Michel Foucault Die Regierung des Selbst und der anderen Vorlesung am College de France 19 82 / 83 Aus dem Französischen...
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Michel Foucault Die Regierung des Selbst und der anderen Vorlesung am College de France 19 82 / 83 Aus dem Französischen von Jürgen Schröder
Suhrkamp
Michel Foucault Die Regierung des Selbst und der anderen Vorlesung am College de France 19 82 / 83 Aus dem Französischen von Jürgen Schröder
Suhrkamp
Titel der Originalausgabe: Le gouvernement de soi et des autres Cours au College de France (19 82 - I 9 83) © Editions du Seuil und Editions Gallimard 2008 Diese Ausgabe wurde unter der Leitung von Fran~ois Ewald und Alessandro Fontana von Frederic Gros herausgegeben Veröffentlicht mit freundlicher Unterstützung des Französischen Ministeriums für Kultur Centre National du Livre und der Maison des Sciences de I'Homme, Paris
Inhalt
Vorwort Vorlesung I (Sitzung vom 5. Januar 1983, erste Stunde)
13
Vorlesung I (Sitzung vom 5. Januar 1983, zweite Stunde)
43
Vorlesung 2 (Sitzung vom 12. Januar 1983, erste Stunde)
· .,
.....
63
Vorlesung 2 (Sitzung vom 12. Januar 1983, zweite Stunde) .,
.....
87
· .......
104
Vorlesung 3 (Sitzung vom 19. Januar 1983, erste Stunde) Vorlesung 3 (Sitzung vom 19. Januar 1983, zweite Stunde) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 200 9 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgend einer Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Satz und Druck: Memminger MedienCentrum AG Printed in Germany Erste Auflage 2009 ISBN 978-3-518-58537-5 I
2 3 4 5 6 - 14 13 12 II 10 °9
7
Vorlesung 4 (Sitzung vom 26. Januar 1983, erste Stunde) Vorlesung 4 (Sitzung vom 26. Januar 1983, zweite Stunde) Vorlesung 5 (Sitzung vom 2. Februar 1983, erste Stunde)
....... 13 1 ........ 149 .......
173
· .. , ....
194
Vorlesung 5 (Sitzung vom 2. Februar 1983, zweite Stunde)
221
Vorlesung 6 (Sitzung vom 9. Februar 1983, erste Stunde)
23 8
Vorlesung 6 (Sitzung vom 9. Februar 1983, zweite Stunde)
266
Vorlesung 7 (Sitzung vom 16. Februar 1983, erste Stunde)
Vorwort .......
Vorlesung 7 (Sitzung vom 16. Februar 1983, zweite Stunde) Vorlesung 8 (Sitzung vom 23. Februar 1983, erste Stunde)
28 3 3 11
.......
3 27
Vorlesung 8 (Sitzung vom 23. Februar 1983, zweite Stunde)
359
Vorlesung 9 (Sitzung vom 2. März 1983, erste Stunde) ..........
375
Vorlesung 9 (Sitzung vom 2. März 1983, zweite Stunde) .........
4°7
Vorlesung 10 (Sitzung vom 9. März 1983, erste Stunde) ..........
4 24
Vorlesung 10 (Sitzung vom 9. März 1983, zweite Stunde) .........
447
Frederic Gros, Situierung der Vorlesungen .........
47 1
Literaturverzeichnis ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Ausführliches Inhaltsverzeichnis ................
49 1 49 6 5°1
Michel Foucault hat am College de France von Januar 1971 bis zu seinem Tod im Juni 1984 gelehrt, mit Ausnahme des Jahres 1977, seinem Sabbatjahr. Sein Lehrstuhl trug den Titel: »Geschichte der Denksysteme«. Dieser wurde am 30. November 1969 auf Vorschlag von Jules Vuillemin von der Generalversammlung der Professoren des College de France an Stelle des Lehrstuhls der »Geschichte des philosophischen Denkens« eingerichtet, den Jean Hippolyte bis zu seinem Tod innehatte. Dieselbe Versammlung wählte Michel Foucault am 12. April 1970 zum Lehrstuhlinhaber. 1 Er war 43 Jahre alt. Michel Foucault hielt seine Antrittsvorlesung am 2. Dezember 1970 .2 Der Unterricht am College de France gehorcht besonderen Regeln: Die Professoren sind verpflichtet, pro Jahr 26 Unterrichtsstunden abzuleisten (davon kann höchstens die Hälfte in Form von Seminarsitzungen abgegolten werden).3 Sie müssen jedes Jahr ein neuartiges Forschungsvorhaben vorstellen, wodurch sie gezwungen werden sollen, jeweils einen neuen Unterrichtsinhalt zu bieten. Es gibt keine Anwesenheitspflicht für die Vorlesungen und Seminare; sie setzen weder ein Aufnahmeverfahren noch ein Diplom voraus. Und der Professor stellt auch keines aus. 4 In der Terminologie des College de France 1 Michel Foucault hatte für seine Kandidatur ein Plädoyer unter folgender Formel abgefaßt: »Man müßte die Geschichte der Denksysteme unternehmen« (»Titre et Travaux«, in: Dits et Ecrits, 1954-1988, hg. v. Daniel Defert und Fran Welchen Sinn soll man diesem Unternehmen beimessen? Es sind vor allem seine >negativen< oder negativistischen Aspekte, die auf den ersten Blick auffallen. Ein historisierender Negativismus, da es darum geht, eine Theorie der Erkenntnis, der Macht oder des Subjekts durch die Analyse bestimmter historischer Praktiken zu ersetzen. Ein nominalistischer Negativismus, da es darum geht, Universalien wie den Wahnsinn, das Verbrechen und die Sexualität durch die Analyse von Erfahrungen zu ersetzen, die singuläre historische Formen darstellen. Ein Negativismus mit nihilistischer Tendenz, wenn man darunter eine Reflexionsform versteht, die, anstatt Wertsysteme durch bestimmte Praktiken zu indizieren, die jene zu messen gestatten, diese Wertsysteme in das Spiel von willkürlichen Praktiken einordnet, auch wenn diese verstehbar sind. Gegenüber diesen Einwänden oder, streng genommen, >Vorwürfen< muß man eine fest entschlossene Einstellung bewahren. Denn es handelt sich um ,Vorwürfe[... ] vielmehr führte den Platon eine Gottheit, welche, wie es scheint, den Syrakusern von fern her die Freiheit anbahnen und den Sturz der Tyrannenherrschaft vorbereiten wollte, aus Italien nach Syrakus [... }< (ebd.). Ebd. A.a.0.,S.2678. Sophokles, König Oidipus, S. 584-602, übers. v. Wilhe1m Willige, Düsseldorf/Zürich 1999, S. 45· Quintilian, Ausbildung des Redners, Buch VII-XII, hg. und übers. v. Helmut Rahn, Darmstadt 1988: "Das gleiche soll auch von der freimütigen Rede gelten, die Cornificius ,Freiheit< nennt, die Griechen ,Parrhesiec:-,.:ng selbst den geäußerten Inhalt hervorbringt.':' Sie kennen ::5 erzbanale Beispiel: Der Vorsitzende der Sitzung setzt sich sagt: »Die Sitzung ist eröffnet.« Die Äußerung »Die Sit::::g ist eröffnet« ist entgegen ihrem Anschein keine Behaup:_:lg. Sie ist weder wahr noch falsch. Es ist einfach so, und dar.:: kommt es an, daß die Äußerung »Die Sitzung ist eröffnet« ::r::h sich selbst den Sachverhalt herstellt, daß die Sitzung er: ::::et ist. Oder auch, wenn jemand in einem viel weniger ins ti-.::::::malisierten Kontext, der jedoch eine Reihe von Riten und :::':5 ~1anuskript präzisiert: "Das Performativum vollzieht sich in einer
die sicherstellt, daß das Sagen das Gesagte verwirklicht. 86
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eine wohl definierte Situation beinhaltet, sagt: »Ich entschuldige mich«, dann hat er sich tatsächlich entschuldigt, und die Äußerung »Ich entschuldige mich« bringt den ausgesagten Inhalt hervor, nämlich daß sich eine gewisse Person bei einer anderen entschuldigt hat. Betrachten wir nun erneut im Ausgang von diesem Beispiel die verschiedenen Bestandteile der parrhesia, dieser Äußerung einer Wahrheit, und vor allem die Szene, in der sich die parrhesia vollzieht. Mit dem Text Plutarchs befinden wir uns - hier haben wir bis zu einem gewissen Grad einen Bestandteil, den die parrhesia mit den performativen Aussagen teilt - in einer sehr typisierten, sehr bekannten, sehr institutionalisierten Situation: der des Herrschers. Der Text zeigt das ganz gut: Der Herrscher ist da, umgeben von seinen Höflingen. Der Philosoph hat gerade seine Vorlesung gehalten, die Höflinge spenden Beifall. Die andere Szene, die in diesem Text ebenfalls gegenwärtig ist, ist ganz ähnlich und unterscheidet sich kaum: Wieder ist es der Tyrann Dionysios inmitten seines Hofes. Die Höflinge sind da, lachen über Dionysios' Witze, und jemand, nämlich Dion, erhebt sich und ergreift das Wort. Der Herrscher, die Höflinge, derjenige, der die Wahrheit sagt: eine klassische Szene (das war auch, wie Sie sich erinnern, die Szene des Ödipus). Es gibt jedoch einen Unterschied von größter Bedeutung. In einer performativen Äußerung sind die Bestandteile der Situation derart, daß sich, wenn die Äußerung vollzogen wird, eine Wirkung einstellt. Diese Wirkung ist im voraus bekannt, von vornherein geregelt. Es handelt sich um eine kodierte Wirkung, in der gerade der performative Charakter der Äußerung besteht. Während im Gegensatz dazu bei der parrhesia dasjenige, was die parrhesia ausmacht, darin besteht, daß die Einführung oder der Einbruch der wahren Rede eine offene Situation bestimmt oder vielmehr die Situation öffnet und eine Reihe von Wirkungen ermöglicht, die gerade nicht bekannt sind, und zwar gleichgültig, was der gewöhnliche, vertraute, gleichsam institutionalisierte Charakter der Situation ist, in der sie sich vollzieht. Die parrhesia bringt keine kodierte Wirkung hervor,
,.:·.:-,c·ern eröffnet ein unbestimmtes Risiko. Und dieses unbe__ ::-_.'11te Risiko ist offenbar von den Bestandteilen der Situa_:::: abhängig. Wenn man sich in einer Situation wie dieser ist das Risiko gewissermaßen äußerst offen, da der =_:a::-akter, die unbegrenzte Form der Macht des Tyrannen, das _:.c:-schwengliche Temperament Dionysios', die Leidenschafdie ihn beseelen, all das zu den schlimmsten Wirkungen _:':-en und anscheinend in der Tat zu dem Willen führen kann, ::::::::enigen, der die Wahrheit gesagt hat, sterben zu lassen. Sie , der in aller Mund den Namen der Dorer bringt, und den das Küstenland der Pelopsinsel bis nach Rhion hin beherrschenden Achaios> dessen Name der Landschaft und dem Volke bleiben wird« (Euripides, Ion, Verse 159 01593, a. a. 0.> S. 289). 15 A.a.O., Verse 365 und 373-377, S. 253- 2 54. 16 »Dessen Rätselwort du mißverstandest« (ebd., Vers 533> S.25 8). 17 Vgl. oben, Anm. 8. 18 Euripides, Ion, Vers 355, a.a.O., S.253· 19 Ebd., Vers 365, S.253· 20 Ebd., Vers 366. 21 Ebd., Vers 368. 22 Ebd., Verse 369-372. 23 Ebd., Vers 370. Um die Ungerechtigkeit Apollons zu bezeichnen, verwendet Ion tatsächlich das Adjektiv kakos (»Denn wenn, im eig'nen Haus so bloßgestellt (kakos phaneis) Phoibos [Apollon] dafür den Künder büßen ließe, wär's zu verwundern? (dikaios), ebd., Verse 37037 2 ). 24 Ebd., Verse 1557-1559, S.288. 25 Ebd., Vers 338, S. 253 (Kreusa spricht lediglich von einer Freundin: "Sie sagt mir, Phoibos habe sie verführt.«) 26 Vgl. oben, Anm.23· 27 »Dom on ton exionti tou theoU« (beim Heraustreten aus dem göttlichen Tempel) (Euripides, Ion, Vers 535, a.a.O., S.259)· Ausdrückliches Wortspiel im Vers 802 (Xuthos' Sohn, sagt der Chor, heißt »Ion«, weil er ihm als erster begegnet ist, ebd., S. 267) und im Vers 83 I (»Nachträglich hat er dann den schönen Namen für ihn erdacht, hat Ion ihn genannt, weil unterwegs er ihm begegnet ist [Ion, ionti dethen hoti synenteto}'9 81 ), (dt.: Fortdauer des Theologisch-Politischen, Wien 1999), und ,La Question de Ja democratie« (1983). Diese Texte werden in Essais 5:,r le politique (Paris 1986) wieder aufgenommen. ; Euripides, Die Phoinikierinnen, Verse 388-394, in: Tragödien, Zürich "nd München 1990, S. 408. o ,·Ein Sklav' (doulo tod' eipas), der, was er denkt, nicht sagen darf« (ebd., \"ers 392). : >,Fluch sei der ersten Frau, die einst gewagt, ihr Ehebett zu schänden mit fremdem Mann!« (Euripides, Hippolytos, Verse 4°9-4 12 , in: Tragödien, a.a. 0., S. 122). »Vornehme Häuser machten mit dieser Pest der Frauenwelt den Anrang. Wenn Hochgebor'nen Schimpfliches beliebt, hält's bald für schön ,;.uch das gemeine Volk« (ebd., Verse 40 9-4 I2 ). , - > \vie finden nur sie, Meeresherrin K ypris, den Mut, ins Auge dem Ge2I9
mahl zu sehen und bangen nicht, die ihnen half, die Nacht, ja, selbst des Hauses Wände möchten reden?« (ebd., Verse 4 1 5-4 18 ). 13 Ebd., Verse 421 -4 2 5. 14 Euripides, Die Bakchen, Vers 668, in: Tragödien, a. a. 0., S. 52 5. 15 Ebd., Verse 669- 6 n 16 Euripides, Orestes, Verse 884-930, in: Sämtliche Tragödien, Stuttgart 1958, S.270- 271. 17 »[...] trat auf ein Herold und begann: >Wer unter euch verlangt zu reden (tis chrezei legein )Platon (der Bürger des demokratischen Athen), so scheint es, stellt sich, als verstehe er sich auf das Wesen der Demokratie, und doch ist er niemals öffentlich als Redner aufgetreten, obschon es ihm freistand vor dem Volk zu reden und ihm die besten Ratschläge zu erteilen.< Darauf wäre folgendes zu erwidern: Platon ist zu spät für sein Vaterland geboren worden; er fand sein Volk bereits in absteigender Lebenskraft; durch die Schuld der früheren Staatsmänner war es an ein Verhalten gewöhnt, das sich mit vielem, was er geraten hätte, nicht in Einklang befand. Ihm wäre nichts lieber gewesen, als einem Volke so getreulich wie seinem eigenen Vater mit seinem Rate zu dienen, doch sagte er sich, daß er sich damit nur für nichts und wieder nichts Gefahren aussetzen und keinen Nutzen schaffen würde« (Platon, V. Brief, a. a. 0., S. 4I). , Charmides war Platons Onkel mütterlicherseits (er war einer der Zehn, die mit der politischen Aufsicht Piräus' betraut waren) und Kritias der Cousin seiner Mutter (er war einer der unumstrittenen Führer des extremistischen Zweigs der Dreißig). Beide starben 403 bei einer Schlacht, in der die Demokraten versuchten, Piräus zurückzuerobern. eingehender ich also dies alles mit prüfendem Blicke betrachtete und ie mehr ich an Jahren heranreifte, desto mehr Bedenken stiegen in mir auf gegen die Richtigkeit meines Vorhabens, mich der Staatsverwaltung zu widmen. Denn einerseits, so sagte ich mir, ist die Ausführung eines solchen Planes nicht möglich ohne die Hilfe von Freunden und zuverlässigen Genossen (aneu phiIon andron kai hetairon piston)« (Platon, \'Ir. Brief, pA a.a.O, S.47). - "Dabei fuhr ich zwar fort darüber nachzudenken, wie sich in dieser Hinsicht und im gesamten staatlichen Leben überhaupt ein Umschwung zum Besseren finden ließe, für das eigene praktische Eingreifen wollte ich aber auf den günstigen Zeitpunkt (tou de prattein au perimenein aei kairous) warten« (Ebd., 325d-p6a, S.48). "Es wird also die Menschheit, so erklärte ich, nicht eher von ihren Leiden erlöst werden, bis entweder die berufsmäßigen Vertreter der echten
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28r
kann auch der Philosoph, wenn er nicht nur das Problem seiner selbst, sondern auch das des Staats behandeln soll, sich nicht damit begnügen, einfach nur logos zu sein, nur der zu sein, der die Wahrheit sagt, sondern er muß derjenige sein, der mitwirkt, der sich an das ergon heranwagt. Worin besteht nun diese Mitwirkung am ergon? Sie besteht darin, der wirkliche Berater eines wirklichen Politikers im Bereich politischer Entscheidungen zu sein, die er wirklich treffen muß. Ich glaube, daß, wenn der logos sich tatsächlich auf die Bildung des idealen Staats bezieht, das ergon, das die Aufgabe des Philosophen gegenüber der Politik vervollständigen soll, in Wirklichkeit jene Aufgabe des politischen Beraters ist und der Entwicklung der Rationalität der wirklichen Staatsführung gilt, die über die Bildung der Seele des Fürsten verläuft. Aufgrund der direkten Mitwirkung an der Verfassung, am Fortbestand und der Ausübung einer Regierungskunst durch die parrhesia wird der Philosoph im Bereich der Politik kein bloßer logos sein, sondern entsprechend dem Ideal der griechischen Rationalität wird er sowohl logos als auch ergon sein. Der logos ist in Wirklichkeit nur dann vollständig, wenn er in der Lage ist, zum ergon zu führen und es gemäß den notwendigen Prinzipien der Rationalität zu gestalten. Aus diesem Grund, so Platon, mußte er Dion treffen. Nächstes Mal werde ich den VII. Brief abschließen und zu den anderen Problemen übergehen, die von der Geschichte der parrhesia und ihren Praktiken aufgeworfen werden.
Anmerkungen
und wahren Philosophie zur Herrschaft im Staate (eis archas elthe tas politikas) gelangen oder bis die Inhaber der Regierungsgewalt (ton dynasteuonton) in den Staaten infolge einer göttlichen Fügung sich zur ernstlichen Beschäftigung mit der echten Philosophie entschließen« (ebd., 326a-b, S.48). 9 Ebd., 327 a- b, S·49f. 10 Ebd., 326c. I I Ebd., 328b. 12 >>>Auf welche Umständegünstiger (tinas gar kairous) als die jetzt durch irgend welche göttliche Fügung eingetretenen, wollen wir denn warten ?«< (ebd., 327e, S. 50). 13 Ebd., 328b, S. 51 und 328d-e, S. 52· 14 »So erwog ich denn die Sache hin und her, aber trotz alles Schwankens, ob ich die Reise antreten und dem Ruf folgen sollte oder wie, siegte doch die Überzeugung von der Notwendigkeit der Sache: wenn man jemals daran gehen wollte, meine Entwürfe für Gesetzgebung und Staats ordnung zu verwirklichen (apotelein egcheiresoi), so sei jetzt der Zeitpunkt, wo man den Versuch wagen müßte; denn hätte ich nur den Einen völlig für mich gewonnen, so wäre damit alles erhoffte Gute glücklich erreicht. Erfüllt von solchen Gedanken segelte ich in gutem Vertrauen von der Heimat ab, von ganz anderen Beweggründen bestimmt als sie mir von manchen unterlegt wurden. Vor allem bestimmte mich dabei die Achtung vor mir selbst: ich wollte vor mir selbst nicht so schlechthin als ein bloßer Vertreter der Theorie erscheinen (me doxaimi pote emauto pantapasi logon mon on atechnos einai), der sich aus freien Stücken niemals an die Tat heranwage (ergou de oudenos an pote hekon anapsasthai)« (ebd., 328b-c, S. 51 f.). 15 Ebd.
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Vorlesung 7 (Sitzung vom 16. Februar 1983, erste Stunde)
ergon. - Vergleich mit dem Alkibiades. - Die Wirklichder Philosophie: die furchtlose Ansprache an die Macht. - Erste Bedin·u:g der Wirklichkeit: die Anhörung, der erste Zirkel. - Das philosophiWerk: eine Wahl; ein Fortgang; eine Anwendung. - Die Wirklichkeit Philosophie als Arbeit an sich selbst (zweiter Zirkel).
=.:5 philosophische
=-"rztes Mal waren wir bei der Analyse des VII. Briefs ange,c:'mmen, der von Platon verfaßt wurde bzw. ihm zugeschrie:o"Cl wird. Jedenfalls handelt es sich um einen Text, der besten:llls aus Platons Altersperiode stammt oder schlimmstenfalls l:.lf seine allerersten Nachfolger zurückgeht. Sie wissen, daß l:"ser Text die Form eines Briefes hat, der an Platons sizilianii:he Freunde gerichtet sein soll, d. h. an die Umgebung Dions, :'l er jedenfalls nach Dions Tod geschrieben wurde. Der Brief ~:chtet sich offenbar an Dions Freunde und ist tatsächlich eine .~crt von politischem Manifest, von offenem Brief, in dem der .-':..uror insgesamt drei Gruppen von Überlegungen anstellt. Er,t"ns berichtet er von der Reihe von Ereignissen, die sich zu;"tragen hat, um sein Verhalten in Sizilien und gegenüber Dio=: '.·sios zu rechtfertigen: Einladung, Reise, Aufenthalt, die von =>ionysios erlittenen Ungerechtigkeiten, die falschen Verspre:hungen, die Platon und Dion gemacht wurden usw. Die zweit:: Gruppe von Betrachtungen neben denjenigen, die sich auf Ereignisse bezogen, besteht in einer Art von politischer Autobiographie, in der Platon den Weg beschreibt, den er seit ,,,iCler Jugend und insbesondere seit den beiden großen Ent:.iuschungen, die er in Athen erlebte, zurückgelegt hat. Zuerst :.:nter der aristokratischen Herrschaft der Dreißig und an'..:hließend bei der Rückkehr der Demokratie, um deren Willen Sokrates' Verurteilung zum Tode sanktioniert worden war. S·chließlich erklärt Platon in der dritten Gruppe von Betrachtungen in allgemeineren Begriffen, was es für ihn bedeutet, ei::em Fürsten Ratschläge zu erteilen, was es für ihn bedeutet, in 28 3
den Bereich der politischen Tätigkeit einzutreten und dort bei den Machtausübenden die Rolle bzw. die Person des symboulos, des Beraters in politischen Angelegenheiten zu spielen. Wir waren also an jenem Punkt angelangt, wo Platon erklärt, wie und warum er dazu geführt wurde, nach Sizilien zu fahren, seine chronologisch zweite Reise nach Sizilien zu unternehmen, die jedoch seine erste politische Reise war. Bei seiner ersten Reise hatte er nur Dion kennengelernt, wie Sie sich erinnern. Er war von dessen Intelligenz bezaubert, hatte ihn Philosophie gelehrt und war dann nach Athen zurückgekehrt. Als er nach Griechenland zurückgekehrt war, hatte er eine Aufforderung von Dion erhalten, um ein zweites Mal nach Sizilien zu kommen, dieses Mal jedoch in einer relativ genau bestimmten politischen Rolle, auf jeden Fall mit einer politischen Aufgabe oder Mission, da es darum ging, als politischer Berater zu dienen, und zwar genauer als Pädagoge für den Machterben in Syrakus, nämlich für Dionysios den Jüngeren. Die Frage, die Platon in der Passage des Briefs, die ich jetzt erläutern möchte, beantworten will, ist folgende: Warum war er bereit zu gehen, warum hat er die Aufforderung und das politische Spiel, das man ihm vorschlug, angenommen? Warum war er in Syrakus bei jener Person, die doch der Erbe eines Despotismus war, dessen Prinzip gegenüber Platon jedenfalls feindlich eingestellt war? Warum hat er eingewilligt zu kommen? Um diese Erklärung zu geben, hatte Platon zwei Gruppen von Überlegungen geltend gemacht. Überlegungen, die sich auf die Gelegenheit beziehen, auf das, was er den kairos nennt (die Gelegenheit). Sie erinnern sich vielleicht: Im Hinblick auf die Tatsache, daß er auf die Mitwirkung an jeglicher politischen Tätigkeit in Athen verzichtet hatte, hatte Platon als Grund angegeben, daß er in einer so schlimmen Situation, in der Athen sich befand, keine Aufhellung, keine Besserung für möglich hielt. Zu keiner Zeit hatte er geglaubt, daß sich so etwas wie ein kairos, eine Gelegenheit bieten würde. Vielmehr ist es nun das Heraufkommen eines neuen Monarchen, die Jugend dieser Person, Dionysios', die Tatsache, daß Dion ihn Platon als je-
_\n dieser Stelle waren wir letztes Mal also angekommen, und . glaube, daß hier ein wichtiger Punkt liegt. Es ist ein wichtiser Punkt, weil er eine Frage stellt, die zugleich sehr vertraut, sehr naheliegend, leicht zu durchschauen, dann aber auch sehr ::nkJar ist, und andererseits, weil dieser Text, in dessen ganzem ':erlauf die Frage nach dem philosophischen ergon (nach der ."l.ufgabe) gestellt wird, sie in Begriffen stellt, die, glaube ich, :iberraschen müssen, wenn man sie mit den anderen platoni;;ehen Texten oder zumindest mit einem gewissen Bild und ei-
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:nanden vorstellt, der sich wirklich der Philosophie widmen Außerdem ist es jemand, dessen Umgebung, die von Dion ~'1spiriert wird, sowohl der Philosophie als auch Platon gegen:iber gänzlich wohlgesonnen ist. Und schließlich besteht das .etzte wichtige Argument - weil wir diesem sehr häufig in der Theorie des Fürstenberaters bzw. der Beratung des Fürsten bef:egnen - in der Tatsache, daß im Gegensatz zu einer Demokra::e, in der man viele, d. h. die Masse (plethos) überzeugen muß, es hier im Falle einer Monarchie genügt, einen einzigen Menschen zu überzeugen. Einen einzigen Menschen überzeugen, :.md die ganze Arbeit ist erledigt. 1 Das steht in Platons Text. end es ist das Prinzip bzw. das Motiv, das dafür verantwortlich :st, daß, wenn der Fürst tatsächlich eine Reihe von ermutigen:::en Zeichen gibt, man darin einen kairos erblicken kann. Eine einzige Person, die zu überzeugen ist, und dazu noch eine Person, die sich überzeugen lassen will. Das ist der Aspekt des kaiTOS. Nun zu Platon selbst, warum wollte er die sich dergestalt Jietende Gelegenheit ergreifen? An dieser Stelle nennt Platon, "J.-ie Sie sich erinnern, zwei Motive. Eines dieser Motive ist die ,7bilia, seine Freundschaft zu Dion. Das andere Motiv - genau m diesem Punkt waren wir stehengeblieben - ist der Umstand, :::aB Platon, wenn er die von Dion vorgeschlagene Mission ab,ehnen würde, wenn er es ablehnen würde, die ihm darge bote:::e Aufgabe in Angriff zu nehmen, den Eindruck hätte, daß er selbst nur logos, einzig und allein Diskurs sei, während er doch :-Iand an das ergon (d. h. an die Aufgabe, die Arbeit) legen
ner Interpretation vergleicht, die man gewöhnlich von Platon und dem späten Platonismus gibt. Um dieses Problem des philosophischen ergon (der philosophischen Aufgabe) mit Bezug auf die Politik etwas genauer zu analysieren, möchte ich zum Zweck der Problemmarkierung einen Augenblick auf einen Text zurückkommen, über den wir letztes Jahr gesprochen haben, einen Text, der übrigens ganz rätselhaft war, weil seine Datierung viele Ungewißheiten aufweist und weil er von der philosophischen Aufgabe ein ganz anderes Bild zeichnet als das, womit wir es nun zu tun haben werden. Sie erinnern sich, dieser Text ist der Alkibiades, jener Dialog, der sich im Hinblick auf eine Reihe von Aspekten als Jugendwerk darstellt - mit demselben Drehbuch, derselben Szenenmalerei, denselben Wendepunkten, derselben Art von Personen -, dann aber wieder in einer anderen Hinsicht eine große Anzahl von Elementen enthält, die auf die Spätphilosophie Platons verweisen. Wie dem auch sei, Sie erinnern sich vielleicht an die Situation, die in diesem Dialog dargestellt wird. Es geht nämlich auch im Alkibiades um das Eingreifen des Philosophen auf der politischen Bühne. 2 Was war nun die Gelegenheit, was war der kairos, der dafür verantwortlich war, daß sich Platon in diesem Dialog auf gewisse Weise in die Politik einmischte? Die Situation bzw. die Gelegenheit war folgende: Alkibiades, der ganz junge Alkibiades, gehörte aufgrund seiner Geburt, seiner Vorfahren, seines Vermögens, seines allgemeinen Status de facto natürlich den allerersten Bürgern des Staats an. Platon bemerkte jedoch sehr wohl, oder vielmehr ließ er diese Bemerkung Sokrates machen, daß Alkibiades in Wirklichkeit keineswegs die Absicht hatte, sein ganzes Leben (katabionai)3 unter den ersten zuzubringen, sondern daß er uneingeschränkt und ausschließlich der Erste sein wollte, und zwar als einziger nicht nur in seiner Stadt, die er überzeugen und in die Hand nehmen wollte, sondern auch im Hinblick auf alle anderen Herrscher, da er die Feinde Athens, wie Sparta oder den König von Persien, besiegen wollte, die er für seine persönlichen Rivalen hielt. Mit Bezug auf dieses Vorhaben,
e;e·t;ches haargenau das Problem der parrhesia im Kontext der ;::.tmokratie stellt, ergreift nun Sokrates das Wort. Ich sagte, handelt sich um das Problem der parrhesia im Kontext der ;::i:mokratie«, weil es gerade um folgendes geht: Obwohl jeder :l:sächlich das Recht hat, das Wort zu ergreifen, haben einige, ~ic":1lich die ersten, die Aufgabe, die Funktion oder Rolle, auf ~t anderen Einfluß zu nehmen. Das Problem ist nun, ob es in ~:tsem agonistischen Spiel der ersten und der anderen und der c:;ten untereinander möglich, legitim und wünschenswert ist, es einen einzigen gibt - wie es übrigens Perikles war -, der .:t'1 Sieg über die anderen davonträgt. ;::=.:5 war das Problem der parrhesia. Wir haben es mit jener be-':::htigten Krise, mit jener berüchtigten Problematik der par.. :'esia zu tun, die ganz offensichtlich die Funktionsweise der ;::Jcmokratie charakterisiert und allgemein die Funktionsweise ,,:ner Reihe von politischen Institutionen Griechenlands zu je;.t~ Zeit. In diesem Sinne fällt auf, daß wir es trotz der Ver;.:hiedenheit des Kontextes mit einer Situation zu tun haben, .::t ein wenig derjenigen Platons entspricht, der Dionysios be-lren soll. Hier ist es kein Tyrann, ein Despot oder ein Monden Sokrates beraten soll, sondern ein junger Mann, der ':e, Erste sein will. Platon dagegen wird es mit jemandem zu ::.::: haben, der der Erste aufgrund seines Status und seines Er: eS und aufgrund der Struktur der politeia selbst ist. In beiden ?ällen geht es jedoch darum, sich an die jeweiligen Personen zu "'enden, mit ihnen zu sprechen, ihnen die Wahrheit zu sagen, "on der Wahrheit zu überzeugen und dadurch ihre Seele zu :tgieren, die Seele derer, die die anderen regieren sollen. Es be;:tht also eine Analogie in der Situation trotz des unterschied:;:hen politischen Kontextes. Dennoch scheint mir - das wird ::::er der Leitfäden sein, denen ich heute in meinem Referat :.:Igen werde -, daß zwischen dem Alkibiades (und der Rolle, .:::e Sokrates gegenüber Alkibiades spielt) und Platon (Platon in ,tiner Rolle gegenüber Dionysios) eine ganze Reihe von äu::trst beträchtlichen Unterschieden bestehen, die so etwas wie ::::e Spaltung in der platonischen Philosophie vorzeichnen.
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Jedenfalls springt ein erster Unterschied unmittelbar ins Auge. Im Falle von Alkibiades und Sokrates mußte nämlich Sokrates ebenfalls auf die Frage antworten: Warum schaltest du dich bei Alkibiades ein? Auf genau diese Frage antwortet der Anfang des Dialogs. Sokrates erklärte: Ich interessiere mich für Alkibiades, obwohl ich mich zu der Zeit, als Alkibiades von so vielen anderen begehrt und bedrängt wurde, zurückgehalten hatte. Ich habe mich bis jetzt zurückgehalten, aber nun, da AIkibiades etwas älter geworden ist und die Liebhaber, die ihm nachstellen, weniger zahlreich sind und sich bald von ihm abwenden werden, wage ich mich vor. Warum wage ich mich vor? Nun eben weil Alkibiades die erste Stelle im Staat einnehmen, in den ersten Rang vorrücken, ganz allein die Macht ausüben will. Das ist der kairos. Und wenn ich diesen kairos ergreife, dann aus Liebe zu Alkibiades. Der eros, den ich für AIkibiades empfand und den ich auf die Weisung des Gottes bis jetzt behielt, ist derselbe, der jetzt bewirkt, daß ich diesen kairos (diese Gelegenheit) ergreife, der im Willen Alkibiades' besteht, dem Staat vorzustehen und ihn zu führen. Wenn wir diese Situation und die sokratische Rechtfertigung in bezug auf Alkibiades vergleichen, sehen wir, daß der Unterschied bei Platon bzw. in der Situation Platons gegenüber Dionysios hervorsticht. Zwar ergreift auch Platon den kairos, aber warum ergreift er ihn? Nicht aus einem Verhältnis, das von der Art des eros wäre, sondern aus einer Art von innerer Verpflichtung, die nicht so sehr als Begehren aus der Seele des Philosophen erwächst, sondern die Aufgabe der Philosophie selbst ist, die darin besteht, nicht bloß logos zu sein, sondern auch ergon. Oder genauer, der Philosoph selbst soll nicht bloß logos (Diskurs, bloßer, reiner Diskurs) sein. Er soll auch ergon sein. Diese Verpflichtung, und nicht mehr der eros, ist es, was seitens des Philosophen den Grund dafür darstellt, daß er den kairos (die Gelegenheit) ergreift. Offensichtlich haben wir es hier nicht nur mit einer kleinen Verschiebung zu tun, die dafür verantwortlich ist, daß das Motiv, in den Bereich der Politik einzugreifen, nicht das Begehren des Philosophen gegenüber der 288
?erson ist, an die er sich wendet, sondern die innere Verpflichrc.:ng der Philosophie als logos, darüber hinaus noch ergon zu sein. Das ist die erste Bemerkung, die ich machen wollte. :::::>ie zweite besteht in folgendem. Insofern ihn die Vorstellung :=:eunruhigt, er könne nichts weiter als Diskurs (logos) sein, scheint mir der Philosoph (Platon) ein Problem aufzuwerfen, c.:nd zwar ein Problem, das, wie ich zuvor schon sagte, zugleich "ertraut und unklar ist. Wenn es ihn beunruhigt, nur logos zu sein, wenn er sich an die Aufgabe (an das ergon) selbst herano;'i,'agen will, an statt bloß logos zu sein, dann scheint mir, daß ?lawn eine Frage aufwirft, die man die Frage nach der Wirk:ichkeit der Philosophie nennen könnte. Was ist die Wirklich",eit der Philosophie? Wo läßt sie sich finden? Man sieht sofort, die Art und Weise, wie Platon die Frage stellt, zeigt, daß ihn und zumindest in diesem Augenblick die Wirklichkeit der Philosophie jedenfalls nicht, nicht mehr oder nicht bloß im ,":;gos besteht. 'cX'ir müssen die Frage »Was ist die Wirklichkeit der Philoso?hie ?« etwas genauer eingrenzen. Ich glaube, daß diese Frage ::lach der Wirklichkeit der Philosophie nicht darin besteht, daß man sich fragt, was für die Philosophie das Wirkliche ist. Sie besteht nicht darin, sich zu fragen, auf welchen Gegenstand Jder auf welche Gegenstände sich die Philosophie bezieht. Die Frage besteht nicht darin, was das Wirkliche sei, auf das sich die Philosophie bezieht und mit dem sie sich auseinandersetzen muß. Sie besteht nicht darin, woran man messen könne, ob die Philosophie die Wahrheit sagt oder nicht. Die Frage ::lach der Wirklichkeit der Philosophie zu stellen, wie es der \'11. Brief anscheinend tut, heißt, sich zu fragen, was der Wille, die Wahrheit zu sagen, diese Tätigkeit des Wahrsprechens, dieser vollkommen besondere und einzigartige Akt der Veridiktion, der sich Philosophie nennt - und der sich übrigens :äuschen und das Falsche sagen kann -, in seiner Wirklichkeit selbst ist. Mir scheint, daß es um folgende Frage geht: Wie, auf welche Weise fügt sich das philosophische Wahrsprechen, diese besondere Form der Veridiktion, die die Philosophie ist, in 28 9
die Wirklichkeit ein? Schematisch gesehen, scheint mir, daß sich in der Frage, die durch jene Beunruhigung über die Philosophie, die nicht nur logos, sondern auch ergon sein soll, gestellt wird, auf sehr flüchtige, aber doch völlig entschiedene Weise nicht die Frage ausspricht, abzeichnet oder erhellt, was die Wirklichkeit ist, die zu sagen gestattet, ob die Philosophie das Wahre oder das Falsche sagt. Statt dessen: Was ist die Wirklichkeit dieses philosophischen Wahrsprechens, was ist dafür verantwortlich, daß es sich dabei nicht bloß um einen vergeblichen Diskurs handelt, gleichgültig ob dieser nun die Wahrheit sagt oder nicht? Die Wirklichkeit des philosophischen Diskurses, darum geht es in dieser Frage. Und die Antwort, die in jenem einfachen Satz gegeben oder eher skizziert wird, an den ich letztes Mal erinnerte und mit dem ich nun wieder beginne - nämlich daß der Philosoph nicht bloß logos sein, sondern Hand an das ergon legen will-, die Antwort, die wir nun zu entwickeln versuchen müssen, erscheint in ihrer ganzen Einfachheit: Die Wirklichkeit, der Beweis, durch den sich die Philosophie als wirklich erweist, ist nicht der logos selbst, nicht das Spiel innerhalb des logos selbst. Die Wirklichkeit, der Beweis, durch den die philosophische Veridiktion sich als wirkliche erweisen wird, ist die Tatsache, daß sie sich an den wendet, wenden kann oder den Mut hat, sich an den zu wenden, der die Macht ausübt. Es soll hier kein Mißverständnis geben. Ich meine keineswegs, daß hier in diesem Text Platons eine bestimmte Funktion der Philosophie bestimmt würde, die darin bestünde, die Wahrheit über die Politik, die Gesetze, die Verfassung zu sagen und brauchbare und wirksame Ratschläge bezüglich der zu treffenden Entscheidungen zu geben. Im Gegenteil werden wir beispielsweise in diesem Text selbst sehen, wie Platon die Tatsache, daß der Philosoph Gesetze vorschlagen kann, beiseite schiebt oder zumindest an einen ganz besonderen und keineswegs zentralen Ort verlagert. Es geht nicht darum, die Wahrheit über die Politik zu sagen, nicht einmal darum, gebieterisch zu diktieren, was entweder die Verfassung der Staaten oder die 29°
~'01irik bzw. die Regierung der Staaten sein soll, wodurch der ~,~ilosophische Diskurs seine Wirklichkeit erhält. Mir scheint, --,; die Philosophie für Platon in diesem Text ihre Wirklichkeit dem Zeitpunkt unter Beweis stellt, wo sie in völlig verschie-==n.artigen Formen in den politischen Bereich eintritt: Gesetze -==Den, einem Fürsten Ratschläge erteilen, eine Masse überzeu;::n usw. In diesen verschiedenartigen Formen, von denen kei:":e wesentlich ist, tritt sie in den politischen Bereich ein, indem jedoch immer gegenüber anderen Diskursen ihre eigene Bes,)n.derheit verdeutlicht. Gerade dadurch unterscheidet sie sich 'on der Rhetorik. Die Rhetorik - darauf werden wir viel aus~ihrlicher zurückkommen müssen - ist von diesem Gesichts?::nkt der Philosophie aus nichts anderes als das Mittel, durch :as derjenige, der die Macht ausüben will, nichts anderes tun :;.;mn, als genau das zu wiederholen, was die Masse will oder ,QS die Führer oder der Fürst wollen. Die Rhetorik ist ein Mitdas ermöglicht, die Menschen von dem zu überzeugen, wo'on sie ohnehin schon überzeugt sind. Die Bewährungsprobe :::r Philosophie, die Realitätsprüfung (epreuve de realite) der Philosophie besteht im Gegensatz dazu nicht in ihrer politisohen Wirksamkeit, sondern in der Tatsache, daß sie mit ihrer oigenen Besonderheit in das Feld der Politik eintritt und ihr eigenes Spiel gegenüber der Politik verfolgt. Dieses eigentüm.iohe Spiel gegenüber der Politik, diese Realitätsprüfung der Philosophie gegenüber der Politik möchte ich nun etwas erläut::rn, indem ich bloß folgendes festhalte - weil ich glaube, daß lies doch in der Geschichte des philosophischen Diskurses sehr wichtig ist: jene kurze Passage des VII. Briefs, wo der Philosoph nicht bloß logos sein, sondern auch Hand an die WirkEchkeit legen will, scheint mir einen der Grundzüge dessen zu kennzeichnen, was die Praxis der Philosophie im Abendland :sr und sein wird. Es ist richtig, daß für lange Zeit und auch [,eute noch manche gedacht haben und denken, daß die Wirk:ichkei t der Philosophie darauf beruht, daß die Philosophie die ';:\'ahrheit sagen kann, insbesondere über die Wissenschaft. Lange Zeit glaubte man und meint man immer noch, daß die 29 1
Wirklichkeit der Philosophie im Grunde darin besteht, die Wahrheit über das Wahre, die Wahrheit des Wahren sagen zu können. Mir scheint jedoch, jedenfalls zeichnet sich das in Platons Text ab, daß es eine ganz andere Weise gibt, das zu kennzeichnen, was die Wirklichkeit der Philosophie, die Wirklichkeit der philosophischen Veridiktion sein kann, als daß diese Veridiktion, wie gesagt, das Wahre oder das Falsche sagt. Diese Wirklichkeit zeichnet sich dadurch aus, daß die Philosophie die Tätigkeit des Wahrsprechens, der Veridiktion gegenüber der Macht ist. Außerdem scheint mir, daß das seit mindestens zweieinhalb Jahrtausenden mit Sicherheit eines der beständigen Prinzipien ihrer Wirklichkeit war. Jedenfalls möchte ich I.1men heute zeigen und sagen, wie dieser VII. Brief und seine verschiedenen Weiterentwicklungen als ein Nachdenken über die Wirklichkeit der Philosophie aufgefaßt werden können, die sich in der Veridiktion manifestiert, welche im Spiel der Politik ausgeübt wird. Ich werde diesen Brief, der sehr komplex ist, nicht in allen seinen Windungen und Einzelheiten verfolgen, sondern zum Zwecke der Schematisierung möchte ich seinen Gehalt unter zwei großen Fragen anordnen. Erstens scheint mir, daß dieser Brief in mehreren seiner Passagen, von denen die einen direkt aufeinanderfolgen, während die anderen auf diesen oder jenen Ort der Gesamtentwicklung verteilt sind, auf folgende Frage antwortet: Unter welchen Bedingungen kann der philosophische Diskurs sicher sein, daß er nicht bloß logos ist, sondern wohl auch ergon im Bereich der Politik? Mit anderen Worten, unter welchen Bedingungen kann der philosophische Diskurs seiner Wirklichkeit begegnen, seine Wirklichkeit vor sich selbst und den anderen bezeugen? Die zweite Reihe von Fragen lautet: Was hat die Philosophie in dieser Funktion der Wirklichkeit, die sie ausübt, im Annehmen ihrer Wirklichkeit im Bereich der Politik wirklich zu sagen? Diese zweite Reihe von Fragen ist tatsächlich so sehr mit der ersten verknüpft, sie leitet sich so unmittelbar von ihr ab, daß man sie recht knapp zusammenfassen kann, wie Sie sehen werden. Dagegen haben wir zur 29 2
;'ersten Reihe von Fragen (d. h. unter welchen Bedingungen kann =~n logos, der sich als philosophischer Diskurs versteht und be::auptet, die Hand an sein eigenes Werk legen; unter welchen Bedingungen kann er erfolgreich die Prüfung auf Wirklichkeit :estehen?) drei oder vier Texte, die uns aufklären können. Jer erste Text, über den ich sprechen möchte [... ':.], steht bei .3:) c-3 3 I d. Damit der philosophische Diskurs tatsächlich sei:Ce Wirklichkeit finden kann, damit er als philosophische Veri;:~ktion wirklich sein kann und nicht nur eitles Gerede ist, bedie erste Bedingung - die paradox erscheinen mag - jene, c:n die er sich richtet. Damit die Philosophie nicht einzig und 2l1ein Diskurs, sondern auch Wirklichkeit ist, muß sie sich an alle und jeden richten, sondern nur an diejenigen, die :2:'..lhören wollen. Hier sagt der Text folgendes, er beginnt so: ,'\'ler einem kranken und gesundheitswidrig lebenden Mann ','or allem den Rat gibt, seine Lebensweise zu ändern, und erst ;:ann, wenn der Kranke sich dazu bereit gezeigt hat, seinen -;-"eiteren Rat erteilt, im anderen Falle aber die Beratung eines ierartigen Patienten ablehnt, den würde ich für einen wirkli:hen Mann sowohl wie für einen Heilkundigen halten.«4 Das Ende des Absatzes lautet bei 33Id folgendermaßen: »Er muß ;;eine Stimme vernehmen lassen [der Philosoph soll sprechen, 7:enn der Staat nicht gut regiert wird; M. E], wenn ihm die S:aatsleitung auf falschem Weg zu sein scheint [d. h. für den daß der Staat dem Berater, dem Philosophen nicht gut regiert zu werden scheint; M. E], vorausgesetzt, daß er weder "'ergeblich reden wird noch durch seine Rede sein Leben ge:2:hrdet [um zu sprechen, muß der Philosoph also sicher sein, ;:aß er nicht vergeblich spricht oder sein Leben riskiert, d. h. er =nuß sich dessen sicher sein, daß sein Diskurs jedenfalls nicht "bgelehnt wird; M. E]; gewaltsam aber eine Verfassungsände::-..lng in seiner Vaterstadt einzuführen, wenn es nämlich ohne ~;erbannung und Hinrichtung von Mitbürgern nicht möglich :5t, zur einzig richtigen Staatsverfassung zu gelangen, wird er :\LF. fügt hinzu: Das ist nicht der Text, den ich Ihnen ausgeteilt habe. Den ausgeteilten werde ich versuchen, später zu kommentieren.
