es, dass ihr es nicht wagt, eure Gabe, ein Portal zu formen, zum Einsatz zu bringen, weil ihr fürchtet, im Nirgendwo verweht zu werden?« Hatte Varx nicht ein solches oder ähnliches Argument angeführt, als sie verlangt hatte, sofort zur RUBIKON zurückversetzt zu werden? Einige stimmten zu, andere schienen gar nicht zu wissen, wovon sie sprach, und wieder andere enthielten sich offenbar grundsätzlich einer Stellungnahme. »Dann bleibt mir offenbar nur, mich zu einem kobaltblauen Turm durchzuschlagen«, sagte sie. »Es sei denn, du, Varx, willst es mit mir riskieren …« Sie hatte den Eindruck, dass Varx sich für seine Artgenossen schämte. Aber sicher war sie sich nicht. »Ich werde es mir überlegen«, erbat er sich Bedenkzeit. »Du weißt, was ich fürchte. Mehr noch als das Verwehen im Nichts.« »Und du weißt, dass ich deine Angst für übertrieben halte. Tecum wird dir nichts anhaben, wenn ich für dich einstehe. Und das werde ich. Du hast mich zwar in diese verzwickte Lage gebracht, aber ich weiß, dass du ein herzensguter Kerl bist, der mir in schwerer Zeit beistand und –« »Komm«, unterbrach er sie und löste die Versammlung auf. Er führte Aylea zu einem Platz, wo sie allein waren. »Du bist mir keinen Dank schuldig – im Gegenteil, und das weißt du. Es ehrt dich
aber, dass du so sprichst. Du und ich, wir beide wissen, dass ich in deiner Schuld stehe. Wenn ich nur wüsste, wie ich meine Furcht in den Griff bekomme. Vielleicht … vielleicht ist sie ja wirklich übertrieben. Aber der Mittler –« »Der Mittler sollte es sich lieber zweimal überlegen, ob er sich mit mir anlegt!« Sie drohte lächelnd mit der Faust. »Aber ich lasse dir deine Bedenkzeit. Mir geht es nicht so schlecht.« »Nicht so schlecht? Heißt das, du hast wieder Probleme?« »Wahrscheinlich bin ich einfach nur müde – von dem Marsch zum Gehöft.« Er schluckte den Köder. Aylea aber kam sich mies vor, furchtbar mies, weil sie mit gezinkten Karten spielte. Sie führte den Sternling nicht gern hinters Licht. Doch die Sehnsucht nach einer vertrauten Umgebung wurde immer unbezähmbarer. »Mach dir keine Sorgen, Varx, ich akzeptiere deine Entscheidung. Lass mich einfach ein bisschen ausruhen, schlafen. Erzähl mir von Sahbu, von Prosper. Wie hast du sie erlebt? Was hast du mit ihnen erlebt? Erzähle. Wenn ich die Augen schließe, bedeutet das nicht, dass ich mich langweile. Ich mag es, wenn du von damals sprichst. Damals muss eine unglaubliche Stimmung hier geherrscht haben. Aufbruchstimmung …« Sie legte sich einfach auf den Boden und bettete ihren Kopf auf ihre Hände. »Aylea, ich …« »Fang an, bitte. Bin so müde …« Varx ging nervös auf und ab. Irgendwann aber begann er zu erzählen. Von Dingen, die Aylea so sehr ins Staunen versetzten, dass sie gar nicht einschlafen konnte. Und irgendwann machte der Lärm es dann ohnehin unmöglich. Der Boden begann zu beben, und im Innern des Berges baute sich ein so unheimliches Geräusch auf, dass selbst die Sternlinge glaubten, ihr letztes Stündlein habe geschlagen. Irgendwann dachten alle nur noch an Flucht. Flucht aus der Stadt, hinaus aus dem Stollen, der ins Freie führte.
Und dort wartete dann die größte Überraschung auf sie.
»Dort!«, sagte Jarvis. »Dort bewegt sich etwas! Wir scheinen richtig zu sein …« Inmitten erstarrter Landschaft, in der sich, wie auf zwei Welten zuvor, kein Grashalm regte, kein Insekt und kein wie auch immer geartetes Lebewesen, strömten dunkle Gestalten am Fuß eines Berges aus einer Schachtöffnung. Cloud hielt sich lieber noch bedeckt. Die RUBIKON hatte sich bis auf wenige hundert Meter zur Oberfläche von Arrankor hinab gesenkt, genau bei den Koordinaten, die Tecum ihnen über Sesha hatte zukommen lassen – der echte Tecum … nachdem er den falschen offenbar dazu hatte bewegen können, ein Schuldeingeständnis abzugeben, was das Verschwinden Ayleas und eines Sternlings namens Varx anging. Offenbar hatte der Mittler sogar nachverfolgen können, wohin Varx mit Aylea vor ihm geflohen war – nur hatte er dann keine Gelegenheit mehr gehabt, die Verfolgung aufzunehmen. Das übernahmen nun andere – und mit anderen Absichten. Warum der Mittler so erpicht darauf gewesen war, den »desertierten« Sternling zur Rechenschaft zu ziehen, hatte auch der wahre Tecum nicht schlüssig erklären können. Allenfalls damit, dass dies nicht der einzige Punkt war, in dem der Mittler übers Ziel hinausgeschossen war und seine Aufgabe übermotiviert in Angriff genommen hatte. »Bislang sehe ich nur Sternlinge, kein …« Scobee verstummte kurz, dann jubelte sie: »Dort! Dort kommt … Aylea! Sie wird nicht getragen, sie … läuft selbst! Wie kann das sein? Wie kann sie da draußen … leben?« Die Bilder, die Arrankor während des Anflugs geliefert hatte, waren selbstredend gewesen. Auch auf dieser Angkwelt waren Mensch und Tier Opfer des erstarrten Zeitflusses geworden. Folglich waren sie davon ausgegangen, Aylea erstarrt bergen zu müssen. Den Sternlingen hingegen hatten die Ganf Immunität gegen das im
Angksystem herrschende Phänomen bescheinigt. Ihr Erscheinen war keine Überraschung gewesen … »Wir bergen sie mittels Traktorstrahl«, ordnete Cloud an. »Mit aller gebotenen Vorsicht! Den Sternling direkt neben ihr … der, der ihre Hand hält … nehmen wir mit ins Visier. Wenn mich nicht alles täuscht, ist das dieser Varx …«
Wie stets, wenn ein in Gefahr befindliches Besatzungsmitglied doch wieder wohlbehalten in den Schoß der RUBIKON-Familie zurückkehrte, war die Freude groß. »Aylea, Kind! Du machst ja Sachen!« Jelto hatte es sich nicht nehmen lassen, sich in der Schleuse einzufinden, in die der Traktorstrahl das Mädchen und den Sternling gehievt hatte. »Wir stehen vor einem Rätsel«, schloss auch Cloud sie kurz darauf in die Arme. »Wie konntest du da draußen mobil bleiben?« »Können wir das vielleicht später erörtern?«, fragte sie. »Ehrlich gesagt, will ich nur schlafen. Ich bin todmüde!« »Erst wirst du untersucht«, bestimmte Scobee in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. »Wir gehen auf Nummer sicher. Dich gefunden zu haben, grenzt an ein Wunder. Jetzt wollen wir dich nicht durch unterlassene Sorgfalt doch noch –« Jeltos mahnender Blick hielt sie davon ab, den Teufel an die Wand zu malen. Sie nickte ihm zu. Dankbar. Manchmal sah man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr … »Bist du Varx?«, wandte sich indes Jarvis an den Sternling. Der krümmte sich sichtbar, als drücke eine Zentnerlast auf seine Schultern … oder als hätte er schreckliche Angst vor Jarvis. »Du brauchst dir vor mir nicht ins Hemd zu machen«, versuchte Jarvis ihn gewohnt derb aufzumuntern. Aylea hatte ein Auge auf Varx – obwohl sie hundemüde war. Sie stellte sich wie eine große Schwester zwischen ihn und Jarvis. »Er denkt, er hat allen Grund, ›sich ins Hemd zu machen‹.« »Wegen mir?«, fragte Jarvis verdattert.