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sich nicht beikommen lassen, sondern sich ruhig verhalten und von den Göttern das Heil für sich und den Staat erflehen.«5 Angehört zu werden und beim Zuhörer den Willen zu finden, den zu gebenden Rat zu befolgen, darin besteht die erste Bedingung der Ausübung des philosophischen Diskurses als Aufgabe, als Tätigkeit, als ergon, als Wirklichkeit. Nur denjenigen sollen Ratschläge erteilt werden, die auch bereit sind, sie zu befolgen. Andernfalls soll man es wie die Ärzte machen, die weggehen, wenn die Kunden und die Kranken ihre Vorschriften nicht hören wollen. Sie werden nun sagen, daß das ziemlich banal ist, aber ich glaube, daß man diesen Text etwas erhellen kann, wenn man den Vergleich mit der Medizin weiter verfolgt, einen Vergleich, der ein Gemeinplatz ist, den man bei Platon sehr häufig antrifft, nämlich in einer ganzen Reihe von Texten, die den politischen Ratschlag mit der medizinischen Praxis vergleichen oder ihn auf diese Praxis beziehen. Insbesondere ist das der Fall in der Passage des IV. Buches des Staats, 425e6 und auch im IV. Buch der Gesetze, 720a F Was bedeutet dieser Bezug auf die Medizin aber genauer? In erster Linie folgendes: Die Medizin wird im allgemeinen, nicht nur in den platonischen Texten, sondern in den griechischen Texten des 4. Jahrhunderts und später allgemein auf dreierlei Weise charakterisiert. Erstens ist die Medizin eine Kunst der günstigen Umstände und der Gelegenheit, aber auch der Vermutung, da es anhand der vorliegenden Anzeichen darum geht, die Krankheit zu erkennen, ihre Entwicklung vorherzusehen und folglich die angemessene Behandlung zu wählen. Eine Kunst der günstigen Umstände und der Vermutung, die sich natürlich auf eine Wissenschaft, eine Theorie, auf Erkenntnisse stützt, die jedoch zu jeder Zeit die besonderen Bedingungen berücksichtigen und eine Praxis der Entzifferung zur Anwendung bringen muß. Zweitens wird die Medizin auch so charakterisiert, daß sie nicht bloß ein theoretisches und allgemeines Vermutungswissen und eine Erkenntnis der günstigen Umstände ist, sondern auch eine Kunst, und zwar eine Überzeugungskunst. Der gute Arzt ist auch derjenige, der in der Lage 294
:Sc, seinen Kranken zu überzeugen. Ich verweise Sie beispiels"':eise auf die berühmte Unterscheidung zwischen den beiden Heilkünsten in Platons Gesetzen, IV Buch, Absatz 72oa-e.8 Die Heilkunst für Sklaven, die von den Sklaven, die entweder eine Apotheke haben oder Hausbesuche bei den Kranken ma:hen, selbst ausgeübt wird, ist eine Medizin, die sich damit ::legnügt, Vorschriften zu machen, zu sagen, was zu tun sei }''1edizin, Medikamente, Schröpfungen, Einschnitte, Amulette ':.lsw.). Außerdem gibt es die freie Medizin für freie Menschen, 3ie von Ärzten ausgeübt wird, die selbst freie Menschen sind. Diese Medizin zeichnet sich durch die Tatsache aus, daß der _"'nt und der Kranke miteinander sprechen. Der Kranke un:errichtet den Arzt, woran er leidet, was sein Diätplan ist, wie seine Lebensweise aussieht usw. Umgekehrt erklärt der Arzt .:lem Kranken, warum sein Diätplan nicht gut war, warum er :.;:rank wurde und was nun für die Heilung zu tun sei, bis er wirklich davon überzeugt ist, daß er sich auf diese Weise pflegen sollte. Die gute Medizin, die große und freie Medizin ist also eine Kunst des Dialogs und der Überzeugung. Das dritte }'lerkmal schließlich, das man im allgemeinen in Definitionen .:ler Medizin findet, besteht in der Tatsache, daß sich die gute }'ledizin nicht nur mit dieser oder jener Krankheit befaßt, die geheilt werden soll, sondern die gute Medizin ist eine Tätigkeit, eine Kunst, die das ganze Leben des Kranken berücksichtigt und sich seiner annimmt. Man muß zwar auch Dinge verschreiben, damit die Krankheit verschwindet, aber vor allem muß man eine ganze Lebensweise festlegen. Gerade im Hinjlick auf diese Lebensweise wird die Aufgabe der Überzeugung, die der Medizin und dem Arzt eigentümlich ist, zu etwas ganz Wichtigem und Entscheidendem. Damit der Kranke wirklich geheilt werde und damit er in Zukunft jede andere Krankheit vermeiden kann, muß er bereit sein, alles zu ändern, was seine Getränke, seine Nahrung, seine sexuellen Beziehungen, seine körperlichen Übungen, seine ganze Lebensart angeht. Die Medizin bezieht sich ebenso auf die Lebensweise wie auf die Krankheit. 295
Wenn wir diese drei Merkmale der Medizin betrachten, die in den platonischen Texten so oft zur Charakterisierung der Medizin erwähnt werden, wenn wir also diese verschiedenen Feststellungen betrachten und sie auf die Frage beziehen, was die Aufgabe des Beraters sei, jenes politischen Beraters, von dem der Text des VII. Briefes sagt, daß er sich wie ein Arzt benehmen soll, dann sehen wir, daß es nicht die Rolle des politischen Beraters sein wird, die Funktion eines Regierenden auszuüben, der im normalen Verlauf der Dinge Entscheidungen zu treffen hat. Der Philosoph als politischer Berater soll nur dann eingreifen, wenn die Dinge schlecht laufen, wenn eine Krankheit auftritt [.. .]. In diesem Fall soll er diagnostizieren, worin das Übel des Staats besteht, die Gelegenheit der Intervention ergreifen und die Ordnung der Dinge wiederherstellen. Es handelt sich also um eine kritische Rolle in dem Sinne, daß sie ihren Ort im Bereich der Krise oder jedenfalls im Bereich des Übels und der Krankheit und des Bewußtseins hat, das der Kranke, der Staat und die Bürger davon besitzen, daß die Dinge nicht gut laufen. Zweitens wird die Rolle der Philosophie und des Philosophen nicht wie die der Ärzte der Sklaven sein, die sich damit begnügen zu sagen: Dies ist zu tun, jenes ist zu unterlassen, dies ist einzunehmen, jenes ist nicht einzunehmen. Die Rolle des Philosophen soll wie die der freien Ärzte sein, die sich an freie Menschen wenden, d. h. die zugleich überzeugen und nicht nur vorschreiben. Gewiß muß er sagen, was zu tun ist, aber er muß auch erklären, warum es zu tun ist, und insofern wird der Philosoph nicht bloß ein Gesetzgeber sein, der einen Staat darauf hinweist, wie er regiert werden und welche Gesetze er befolgen soll. Die Rolle des Philosophen wird es sein, die einen und die anderen zu überzeugen, die Regierenden und die Regierten. Schließlich soll der Philosoph nicht einfach Ratschläge bezüglich dieses oder jenes Übels erteilen, das den Staat befällt. Er soll auch die Lebensweise des Staats vollständig neu bedenken, er soll wie jene Ärzte sein, die nicht bloß daran denken, die gegenwärtigen Übel zu heilen, sondern die das gesamte Leben des Kranken berücksichtigen und sich sei-
,,- Das Manuskript präzisiert hier: »Was der VII. Brief sagt, liegt sehr nahe bei dem, was im Staat 426a-427a gesagt wird. Es lohnt sich nur dann, die Heilung des Staates zu versuchen, wenn es möglich ist, die politeia zu ändern und die Weise, in der er politeuomene [regiert] wird.«
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:-ler annehmen wollen. Es ist also die gesamte Ordnung des Staats, seine politeia, die Gegenstand der Intervention des Philosophen sein soll. ,;. In einem gewissen Sinn kann man sich fragen, ob diese Bestim:Dung der Aufgabe des philosophischen Beraters, der in das übel des Staats durch Überzeugung und auf solche Weise eingreifen soll, daß die ganze politeia in Frage gestellt wird, nicht ein bißchen dem Text widerspricht, den ich aus dem v. Brief zitiert habe,9 wo Platon sagt: Jedenfalls gibt es eine Reihe von politeiai, die sich voneinander unterscheiden. Es gibt die demokratische Verfassung, die aristokratische Verfassung, die Verfassung, die im Gegensatz dazu die Macht einem einzigen anYertraut. In einem Brief, der zusammen mit einem Berater beim König von Makedonien (Perdikkas) eintreffen sollte, sagte er: Auf die politeia kommt es im Grunde nicht an. Das Problem ist vielmehr, die eigentümliche Stimme jeder politeia zu hören, zu verstehen und zu kennen, ihre phone, da das Übel für einen Staat im allgemeinen darin liegt, daß die phone (Stimme) der politeia nicht der Verfassung selbst entspricht. Hier scheint es, daß das Problem, das der Berater zu lösen hat, nicht bloß darin besteht, die Stimme des Staats an seine Verfassung anzupassen, sondern die politeia rundweg neu zu denken. Wir können uns also einen Widerspruch zwischen dem, was im VII. Brief, und dem, was im v. Brief gesagt wird, vorstellen, einen solchen vermuten oder erahnen - mit der zusätzlichen Bemerkung natürlich, daß, da der v. Brief ganz offenbar apokryph ist und später geschrieben wurde, dieser Widerspruch nicht zu problematisch sein sollte. Dagegen scheint es wohl, daß die Mahnung, die ganze politeia des Staats zu berücksichtigen und sich ihrer anzunehmen, auch in einem gewissen Widerspruch zu anderen Texten steht, die man in demselben VII. Brief findet, insbesondere zu der so rätselhaften Stelle, an der
Platon sagt: Für den Philosophen steht es jedenfalls außer Frage, daß er sich zum Nomotheten, zum Gesetzgeber, zum Verabschieder von Gesetzen eines Staates erhebt. Tatsächlich scheint mir, daß, wenn Platon hier von der Notwendigkeit für den guten Berater spricht, die ganze politeia zu berücksichtigen (wie ein guter Arzt die ganze Lebensweise berücksichtigt), er die politeia nicht in einem strengen und institutionellen Sinne des gesetzlichen Rahmens versteht, in dem der Staat existieren soll. Was er, glaube ich, unter politeia versteht, ist unzweifelhaft die Ordnung des Staats selbst, d. h. das durch die Gesetze selbst gebildete Ganze, aber auch die Überzeugung, die die Regierenden und die Regierten haben mögen, nämlich daß man die guten Gesetze befolgen soll, und schließlich die Art und Weise, wie diese Gesetze tatsächlich im Staat befolgt werden. Der politeia im strengen Sinne, die der institutionelle Rahmen des Staats ist, muß auch diese Überzeugung der Regierenden und der Bürger hinzugefügt werden. Es muß die Art und Weise hinzugefügt werden, wie sich diese Überzeugung in den Handlungen niederschlägt. All das macht die politeia im weiten Sinne aus. Mir scheint, daß, wenn Platon die Funktion des philosophischen Beraters mit der des Arztes vergleicht und wenn er dann geltend macht, daß die ganze politeia vom Berater berücksichtigt werden muß, die politeia im weiten Sinn gemeint ist. Woran soll sich der Berater im Grunde wenden? Nun, mir scheint, daß der Berater, wie ihn Platon bestimmt, indem er ihn mit dem Arzt vergleicht, wesentlich jemand ist, der, wie gesagt, nicht sprechen soll, um - am Ausgangspunkt des Staats oder als seinen institutionellen Rahmen - die Grundgesetze aufzuerlegen, sondern daß er sich im Grunde an den politischen Willen wenden soll. Sei es nun der Wille des Monarchen, der der oligarchischen oder aristokratischen Führer oder der der Bürger, er soll diesen Willen belehren. Man muß jedoch auch sehen, daß, wenn der Philosoph sich an den politischen Willen wendet, der die politeia zum Leben erweckt, der sich von den Gesetzen überzeugen läßt, der sie annimmt und als gut anerkennt und 29 8
Jer sie tatsächlich anwenden will, wenn sich der Philosoph an ::liesen politischen Willen wendet, er sich nur an ihn wenden i:ann, wenn er selbst in gewisser Weise gut ist, d. h. wenn der Fürst, wenn die Führer, wenn die Bürger tatsächlich den Wil;en haben, der Philosophie zuzuhören. Wenn sie sie nicht hören wollen, d. h. wie es am Ende des Textes lautet, wenn man :neint, daß das, was der Philosoph sagt, nur Schall und Rauch sei, oder schlimmer noch, wenn man den Philosophen tötet, hat man es in beiden Fällen mit einer Weigerung zu tun, und die Philosophie kann ihre Wirklichkeit nicht finden. Der Philosoph, der spricht, ohne angehört zu werden, oder gar der Philosoph, der unter der Androhung des Todes spricht, tut im Grunde nichts anderes, als in den Wind und ins Leere zu sprechen. Wenn er will, daß sein Diskurs ein wirklicher Diskurs sei, ein Diskurs der Wirklichkeit, wenn er will, daß seine philosophische Veridiktion tatsächlich dem Bereich des Wirklichen angehöre, muß sein philosophischer Diskurs von denen gehört, angehört und akzeptiert werden, an die er sich wendet. Die Philosophie existiert nicht allein schon in der Wirklichkeit unter der Bedingung, daß es einen Philosophen gibt, der sie formuliert. Die Philosophie existiert nur dann in der Wirklichkeit, die Philosophie findet nur dann ihre Wirklichkeit, wenn dem Philosophen, der seinen Diskurs hält, die Aufmerksamkeit und das Zuhören desjenigen entsprechen, der von der Philosophie überzeugt werden will. Ich glaube, daß wir es hier mit etwas zu tun haben, was man den ersten Zirkel nennen könnte Text gibt es noch weitere). Dies ist der Zirkel der Anhörung: Die Philosophie kann sich nur an diejenigen wenden, die sie anhören wollen. Ein Diskurs, der nur Protest, Anfechtung, Aufschrei und Wut gegen die Macht und die Tyrannei wäre, wäre kein philosophischer. Ein Diskurs, der ein Diskurs der Gewalt wäre und in den Staat wie durch einen Einbruch hineinkäme und der folglich um sich herum Bedrohung und Tod yerbreiten würde, fände ebenfalls nicht seine philosophische Wirklichkeit. Wenn der Philosoph nicht angehört wird, und zwar bis zu einem solchen Grad, daß er mit dem Tod bedroht 299
wird, oder auch, wenn der Philosoph gewalttätig ist, und zwar in einem solchen Maße, daß sein Diskurs den Tod von anderen zur Folge hätte, kann die Philosophie in beiden Fällen ihre Wirklichkeit nicht finden. Sie verfehlt die Realitätsprüfung. Die erste Realitätsprüfung des philosophischen Diskurses ist das Gehör, das er findet. Von hier aus ergeben sich eine Reihe schwerwiegender und wichtiger Konsequenzen, die man nicht in Kürze entfalten kann: Die Philosophie setzt immer die Philosophie voraus, die Philosophie kann nicht nur mit sich selbst sprechen, die Philosophie kann nicht als Gewalt auftreten, die Philosophie kann nicht als Gesetzestafel erscheinen, die Philosophie kann nicht als Schrift für alle beliebigen Menschen geschrieben werden und in Umlauf gebracht werden. Die Wirklichkeit der Philosophie besteht darin - das ist ihr erstes Merkmal-, daß sie sich an den philosophischen Willen wendet. Als letzte Konsequenz sehen Sie, worin die Philosophie sich gerade völlig von der Rhetorik unterscheidet (wir müssen das anschließend selbstverständlich wieder aufnehmen). Die Rhetorik ist gerade dasjenige, was unabhängig vom Willen der Zuhörenden angewendet und wirksam werden kann. Das Spiel der Rhetorik besteht darin, den Willen der Zuhörer gewissermaßen gegen ihren Willen zu fesseln und damit zu machen, was ihr beliebt. Also kann die Philosophie - in dieser Hinsicht ist sie keine Rhetorik und kann auch nur das Gegenteil der Rhetorik sein - bescheiden oder gebieterisch, je nachdem, nur aufgrund der Tatsache existieren, daß sie angehört wird. Dieses Anhören, diese Erwartung der Philosophie, daß sie selbst gehört wird, ist Teil ihrer Wirklichkeit. Das ist der erste Punkt, den man der ersten Erläuterung der Rolle des Beraters entnehmen kann, die Platon gibt. Wenn er nach Sizilien gefahren ist, dann deshalb, weil er das Versprechen hatte, angehört zu werden. Wenn sein Diskurs in Sizilien nur ein eitler logos bliebe, dann gerade deshalb, weil dieses Anhören nicht stattgefunden hat und das Versprechen, das man Platon gemacht hatte, von demjenigen gebrochen wurde, der zuhören sollte. Das ist das erste Thema, mit dem wir es zu tun haben.
,. M. F. fügt hinzu: Diesen Text habe ich kopieren lassen und einige Exemplare davon ausgeteilt. Entschuldigen Sie bitte, daß es nie genug sind, aber ich weiß nie, wie viele Sie sein werden ...
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Das zweite, das unmittelbar mit diesem verknüpft ist, besteht in folgender Frage: Wenn es richtig ist, daß die Philosophie ihre Wirklichkeit nur dadurch erlangt, daß sie angehört werden kann, wie lassen sich dann diejenigen erkennen, die einen anhören werden? Wie kann der Philosoph die Realitätsprüfung auf der Grundlage der Gewißheit annehmen, daß man ihm zuhören wird? Das ist ein wichtiges Problem, das auch, wie Sie sich erinnern, das Problem des Sokrates ist. Auch Sokrates mußte sich fragen, ob es der Mühe wert sei, sich an diesen oder jenen jungen Mann zu wenden, um ihn zu überzeugen zu versuchen. Sie wissen auch, daß SOkrates die Gewißheit, daß man ihm zuhörte, forderte und sie in der Schönheit der jungen Männer erblickte oder zu erblicken glaubte, zumindest aber in dem, was er am Gesicht und Blick eines jungen Mannes ablesen konnte. Hier haben wir aber offenbar ein ganz anderes Kriterium, es geht um etwas ganz anderes. Der Test, der eine Entscheidung darüber erlauben wird, ob einem zugehört wird oder nicht, wird von Platon in Absatz Hob erläutert [... ':.J, den ich jetzt kommentieren möchte. Diese Passage ist in Platons Brief ziemlich weit von derjenigen entfernt, die ich vorhin vorgelesen habe, obwohl sie sich logisch recht deutlich darauf bezieht. Es handelt sich um eine Erläuterung, die sich nicht auf die erste politische Reise nach Sizilien (d. h. chronologisch die zweite) bezieht, sondern auf die zweite (chronologisch die dritte). Um der Bequemlichkeit des Referats willen werde ich sie jedoch gemeinsam behandeln, denn ich glaube, daß diese Passage (darüber, wie man denjenigen, an den man sich wendet, erkennt, welchem Test man ihn unterzieht) direkt mit der Frage verknüpft ist, die ich vorhin erwähnte: Es lohnt sich nicht zu sprechen, und die Philosophie kann kein wirklicher Diskurs, keine wirkliche Veridiktion sein, wenn sie sich nicht an jemanden wendet, der zuhören will. Frage: Wie erkennt man die, die zu-
hören können und wollen? Lesen wir also kurz diesen Text: »N ach meiner Ankunft hielt ich es für meine erste Aufgabe, Gewißheit darüber zu erlangen, ob Dionysios in Wahrheit Feuer und Flamme für die Philosophie wäre oder ob nichts wäre an den vielen Gerüchten, die darüber nach Athen gekommen waren.«10 Sie sehen, daß es direkt um das Problem des Zuhörens geht: Wie soll man es feststellen? »Es gibt nun ein gewisses Verfahren dies auszuprobieren, ein Verfahren, das nichts Unehrenhaftes hat, sondern bei Tyrannen in der Tat ganz angemessen ist, zumal bei solchen, die den Kopf ganz voll haben von mißverstandenen philosophischen Lehren. Daß dies auch bei Dionysios der Fall war, und zwar in ganz hohem Grade, das ward mir gleich nach der Ankunft klar. Man muß nämlich solchen Leuten die (philosophische) Aufgabe in ihrem ganzen Umfang, muß das Eigentümliche des Gegenstandes, die zahlreichen Schwierigkeiten und die große dazu erforderliche Mühe [wir kommen gleich auf die griechischen Begriffe zurück bzw. auf die Art und Weise, wie wir diese Übersetzung etwas präziser machen können; aber lesen wir sie zunächst nur; M. E] deutlich zu erkennen geben. Ist nämlich, wer das hört, ein wahrhafter Freund der Weisheit, innerlich mit ihr verwandt und als Gottbegeisterter berufen, sich mit ihr zu befassen, so glaubt er Kunde erhalten zu haben von einem Wege, der in ein Wunderland führt, das zu erreichen er fortab alle Kraft einsetzen müsse: lieber will er auf das Leben verzichten als auf dieses Ziel. Und so mutet er denn sich und dem Führer auf diesem Wege die äußerste Anstrengung zu und läßt nicht locker, bis er entweder das Ziel erreicht oder die Fähigkeit erlangt hat, ohne den Wegweiser sein eigener Führer zu sein. Von dieser Anschauung durchdrungen und von diesem Triebe erfüllt, geht ein solcher seinen Berufsgeschäften zwar nach, welcher Art sie auch sein mögen, bleibt aber vor allem immer der Philosophie treu ergeben und bedacht auf eine alltägliche Lebensweise, die seine Fassungskraft, sein Gedächtnis und sein Denkvermögen bei innerer Nüchternheit bis zum denkbar höchsten Grade steigert, während die dieser entgegengesetzte ihm für immer 3°2
Tiefste verhaßt ist [der Text endet mit folgenden Worten, .:':J.lasse einige Zeilen aus; M. E]. [... ] Das ist die klare und die ';cherste Art der Vergewisserung bei Genußmenschen, die zu :;:'lsharrender Anstrengung unfähig sind. So geprüft, können 5:e die Schuld nie auf den Führer schieben, sondern nur auf sich ,döst, auf ihre Unfähigkeit nämlich, alles für die Erfüllung der .;'ufgabe Erforderliche zu leisten.« 11 :Jas erste Element, das es an diesem Text hervorzuheben gilt, :SI der sehr ausdrückliche, förmlich experimentelle und methoiische Charakter, den Platon diesem Kriterium verleiht. Es :::andelt sich nicht bloß wie bei Sokrates um eine Wahrneh:-:1ung, eine Anschauung, die ihn anhand der Schönheit eines ungen Mannes die Qualität seiner Seele erraten ließ. Hier hanieh es sich um eine Methode, eine klare Methode, die völlig "einreichend sein und unbezweifelbare Ergebnisse haben soll. \\;'orin besteht nun aber diese Methode? »Sie ist Tyrannen in ier Tat ganz angemessen«, lautet der Text, »zumal bei solchen, iie den Kopf ganz voll haben von mißverstandenen philosophischen Lehren.« Man muß den Tyrannen (hier folge ich der t~bersetzung) »die (philosophische) Aufgabe in ihrem ganzen Lmfang, muß das Eigentümliche des Gegenstandes, die zahl:eichen Schwierigkeiten und die große dazu erforderliche Mühe :zeigen].« Wenn man den griechischen Text sehr grob, ungeschliffen und Wort für Wort übersetzt, ergibt sich folgendes: solchen Leuten, solchen Tyrannen muß man zeigen, was to ?Tagma 12 ist (was die Sache ist, die Sache s~lbst - ich komme dar;mf zurück); durch welche Tätigkeiten, Praktiken (di' hoson ?Tagmaton) [sie ausgeübt wird]; und welche Mühe sie bedeutet und erfordert (kai hoson ponon echei). Sie sehen, daß das Wort pragma in diesem Text zweimal vorkommt. Nun hat dieses Wort im Griechischen zwei Bedeutungen. Pragma ist in den Begriffen der Grammatik oder Logik der Bezugsgegenstand eines Begriffs oder einer Aussage. Und hier sagt Platon ganz klar, daß man den Tyrannen zeigen muß, was to pragma ist (was der Gegenstand ist), was die Philosophie in ihrer Wirklichkeit ist. Sie geben vor zu wissen, was die 3°3
Philosophie ist, sie kennen einige philosophische Wörter, haben ein paar Kleinigkeiten und Lappalien gehört und glauben, daß das die Philosophie ist. Man muß ihnen pan to pragma zeigen: die Wirklichkeit der Philosophie in ihrer Gesamtheit, die ganze Wirklichkeit der Philosophie, was die Philosophie im ganzen als Gegenstand des Begriffs der Philosophie ist. Worin wird nun dieses pragma der Philosophie, diese Wirklichkeit der Philosophie, bestehen? Man muß zeigen, »hoion te kai di' hoson pragmaton kai hoson ponon echei«.Was aber ist dieses pragma? Nun, es sind die pragmata. Was sind die pragmata? Das sind die Angelegenheiten, die Tätigkeiten, die Schwierigkeiten, die Praktiken, die Übungen, alle Formen von Praktiken, in denen man sich üben und sich Mühe geben muß, um die man sich bemühen muß und die tatsächlich mühsam sind. Hier haben wir den zweiten Sinn des Wortes pragma, wonach es sich nicht mehr um den Gegenstand eines Begriffs oder einer Aussage handelt. Die pragmata sind die Tätigkeiten, all das, womit man sich beschäftigt, all das, wobei man sich Mühe geben kann. Pragmata in diesem Sinne ist schole entgegengesetzt, was Muße bedeutet. Eigentlich besteht aber die philosophische schole, die philosophische Muße, gerade darin, daß man sich mit einer Reihe von Dingen beschäftigt, die die pragmata der Philosophie sind. Jedenfalls haben wir in diesem Text ein doppeltes Verständnis des Wortes pragma. Dieses doppelte Verständnis ist folgendes: Man muß den Tyrannen oder denen, die die Philosophie zu kennen glauben, zeigen, worin die Wirklichkeit der Philosophie besteht, worauf sich das Wort »Philosophie« wirklich bezieht, was es heißt zu philosophieren. Wodurch zeigt man ihnen das? Dadurch, daß »Philosophieren« eben eine Reihe von Tätigkeiten und von pragmata ist, die die philosophische Praxis ausmachen. Was der Text sagt, ist nicht mehr und nicht weniger als diese eine grundlegende Sache, nämlich daß die Wirklichkeit der Philosophie, die Wirklichkeit des Philosophierens, das, worauf sich der Begriff der Philosophie bezieht, eine Gesamtheit von pragmata (von Tätigkeiten) ist. Die Wirklichkeit
ler Philosophie, das sind die Tätigkeiten der Philosophie. Was sind nun diese Tätigkeiten? Genau diese Frage entwickelt der Text von diesem Satz an. Es lassen sich drei Reihen von Hin,:,:eisen finden. Die Tätigkeiten der Philosophie werden dargestellt als ein Weg, der durchlaufen werden soll, ein Weg, den derjenige, den ::nan prüfen und auf die Probe stellen will, sofort erkennen soll and von dem er, sobald man ihm diesen Weg vorgestellt hat, zeigen soll, daß er gerade ihn gewählt hat, ihn beschreiten will, an dessen Ende gelangen will und daß er nicht anders leben kann. »Ou bioton allos«: Es ist ihm nicht möglich, anders zu leben. Diese philosophische Wahl, diese Wahl des philosophischen Wegs ist eine der ersten Bedingungen. Zweitens soll sich ler Kandidat, der dieser Prüfung unterzogen wird, im Ausgang von der philosophischen Wahl, die er getroffen hat, mit all seinen Kräften beeilen, und zwar auch unter der Leitung eines Führers, der ihm den Weg zeigt, an der Hand nimmt und ihn den Weg beschreiten läßt. Der Kandidat, der der Prüfung un:erzogen wird, soll sich mit ganzer Kraft beeilen und auch seinen Führer dazu drängen, so schnell wie möglich ans Ziel zu kommen. Auch darf er in diesen Tätigkeiten (den pragmata der Philosophie) mit seiner Anstrengung nicht nachlassen, und bis zum Ende, bis zur Endstation des Weges soll er immer arbeiten und sich abmühen. Außerdem darf er erst dann - das ist ein weiterer Hinweis im Text - auf die Leitung dessen, der ihn iührt, verzichten, wenn er genügend Kraft gesammelt hat, um sich ohne seinen Lehrer zu führen, d. h. um sein eigener Führer zu sem. Die zweite wichtige Reihe von Hinweisen folgt unmittelbar danach: »Von dieser Anschauung durchdrungen, und von diesem Triebe erfüllt, geht ein solcher seinen Berufsgeschäften zwar nach, welcher Art sie auch sein mögen, bleibt aber vor allem immer der Philosophie treu ergeben und bedacht auf eine :;.lltägliche Lebensweise, die seine Fassungskraft, sein Gedächtnis und sein Denkvermögen bei innerer Nüchternheit bis zum lenkbar höchsten Grade steigert.«13 Dieser Text ist wichtig,
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weil er zugleich anzeigt, daß die Wahl der Philosophie ein für alle Mal getroffen und bis zum Ende aufrechterhalten werden muß, d. h. bis zum Schluß nicht unterbrochen werden darf. Andererseits aber - das geht aus dieser Überlegung hervor - ist diese Wahl der Philosophie nicht nur vereinbar mit den gewöhnlichen Handlungen, sondern besteht gerade darin, daß man selbst im gewöhnlichen Leben und bei den Handlungen, die man täglich zu verrichten hat, von der Philosophie Gebrauch macht und sie ins Spiel bringt. Man ist bis in seine gewöhnlichen Handlungen hinein Philosoph, und diese Praxis der Philosophie drückt sich in drei Fähigkeiten aus, in drei Arten von Einstellungen und Fähigkeiten: Man ist eumathes, d. h., man lernt leicht; man ist mnemon, d. h., man hat ein gutes Gedächtnis und behält alles das, was man gelernt hat, dauerhaft und auf lebendige, gegenwärtige, aktive Weise im Geist, weil man eumathes war. Man ist also eumathes, man ist mnemon, und schließlich ist man logizestai dynatos (man ist in der Lage zu räsonieren, d. h., in einer gegebenen Situation und bei einer bestimmten Überlegung weiß man sich des Verstandes zu bedienen und ihn anzuwenden, um die richtige Entscheidung zu treffen). Wir haben also eine ganze erste Reihe von Hinweisen, die charakterisieren, worin die philosophische Wahl in ihrem Ursprung, ihrer Beständigkeit, ihrer ununterbrochenen Anstrengung bestehen soll, und andererseits eine ganze Reihe von Hinweisen, die zeigen, wie diese philosophische Wahl sich unmittelbar und kontinuierlich mit der alltäglichen Tätigkeit verschränkt und mit ihr verschlungen ist. Wenn man nun diesen Text mit dem anderen Text des Alkibiades vergleicht, über den ich vorhin gesprochen und den ich letztes Mal kommentiert habe, sieht man, daß die Bestimmung des Verhältnisses zwischen der Philosophie und etwa der politischen Tätigkeit sehr unterschiedlich ist. Alkibiades war, wie Sie sich erinnern, von dem Wunsch besessen, die Macht auszuüben, und zwar die einzige, ausschließliche Macht im Staat. An dieser Stelle packte ihn Sokrates, nahm ihn am Ärmel und sagte zu ihm: Aber weißt du auch, wie du diese Macht ausüben 3°6
:';'annst? Darauf folgte ein sehr langer Dialog, in dessen Verlauf sich herausstellte, daß Alkibiades, da er nicht wußte, was die Gerechtigkeit oder die richtige Ordnung oder die richtige Har:nonie war, die er im Staat zur Herrschaft führen wollte, all dies lernen mußte. Er konnte dies alles aber nicht lernen, ohne sich zuerst und vor allem mit sich selbst zu befassen. Sich mit sich selbst zu befassen setzte jedoch voraus, daß er sich selbst :':annte. Sich selbst zu kennen setzt nun aber die Wendung der --'iufmerksamkeit auf die eigene Seele voraus, und in der Be:rachtung der eigenen Seele oder in der Wahrnehmung des göttlichen Elements seiner eigenen Seele konnte er die Grund' agen des Wesens der Gerechtigkeit wahrnehmen, und dadurch :':onnte er erkennen, was die Grundlagen und Prinzipien einer gerechten Regierung waren. Dort hatten wir also das Bild oder eher die Bestimmung einer philosophischen Entwicklung, die, ,,:ie auch hier, für die politische Tätigkeit unverzichtbar ist. Diese philosophische Entwicklung hatte jedoch im Alkibiades die Form der Rückkehr zu sich selbst, der Selbstbetrachtung ier Seele und der Betrachtung der Wirklichkeiten, die ein ge:-echtes politisches Handeln begründen können. 14 Hier sind die philosophische Wahl, die philosophische Tätig:':eit, die philosophischen pragmata, die unbedingt notwendig sind und das pragma (die Wirklichkeit) der Philosophie aus:nachen, die philosophischen Tätigkeiten, die die Wirklichkeit der Philosophie sind, ganz andere. Es handelt sich keineswegs :~m die Aufmerksamkeit, sondern um eine Entwicklung. Es handelt sich keineswegs um eine Umwendung, sondern im Gegenteil darum, einem Weg zu folgen, der einen Ursprung '..md ein Ziel hat. Und während dieser ganzen Entwicklung :nuß eine lange und mühsame Arbeit geleistet werden. Schließ:ich ist die Anhänglichkeit, um die es in diesem Text geht, nicht die Anhänglichkeit an ewige Wirklichkeiten, sondern die Praxis des Alltagslebens, jene Art von alltäglicher Tätigkeit, innerhalb deren das Subjekt sich als eumathes (lernfähig), mnemon erinnerungsfähig) und logizesthai dynatos (fähig zu räsonie:-en) erweisen soll. Im Fall der großen Umwendung, die wir im 3°7
Alkibiades beschrieben sahen, ging es darum, wie das Subjekt, wenn es den Zeitpunkt erreicht hatte, wo es in der Lage war, die Wirklichkeit zu betrachten, wieder herabsteigen und das, was es gesehen hatte, im Alltagsleben effektiv anwenden konnte. Sie erinnern sich im übrigen auch, wie schwierig es im Staat war, diejenigen, die schon einmal die Wirklichkeit außerhalb der Höhle betrachtet hatten, wieder in die Höhle zurückzuschicken. Hier geht es um etwas ganz anderes. Es geht um eine Wahl, eine Wahl, die von Anfang an getroffen werden muß, eine Wahl, die ein für allemal getroffen und die anschließend entwickelt und entfaltet werden muß, um sich quasi in der emsigen Arbeit des Alltagslebens auszuprägen. Das ist ein ganz anderer Typ von Umwendung. Im Alkibiades hatten wir die Wendung der Aufmerksamkeit auf etwas anderes. Hier geht es um eine Umwendung, die durch eine anfängliche Wahl, eine Entwicklung und eine Anwendung bestimmt ist. Es ist keine Wendung der Aufmerksamkeit, sondern der Entscheidung. Eine Wendung, die nicht nach der Betrachtung strebt, und zwar nach der Selbstbetrachtung, sondern die unter der Leitung eines Führers und am Leitfaden einer langen und mühsamen Entwicklung in der alltäglichen Tätigkeit Lernen, Gedächtnis und vernünftige Schlußfolgerungen ermöglichen soll. Daraus läßt sich offensichtlich eine Reihe von Folgerungen ziehen. Die erste besteht, wie Sie gesehen haben, darin, daß in diesem Text ein weiterer Zirkel bestimmt wird. Vorhin habe ich in bezug auf die vorangehende Passage den Zirkel der Anhörung erwähnt, der darin besteht, daß das philosophische Wahrsprechen, die philosophische Veridiktion, beim anderen den Willen zuzuhören voraussetzt. Hier haben wir einen weiteren, davon ganz verschiedenen Zirkel, der nicht mehr der Zirkel des anderen, sondern der Zirkel des Selbst ist. Tatsächlich handelt es sich um folgendes: Die Wirklichkeit der Philosophie findet sich nur in der Praxis der Philosophie, wird nur dort anerkannt und vollzieht sich ebenfalls nur dort. Genauer noch, die Wirklichkeit der Philosophie, das ist die zweite Folgerung, die wir ziehen müssen, ist nicht ihre Praxis als Praxis
: " ... denn hätte ich nur den Einen völlig für mich gewonnen, so wäre damit alles erhoffte Gute glücklich erreicht« (Platon, VII. Brief, 328b , a.a.O., S. 51). 2 VgL zu diesem Punkt die Vorlesungen vom Januar 1982, in: Hermeneurik des Subjekts, a. a. O. :; "Ich würde nämlich, Alkibiades, wenn ich sähe, daß du dich mit dem, was ich dir eben vorrechnete, begnügtest und glaubtest, im Besitze desselben ruhig dein Ende abwarten zu können (en toutois katabionai), schon längst von meiner Liebe zu dir abgelassen haben ... « (Platon, Alkibiades, 104e-IoP, übers. v. Franz Susemihl, Platon: Sämtliche Werke, Heidelberg, 1982, S. 816.) ~ Platon, VII. Brief, 330C-d, a.a. 0., S. 55. Ebd. 331d, S. 56f. 5 Platon, Der Staat, 425e-426a, a. a. 0., S. 2°5.
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::eS logos. Das bedeutet, daß sie nicht die Praxis der Philoso-
als Diskurs ist, nicht einmal die Praxis der Philosophie als Dialog. Es ist die Praxis der Philosophie als »Praktiken« im :?~ural, die Praxis der Philosophie in ihren Praktiken, in ihren -,,'erschiedenen Ausübungen. Die dritte Folgerung, die offens:chtlich von großer Bedeutung ist, ergibt sich aus der Frage, -,;;,-orauf sich diese Ausübungen beziehen, worum es in diesen :?'raktiken geht. Nun, es geht ganz einfach um das Subjekt selbst. Das bedeutet, daß die Wirklichkeit der Philosophie sich ~l der Selbstbeziehung, in der Arbeit an sich selbst, im Modus 2er Selbsttätigkeit bezogen auf sich selbst zeigt und bestätigt -,;;,'ird. Die Philosophie findet ihre Wirklichkeit in der Praxis '::er Philosophie, verstanden als die Gesamtheit der Praktiken, lurch die das Subjekt eine Beziehung zu sich selbst unterhält, . . selbst entwickelt und an sich arbeitet. Die Arbeit an sich selbst, darin besteht die Wirklichkeit der Philosophie. Das war also der zweite Text in diesem VII. Brief, den ich kom:elentieren wollte. Einen dritten werde ich gleich kommentieren. Er wird uns zu einem dritten Zirkel führen und zu einer iritten Bestimmung, einer dritten Annäherung an die Wirk~ichkeit der Philosophie.
Anmerkungen
7 V gl. unten, Anm. 8. 8 Platon, Platons Gesetze, IV. Buch, übers. und erläutert v. Otto Apelt, a. a. 0.,5. I37f. 9 Vgl. oben 5. 267-273. 10 Platon, VII. Brief, 34ob, a. a. 0.,5.7°. I I Ebd., 34ob-34Ia, 5.7°-71. 12 Vgl. eine erste Analyse dieses Begriffs mit Bezug auf geistliche Übungen und genauer auf das philosophische Zuhören in: Hermeneutik des Subjekts, a. a. 0,5.426 (siehe auch den Artikel von P. Hadot zu diesem Begriff in Concepts et Categories dans la pensee antique, hg. v. P. Aubenque, Paris 1980). 13 Platon, VII. Brief, 34ob, a. a. 0., 5.7°-71. 14 Vgl. zu diesem Punkt die Vorlesungen vom Januar 1982, in: Hermeneutik des Subjekts, a. a. O.
Vorlesung 7 (Sitzung vom 16. Februar 1983, zweite Stunde)
Scheitern des Dionysios. - Die platonische Ablehnung der Schrift. ',lathemata versus synousia. - Die Philosophie als Praxis der Seele. - Die :c:;zlosophische Abschweifung des VII. Briefs: die fünf Elemente der Er(enntnis. - Der dritte Zirkel: der Zirkel der Erkenntnis. - Der Philosoph >.nd der Gesetzgeber. - Abschließende Bemerkungen über die zeitgenässi.c,';Jen Platoninterpretationen. J2.S
~ ... ,:.] Die erste Frage, die in dieser Reihe von Texten gestellt wird, die :;;h gerade analysiere, war die Frage nach der Bereitschaft zu ::-,ören: Die Philosophie ist erst dann ein wirklicher Diskurs, -;z:enn sie angehört wird. Zweitens ist der philosophische Dis"~urs nur dann wirklich, wenn er von einer Praxis begleitet und iurch eine Reihe von Praktiken unterstützt und ausgeübt ß.·ird. Die dritte Gruppe von Texten bezieht sich auf die Be'0:ährungsprobe, auf die Platon Dionysios gestellt hat, oder "ielmehr darauf, daß Dionysios nicht in der Lage war, positiv die Bewährungsprobe, der er unterzogen wurde, zu antworten. Der Text, den ich Ihnen vorhin ausgeteilt habe, zeigt ;?nz deutlich, daß es sich um eine systematische Bewährungs?robe handelte, die Platon als sicheres und unfehlbares Mittel .iarstellte. In den folgenden Zeilen und Seiten zeigt Platon, wie Dionysios an dieser Bewährungsprobe gescheitert ist. Diese ~ange Ausführung kann folgendermaßen auf den Punkt ge:cracht werden. Zuerst haben wir das Scheitern von Dionysios: \\'ie und warum, durch welchen Fehler gegenüber der Philoso:>hie scheiterte Dionysios? Zweitens haben wir die positive Seite der Kritik an Dionysios bzw. seines Scheiterns, nämlich =ine bestimmte Theorie der Erkenntnis. Zuerst die negative Seite: Wie scheiterte Dionysios an der Bewährungsprobe der Philosophie, an der Bewährungsprobe des
:"1. E: Nun, machen wir weiter? Zu dieser Zeit des akademischen Jahres sind wir alle schon etwas erschöpft.
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pragma der Philosophie, an der Realitätsprüfung der Philosophie, die in den pragmata bestehen muß, in den Praktiken der Philosophie selbst? Platon stellt dieses Scheitern auf zweierlei Weise dar bzw. nennt dafür zwei Hinweise. Der erste Hinweis ist gänzlich negativ: Dionysios hat sich geweigert, den langen Weg der Philosophie zu wählen, der ihm gewiesen wurde. Kaum hatte er die erste Philosophievorlesung gehört, glaubte er schon, die wichtigsten Dinge (ta megista) zu wissen, für die Zukunft genug davon zu verstehen, und mochte sich nicht mehr weiterbilden.! Das ist nicht weiter schwierig. Es gibt jedoch noch etwas anderes, denn außer dieser Unfähigkeit, die Dionysios bewies, dem langen Weg der Philosophie zu folgen, d. h. den mühsamen Weg der Übungen und Praktiken einzuschlagen, hat Dionysios einen gewissermaßen direkten und unmittelbaren, einen positiven Fehler begangen. Dieser Fehler ist sehr interessant und sehr bedeutsam. Dionysios hat nämlich eine philosophische Abhandlung geschrieben. 2 In der Tatsache nun, daß Dionysios diese philosophische Abhandlung geschrieben hat, sieht Platon den Hinweis dafür, daß er nicht in der Lage war, die Wirklichkeit der Philosophie zu finden. Der Text, den Dionysios geschrieben hatte, wurde in Wirklichkeit nach Platons Besuch verfaßt, und Platon erwähnt ihn bloß als eine Art von Zeichen aposteriori, daß sein Besuch keinen Erfolg haben konnte. Denn Dionysios sollte imstande sein, etwas später eine Abhandlung über die wichtigsten Fragen der Philosophie zu schreiben, um seinen eigenen philosophischen Wert unter Beweis zu stellen und zu zeigen, daß die Irrtümer bei Platon lagen. Damit, sagt Platon, hat er zwei Fehler begangen. Erstens wollte er als Autor von Texten gelten, die in Wirklichkeit nichts anderes waren als die Transkription von Vorlesungen, die er gehört hatte. Aber darin besteht nicht die Hauptsache des Vorwurfs. Über diese philosophischen Fragen, und zwar die wichtigsten Fragen der Philosophie, schreiben zu wollen, kommt einem Beweis dafür gleich, daß man von der Philosophie nichts versteht. Dieser Text, der offensichtlich von großer Bedeutung ist, läßt sich mit einem anderen vergleichen, 312
c.cr weithin bekannt ist und den man häufig als Beweis, Darstellung und letzten Ausdruck von Platons großer Ablehnung c.er Schrift zitiert. Dieser Text der heftigen Ablehnung der Schrift ist der Text aus dem 11. Brief, der ganz am Ende steht '.lud in dem Platon sagt: »Dies nimm dir zu Herzen und sieh c.ich vor, daß du nicht etwa später einmal es zu bereuen haben ",~irst, jetzt so nichtswürdige Gedanken in die Welt gesetzt zu ~aben. Am sichersten beugt man dem vor (megiste phylake), 7:eun man nichts niederschreibt, sondern sich ganz ans Verstel:enlernen hält. Denn was zu Papier gebracht worden ist, das entgeht auch nicht dem Schicksal der Veröffentlichung. Darum lcabe ich selbst noch nie etwas über diese Dinge niedergeschrieJen, und es gibt keine Schrift des Platon und wird auch keine scben. Was aber die jetzt mir beigelegten Schriften anlangt, so sind sie nichts anderes als Werke des Sokrates, des verfeinerten '.lud verjüngten Sokrates nämlich. Lebe wohl und folge mir, :~nd verbrenne diesen Brief nach mehrmaligem Durchlesen.«3 y~Tir müssen uns immerhin daran erinnern, daß dieser II. Brief eindeutig später geschrieben wurde als der VII. Brief, den ich gerade erläutere, und daß er bis zu einem gewissen Grad schon eine gewissermaßen neuplatonische Zusammenfassung oder Yersion darstellt. Wenn man den älteren Text des VII. Briefs beerachtet, scheint die Ablehnung der Schrift auf ganz andere Art '.md Weise oder jedenfalls verhältnismäßig anders formuliert zu werden. Hier in dem späteren Text des 11. Briefs, den ich gerade vorgelesen habe, ist es klar - man müßte das genauer beerachten -, daß das allgemeine Thema die Esoterik ist. Es gibt ein bestimmtes Wissen, das nicht verbreitet werden soll. Wenn :nan es dennoch verbreitet, setzt man sich einer Reihe von Ge:ahren aus. Kein sogenanntes Werk »von Platon« kann und 3arf als von Platon stammend angesehen werden. Selbst die Briefe, die er geschrieben hat, soll man verbrennen. Das ist eine \:orsichtsmaßnahme der Esoterik, bei der zweifellos der pyrhagoreische Einfluß am Werk ist. In den Texten des VII. Briefs, die ich nun erläutern möchte, stellt sich diese Ableh:mng der Schrift keineswegs auf diese Weise dar. 3I 3
Dionysios hat also eine Reihe von Texten veröffentlicht, als deren Autor er gelten wollte, und zwar über die grundlegendsten Fragen der Philosophie. Welche Form darf nun aber der philosophische Diskurs nicht annehmen, damit man, so Platon, von diesen wesentlichen Dingen in der Philosophie sprechen und der Diskurs seine Wirklichkeit, sein ergon finden kann? Die Form von mathemata. 4 Hier müssen wir das Wort mathemata in seiner doppelten Bedeutung verstehen. Die mathemata, das sind bekanntlich die Erkenntnisse, aber auch die Formeln der Erkenntnis. Es handelt sich einerseits um die Erkenntnis in ihrem Gehalt und andererseits um die Art und Weise, wie diese Erkenntnis in Mathemen vorliegt, d. h. in Formeln, die zur mathesis gehören, d. h. zum Erlernen einer Formel, die der Lehrer gibt, die vom Schüler gehört, von ihm auswendig gelernt und dadurch zu seiner Erkenntnis wird. Diese Vorgehensweise der mathemata, diese Formulierung der Erkenntnis in gelehrten, gelernten und bekannten Formeln, ist nicht der Weg, so Platons Text, auf dem sich die Philosophie wirklich bewegt. So gehen die Dinge nicht vor sich. Die Philosophie wird nicht am Leitfaden der mathemata weitergegeben. Wie wird sie dann weitergegeben? Nun, sagt Platon, man eignet sich die Philosophie durch »synousia peri to pragma« an. 5 Etwas weiter verwendet er das Verb syzen. 6 Synousia, das ist das Beisammensein, die Gemeinschaft, die Vereinigung. Das Wort synousia hat sogar im gewöhnlichen griechischen Wortschatz häufig die Bedeutung der sexuellen Vereinigung. Hier fehlt diese Konnotation völlig, und ich glaube nicht, daß man überinterpretieren und sagen sollte, daß es hier so etwas wie eine Beziehung der sexuellen Vereinigung zwischen dem Philosophierenden und der Philosophie gibt. Derjenige aber, der sich der Bewährungsprobe der Philosophie unterziehen soll, muß mit ihr »zusammenleben«, mit ihr »unter einem Dach leben«, wobei hier ebenfalls die möglichen Bedeutungen des Ausdrucks »unter einem Dach leben« mitschwingen. Die Tatsache, daß der Philosophierende mit ihr unter einem Dach zu leben hat, macht die Praxis der Philosophie selbst und ihre 31 4
lrklichkeit aus. Synousia: unter einem Dach leben. Syzen: zu,,,mmenleben mit. Was ergibt sich nun Platon zufolge auf5"cund dieser synousia, aufgrund dieses syzen? Nun, das Licht ;;r;ird sich in der Seele entzünden, etwa so, wie ein Licht (»phos«) sich entzündet (die Übersetzung sagt »ein Blitz«7), d. h. wie ::ine Lampe sich entzündet, wenn man sie dem Feuer nähert. Bei der Philosophie sein, wie wenn man beim Feuer ist, bis sich 2ie Lampe in der Seele entzündet oder bis die Lampe sich wie ,:ine Seele entzündet, darin und auf diese Weise findet die Phi-osophie ihre Wirklichkeit. Wenn die Lampe einmal entzündet sr, wird sie sich von sich selbst und ihrem eigenen Öl nähren ::::üssen, d. h. daß die Philosophie, die in der Seele entflammt, curch die Seele selbst genährt werden muß. Auf diese Weise, in Gestalt dieses Zusammenlebens unter einem Dach, des Lichts, 2as sich fortpflanzt und entzündet, des Lichts, das sich durch 2ie Seele selbst nährt, wird die Philosophie leben. Sie sehen, - ~ das genau das Gegenteil dessen ist, was bei den mathemata 5eschieht. Bei den mathemata gibt es keine synousia, das syzen ,sr nicht notwendig. Es muß eine Gestaltung der Matheme, der 'X'issensinhalte geben. Diese Matheme müssen weitergegeben -;-,'erden, und sie müssen im Gedächtnis bewahrt werden, bis 2,,5 Vergessen sie möglicherweise auslöscht. Hier haben wir im Gegensatz dazu keine Formel, sondern eine Koexistenz. Kein Erlernen der Formel durch eine Person, sondern ein sprung,",aftes und plötzliches Entflammen des Lichts innerhalb der Seele. Und auch kein Einprägen und kein Aufbewahren einer :-~rtigen Formel in der Seele, sondern die ständige Speisung der ?'hilosophie durch das verborgene Öl der Seele. ;:'isofern darf man nicht glauben, daß die Philosophie durch so -,::\vas wie geschriebenes Material gelehrt werden könnte, das =-_:chts anderes als die Form der mathemata der Erkenntnis -;-'äre, mathemata, die von einem beliebigen Lehrer an beliebige Schüler weitergegeben werden, die sie nur auswendig zu lernen l:ätten. Jedenfalls ist die Tatsache, daß die Philosophie nicht in Form von mathemata weitergegeben werden kann, Platon zu:olge der Grund dafür, daß er selbst, obwohl, wie er sagt, er zu 315
diesem Zweck am besten geeignet gewesen sei, nie dazu bereit war, auch nur ein einziges Buch über die Philosophie zu schreiben. 8 Gewiß, so fügt er hinzu, wenn es möglich wäre, das zu tun, und wenn die Philosophie wirklich in Form von Mathemen geschrieben und als solche weitergegeben werden könnte, dann wäre das die nützlichste Sache der Welt. Stellen wir uns vor, so Platon, daß man für alle ten physin (die Natur)9 ans Licht bringen könnte, dann wäre das sehr gut. Tatsächlich wäre es aber nutzlos oder gar gefährlich. Es wäre für diejenigen gefährlich, die wirklich nicht wissen, daß die Philosophie keine andere Wirklichkeit kennt als ihre eigenen Praktiken. Sie würden glauben, daß sie die Philosophie kennen würden, darüber Eitelkeit, Selbstgefälligkeit und Verachtung für die anderen entwickeln, und das wäre gefährlich. Für die anderen, die genau wissen, daß die Wirklichkeit der Philosophie in ihrer Praxis und ihren Praktiken besteht, wären der Unterricht und die Weitergabe durch die Schrift vollkommen nutzlos. Diejenigen, die wissen, was die Wirklichkeit der Philosophie ist und die diese Wirklichkeit der Philosophie praktizieren, brauchen die explizite Unterweisung in Form von mathemata nicht. Ihnen genügt eine endeixis: 10 ein Hinweis. Der Unterricht der Philosophie kann anhand dieser Hinweisstrukturen vor sich gehen. All das finden wir in den Absätzen 34Ib-342aY Soviel zur negativen Seite von Dionysios' Bewährungsprobe, die ihren Höhepunkt in der falschen Praxis der Schrift fand. Nun wird aber die Ablehnung der Schrift in einem Absatz erklärt und begründet, der unmittelbar auf denjenigen folgt, den ich gerade erläutert habe, der gewissermaßen die positive Seite darstellt und der die wahre Bedeutung dieser Ablehnung angeben soll. In der Tat schreibt Platon, nachdem er erklärt hat, wie die Philosophie nicht zu unterrichten ist - nachdem er gesagt hat: Für die einen ist es nutzlos, weil sie nur einen Hinweis brauchen, während die anderen »dadurch [... ] teils mit einer übel angebrachten Verachtung der Philosophie erfüllt werden, teils mit einem ganz übertriebenen und hohlen Selbstbewußtsein«12 aufgrund der Unterweisungen, die sie verstanden zu 3 I6
n.aben glauben -: »Doch empfiehlt es sich, wie ich mir sage, :nich darüber noch etwas ausführlicher auszulassen. Denn ·,-ielleicht dürfte meine obige Behauptung durch diese Ausführung noch mehr Licht erhalten. Es gibt eine unwiderleglich '";';ahre Gegeninstanz gegen jeden Versuch, irgend etwas der Art schriftmäßig zu behandeln, oft genug von mir schon früher besprochen, doch wert, wie es scheint, auch jetzt wieder zur Sprache gebracht zu werden.«13 Es ist also völlig klar, daß diese Passage, die etwas weiter übrigens eine »Abschweifung«14 ge:unnt wird, hier von Platon aufs deutlichste und ohne die geeingste Zweideutigkeit als Erklärung seiner Ablehnung der Schrift eingeführt wird. Worin besteht nun diese Erklärung? Die Erklärung beginnt offenbar in großer Entfernung von der Schrift. Sie stellt sich als Theorie der Erkenntnis und der Wissenschaft (episteme) dar: »Für jedes Ding kommen als notwendige Voraussetzungen seiner Erkenntnis drei Punkte in Be:racht.«15 Dieser Text ist sehr schwierig, und ich möchte hier bloß einige .\spekte hervorheben, die für unser Problem einschlägig sind. '\~'ir können folgendes feststellen: Platon unterscheidet fünf Elemente hinsichtlich dessen, was die Erkenntnis der Dinge er:nöglicht. Die drei ersten sind: der Name (onoma); die Defini:ion (logos, verstanden im strengen Sinne, d. h. die Definition, die Namen und Verben enthält, wie Platon selbst sagt); das Bild das eidolon). Dann gibt es noch zwei weitere Ebenen, zwei weitere Mittel der Erkenntnis: das vierte nennt er die Wissenschaft (die episteme, welche, so Platon, auch richtige Meinung :st - orthe doxa - und nous), und schließlich gibt es ein fünftes Element. Wenn man diesen komplexen Text schematisieren "\yollte, könnte man folgendes sagen: Die drei ersten Modi der Erkenntnis (durch den Namen, die Definition, das Bild) sind so, daß sie die Sache nur durch etwas Heterogenes oder, wie Platon in diesem auch Text sagt, der Sache Gegensätzliches er.,;:ennen lassen. Wenn wir das Beispiel des Kreises betrachten, so Platon, ist klar, daß der willkürliche Name (kyklos), den :nan zu seiner Bezeichnung verwendet, dem Kreis selbst ge3I 7
genüber ganz gegensätzlich oder zumindest fremd ist. Dasselbe gilt für die Definition des Kreises, welche nur aus Namen und Verben besteht. Drittens ist selbst das Bild des Kreises, das man in den Sand zeichnet, diesem fremd. Es besteht aus Teilen, die nichts weiter als kurze gerade Linien sind, welche der Natur des Kreises offensichtlich fremd sind. All dies (Name, Definition, Bild) ist also der Natur des Kreises fremd. Was das vierte Mittel der Erkenntnis betrifft, die episteme, die sowohl [orthe doxa] (richtige Meinung) als auch nous ist, so ist diese vierte Ebene, diese vierte Form der Erkenntnis im Unterschied zu den anderen nicht in der Außenwelt angesiedelt. Die Wörter sind Geräusche, die gezeichneten Figuren sind materielle Dinge. Das vierte Element, die episteme, existiert nur in der Seele. Was gibt sie zu erkennen? Nichts, was der Sache selbst fremd oder äußerlich wäre, sondern die Eigenschaften der Sache. Aber sie läßt nicht erkennen, was das Sein der Sache selbst ist: to on, das, worin das Wesen der Sache besteht. Die fünfte Form der Erkenntnis ermöglicht, die Sache selbst in ihrem eigenen Sein (to on) zu erkennen. Worin besteht diese fünfte Form der Erkenntnis? Hier finden wir etwas Wichtiges. Wer betreibt diese fünfte Form? Wer ist ihr Akteur? Wodurch erlangen wir Zugang zur Wirklichkeit der Sache in ihrem Sein selbst? Es ist der nous, jener nous, von dem gesagt wird, daß er im vierten und vorangehenden Modus der Erkenntnis gegenwärtig ist, in der episteme und der orthe doxa. Zweitens, wie kann man Platon zufolge diese Erkenntnis bilden, die man solchermaßen erwirbt und die es ermöglicht, das Sein der Sache selbst zu erfassen? Nun, man kann sie durch das Hin und Her, den Auf- und Abstieg entlang der anderen vier Grade der Erkenntnis und durch die Mittel bilden, die die anderen Formen der Erkenntnis auszeichnen. Auf diese Weise, indem man vom Namen zur Definition aufsteigt, von der Definition zum Bild, vom Bild zur episteme (zur Erkenntnis), indem man dann wieder hinabsteigt und dann noch einmal aufsteigt, gelangt man schließlich dazu, in der fünften Form der Erkenntnis das Sein selbst (das to on) des Kreises und der Dinge zu erfassen, die 3 18
::lan erkennen will. Damit aber diese Arbeit des Auf- und Abstiegs entlang der anderen Grade der Erkenntnis uns wirklich zu diesem fünften Grad führen kann, muß die Seele außerdem :'.och von guter Beschaffenheit sein. Sie muß eine Affinität zur Sache haben, sie muß syngenes mit der Sache (to pragma) sein. 16 'X·enn die gut beschaffene Seele diese langsame, lange und harte ."-rbeit des Auf- und Abstiegs entlang der anderen Formen der Erkenntnis vollzieht, wenn sie das praktiziert hat, was Platon :'·ibe nennt - und was im strengen Sinne »Reibung« bedeutet-, ".-ird dadurch die Erkenntnis der Wirklichkeit in ihrem Sein selbst möglich. 17 Das Wort »tribe« ist wichtig. Materiell gese~en, ist es die Reibung. Wir haben hier einen Widerhall und eine Erinnerung des Bildes des Feuers, das in der Seele wie bei einer Lampe entzündet werden soll. Tribe ist auch in einem allgemeineren und abstrakteren Sinn alles, was zur Übung und zum Training gehört. All das, wodurch man sich an etwas ge-:,;·öhnt und sich in etwas übt. Sie sehen also, daß die Erkenntnis der fünften Art von den anderen vier Graden der Erkenntnis l:öllig verschieden ist. Diese letzte Erkenntnis wird jedoch nur durch eine kontinuierliche Praxis erworben, durch eine Praxis, die ständig ausgeübt wird, eine Praxis der Reibung zwischen den anderen Modi der Erkenntnis. schematisiere natürlich, denn dieser Text wirft in allen seinen Formulierungen eine große Anzahl von Schwierigkeiten im Hinblick auf die platonische Theorie der Erkenntnis, die Bedeutung von Wörtern wie doxa, episteme, das ganze Problem der Konzeption des nous usw. auf. Der Aspekt, auf den es ::lir ankommt und unter dem ich hier diesen Text betrachten möchte, besteht darin, daß er alles, was wir bisher über die '~'irklichkeit der Philosophie gesagt haben, mit einem genauen :md angemessenen Sinn erfüllt. Offensichtlich bezieht er sich ~enau auf das Problem, das den ganzen VII. Brief bzw. dessen zentrale und theoretische Ausführungen zu dominieren scheint, nämlich was die Philosophie ist, wenn man sie nicht bioß als logos, sondern als ergon verstehen will. Nun, mir 319
scheint, daß wir hier so etwas wie einen dritten Zirkel entdekken können. Wir hatten den Zirkel des Zuhörens: Damit die Philosophie wirklich sein kann, damit sie ihre Wirklichkeit finden kann, muß sie ein Diskurs sein, der gehört wird. Zweitens, damit die Philosophie ihre Wirklichkeit finden kann, muß sie tatsächlich in einer Praxis und in Praktiken bestehen (im Singular und im Plural). Die Wirklichkeit der Philosophie besteht in ihren Praktiken. Und schließlich hätten wir jetzt das, was wir den Zirkel der Erkenntnis nennen könnten, nämlich daß die philosophische Erkenntnis, die eigentlich philosophische Erkenntnis, sich in der Tat völlig von den anderen vier Formen der Erkenntnis unterscheidet. Dennoch kann die Wirklichkeit dieser Erkenntnis nur durch die eifrige und beständige Praxis der anderen Formen der Erkenntnis erreicht werden. Jedenfalls zieht Platon aus dieser Theorie der Erkenntnis, die von ihm, wie gesagt, ausdrücklich als Erläuterung des Grundes für die Ablehnung der Schrift vorgestellt wird, eine Reihe von Folgerungen, die in dem Text selbst genannt sind. Platon sagt: Wenn also die Erkenntnis so beschaffen ist, wenn es diese fünf Grade der Erkenntnis gibt und die Erkenntnis der Wirklichkeit in ihrem Sein selbst sich nur durch die tribe (die Reibung) der verschiedenen Erkenntnismodi aneinander vollziehen kann, ist es für einen ernsthaften Mann (spoudaios) nicht möglich, diese Dinge schriftlich zu behandeln. 18 Er kann diese Dinge nicht schriftlich behandeln aus Gründen, die zwar im Text nicht genannt werden, die aber dennoch klar in Erscheinung treten, da gerade die Schrift, indem sie dem Erkannten und dem zu Erkennenden die [Form':'] des Mathems, des mathema, der mathemata gibt, die gewissermaßen das Instrument sind, das dem Erkennenden als Vehikel für die schon vollzogene Erkenntnis dient, da also die Schrift, die an die Form der mathemata selbst gebunden ist, in keiner Weise der Wirklichkeit der philosophischen Erkenntnis entsprechen kann: der kontinuierlichen Reibung der Erkenntnismodi aneinander. Aus diesem Grundsatz, daß kein ernsthafter Mann die Dinge der Philosophie schriftlich behandeln kann, zieht Platon na-
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:ürlich zunächst die auf Dionysios bezogene Folgerung, daß Dionysios nichts von der Philosophie verstanden hat. Und er zieht daraus die weitere Folgerung, die für uns wichtiger ist die in bezug auf Platon übrigens einen sehr paradoxen Charakter hat, nämlich daß, wenn die Philosophie wirklich :,ticht in Form von mathemata praktiziert und gelernt werden ;;'ann, die Rolle eines Philosophen niemals die eines Nomothe:en sein kann. Seine Rolle wird nie darin bestehen, eine Gesamtheit von Gesetzen vorzuschlagen, denen sich die Bürger eines Staats unterordnen sollten, damit der Staat ordentlich regiert werden kann. Am Ende dieser Passage, im Absatz 344C, sagt Platon ganz ausdrücklich: »Kurz, es ergibt sich aus dem Gesagten folgende Lehre: wenn man auf schriftliche Auslassungen stößt, sei es von einem Gesetzgeber zur Erläuterung ;,-on Gesetzen [en nomois, und es ist von einem »nomothetes« die Rede; M. E] oder sonst auf Schriften irgend welcher Art, so war diese Schriftstellerei, wenn anders er selbst ein ernsthafter :\Iann ist, nicht sein voller Ernst, mag es auch unter dem, was ihm gehört, an den schönsten Platz gestellt sein; hat er das aber '"Z'.-irklich in vollem Ernst als Schriftwerk veröffentlicht, dann haben - zwar nicht Götter, wohl aber - sterbliche Menschen ihn aller Besinnung beraubt.«19 Wir haben hier also einen Text, der vollkommen die Tätigkeit ablehnt, die darin besteht, einem Staat Gesetze vorzuschlagen, d. h. der zumindest scheinbar die Legitimität eines Textes wie Der Staat oder vor allem wie die Gesetze ablehnt, ein Text, der gerade über die Gesetze aus der Sicht des Nomotheten geschrieben wurde. Es wird gesagt, daß ein solcher Text nicht ernsthaft sein kann. schlage nun die folgende einfache Hypothese vor: Kann man, so wie Platon über den mythos sagt, daß er nicht wörtlich zu nehmen sei und daß er in gewissem Sinn nicht ernsthaft ist ozw. daß man seine ganze Ernsthaftigkeit aufbieten muß, um ihn ernsthaft zu interpretieren, nicht dasselbe im Hinblick auf iene berühmten Texte der Gesetze oder des Staats sagen, die man oft als die Form interpretiert hat, die Platon idealerweise dem Staat gab, den er verwirklichen wollte? Wäre die Tätigkeit Fr
des Nomotheten, das Schema der Gesetze und der Verfassung, das im Staat und in den Gesetzen vorgeschlagen wird, in Platons Denken im Grunde nicht mit derselben Vorsicht zu behandeln wie ein Mythos? Und liegt die Ernsthaftigkeit der Philosophie nicht anderswo? Ist die Tätigkeit des Nomotheten, die Platon in den Gesetzen und im Staat anscheinend an den Tag legt, nicht ein Spiel? Ein Spiel wie der Mythos, wenn auch anders? Was die Philosophie zu sagen hat, läuft natürlich über dieses nomothetische Spiel, wie es über das Spiel des Mythos läuft, aber um etwas anderes zu sagen. Wenn man die Texte des VII. Briefs unter der Voraussetzung liest, daß die Wirklichkeit der Philosophie, die Wirklichkeit der Philosophie in der Politik, etwas ganz anderes sei, als den Menschen Gesetze zu geben und ihnen die zwingende Form des idealen Staates vorzuschlagen, lassen sich daraus eine Reihe von Bemerkungen folgern. Zwei sozusagen kritische Bemerkungen und eine Bemerkung über den Sinn der gestellten Frage und der Antwort, die in diesem Brief darauf gegeben wird. Erstens, wenn man der Ablehnung wirklich den Sinn geben soll, den ich vorschlage, muß man in dieser platonischen Ablehnung der Schrift überhaupt nicht so etwas wie das Heraufkommen eines Logozentrismus in der abendländischen Philosophie sehen. 20 Sie sehen, daß die Dinge komplizierter sind. Denn die Ablehnung der Schrift erscheint hier im ganzen Text des VII. Briefs keineswegs als Alternative zur Annahme oder Wertschätzung des logos. Im Gegenteil ist es das Thema der Unzulänglichkeit des logos, das in diesem Brief verfolgt wird. Die Ablehnung der Schrift wiederum äußert sich als Ablehnung einer Erkenntnis, die sich über onoma (das Wort), logos (die Definition, das Spiel von Substantiven und Verben usw.) vollzieht. All dies, Schrift und logos zusammen, wird in diesem Brief rundweg verworfen. Die Schrift wird nicht verworfen, weil sie dem logos entgegengesetzt ist. Im Gegenteil, weil sie von derselben Art ist wie dieser und weil sie auf ihre Weise so etwas wie eine abgeleitete und sekundäre Form des logos ist. Umgekehrt geschieht diese Ablehnung der
Folglich vollzieht sich die Beziehung der Philosophie zur Polidie Realitätsprüfung für die Philosophie in bezug auf die Politik nicht in Form eines imperativischen Diskurses, durch ien dem Staat und den Menschen die zwingenden Formen gegeben werden, denen sie sich unterordnen müssen, damit der Staat überleben kann. Sondern, nachdem dieses Spiel des Idealstaats ausgespielt ist, muß man sich daran erinnern, daß die
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Schrift, die Ablehnung der Schrift und des mit der Schrift ver3undenen logos oder des logos, dem die Schrift untergeordnet :5t, im Namen von etwas Positivem, das also nicht der logos selbst ist (der wie die Schrift und noch vor der Schrift abgelehnt "ird), sondern im Namen der tribe, im Namen der Übung, der :Ilühe, der Arbeit, im Namen eines bestimmten mühevollen Selbstverhältnisses. In dieser Ablehnung der Schrift ist keines".. egs das Heraufkommen eines Logozentrismus zu erkennen, sondern das Erscheinen von etwas ganz anderem. Es handelt sich um das Erscheinen der Philosophie; einer Philosophie, de,en Wirklichkeit in der Selbstpraxis besteht. In der gleichzeitigen und gemeinsamen Ablehnung der Schrift und des Logos wird so etwas wie das abendländische Subjekt in die Pflicht ge::lommen. Die zweite Folgerung und die zweite kritische Bemerkung bestehen darin, daß jede Interpretation Platons, die anhand von Texten wie Der Staat und die Gesetze in ihm so etwas wie die Grundlage, den Ursprung oder die Hauptform eines politischen Denkens finden wollte - nämlich des »totalitären« (um ::5 kurz zu sagen, weil sich die Stunde dem Ende zuneigt) _, zweifellos völlig revidiert werden muß. Die ziemlich aus der Luft gegriffenen Interpretationen des guten Karl Popper21 be:-ücksichtigen natürlich nicht das Detail und das komplexe Spiel Platons im Hinblick auf das Problem der Nomothetie, ier Setzung und Formulierung von Gesetzen. Platon zieht in iiesem Brief gewissermaßen den Teppich weg, auf dem er zweifelsohne den Staat, ganz gewiß die Gesetze und jene no:nothetische Tätigkeit aufgebaut hat, die nun als nicht ernsthaft erscheint.