»Wer macht sich wegen dir schon ins Hemd?« Aylea stieß ihn grinsend an. »Aber ernsthaft: Es ist wegen diesem Kerl, der hier offenbar das Zepter schwingt und ignoriert, dass wir schon einen überaus fähigen Commander haben …« Sie schielte zu Cloud und hatte dabei laut genug gesprochen, dass er sie verstehen musste. Als er zu ihr blickte, zwinkerte sie ihm zu. »Worum geht es?« Cloud trat näher. »Offenbar um Tecum. Den nachgemachten Tecum, du weißt schon«, sah sich Jarvis in der Pflicht, es erklären zu müssen. »Offenbar steckt er wirklich hinter der Kurzschlusshandlung des Sternlings, der Aylea mal so eben mit nach Arrankor genommen hat …« Cloud nickte, er hatte längst verstanden, dass Varx immer noch fürchtete, vom »Mittler« der Ganf in die Mangel genommen zu werden. »Ich kann dich beruhigen, Freund«, wandte er sich an Varx, »die Sache mit Tecum … diesem Tecum … ist ein für alle Mal aus der Welt geschafft. Er wird dich zu nichts mehr zwingen können, was du nicht willst – und auch kein anderer wird das tun.« Varx stand einfach nur vor ihm und starrte ihn aus den Tiefen seines All-Körpers heraus an. Mit jedem einzelnen Stern, wie Cloud schien. »Hach! Habt ihr das gehört?«, rief Jarvis plötzlich so dröhnend, dass selbst Varx zusammenzuckte. »Was?«, fragte Cloud ungnädig. »Musst du hier immer …« »Den Berg, der dem Kleinen gerade von der Seele geplumpst ist!«, rief Jarvis unbeirrt erneut dröhnend laut. »Vielleicht war es auch eine ganze Galaxie. Von denen hat er ja genug in sich …« »Du bist unmöglich!«, fuhr ihn jetzt auch Aylea an, hakte sich bei Varx unter und schob ihn Richtung Schleusentor. Jarvis wollte ihnen folgen. Cloud hielt ihn zurück. »Zeig einmal Feingefühl«, sagte er. »Lass sie besser ein Weilchen in Ruhe, das haben sie sich verdient.« »Aber ich freu mich doch mit ihnen, dass alles überstanden ist!« »Das hat jetzt jeder kapiert«, seufzte Scobee und entfernte sich kopfschüttelnd. »Wer dich zum Freund hat …«
»Toll. Bin ich jetzt der Sündenbock, oder was?« »Komm«, zeigte Jelto als Einziger auch Mitgefühl mit seiner Seelenlage. »Warst du überhaupt schon im Park? Ich schenk dir eine kostenlose Führung durchs Cy Memorial …« »Später vielleicht. Ich muss in die Zentrale«, lehnte Jarvis das Mitleidsangebot ab. »Das hier war nur eine Zwischenstation. Weiter geht's nach Portas. Glaubst du, da hätte ich Zeit, mit dir durch irgendwelches Grün zu schlendern? Einer muss schließlich die Augen aufhalten. Portas, alter Junge! Ich will gar nicht wissen, was sich die Ganf da wieder ausgedacht haben! Erinnerst du dich noch an den Höllenritt, als wir Yael von dort zurückholten? Ich geh jede Wette ein, das war nur ein laues Lüftchen gegen das, was uns diesmal erwartet. Hagel und Granaten – Portas …!«
Die Wolkenschicht um Angk III, die Verbotene Welt des Systems, wäre auch, wenn Winde sie bewegt hätten, so lückenlos dicht geblieben, dass kein optisches Gerät und kein noch so raffiniertes Ortungsgerät einen Blick auf die Oberfläche erhascht hätte. So war es vor dem Zeitstillstand gewesen, und so war es jetzt. Portas war, das hatte Jarvis treffend in Erinnerung, ein höllischer Ort. Selbst die Bractonen mieden diesen Planeten, der ihnen nach eigenem Bekunden aus dem Ruder gelaufen war – nach Experimenten, mit denen sie versucht hatten, das Tor zurück in ihr Heimatkontinuum aufzustoßen. Vor nicht allzu langer Zeit aber war Kargor mit einer zum Raumschiff umfunktionierten Tridentischen Kugel zur Schwellenwelt aufgebrochen. Er hatte gehofft, über die Gefahren auf Portas triumphieren und das Trauma der Bractonen besiegen zu können. Und nun also die RUBIKON. Sie durchstieß die erstarrte Wolkenhülle auf Kargors Spuren … und im Namen der Ganf, die mit ihren Aussagen die Bractonen ein Stück weit entmystifiziert hatten. »Bist du sicher, dass das, was wir gerade tun, klug ist?«, fragte Scobee, während das Rochenraumschiff im Blindflug in das Wol-
kengebräu vorstieß. »Wer sagt uns, dass die wahren Lügenmeister nicht die Ganf sind?« »Genau um das herauszufinden«, behauptete Cloud im Brustton der Überzeugung, »fliegen wir da rein – aus keinem anderen Grund!« »Du bist verrückt!« Scobee wartete vergeblich auf Widerspruch. Turbulenzen nie erlebten Ausmaßes schüttelten das gewaltige Raumschiff, in dem in den folgenden Sekunden und Minuten so mancher an der geistigen Unversehrtheit seines Commanders zu zweifeln begann. Nur einer blieb bei alldem zuversichtlich, ohne zu wissen, woher er seine Kaltschnäuzigkeit eigentlich nahm. Der Commander selbst. Er war nicht nach Portas gekommen, um zu sterben. Da unten, das wusste er, wartete mit Sicherheit eines: Antworten. Und wenn Portas wirklich die Hölle war, mussten sie zum Teufel gehen, um ihre Antworten zu bekommen! Was ihn, John Cloud anging, so war er bereit dazu.