Ernsthaftigkeit der Philosophie anderswo liegt. Der Ernst der Philosophie besteht nicht darin, den Menschen Gesetze zu geben und ihnen zu sagen, wie der Idealstaat aussieht, in dem sie leben sollen, sondern darin, sie unablässig daran zu erinnern (zumindest jene, die zuhören wollen, weil die Philosophie ihre Wirklichkeit nur aus dem Zuhören bezieht), daß die Wirklichkeit der Philosophie in jenen Praktiken besteht, die man an sich selbst ausübt; jenen Erkenntnispraktiken, durch die alle Erkenntnismodi, an denen man auf- und absteigt und die man aneinander reibt, einen schließlich mit der Wirklichkeit des Seins selbst vertraut machen. Wenn es richtig ist, daß die Realitätsprüfung für die Philosophie in diesem Weg liegt, den Platon veranschaulichte, als er auf den Ruf Dions hin dem begegnete, der die politische Macht ausübt, wenn also hier die Realitätsprüfung für die Philosophie liegt, wenn die Philosophie der Gefahr, nur logos zu sein, dadurch und an dieser Stelle entgeht, wenn sie dadurch Hand an das ergon legt, dann scheint uns aus der Sicht des VII. Briefs das ist jedenfalls die positive und vorläufige Konklusion, mit der ich schließen möchte - die Bewährungsprobe der Philosophie in der Politik am Ende auf folgendes zu verweisen: Die Wirklichkeit der Philosophie besteht in einem Verhältnis von sich zu sich selbst. In diesem Text formuliert die Philosophie das, was ihr ergon ist, nämlich zugleich ihre Aufgabe und ihre Wirklichkeit, als Ausgestaltung des Problems der Regierung des Selbst und der Regierung der anderen.':' Das war's, danke schön. ". Das Manuskript schließt folgendermaßen: »Was läßt sich aus all dem Gesagten folgern? Für die Frage, die ich stellen wollte, nämlich nach der Geschichte oder der Genealogie des Wahrsprechens auf dem Feld der Politik, erkennt man nun eine doppelte Verpflichtung: Derjenige, der regieren will, muß philosophieren; aber derjenige, der philosophiert, hat die Aufgabe, sich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen. Diese so formulierte doppelte Verbindung ist mit einer gewissen Neubestimmung der Philosophie verknüpft, einer Neubestimmung der Philosophie als pragma, d. h. als einer langwierigen Arbeit, die Folgendes einschließt: die Beziehung zu einem Leiter; die ständige Ausübung der
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Anmerkungen : Platon, VII. Brief, 341 b, a. a. 0., S. 7I. Ebd. 5 Platon, II. Brief, in: Platons Briefe, a. a. 0.,3 I4b-c, S. 28. -+ »Es [= die philosophischen Probleme] läßt sich nicht in Worte fassen (mathemata).« Platon, VII. Brief, a. a. 0., 34IC, S.7 2. ; Ebd. 6 » .•. sondern aus lange Zeit fortgesetztem, dem Gegenstande gewidmeren wissenschaftlichen Verkehr (ek poiles synousias) und aus entsprechender Lebensgemeinschaft (syzen) tritt es plötzlich in der Seele hervor wie ein durch einen abspringenden Funken entzündetes Licht« (Platon, VII. Brief, 34IC-d, S.7 2). - Tatsächlich spricht die Übersetzung von einem» Funken«, vgl. die vorangehende Anmerkung. ·"So viel weiß ich indes, daß es am besten immerhin noch von mir selbst vorgetragen würde ... « (PI at on, VII. Brief, 34Id, a. a. 0., S.7 2). » •.• das Wesen der Dinge für alle ans Licht bringen« (ebd., S.7 2). ::: " ... höchstens für die wenigen, die auf einen kleinen Wink hin (dia smikras endeixeos) selbst imstande sind, es zu finden« (ebd., 34 Ie ). :: "SO viel indes kann ich von allen versichern, die darüber geschrieben haben und schreiben werden und die sich für wohlunterrichtet ausgeben über den Inhalt meiner philosophischen Bestrebungen, mögen sie es nun von mir gehört haben wollen oder von anderen oder mögen sie es selbst gefunden haben: sie verstehen von der Sache gar nichts; meiner Meinung nach wenigstens ist das ganz unmöglich. Wenigstens gibt es von mir selbst keine Schrift darüber und wird auch keine geben. Denn es steht damit nicht so wie mit anderen Lehrgegenständen (mathemata): Es läßt sich nicht in Worte fassen, sondern aus lange Zeit fortgesetztem, dem Gegenstande gewidmetem wissenschaftlichen Verkehr (syzen) tritt es plötzlich in der Seele hervor wie durch einen abspringenden Funken entzündetes Licht und nährt sich dann durch sich selbst (rheton gar oudamos estin hos alta mathemata, alt' ek poiles synousias gignomenes peri to pragma auto kai tou syzen exaiphnes, hoion apo pyros pedesantos exaphten phos, en te psyche genomenon auto heauto ede trephei)« (ebd., 34 I b-d, S. 72). :2 Ebd., 34Ie, S. 72. :3 Ebd., 34Ie-342a. :-+ Ebd., 344d, S. 77. 2
Erkenntnis; eine Form der Lebensführung, die sich bis auf das Alltagsleben erstreckt. Dadurch werden zwei sich ergänzende Figuren abgewiesen: die des Philosophen, der seinen Blick auf eine andere Wirklichkeit richtet und vom Diesseits abgetrennt ist; die des Philosophen, der mit einer schon fertig beschriebenen Gesetzestafel auftritt.«
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15 Ebd., 34 2a , S. 73· 16 »Und mag die Beschäftigung mit diesen Fragen auch in alles eingedrungen sein und sich immer wieder bald diesem bald jenem Punkt zugewandt haben, so kommt es doch kaum dahin, daß sie ein wirkliches Wissen des seiner Natur nach Vollkommenen erzeugt und auch dies nur in einem von Natur reich beanlagten Geist. Wo es aber mit der natürlichen Anlage schlecht bestellt ist, wie es bei der großen Masse hinsichtlich der Empfänglichkeit der Seele für wissenschaftliche Belehrung und für die sogenannte Sittlichkeit teils von Haus aus, teils infolge zerstörender Einflüsse der Fall ist, da kann auch ein Lynkeus dem trüben Auge nicht zu voller Sehkraft verhelfen. Kurz und gut: wer sich nicht innerlich mit der Sache verwandt fühlt (ton me syngene tou pragmatos), den kann auch Fassungskraft und Gedächtnisstärke hier nicht zum Ziele führen« (ebd., 343e-344a, S. 75-7 6). 17 »Und erst wenn alles Einzelne, Namen, Begriffsbestimmungen, sinnliche Anschauungen und Wahrnehmungen in mühsamer Arbeit nach ihrem gegenseitigen Verhältnis zueinander in einem trotz aller Widerlegungen stets versöhnlichen Tone und ohne alle Gereiztheit bei Fragen und Antworten durchgeprüft ist (mogis de tribomena) - erst dann lassen Einsicht und Vernunft ihr Licht erstrahlen (exelampse phronesis peri hekaston kai nous) über jeglichen Gegenstand, mit einer Kraft, die sich bis zur Grenze des für Menschen überhaupt Erreichbaren steigert« (ebd., 344b-c, S. 76). 18M. E: die Formel (das ist die Übersetzung von mathema in der BudeAusgabe) »Daher ist denn jeder ernsthafte Mann weit entfernt, durch Veröffentlichung schriftlicher Auslassungen über hochernste Dinge, diese der Streitsucht und den Zweifeln preiszugeben« (ebd., 344 C). 19 Ebd., 344c- d . 20 Ein sehr deutlicher Bezug auf die Thesen von Jacques Derrida, die in »La Pharmacie de Platon« verteidigt werden (in: La Dissemination, Paris 1972; dt. Dissemination, übers. v. Hans-Dieter Gondek, Wien 1995)' 2 I K. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I: Der Zauber platons, (ursprüngl. The Open Society and its Enemies, I: The Spell of Plato, London 1945), übers. v. P. Feyerabend, Tübingen 199 2.
Vorlesung 8 (Sitzung vom 23. Februar I983, erste Stunde)
:Ye rätselhafte Schalheit von Platons politischen Ratschlägen. - Die Rat_:::.'·Liige an Dionysios. - Die Diagnostik, die Ausübung des Überredens, der -. ')"schlag einer Herrschaftsform. - Die Ratschläge an Dions Freunde. c::1die des VIII. Briefs. - Die parrhesia am Ursprung des politischen Rat-
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... ,:.] :-1eute möchte ich das, was ich über den VII. Brief zu sagen be;<mnen habe, fortsetzen und abschließen. Sie erinnern sich, wir in diesem Brief zwei Gruppen von Elementen ausge:-r:acht hatten. Zunächst Betrachtungen über die Tätigkeit des :?hilosophen, die darin besteht, einem Fürsten, d. h. jemandem, i.::r die Politik ausübt, Ratschläge zu geben. Diese Betrachtun;en bezogen sich auf Umstände, unter denen es zweckmäßig ~cin mag, Ratschläge zu erteilen, bzw. auf die Gründe, weshalb :-r:an Ratschläge erteilen sollte. Am Leitfaden dieser Frage bezüglich des Status des Ratschlags und des Beraters konnten wir sehen, wie sich eine viel grundlegendere Frage abzeichnete, da :5 sich schließlich um nichts Geringeres handelte als um das, "';as man die Wirklichkeit der Philosophie nennen könnte. Un:"r welchen Bedingungen kann die Philosophie etwas anderes .:Is ein logos sein, ein bloßer Diskurs? Ab wann und unter wel:rren Umständen kann sie die Wirklichkeit berühren? Wie "ann sie zu einer wirklichen Tätigkeit in dieser Wirklichkeit ",.-"rden? Nun, unter der Bedingung, daß sie eine bestimmte 3eziehung zur Politik unterhält, nämlich eine solche, die durch iie symboule (den Ratschlag) bestimmt ist. Wir hatten also ~LE:
Zunächst möchte ich Sie bitten, mir zu verzeihen, weil ich heute ziemlich unter einer Grippe leide. Es wäre unhöflich von mir gewesen, Sie kommen zu lassen und selbst nicht zu erscheinen, also werde ich versuchen, die Vorlesung zu halten. Wahrscheinlich wird es etwas schlapp werden, aber ich werde immerhin versuchen, bis zum Ende der zwei Stunden durchzuhalten.
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letztes Mal dieses Verhältnis zur Politik als Realitätsprüfung für die Philosophie, für den philosophischen Diskurs betrachtet. Nun gibt es in diesem VII. Brief eine weitere Gruppe von Elementen, die ich heute untersuchen möchte. Diese Elemente sind natürlich die Ratschläge selbst. Im VII. Brief - der zweifellos fiktiv an die Freunde Dions gerichtet ist oder vielmehr im wesentlichen ein offener Brief ist, in dem Platon, ob er sich nun tatsächlich an die Freunde Dions richtet oder nicht, seinen Lesern erläutert, warum und wie er zunächst Dion, dann Dionysios und anschließend die Freunde Dions beraten hat - gibt es Überlegungen zum Prinzip des Ratschlags selbst. Und außerdem gibt es [konkrete] Ratschläge. Platon gibt nämlich zumindest skizzenhafte Beispiele von Ratschlägen, die er nacheinander verschiedenen Syrakusanern gegeben hat, die ihn um seine Meinung gebeten hatten. Diese Ratschläge müssen wir nun in ihrer Form, ihrem Inhalt, in ihrer Natur, in dem, was sie sagen usw. untersuchen. Im Umfeld der Frage nach dem Inhalt der Ratschläge zeichnet sich ein anderes Problem ab, das nicht mehr die Frage nach der Wirklichkeit der Philosophie oder nach der Bewährungsprobe sein wird, durch die die Philosophie ihre Wirklichkeit bestimmen kann. Was aus dem Inhalt dieser politischen Ratschläge selbst hervorgeht, ist nicht mehr und nicht weniger als der Seinsmodus des Herrschers, insofern er Philosoph sein soll. Nur sollten wir nicht zuviel erwarten, weil, wenn man sich die Ratschläge ansieht, die PIaton erteilt, diese trotz der Bedeutsamkeit des Problems ziemlich enttäuschend sind. Tatsächlich scheinen diese politischen Ratschläge Platons, die er sich rühmt, Dion, Dionysios und dann den Freunden Dions gegeben zu haben, bei näherer Betrachtung kaum mehr als eine Reihe von eher philosophischen als politischen Meinungen, eher moralisch als wirklich politisch zu sein: Einige allgemeine Themen bezüglich der Gerechtigkeit und der Ungerechtigkeit, bezüglich des Nutzens, der sich jedenfalls aus der Ausübung der Gerechtigkeit gegenüber der Ungerechtigkeit ergibt, einige Rat-
schläge der Mäßigung, Ratschläge, die man auch zwei anwesenden Parteien gibt, damit sie sich wieder versöhnen, Rats,:hläge an die Herrscher, damit sie Freundschaft mit ihren :.Jntergebenen Völkern pflegen, anstatt sie mit Gewalt zu un:erwerfen usw. Nichts, was auf den ersten Blick eigentlich als sehr interessant erscheinen könnte. Betrachten wir ein Beispiel. Platon erklärt, daß er mit Dions Cnterstützung Dionysios ermahnte, »zunächst darnach [zu] streben sich unter seinen Verwandten und Altersgenossen aniere zu Freunden und gleichgestimmten Bewerbern um den Preis sittlicher Tüchtigkeit zu machen - vor allem aber diese Gleichmäßigkeit der Stimmung in sich selbst zur Herrschaft zu ~ringen; denn daran fehle es ihm in erstaunlichem Maße. Damit platzten wir [Dion und Platon gegenüber Dionysios; M. F.] :mn nicht so ohne weiteres heraus - denn das wäre einigermagefährlich gewesen -, sondern wir beschränkten uns auf Andeutungen und allgemeinere Ausführungen zur Erläute:-Jng des Gedankens, daß bei solchem Verhalten jedermann sei::lem eigenen Heil wie dem derer, deren Leitung in seiner Hand :iegt, am besten dienen wird, schlägt er aber einen anderen Weg ein, dann alles ins Gegenteil kehren wird. Wenn er [= Dionysios, M. F.] nun, auf dem von uns bezeichneten Wege wandelnd emd so zu Einsicht und Besonnenheit herangereift, die verwüsteten Städte Siziliens wieder herstelle und sie mit Gesetzen und Verfassungen ausstatte, die eine Bürgschaft der Einheit böten und dadurch sowohl ihm selbst wie auch gegenseitig einander treu ergeben und verbunden wären, so werde er die Macht ies vom Vater ererbten Reiches nicht nur um das Doppelte, sondern um wer weiß ein wie Vielfaches erhöhen.«l Sie sehen, daß wir bei dieser Art von Ratschlägen sehr weit von dem entTernt sind, was eines Tages die Regierungskünste oder einfach :1ur politische Überlegungen sein werden, die jemand anstellen kann, der die Politik auszuüben hatte und über sie nachdenken mußte. Wir sind weit entfernt von den Denkwürdigkeiten von Sanct-Helena,2 weit entfernt vom Testament Richelieus,3 weit entfernt von Machiavelli. Wir sind sogar weit entfernt von der
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Rede, die Maecenas angeblich vor Augustus gehalten hat und über die Cassius Dio berichtet. 4 Wenn man den Text Platons mit zeitgenössischeren Quellen vergleichen will, kann man sich auf das beziehen, was einige Jahre zuvor Thukydides anläßlich der Ratschläge an die Athener Perikles in den Mund gelegt hatte. Sie erinnern sich an jene berühmte Rede, in der PerikIes den Athenern seine Meinung über die Zweckmäßigkeit des Krieges gegen Sparta mitteilt, als die Botschafter Spartas gekommen waren, um den Athenern ein Ultimatum zu stellen. 5 Soll man einen Krieg beginnen oder nicht? Nun, Perikles gibt Ratschläge, die sowohl diplomatisch als auch strategisch sind. Sie kennen die Art von Schlußfolgerungen, die er anstellt, die Dichte, die Reichhaltigkeit seiner Überlegungen über die Beziehungen, die einerseits zwischen einem Land mit seiner Geographie, seinen Ressourcen, seinen Gesellschaftsstrukturen, seiner Art von Regierung und andererseits dem politischen Verhalten bestehen, das man von ihm erwarten kann, der Art von Entscheidung, die es treffen kann, seiner Fähigkeit, militärischen Angriffen zu widerstehen, von welcher Art der politische Wille sein wird, den ein Land wie Sparta Athen aufgrund solcher Überlegungen über die geographischen, sozialen, wirtschaftlichen Gegebenheiten entgegensetzen könnte. Es ist klar, daß wir hier einen Typus von politischer Analyse haben, die ungleich reichhaltiger und interessanter ist als diese wenigen »Schalheiten«, die ich Ihnen aus dem VII. Brief vorgelesen habe. Aber liegt nicht gerade hier das Problem? Muß man sagen, daß Platon am Ende nichts anderes als ein etwas moralischerer, d. h. ein naiverer Ratgeber ist? Gibt er als Philosoph dem Politiker weniger intelligente, weniger informierte, weniger durchdachte Ratschläge als Perikles oder jene, die Thukydides dem Perikles unterschiebt? Oder gibt er nicht etwa eine andere Art von Ratschlägen? Sind die Meinungen, die Platon gegenüber Dion, Dionysios und den Freunden Dions äußert, einfach von schlechterer Qualität und von roherer politischer Gestaltung, oder sind sie von anderer Natur als jene, die Perikles geben 33°
konnte? Kurz, die Frage, die ich stellen möchte - Sie werden sofort sehen, in welchem Sinne ich eine Antwort darauf versuchen will-, ist folgende: Wenn Platon Ratschläge erteilt, wenn der Philosoph die Wirklichkeit seines Diskurses unter Beweis stellt, ist dann seine Rolle, seine Funktion, sein Ziel zu sagen, was im Bereich der politischen Entscheidung zu tun ist, oder sagt er etwas anderes? Mit anderen Worten, besteht die Notwendigkeit, die Philosophie mit der Politik zu konfrontieren, besteht für die Philosophie die Notwendigkeit, ihre Wirklichkeit in dieser Konfrontation mit der Politik zu suchen, darin, einen philosophischen Diskurs zu formulieren, der zugleich ein präskriptiver Diskurs für das politische Handeln sein soll, oder geht es um etwas anderes? Und wenn ja, um was? Diese Frage möchte ich heute zu klären versuchen. Dazu möchte ich drei Textpassagen untersuchen: Zwei Passagen stehen im VII. Brief und eine dritte im VIII. Brief. Diese drei Passagen sind keine Überlegungen mehr über die Notwendigkeit bzw. die Zweckmäßigkeit, der Politik Ratschläge zu erteilen. Sie sind politische Ratschläge. In der ersten Passage im VII. Brief - Sie erinnern sich daran, daß der VII. Brief nach den großen, dramatischen Ereignissen geschrieben wurde, die zuerst das Exil und dann den Tod Dions zur Folge hatten und die auch zur Abreise Platons aus Sizilien führten - erinnert Platon an die Ratschläge, die er Dionysios zu der Zeit gegeben hat, als er an dessen Hof war und als dieser so tat, als ob er sich für die Philosophie interessierte. Wir haben also eine erste Passage, in der Platon an diese Ratschläge erinnert. Dann gibt es eine zweite Passage, die ich anschließend untersuchen werde, eine Passage, in der er in der Gegenwart des Briefes spricht, den er gerade schreibt, und sagt: Da die Situation nun einmal so ist, daß meine ersten Ratschläge an Dionysios gescheitert sind, daß Dion verbannt und dann getötet wurde und daß ihr nun alleine seid, welche Ratschläge kann ich euch nun geben? Es handelt sich also um Ratschläge an die Freunde Dions nach dessen Tod und übrigens auch nach der Verbannung Dionysios' selbst, der einige Zeit zuvor von Dion BI
verbannt wurde. Schließlich werde ich zu dieser Passage einen Text aus dem VIII. Brief hinzunehmen. Der VIII. Brief ist kürzer als der VII. Brief und enthält viel weniger philosophische Reflexionen, ist dafür jedoch politischer und antwortet unmittelbarer auf eine dramatische Situation, die sich in Syrakus in den Monaten entwickelte, die auf die im VII. Brief erwähnten Zusammenhänge folgten. Nach der Verbannung Dionysios', der von Dion verjagt wurde, und dem Tod von Dion selbst, der in Syrakus ermordet wurde, bricht nämlich in Syrakus der Bürgerkrieg aus, und zwar stehen sich die beiden Parteien von Dionysios und von Dion gegenüber. In diesem Zusammenhang schreibt Platon den VIII. Brief. In ihm gibt er während des Bürgerkrieges gewissermaßen noch aktuelle Ratschläge, um zu zeigen, wie man aus dieser Situation herauskommen kann. Ich werde also zur Erläuterung der beiden Texte aus dem VII. Brief diese Passage des VIII. Briefs hinzuziehen: wegen ihrer Bedeutung, wegen der Tatsache, daß diese Ratschläge in direktem Zusammenhang mit den beiden anderen Passagen stehen, und dann noch aus einem anderen Grund, der, wie Sie sehen werden, mit dem Status der parrhesia zu tun hat und uns zum Kern unseres Problems zurückführen wird. Die erste Passage des VII. Briefs beginnt im Absatz 33 I d: »Demgemäß möchte ich euch den nämlichen Rat erteilen, den ich im Bunde mit Dion dem Dionysios gab: er möge vor allem sein alltägliches Leben so regeln [.. .].«6 Diese Ratschläge also, von denen er sagt, daß er sie Dionysios gegeben hat, beziehen sich auf einen historischen Kontext, auf einen ganz konkreten Kontext von Ereignissen. Dionysios ist zu dieser Zeit noch ganz jung. Er hat von seinem Vater, Dionysios dem Älteren, gerade das Erbe der Macht in Syrakus empfangen, eine monarchische, tyrannische, autokratische Macht, die es jetzt zu verwalten gilt. Nun ist es äußerst bemerkenswert, daß Platon sich hütet, Ratschläge zu geben, die sich auf eine Änderung der Machtstruktur und der institutionellen Organisation des Staats beziehen. Er gibt keine Ratschläge bezüglich der politeia. Im 33 2
Grunde tut er nur das, was im v. Brief gesagt wird: die phone der politeia hören, wie sie in Syrakus existiert. Vorausgesetzt, daß man es mit einer autokratischen Macht zu tun hat, wie kann man sie am besten verwalten? Zweitens schließt sich diese Passage unmittelbar an die Betrachtungen an, über die wir letztes Mal gesprochen haben, in denen Platon die Rolle des Beraters erläutert. Ganz konkret hat er gerade erklärt, daß ein politischer Berater wie ein Arzt sein soll. Sie erinnern sich, daß die Rolle des Arztes durch drei Dinge charakterisiert war. Erstens greift ein guter Arzt natürlich ein, wenn eine Krankheit vorliegt und es darum geht, die Gesundheit durch die Behandlung der Gebrechen wiederherzustellen. Aber dazu muß man diese Gebrechen kennen. Der Arzt hat also eine Arbeit der Beobachtung und der Diagnostik zu leisten, er muß mit seinem Patienten sprechen, um herauszufinden, wo das Übel liegt. Zweitens ist der gute Arzt nicht wie jener Sklavenarzt, der seinen Kunden hinterherläuft und sich dann damit begnügt, Rezepte und Verordnungen auszuteilen. Der gute Arzt überzeugt, d. h., er spricht mit seinem Patienten und überzeugt ihn von der Krankheit, die ihm zu schaffen macht, und von den Mitteln, um sie zu heilen. Schließlich ist der gute Arzt drittens nicht bloß einer, der diagnostiziert, indem er überlegt, der überzeugt, indem er spricht. Durch seine Überzeugungskunst bringt er den Kranken auch zu der Einsicht, daß es nicht genügt, Medikamente einzunehmen, sondern daß er seine Lebensweise, seine Diät völlig ändern muß. Das sind, glaube ich, die drei medizinischen Funktionen, die in dieser ersten Gruppe von Ratschlägen, die Platon Dionysios gegeben hat, ins Spiel gebracht werden. Mir scheint, daß man auf diesen zwei Seiten von Platons Text folgende drei Funktionen ausmachen kann. Erstens versucht Platon das Übel zu diagnostizieren, an dem Syrakus leidet, jedoch zu einer Zeit, da die Krise noch nicht offen zutage liegt, da schließlich Dionysios die Macht ausgeübt, eine starke Autorität in Syrakus begründet, um Syrakus herum ein ganzes Reich aufgebaut hat, das nahezu die Ausdehnung Siziliens besitzt oder zumindest 333
einen Teil Siziliens abdeckt, und sein Erbe hat gerade diese Macht erhalten. Anscheinend gibt es zwar keine Krise, aber doch eine Krankheit. Diese Krankheit, dieses Übel versucht Platon in einer ganzen Reihe von Ratschlägen sichtbar zu machen, die man den Ausführungen ab 33 rd entnehmen kann. An welchem Übel leidet nun Syrakus trotz des Anscheins guter Gesundheit? Nun, Platon sagt folgendes: Dionysios der Ältere, den Dionysios der Jüngere gerade beerbt hat, hatte ein Reich aufgebaut. Wie hatte er es aufgebaut? Indem er die sizilischen Städte wiedererrichtet bzw. wiederhergestellt hatte, die im Verlauf der Kriege gegen die Barbaren zerstört worden waren (gemeint sind in diesem Fall natürlich die Kriege gegen die Karthager). Nun hat er diese Städte, die er von den Karthagern zurückerobert und von ihnen befreit hatte und die dabei zerstört wurden, wiederaufgebaut. Aber - und hier tritt ein erstes Krankheitssymptom auf - Dionysios war nicht in der Lage, so der Text, politeiai pista? (Verfassungen, Regierungsformen, die zuverlässig und sicher sind, die Vertrauen erzeugen können) in diesen Städten aufzubauen. Diese Regierungsformen konnten kein Vertrauen erzeugen, und zwar weder, als er sie den Händen von Fremden, noch denen seiner Brüder anvertraut hatte. An dieser Stelle wird klar, was mit politeiai pistai (zuverlässigen Verfassungen und Regierungsformen) gemeint ist. Zuverlässig bedeutet hier keineswegs, daß es sich um sichere, stabile Regierungsformen handelte, die es den Bürgern ermöglichten, zu ihren eigenen Regierenden Vertrauen zu haben, oder umgekehrt den Regierenden, denen, die sie regieren, zu vertrauen. In Wirklichkeit handelt es sich um ein Verhältnis der Treue und des Vertrauens zwischen den Städten - die unter der Leitung von Syrakus nach ihrem Wiederaufbau instand gehalten wurden - und der Metropole Syrakus selbst. Dionysios hat diese wiederaufgebauten Städte entweder der Leitung, der Verwaltung und der Regierung fremder Hände anvertraut oder seinen eigenen Brüdern, aus denen er reiche und mächtige Leute gemacht hat. Aber weder diese Fremden noch seine Brüder, noch die Verwaltung der einen oder der anderen waren in der Lage,
ein Verhältnis des Vertrauens zwischen Syrakus und diesen verschiedenen politeiai herzustellen. Platon entwickelt diesen Gedanken, indem er allgemein hinzufügt, daß Dionysios nicht in der Lage war, das herzustellen, was er koinonia archon nennt. 8 Koinonia archon ist die Gemeinschaft der Mächte, die Teilung der Mächte, etwas, das wir die Mächteverteilung nennen könnten. Es gelang ihm nie, seine Untergebenen, denen er diese oder jene Verantwortlichkeit anvertraut hatte, oder die Bevölkerung, über die Syrakus seine Herrschaft ausüben sollte, an der Macht zu beteiligen. Er konnte diese Gemeinschaft der Mächte weder durch Überzeugung noch durch Unterricht, noch durch Wohltaten, noch durch Verwandtschaften erreichen. Schließlich formuliert Platon seine Diagnose folgendermaßen: Dionysios hat zwar seine Macht in Syrakus und die Macht von Syrakus über die anderen Städte bewahrt. Er hat sie bewahrt, aber nur mit Mühe. Warum? Weil, so Platon, er aus Sizilien mia polis (eine einzige Stadt) machen wollte und selbst keine Freunde oder Vertrauensleute hatte (philoi und pistoi). 9 Ich glaube, daß diese kurze Beschreibung der Regierung des Dionysios und des Übels, an dem Sizilien leidet, interessant ist. Sie ist interessant, weil es bei dieser Diagnose keineswegs darum geht, eine monarchische, autokratische oder tyrannische Regierung zu kritisieren. Auch wenn es implizit eine Kritik an der Tyrannei, an der Monarchie oder an der autokratischen Macht gibt, dann jedenfalls doch nicht an ihr selbst, an ihrer Struktur, an ihrem institutionellen System. Platon prangert Mängel an, zwei Mängel von Dionysios' Regierung, nämlich, daß er aus Sizilien eine einzige Stadt machen wollte, d. h. im Grunde, daß er nicht in der Lage war, ein Reich in einer pluralen Form zu schaffen, weil er die Dimensionen und die Form dieser neuen politischen Einheit, die eine Art von Imperium sein sollte, nicht ordentlich bedacht hat. Der Rahmen der polis, in dem sich die Machtverhältnisse ordentlich entwickeln, einrichten, institutionalisieren und vollziehen konnten, ist nicht geeignet und nicht in der Lage, die Macht im Maßstab dessen zu regeln, was zu jener Zeit eine große politische Einheit im
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Vergleich mit dem griechischen Stadtstaat war, nämlich so etwas wie Sizilien. Das Modell der griechischen Stadt auf etwas relativ Großes und Komplexes anwenden zu wollen - für die Griechen und die griechische Stadt war das etwas äußerst Großes und Komplexes, nämlich eine Gesamtheit von Städten im Maßstab Siziliens -, das war der Fehler. Der zweite Fehler, der übrigens das Gegenstück dazu und die Ursache dafür ist, lag darin, daß er keine Beziehungen der Freundschaft und des Vertrauens aufbauen konnte. Beziehungen der Freundschaft und des Vertrauens zu anderen Oberhäuptern, zu jenen, die die anderen Städte regierten - anstatt das Modell der einzigen und einheitlichen Stadt anwenden zu wollen -, hätten jeder Stadt erlaubt, ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Und wenn jede Stadt ihre Unabhängigkeit bewahrt hätte, dann hätte es Freundschafts- und Vertrauensbeziehungen zwischen den Oberhäuptern der untergeordneten, föderierten, kolonisierten Städte und ihm selbst, dem Oberhaupt von Syrakus, geben können. Die erzwungene Vereinigung (in Form von mia polis, der einzigen und einheitlichen Stadt) und das Fehlen einer Bindung und Freundschaft, die die gerechte Verteilung von Macht ermöglicht hätte, welche durch Freundschaft und Vertrauen garantiert und besiegelt worden wäre, darin bestand Dionysios' Fehler und die Krankheit. Das ist die Diagnose, die Platon für die Krankheit Siziliens stellt. Sie sehen, daß das doch recht interessant ist, weil wir hier eine Reihe von politisch-historischen Problemen berühren, die am Ende der ersten Hälfte des 4- Jahrhunderts sehr wichtig waren, d. h. genau am Vorabend jener Zeit, zu der die polis, die griechische Stadt als politische Einheit, unter dem Ansturm der rasenden Entwicklung der großen Königreiche, insbesondere des makedonischen Königreichs und des Weltreichs Alexanders, untergehen wird. Die zweite Ebene von Ratschlägen, die Platon nach dieser medizinischen Diagnose gibt, die zweite Funktion des medizinischen sowie des philosophischen Ratgebers, ist es zu überzeugen. Der gute Arzt diagnostiziert. Zweitens überzeugt er. Für diese Überzeugungsarbeit gibt PIaton nun innerhalb der Reihe 33 6
\"on Ratschlägen, die er schon Dion gegeben hatte, Beispiele an. Gemäß den Prinzipien der Rhetorik und der Arbeit der Wahrheit in einem griechischen Diskurs hat das Beispiel die Funktion zu überzeugen. Platon gibt zwei Beispiele: das Beispiel Persiens und das Beispiel Athens. Zunächst das Beispiel Persiens. Es ist interessant, daß Platon dieses Beispiel überhaupt anführt, denn Persien war lange Zeit, und insbesondere während des ganzen 5. Jahrhunderts, ein gewissermaßen abstoßendes, negatives Beispiel für das griechische Denken: eine autokratische, gewalttätige Herrschaft, ein großes Reich, das die anderen unterwirft usw. Persien ist nun aber im 4. Jahrhundert im Begriff, zu einem positiven Beispiel zu werden, zumindest im Geiste einer Reihe von Leuten, die sich der traditionellen Demokratie entgegenstellen. Jedenfalls führt Platon dieses Beispiel Persiens wiederholt in seinen späteren Schriften an. In den Gesetzen, insbesondere im dritten Buch, bezieht er sich auf die persische Regierungsform, und zwar konkret auf die Art und Weise, wie Kyros regiert. Sie erinnern sich - ich hatte diese Passage zitiert 10 -, Platon erklärt, wie K yros dazu gelangte, der parrhesia in seiner eigenen Umgebung, an seinem Hof einen Ort einzuräumen, als er den besonnensten Leuten seiner Umgebung erlaubt hat, ihm in aller Offenheit die Ratschläge zu erteilen, deren er bedurfte. Dieses überaus positive Beispiel Persiens findet man auch in dem Dialog, über den ich gesprochen habe, nämlich im Alkibiades, von dem man, wie gesagt, nicht weiß, ob es sich um eine Spät- oder Frühschrift handelt. Dort gibt es einen positiven Verweis auf die Art und Weise, wie die Herrscher, die persischen Fürsten, erzogen werden, und den Kommentatoren zufolge wäre dieser Verweis auf Persien ein Zeichen dafür, daß der Dialog eine Spätschrift istY Wie dem auch sei, jedenfalls ist das Thema Persiens zumindest in den späten Texten PIatons gegenwärtig. Sie wissen auch, daß es im Werk Xenophons eine große Rolle spielt, da Xenophon eine ganze Kyropädie 12 geschrieben hat. Auf einige Elemente davon werde ich gleich zurückkommen. Warum ist das Beispiel Persiens interessant? Nun, weil eben Platon in Persien das Beispiel 337
eines kaiserlichen Systems sieht, das funktioniert, und zwar positiv funktioniert. Die Perser haben in der Tat, erklärt er in diesem Text, durch eine Reihe von Kriegen und Eroberungen, die insbesondere gegenüber den Medern errungen wurden, ein Kaiserreich gegründet. Aber sie haben das, so Platon, immer mit Hilfe von Verbündeten getan, die bis zum Schluß ihre Freunde geblieben sind. Platon bezieht sich hier also auf ein persisches System, oder er schreibt den Persern zumindest ein solches System zu, demzufolge die Eroberung sich nicht einfach im Sinne einer Unterwerfung aller unter die alleinige Autorität der Perser vollzieht, sondern durch ein System von Verbänden und Bündnissen, dem es gelingt, komplexe Beziehungen zwischen den Untergebenen, den Föderierten, den Verbündeten usw. zu begründen. Zweitens sagt Platon über die Perser, daß Kyros, nachdem sie ihre Eroberung abgeschlossen haben, Sorge dafür getragen hat, sein Königreich in sieben Teile aufzuteilen, sieben Teile, in denen er treue Mitarbeiter fand (bezüglich dieser sieben unterläuft Platon übrigens ein historischer Irrtum, oder er bezieht sich zumindest auf eine Aufteilung, die anderswo nicht bestätigt wird, wie dem auch sei). Worauf Platon sich hier jedenfalls bezieht, ist die Möglichkeit einer kaiserlichen Regierung, die auf der Mitarbeit und der Zusammenarbeit einer Reihe von Regierenden beruht, die lokal und vor Ort die Autorität vermitteln. Nach dem Beispiel Persiens und immer noch bezogen auf die Überzeugungsarbeit, die ein guter Arzt leisten soll, führt Platon das Beispiel Athens an. Nun ist es sehr interessant zu sehen, daß Platon bezüglich dieser Überzeugungsarbeit zuerst Persien und dann Athen anführt. Er bezieht sich nämlich auf zwei politische Regierungsformen, die völlig entgegengesetzt sind - bei der einen handelt es sich um eine autokratische Monarchie, bei der anderen um eine Demokratie -, und zeigt eben dadurch, daß sein Problem, zumindest bei dieser Art von Ratschlägen, nicht so sehr darin besteht, zwischen der Demokratie und der Autokratie zu wählen. Das Problem besteht vielmehr darin, herauszufinden, wie man die eine oder die andere auf ge33 8
eignete Weise zum Funktionieren bringen kann. Nun, so Platon, geht aber das Beispiel Athens gänzlich in dieselbe Richtung wie das Beispiel Persiens. Die Athener haben keineswegs zu errichten versucht, was wir jetzt Siedlungskolonien nennen, d. h. sie haben nicht versucht, Städte zu gründen, die außerhalb des athenischen Territoriums liegen, so etwas wie Teile der Stadt oder des Stadtstaats. Sie haben Städte eingenommen, die schon vollkommen bevölkert waren und zu jener Zeit unter der Herrschaft der Barbaren standen - Platon bezieht sich auf die ionische Föderation, die die Athener schaffen wollten und die sie in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts wirklich hergestellt haben -, sie haben die Bevölkerung dort gelassen, wo sie war, und haben die Macht in den Händen jener belassen, die sie auf natürliche Weise ausübten oder ausüben sollten (was wir in unserem Vokabular die »lokalen Eliten« nennen würden). Auf diese Weise, so Platon, konnten die Athener in all den Städten, die sie vom Joch der Barbaren befreit und in ihr Reich eingegliedert hatten, andras philous (befreundete Männer, Vertrauensleute) gewinnen und bewahren und ihre Autorität auf sie gründen. 13 Das sind die Elemente, durch die Platon, nachdem er das Übel diagnostiziert hatte, an dem Syrakus unter der Herrschaft von Dionysios noch kaum wahrnehmbar litt, versucht, Dionysios den Jüngeren davon zu überzeugen, daß diese Art des Regierens geändert werden müsse. Nun folgen in Platons Text die positiven Ratschläge, die er unmittelbar dem Dionysios erteilt - was, bezogen auf die medizinische Arbeit, auf die Rolle der Medizin, der Funktion entspräche, einen Diätplan aufzustellen. Worin besteht der Diätplan, den Platon Dionysios vorschlägt? Nun, so Platon, anstatt aus Sizilien eine einzige Stadt zu machen, muß man erstens jeder der Städte Siziliens ihre eigene politeia (ihre eigene Verfassung, ihre eigenen Institutionen, ihre eigene politische Regierungsform) geben. Außerdem muß man jeder von ihnen nomoi (Gesetze) geben. Zweitens muß man die Städte untereinander verbinden, sie mit Syrakus verbinden und mit demjenigen, der in Syrakus herrscht. Auch 339
das soll durch nomoi und politeiai geschehen. Es muß also sowohl Gesetze als auch lokale Regierungsformen geben. Außerdem muß es zwischen diesen verschiedenen Städten und der Stadt, um die herum sie föderiert sind und die ihnen als Metropole dient, also zwischen jeder dieser so organisierten Städte und Syrakus, eine Reihe von geregelten Beziehungen geben, die durch so etwas wie eine politeia geregelt werden, eine politeia, die zwischen den verschiedenen poleis vermittelt, eine Art von politischem Netzwerk, von politischer Institution jenseits der einzelnen Städte, die sie untereinander verbindet und sie an die Metropole anschließt. Schließlich, so Platon, wird diese gewissermaßen plurale und differenzierte Einheit, in der es für jede Stadt Institutionen gibt, und zwar Institutionen, die die Beziehungen zwischen den Städten regeln, umso stärker sein, je mehr man sich ihrer bedient, um gegen einen gemeinsamen Feind zu kämpfen, d. h. gegen die Barbaren, in diesem Fall die Karthager. Durch diesen frontalen Kampf mit den Barbaren wird die Einheit mit ihren Elementen der Pluralität aufrechterhalten. Auf diese Weise, so Platon, wird Dionysios der Jüngere nicht nur das Reich von Dionysios dem Älteren verdoppeln, sondern sogar vervielfachen können. Diesen Ratschlägen, die die Organisation der Städte, der Städte an sich und der Städte untereinander und in bezug auf Syrakus betreffen, fügt Platon weitere Ratschläge hinzu. Diese betreffen Dionysios selbst, Dionysios als Person, und zwar als Person, die zu regieren und ihre Macht auszuüben hat. Platon sagt, daß Dionysios an sich selbst arbeiten muß. Dabei verwendet er den Ausdruck apergazein (entwickeln, ausarbeiten, vervollkommnen). Was soll er aber entwickeln, ausarbeiten, vervollkommnen? Sich selbst, und zwar so, daß er emphron und sophron (überlegt und klug, maßvoll)14 wird. Er soll in einem Verhältnis der Übereinstimmung, des Gleichklangs mit sich selbst stehen. Er soll symphonos mit sich selbst 15 sein, genauso wie die Städte, die er zu regieren hat, auch in diesem Verhältnis des Gleichklangs sowohl mit Syrakus als auch miteinander stehen sollen. Sie sehen, daß wir hier in diesem Thema des sym34°