Epilog – Blick in die Vergangenheit »Gefällt dir mein Baby?«, fragte der ölverschmierte Mund in dem ölverschmierten, furchendurchzogenen Gesicht, das Prosper Mérimée aus dem Sitz neben ihm anfeixte – fast wie in alten Zeiten. Aber in alten Zeiten … waren sie beide jünger gewesen. Beträchtlich jünger. Rodriguez – oder Roddy, wie Prosper ihn vom Tage ihrer erster Begegnung an genannt hatte – war Mitglied seines Ensembles gewesen. Damals im Ghetto, der Abschiebehölle der Master, auf der verlorenen Erde. Wie lange war das alles her? Tausend Leben!, dachte Prosper Mérimée mit einer Inbrunst, die ihn einerseits erschreckte, ihm andererseits aber zeigte, dass er tief drinnen immer noch der Alte war – der Alte in ausschließlich positivem Sinne! Und tausend Leben … Himmel, war das wirklich übertrieben? Was er und all die anderen Entführten alles durchgemacht hatten … das reichte, wenn man es durch tausend teilte, wahrscheinlich immer noch ebenso vielen Menschen, um einen jeden von ihnen auf ein erfülltes Dasein zurückblicken zu lassen. Ihm selbst war es fast schon zu viel, zumindest hatte er das geglaubt, bis Roddy ihn vorhin wachgerüttelt hatte. Ja, so fühlte er sich: Wie aus einem lähmenden Schlummer sattmachender Zufriedenheit gerissen! Vielleicht hätte er sich nicht so leicht locken lassen, wäre Sarah noch am Leben gewesen. Aber seine große Liebe, die ihm drei prächtige gesunde Kinder, Drillinge, geschenkt hatte, lag tot und begraben einen Steinwurf von ihrem geliebten Meer entfernt. Sie ruhte im selben Boden, auf dem das Haus stand, das sie noch gemeinsam aus Nanomaterie geformt hatten … Die Erinnerung ließ Prosper hart schlucken. Roddy schien es zu bemerken. »Alles in Ordnung?«, fragte er, während er nicht aufhör-
te, das haarsträubende Vehikel, mit dem er Prosper in seinem betulichen Lebensabend aufgeschreckt hatte, nur ein paar Meter über der Meeresoberfläche gen Osten zu peitschen. Aus dieser Richtung war es zuvor auch gekommen. Ein Fahrzeug, das so gar nicht nach ERBAUER-Technik aussah. Es erinnerte an Konstruktionen, wie Prosper sie in manchen Bänden seiner Bibliothek gesehen hatte, bibliophilen Schätzen, die er einst auf abenteuerlichsten Wegen gehortet hatte. Die wenigsten hatte er mitnehmen können, als er und sein Zirkus deportiert, in einen würfelförmigen Container verfrachtet worden waren, der dann im Weltall ausgesetzt wurde … wo ihn die RUBIKON unter John Cloud schließlich gefunden und sie alle vor einem elenden Tod bewahrt hatte. Danach hatten sie die Missionen des Raumschiffs begleitet, bis Kargor – an den Prosper nicht die angenehmsten Erinnerungen hatte – sie ins Angksystem entführt und über sechs der sieben Planeten verteilt hatte. Seid fruchtbar und mehret euch, hatte er ihnen getreu eines biblischen Leitsatzes mit auf den Weg gegeben. Und die Anfänge dazu waren getan. In seinem engsten Familienkreis gab es Brad, Taylor und Sarah – nach ihrer Mutter benannt –, von denen zwei ihrerseits bereits miteinander Kinder gezeugt hatten, Enkel, an die Prosper ebenso liebevoll dachte wie an seine eigenen Sprösslinge. Von ihnen hatte er gerade Abschied genommen, von ihnen allen, ohne dass er wusste, ob er sie jemals wiedersehen würde. Und das alles auf die vage Behauptung eines Mannes hin, der einmal zu den Kuriositäten in Prospers Zirkus gehört hatte, weil er über die Gabe der Stille verfügte – eine übersinnliche Kraft, mit der er jedes Geräusch in einem bestimmten Radius um sich herum zum Erliegen bringen konnte. Wozu diese Fähigkeit nütze sein sollte – außer dass man damit Zuschauer zum Staunen bringen konnte –, was die Natur sich dabei gedacht hatte, als sie Roddy damit ausstattete … das wusste vermutlich nicht einmal Roddy selbst. Aber vielleicht war es auch nicht wichtig, den Sinn von allem zu kennen. Das Leben war doch immer dort am spannendsten, wo offe-
ne Fragen auftauchten und möglichst lange auch unbeantwortet blieben. Jede Antwort, jede Lösung eines Rätsels machte den Alltag ärmer – es sei denn, es tauchten immer wieder neue ungelöste Fragen und Geheimnisse auf. Prosper lächelte. Irgendwie hatte er das sichere Gefühl, neben all den schönen Dingen, die er hinter sich ließ, auch eingefahrenen Gleisen den Rücken zu kehren. Und das konnte nur gut sein. Wagemut zahlte sich aus. Das war immer seine Devise gewesen. Und ein friedvolles Dasein ohne nennenswerte Gefahren hatte er nur in den letzten Jahrzehnten hier auf Gismo – Angk I – geführt. Auf der Erde und an Bord der RUBIKON war es sehr viel rustikaler zugegangen. Da hatte er nie gewusst, was der neue Tag ihm bringen würde. Die Jahre mit und später ohne Sarah Cuthbert hatten ihn träge werden lassen. Aber er hatte keine Sorge, diese Trägheit auch wieder abstreifen zu können wie ein lästig gewordenes Kleidungsstück. »Dein ›Baby‹ ist erfrischend hässlich«, wandte er sich an Roddy, um mit Verspätung nun doch noch dessen Fragen zu beantworten. Ihm war klar, dass der wiederaufgetauchte Freund nur die abstruse Flugmaschine meinen konnte. »Und ja, mir geht es gut, danke. Es ist alles in Ordnung. Ich würde nur gern wissen, wohin wir eigentlich fliegen. Wie gelangen wir nach Portas? Mir wurde immer gesagt, es sei eine verbotene Welt, der Zugang zu ihr versperrt …« »Ich war dort.« »Ja, das sagtest du bereits. Aber wie … unter welchen Umständen bist du hingelangt?« »Das ist eine lange Geschichte.« »Haben wir nicht Zeit für Geschichten?« »Doch. Aber man muss dazu auch in Stimmung sein.« »Und das bist du nicht – im Moment?«, fragte Prosper. »Ich fühle mich ein wenig getrieben, das sagte ich schon. Ich weiß selbst nicht genau, wie eilig meine Mission ist.« »Und deine Mission ist, mich abzuholen und …« »… und nach Portas zu bringen. Von wo ich kam.« Roddy nickte.
Das Fahrzeug, hinter dessen Steuer er sich geklemmt hatte, bockte wie ein ungezähmtes Wildpferd. Der Antrieb, von dem Prosper nicht wusste, nicht einmal ahnte, auf welchem Prinzip er beruhte, stotterte, und für ein paar Sekunden wechselte Roddys Gesicht die Farbe. Er sah aus, als befürchte er ihren Absturz. An diese Möglichkeit hatte Prosper bis dahin nicht einmal im Traum gedacht – trotz des aberwitzigen Eindrucks, den das Vehikel vom ersten Augenblick an in ihm hinterlassen hatte. Er war von den Jahrzehnten verwöhnt, die er im Luxus einer hoch überlegenen Technologie verbracht hatte. Die ERBAUER hatten überall auf Gismo Depots aus formbarer Nanomaterie angelegt, aus denen die Entführten und ihre Nachkommen mit vollen Händen schöpfen durften. Im Grunde war mit diesem Baustoff alles herstellbar. Auch jedes technische Gerät, jede Maschine, die und deren Funktionsweise man sich nur vorzustellen brauchte. Roddys Fahrzeug hingegen sah aus wie von ihm selbst zusammengeschraubt und -geschweißt. Das machte es einerseits zu einem Faszinosum, andererseits aber offenbar auch zu einem Risiko. »Befinden wir uns in Gefahr?«, fragte Prosper, bemühte, ruhig zu klingen, obwohl Roddy selbst kreidebleich in seinem Sitz hockte und hektisch Schaltungen vornahm. »Kommt darauf an, was man für gefährlich hält, Meister«, ächzte Roddy eingedenk der Zeit, da man Prosper Mérimée auch »den Meister des verbotenen Wissens« nannte. Eben wegen der Bücherschätze in seinem Haus, die Aufschluss über eine Geschichte der Menschheit gaben, die die Keelon-Master am liebsten völlig aus dem Gedächtnis der Welt getilgt hätten. »Gibt es Probleme mit der Maschine?«, wurde Prosper konkreter. »Kann ich irgendwie helfen?« »Kennst du dich mit Paula aus?« »Paula? Hast du diesem Ding etwa einen Namen gegeben? Und dann auch noch einen, der …« »… an die Lange Paula erinnert – na und? Ich mochte sie immer, und du, wenn mein Gedächtnis nicht ganz trügt, auch, Meister.« Erst Roddys Worte trieben den Erinnerungsfetzen nach oben, der
zuvor unter dem Schutt unendlich vieler anderer Erlebnisse begraben gelegen hatte. Prosper hatte völlig vergessen gehabt, dass ihn mit besagter Paula einmal eine intime Beziehung verbunden hatte, aber eine nicht annähernd so tiefgreifende wie die mit Sarah. »Schon gut. Konzentrier dich auf diese Höllenmaschine!« »Tu ich. Wir stürzen nicht ab. Das sind nur kleine Sperenzien. Auf dem Hinflug war es genauso.« »Beruhigend.« Prosper rollte mit den Augen. »Schön, dass du dir deinen Humor bewahrt hast, Meister.« »Galgenhumor.« »Ich weiß.« Roddy grinste. »Den können wir beide brauchen – bei dem, was uns noch erwartet. Insbesondere … dich.« »Auf Portas?« Roddy nickte leidenschaftlich und hielt Paula auf Kurs. Minuten später tauchte mitten im Ozean ein kobaltblauer Turm auf, von dessen Existenz Prosper bis dato nichts gewusst hatte, obwohl er der Ansicht gewesen war, die nähere Umgebung seines Zuhauses wie seine Westentasche zu kennen. Kobaltblaue Türme gab es auf Gismo natürlich zuhauf – aber allesamt an Land. Mitten im Meer machten sie eigentlich keinen Sinn, da es sich um Stationen handelte, mit deren Hilfe man sich in das weit verzweigte Netz der Energiestraßen einzufädeln konnte, über die man, wenn befugt, zwischen sechs der sieben Angkwelten hinund herwechselte. Nur Portas war aus diesem Netz herausgetrennt. Die Schwellenwelt galt als Tabuplanet, umgeben von Wolken, die jeden Versuch vereitelten, aus dem Weltraum heraus einen Blick auf die Oberfläche zu erhaschen. Portas war in mehr als nur einer Hinsicht eine Extremwelt, die, nach allem, was Prosper wusste, selbst die ERBAUER mieden.