phonos und der symphonia jene Idee wiederfinden, die ebenfalls im V. Brief vorkommt, nämlich daß jede Verfassung ihre phone, ihre Stimme hat. 16 Das Problem der guten Regierung besteht, wie gesagt, nicht darin, auf autoritäre Weise und gemäß einer zuvor festgelegten Formel eine Verfassung in eine andere umzuändern, die als die beste gelten würde. Für eine gute Regierung geht es darum zu verstehen, was die phone, was die Stimme jeder politeia ist, und dann in Übereinstimmung mit dieser phone zu regieren. Sie sehen nun, daß sich hier diese Idee der symphonia in dem Sinne entwickelt, daß die phone jetzt als eine Stimme verstanden wird, die jede Stadt haben soll. In der großen Föderation, die Dionysios um Syrakus herum organisiert, soll zwar jede Stadt ihre eigene Stimme haben, aber alle diese Stimmen sollen sich zusammenschließen, um eine Harmonie und einen Gleichklang zu bilden. Es ist jedoch ebenfalls notwendig, daß das Oberhaupt selbst als Garant dieses Gleichklangs der verschiedenen Städte mit sich selbst symphonos, d. h. im Einklang mit sich selbst ist. Um diesen Einklang mit sich selbst geht es nun von Beginn dieser Ratschläge an, wenn Platon daran erinnert, daß er Dionysios zunächst aufgefordert hat, jeden Tag so zu leben, daß er immer selbstbeherrschter wird (egkrates autos hautou)Y Dieser Ausdruck (egkrates autos hautou) ist interessant, weil egkrates im allgemeinsten Sinne genau die Bedeutung hat, Gebieter zu sein, Gebieter über sich selbst. Üblicherweise bedeutet egkrates Selbstbeherrschung, die Herrschaft über die eigenen Begierden und ganz besonders die Enthaltsamkeit im Hinblick auf das Essen, den Wein und die sexuellen GenÜsse. 18 Hier zeigt die Verstärkung des Ausdrucks - egkrates autos hautou - jedoch an, daß er in einem allgemeineren Sinn gemeint ist, selbst wenn der besondere Sinn durchscheint. Das Oberhaupt, derjenige, der befiehlt, der Herrscher soll sich in der Tat selbst beherrschen, und zwar in dem Sinne, daß er enthaltsam ist, daß er in der Lage ist, seine Begierden in den Grenzen des Schicklichen zu halten, sie zu mäßigen und daher alle Mißtöne zu vermeiden, die den Einklang verhindern. Die Enthaltsamkeit wird jedoch erklärt als 34 1
ein bestimmtes Machtverhältnis der Person sich selbst gegenüber. Egkrates autos hautou: Gebieter über sich selbst in bezug auf sich selbst, wenn Sie so wollen. Diese Verdoppelung gegenüber dem geläufigen Sinn von egkrates zeigt an, daß das, was hier angedeutet wird, nicht die Qualität, die Tugend der Enthaltsamkeit ist, wie sie im allgemeinen bestimmt wird, sondern vielmehr ein bestimmtes Machtverhältnis zu sich selbst. Eben dies wird gewissermaßen die richtige Regierung besiegeln, die Dionysios in Syrakus und über die Verbündeten von Syrakus herrschen lassen sollte. Das sind die Dinge, die man in dieser ersten Folge, der ersten Welle von Ratschlägen finden kann, die Platon im VII. Brief erteilt. Bei der zweiten Gruppe von Ratschlägen handelt es sich sozusagen um aktuelle Ratschläge. An diejenigen, über die ich gerade gesprochen habe, erinnert er nur. Er erinnert daran, daß er sie Dionysios erteilt hat, als dieser als ganz junger Tyrann von Syrakus den übrigens falschen Anschein erweckte, sich mit der Philosophie befassen zu wollen. Etwas weiter im Brief sagt Platon jetzt: Nach allen Unglücksfällen, die sich ereignet haben (die Verbannung Dions, der Bürgerkrieg, die Konfrontation zwischen den Anhängern Dions und Dionysios', die Verbannung Dionysios', Dions Rückkehr und sein Tod), welche Ratschläge kann ich nun in der gegenwärtigen Situation euch Freunden des Dions geben, jetzt, da er tot ist? Diese Passage beginnt mit folgendem Hinweis, den man hervorheben sollte: Macht euch über die Ratschläge, die ich euch jetzt in dieser neuen Situation geben werde, keine Illusionen, denn es sind genau dieselben Ratschläge (he au te symboule), die ich euch noch feierlicher geben werde, als ob es sich um ein drittes Trankopfer handeln würde. 19 Hier spielt Platon auf zwei Dinge an. Erstens auf die Tatsache, daß er meint, in Syrakus zuerst Dion und dann Dionysios Ratschläge erteilt zu haben (nämlich die, über die wir gerade sprachen), und jetzt wird er den Freunden Dions eine dritte Gruppe von Ratschlägen geben. [... ] Zweitens spielt er auf jenes Ritual an, das fordert, daß das dritte Trankopfer bei einem Gastmahl das feierlichste ist. Es ist das 34 2
feierlichste, weil es an Zeus gerichtet ist oder, um genau zu sein, an Zeus als Retter, an Zeus, insofern er rettet. Nun, diese Ratschläge, die wie bei einem dritten Trankopfer wiederholt werden, sollen Syrakus retten. Es sind dieselben Ratschläge, aber dennoch kann man bemerken, daß zwischen dieser Gruppe von Ratschlägen, die den Freunden Dions gegeben werden, und den Ratschlägen, die Platon Dionysios gab, so etwas wie eine Akzentverschiebung besteht. Eine Akzentverschiebung erstens, weil wenig über das kaiserliche System gesagt wird, über das Problem des Verhältnisses zwischen Syrakus und den anderen Städten. Platon begnügt sich einfach damit zu sagen, daß jede Stadt ihre Gesetze haben muß. Andererseits -und das ist völlig normal, weil man sich zur Zeit der Rede in einer Situation befindet, in der der Bürgerkrieg in Syrakus kurz vor dem Ausbruch steht und wo die beiden Parteien aufeinandertreffen (Dionysios ist zwar verbannt, versucht aber zurückzukehren; die Freunde Dions sind zwar seiner Person beraubt, befinden sich aber in der Stadt) - ist in dieser Situation, in der der Bürgerkrieg droht, natürlich das Problem der politeia der Stadt selbst, die politeia von Syrakus, das wichtigste Element, die wichtigste Herausforderung bei den zu erteilenden Ratschlägen. An dieser Stelle skizziert Platon einige Maßnahmen, die zu ergreifen wären und die tatsächlich die Institutionen und die Organisation der Stadt betreffen. Er sagt, daß man sich an einige weise Männer wenden solle, an Männer, deren Weisheit man an einer Reihe von klaren und offensichtlichen Zeichen erkennt. Um die Weisen zu erkennen, die man in einem Staat braucht, müssen sie zunächst »Frauen und Kinder« haben. Zweitens müssen sie »Nachkommen einer tüchtigen Abstammungslinie«, einer tüchtigen Familie sein. Schließlich müssen sie ein "ausreichendes« Vermögen haben. 20 Insgesamt, so Platon, muß man etwa fünfzig Leute dieser Art pro Tausend finden. Von diesen Weisen wird man verlangen, die Gesetze vorzuschlagen. Sie sehen, daß Platon sich hier keineswegs selbst als Gesetzgeber darstellt. Die Ratschläge, die er erteilt, bestehen nicht darin 343
zu sagen: Hier sind die Gesetze, die die Stadt befolgen sollte. Er begnügt sich damit, den Bewohnern der Stadt zu sagen: Ihr solltet die Sorge der Gesetzgebung jenen Personen, jenen Weisen anvertrauen, die Frauen und Kinder haben, von tüchtigen Vorfahren abstammen und ein ausreichendes Vermögen besitzen. Zweitens, so Platon, wenn eure Konflikte bereinigt sind und wenn die beiden Gruppen, die sich gegenüberstehen (die Anhänger des verbannten Dionysios und die Anhänger des ermordeten Dion), sich wieder versöhnt haben, darf es keinen Unterschied zwischen den Siegern und den Besiegten geben. Die Sieger dürfen den Besiegten nicht die Gesetze vorschreiben, sondern man muß koinos nomos (ein gemeinsames Gesetz) einrichten. 21 Besser aber, so Platon, geht man noch weiter. Das Gesetz soll nicht nur gemeinsam sein, sondern diejenigen, die die Sieger sind und daher den größten Einfluß im Staat ausüben, sollen zeigen, daß sie den Gesetzen noch mehr als die Besiegten unterworfen sind. Das führt uns zu den wichtigsten Ausführungen dieser Passage, nämlich dem Problem der moralischen Bildung der einzelnen. Wie sollten die Sieger in der Lage sein, sich den Gesetzen mehr zu unterwerfen als die Besiegten? Nun, dazu ist zweierlei erforderlich: theoretische und moralische Bildung. Zuerst die theoretische Bildung. In dieser Hinsicht ist der Text interessant, weil Platon, wie ich letztes Mal sagte, über die theoretischen und spekulativen Anmaßungen von Dionysios sehr verärgert war, als Dionysios zeigen wollte, wie viel er von der Philosophie verstand, indem er Texte schrieb, die einerseits durch die Tatsache, daß er sie überhaupt schrieb, zeigten, daß er den Sinn der Philosophie selbst nicht begriff, und andererseits, daß das philosophische Wissen, das er zur Schau stellte, nichts weiter als etwas von Platons eigenen Lehren Abgeschriebenes war. Platon, hatte sich also dem gegenüber, was man das theoretische Wissen dessen nennen könnte, der die politische Macht auszuüben hat, äußerst mißtrauisch gezeigt. Worin besteht nun aber die Art der theoretischen Bildung, die er von den Anhängern Dions ins Spiel zu bringen 344
verlangt, damit sie, als Sieger, zeigen können, daß sie mehr den Gesetzen unterworfen sind als die Besiegten selbst? Nun, die theoretische Unterweisung, die er gibt, ist sehr einfach. Sie ist nichts weiter als eine Variation über ein Thema, das man im Gorgias und in anderen Texten Platons findet, nämlich daß es immer besser ist, gerecht zu sein, auch wenn man unglücklich ist, als ungerecht zu sein, auch wenn man glücklich ist. Als Beispiel dafür betrachtet er nun gerade Dion und Dionysios. Natürlich ist Dionysios nicht besonders glücklich, da er ja durch den Aufstand, der sich gegen ihn erhob, verbannt wurde. Aber immerhin lebt er. Dagegen kann Dion als unglücklich betrachtet werden, weil er am Ende in Syrakus ermordet wurde, obwohl er Dionysios verjagt hat. Dennoch soll man sich bei der Wahl zwischen dem toten Dion, der gerecht war, und dem lebenden Dionysios, der ungerecht ist, für das Schicksal Dions entscheiden und die Lebensweise Dions vorziehen. Die Ungerechtigkeit soll immer gemieden werden, auch wenn sie einem zum Glück verhilft. Die Gerechtigkeit soll immer bevorzugt werden, auch wenn sie mit Unglück verbunden ist. Worauf stützt er nun dieses unspektakuläre Thema im VII. Brief, das sich, wie gesagt, durch so viele Dialoge Platons hindurchzieht ? Er stützt es auf eine Reihe theoretischer Betrachtungen. Zunächst auf die Tatsache, daß die Seele, so Platon, nicht dasselbe ist wie der Körper, daß Seele und Körper zwei verschiedene Dinge sind, daß der Körper sterblich, die Seele dagegen unsterblich ist; daß die unsterbliche Seele nach dem Tod des Körpers danach beurteilt wird, was sie zu ihren Lebzeiten getan hat und schrecklichen Züchtigungen und langen unterirdischen Reisen ausgesetzt wird, wenn sie während ihrer Existenz Ungerechtigkeiten begangen hat. Diese theoretische Lehre, die zumindest einfach ist, schlägt Platon den Freunden Dions als Grundlage für ihre politische Einstellung und für ihre äußerste Bemühung beim Befolgen der Gesetze vor. Es muß bemerkt werden, daß Platon im Text selbst diese Lehre keinesfalls als philosophische Lehre ausgibt, die seine eigene wäre und die gewissermaßen das Herzstück seiner Lehre ausmachte. In dem 345
betreffenden Text sagt er, daß die Politiker, um sich anständig zu benehmen, und die Sieger, um den Gesetzen mehr unterworfen zu sein als die Besiegten selbst, folgende Lehre kennen sollten: »Doch muß man tatsächlich (d. i. im Gegensatz zu dem Wahne der Menge) stets den alten heiligen Überlieferungen Glauben beimessen, deren Spruch dahin lautet, die Seele sei unsterblich [... J.«22 Diese alten und heiligen Traditionen nennt der Text »tois palaiois te kai hierois logois« (jene Reden, die zugleich alt und heilig sind), d. h. daß hier keineswegs das philosophische Denken von Platon selbst dargestellt wird. Was ihre Autorität und den Grund ausmacht, weshalb diejenigen, die den anderen zu befehlen haben, sich den Gesetzen unterwerfen sollen, ist die Tatsache, daß es sich um alte, schon bekannte Reden handelt. Sie beziehen ihre Autorität aus ihrem Alter, zugleich aber auch aus heiligen, religiösen Komponenten, durch die sie charakterisiert sind. Diese nicht-philosophischen Diskurse, diese Diskurse religiöser Überzeugungen und heiliger Traditionen sind es, was den theoretischen Hintergrund ausmachen soll, auf den sich der Politiker bezieht. Was seine praktische Bildung betrifft, so wird sie in diesem Text von Platon kaum skizziert. Er begnügt sich mit dem Hinweis, daß die Politiker so wie ihre Vorfahren leben sollen, nämlich so wie die Dorer. Diese Passage ist also ebenso wie die vorhergehende weder an politischem noch an eigentlich philosophischem Detail besonders reichhaltig. Was jedoch das allgemeinste und zweifellos das interessanteste Thema dieser Ratschläge ausmacht, ist die Art und Weise, wie Platon durch sie zeigt, daß die moralische Bildung der Regierenden für die richtige Regierung des Staats unerläßlich ist. Nun gibt es eine Passage, die es verdient, festgehalten zu werden, nämlich wenn er sagt, daß man gerade dann, wenn man diese alten und heiligen Traditionen zu respektieren weiß und wenn man jene dorische Lebensweise, jene unerläßliche Lebensweise nach der Art der Vorfahren wirklich vollzieht, ordentlich regieren kann. Ordentlich zu regieren soll bedeuten, daß man regieren kann, indem man sich zweier Quellen be34 6
dient. 23 Erstens phobos (die Furcht). Die Regierenden sollen nämlich über den Regierten die Furcht herrschen lassen, und das tun sie, indem sie ihre Kraft zeigen (bia, wie es im Text heißt).24 Diese materielle Kraft muß tatsächlich gegenwärtig und sichtbar sein, dann wird die Furcht die richtige Regierung sicherstellen. Gleichzeitig - und das wird das zweite Mittel der Regierung sein - müssen die Regierenden aber aidos zeigen (d. h. Scheu und Ehrfurcht). Diese aidos ist hier nicht direkt die Ehrfurcht, die die Regierten den Regierenden schulden, sondern sie soll gewissermaßen ein inneres Verhältnis der Regierenden zu sich selbst sein, eine Ehrfurcht der Regierenden gegenüber ihren Verpflichtungen, gegenüber dem Staat und gegenüber den Gesetzen des Staats. Diese aidos ist dafür verantwortlich, daß man fähig ist, sich den Gesetzen wie ein Sklave zu unterwerfen (Platon verwendet den Ausdruck douleuein).25 Sklave des Gesetzes zu sein, sich zum Sklaven des Gesetzes machen zu wollen, das soll charakteristisch sein für die aidos (die Ehrfurcht) der Regierenden, für die Ehrfurcht gegenüber sich selbst, den Staat und den Gesetzen. Diese Ehrfurcht wird dann die Ehrfurcht nach sich ziehen, die die anderen - die Regierten - ihrerseits haben. Man muß also verstehen, daß »aidos« eine Tugend ist, die das Verhältnis der Regierten zu den Regierenden kennzeichnet, die aber auch und vor allem die Einstellung der Regierenden zu sich selbst charakterisiert. Der dritte Text, über den ich sprechen möchte, ist der Text aus dem VIII. Brief, der etwas später als der VII. Brief verfaßt wurde, und zwar zu der Zeit, als der Bürgerkrieg, von dem Syrakus schon bedroht war, ausbrach. Dieser Text ist aus zwei Gründen interessant. Der erste ist natürlich, daß Platon hier in einen Bereich vorstößt, gegenüber dem er sich bisher sehr zurückhaltend und diskret gezeigt hat, nämlich die Organisation des Staats. Zweitens, weil diese Ratschläge durch eine allgemeine Überlegung zur parrhesia eingeführt und gestützt werden. An dieser Stelle begegnen wir unserem Problem wieder. Was sind nun in Kürze die Ratschläge, die Platon den Syrakusanern gibt, die gerade im Begriff sind, sich in einem Bürgerkrieg zu zer347
fleischen? Erstens haben wir den Bezug zu einen Thema, das man bei Platon ebenfalls kennt. Dieses Thema wird im Gorgias 477 b f.26 entwickelt, wo Platon, wie Sie wissen, sagt, daß man zwischen dem unterscheiden muß, was zur Seele, was zum Körper und was zum Vermögen gehört. Was zur Seele gehört, ist offensichtlich dasjenige, was die Regierenden selbst betrifft; was zum Körper gehört, betrifft die Krieger; und was zum Vermögen gehört, betrifft natürlich die Tätigkeit der Händler und Handwerker. Die politeia, die Organisation eines Staats, so Platon, muß nun dieser Hierarchie Rechnung tragen und dem Körper keine größere Bedeutung schenken als der Seele und vor allem dem Vermögen keine größere Bedeutung schenken als dem Körper und der Seele. In bezug auf dieses allgemeine Thema schlägt Platon dann eine Organisation, eine politeia, im strengen Sinne vor. Wir dürfen, wie gesagt, nicht vergessen, daß Platon an dieser Stelle eine politeia (eine Verfassung) wegen des Bürgerkriegs vorschlägt. Der Staat, die Organisation des Staates, ist nämlich zusammengebrochen; deshalb schlägt er ein Organisationssystem für die Stadt vor. Dieses System läßt sich schematisch folgendermaßen darstellen. Es handelt sich erstens um eine Monarchie, aber nach der Art der spartanischen, d. h. in der die Monarchen in Wirklichkeit keine reale Macht haben. Ihnen gebührt vor allem die religiöse Macht, und aus einer Reihe von Gründen soll es nicht zwei Monarchen wie in Sparta geben - das schlägt er in diesem Text vor -, sondern drei. Platon will nämlich, und er sagt das auch, die Nachkommen von Dionysios dem Jüngeren einen anderen Nachkommen von Dionysios dem Älteren und den Sohn Dions vereinen. Deshalb soll es drei Könige geben, aber diese drei Könige haben im wesentlichen eine religiöse Funktion. Außer diesen drei Königen muß ein System eingerichtet werden, das zugleich die Existenz der Gesetze und ihren Fortbestand sichert. Daraus ergeben sich nach seinem Vorschlag die Organisation und die Einrichtung einer Körperschaft, die er Gesetzeswächter nennt. Er schlägt 35 Gesetzeswächter vor,27 was auch das Modell sein wird, dem wir in den Gesetzen wieder begegnen, 34 8
bis auf den Unterschied, daß es in den Gesetzen nicht 35, sondern 37 Wächter sind. 28 Dieses kleine Detail gestattet den Kommentatoren zufolge, sowohl die Echtheit des Briefs zu beweisen als auch, ihn zu datieren; seine Echtheit, weil, wenn es sich um einen apokryphen Brief handeln würde, der nach Platons Tod geschrieben worden wäre und sich der Daten aus den Gesetzen bedient hätte, der apokryphe Autor offensichtlich die tatsächliche Zahl von 37 kopiert und nicht 35 angegeben hätte. Man kann daher plausiblerweise annehmen, daß Platon in diesem Brief das skizziert hat, was in den Gesetzen entwikkelt werden sollte, und zwar mit einer Reihe von Änderungen, insbesondere der Änderung von 35 Gesetzeswächtern in 37. Außerdem schlägt er eine Reihe von Gerichten vor, wobei man auch hier in wenigen Zeilen das wiederfindet, was in den Gesetzen ausführlich entwickelt wird. Wir haben in dieser Folge von Ratschlägen also zum ersten Mal Ratschläge, die man nomothetisch nennen könnte, bei denen man sich aber, wie gesagt, daran erinnern muß, daß sie nicht so sehr von der allgemeinen Funktion des Philosophen für den Staat erfordert werden als vielmehr von der Situation des Staats selbst. Da der Bürgerkrieg ausgebrochen war und wütete, ist es zu diesem Zeitpunkt ganz natürlich, daß die Rolle des Philosophen nicht darin bestehen soll, dem regierenden Fürsten Ratschläge zu erteilen oder ihm bei der Errichtung eines Reiches zu helfen, sondern schlichtweg den Staat selbst wiederaufzubauen. Nun werden aber diese Ratschläge, die im VIII. Brief gegeben werden - diesen Punkt möchte ich nun betonen -, von einer Passage eingeleitet, die zwar eine reine Übergangspassage ist, die jedoch deutlich darauf hinweist, daß Platon diese Ratschläge auf das Konto seiner Funktion als Parrhesiast setzt. In ihnen übt er die parrhesia aus. Die Passage steht bei 35 4a des VIII. Briefs, wo er folgendes sagt: »Was mir aber im Ganzen sich jetzt empfiehlt, das will ich versuchen euch mit allem Freimut (ego peirasomai pase parrhesia) und mit einer Unparteilichkeit, die beiden Teilen gerecht wird, darzulegen. So übernehme ich denn sozusagen die Rolle eines Schiedsrichters und wende 349
mich mit meiner Rede an beide Parteien, [... ], indem ich, als wäre jede der beiden Parteien eine [gesonderte; M. E] Person, ihnen meinen längst bekannten Rat (symboulen) erteile.«29 Wir befinden uns also im Bereich der politischen symboule, die zugleich Manifestation und Ausübung der parrhesia ist. Ich glaube nun, daß, wenn man diese Passage betrachtet und eine gewisse Anzahl von Elementen verfolgt, die eben in den Ratschlägen enthalten sind, deren Inhalt ich gerade zusammengefaßt habe, man erkennt, daß es in der Tat um die parrhesia geht und daß Platon eine parrhesiastische Tätigkeit verfolgt. Wodurch ist dieser Diskurs des Erteilens von Ratschlägen gekennzeichnet, und inwiefern handelt es sich dabei um eine parrhesia? Erstens betont Platon von den ersten Zeilen an, die ich gerade vorgelesen habe, aber auch durch den ganzen Text hindurch, daß er das, was er sagt, in seinem eigenen Namen sagt. Es ist seine Meinung, es sind seine Gedanken, es ist seine Überzeugung, es ist das, was er selbst sagt. Es gibt eine ganze Reihe von Ausdrücken, die deutlich auf diesen ganz persönlichen Charakter der Äußerung hinweisen. Es ist nicht die Stimme des Staates oder die Stimme der Gesetze, jene, die beispielsweise zu Sokrates sprach und ihn dann überzeugte, daß er seinen Prozeß und seine Verurteilung hinnehmen müsse. 30 Nein, Platon selbst gibt seine Meinung kund: »ho de moi phainetai« (was mir selbst scheint); ich werde meinerseits versuchen, euch zu überzeugen, ich werde euch sagen, was eme symboule (mein Rat) ist. 31 In 3 54C finden wir: »Das ist es denn auch, wozu meine jetzige Mahnung alle dringend auffordert.«32 Es ist seine eigene Mahnung. Nun erscheint dieser persönliche Charakter der Mahnung an einer bestimmten Stelle wie durchbrochen oder umwunden durch die Tatsache, daß Platon, nachdem er in seinem Namen gesprochen hat, sagt: Im Grunde ist es am einfachsten, wenn ich nicht selbst spreche, sondern Dion sprechen lasse, oder vielmehr, wenn ich euch sage, was Dion, der jetzt tot ist und der vor einiger Zeit ermordet wurde, euch gesagt hätte. Ich werde euch zitieren, was Dion gesagt hätte. Ich rekonstru-
iere, was Dion euch unter den gegenwärtigen Umständen gesagt hätte, weil wir im Grunde dieselbe Meinung teilen. Ich glaube, daß man hier erkennen kann, daß diese Intervention Dions, einer toten Person, entsprechend eines in der griechischen Redekunst ganz bekannten rhetorischen Verfahrens (einen Toten auftreten zu lassen, um zu bestätigen, was man im Begriff ist zu sagen) für Platon nicht eine Weise darstellt, sich seiner Funktion als Parrhesiast zu entledigen, da er geltend macht, daß das, was Dion sagt, genau das ist, was er selbst denkt, und daß sie einer Meinung sind (koinos: es ist ein für Platon und Dion koinos logos33 - im übrigen hat er daran erinnert, daß Dion von ihm ausgebildet wurde; es handelt sich also um Platons eigene Meinung). Wenn er Dion über die rhetorische Konvention hinaus, die es gestattet, einen Toten auftreten zu lassen, um die Autorität dessen, was man sagt, noch stärker zu betonen, ins Spiel bringt, dann darf man eben nicht vergessen, daß Dion auch jemand ist, der das Wahrsprechen, das er Dionysios entgegensetzte und das er in Syrakus zur Geltung bringen wollte, mit seinem Leben bezahlt hat. Als Parrhesiast, der so weit ging, sein Leben zu riskieren, und der sein Wahrsprechen mit dem eigenen Leben bezahlt hat, bringt ihn Platon an seiner Seite ins Spiel. Zweitens muß man im Hinblick auf diesen Text bemerken, daß die parrhesia, die Platon entfaltet, von einer Art Spannung gekennzeichnet ist, die sich einerseits auf den Charakter seines völlig besonderen und den Umständen entsprechenden Ratschlags bezieht - Platon erinnert den ganzen Text hindurch immer wieder daran, daß er seinen Rat in bezug auf die aktuelle Situation erteilt, so wie sie ihm jetzt erscheint (er verwendet den Ausdruck ta nyn: im AugenblicP4) -, dabei handelt es sich auch um Ratschläge, die er auf den Kampf bezieht, auf den Bürgerkrieg, der sich gerade entwickelt, auf die Tatsache, daß er sich an eine Reihe von günstigen Umständen in der Geschichte Siziliens erinnert. Diese parrhesia aber, die also in diesem Sinne ein auf Umstände und Gelegenheiten bezogener Diskurs ist, wird zugleich auf allgemeine und beständige Prin-
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zipien bezogen. Er erinnert daran, daß das immer schon seine Meinung war. Seine symboule ist dieselbe geblieben, und er verwendet eine Reihe von allgemeinen Regeln oder Prinzipien. Beispielsweise erinnert er daran, daß die Knechtschaft und die Freiheit ein großes Übel darstellen, wenn sie beide übertrieben werden. Er verwendet Formeln der folgenden Art: Die Sklaverei (die douleia), die Untertänigkeit gegenüber Gott entspricht dem richtigen Maß, aber die douleia gegenüber dem Menschen ist immer maßlos.35 Wir haben also einen Diskurs der parrhesia, der sich in einer Spannung zwischen dem Bezug auf allgemeine Prinzipien und dem Bezug auf besondere Umstände befindet. Drittens ist diese parrhesia ein Diskurs, der an alle gerichtet ist, an beide Parteien der syrakusanischen Konfrontation. Er ist ein logos koinos. »Das ist es denn auch, wozu meine jetzige Mahnung alle dringend auffordert«, sagt er in 35 4 C• In 35 sa sagt er: Ich bitte die Freunde Dions, die Ratschläge, die ich erteile, allen Syrakusanern mitzuteilen. Und ganz am Ende des Textes sagt er (in 3 57b): Das rate ich allen (pasin symbouleuo), gemeinsam (koine) zu entscheiden und zu unternehmen; ich rufe alle an (parakalo pantas), diese Handlungen zu unternehmen. Aber auch wenn er alle anruft und sich an alle richtet, wendet sich der Diskurs der parrhesia doch auch an jeden einzelnen der beiden Parteien. Das sagt Platon ganz am Anfang des Textes in der Passage, die ich zitiert habe: Ich spreche zu allen und zugleich spreche ich zu jedem von ihnen, als ob er allein wäre. 36 Das bedeutet, daß es sich nicht einfach um einen allgemeinen Diskurs handelt, der sich an den Staat wendet, um ihm Vorschriften und Gesetze aufzuerlegen, sondern vielmehr um einen Diskurs der Überzeugung, der sich an jeden einzelnen wendet, um von ihm ein bestimmtes Verhalten zu erreichen. Schließlich noch das vierte Merkmal dieser parrhesia: Platon sagt, daß, wenn er auf diese Weise spricht und sich an die beiden Parteien wendet, die sich auf Sizilien gegenüberstehen, dann in Gestalt eines diaitetes. Der Ausdruck »diaitetes« ist ein
juristischer Begriff, der im athenischen Recht den Schiedsrichter bezeichnet, an den man sich wandte, um eine Streitsache zu regeln, anstatt vor Gericht zu ziehen. Der diaitetes ist also der Schiedsrichter, den man außerhalb eines Prozesses konsultieren kann. Über diesen diaitetes und seine Funktionen findet man bei Aristoteles (Politik, Buch H, Kap. 8, 1268b f.) eine Reihe von Angaben. 37 Diaitetes zu sein ist also eine Funktion, eine außergerichtliche Funktion, die jedoch durch die Institutionen Athens selbst definiert ist. Man darf nicht vergessen, daß diaitetes, wie die Etymologie deutlich zeigt, derjenige ist, der die Diät, den Diätplan verordnet. Die beiden Bedeutungen des Wortes diaitetes sind im Altgriechischen bezeugt. Die diaita ist das Schied sv erfahren, aber auch der medizinische Diätplan. Der diaitetes ist der Schiedsrichter, aber auch derjenige, der den Diätplan denen verordnet, die ihn nötig haben. Die Wechselwirkung zwischen den beiden Bedeutungen (Schiedsverfahren und Diätplan) - die Etymologie des Wortes knüpft übrigens an dieselbe Wurzel an wie zen (leben) - ist offensichtlich, insofern die Diät gerade die Gesamtheit von Regeln ist, durch die man den Gegensatz zwischen den verschiedenen Qualitäten schlichten kann, zwischen dem Kalten und dem Heißen, zwischen dem Trockenen und dem Feuchten, zwischen den verschiedenen Säften, die den Körper ausmachen. In diesem Schiedsverfahren besteht die Diät, der medizinische Diätplan. Wenn Platon als Parrhesiast sagt, daß er diaitetes sei, dann ist er also zugleich Schiedsrichter zwischen den verschiedenen Parteien und derjenige, der einen Diätplan verordnet (den medizinischen Diätplan für den Staat), wodurch dann die Schlichtung zwischen diesen verschiedenen Mächten ermöglicht werden soll. Das letzte Merkmal dieser parrhesia besteht darin, daß sie sich mit der Wirklichkeit auseinandersetzen muß. Platon akzeptiert diese Herausforderung der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit nicht nur wiederholt, sondern er hebt sie auch hervor und fordert sie. Bezüglich des Diskurses, den er hält, und der Ratschläge, die er gibt, akzeptiert er und verlangt sogar, daß die
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Wirklichkeit zeigen soll, ob sie wahr oder falsch sind. Die Wahrheit, die ich euch rate, so Platon, besteht darin, daß, wenn ihr die Erfahrung meiner gegenwärtigen Behauptungen macht, ihr tatsächlich die Wirkung erfahrt. Ergo gnosesthe: Ihr werdet es in der Wirklichkeit erkennen. Denn, so Platon, sie ist der beste Prüfstein (basanos) für alles. 38 Die Wirklichkeit, der Beweis der Wirklichkeit, das soll der Prüfstein seines Diskurses sein. Am Ende der Ratschläge, die er den Syrakusanern erteilt, steht folgender. Ganz am Ende des Briefes (bei 35 7C) sagt er: »Lasset aber vor allem sämtlichen Göttern sowie allen ihnen verwandten Wesen die ihnen gebührende Ehre unter Gebeten zuteil werden, sodann wendet euch [tatsächlich ist das verwendete Verb peithomai, überreden; M. E] mit euerer Überredungskraft und eueren Mahnungen an Freund und Feind, freundlich und eindringlich, und werdet nicht müde, bis ihr die jetzt von mir gemachten Vorschläge [die Ratschläge, die Platon gerade gegeben hat [... ]; M. E] als wären es Träume, an Wachende von einem Gott gesandt, zur vollen und glücklichen Wirklichkeit gemacht habt.«39 Der Philosoph erscheint also bei seinem Geschäft der parrhesia und dem, was er sagt, in etwa so wie ein göttlicher Traum, der wachende Menschen heimsucht. Was der göttliche Traum für die Schlafenden ist, der den Menschen das Kommende und das, was sie tun sollen, verkündet, wird der Diskurs des Philosophen für die Wachenden sein. Der Philosoph ist geradezu ein Gott, der die Menschen heimsucht, der aber zu ihnen spricht, wenn sie wach sind. Dieser göttliche Traum aber behält seine Wahrheit und besteht die Bewährungsprobe seiner Wahrheit nur unter einer Bedingung: Wenn ihr meinen Rat in die Wirklichkeit umgesetzt habt (exergasesthe sagt der Text 40 ), wenn ihr euch bemüht habt, bis die Dinge wirklich vollzogen sind und sie dann deutlich ihre glückliche Vollendung finden (bis sie eutyche sind). Die glückliche Vollendung, das, was das wirkliche Glück der Syrakusaner ausmachen wird, ist gerade die wirkliche Umsetzung dieses göttlichen Traums, den der Philosoph ihnen während ihres Wachens eingegeben hat. 354
Die parrhesia ist also diejenige Tätigkeit, die Platon am Ursprung seiner Beratungstätigkeit erkennt und fordert. Er ist Berater, d. h. er macht von der parrhesia Gebrauch mit allen Merkmalen, die wir erkannt haben: Er engagiert sich selbst, es ist sein eigener Diskurs, seine eigene Meinung. Sie trägt zugleich allgemeinen Prinzipien Rechnung als auch besonderen Gelegenheiten. Sie wendet sich an die Menschen als allgemeines Prinzip, überredet sie jedoch als einzelne. All das ergibt einen Diskurs, dessen Wahrheit sich in der Tatsache erweisen muß, daß er Wirklichkeit wird. Der philosophische Diskurs bezieht die Garantie, daß er nicht bloß logos, daß er nicht bloß geträumte Rede ist, sondern in der Tat die Hand am ergon hat, aus der politischen Wirklichkeit, aus dem, was die Wirklichkeit selbst ausmacht. Hier haben wir eine Gruppe von Elementen, die das bestätigen, was ich versucht habe, Ihnen über die Funktion des Parrhesiasten zu sagen. Im zweiten Teil der Vorlesung werde ich nun versuchen, diese Elemente wieder aufzunehmen. Entschuldigen Sie bitte, daß diese platonischen Ratschläge abermals ziemlich banal wirken, was ihre Analyse etwas langweilig macht. Ich glaube jedoch, daß es möglich ist, wenn man sie von einem bestimmten Gesichtspunkt aus noch einmal liest, eine Reihe von Problemen oder Themen hervortreten zu sehen, die yon großer Wichtigkeit für das Schicksal der Beziehungen zwischen Philosophie und Politik im abendländischen Denken sind. Ich werde Ihnen das gleich zu erklären versuchen.
Anmerkungen I Platon, VII. Brief, 3Fd-e, a. a. 0., S. 58-59. ;: E. de Las Cases, Le Memorial de Sainte-Helene [I842J, Paris I999; dt. Denkwürdigkeiten von Sanct-Helena, Stuttgart I823-I826. 3 Richelieu, Testament politique [I 667J, hg. v. F. Hildesheimer, Paris I 99 5; dt. Politisches Testament und kleinere Schriften, Berlin I926. .1. Cassius Dio, Römische Geschichte, Buch LII, Kap. I4-40, Düsseldorf 200 7. 5 Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges, Buch I, Kap. I39 bis I46, a. a. 0., S. I08-I 14.
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6 Platon, VII. Brief, 33 Id, a. a. 0., S. 57. 7 »[ ...] ohne doch imstande zu sein nach Wiederaufbau derselben einer jeden durch ihm ergebene Männer die ihr angemessene feste Verwaltungsform zu verleihen (ouch hoios t'en katoikisas politeias en hekastais katastesasthai pistas hetairon andron)« (ebd., 33 le-332a). 8 »Aus keinem von diesen vermochte er [...] einen wirklichen Mitarbeiter im Herrscheramt zu machen (touton koinonon tes arches oudena hoios t'en)« (ebd., 332a, S. 57). 9 >,Dionysios dagegen, der ganz Sizilien zu einem einzigen Staate (eis mian polin) verschmolz, traute vor lauter Klugheit keinem Menschen, und so hielt er sich denn nur mit knapper Not über Wasser; denn er war arm an Freunden und zuverlässigen Helfern (andron philon kai piston)« (ebd., 332C, S. 58). 10 Platon, Gesetze, Buch III, 694a-b. V gl. die Analyse dieser Passage in der Vorlesung vom 9. Februar, oben, S. 257-26r. I I V gl. die Analyse des positiven Verweises auf die persische Erziehung, um die Unzulänglichkeiten von Alkibiades hervorzuheben, in: Hermeneutik des Subjekts, a. a. 0., S. 57. 12 Xenophon, Kyropädie, hg. v. E. Kaminski, Leipzig 1930. 13 »Neben dem Perserreich sind in dieser Beziehung die Athener zu nennen. Es gelang ihnen, viele hellenische den Angriffen der Barbaren ausgesetzte Städte, die sie nicht selbst gegründet, sondern als bereits bestehende in ihre Gewalt bekommen hatten, siebzig Jahre lang unter ihrer Herrschaft festzuhalten mit Hilfe befreundeter Männer (andras philous), die sie in jeder derselben gewonnen hatten« (Platon, VII. Brief, 332b-c, S. 57-58). 14 »Wenn er nun auf dem von uns bezeichneten Wege wandelnd und so zu Einsicht und Besonnenheit herangereift (heauton emphrona te kai sophrona apergasamenos) [... }< (ebd., 332e, S. 58). 15 »[... ] so müsse er, einmal angeregt nach dieser Seite hin, zunächst darnach streben, sich unter seinen Verwandten und Altersgenossen andere zu Freunden und gleichgestimmten (symphonous) Bewerbern um den Preis sittlicher Tüchtigkeit zu machen - vor allem aber diese Gleichmäßigkeit der Stimmung in sich selbst (auton hauto) zur Herrschaft zu bringen« (ebd., 332d). 16 »Jede Staatsverfassung hat nämlich, wie gewisse Klassen von Tieren, ihre besondere Tonweise (estin gar de tis phone ton politeion hekastes kathaperei tinon zoon), eine andere die Demokratie, eine andere die Oligarchie, eine andere wieder die Monarchie. [... ] Demjenigen Staatswesen nun, das den ihm eigenen Ton Göttern und Menschen gegenüber einhält und in seinen Maßnahmen diesem Tone entsprechend verfährt, ist dauernde Blüte und Heil beschieden, demjenigen dagegen, das aus seiner Natur heraustretend sich auf Nachahmung einer anderen Verfassung verlegt, der Untergang« (Platon, V. Brief, 32ld-e, a. a. 0., S·40).
17 »Demgemäß möchte ich euch den nämlichen Rat erteilen, den ich im Bunde mit Dion dem Dionysios gab: er möge sein alltägliches Leben so regeln, daß er dahin komme, sich möglichst selbst zu beherrschen (egkrates hautou autos)« (Platon, VII. Brief, 33 Id, S. 57). 18 V gl. M. Foucault, Histoire de la sexualite, Bd. II (L'Usage des plaisirs, Paris 1984), Kap. »Enkrateia« (S.74-90); dt. Sexualität und Wahrheit, Bd.2 (Der Gebrauch der Lüste, Frankfurt 1986, S. 84- 1°3). 19 »Außerdem gebe ich noch einen Rat, denselben Rat (ten auten symboulen) und dieselbe Warnung, die ich schon zweimal gegeben habe; ihr seid jetzt die dritten, denen ich sie erteile« (Platon, VII. Brief, 334c, S. 61). 20 Ebd., 337b-c, S.65. 21 Ebd., 336a-337a, S.6}-64. 22 Ebd., 33 5a, S. 62. 23 »Vielmehr müssen die Sieger lernen, sich selbst zu beherrschen und müssen Gesetze geben, die allen zugute kommen und nicht weniger den Interessen der Besiegten als dem eigenen Interesse dienen. Die Befolgung dieser Gesetze aber müssen sie durch zwiefachen Druck erreichen, durch sittliche Scheu und durch Furcht« (ebd., 337a, S.65). 24 »Durch Furcht, denn sie sind die Stärkeren im Vergleich zu den Unterlegenen und lassen demnach ihre Macht zum Zwange erkennen. (to kreittous auton einai deiknyntes ten bian )« (ebd.). 25 »Durch sittliche Scheu, denn sie zeigen sich als Sieger über die Verführungen der Gelüste und als Männer, die den Willen und die Kraft haben, sich vielmehr den Gesetzen zu unterwerfen (mallon ethelontes te kai dynamenoi douleuein)« (ebd., 337a-b, S.65). 26 »Also für drei, Vermögen, Leib und Seele, hast du dreierlei Schlechtigkeiten, Armut, Krankheit, Ungerechtigkeit, angeführt ?« (Platon, Gorgias, 477b-c, übers. v. Julius Deuschle, in: Platon: Sämtliche Werke, Heidelberg 1982, S. 344). 27 Platon, VIII. Brief, 35 6d, S. 95. 28 Platon, Gesetze, Buch VI, 754d, a.a.O., S. 179. 29 Platon, VIII. Brief, 35 4a, 5.9 r. )Cl Es handelt sich um die berühmte »Prosopopöie der Gesetze«, die man im Kriton bei 50d-54d findet. 3 1 Platon, VIII. Brief, 35 5a, S. 93. 32 Ebd., 3 54c, S·92. 33 »Unter diesen Umständen beauftrage ich die Freunde des Dion, meinen Rat allen Syrakusanern mitzuteilen, und zwar als den gemeinsamen Rat (koinen symboulen) von uns beiden, von Dion und mir« (ebd., 355 a, S·93)· 34 »Was mir aber im Ganzen sich jetzt empfiehlt (ho de moi phainetai pe ta nyn)« (ebd., 354a, S.91). 35 »Das rechte Maß aber findet sich bei der Untertänigkeit gegen Gott, Maßlosigkeit dagegen bei der Untertänigkeit gegen Menschen« (ebd., 354 e,5·93)·
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36 »So übernehme ich denn sozusagen die Rolle eines Schiedsrichters (lego gar de diaitetou) und wende mich mit meiner Rede an beide Parteien, an die Vertreter der Tyrannengewalt und an die von ihr Vergewaltigten, indem ich, als wäre jede der beiden Parteien eine Person, ihnen meinen längst bekannten Rat erteile« (ebd., 354a). 37 »Auch das Gesetz über die Rechtsprechung ist nicht richtig, daß nämlich der, der richten soll, die Klage, die doch einfach formuliert ist, tei1en soll und so aus einem Richter zu einem Schiedsmann (diaiteten) werde. In einem Schiedsgericht ist dies zwar auch bei den meisten möglich (denn sie besprechen sich untereinander über das Urteil), aber bei den Gerichten geht es nicht« (AristoteIes, Politik, Buch II, VIII- I 3, 1268b, übers. v. Olof Gigon, Zürich 1955, S. 10 5). 38 »Daß aber diese meine Mahnung der Wahrheit entspricht, das werdet ihr erfahren, wenn ihr das jetzt bloß in Worten über die Gesetze Gesagte in Wirklichkeit zu schmecken bekommt; denn sie, die Wirklichkeit ist der beste Prüfstein (basanos) für alles« (Platon, VIII. Brief, 355 d, S. 93 f.). 39 Ebd., 357C- d , S·97· 40 »Lasset aber vor allem sämtlichen Göttern sowie allen ihnen verwandten Wesen die ihnen gebührende Ehre unter Gebeten zuteil werden, sodann wendet euch mit euerer Überredungskraft und eueren Mahnungen an Freund und Feind, freundlich und eindringlich, und werdet nicht müde, bis ihr die jetzt von mir gemachten Vorschläge als wären es Träume, an Wachende von einem Gott gesandt, zur vollen und glücklichen Wirklichkeit gemacht habt (enarge te exergasesthe telesthenta kai eutyche)« (ebd., 35 7c-d, S. 97)·
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Vorlesung 8 (Sitzung vom 23. Februar 1983, zweite Stunde)
Philosophie und Politik: eine notwendige Beziehung, aber eine unmögliche Kongruenz. - Das kynische und das platonische Spiel der Beziehung zur Politik. - Die neue historische Lage: der Gedanke einer neuen politischen Einheit jenseits des Staates. - Vom öffentlichen Ort zur Seele des Fürsten. Das platonische Thema des Philosophenkönigs.
Ich werde versuchen, mich kurz zu fassen. Mir scheint, daß diese Ratschläge Platons - die abermals für jeden enttäuschend sind, der sie vom Standpunkt der Überlegung und politischen Analyse der Griechen liest, vor allem, wenn man sie mit dem yergleicht, was man bei Thukydides findet -, wenn man sie auf eine bestimmte Weise liest, drei wichtige Dinge hervortreten lassen. Erstens ein Merkmal, das für die Beziehungen zwischen Philosophie und Politik grundlegend und konstant ist. Zweitens eine besondere historische Lage, die trotz ihrer Partikularität eine so große Reichweite besitzt, daß sie letztlich das Schicksal der Beziehungen zwischen Philosophie und Politik bis zum Ende der Antike bestimmt. Drittens schließlich - und das möchte ich besonders hervorheben - zeigen diese Ratschläge deutlich den Punkt an, an dem die Philosophie und die Politik, das Philosophieren und die Tat zusammentreffen, den Punkt, an dem eben die Politik als Realitätsprüfung für die Philosophie dienen kann. Erstens, das grundlegende und durchgängige Merkmal der Beziehungen zwischen Philosophie und Politik, das sich anhand dieser Texte enthüllt, ist im Grunde ganz einfach, auch wenn :nan es richtig verstehen muß. Der schwache, banale, allgemei::le Charakter der Ratschläge, die Platon seinen Briefpartnern gibt - ich glaube, daß ich nicht übertrieben habe, als ich Ihnen zeigte, wie wenig diese Texte sowohl von einem politischen als auch von einem philosophischen Gesichtspunkt sagen -, zeigt ::licht, daß Platon in Sachen Politik naiv war. Er zeigt vielmehr, daß die Beziehungen zwischen Philosophie und Politik nicht 359
in der Fähigkeit der Philosophie zu suchen sind, die Wahrheit über die beste Art und Weise der Machtausübung zu sagen. Schließlich gebührt es der Politik selbst, die besten Arten der Machtausübung zu kennen und zu definieren. Die Philosophie hat darüber nicht die Wahrheit zu sagen. Aber die Philosophie hat die Wahrheit zu sagen - wir konzentrieren uns für den Augenblick auf diesen Punkt und versuchen dann Genaueres zu sagen -, nicht über die Macht, sondern in bezug auf die Macht, in Beziehung zu ihr, in einer Art von Gegenüber oder Überkreuzung mit ihr. Die Philosophie hat der Macht nicht zu sagen, was zu tun ist, sondern sie hat als Wahrsprechen in einer bestimmten Beziehung zum politischen Handeln zu existieren. Nicht mehr und nicht weniger. Das bedeutet natürlich nicht, daß diese Beziehung nicht genauer bestimmt werden kann. Sie kann jedoch auf verschiedene Weisen genauer bestimmt werden, und diese Beziehung des philosophischen Wahrsprechens zur politischen Praxis oder zur richtigen politischen Praxis kann viele Formen annehmen. Gerade zur Zeit Platons und unter den Nachfolgern von Sokrates, zu denen Platon selbst gehörte, findet man andere Weisen, die Beziehung zur Politik zu bestimmen, die notwendige, unerläßliche, hartnäckige, eigensinnige Beziehung des philosophischen Diskurses oder des philosophischen Lebens zur politischen Praxis. Betrachten wir jenen anderen Aspekt des sokratischen Denkens, den Aspekt, der so weit wie nur möglich dem Platonismus entgegengesetzt ist, d. h. die Kyniker. Im Kynismus gibt es ebenfalls eine Beziehung, und zwar eine sehr bezeichnende, sehr betonte Beziehung zwischen dem philosophischen Wahrsprechen und der politischen Praxis, aber in einem ganz anderen Modus. Es handelt sich, wie Sie wissen, um den Modus der Konfrontation, des Spotts, der Verhöhnung und der Behauptung einer notwendigen Unvereinbarkeit. Man muß sich daran erinnern, daß es neben Platon, der zu Dionysios geht, um dem Tyrannen Ratschläge zu erteilen, Diogenes gab. Diogenes, der von Philipp nach der Schlacht von Charonia gefangengenommen wurde, steht dem Monarchen, dem
makedonischen Herrscher gegenüber. Und dieser sagt zu ihm: Wer bist du also? Diogenes antwortet: »Ein Erkunder deiner Unersättlichkeit.«1 Oder auch der berühmte Dialog desselben Diogenes mit dem Sohn Philipps, mit Alexander. Auch hier dieselbe Frage »Wer bist du ?«. Dieses Mal ist es jedoch Diogenes, der die Frage an Alexander stellt. Und Alexander antwortet: Ich bin der große König Alexander. Darauf antwortet Diogenes: Ich werde dir sagen, wer ich bin. Ich bin Diogenes, der Hund. 2 Auf diese Weise wird die absolute Unvereinbarkeit der philosophischen und der königlichen Persönlichkeit behauptet, genau im Gegensatz zu dem, was Platon vorschlägt. Was könnte weiter entfernt sein von dem Philosophenkönig, dem Philosoph, der König ist, als diese typisch, genau und Wort für Wort antiplatonische Replik? Ich bin der große König Alexander. Ich bin Diogenes, der Hund. Ohne anzugeben, ob die Erklärung Alexander oder ob sie nur im allgemeinen gegeben wurde, berichtet jedenfalls Diogenes Laertius, daß Diogenes, der Kyniker, seinen Aphorismus »ich bin ein Hund« dadurch erklärte, daß er sagte: »Die mir eine Gabe reichen, umwedle ich, die mir nichts geben, belle ich an, und die Schurken beiße ich.«3 Sie sehen nun das interessante Spiel zwischen der philosophischen Behauptung (der philosophischen parrhesia) und der politischen Macht. Die philosophische parrhesia von Diogenes besteht im wesentlichen darin, sich in seiner natürlichen ?-Jacktheit zu zeigen, außerhalb aller Konventionen und außerhalb aller Gesetze, die künstlich vom Staat auferlegt werden. Die parrhesia von Diogenes liegt also in seiner Lebensweise selbst. Sie manifestiert sich auch in jenem Diskurs der Beleidigung, der Anprangerung im Hinblick auf die Macht (Philipps Unersättlichkeit usw.). Nun, diese parrhesia zeigt sich gegenüber der politischen Macht in einer komplexen Beziehung, weil Diogenes einerseits, indem er sagt, daß er ein Hund sei, auch sagt, daß er »diejenigen umwedelt, die ihm geben«. Folghch akzeptiert er, indem er die umwedelt, die ihm Geschenke geben, eine bestimmte Form der politischen Macht. Er beugt sich ihr und erkennt sie an. Gleichzeitig bellt er jene an, die ihm
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nichts geben, und beißt diejenigen, die böse sind. Gegenüber der Macht, die er einerseits akzeptiert, fühlt er sich also frei, offen und mit Nachdruck zu sagen, was er ist, was er will, was er braucht, was wahr und was falsch ist, was gerecht und was ungerecht ist. Wir haben hier ein Spiel der philosophischen parrhesia, ein Spiel des philosophischen Wahrsprechens, ein Spiel des philosophischen Wahr-Seins gegenüber der Machtausübung und der Identifikation einer Person mit ihrer Macht (ich bin der König Alexander), ein Spiel, das offensichtlich sehr weit von demjenigen Platons entfernt ist. Wieder sehr schematisch können wir sagen, daß wir im Fall der Kyniker eine Weise der Beziehung des philosophischen Wahrsprechens zum politischen Handeln haben, die sich in Gestalt der Unvereinbarkeit, der Herausforderung und des Spotts vollzieht, während wir bei Platon eine Beziehung des philosophischen Wahrsprechens zur politischen Praxis haben, die eher mit Überschneidung, mit Pädagogik und mit der Identifikation des philosophierenden Subjekts und des machtausübenden Subjekts zu tun hat. Es bleibt noch zu sehen, wie diese Beziehung sich gestaltet, doch in jedem Fall hat die Philosophie mit ihrem Wahrsprechen ihre Rolle nicht notwendig oder zwangsläufig als Aussage darüber, was das politische Handeln sein soll, nicht als politisches Programm, nicht als intrinsische politische Rationalität in der Politik zu spielen. Man könnte auch sagen: Der philosophische Diskurs in seiner Wahrheit, innerhalb des Spiels, das er notwendigerweise mit der Politik betreibt, um darin seine eigene Wahrheit zu finden, hat nicht vorzuzeichnen, was das politische Handeln sein soll. Er sagt nicht das Wahre des politischen Handelns, er sagt nicht die Wahrheit für das politische Handeln, sondern er sagt die Wahrheit in bezug auf das politische Handeln, in bezug auf die Ausübung der Politik, in bezug auf die politische Persönlichkeit. Genau das nenne ich ein wiederkehrendes, beständiges und grundlegendes Merkmal des Verhältnisses der Philosophie zur Politik. Mir scheint, daß diese Behauptung, die an diesem historischen Ort, an den wir uns stellen, schon sehr deutlich 362
wahrnehmbar ist, im Verlauf der gesamten Geschichte der Beziehungen zwischen Philosophie und Politik wahr bleibt und ständig Gefahr läuft, nicht wahr zu sein. Wenn man jedoch diese Beziehungen wirklich verstehen will, muß man im Gedächtnis behalten, daß, wie gesagt, die Philosophie in bezug auf die Politik die Wahrheit zu sagen hat, während sie nichts darüber zu sagen hat, was die Politik wirklich tun soll. Wenn Sie einige der großen Formen des philosophischen Wahrsprechens in bezug auf die Politik in der Moderne betrachten, läßt sich dasselbe sagen. Die philosophische Theorie der Staatshoheit, die Philosophie der Grundrechte, die Philosophie als Gesellschaftskritik, alle diese Formen von Philosophie, alle diese Formen der philosophischen Veridiktion haben keineswegs zu sagen, wie regiert werden soll, welche Entscheidungen zu treffen sind, welche Gesetze angenommen und welche Institutionen eingerichtet werden sollen. Umgekehrt ist es jedoch für den Beweis der Wirklichkeit einer Philosophie unerläßlich heute wie zu Platons Zeiten -, daß sie die Wahrheit in bezug auf das politische Handeln sagt, daß sie die Wahrheit entweder im Namen einer kritischen Analyse oder im Namen einer Philosophie, einer Auffassung von Rechten oder im Namen einer Vorstellung der Staatshoheit usw. sagt. Für jede Philosophie ist es wesentlich, in bezug auf die Politik die Wahrheit sagen zu können. Für jede politische Praxis ist es wichtig, in einem ständigen Verhältnis zu diesem Wahrsprechen zu stehen, wobei jedoch vorausgesetzt ist, daß das Wahrsprechen der Philosophie nicht mit dem zusammenfällt, was die politische Rationalität sein kann und soll. Das philosophische Wahrsprechen ist nicht mit der politischen Rationalität identisch, aber es ist für eine politische Rationalität wesentlich, in einem bestimmten, noch zu bestimmenden Verhältnis zum philosophischen Wahrspreehen zu stehen, wie es für das philosophische Wahrsprechen wichtig ist, seine Wirklichkeit in bezug auf eine politische Praxis zu beweisen. Ich glaube jedoch, daß diese notwendige und grundlegende Beziehung, die für die Philosophie und die politische Praxis im 36 3
Abendland zweifellos konstitutiv ist, ein für unsere Kultur absolut einzigartiges Phänomen ist. Die Koexistenz und die Korrelation der politischen Praxis und des philosophischen Wahrsprechens dürfen niemals als erworbene Kongruenz oder als zu erwerbende Kongruenz verstanden werden. Mir scheint, daß das Unheil und die Zweideutigkeiten der Beziehungen zwischen Philosophie und Politik zweifellos mit der Tatsache zu tun haben und hatten, daß die philosophische Veridiktion sich manchmal verstehen wollte als ... , oder besser, daß man ihr Forderungen auferlegt hat, die in Begriffen einer Kongruenz mit den Inhalten einer politischen Rationalität formuliert wurden, und daß umgekehrt die Inhalte einer politischen Rationalität ihre Autorität von der Tatsache ableiten wollten, daß sie sich als philosophische Lehre gebärdeten oder auf eine philosophische Lehre beriefen. [... ] Philosophie und Politik sollen in einer Beziehung, in einer Korrelation stehen, niemals aber in einer Kongruenz.':- Das ist, wenn Sie so wollen, das allgemeine Thema, das man aus diesem Text Platons herauslesen kann. Wie gesagt, diese Ratschläge sind nicht vergleichbar mit den Formen politischer Rationalität, die Thukydides entwickelt. Das hat aber einen einfachen Grund, nämlich den, daß es für Platon und, wie mir scheint, für die abendländische Philosophie im allgemeinen in Wahrheit niemals darum ging, den Politikern zu sagen, was sie zu tun haben. Es ging ihnen vielmehr immer darum, gegenüber den Politikern, gegenüber der politischen Praxis, gegenüber der Politik als philosophischer Diskurs und als philosophische Veridiktion zu bestehen. Das ist das erste Thema. Das zweite Thema, das man diesen platonischen Texten, die ich in der ersten Stunde vorgelesen habe, entnehmen kann, ist folgendes: Man sieht, wie sich darin eine sehr besondere historische Lage abzeichnet. Diese ist zwar einzigartig, sie wird aber lange Zeit dominieren, und zwar, wie ich schon gesagt habe, bis zum Ende der Antike. In der Tat habe ich schon angedeutet, ':- Foucault begann den Satz mit: Philosophie und Politik müssen kongruent sein. 36 4
daß bei diesen Ratschlägen - und vor allem bei der ersten Folge von Ratschlägen, die Platon Dionysios erteilt - der Stellenwert, der der Organisation des Staats vorbehalten ist, der Stellenwert der Verfassung, der Gesetze, der Gerichte, ziemlich beschränkt ist und nicht von äußerster Wichtigkeit zu sein scheint. Was dagegen bei den Ratschlägen, die Platon Dionysios und dann den Freunden Dions erteilt, wichtig und dominierend zu sein scheint, ist ein Problem, das mit den Bündnissen zu tun hat, mit den Beziehungen zwischen Siegern und Besiegten, mit den Beziehungen zwischen den verschiedenen föderierten Staaten, zwischen der Metropole und den Kolonien, mit der Art und Weise, wie die unterworfenen Städte regiert werden sollen, mit der Frage, wem die Macht übertragen werden soll, welche Arten von Beziehungen zwischen denen bestehen, die in der Staatsmetropole befehlen, und den anderen. Das bedeutet, daß die angesprochenen Probleme zum größten Teil Probleme des Reiches und Probleme der Monarchie sind. Zweifellos betreffen diese Probleme Sizilien, d. h. eine Welt, die der klassischen hellenischen Welt sehr nahesteht, die um kleine Einheiten, die Stadtstaaten, herum organisiert ist mit ihren Rivalitäten, Bündnissen, ihrer Föderation und ihrem Kolonisierungssystem. Ich glaube aber auch, daß es sich um Probleme handelt, die zu der Zeit, als Platon schrieb, zwar noch undeutlich und ohne daß die Dinge schon völlig entschieden oder vorgezeichnet wären, im Begriff stehen, zu wirklichen politischen Problemen der hellenischen Welt und a fortiori der römischen Welt zu werden. Seit der Bildung der großen hellenischen Monarchien und gewiß seit der Einrichtung eines römischen Kaiserreiches im gesamten Umkreis des Mittelmeers sieht man deutlich, daß das konkrete politische Problem, das übrigens ein ganz präzises war, das Problem sein wird, welche Art von politischer Einheit organisiert werden soll, so daß von da an der Stadtstaat, die Form, das Modell des Stadtstaats natürlich nicht mehr einem Typ der Machtausübung entsprechen kann, der geographisch, was den Raum und die Bevölkerung angeht, diese Grenzen unendlich überschreiten muß. Wie läßt sich also die politische 36 5
Einheit denken? Der Körper des Stadtstaats ist nicht mehr das Modell. Die politische Einheit läßt sich nicht mehr als Körper des Stadtstaats oder der Bürger denken. Wie wird man also die politische Einheit denken können? Zweitens, ein weiteres Problem, das sich unmittelbar an dieses anschließt, ist folgendes: Wie kann die Macht, die in ihren Einheiten nur als eine Art von Monarchie vorgestellt wurde, wie kann diese Macht, die in einem bestimmten Sinne in den Händen des Monarchen liegt, auf der gesamten Fläche dieser großen politischen Einheit verteilt, aufgeteilt und hierarchisch geordnet werden? Was ist der Existenzmodus dieser neuen politischen Einheiten, die sich gerade abzeichnen, was ist der Modus der Aufteilung, der Verteilung, der Differenzierung der Macht innerhalb dieser Einheiten? Das sind, wie Sie sehen, die politischen Probleme, die in den Texten Platons, die ich vorgelesen habe, zutage treten und die sich zu jener Zeit natürlich in der Situation, in der sich Syrakus befand, zu stellen beginnen und sichtbar werden, die aber das ganze politische Denken bis zum Römischen Reich dominieren werden. Ich habe vorhin an die Rede von Maecenas an Augustus erinnert, wie sie von Cassius Dio berichtet wird,4 an diese Rede, diesen Typ von politischer Reflexion - welchen man auch bei Dion Chrysostomos in bezug auf den Monarchen finden wird 5 und ebenso bei Plutarch -, das ganze politische Denken des I. und 2. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung dreht sich fortwährend um folgendes Problem: Was ist die Seinsweise dieser neuen politischen Einheiten, die sich oberhalb der Stadtstaaten bilden, ohne sie völlig zu zerstören, die jedoch einer anderen Ordnung als diese angehören? Und zweitens: Was ist die Art von Macht, die der Monarch dort ausüben soll? Das ist, wenn Sie so wollen, die politische Bühne, die sich für die griechisch-römische Welt abzuzeichnen beginnt. Ich möchte keinesfalls die scharfsinnige, artikulierte, dichte und reichhaltige politische Rationalität von Thukydides in bezug auf die kleinen griechischen Stadtstaaten dem viel schwankenderen platonischen Denken entgegensetzen, das sich an eine historische Wirklichkeit richtete, die gera366
de im Entstehen begriffen war. Ich glaube nicht, daß dieser Gegensatz interessant ist. Mir scheint jedoch, daß das, was man in diesem platonischen Diskurs, in dem es um die Beziehung zwischen der Philosophie und Politik geht, skizziert findet, neue politische Wirklichkeiten sind, jene neuen Wirklichkeiten nämlich, die dauerhaft sein werden, die noch acht Jahrhunderte bis zum Ende des Römischen Reiches fortbestehen werden. Diese neuen politischen Wirklichkeiten sind zum einen das Reich und zum anderen der Fürst oder der Monarch. Der dritte Punkt, den ich hervorheben möchte - der erste war das wiederkehrende Prinzip der nicht kongruenten Korrelation zwischen politischer Praxis und Philosophie im ganzen abendländischen Denken; der zweite war jene neue historische und politische Lage, die sich zu der Zeit, als Platon schrieb, abzeichnet -, besteht darin, daß man, wenn man diese beiden Dinge ins Spiel bringt, genau versteht, was Platon meint, wenn er darauf besteht, daß der Philosoph mit dem Herrscher sprechen soll oder, besser noch, daß der Herrscher selbst Philosoph sein soll. Wenn, wie ich vorhin gesagt habe, der philosophische Diskurs und die politische Praxis in einer bestimmten Beziehung stehen sollen, die jedoch keine Beziehung der Kongruenz ist, was ist dann diese Beziehung für Platon, und wo wird sie hergestellt? Man könnte die Frage auch so stellen: Wo vollzieht sich die Bewährungsprobe, durch die die Philosophie, wie ich letztes Mal sagte, sich ihre Wirklichkeit sichert, so daß sie nicht bloß logos ist? Wo geschieht das Gegenübertreten von Philosophie und Politik, das sowohl ihre notwendige Beziehung als auch ihre Inkongruenz beinhaltet? Nun, ich glaube, daß hier ein großes Problem liegt. Ich habe vorhin die Lösung der Kyniker erwähnt, die im Grunde die Beziehung zwischen dem philosophischen Wahrsprechen und der Ausübung politischer Macht an einen öffentlichen Ort verlegten. Die Kyniker sind Männer der Straße, Männer der agora. Sie sind Männer des öffentlichen Platzes, aber auch Männer der Meinung. Der Ort der Beziehung zwischen dem philosophischen Wahrsprechen und der Ausübung politischer Macht, die nun in den Händen 36 7
des Monarchen liegt, dieser neuen Persönlichkeit, dieser zu jener Zeit neuen politischen Wirklichkeit, nahm die Gestalt der Konfrontation durch die Herausforderung und den Spott an, wofür Diogenes gegenüber Alexander ein Beispiel gab. Wo wird für Platon der Ort dieser notwendigen und inkongruenten Beziehung zwischen dem philosophischen Wahrsprechen und der politischen Praxis sein? Nicht auf dem öffentlichen Platz. In diesem Sinne sind die Kyniker noch Männer des Stadtstaats, die bis ins Römische Reich hinein die Traditionen des Stadtstaats, des öffentlichen Platzes usw. fortführen. Für Platon ist der Ort dieser inkongruenten Beziehung nicht der öffentliche Platz, sondern die Seele des Fürsten. Hier rühren wir an etwas, das in der Geschichte des politischen Denkens, der Philosophie und der Beziehungen zwischen Politik und Philosophie im Abendland sehr wichtig ist. Mir scheint, daß die Polarität zwischen Kynismus und Platonismus etwas Wichtiges darstellte, was sehr früh schon spürbar, ausdrücklich und auch dauerhaft war. Platon und Diogenes sind einander entgegengesetzt. Diogenes Laertius bezeugt übrigens diesen Gegensatz: Diogenes, der Kyniker, wurde eines Tages von Platon beim Kohlwaschen beobachtet. Platon sieht ihn seinen Kohl abspülen und sagt zu ihm, indem er daran erinnert, daß Dionysios nach Diogenes gerufen hatte, daß aber Diogenes sich dem Ruf des Dionysios verweigert hatte: Wenn du mit Dionysios höflicher umgegangen wärest, bräuchtest du keinen Kohl zu waschen. Worauf Diogenes ihm antwortet: Wenn du die Gewohnheit angenommen hättest, deinen Kohl zu waschen, »so hättest du dich nicht dem Dionysios dienstbar gemacht.«6 Nun, diese Anekdote von Diogenes Laertius ist, glaube ich, sehr wichtig und sehr ernst. Sie zeigt die beiden Pole an, an denen schon sehr früh, seit dem 4· Jahrhundert, das Problem des Aufeinandertreffens zwischen einem philosophischen Wahrsprechen und einer politischen Praxis zwei Einsatzorte gefunden hat: den öffentlichen Platz oder die Seele des Fürsten. Diese beiden Polaritäten ziehen sich durch die gesamte Geschichte des abendländischen Denkens. Soll sich der phi368
losophische Diskurs an die Seele des Fürsten wenden, um sie zu bilden? Oder soll der wahre Diskurs der Philosophie auf dem öffentlichen Platz stattfinden und das Handeln des Fürsten und das politische Handeln herausfordern, sich ihm entgegenstellen, es verspotten und kritisieren? Erinnern Sie sich an das, was wir in jenem Text über die Aufklärung gesehen hatten, mit dem ich die diesjährige Vorlesung begonnen hatte. In seiner Theorie der Aufklärung versucht Kant, die beiden Dinge zu vereinen. Er versucht zu erklären, wie das philosophische Wahrsprechen gleichzeitig zwei Orte besitzt, die nicht nur miteinander vereinbar sind, sondern sich gegenseitig fordern: Einerseits hat das philosophische Wahrsprechen seinen Ort in der Öffentlichkeit; das philosophische Wahrsprechen hat aber auch seinen Ort in der Seele des Fürsten, wenn der Fürst ein aufgeklärter Fürst ist. Wir haben hier sozusagen einen Kantischen Eklektizismus, der versucht zusammenzuhalten, was traditionell, seit der Geschichte mit dem Kohl zwischen Platon und Diogenes, das große Problem der Beziehungen zwischen Philosophie und Politik im Abendland war: Sollen sie auf dem öffentlichen Platz oder in der Seele des Fürsten stattfinden? Kehren wir also zu Platon zurück, da er es ist, von dem wir sprechen. Es ist klar, daß sich für Platon die Beziehung zwischen Philosophie und Politik in der Seele des Fürsten abspielen soll, aber es bleibt noch herauszufinden, wie diese Beziehung eigentlich hergestellt wird. Sollte sie nicht die Gestalt der Kongruenz annehmen? Wenn man sagt, daß der Fürst Philosoph sein soll, bedeutet das dann nicht, daß der Fürst nur auf der Grundlage eines philosophischen Wissens und philosophischer Erkenntnisse, die ihm sagen, was zu tun sei, politische Entscheidungen treffen und als politischer Akteur handeln soll? Nun, betrachten wir die Texte selbst, in denen Platon im VII. Brief einerseits und im Staat andererseits von dieser Kongruenz zwischen politischem Handeln und der Philosophie in der Seele des Prinzen spricht. Ich habe diese Passage letztes Mal zitiert, sie steht in 326b: »Es wird also die Menschheit, so erklärte ich, nicht eher von ihren Leiden erlöst werden, bis ent369
weder die berufsmäßigen Vertreter der echten und wahren Philosophie [der griechische Text sagt genau: bevor die Gattung (ta genas) jener, die richtig und wahrhaft philosophieren; man kann das zwar mit >reinen und wahren Philosophen< übersetzen, ich ziehe es jedoch vor, so nahe wie möglich an der ursprünglichen Formulierung zu bleiben: daß die Gattung jener, die richtig und wahrhaft philosophieren; M. E] also zur Herrschaft im Staate gelangen oder bis die Inhaber der Regierungsgewalt in den Staaten infolge einer göttlichen Fügung sich zur ernstlichen Beschäftigung mit der echten Philosophie entschließen.«7 Sie wissen, daß dieser Text nichts anderes als die Wiederholung, das Echo, zwar mit einigen Variationen, aber doch das getreue Echo dessen ist, was wir im Buch V des Staats bei 473C finden - ein berühmter und grundlegender Text -, wo Platon schreibt (der Text des Staats wurde vor den Briefen geschrieben): Es gibt kein Ende des Unglücks der Staaten und der Städte (dasselbe Thema also: die Leiden der Menschen werden kein Ende finden; dort: die Leiden der Staaten werden kein Ende finden), »wenn nicht die Philosophen in den Staaten Könige werden« oder »die Könige, wie sie heute heißen, und Herrscher« (das ist die Übersetzung, die wir bei Vretska finden; dynastai bedeutet eigentlich: diejenigen, die die Macht ausüben) »echte und gute Philosophen werden« (auch hier sagt der griechische Text: nicht auf authentische und hikanas, d. h. kompetente Weise philosophieren) und »wenn nicht in eine Hand zusammenfallen die dynamis palitike [die politische Macht; M. E] kai philasaphia (und die Philosophie).«8 Augenscheinlich haben wir die Bestimmung eines exakten Zusammenfallens. Die Philosophen müssen Könige werden oder die Könige Philosophen - was soll das heißen, wenn nicht, daß das, was im Herrscher Philosoph ist, ihm sagen wird, was er als Herrscher zu tun hat, und daß der Teil von ihm, der Herrscher ist, nichts anderes tun wird, als das, was ihm der philosophische Diskurs sagt, in Regierungshandlungen umzusetzen? Tatsächlich aber, wenn Sie den Text anschauen - deshalb bestand ich auf einer 37°
möglichst getreuen Übersetzung -, geht es nicht um eine Entsprechung zwischen dem philosophischen Diskurs, dem philosophischen Wissen und der politischen Praxis. Die Kongruenz, um die es geht, ist die Kongruenz zwischen denen, die die Philosophie praktizieren, die wahrhaft und kompetent philosophieren, und denen, die die Macht ausüben. Was wichtig und zugespitzt ist und was von den beiden Texten zum Ausdruck gebracht wird, ist die Tatsache, daß derjenige, der philosophiert, auch derjenige sein soll, der die Macht ausübt. Aber hieraus, d. h. aus der Tatsache, daß derjenige, der die Philosophie praktiziert, zugleich auch derjenige ist, der die Macht ausübt, und daß der, der die Macht ausübt, auch jemand ist, der die Philosophie praktiziert, kann man überhaupt nicht schließen, daß das, was er von der Philosophie weiß, das Gesetz seines Handelns und seiner politischen Entscheidungen sein soll. Wichtig und erforderlich ist, daß das Subjekt der politischen Macht auch das Subjekt ist, das philosophisch tätig ist. Nun werden Sie mir aber sagen: Worin besteht da der Unterschied, und was bedeutet diese Identität zwischen dem Subjekt der politischen Macht und dem Subjekt der philosophischen Praxis? Warum soll man verlangen, daß derjenige, der die Macht ausübt, auch derjenige ist, der die Philosophie praktiziert, wenn die Philosophie nicht in der Lage ist, dem, der seine Macht ausübt, zu sagen, was er tun soll? Nun, ich glaube, daß die Antwort auf diese Frage in Folgendem liegt: Was in Frage steht, wie Sie deutlich sehen, ist die Philosophie als philasaphein. Der Text sagt es selbst: Die Regierenden müssen auch diejenigen sein, die philosophieren, die die Philosophie praktizieren. Was ist aber diese Praxis der Philosophie für Platon? Diese Praxis der Philosophie ist vor allem, wesentlich und im Grunde eine Weise, wie sich das Individuum als Subjekt gemäß einem bestimmten Seinsmodus konstituiert. Dieser Seinsmodus des philosophierenden Subjekts ist es nun, der den Seinsmodus des Subjekts konstituieren soll, das die Macht ausübt. Es geht also nicht um die Kongruenz eines philosophischen Wissens mit einer politischen Rationalität, sondern um die 37 1
Identität zwischen dem Seins modus des philosophierenden Subjekts und dem Seinsmodus des Subjekts, das die Politik praktiziert. Wenn die Könige Philosophen sein sollen, dann nicht deshalb, weil sie ihr philosophisches Wissen darauf befragen könnten, was unter diesen und jenen Umständen zu tun sei. Es bedeutet vielmehr folgendes: Um einerseits ordentlich regieren zu können, muß man andererseits eine bestimmte Beziehung der Praxis zur Philosophie haben; der Schnittpunkt zwischen »ordentlich regieren« und »die Philosophie praktizieren« wird dabei von ein und demselben Subjekt eingenommen. Es ist ein und dasselbe Subjekt, das einerseits ordentlich regieren und andererseits eine Beziehung zur Philosophie haben soll. Sie sehen, daß es kein Zusammenfallen der Inhalte gibt, eine Isomorphie der Rationalitäten, eine Identität des philosophischen und des politischen Diskurses, sondern eine Identität des philosophierenden Subjekts mit dem regierenden Subjekt, was natürlich das Auseinandergehen oder die Unabhängigkeit der Achse, auf der man philosophiert, von der Achse, auf der man die Politik praktiziert, offenläßt. Schließlich läuft das darauf hinaus, daß die Seele des Fürsten sich selbst gemäß der wahren Philosophie regieren können muß, um die anderen gemäß einer gerechten Politik zu regieren. Wir können, und damit werde ich die heutige Vorlesung abschließen, folgendes sagen: Politik ist, wie wir letztes Mal gesehen haben, dasjenige, wodurch, auf dessen Grundlage und in Beziehung worauf das philosophische Wahrsprechen seine Wirklichkeit finden muß. Was ich Ihnen heute zeigen wollte, und zwar immer noch mit Bezug auf den VII. Brief, dessen Lektüre wir nun beenden, ist, daß das Philosophieren, das in seiner Beziehung zur Politik:· seine Wirklichkeit findet, der Politik nicht vorschreiben darf, was sie zu tun hat. Sie soll für den Regierenden, den Politiker festsetzen, was er zu sein hat. Es geht um das Sein des Politikers, um seinen Seinsmodus. Die Philosophie wird also insofern ihre Wirklichkeit aus ihrer Be-
ziehung zur Politik schöpfen, als sie bestimmen kann - auf effektive Weise oder nicht, darin besteht ihre Bewährungsprobe -, was der Seinsmodus des Politikers ist. Die Frage, die sich stellt, ist daher folgende: Was ist der Seinsmodus dessen, der die Macht in seinem Zusammenfallen mit dem philosophierenden Subjekt ausübt? Mir scheint, daß wir hier ein Problem haben, das in der gesamten Geschichte der Beziehungen zwischen der Philosophie und der Politik in der Antike von absolut grundlegender Bedeutung war. Es genügt übrigens, Mark Aurel zu lesen, um deutlich zu sehen, daß sich ihm genau dieses Problem stellte 9 und daß er sich dessen vollkommen bewußt war. Mark Aurel verstand sich als Philosophenherrscher und war sechs Jahrhunderte oder fünfeinhalb Jahrhunderte nach Platon der Philosophenkaiser. Mark Aurel ist genau das, woran Platon fünfeinhalb Jahrhunderte zuvor dachte: ein Mann, der die Macht in einer politischen Einheit auszuüben hat, die unendlich viel größer ist als die Einheit eines Stadtstaats. Folglich stellt sich im Herzen oder Zentrum des Imperiums ein Problem für den Monarchen, der nicht nur Herr über das Imperium, sondern Herr über sich selbst sein soll. Mark Aurel war jener ideale Herrscher, aber nichts in den Texten Mark Aurels zeigt, daß er die Rationalität jemals der Philosophie entlehnt hätte, die in der Lage gewesen wäre, ihm sein politisches Verhalten im Hinblick auf diese oder jene Situation zu diktieren, sondern er hat fortwährend von der Philosophie verlangt, ihm zu sagen, was es bedeute, Herrscher zu sein. Das heißt, daß er die Philosophie gerade auf seinen Seinsmodus als Herrscher befragt hat. Kurz, was uns als Ort der grundlegenden Beziehungen zwischen Philosophie und Politik aus diesen Texten Platons entgegentritt, als Ort, an dem sich die Beziehungen zwischen Philosophie und Politik knüpfen - Beziehungen, die, wie gesagt, solche der Überschneidung und nicht der Kongruenz sind -, ist die Seele des Fürsten. Dieses Problem und die Probleme, die mit der Frage nach der Seele des Fürsten verbunden sind, werde ich Ihnen nächstes Mal zu erklären versuchen.