Je näher der archaisch anmutende Gleiter kam, desto gewaltiger wirkte der von gischtender Brandung umtoste Turm aus kobaltblauem Stahl. Wenn es denn Stahl war. Prosper bezweifelte es. Eine wie auch im-
mer gemixte simple Legierung verschiedener Metalle schien in Hinblick auf die Möglichkeiten der Herren des Angksystems einfach zu banal. Nach wie vor – wie schon in der ersten Stunde seiner Ankunft im Siebener-System – ging er davon aus, dass die ERBAUER die Architekten der absonderlichen Planetenanordnung waren, durch die sich dieser kosmische Ort auszeichnete. Oder besser gesagt: die Architekten und Ingenieure. Sieben fast identisch aussehende Planeten, die ein Gestirn auf der exakt gleichen Bahn und dann noch im exakt gleichen Abstand zueinander umkreisten, war nichts Natürliches. Der Natur wäre ein solcher Anachronismus nicht in hundert Milliarden Jahren eingefallen. Nein. Das Angksystem hatte künstlich sein Gesicht verpasst bekommen. In den ersten Jahren war Prosper bass erstaunt über die unglaubliche Kreativität der ERBAUER gewesen. Zuletzt aber hatte er sich immer mehr auf seinen privaten Kosmos beschränkt, die Familie. Selbst die größten Wunder verloren irgendwann an Strahlkraft, wenn man sich ihnen permanent ausgesetzt sah. Die Familie nicht. Kein Tag, den Prosper nicht erst neu hatte entdecken und mit dem er neu hatte lernen müssen, umzugehen. Die Kinder hielten ihn auf Trab, erst die eigenen, dann die seiner Sprösslinge. Nach Sarahs Tod hatte ihm die Lebensfreude der Kleinsten über vieles hinweggeholfen, aber ein Rest von Trauer und Melancholie war stets allgegenwärtig. Wie eine dunkle Wolke an einem sonst strahlend blauen Himmel, die sich ab und zu, wenn die Winde ungünstig waren, vor die Sonne schob. Dann badete seine Seele im Schatten. Dann war er Sarah ganz nah. Er fragte sich, ob er die Wolke mit nach Portas nehmen würde. Ob sie ihn überallhin begleitete. Die Antwort, das wusste er, war ja. Sie war ja in ihm. Vielleicht war die Wolke Sarah. Es hätte zu ihr gepasst, sich ihm auf diese Weise ins Gedächtnis zu brennen. Nicht aus Bosheit, sondern weil sie seine Nehmerqualitäten kannte und immer zu schätzen gewusst hatte. Oh, es war ein langer Prozess gewesen, bis sie sich einander so
weit angenähert hatten, dass sie es beide Liebe nannten. Mit schneller Verliebtheit hatte es nichts zu tun gehabt. Umso mehr hatten sie beide es in den Jahren, die ihnen gegeben waren, zu schätzen gewusst. Prosper seufzte. Der Laut wurde machtvoll vom Dröhnen des Triebwerks übertönt. Aber plötzlich war er sicher, dass keine echte Absturzgefahr bestand. Er war sicher, dass es nicht sein Schicksal sein konnte, ins Meer zu stürzen und zu ertrinken. »Wir schaffen es!«, keuchte Roddy. Natürlich, dachte Prosper und war sich dabei bewusst, wie grotesk es war, dass er, der den zusammengebastelten Gleiter nicht kannte, auf einmal volles Vertrauen zu ihm hatte, während der, der ihn erbaute, offenbar durchaus Zweifel bekam. Der Turm wuchs wie eine Wand vor ihnen auf. Roddy drosselte das Tempo nicht, und scheinbar im letzten Moment öffnete sich ein Abschnitt in der Außenwand, der groß genug war, um den Gleiter passieren zu lassen. Direkt hinter der Schwelle erstarb das Motorengeräusch, aber statt zu fallen, wurde das Fahrzeug offenbar von unsichtbaren Schwerefeldern aufgefangen, die es sacht zu Boden lenkten. Durch die transparente Kanzel sah sich Prosper in einen kobaltblauen Hangar versetzt, in dem »Paula« das einzige Objekt war. »Wir haben noch gar nicht darüber gesprochen«, sagte Prosper. »Worüber?«, fragte Roddy, der sich den Schweiß vom Gesicht wischte und dabei den Schmutz noch mehr verschmierte. »Ob du aus eigener Initiative zu mir kamst, oder ob man dich geschickt hat.« Roddy blickte zu Boden wie jemand, der gerade bei irgendetwas ertappt worden war. »Ich wusste, dass man dir nichts vormachen kann – ja, ich wurde geschickt. Ich hätte es allein nicht nach Gismo geschafft. Niemand verlässt Portas, wenn sie es nicht wollen.« »Wen meinst du mit ›sie‹? Die ERBAUER?« Roddy wirkte hilflos, als er erwiderte. »Ich wüsste es selbst gern. Ich habe sie nie zu Gesicht bekommen.« »Ich dachte, sie hätten dich geschickt – das sagtest du gerade«, er-
innerte Prosper ihn. Schmerzvolle Erinnerungen zeichneten sich kurz auf Roddys Zügen ab. Dann schüttelte er den Kopf, als könnte er sie auf diese Weise verscheuchen. »Vielleicht zeigen sie sich dir – immerhin bist du ihnen wichtig. Verdammt wichtig.« »Was wollen sie von mir? Wie könnte ich eine Gefahr bannen, vor der offenbar selbst die Herren des Systems kapitulieren?« Roddy wiederholte seine Geste der Hilflosigkeit. »Lass uns aussteigen. Unser Weg ist hier noch nicht zu Ende. Wir müssen über die Energiestraße.« »Aber Portas ist davon abgeschnitten. Das wurde uns immer versichert!« Roddy kramte in seiner Jackentasche und brachte etwas zum Vorschein, das Prosper auf Anhieb erkannte. »Ich habe einen Schlüssel. Einen besonderen Schlüssel. Damit lässt sich eine kurzzeitige Verbindung schalten. Für maximal zwei Personen.« »Dich und mich.« »Zwei Personen«, wiederholte Roddy. Irgendetwas belastete ihn, Prosper spürte es seit ihrer Ankunft im Turm. Er wollte ihn gerade darauf ansprechen, als draußen in dem Raum, wo »Paula« aufgesetzt hatte, aus dem Nichts heraus eine Gestalt materialisierte. Es war nicht das erste Mal, dass Prosper eines dieser Geschöpfe sah, das aussah, als bestünde es aus nichts anderem als in humanoide Form gepresstem All. »Das ist Varx«, sagte Roddy. »Ein Sternling.« »Du kennst ihn?« »Ich würde es anders ausdrücken …« »Was heißt das?« »Das heißt«, ertönte eine Stimme von draußen, die über ein Übertragungssystem ins Innere der Kanzel geleitet wurde, »dass ich die andere Person bin, die den Schlüssel benutzen wird. Wir beide, du, Prosper Mérimée, und ich werden nach Portas gehen. Ich wurde instruiert. Ich werde dich schrittweise in deine Aufgabe einführen.« Prosper schüttelte den Kopf. Fragend sah er Roddy an, während sich seine Stimme an das Wesen draußen wandte. »Und er? Was