". Im Manuskript steht »philosophie« (A. d. ü.) 37 2
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Anmerkungen I Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Buch VI, §43, übers. v. Otto Apelt, Berlin I955, S·3 I6 . 2 "Als Alexander einst bei einem Zusammentreffen zu ihm sagte: ,Ich bin Alexander, der große KönigUnd ich bin Diogenes, der Hund
Volksversammlung, wo jeder, wenn er an der Reihe war, frei seine Meinung äußern konnte, erhebt sich nun dieser Bürger und ergreift das Wort, und zwar mit der Autorität des ersten der Athener. Er ergreift das Wort in feierlichen und rituellen Formen, in kodierten Formen der Rhetorik. So wird er eine Meinung abgeben, eine Meinung, von der er betont, daß sie seine eigene ist. Aber diese Meinung kann und soll die Meinung des Staats werden, und sie wird es auch tatsächlich. Und daher müssen der erste der Bürger und der Stadtstaat selbst aufgrund dieser künftig geteilten Meinung gemeinschaftlich ein Risiko eingehen, nämlich das Risiko des Erfolgs und das Risiko des Mißerfolgs. Das ist die Person des Perikles. Nun, einige Jahre später können wir die Person des Sokrates zeichnen, der in den Straßen Athens die Sprache aller und des Alltags spricht und sich systematisch weigert, zur Ratsversammlung zu gehen und sich an das Volk zu wenden. Warum verwendet er diese Sprache aller und des Alltags? Er verwendet sie so, daß er sich um sich selbst kümmern kann, indem er deutlich sichtbar die Ungerechtigkeiten ablehnt, die man ihm gegenüber begehen mag, aber auch indem er die anderen durch ungeniertes Fragen ermuntert - so daß er sich um die anderen kümmert, indem er ihnen zeigt, daß sie sich um sich selbst kümmern müßten, da er ja nichts weiß. Die andere Gefahr, die eine solche Tätigkeit mit sich bringt, akzeptiert er. Er akzeptiert sie bis zu seinem letzten Atemzug, er akzeptiert sie bis zum hingenommenen Tod. Das sind also die beiden Bilder, nach denen ich die Vorlesung gegliedert hatte, und ich hatte versucht, Ihnen den Übergang vom einen zum anderen zu zeigen. Aber - und darin besteht die andere Gruppe von Schlußfolgerungen, die ich ziehen möchte - wenn man diesen Übergang, diesen Wandel von der einen Person zur anderen hervorhebt, scheint mir, daß man einige der drei Aspekte herausstellen kann, in denen die antike Philosophie die parrhesiastischen Funktionen manifestiert und ausgeübt hat. Der erste Aspekt ist derjenige, den ich versucht habe, anhand des VII. und VIII. Briefs herauszuarbeiten, nämlich die Beziehung der philoso44°
phischen parrhesia zur Politik, eine Beziehung, von der ich versucht habe zu zeigen, daß sie zugleich eine Beziehung des Außenstehens, der Distanz, dann aber auch der Korrelation war. Die philosophische parrhesia war eine bestimmte nichtpolitische Weise, zu den Regierenden zu sprechen, und zwar darüber, wie sie die anderen und sich selbst regieren sollen. Diese indirekte Beziehung, diese Beziehung des Außenstehens und der Korrelation mit der Politik, stellt die Philosophie in eine Art von Gegenposition zur Politik, eine Gegenposition, die durch ihr Außenstehen, aber auch durch ihre Nichtreduzierbarkeit bestimmt ist. Eine Art von widerstrebendem und nachdrücklichem Außenstehen gegenüber der Politik. Hier manifestiert sich, wie mir scheint, sowohl der Mut, der der parrhesia eigentümlich ist, als auch die Tatsache, daß die philosophische parrhesia in dieser Beziehung zur Politik, Sie erinnern sich, ihre eigene Wirklichkeit beweist. Der zweite Aspekt, den ich Ihnen zeigen wollte - das habe ich letztes Mal betont -, ist folgender: Die philosophische parrhesia stellt sich in eine Beziehung, hier nun nicht mehr der Gegenposition oder des korrelativen Außenstehens gegenüber der Politik, sondern der des Gegensatzes und des Ausschlusses gegenüber der Rhetorik. Das trat deutlich im Text des Phaidros hervor. Diese Beziehung der Philosophie zur Rhetorik ist sehr verschieden von der Beziehung der Philosophie zur Politik. Es ist keine Beziehung des behaupteten Außenstehens und der aufrechterhaltenen Korrelation mehr, sondern ein Verhältnis des strengen Widerspruchs, ein Verhältnis konstanter Polemik, ein Verhältnis des Ausschlusses. Dort, wo die Philosophie ist, kann es keine Rhetorik geben. Die Philosophie bestimmt sich im Phaidros als Alternative und Gegensatz zur Rhetorik. Wenn der Politiker auf gewisse Weise ein anderer gegenüber dem Philosophen ist, dann doch ein anderer, zu dem der Philosoph spricht, und ein anderer, dem gegenüber der Philosoph die Wirklichkeit seiner philosophischen Praxis beweist. Dagegen ist der Rhetor gegenüber dem Philosophen ein anderer in dem Sinne, daß dort, wo es den Philosophen gibt, der Rhetor verjagt 44 I
werden muß. Es gibt keine Koexistenz, ihr Verhältnis ist das des Ausschlusses. Um diesen Preis des Bruchs mit der Rhetorik wird sich der philosophische Diskurs durch das Austreiben der Rhetorik selbst als konstante und dauerhafte Beziehung zur Wahrheit konstituieren und behaupten können. Sie erinnern sich, daß wir das im Phaidros gesehen hatten, als das, was mit der Austreibung der Rhetorik, mit ihrer Disqualifizierung erschien, keineswegs die Lobrede auf einen Logozentrismus war, der aus der Rede die eigentümliche Form der Philosophie machen würde, sondern die Behauptung einer stetigen Verbindung - gleichgültig, ob in schriftlicher oder in mündlicher Form - des philosophischen Diskurses mit der Wahrheit in der zweifachen Form der Dialektik und der Pädagogik. Die Philosophie kann also nur um den Preis des Opfers der Rhetorik existieren. In diesem Opfer aber manifestiert, behauptet und konstituiert der Philosoph seine beständige Verbindung mit der Wahrheit. Schließlich ist der dritte Aspekt - diesen dritten Aspekt werde ich versuchen, Ihnen nachher zu erklären, und Sie bitten, ihn an seinen eigentlichen Ort zu stellen, d. h. vor alles, was ich Ihnen gerade gesagt habe - einer, den man in vielen anderen Dialogen Platons, aber insbesondere im Gorgias finden kann. Die Briefe würden also das Verhältnis der Philosophie zur Politik als parrhesia charakterisieren. Der Phaidros würde zeigen, was die Philosophie als parrhesia in ihrem Gegensatz zur Rhetorik ist. Der Gorgias, so scheint mir, zeigt nun das Verhältnis der Philosophie zur Einwirkung auf die Seelen, zur Regierung der anderen, zur Leitung und Führung der anderen: die Philosophie als Psychagogie. Jedenfalls erscheint die parrhesiastische Philosophie in diesem Text in einem Verhältnis, das weder politisch noch rhetorisch ist, sondern psychagogisch, nämlich zur Leitung und Führung der Seelen. Diese parrhesiastische Philosophie wendet sich in ihrer psychagogischen Tätigkeit nicht mehr an den Politiker und an den Rhetor, sondern an den Schüler, an die andere Seele, an denjenigen, dessen Seele, und eventuell dessen Körper, sie nachstellt. Wir hätten es demnach 44 2
jetzt mit einer dritten Art von Beziehung zu tun. Es handelt sich nicht mehr um das Verhältnis einer Gegenüberstellung (die Philosophie gegenüber der Politik, wie es in den Briefen der Fall war) und auch nicht mehr um das Verhältnis des Ausschlusses wie bei der Rhetorik. Vielmehr ist es ein gewisses Verhältnis der Einbeziehung, der Gegenseitigkeit, der Koppelung, ein pädagogisches und erotisches Verhältnis, das im Gorgias charakterisiert wird und das mir der dritte Aspekt, der dritte Wesenszug des Philosophen als Parrhesiast zu sein scheint. Man kann sagen, daß die Philosophie mit diesen drei Wesenszügen (Verhältnis zur Politik, Ausschluß der Rhetorik, Verfolgung der Seele der anderen) auf gewisse Weise die Hauptfunktionen wieder aufgenommen hat, die wir in bezug auf die perikleische parrhesia, die politische parrhesia skizzieren konnten. Schließlich hatte, wie Sie sich erinnern, auch der große Athener Perikles den freien Mut, die Wahrheit zu sagen, um auf die anderen einzuwirken. Aber Perikles übte seinen freien Mut im Bereich der Politik selbst aus. Sokrates, Platon und die antiken Philosophen werden ihren Mut gegenüber den politischen Institutionen, aber nicht in den politischen Institutionen ausüben. Perikles sagte die Wahrheit unter der einzigen Bedingung, daß das, was er sagte, auch das war, was er für wahr hielt. Sokrates, Platon und dann die ganze antike Philosophie werden die Wahrheit nur unter aufwendigeren Bedingungen sagen können. Ihr Diskurs muß nach den Prinzipien der Dialektik gegliedert sein. Schließlich handelte es sich bei Perikles bloß darum, die Zuhörer zu überreden. Sokrates und auch Platon oder die anderen Philosophen müssen, um auf die Seele der anderen einzuwirken, ganz andere Verfahren einsetzen als die der schlichten Überredung. Wenn man deutlich sieht, wie die drei Funktionen der politischen parrhesia von Perikles in die sokratische parrhesia und von da an in die philosophische parrhesia der Antike transformiert werden, dann sieht man auch, daß sich in diesen drei Funktionen das abzeichnet, was mir die Elemente und die 443
grundlegendsten Merkmale der modernen Philosophie in dem historischen Sein, das sie sich selbst bestimmt, zu sein scheinen. Was ist die moderne Philosophie, wenn man sie, wie gesagt, als eine Geschichte der Veridiktion in ihrer parrhesiastischen Form lesen will? Sie ist eine Praxis, die in ihrem Verhältnis zur Politik ihre Wirklichkeit beweist. Sie ist eine Praxis, die in der Kritik der Täuschung, der Verlockung, der Vorspiegelung, der Schmeichelei ihre Funktion der Wahrheit findet. Sie ist schließlich eine Praxis, die in der Transformation des Subjekts durch sich selbst und durch den anderen ihr Wirkungsziel':· findet. Die Philosophie als Exteriorität gegenüber einer Politik, die ihre Realitätsprüfung darstellt, die Philosophie als Kritik im Hinblick auf einen Bereich der Täuschung, der sie herausfordert, sich als wahrer Diskurs zu konstituieren, die Philosophie als Askese, d. h. als Konstitution des Subjekts durch sich selbst, das scheint mir das moderne Wesen der Philosophie auszumachen oder vielleicht das zu sein, was im modernen Wesen der Philosophie das Wesen der antiken Philosophie wiederaufnimmt. Jedenfalls, wenn sich diese Perspektive aufrechterhalten läßt, versteht man auch, warum die Philosophie, die moderne ebenso wie die antike Philosophie, im Unrecht war oder wäre, wenn sie sagen wollte, was im Bereich der Politik zu tun und wie zu regieren sei. Sie wäre im Unrecht, wenn sie sagen wollte, was im Bereich der Wissenschaft das Wahre oder das Falsche sei. Sie wäre ebenfalls im Unrecht, wenn sie sich als Aufgabe die Befreiung oder Aufhebung der Entfremdung des Subjekts selbst vorgeben würde. Die Philosophie hat nicht zu sagen, was in der Politik geschehen soll. Sie muß in einer ständigen und widerstrebenden Exteriorität gegenüber der Politik sein, und darin besteht ihre Wirklichkeit. Zweitens hat die Philosophie nicht das Wahre und das Falsche im Bereich der Wissenschaft aufzuteilen. Sie soll beständig ihre Kritik gegenüber den Verlockungen, Vorspiegelungen und Täuschungen ausüben,
und darin spielt sie das dialektische Spiel ihrer eigenen Wahrheit. Schließlich hat die Philosophie nicht die Entfremdung des Subjekts aufzuheben. Sie soll die Formen bestimmen, in denen sich das Verhältnis zu sich selbst eventuell transformieren kann. Die Philosophie als Askese, die Philosophie als Kritik, die Philosophie als widerstrebende Exteriorität gegenüber der Politik, das ist, glaube ich, die Seinsweise der modernen Philosophie. Jedenfalls war das die Seinsweise der antiken Philosophie. Das waren die Dinge, die ich aus der Geschichte der parrhesia und aus der Verlagerung von der politischen parrhesia zur philosophischen parrhesia etwas herausarbeiten wollte. Sie sehen also, daß in diesem Schema eine Ausführung fehlt, daß es eine Leerstelle gibt, nämlich die, die dem Gorgias gewidmet sein sollte, d. h. der Art und Weise, wie Platon die Philosophie bestimmt und beschreibt, und zwar weder in ihrer Beziehung zum Herrscher noch in ihrer Beziehung zum Rhetor, sondern zu dem, um den sie sich kümmert, d. h. zu diesem anderen, diesem jungen Mann oder diesem beliebigen Mann, für den sie sich interessiert, dem sie nachstellt und dessen Seele sie zu bilden versucht. Diese Art von Beziehung - die sich sehr von der Beziehung des Gegenüber unterscheidet, die wir bei der Politik gefunden haben und die auch von der Beziehung des Ausschlusses im Hinblick auf die Rhetorik sehr verschieden ist möchte ich anhand von einem oder zwei Texten zu analysieren versuchen. Wenn Sie einverstanden sind, werden wir nun an dieser Stelle eine Pause machen. [... "]
". M. F.: Ich werde versuchen, die Fotokopie des Textes, über den ich spreche, zu holen.
". M. F.: die Ausübung ihrer Praxis 444
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Anmerkungen 1 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, a.a.O., Buch, II, §67, S. 107. 2 Ebd., §68, S. 107. 3 In Hermeneutik des Subjekts (passim) hatte Foucault häufig auf diesen Autor hingewiesen, allerdings von einem ethischen Gesichtspunkt aus. Eher politische Ausführungen über Musonius Rufus und Rubellius Plautus findet man jedoch im Manuskript der Vorlesung vom 27. Januar 1982. 4 Philostrat, Das Leben des Appolonios von Tyana, Buch V, Kap. 27-37, hg., übers. und er!. v. Vroni Mumprecht, München und Zürich 19 83, S. 521-559 (diese politische Debatte schließt drei Philosophen ein: Appolonius, Euphrates, Dion). 5 Vg!. zur Funktionsweise der Schule Epiktets die Vorlesung vom 27· Januar 1982, in: Hermeneutik des Subjekts, a. a. 0., S. 180-184. 6 Vgl. zu diesem Punkt die Ausführungen Foucaults in der Vorlesung vom 10. März 1982 (ebd., S.472-473), die sich wesentlich auf die Fragmente von Philoderns Peri parrhesias stützt. 7 Zur christlichen parrhesia konsultiere man die letzte Vorlesung aus dem Jahre 1984. 8 Epiktet, Epiktet, Teles und Musonius, übers. v. Wilhelm Capelle, Zürich 1948, S. 1}C. 9 Ebd., 24-25, S. 131. 10 Ebd., 83-84, S. 140.
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Vorlesung 10 (Sitzung vom 9. März 1983, zweite Stunde)
Studie des Gorgias. - Die Pflicht zum Geständnis bei Platon: der Kontext der Liquidierung der Rhetorik. - Die drei Eigenschaften des Kallikles: episterne; parrhesia; eunoia. Agonistisches Spiel vs. egalitäres System. - Die sokratische Rede: basanos und homologia.
Ich wiederhole, was ich gesagt habe: Dies ist also die letzte Vorlesung. Ich nehme an, daß Sie wissen, daß es die letzte Vorlesung ist, weil ich ja die Schlußfolgerungen schon gezogen habe. Ich möchte also im Sinne eines kleinen Zusatzes, und um eine Lücke zu füllen, auf zwei Texte aus dem Gorgias eingehen, vor allem auf einen, der mir ziemlich gut die Art von Beziehung zu erfassen oder vielmehr zu skizzieren scheint, die, wie gesagt, nicht zum Politiker und auch nicht zum Rhetor, sondern mit dem Schüler hergestellt werden soll. Das ist der dritte Aspekt, der dritte Wesenszug, der dritte Tätigkeitsbereich der parrhesia. [...] Ich hatte also vor, nacheinander zwei Texte aus dem Gorgias zu studieren. Den einen werde ich knapper behandeln, weil es ein Text ist, der trotz der Bedeutung, die man ihm beimißt, nicht eigentlich der philosophischen parrhesia zu entsprechen scheint. Dann gibt es einen anderen Text, in dem Platon das Wort parrhesia verwendet. Dies ist die erste Verwendung des Wortes parrhesia in einem Bereich, den man den Bereich der Praktiken zur Leitung des Gewissens nennen könnte. Verständlicherweise ist es dieser zweite Text, mit dem ich mich befassen möchte. Was ich Ihnen über den Gorgias sagen möchte, ist in Kürze folgendes: Wie Sie wissen, wurde in der post- oder neoplatonischen Klassifikation dem Gorgias der Untertitel Peri tes retorikes (Über die Rhetorik) gegeben. Und tatsächlich handelt es sich auch um eine Befragung zur Rhetorik, aber eine Befragung, die sich völlig von derjenigen unterscheidet, die man im Phaidros findet. Im Phaidros vollzieht sich die Kritik an der Rhetorik, wie Sie wissen, durch eine Nachahmung der Rheto447
rik - ein komplexes Spiel, insofern die Rhetorik selbst eine Kunst der Schmeichelei ist, wobei am Ende der Nachahmung in bezug auf die Liebe gezeigt wird, daß nicht der rhetorische Diskurs in der Lage ist, die wahre Lobrede auf die wahre Liebe zu halten, sondern eine andere Art von Diskurs, der sich dauernd und kontinuierlich in Form der Dialektik nach der Wahrheit richten soll. Der Gorgias stellt nun die Frage nach der Rhetorik, aber er stellt sie anders, und zwar auf zweierlei Weise. Der Unterschied ist zweifach. Zunächst, weil der Gorgias die Frage stellt: »Was ist die Rhetorik ?« Hier müssen wir uns ganz zu Beginn des Textes auf eine Reihe von Überlegungen beziehen, die sich auf diese Frage konzentrieren. Während die aufeinanderfolgenden Gesprächspartner, vor allem Gorgias und Polos, eine Lobrede auf die Rhetorik halten wollen, antwortet Sokrates jedes Mal: Aber nicht doch, darum geht es nicht, was wir wissen wollen ist tis an eie techne tes retorikes (was ist die Kunst der Rhetorik, was ist das Wesen der rhetorischen Technik).l Am Ende einer ersten Diskussion, die zeigen wird, daß die Rhetorik nichts ist, da sie doch in der Kunst der Schmeichelei aufgeht, geschieht nun etwas, wodurch nicht definiert, sondern de facto aufgewiesen wird, was diese andere techne ist, die der Philosophie als Seelenführung. Es wird der Übergang von der Rhetorik zu jener anderen Praxis sein, die in der Seelenführung besteht, und zwar im Ausgang von einer Befragung über das Wesen der Rhetorik und die kaum theoretisch durchdrungene Demonstration des Wesens der philosophischen Praxis. Ich sage »kaum theoretisch durchdrungen«, weil es nämlich doch eine kleine Passage gibt, wo es darum geht und wo gerade das Wesen des philosophischen Diskurses an die Praxis der parrhesia geknüpft wird. Das ist also die Architektur des Dialogs oder zumindest die Perspektive, die ich für die Lektüre dieses Dialogs vorschlage. Der erste Teil, der von der Frage handelt» Was ist die Rhetorik, was ist das Wesen der Rhetorik ?« endet also mit folgender Schlußfolgerung: Das Wesen der Rhetorik ist nichts, wobei die
allgemeine Argumentation darin besteht zu zeigen, daß die Rhetorik nicht in der Lage ist, das zu erreichen, was sie vorgibt, nämlich das Gute. Im Gegenteil schlägt sie statt ihres eigenen Zieles etwas ganz anderes vor, was dessen Nachahmung, dessen falscher Schein und Täuschung ist, und ersetzt das Ziel des Guten durch das Vergnügen. Sie erreicht also ihr Ziel nicht, und das Ziel, das sie erreicht, ist nichts. Aus diesen beiden Gründen ist die Rhetorik nichts. Nachdem dieses Ergebnis des Nichtseins der Rhetorik zumindest als techne (die Tatsache, daß sie nicht das Wesen einer techne, einer wahrhaften Kunst hat) erzielt wurde, nachdem man an dem Punkt angelangt ist, daß die Rhetorik schon nichts mehr ist, folgt gewissermaßen als Zusatz dieser Text, den ich kopieren ließ (48oa) und der ein hochberühmter Text ist, was mir jedoch ungerechtfertigt zu sein scheint. Lesen wir nun kurz diesen Text: »Wenn man aber gar selbst Unrecht tut oder ein anderer, den man von Herzen liebt, so muß man selbst freiwillig dahin gehen, wo er so rasch als möglich seine Strafe empfangen wird, nämlich zum Richter wie sonst zum Arzte, und muß eilen, daß die Krankheit der Ungerechtigkeit nicht durch die Länge der Zeit in die Seele sich einfresse und sie unheilbar mache. «2 Etwas weiter (ich möchte keine Zeit verlieren) sagt Sokrates: »Also zur Verteidigung für die Ungerechtigkeit, sei es die eigene oder die der Eltern oder Freunde oder Kinder oder das Unrecht des Vaterlandes, ist uns die Rhetorik nichts nütze, mein Polos, es sei denn, daß man im Gegenteil annähme, man müsse gerade sich zumeist anklagen, dann aber auch seine Verwandten und alle anderen Freunde, wer von ihnen gerade Unrecht tut, und dürfe das nicht bemänteln, sondern müsse das Unrecht an das Tageslicht bringen, damit man Strafe erleide und gesund werde. Und man müsse auch sich selbst und die anderen nötigen, nicht verzagt zu sein, sondern mit geschlossenen Augen, wie zum Schneiden und Brennen an den Arzt, tapfer sich hingeben im Streben nach dem sittlich Guten, ohne Rücksicht auf den Schmerz, und wenn man ein Unrecht begangen hat, das Schläge verdient, müsse man sich zum Schlagen darbieten; wenn Gefängnis, dazu;
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wenn eine Geldstrafe, sie zahlen; wenn Verbannung, in Verbannung gehen; wenn den Tod, sterben, indem man zuerst sein eigener Ankläger sei und der übrigen Verwandten und dazu die Rhetorik gebraucht, daß die ungerechten Handlungen offenbar werden und sie von dem Übel frei werden, nämlich von der Ungerechtigkeit. «3 Ich brauche Ihnen nicht die Gründe darzulegen, weshalb mich dieser Text interessiert, da einer der Aspekte, d. h. eine der Fragen, die ich an die Geschichte der parrhesia stellen möchte, die Frage nach der langen und langsamen, sich über viele Jahrhunderte hinziehenden Entwicklung ist, die von einer Auffassung der politischen parrhesia als Recht, Privileg, zu den anderen zu sprechen, um sie zu leiten (die perikleische parrhesia), zu jener anderen, ich möchte fast sagen nach antiken parrhesia führt, die auf die antike Philosophie folgt und die man im Christentum finden wird, wo sie zu der Pflicht wird, von sich selbst zu sprechen, zur Pflicht, die Wahrheit über sich selbst zu sagen, alles über sich selbst zu sagen, und zwar um geheilt zu werden. 4 Diese Art einer großen Wandlung der parrhesia als »Privileg der freien Rede, um die anderen zu leiten« zur parrhesia als »Pflicht für denjenigen, der einen Fehler begangen hat, alles über sich selbst zu sagen, um gerettet zu werden«, diese große Wandlung ist gewiß einer der wichtigsten Aspekte in der Geschichte der parrhesiastischen Praxis. In gewissem Sinne möchte ich gen au das rekonstruieren. Nun ist es aber ganz offensichtlich, daß wir hier, wie es auf den ersten Blick scheint, so etwas wie das erste Zeugnis dieser Wendung der parrhesia haben als »Recht, zu den anderen zu sprechen, um sie zu leiten« zur parrhesia als »Pflicht, über sich zu sprechen, um gerettet zu werden«. Diese lange Geschichte ist offenbar ganz wichtig, wenn man die Beziehungen zwischen Subjektivität und Wahrheit und die Beziehungen zwischen der Regierung des Selbst und der Regierung der anderen analysieren will. Ich möchte nun folgende Frage stellen: Kann man diesen Text wirklich als die erste Formulierung dieser Wende, dieses Umschwungs lesen? Es würde sich um einen paradoxen Text handeln, denn er 45°
steht da etwas alleine, er ist fast der einzige - Sie werden sehen, daß er nicht ganz der einzige ist - und kündigt fünf oder sechs Jahrhunderte vorher das christliche Geständnis an, ohne es ausdrücklich vorwegzunehmen. Jedenfalls scheint er es zu ahnen. Denn ein Text wie dieser - die Formulierungen, die Gebote, die gegeben werden, die Rechtfertigungen, die dafür geboten werden - steht dem sehr nahe, was man ab dem Zeitpunkt findet, nach dem die Praxis der Buße wirklich institutionalisiert war - sagen wir nach dem 3. Jahrhundert bzw. in dessen Verlauf - und wird dann ab dem 4. bis 5· Jahrhundert zumindest in der christlichen Askese zu einer ständigen Praxis oder zu einem wesentlichen Aspekt der christlichen Askese. Jedenfalls sieht man z. B. schon in den Texten des heiligen Cyprian,s daß man die Pflicht, sobald man einen Fehler gemacht hat, zu dem zu laufen, der einen zugleich als Richter bestrafen und als Arzt heilen kann, beinahe Wort für Wort wieder findet, ohne daß, soweit ich weiß - aber das nur unter Vorbehalt, - sich je ein christlicher Autor auf diesen Text des Gorgias bezogen hätte, als ob sie tatsächlich gewußt hätten, daß es darin nicht ganz genau um dasselbe geht. Wie dem auch sei, hier setze ich jedenfalls ein Fragezeichen. Vielleicht findet man Bezugnahmen auf den Gorgias, es steht jedoch außer Frage, daß die Analogie auf den ersten Blick sehr frappierend ist. Jedenfalls deutet man in den modernen Kommentaren des Textes diese Passage als ein ernsthaftes Vorbild des guten moralischen und staatsbürgerlichen Verhaltens. Wir wissen wohl, daß, wenn man etwas Schlechtes getan hat, es schließlich am besten ist, zu jemandem zu gehen, der einen verurteilen und heilen kann, und dies
[... 'cl Sokrates kommt übrigens zweimal- es gibt zwei Absätze - auf diese Idee zu sprechen und scheint demnach eine gute Begründung dafür zu geben, daß die beste Weise der Psychagogie, wenn man sich ändern und von einem Ungerechten zu einem Gerechten werden will, darin bestünde, die Rhetorik zu ver". Unverständlich. 451
wenden, um auf der Ebene der Rechtsprechung, wo die Rhetorik tatsächlich ihren privilegierten (ich möchte fast sagen, natürlichen oder vielmehr institutionellen) Ort hat, sich anzuklagen und durch die darauf folgende Strafe seine Heilung zu erlangen. Ist das nicht die wahre Psychagogie ? Die Bestätigung dafür, daß die platonische Psychagogie also genau das sein soll, daß man hier die anerkannte Ahnung einer Praxis hätte, die von Platon selbst beglaubigt wurde und die dann jahrhundertelang und sogar jahrtausendelang ausgeübt wird, finden die Kommentatoren z. B. in der Tatsache, daß dieses kleine Schema auf gewisse Weise ahnen zu lassen scheint, was Sokrates selbst tun sollte, als er nach seiner Anklage vor seinen Richtern nicht geflohen ist. Statt dessen hat er eine Reihe von Anklagepunkten, die man gegen ihn hatte, anerkannt und die Bestrafung akzeptiert. Es ist auch eine Tatsache, daß man bei Platon sehr häufig das Thema findet, daß das Fehlverhalten eine Krankheit sei, und das ist ein ursprünglich pythagoreisches Thema. Das Fehlverhalten ist eine Krankheit, d. h. man muß es unter der doppelten Perspektive der Unreinheit, die vertrieben werden soll, und der Krankheit, die geheilt werden soll, verstehen. Reinigung und Heilung sind in der pythagoreischen Tradition miteinander vermischt, und es ist klar, daß man hier ein Echo findet. Schließlich begegnet man auch bei den griechischen Tragikern ziemlich häufig der Idee, daß das strafende Urteil, da das Fehlverhalten sowohl Krankheit als auch Unreinheit ist, die auferlegte Strafe sowohl Heilung als auch Reinigung darstellen. Man kann also in der Tat annehmen, daß wir hier dieses Thema haben - was durch eine Reihe von weiteren Bestätigungen gestützt wird und ein Echo einer Reihe anderer Ideen darstellt -, daß die wahre Wandlung der Seele sich durch eine Rhetorik des Bekenntnisses vollziehen muß, und zwar auf einer gerichtlichen Bühne, wo das Wahrsprechen über sich selbst und das Bestraftwerden durch einen anderen die Wandlung vom Ungerechten zum Gerechten leisten werden. Wir hätten hier also eine Art von Kern, dessen Schicksal Jahrtausende dauern sollte. Nun glaube ich aber, daß, wenn man diesem Text
den Sinn beimißt, den ich gerade vorgeschlagen habe, einen so positiven und unmittelbaren Sinn, man sich natürlich von zwei anachronistischen Schemata verwirren läßt: das Schema des christlichen Bekenntnisses mit seiner beständigen doppelten Verweisung, einer gerichtlichen und einer medizinischen, und das Schema einer strafrechtlichen Praxis, die seit mindestens dem 13. Jahrhundert die Strafe immer wieder durch ihre therapeutische Funktion gerechtfertigt hat. Ich glaube also nicht, daß es möglich ist, dem Text diesen Sinn zu geben. Und nichts scheint mir von der platonischen Psychagogie weiter entfernt zu sein als die Vorstellung, daß eine Rhetorik des Geständnisses auf der Bühne des Gerichts die Wandlung vom Ungerechten zum Gerechten bewirken könne. Wenn man in den tragischen Texten oder in anderen griechischen Texten viele Stellen findet, die die therapeutische Funktion des Gerichts betreffen, bezieht sich die vom Gericht verlangte Therapie meistens nicht auf die Seele dessen, der ein Fehlverhalten gezeigt hat. Es handelt sich um eine Therapie, die auf den Staat angewendet werden soll. Betrachten wir das Beispiel des Ödipus: Die Bestrafung des Verbrechers heilt ihn nicht. Sie vertreibt ein Übel aus dem Staat, das in der Tat zugleich als Unreinheit und als Krankheit wahrgenommen wird. Das ist keine Psychagogie, sondern eine Politik. Eine Politik der Reinigung, die durch jene Vorstellung ins Spiel kommt, daß das Gericht heilt, und keineswegs eine Psychagogie der einzelnen Seelen. Zweitens glaube ich auch nicht, daß man das Beispiel des Sokrates anführen kann, denn im Grunde tut Sokrates etwas ganz anderes, als sich selbst anzuklagen, als er vor Gericht gebracht wird. Sokrates eilt nicht überstürzt zum Richter, nachdem er einen Fehler begangen hat, er kommt ihm überhaupt nicht entgegen; im Gegenteil sind es die Richter, die ihn verfolgt haben. Wenn er sich andererseits verurteilen läßt, dann keineswegs deshalb, weil er eine Ungerechtigkeit begangen hätte und weil er anerkennen würde, daß er eine solche begangen hätte. In den Texten, sei es nun die Apologie, der Phaidon oder in gewisser Hinsicht der Kriton, sei es auch ein Text, den man am Ende des
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Gorgias findet, wo in einer Art von rückblickender Ahnung auf Sokrates' Prozeß - der gegenüber diesem Dialog in der Zukunft lag - angespielt wird,6 erscheint Sokrates keineswegs als jemand, der sagt: Ich bin schuldig, und deshalb unterwerfe ich mich den Gesetzen. Sondern: Weil sich die Bürger der Gesetze bedienen, die zwar an sich gerecht sind, nur um mich ungerechterweise zu verurteilen, würde ich selbst eine Ungerechtigkeit begehen, wenn ich versuchen würde, diesen Gesetzen zu entkommen. Die Anerkennung, die ich dem Staat schulde, die Achtung, die die Gesetze gebieten, all das ist dafür verantwortlich, daß, auch wenn ich ungerechterweise verfolgt werde, ich mich weder der Verfolgung noch deren Konsequenzen entziehen werde; darin würde die Ungerechtigkeit bestehen. Das ist also in keiner Weise etwas, das von der Art eines Bekenntnisses wäre, sondern Sokrates spielt ein ganz anderes Spiel gegenüber seinen Richtern. Nicht das Eingeständnis eines begangenen Fehlverhaltens, sondern der Gehorsam gegenüber den Gesetzen, um keine Ungerechtigkeit zu begehen, indem man sie nicht befolgt. Bemühen wir also nicht das Beispiel des Sokrates, um die Bedeutung dieser vermeintlichen Szene des therapeutischen und psychagogischen Geständnisses zu bestätigen. Warum bezieht sich nun Sokrates hier auf das Eingeständnis der Fehler, und welche Bedeutung muß man dieser Passage beimessen? Mir scheint, daß man zunächst an den Kontext erinnern muß. Diese Passage bildet das Scharnier zur gewissermaßen vorbereitenden Diskussion mit Polos -wo man, wie gesagt, zeigt, daß die Rhetorik nichts ist, wenn man von ihr zumindest verlangt, daß sie eine techne sei -, das Scharnier also zur Liquidation der Rhetorik und dessen, was im zweiten Teil bei der Diskussion mit Kallikles die Erhellung der philosophischen parrhesia selbst ist. Man muß diesen Text als eine Art von endgültigem Grenzstein der Debatte über die Rhetorik und, wie mir eher scheint, deren historische Wendung verstehen. Sokrates stellt hier einen geradezu possenhaften Gebrauch der Rhetorik vor. Nun, ich werde »possenhaft« in Anführungsstriche setzen, man sollte vorsichtiger und besonnener sein. Ich
meine folgendes: Sokrates stellt fest - hat er doch gezeigt, daß die Rhetorik nichts ist -, daß es nicht darum geht, der Ungerechtigkeit der anderen zu entfliehen. Es geht vielmehr darum, daß man selbst keine Ungerechtigkeit begeht. Und wenn es darum geht, wozu dient dann die Rhetorik? Er hat es schon gesagt: Die Rhetorik kann zu nichts dienen. Denn, wenn es darum geht, keine Ungerechtigkeit zu begehen, dann geht es doch darum, aus dem Ungerechten einen wirklich Gerechten zu machen, und nicht darum, daß der Ungerechte bloß als gerecht erscheint. Die Rhetorik dient also zu nichts. An diesem Punkt angekommen, sagt er: Wenn ihr euch wirklich der Rhetorik bedienen wollt, wenn ihr euch trotz ihrer wirklichen Untauglichkeit der Rhetorik bedienen wollt, zu welchem Zweck könnt ihr euch ihrer bedienen? Und dann stellt er sich jene paradoxe Szene vor - eine Szene, die an sich unmöglich ist und für einen Griechen, glaube ich, keinen Sinn ergibt -, wo man jemanden vor ein Gericht eilen und - der Text sagt es ausdrücklich - seine ganze Kunst der Rhetorik aufbieten sieht, um zu sagen: Ich bin der Schuldige, bitte bestraft mich. Sokrates präsentiert diesen Gebrauch der Rhetorik als paradoxe, als unmögliche Szene, um damit zu zeigen, inwieweit die Rhetorik nichts auszurichten vermag. Daß das jedenfalls der Sinn ist, in dem Sokrates die Szene vorstellt - nämlich eine paradoxe und unmögliche Szene zu sein -, wird, glaube ich, durch die unmittelbar folgende Passage bestätigt, wo, nachdem er den bekennenden Gebrauch, den Gebrauch der Rhetorik bei einem Geständnis erklärt hat, Sokrates sagt: Es gäbe auch einen anderen Gebrauch der Rhetorik, wenn ihr euch ihrer wirklich bedienen wollt, nachdem ihr zugegeben habt, daß die Hauptsache ist, kein Unrecht zu tun. Wenn ihr das nämlich zugegeben habt, dann könnt ihr euch der Rhetorik bedienen, und zwar entweder, was völlig absonderlich und unvorstellbar ist, um euch selbst anzuklagen, oder aber: »Wenn man aber im Gegenteil umgekehrt jemandem Schaden zufügen muß, sei es einem Feinde oder wem sonst, wofern man nur nicht selbst Unrecht erleidet von dem Feinde - denn davor muß man sich hüten -, wenn aber der
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Feind einem anderen Unrecht tut, muß man auf jede Weise, durch Wort und Tat, darauf hinarbeiten, daß er keine Strafe erleide und nicht vor den Richter komme. Kommt er aber vor Gericht, so muß man es dahin bringen, daß der Feind glücklich durchkommt und keine Strafe erhält, sondern wenn er viel Geld geraubt hat, daß er das nicht zurückgibt, vielmehr es behalte und für sich und die Seinigen widerrechtlich und gottlos verbrauche; und hat er todeswürdige Verbrechen begangen, daß er nicht den Tod finde, womöglich niemals, sondern unsterblich bleibe in seiner Schändlichkeit, - wo nicht, daß er möglichst lange in dieser Weise fortlebe.«7 Mir scheint, daß dieser Text die Bedeutung des unmittelbar vorangehenden, von dem ich Ihnen eine Kopie ausgeteilt habe, vollkommen erhellt. Die Situation ist also folgende: Da es wichtig ist, keine Ungerechtigkeit zu begehen, kann man folgern, daß die Rhetorik nichts ist. Sie ist an sich nichts, und nichtig ist ihr Gebrauch. Aber wenn ihr wirklich - aufgrund des Prinzips, daß es darauf ankommt, keine Ungerechtigkeit zu begehen - Gebrauch von der Rhetorik machen wollt, von dieser Sache, die nichts ist und zu nichts nützt, was könnt ihr dann tun? Nun, ihr könnt in zweierlei Weise einen grotesken Gebrauch von ihr machen: Einmal könnt ihr zum Richter laufen und euer rhetorisches Talent entfalten, indem ihr euch selbst anklagt; zweitens, wenn ihr einen Feind hättet, den ihr absolut nicht leiden könnt, könntet ihr ihn vor Gericht verteidigen und euch bemühen, daß er nicht bestraft wird und daß er also in dieser Strafe nicht den Grund für seine Verwandlung von einem Ungerechten in einen Gerechten finden kann. Ihr werdet ihn in seiner Ungerechtigkeit halten, ihr würdet es bewirken, daß er keine Wiedergutmachung leistet, und auf diese Weise könntet ihr, die ihr sein Feind seid, ihm den schlechtesten Dienst erweisen. Das sind die beiden Widersinnigkeiten der unmöglichen und lächerlichen Verwendung der Rhetorik, sobald man die vorangehenden Prinzipien zugegeben hat. Es gibt keine Psychagogie des Geständnisses, es gibt keine gerichtliche Psychagogie. Die Manifestation der Wahrheit über sich selbst vor einem strafen45 6