wird aus ihm?« In diesem Moment geschah etwas Schauriges. Roddy begann neben Prosper in seinem Sitz zu zerfallen … oder wie immer man es beschreiben wollte. Er verlor jede Festigkeit, wurde zu etwas Rauchähnlichem, das durch das feste Kanzeldach hindurchdiffundierte und sich draußen mit der Substanz des Sternlings vereinigte. Prosper stemmte sich instinktiv aus seinem Sitz. Er war entsetzt. »Was –« »Man hielt es für das Beste, dich in vertrauter Gestalt aufzusuchen. Deshalb wählte man einen Toten, von dem man weiß, dass ihr euch kanntet.« Mit zitternden Lippen fragte Prosper: »Einen … Toten? Heißt das etwa, dass ihr Roddy –« »Wir töten keine Menschen«, fiel ihm Varx ins Wort. »Er starb bei dem Versuch, ihn für das einzusetzen, wofür nun du gebraucht wirst – als unsere letzte Hoffnung.« »Also habt ihr ihn doch umgebracht …« »Du wirst verstehen, wenn du siehst, was dich erwartet.« »Und wenn ich mich weigere?« »Sterben deine Kinder und Kindeskinder.« »Wie kannst du es wagen, mir damit zu drohen? Sie –« »Du missverstehst. Nicht wir würden ihnen ein Leid zufügen. Aber es gibt Kräfte, die vor nichts und niemandem Halt machen, wenn wir ihnen erst gestatten, ins Angksystem zu kommen.« Prosper war wie vom Donner gerührt. Er versuchte zu verdauen, was er gerade erlebt und gehört hatte. Roddy war nicht wirklich Roddy gewesen, sondern ein Trugbild, das man ihm geschickt hatte, um ihn hierher zu lotsen. Wahrscheinlich war das Ding, das diese Lockvogelfunktion übernahm ein Teil des Sternlings namens Varx, der außerhalb des Gleiters darauf wartete, dass Prosper endlich herauskam. Und offenbar war Roddy beim Versuch, für die ERBAUER tätig zu werden, auf Portas gestorben. Jetzt sollte Prosper ihn ersetzen – beziehungsweise es besser machen als Roddy. Was aber auch einfach nur heißen konnte, dass er ebenfalls das Zeitliche segnen würde.
»Bevor ich auch nur einen Schritt hier heraus mache«, wandte er sich an Varx, »verlange ich eine Erklärung. Eine Erklärung, aus der ich entnehmen kann, wer über dich zu mir spricht und was diejenigen genau von mir wollen. Vorher mache ich keinen –« Der primitiv anmutende Gleiter löste sich auf. Prosper sank langsam zu Boden, wo er sitzend zu Varx aufsah. Jetzt gab es nur noch sie beide in dem kobaltblauen Raum. »Du wirst deine Antworten erhalten – aber nicht hier«, sagte der Sternling. »Und jetzt komm. Die Verbindung wurde geschaltet. Das Zeitfenster ist sehr klein. Und auch nur von hier aus ist es möglich, einen Transfer mit Ziel Portas durchzuführen.« Er gab Prosper zu verstehen, dass er zu ihm treten sollte. »Warum – nur von hier aus?« »Das weiß ich nicht.« Es klang ehrlich. Aber was bedeutete das schon? Prosper vermisste Roddy. Der Sternling war ein zweifelhafter Ersatz für den alten Freund, den er wiederzusehen gehofft hatte. Er war getäuscht worden – wurde er es gerade wieder? »Wie wird der Transfer vollzogen?«, fragte er. »Durch mich.« »Über die Energiestraßen …« »Nein.« »Nein?«, wunderte sich Prosper. »Wie dann?« »Das sagte ich bereits – durch mich. Ich meine das wörtlich. Du musst nur … durch mich hindurchschlüpfen.« »Durch dich …« Prosper erinnerte sich, davon gehört zu haben, dass Sternlinge über die Fähigkeit verfügten, sich selbst zu Toren nach … ja, nach überallhin … zu machen. Aber er hatte es immer für ein Märchen gehalten. Die Angkwelten beflügelten die Fantasie. Bei so vielen »Wundern« kam es auf eins mehr nicht an. »Versuch es – es tut nicht weh.« Ein bisschen Schmerz war das Wenigste, wovor Prosper gerade zurückscheute. Es war mehr die absolute Ungewissheit, was ihn nach einem eventuell erfolgreichen Wechsel nach Portas dort erwartete. Würde er dem gewachsen sein? Und warum überhaupt ausge-
rechnet er, nachdem offensichtlich einer wie Roddy bei der Bewältigung der anstehenden Aufgabe versagt hatte? »Wer immer dahinter steckt – wahrscheinlich die ERBAUER …«, seufzte Prosper. »Ihr überschätzt mich. Ihr überschätzt mich alle!« »Du bist eine Hoffnung – wahrscheinlich die letzte, die uns bleibt«, wiederholte Varx, was er schon in der Roddy-Maske behauptet hatte. »Die ERBAUER haben mir in der Vergangenheit vieles angetan, mich zuletzt aber reich beschenkt – bis auf …« Er wollte ihren Namen nicht aussprechen. Sarah. »Menschen sterben«, sagte Varx. »Dafür sind die Bractonen nicht verantwortlich.« »Bractonen nennst du sie.« »So nennen sie sich selbst.« »Das wusste ich nicht.« »Darum geht es jetzt auch nicht.« Varx wirkte zunehmend ungeduldiger, auch wenn sich an seinem reinen Erscheinungsbild nichts änderte. Es war mehr das, was er ausstrahlte. »Okay.« Achselzuckend stellte sich Prosper so vor den Sternling, dass er ihn frontal vor sich hatte. »Wie du schon sagtest, ich habe ja wohl gar keine Wahl. Du hast meine Familie ins Spiel gebracht …« »… und dir erklärt, wie ich es meine …« »… und schon um ihretwillen«, fuhr Prosper ungerührt fort, »werde ich mich darauf einlassen. Ich …« Er zögerte. »Ich gehe jetzt. Beklag dich nicht, wenn ich dir weh tue …« »Das wird nicht passieren.« Prosper wünschte, er hätte die gleiche Zuversicht verspürt. Augen zu und durch, dachte er, trat vehement vor … und erwartete den Zusammenstoß. Stattdessen erfasste ihn ein Sog, der ihn die Augen wieder öffnen ließ. Er wollte sehen, was um ihn herum vor sich ging. Aber dafür war es bereits zu spät – jedenfalls, wenn er hoffte, noch etwas vom eigentlichen Transfer mitzubekommen. Er stand bereits »auf der anderen Seite«. Das ist Portos?, dachte er ungläubig.
Bei ihm befand sich Varx, und im ersten Moment schien das Beweis genug für Prosper gewesen, dass es nicht funktioniert hatte. Es musste ein Unterschied sein, andere zu transportieren … oder sich selbst … Aber die Umgebung sprach eine eindeutige Sprache. Der kobaltblaue Turm war das nicht mehr und auch nicht Gismo. »Ich dachte immer, Portas sei die Hölle«, hörte er sich sagen. »Portas wird die Hölle werden – wenn du es nicht verhinderst«, sagte eine Stimme, die Prosper herumwirbeln ließ. Sie klang anders als die von Varx. Anders als alles jemals Gehörte. Und genauso fremd sah auch der Koloss aus, der sich unweit von ihm erhob. Prosper spürte, dass er an dem Ort angelangt war, wo sich sein Schicksal erfüllen sollte. Was er nicht wusste, war, ob er dazu in letzter Konsequenz bereit war – und ob er danach überhaupt gefragt werden würde … ENDE
Glossar Die RUBIKON Eigentlich RUBIKON II, denn mit der ersten RUBIKON starteten Cloud und andere Astronauten 2041 zum Mars. Die aktuelle RUBIKON ist mit dem irdischen Raumschiff von damals nicht zu vergleichen. Sie geht auf die Hochzivilisation der Foronen aus der Großen Magellanschen Wolke zurück und war über Jahrzehntausende im Zentrum eines gigantischen Würfels versteckt, der eine Kantenlänge von 1 Lichtstunde hat – dem Aquakubus, von seinen Bewohnern Tovah'Zara genannt. Der »gute Geist« des rochenförmigen Raumschiffs ist die Bord-KI. in Anlehnung auf den originalen Schiffsnamen Sesha genannt. Die Ausmaße des Schiffes sind gewaltig, werden aber meist von sogenannten Dimensionswällen eingedämmt: abgeschaltet »explodiert« die RUBIKON förmlich auf das Zehnfache ihrer nach außen vorgegaukelten Größe. Der Rochenraumer bedient sich der Dunklen Energie, um wahlweise zu transitieren oder überlichtschnell und ohne das Kontinuum zu verlassen durch den Weltraum zu reisen. Bei letzterer Variante bewegen sich die Schwingen wie bei einem tatsächlichen Rochen, der durch die Tiefen eines Ozeans gleitet. Ihrer Größe geschuldet, ist die RUBIKON eigentlich eine bewegliche Stadt. Längst sind nicht alle Bereiche bis ins Letzte erkundet. Die Crew bewegt sich in einem Kerngebiet nahe der Bordzentrale mit den sieben Kommandositzen, die wie Sarko-
John Cloud
Assur
phage geschlossen werden können, wodurch eine innige geistige Verschmelzung mit dem Schiff möglich ist. 35 Jahre alt, geb. 2013 als Sohn von Nathan Cloud, dem ersten Marsfahrer. Als Cloud 2041 zum Roten Planeten aufbricht, geht es auch darum, das ungeklärte Schicksal der ersten Marsexpedition unter Leitung seines Vaters aufzuklären – für ihn zumindest. Im Späteren gelingt dies auch. Cloud ist 1,84 m groß, von schlanker, durchtrainierter Statur, dunkelblond, hat mittellanges Haar, blaugraue Augen und markante Gesichtszüge. Seit dem Fund der von den Foronen im Aquakubus versteckten RUBIKON (von ihren Erbauern SESHA genannt), ist Cloud der Commander des Schiffes, dem mit Scobee und Jarvis zwei Gefährten der ersten Stunde zur Seite stehen, sie begleiteten ihn schon bei der damaligen Marsmission, bei der sie alle um 211 Jahre in die Zukunft versetzt wurden – und eine völlig veränderte Erde unter außerirdischer Herrschaft wiederfanden. Kam als Angkgeborene an Bord und bevölkert die RUBIKON seither mit rund fünftausend anderen »Angks«, darunter ihre Tochter Winoa und ihr ExPartner Rotak, mit dem sie liiert war, bevor sie eine Beziehung mit John Cloud einging. Assur hat weißblondes Haar, ist sehr schlank und 1,78 m groß, Augenfarbe grün. Als Angk ist sie in der Lage, ihr geistiges Potenzial bei Bedarf in den Dienst des Raumschiffes zu stellen, ebenso wie alle anderen Angks. Dadurch werden Möglichkeiten eröffnet, über die die RUBIKON vor ihrer Aufrüstung durch die Bractonen nicht verfügte. Jarvis – Eigentlich tot. Doch sein Bewusstsein wurde von einem foronischen Körper aus Nanomaterie
Scobee
aufgefangen und so vor dem Verlöschen bewahrt. Dieser Kunstkörper ist extrem wandelbar, es lassen sich bei Bedarf auch Komponenten abspalten und später wiedervereinen. Dank eines Kristalls der Bractonen, die als die Erbauer des Angksystems und der Ewigen Kette gelten, ist Jarvis in der Lage, sich täuschend echte, beliebige Masken aufzulegen – rein optisch ist er danach nicht mehr von Lebewesen aus Fleisch und Blut zu unterscheiden. Mit einer Ausnahme. Angkgeborene – also der größte Teil der neuen RUBIKON-Crew – durchschauen die Illusion wie selbstverständlich. Für sie sieht Jarvis wie ein Roboter mit humanoider Form aus. Das bevorzugte, kristallgenerierte Erscheinungsbild von Jarvis ist nach wie vor jenes Aussehen, das er als lebender Mensch hatte, das heißt er tritt als 1,85 m großer Mann mit schmalem, energischem Gesicht und streichholzkurzem, steil aufgerichtetem Haar auf. Ursprünglich in vitro gezeugt, gehörte er dem geheimen GenTec-Programm der amerikanischen Regierung an – ebenso wie Scobee und der inzwischen verstorbene Resnick. 1,75 m groß, violettschwarzes, schulterlanges Haar, schlank, Ende zwanzig, Ihr Markenzeichen sind verschnörkelte Tattoos, die sie anstelle von natürlichen Augenbrauen trägt. Ihre Augenfarbe chargiert, je nach Umgebungslicht und Sehweise, der sich Scobee gerade bedient, denn: Ihre Augen funktionieren im Dunkeln wie Restlichtverstärker, was auf ihre Klon-Herkunft hinweist. Auch sie gehörte dem GenTec-Programm der amerikanischen Regierung an. Scobee hatte einmal eine Liaison mit John Cloud, doch das liegt »ewig« zurück. Was Assur nicht daran hindert, ab und zu die Krallen auszufahren – Scobee selbst sieht das gelassener.
Jiim
Yael
Charly
Jelto
Sie hat über das Freundschaftliche hinaus keine Gefühle (mehr) für ihren Commander. Geflügelter Ex-Bewohner des Planeten Kalser, die sich selbst Nargen nennen. Jiim ist ein Freund der Menschen und war lange Zeit im Besitz einer fast metaphysischen goldenen Rüstung namens Nabiss, die zeitweise sogar mit seinem Körper verschmolz. Inzwischen wurde er des Nabiss beraubt. Mit welchen persönlichen Folgen, ist noch unabsehbar. Jiims Sprössling, der einen rasanten Wachstumsprozess hinter sich hat und dessen Gefieder in der Farbe von Jiims einstigem Nabiss erstrahlt: golden. Yael verschlug es kurzzeitig nach Portas, wo ebenso gefährliche wie rätselhafte Dinge vorzugehen scheinen. Nach seiner Rettung von dort kann er sich an nichts mehr erinnern, was mit seinem Aufenthalt zu tun hat. Aber mehr und mehr muss er erkennen, dass er anders als normale Nargen ist und offenbar über gewaltige Kräfte verfügt – allein, er vermag sie in den seltensten Fällen kontrolliert einzusetzen. Ein rätselhaftes Geschöpf, das ursprünglich von Yael ins »Leben« gerufen wurde, inzwischen aber ein Eigenleben entwickelt hat, das niemand so recht einzuschätzen weiß. Höhepunkt dieser »Entartung« ist, dass er offenbar zum Gesandten der Ganf wurde, der sich einen Realkörper aus Nabissmaterie zu Eigen machte. Der frühere Charly konnte von Yael kraft seines Geistes irgendwohin geschickt werden, und Yael vermochte dann durch Charlys Augen die dortige Umgebung zu schauen. Ob das immer noch möglich ist, wurde von Yael noch nicht getestet In der Retorte erschaffener Klon, der über eine
Algorian
Die Treymor
Aura verfügt, die es ihm erlaubt, in Kontakt mit jeder bekannten pflanzlichen Lebensform zu treten. Unter dem Einfluss dieser Aura wird florales Leben von Krankheiten geheilt, zu stärkerem Wachstum angeregt oder einfach nur in ein Klima starken Wohlbefindens versetzt. Jelto hat schockgrüne Augen und asketische Züge. Er ist in der Regel zurückhaltend und fällt keine voreiligen Urteile. Bei der Besatzung ist er beliebt und geschätzt. Von ihm wurde der riesige hydroponische Garten an Bord der RUBIKON angelegt. Doch im Zuge der Besetzung durch die Treymor wurden alle darin befindlichen Pflanzen durch mörderische Strahlung vernichtet. Gegenwärtig ist Jelto um Wiederaufbau bemüht, doch es hat sich einiges in seinem Garten verändert … Telepath und Angehöriger des Volkes der Aorii, groß gewachsen, kahlköpfig und spindeldürr. Die Aorii gehörten CLARON an, dem Bündnis organischer Spezies in der Milchstraße, das sich der Bedrohung durch anorganisches Leben (vornehmlich der Jaynac) entgegenstellte. CLARON ist längst Geschichte, was aus den Aorii im Zuge von Darnoks Zeitentartungs-Feldzug wurde, ist bislang ungeklärt. Algorian ist ein »Zweitling«, der im strengen Kastensystem der Aorii stets hinter seinem »Hassbruder« Rofasch zurückstehen musste. Beide verband aber zugleich eine Art Hassliebe, und noch heute leidet Algorian unter Rofaschs gewaltsamem Tod. käferartige, aufrecht gehende Insektoiden, ca. 1,60 m groß, Facettenaugen, zwei kurze Fühler. Ursprünglich wahrscheinlich nahe des Milchstraßenzentrums ansässig, zwischenzeitlich aber galaxisweit aktiv. Ihr jüngster Coup: Sie haben den Aqua-
kubus unter ihre Kontrolle gebracht und ihn hinter einem Tarnfeld, das eine normale Sonne vorgaukelt, versteckt. Innerhalb des Kubus haben sie die dominierende Spezies, die Vaaren, gezielt ausgerottet. Auch die übrigen Bewohner leiden unter den Eroberern … ohne es jedoch zu merken. Schuld daran ist ein spezieller Stoff, den die Treymor den Wassern des Kubus beimengen und der bei den damit in Berührung kommenden Heukonen und Luuren die Vorstellung schürt, es mit Wohltätern zu tun zu haben. Der Botenstoff macht blind für die Realität … und süchtig nach falschem Glück. Im Herzen des Kubus, der Ewigen Stätte, gehen die Treymor dubiosen Machenschaften nach. In der sogenannten Silberstadt treiben sie die Entwicklung der eigenen Art und Technik voran. Doch entgegen früherer Meinung scheinen sie keine Einzelkämpfer zu sein, sondern mächtige Förderer zu haben, die sogenannten VÄTER aus der fernen Galaxie Eleyson, die sich selbst Aurunen nennen.
Vorschau Meister der Lüge von Manfred Weinland John Cloud und alle Beteiligten müssen die neuen Erkenntnisse erst einmal verdauen – wirklich Zeit dafür bleibt ihnen indes nicht. Es geht nach Portas, auch die Schwellenwelt genannt. Der Planet – oder etwas darauf – scheint der Schlüssel zu sein, um das immer dichter werdende Gespinst von Wahrheit und Lüge zu durchschauen. Eines wird schnell deutlich: Auf Portas ist nichts so, wie von den Bractonen beschrieben. Dafür begegnen sie jemandem, den sie längst tot und vergangen wähnten …