den Richter ist nicht das Mittel, um sich von einem Ungerechten zu einem Gerechten zu wandeln. Mir scheint also, daß man diesen Sinn vor Augen haben muß, wenn man über diesen Text spricht.':Dagegen - wir gehen nun zu dem anderen Text über, von dem ich sprechen wollte - gibt es eine Passage, wo man sieht, was die Seinsweise des Diskurses ist, der wirklich die in Frage stehende Psychagogie realisieren kann. Es ist nicht die Rhetorik, nicht ein Vergehen im Sinne der Rechtsprechung, die Dinge vollziehen sich nicht in diesem Spiel des Vergehens, des Eingeständnisses und der Bestrafung. Die Passage, die ich zitiere [... ':-':-] steht bei 486d: "Wenn ich etwa eine goldene Seele hätte, lieber Kallikles, sollte ich mich nicht freuen, wenn ich einen von den Steinen fände, womit man das Gold prüft, und zwar den besten, an den ich sie nur zu bringen brauchte, um gen au zu erfahren, daß es richtig mit mir steht und daß ich keines anderen Prüfsteins bedarf, wenn jener mir versicherte, daß meine Seele richtig gebildet sei? [... ] Denn ich denke, wer ordentlich prüfen soll, ob die Seele richtig lebt oder nicht, der muß dreierlei Vorzüge 8 in sich vereinigen, die du alle hast: Einsicht (epistemen), Wohlwollen (eunoian) und Freimut (parrhesian). Denn ich treffe auf viele, die nicht imstande sind, mich zu prüfen, weil sie nicht weise sind wie du. Andere sind wohl weise: aber sie wollen mir die Wahrheit nicht sagen, weil sie kein Interesse für mich haben, wie du. Diese beiden Fremden aber, Gorgias und Polos, sind weise und mir befreundet; es fehlt ihnen jedoch an parrhesia, und sie sind zu verschämt, mehr als sich gebührt; wie sollten sie auch nicht? Haben sie doch das Schämen so weit getrieben, daß aus Scham jeder von ihnen in Gegenwart vieler Menschen sich selber geradezu zu widersprechen wagt [.. .]. Du aber hast alles, was die anderen nicht haben.«9 Er zählt ,,- Das Manuskript enthält hier eine sehr lange Ausführung über den Unterschied zwischen der Position des Sokrates zur Funktion der Strafe, die hier zum Ausdruck kommt, und der des Pro ta go ras im gleichnamigen Dialog in 324a. ,,-,,- Das steht auf der anderen Fotokopie. 457
dann die drei Vorzüge auf, die Kallikles besitzt: Er ist epistemon (er hat episteme); er empfindet Freundschaft und Zuneigung zu Sokrates;10 und »daß du der Mann bist, freimütig zu reden ohne Scheu, sagst du selbst> und deine Rede, was du kurz vorher sprachst, stimmt dazu. So steht es jetzt offenbar hiermit. Wenn du nun in der Untersuchung in einem Punkte mit mir übereinstimmst, so wird der schon hinlänglich von dir und mir geprüft sein, und man braucht ihn nicht mehr an einen anderen Prüfstein heranzubringen.«ll Etwas weiter unten auf der Seite haben wir bezogen auf das, was man den parrhesiastischen Pakt für die Bewährungsprobe der Seelen nennen könnte, den folgenden kurzen Absatz, jene Zeilen, die sich in der Tat auf das Verhalten und die Leitung der Seelen beziehen: »Denn wenn ich in meiner Lebensweise etwas nicht recht mache, so wisse, daß ich nicht mit Absicht fehle, sondern aus Unwissenheit. Wie du nun anfängst mich zu warnen, so lasse nun nicht ab, sondern zeige mir ordentlich, was ich eigentlich treiben muß, und auf welche Weise ich es erlangen könne! Wenn du nun findest, daß ich jetzt mit dir übereinstimme und in späterer Zeit nicht nach dem tue, was ich zugestanden habe, so halte mich nur für einen Tropf und warne mich nie mehr in der Zukunft, als dessen unwürdig!«12 Dieser Text steht in einem wenn auch indirekten, so doch ziemlich deutlichen Gegensatz zu dem, den ich gerade vorgelesen habe. In beiden Fällen handelt es sich um die Frage: Was ist zu tun, wenn man einen Fehler begangen hat? Die skurrile, absurde Hypothese für jemanden, der an die Rhetorik glaubt, ist: zum Richter laufen und sich selbst anklagen. Und nun haben wir die andere Formel, die sich gerade auf die philosophische Tätigkeit hinsichtlich der Seele bezieht, wo man, wenn ein Fehler begangen wurde, zugeben muß, daß er nicht absichtlich begangen wurde und daß folglich der, der ihn begangen hat, noch weiteren Rat braucht. Wenn er jedoch, nach diesen Ratschlägen und nachdem er über die Natur des Vergehens aufgeklärt wurde, denselben Fehler erneut begeht, wird die einzige Strafe darin bestehen, von dem, der ihn leitet, verlassen zu werden. Sie sehen, daß wir uns hier 45 8
auf einer ganz anderen Bühne mit ganz anderen Verfahrensweisen und in einem ganz anderen Kontext bewegen und daß es um ein ganz anderes Spiel im Vergleich mit dem Spiel des Geständnisses auf der gerichtlichen Bühne geht. Ich möchte nun ein wenig auf die Elemente eingehen, die wir in dieser Passage vorfinden. Mir scheint, daß hier die Seinsweise des philosophischen Diskurses und seine Weise, die Seele zugleich mit der Wahrheit, dem Sein (dem Seienden) und dem anderen zu verbinden, knapp und gewissermaßen rein methodologisch (als Diskussionsregeln) definiert wird. Diese Passage scheint mir deshalb interessant zu sein, weil sie zwar beiläufig, aber doch sehr deutlich das wieder aufnimmt und theoretisch betrachtet, worum es während des ganzen Dialogs ging, da ja Sokrates - diejenigen unter Ihnen, die ihn gelesen haben, werden sich daran erinnern - ständig zu seinem Gesprächspartner sagt: Ich will nicht, daß du mir große Reden hältst, ich will nicht, daß du mir eine Lobrede auf die Rhetorik hältst, ich will nur, daß du auf meine Fragen antwortest. Und ich will, daß du auf meine Fragen antwortest, nicht - wie es im Menon heißt oder wie man es in anderen Dialogen findet - weil du die Wahrheit in der Tiefe deiner selbst weißt. Oder vielmehr ist diese Aussage implizit darin enthalten, aber das Thema des »ich will, daß du auf meine Fragen antwortest«, das den ganzen Gorgias durchzieht, ist nicht auf diesen Punkt fokussiert. »Ich will, daß du auf meine Fragen antwortest« bedeutet im Gorgias: Ich will, daß du der Zeuge der Wahrheit bist. Wenn du auf die Fragen, die ich dir stellen werde, genau so antwortest, wie du denkst, genau so, wie es dir in den Sinn kommt, ohne etwas zu verbergen, weder aus Absicht noch durch rhetorische Ausschmückung, noch aus Scham - welche hierbei erneut eine große Rolle spielen wird _, wenn du also genau das sagst, was du denkst, dann haben wir darin eine wahrhafte Prüfung der Seele. Der Dialog wird hier nicht als Instrument zur Speicherung im Gedächtnis, nicht als dialektisches Spiel mit dem Gedächtnis gerechtfertigt. Er wird gerechtfertigt als ständige Prüfung der Seele, als basanos (eine 459
Prüfung) der Seele und ihrer Qualität durch das Spiel der Fragen und Antworten. Dieser Text ist auch deshalb interessant, weil hier das Wort parrhesia erscheint, dieses Wort, das offenbar in seiner gängigen Bedeutung außerhalb des konkreten politischen Bereichs, außerhalb des institutionellen Bereichs, von dem wir gesprochen haben, verwendet wird, während man auf diese Weise theoretisiert und eine Reihe von Themen zusammenfaßt, die den ganzen Dialog durchziehen und die eine Art von Pakt sind, an den Sokrates den ganzen Dialog hindurch erinnert. Das heißt, daß es sich hier um den schlichten Freimut im Reden handelt, darum, das zu sagen, was man im Kopf hat, um die Redefreiheit, genau das zu sagen, was man denkt, ohne Einschränkung und ohne Scham. Aber wenn diese Bedeutung des Wortes parrhesia auch die herkömmliche ist, so wird das Wort hier doch in einer Reflexion auf die Frage gebraucht, was der philosophische Dialog sein soll und was folglich das Spiel der Wahrheit und das Spiel der Prüfung sein soll, das von dem Philosophen und seinem Schüler gespielt wird - dem Fragesteller und dem Befragten, dem Verfolger und dem Verfolgten. Insofern glaube ich, daß wir hier eine erste Verwendung - jedenfalls gibt es in der Literatur dieser Zeit und davor keine anderen des Wortes parrhesia im Kontext bzw. innerhalb jener Praxis haben, die schon die Praxis der Gewissensleitung ist. Viel später findet man dann Texte, die der Theorie der parrhesia im ganzen oder teilweise eine wichtige Rolle zuweisen werden. Wir haben beispielsweise eine Abhandlung von Plutarch, die der Unterscheidung der Schmeichler gewidmet ist: Wie läßt sich ein Schmeichler erkennen, wie kann man einen Schmeichler entlarven?13 In Wahrheit ist dieser Text eine sehr technische Diskussion darüber, was die Schmeichelei im Gegensatz zur parrhesia ist. Und hier haben wir eine wenn nicht theoretische, so doch zumindest technische, gewissermaßen technologische Reflexion auf die parrhesia. Hier wird zwar die Frage noch nicht gestellt, aber das Wort wird schon im Kontext dieser Praxis der Seelenleitung, der philosophischen Leitung, der indivi460
duellen Seelenleitung verwendet, und zwar zum ersten Mal. Deshalb müssen wir etwas bei diesem Text verweilen. Der Kontext, in dem diese Passage steht, ist, wie Sie sich erinnern, sehr einfach. Sie kommt kurz nach der Stelle über das Geständnis und scheint mir geradezu in einem karikaturistischen Gegensatz zu dieser zu stehen. Polos wurde also als Gesprächspartner disqualifiziert, weil er sich gewissermaßen in der Diskussion verirrt hat. Er mußte zugeben, daß, wenn der Gerechte wirklich besser ist als der Ungerechte, die Rhetorik zu nichts dient. In diesem Moment ergreift Kallikles das Wort. Kallikles hat genau gesehen, wo der Schwachpunkt der Rede des Polos lag, nämlich daß er versuchte, zwei Aussagen gemeinsam aufrechtzuerhalten. Erstens die Aussage, daß die Rhetorik nützlich ist, und zweitens die Aussage, daß der Gerechte besser als der Ungerechte ist. Sokrates hat gezeigt, daß die beiden Aussagen zusammen nicht haltbar waren, und da er dafürhielt, daß der Gerechte besser ist als der Ungerechte, hat er also gezeigt, daß die Rhetorik nutzlos ist, nicht nur daß sie nutzlos ist, sondern daß sie nichts ist. Vor diesem Hintergrund läßt sich Kallikles' Taktik leicht ableiten. Kallikles wird die andere Position einnehmen, die in folgendem besteht: Es ist nicht wahr, daß der Gerechte den Vorzug vor dem Ungerechten hat und folglich die Rhetorik existiert und sie daher nützlich ist. Das ist die berühmte Passage über die Tatsache, daß der Gerechte dem Ungerechten nicht vorzuziehen sei, die nicht nur als Skizze dessen, was Thrasymachos im Staat sagt, erläutert und gedeutet wird, sondern auch als eine Art von Ahnung des nietzscheanischen Menschen, eine Art erster Behauptung des Willens zur Macht interpretiert wird. Diese Deutung scheint mir dagegen völlig abenteuerlich und ebenso anachronistisch zu sein wie diejenige, die aus der zuvor erläuterten Passage eine Vorahnung des Geständnisses machen wollte. Es handelt sich nicht um eine Moral des Geständnisses und der Bestrafung, die einer Moral des Willens zur Macht entgegengesetzt wäre, was im Dialog des Gorgias inszeniert wird. Aus offensichtlichen historischen Gründen wäre das sehr erstaunlich. 461
Wenn ich auf Kallikles insistiere, dann aus einem einfachen Grund, wie Sie sehen werden. Um den Dingen ihren Ort anzuweisen, weil wir uns beeilen müssen, möchte ich bloß sagen, daß Kallikles im Grunde ein tüchtiger, anständiger und insgesamt völlig normaler junger Mann ist. Denn wenn Sie seine Rede über den Gerechten und den Ungerechten betrachten, als er sagt: Es ist nicht wahr, daß der Gerechte dem Ungerechten vorgezogen werden soll, wie und womit rechtfertigt er seine Behauptung? Er rechtfertigt sie, indem er sagt: Man soll sich nicht verhalten wie ein Sklave, denn die Sklaven erleiden U ngerechtigkeit, ohne sich verteidigen zu können (in 483b). In 483c heißt es: Man muß zu den Stärksten, zu den Fähigsten gehören, zu denen, die dynatoi pleon echein sind (die fähig sind, mehr als die anderen zu haben). Man muß versuchen, hoi polloi, die Vielen (483d), zu übertreffen, man muß den dynatoteroi angehören (jenen, die mächtiger als die anderen sind). In 48 3e wird gesagt: Der Stärkere (kreitton) soll über den Geringeren, den Schwächeren (hetton ) herrschen, man soll den beltistoi, den Besten, angehören. 14 Dies alles sind nun aber die banalsten Formulierungen, die man bei jedem Griechen finden kann, sobald er zur Kategorie der vollberechtigten Bürger und zu jener Klasse von Leuten gehört, die durch ihren Status, ihre Geburt, ihr Vermögen den Anspruch haben, den Staat zu regieren. In Kallikles' Entwurf gibt es nichts Außergewöhnliches. Das einzige, woran er sich stößt und was dafür verantwortlich ist, daß diese völlig normale Einstellung - unter den Besten sein zu wollen und als Bester jemand sein zu wollen, der über den Schwächeren und Schlechteren herrscht - einen Widerstand erfährt, ist die Tatsache, daß er sich mit einem nomos (einem Gesetz) konfrontiert sieht, das gerade das Gesetz der athenischen Demokratie ist, die danach strebt, allen denselben Status zu verleihen und vor allem zu verhindern, daß irgend jemand die anderen beherrscht. Gegenüber dem, was für ihn ein Skandal ist (dieses Gesetz der Gleichheit) - hier gibt es etwas, das die Person des Kallikles von einem jungen Aristokraten wie allen anderen unterscheidet -, gebraucht er eine Argumentation, die
bekanntlich direkt von den Sophisten, von Gorgias, von Protagoras usw. stammt und die in der Behauptung besteht, daß der nomos nur eine Sache der Konvention ist und daß kein Gesetz verpflichte, von der Natur abzugehen. Er deutet also die Situation um, die er nicht ertragen kann. Er, der das aristokratische Spiel des Besseren auf gewöhnliche Weise spielen will, der einer agonistischen Welt angehört, in der die Stärkeren über die Schwächeren herrschen sollen, verwendet diese Art von Räsonnement. Man muß also verstehen, daß Sokrates in Kallikles keineswegs einem vorausgeahnten Vertreter einer gleichsam nietzscheanischen Aristokratie begegnet - der unfähig wäre, sich irgendeinem Gesetz zu beugen, sofern dieses Gesetz seinen Appetit nach Macht zügeln wollte. In Kallikles begegnet Sokrates einem jungen Mann, der in einem egalitär gewordenen System ein herkömmliches agonistisches Spiel spielt. Sein Vorteil an Vermögen und sein herkömmlicher Status können ihn nicht mehr unter die Besten einreihen, und die Tatsache, daß er zu den Besten gehört, verleiht ihm keine wirkliche Autorität. Wie kann er diese also erwerben? Nun, ganz einfach durch die Rhetorik. Die Rhetorik wird also das Instrument sein, das ihm innerhalb des egalitären Systems erlauben wird, das alte herkömmliche Spiel des Vorrangs und des privilegierten Status zu spielen. Die Rhetorik ist das Instrument, um eine Gesellschaft wieder inegalitär zu machen, der man durch demokratische Gesetze eine egalitäre Struktur auferlegen wollte. Die Rhetorik sollte also nicht mehr an den Gesetzen ausgerichtet sein, da sie ihr Spiel gegen diese Gesetze betreibt. Die Rhetorik muß also dem Gerechten und dem Ungerechten gegenüber gleichgültig sein und als reines agonistisches Spiel gerechtfertigt werden. Das ist der Kontext, in dem die Passage steht, die ich erläutern möchte. Was wird nun Sokrates gegenüber diesem Gebrauch der Rhetorik ohne Ausrichtung am Gerechten und am Ungerechten Kallikles vorschlagen? Nun, er wird ihm ein anderes Diskursspiel vorschlagen, das gänzlich und Stück für Stück verschieden ist. Erstens ist die Rhetorik entweder in dieser herkömm-
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lichen Situation oder in einer konflikt geladenen Situation, in der die Leute, die zur Elite gehören oder das agonistische Spiel spielen wollen, es mit einer egalitären und demokratischen Struktur zu tun haben, ein Diskurs, der im Geiste Kallikles' sowie übrigens im Geiste der Rhetoren nur eine einzige Verwendung hat: Es geht darum, über die Vielen (hoi polloi) zu herrschen und sich deshalb an sie zu wenden und sie zu überreden. Wenn man dann die Überredung erreicht und die Unterstützung der Vielen gewonnen hat, kann man die Rivalen übertreffen. Die Rhetorik ist sozusagen eine Diskurspraxis, die mit drei Kategorien von Personen zu tun hat: Es gibt die Vielen, die man überzeugen muß; es gibt die Rivalen, die man übertreffen muß; und dann gibt es noch den, der die Rhetorik einsetzt und der in den Rang des ersten aufsteigen will. Was nun Sokrates Kallikles vorschlägt, ist ein Diskurs, der in diesem Spiel auf drei Etagen oder in dem agonistischen Raum der Vielen, der Rivalen und dem, der Sieger sein will, keinen Ort hat. Es ist ein Diskurs, dessen man sich als basanos,15 als Prüfung einer Seele durch eine andere bedient. Während der ganzen vorangehenden Diskussion mit Polos ging es um die Frage, ob man sich des Gesprächspartners wie eines Märtyrers, wie eines Zeugen bedienen solle. 16 Hier bedeutet das Wort basanos, daß der Diskurs von einer Seele zur anderen wie ein Prüfstein übergehe. In welchem Sinne wie ein Prüfstein? Die Verwendung der Metapher des Prüfsteins ist interessant. Was zeigt denn der Prüfstein? Was ist sein Wesen und seine Funktion? Sein Wesen besteht darin, daß er so etwas wie eine Affinität zwischen sich und dem, was er prüft, aufweist, welche dafür verantwortlich ist, daß das Wesen des von ihm Geprüften durch ihn offenbart wird. Zweitens spielt der Prüfstein auf zwei Registern: auf dem Register der Wirklichkeit und auf dem Register der Wahrheit. Der Prüfstein ermöglicht also ein Wissen darüber, was die Wirklichkeit der Sache ist, die man durch ihn prüfen will, und indem sich die Wirklichkeit der durch ihn geprüften Sache manifestiert, zeigt man, ob diese Sache wirklich die ist, die sie zu sein vorgibt, und ob ihr Diskurs oder ihre Er-
scheinung mit ihrem Wesen übereinstimmt. Die Beziehung zwischen den Seelen ist also gar nicht mehr eine Beziehung agonistischer Art, wo es darum ginge, über die anderen zu herrschen. Die Beziehung zwischen den Seelen wird den Charakter einer Prüfung haben, sie wird die Beziehung des basanos (des Prüfsteins) sein, die sich durch eine Wesensverwandtschaft vollzieht und durch diese Wesensverwandtschaft zugleich einen Beweis der Wirklichkeit und der Wahrheit der Seele liefert, d. h. einen Beweis dafür, wie es um ihre Wahrhaftigkeit (etymos) bestellt ist. Sie erinnern sich, wir sind dieser Vorstellung des Wahrhaftigen (des etymos) schon im Hinblick auf den logos begegnetY Und insofern eine Seele sich in dem manifestiert, was sie sagt (durch ihren logos, durch die Prüfung des logos im Dialog: wissen, was sie in Wirklichkeit ist, ob sie wirklich mit der Wirklichkeit übereinstimmt und ob sie die Wahrheit sagt), gilt das, was auf den logos zutrifft, auch für die Seele. Das Spiel ist also nicht mehr agonistisch (ein Spiel der Überlegenheit), sondern es ist ein Spiel der Prüfung zu zweit durch die Wesensverwandtschaft und die Manifestation der Wahrhaftigkeit, der Wirklichkeit-Wahrheit der Seele. Zweitens sieht man, daß bei dieser Prüfung der Wahrheit der Punkt, der mehrmals als kennzeichnendes Merkmal angegeben wird und der dafür verantwortlich ist, daß man diese Prüfung auch tatsächlich vollzieht und daß sie zu einer Entscheidung führt, in folgendem besteht. Es handelt sich um das, was im Text wiederholt homologia genannt wird. Homologia, dieser Ausdruck taucht mehrmals auf, bezeichnet die Identität des Diskurses des einen und des anderen. 18 Wenn es bei den beiden Seelen, die sich durch Wesensverwandtschaft prüfen, eine homologia gibt, die darin besteht, daß das, was der eine sagt, vom anderen auch gesagt werden kann, dann haben wir ein Wahrheitskriterium. Das Wahrheitskriterium des philosophischen Diskurses ist also nicht, wie man sieht, in einer Art innerer Verbindung zwischen dem Denkenden und der gedachten Sache zu suchen. Die Wahrheit des philosophischen Diskurses wird also keineswegs in der Form dessen erlangt, was später die Evi-
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denz sein wird, sondern sie wird durch etwas erreicht, was homologia genannt wird, nämlich die Identität des Diskurses zwischen zwei Personen. Das gilt jedoch nur unter einer Bedingung, und hier begegnen wir den drei Begriffen, die ich erläutern möchte und unter denen sich auch der Begriff der »parrhesia« befindet. Damit diese homologia, d. h. diese Identität des Diskurses auch das ist, was man von ihr erwartet, nämlich eine Prüfung der Qualität der Seele, muß nicht nur der Diskurs, sondern auch die Person, die ihn hält - eigentlich fallen diese drei Dinge zusammen -, einer Reihe von Kriterien genügen. Die drei Kriterien sind: episteme, eunoia, parrhesia. 19 Man müßte auf weitere Textstellen eingehen (aber leider habe ich nicht die Zeit dazu), die etwas weiter unten folgen und sich auf die Schmeichelei beziehen. 20 Was ist eigentlich die Schmeichelei? Die Schmeichelei ist augenscheinlich ebenfalls eine homologia. Was bedeutet es zu schmeicheln? Beim Schmeicheln nimmt man die Gedanken des Hörers, formuliert sie auf eigene Rechnung um, als ob es sich um meine eigene Rede handeln würde, und gibt sie an den Hörer zurück, der insofern viel leichter überredet und verführt wird, als es genau das ist, was er selbst sagt. Wir haben hier anscheinend auch eine homologia. Aber dies wird nie homologia genannt, denn der Anschein von Identität ist eben nur ein Schein. Nicht der logos selbst ist identisch, sondern die Leidenschaften, die Begierden, die Lüste, die Meinungen. Das aber ist alles trügerisch und falsch. Diese Dinge werden in der Schmeichelei wiedergegeben und wiederholt. Dagegen ist die homologia des Dialogs ein echtes Wahrheitskriterium. Die Tatsache, daß die beiden denselben logos innehaben, wird nur unter einer Bedingung keine Schmeichelei sein, nämlich daß die Gesprächspartner mit episteme, eunoia und parrhesia ausgestattet sind. Ich sage »die Hörer sollen ausgestattet sein mit«. Wir werden für einen Augenblick darauf zurückkommen, aber lassen wir das nun beiseite. Episteme, d. h. sie müssen Wissen besitzen: ,>Wissen« ist der Schmeichelei entgegengesetzt, die hier suspendiert wird, da sie nur zur Meinung
dient. Hier bezieht sich episteme nicht so sehr auf das gelernte Wissen der Gesprächspartner, sondern auf die Tatsache, daß sie nur dann etwas sagen, wenn sie wissen, daß es wahr ist. Zweitens wird die homologia unter folgender Bedingung keine Schmeichelei sein: Wonach die Gesprächspartner suchen auch das steht im Gegensatz zu den Schmeichlern - soll nicht ihr eigenes Gut, ihr Gewinn, ihr guter Ruf bei den Hörern, ihr politischer Erfolg usw. sein. Damit die homologia wirklich einen Wert als Ort der Formulierung und Prüfung der Wahrheit hat, ist es notwendig, daß beide Gesprächspartner ein Gefühl des Wohlwollens haben, das sich auf die Freundschaft gründet (eunoia). Um sicher zu sein, daß die homologia nicht einfach analog zum Schmeicheln sein wird, ist es schließlich drittens notwendig, daß jeder der beiden Gebrauch von der parrhesia macht, d. h. daß nichts von der Art der Furcht oder Schüchternheit oder Scham die Formulierung dessen einschränkt, was man für wahr hält. Der parrhesiastische Mut ist also notwendig. Die episteme, die bewirkt, daß man das sagt, was man für wahr hält, die eunoia, die bewirkt, daß man nur wohlwollend zum anderen spricht, die parrhesia, die den Mut gibt, alles zu sagen, was man denkt, und zwar trotz der Regeln, Gesetze, Gewohnheiten, das sind die drei Bedingungen, unter denen die homologia, d. h. die Identität des logos beim einen wie beim anderen, die Rolle des in Frage stehenden basanos (der Prüfung, des Prüfsteins) spielen kann. Episteme, eunoia, parrhesia, wenn Sie wirklich philosophische Vergleiche anstellen wollen, denken Sie daran, daß diese drei Kriterien in einer philosophischen Praxis, die durch den Dialog und die Einwirkung einer Seele auf eine andere charakterisiert ist, genau bzw. annähernd diejenige Stelle einnehmen, die die cartesianische Evidenz einnehmen wird, wenn sich der cartesianische Diskurs als der Ort zeigen und behaupten wird, an dem sich die Wahrheit manifestiert. Man müßte die Dinge natürlich noch etwas, vielleicht gar viel komplizierter darstellen, leider habe ich dazu aber nicht die Zeit ... Denn dieses Spiel vollzieht sich ja zu zweit, d. h. daß
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weder die episteme noch die eunoia, noch die parrhesia des Kallikles dieselben sind wie die des Sokrates. Alles, was in dem Dialog von diesem Moment an geschieht, wird gerade durch die Art und Weise bestimmt sein, in der Kallikles, der wirklich episteme aufweist - was er weiß und was er als wahr weiß -, der seine Freundschaft einsetzt - die zwar etwas begrenzt ist, aber dennoch durch sein Wohlwollen gegenüber Sokrates bestimmt wird - und der dann seine parrhesia zur Geltung bringt, die sich als Fähigkeit auszeichnet, selbst skandalöse und beschämende Dinge zu sagen, der also alle diese Dinge einsetzt und diese Regeln auf seinen eigenen Dialog anwendet, Schritt für Schritt dazu gebracht wird, die Rede von Sokrates siegen zu lassen. In diesem Augenblick behauptet sich nun im Schweigen des Kallikles, der darauf verzichtet zu sprechen, die episteme des Sokrates, die sich in der Formulierung der großen Prinzipien bezüglich des Leibes und der Seele, des Lebens, des Todes und des Überlebens ausdrückt, die so etwas wie den Kern des philosophischen Wissens selbst bilden; die eunoia des Sokrates, die in seiner Zuneigung zu Kallikles besteht; und die sokratische parrhesia, jene parrhesia, die er durch den ganzen Dialog hindurch unter Beweis stellte, die jedoch am Ende angesprochen wird, als der Dialog durch eine rückblickende Vorwegnahme den bevorstehenden Prozeß des Sokrates, seinen Tod und den Mut anspricht, mit dem er vor seinen Richtern die Wahrheit sagt. 21 So sind also episteme, eunoia und parrhesia die Schnittstelle der Wahrheit. Durch einen Pakt, zu dem Sokrates Kallikles in diesem Dialog ermuntert, wird die sich ereignende homologia, die den Rest des Dialogs bestimmt, der Beweis der Wahrheit dessen sein, was gesagt wird, und somit auch der Qualität der Seelen, die es sagen. Sie sehen, daß wir in dieser Vorstellung des Prüfsteins, der homologia und ihrer wesentlichen Bedingung, die in der parrhesia gipfelt, die Definition jener Verbindung haben, durch die der logos des einen auf die Seele des anderen einwirken und ihn zur Wahrheit führen kann. Auf diese Weise wird nun die parrhesia - die in ihrem politischen Gebrauch, 468
d. h. nach dem perikleischen Modell, die Möglichkeit hatte, um den Befehlshaber herum die Vielheit der anderen in der Einheit des Staats zu binden - den einen mit dem anderen verbinden, den Lehrer mit dem Schüler. Indem sie beide miteinander verbindet, wird sie sie zusammen mit jener Einheit verbinden, die nicht mehr die Einheit des Staats, sondern die Einheit des Wissens, die Einheit der Idee, die Einheit des Seins selbst ist. Die philosophische parrhesia des Sokrates bindet den anderen, bindet die beiden anderen, bindet den Lehrer und den Schüler in die Einheit des Seins, im Unterschied zur parrhesia des perikleischen Typs, die die Vielheit der im Staat versammelten Bürger zur Einheit der Befehlsgewalt dessen verbindet, der einen Einfluß auf sie ausübt. Sie verstehen, warum die perikleische parrhesia notwendig zu so etwas wie der Rhetorik führen mußte, d. h. zu jenem Gebrauch der Sprache, der es ermöglicht, die anderen zu übertreffen und sie durch Überredung zur Einheit der Befehlsgewalt in Form jener behaupteten Überlegenheit zu vereinen. Im Gegensatz dazu führt die philosophische parrhesia, die in diesem Dialog zwischen Lehrer und Schüler spielt, nicht zu einer Rhetorik, sondern zu einer Erotik. Das war's, danke schön. Anmerkungen I »Tis eie he Gorgiou techne« (Platon, Gorgias, 448e, übers. v. Julius Deuschle, Heidelberg I982, S. 305). 2 Ebd., 480a, S. 348-349. 3 Ebd., 480b-d, S. 349. 4 Diese Dimensionen der christlichen parrhesia werden in der Vorlesung vom 7. März I984 untersucht. 5 V gl. vor allem die Briefe (Thascius Caecilius Cyprianus, Des heiligen Kirchenvaters Caecilius Cyprianus Briefe, übers. v. Julius Baer, München I928). 6 »Wie sicher scheinst du dich doch zu fühlen, lieber Sokrates, daß dir gar nichts der Art widerfahren könne, als wohntest du aus dem Wege und könntest nicht vor Gericht gezogen werden, vielleicht gar von einem ganz verworfenen und schlechten Menschen!« (Platon, Gorgias, 52 IC , a. a. 0., S. 40 I und die ganze Ausführung, die in 52 I d -522e folgt (S. 40 I40 3).
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7 Ebd. 480e-48Ib, S. 349-350. 8 »[ ... ] der muß dreierlei Vorzüge in sich vereinigen, die du alle hast: Einsicht (epistemen), Wohlwollen (eunoian) und Freimut (parrhesian)« (ebd., 487a, S. 356). 9 Ebd., 486d-487b, S. 3 56-3 57· IO »Denn du besitzt hinlängliehe Bildung (pepaideusai te gar hikanos), wie viele Athener sagen würden, und bist wohlwollend gegen mich gesinnt (emoi ei eunous)« (ebd., 487b, S. 3 57)· 11 Ebd. 12 Ebd., 488a-b, S. 3 57-3 58. 13 »Les mo yens de distinguer le flatteur d'avec l'ami (Wie man den Schmeichler vom Freund unterscheidet)«, in: Plutarch, CEuvres morales, a. a. 0., S. 84-14I. 14 »Die Gesetzgeber aber sind, denke ich, die schwächlichen Menschen und die große Masse (hoi polloi)! In Rücksicht auf sich und ihren eigenen Vorteil geben sie Gesetze, sprechen sie Lob und Tadel aus. Sie wollen die stärkeren Menschen, welche die Kraft haben, sich Vorteil anzumaßen (ekphobountes te tous erromenesterous ton anthropon kai dynatous ontas pleon echein), einschüchtern [.. .]. Die Natur selbst aber beweist, daß es gerecht ist, daß der Stärkere mehr habe als der Schwächere und der Fähige mehr als der Unfähige (pleon echein kai ton dynatoteron tou adynatoterou) [... ], daß das anerkanntes Recht ist, daß der Stärkere über den Schwächeren herrsche und mehr habe als jener (ton kreitto tou hettonos archein ) [.. .]. Die Besten (tous beltistous) und Stärksten aus unserer Mitte nehmen wir von Jugend an her ... « (Platon, Gorgias, 483b-e, a.a.O., S·353)· 15 »Wenn ich etwa eine gold ne Seele hätte, lieber Kallikles, sollte ich mich nicht freuen, wenn ich einen von den Steinen fände, womit man das Gold prüft (tina ton lithon he basanizousin ton chryson) ... " (ebd., 486d , S. 356; basanos bedeutet im Griechischen »der Prüfstein«). 16 "Wenn ich aber nicht dich selbst als Zeugen aufstelle (an me se auton hena onta martyra), der meiner Behauptung zustimmt, so will ich nicht glauben, irgend etwas der Rede Wertes in der Untersuchung, die wir führen, vor mich gebracht zu haben« (ebd., 472b, S. 33 6). 17 V gl. zu diesem Punkt die Vorlesung vom 2. März und das Zitat aus dem Phaidros in 243a, oben S·4I4f. 18 »Homologeseien« (Gorgias, 486d), »homologeses« (486e und 487e). 19 Ebd., 487a, S. 35 6. 20 Ebd., 502d-e, S.377 und 5ud , S·40 3· 21 Vgl. oben, Anm.6.
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Frederic Gros';· Situierung der Vorlesungen
1.
Buchprojekte und Neubeginn
Die von Michel Foucault 1983 am College de France gehaltene Vorlesung trägt den Titel »Die Regierung des Selbst und der anderen«. Diesen Titel hatte Foucault zugleich für ein Buch vorgesehen, dessen Veröffentlichung er bei Seuil in der neuen Reihe »Des travaux« plante. 1 In diesem Jahr unternimmt Foucault also Forschungen, die ebenso viele Kapitel jenes nie erschienenen Werkes hätten einnehmen sollen und die die Untersuchungen des Vorjahres ergänzen sollten, welche ebenfalls in diesem Band hätten aufgenommen werden sollen. Parallel zu seiner Geschichte der Sexualität2 beabsichtigte Foucault in der Tat die Veröffentlichung einer Reihe von Studien zur antiken Gouvernementalität in ihren ethischen und politischen Dimensionen. Die Vorlesung ist also eine Fortsetzung der Vorlesung von 1982. Übrigens nimmt er auf diese häufig Bezug und erinnert hier und da an frühere Untersuchungen. 3 1982 hatte Foucault als allgemeinen Rahmen für seine Arbeit die historische Untersuchung der Beziehungen zwischen Subjektivität ". Frederic Gros ist Professor für politische Philosophie an der Universität Paris-XII. Er unterrichtet ebenfalls am Pariser Institut d'etudes politiques (Master-Studiengang »Histoire et Theorie du politique«). Letzte Buchveräffentlichung: Etats de violence. Essai sur la fin de la guerre, Paris, Gallimard, 2006. I Die Reihe wurde im Februar 1983 gestartet und von M. Foucault, F. Wahl und P. Veyne herausgegeben. Vgl. zu diesem Punkt die »Zeittafel« von D. Defert, in: Dits et Ecrits: Schriften, 1954- I988, Bd. I, S. 99. 2 Histoire de la sexualite, Bd. II (L'Usage des plaisirs) und III (Le Souci de soi), Paris 1984; dt. Der Gebrauch der Lüste: Sexualität und Wahrheit, Bd. 2, Frankfurt 1986, Die Sorge um sich: Sexualität und Wahrheit, Bd. 3, Frankfurt 1986. 3 Vgl. oben die Vorlesungen vom 12. Januar (erste Stunde), vom 16. Februar (erste Stunde), vom 23. Februar (erste Stunde) und vom 3. März (erste Stunde). 47 1
und Wahrheit gewählt. 4 Im Ausgang von einer Untersuchung des Begriffs der »Sorge um sich« (epimeleia heautau, cura sui) ging es ihm darum, die historisch situierten »Techniken« zu beschreiben, durch die ein Subjekt eine bestimmte Beziehung zu sich selbst herstellt, seiner eigenen Existenz Gestalt verleiht und seine Beziehung zur Welt und zu den anderen auf geregelte Weise begründet. Es stellte sich dann sehr bald heraus, daß diese Sorge um sich, außer in ihren Verfallsformen (Egoismus, Narzißmus, Hedonismus), keine spontane Einstellung bzw. keine natürliche Bewegung der Subjektivität sein konnte. Vielmehr mußte man durch einen anderen zu dieser richtigen Sorge um sich veranlaßt werden. 5 Dadurch wurde die Figur des antiken Lehrmeisters auf den Plan gerufen, die zumindest seit der Vorlesung am College de France aus dem Jahre I9806 eine große historische Alternative zum christlichen Leiter des Gewissens darstellte. 7 Denn dieser Lehrmeister spricht eher, als daß er zuhört, unterrichtet eher, als daß er ein Bekenntnis ablegt, ermuntert eher zu einer positiven Gestaltung anstatt zum aufopfernden Verzicht. Die Frage nach dem, was diese lebhafte, an den Geführten gerichtete Rede notwendig strukturiert, zieht I982 eine erste Untersuchung über das Thema der parrhesia als Freimut und Mut zur Wahrheit im Rahmen der antiken Lebensführung nach sich. 8 Der Übergang von der Regierung des Selbst (epimeleia heautau im Jahre I982) zur Regierung der anderen (parrhesia im Jahre I983) war also folgerichtig. Dennoch scheint Foucault I9 83 darauf zu bestehen, einen Neubeginn markieren zu wollen. Er beginnt seine Vorlesung mit einem Kommentar zu Kants Text über die Aufklärung, dem eine ambitionierte me-
thodologische Einleitung vorangeht. 9 Die ersten Sätze der Vorlesung nehmen schnell die Gestalt einer umfassenden Neubewertung seiner Arbeiten seit Wahnsinn und Gesellschaft und einer methodologischen Bilanz an, wobei Foucault Wert darauf legt, die Gesamtheit seines Werkes in drei Momente zu gliedern (Veridiktion/Gouvernementalität/Subjektivierung), die dabei jeweils auftretenden, großen begrifflichen Verschiebungen zu präzisieren und Mißverständnisse abzuwehren. Der Hauptteil der ersten Vorlesung bezieht sich jedoch auf Kants Text. Das kleine Werk über die Aufklärung 10 war schon am 27. Mai I978 Gegenstand einer Mitteilung an die französische Gesellschaft für Philosophie (»Was ist Kritik ?«)Y Von einem Kommentar zum anderen und unter den Wiederholungen an der Oberfläche ist der Unterschied doch deutlich. I978 wurde Kants Text in der Perspektive einer »kritischen Einstellung« behandelt, die Foucault auf die Anfänge der Moderne datiert und die im Gegensatz zu den Erfordernissen einer seelsorgerlichen Gouvernementalität steht (das Verhalten der Menschen durch die Wahrheit zu leiten). Die Frage der Aufklärung zu stellen bedeutete, die Frage wieder aufzugreifen: Wie ist es möglich, nicht zu sehr regiert zu werden? Das Problem war als Aufhebung der Unterwerfung (»desassujettissement«) im Rahmen einer »Politik der Wahrheit« gestelltY Die Moderne wurde in diesem Zusammenhang als historisch privilegierte Periode bestimmt, um die Dispositive des unterwerfenden
4 Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt 2004, S. 15· 5 Hermeneutik des Subjekts, a. a. 0., S. 175· 6 Vgl. zu diesem Punkt die letzte Vorlesung des Jahres 1980 (26. März). 7 Hermeneutik des Subjekts, a. a. 0., S. 49 6-497' 8 Vgl. in Hermeneutik des Subjekts das Ende der Vorlesung vom 3· März und die beiden Stunden der Vorlesung vom 10. März (a. a. 0., S. 433 bis 50r ).
9 Vgl. oben, S.14-2o, den Beginn der Vorlesung vom 5. Januar, erste Stunde. 10 Zur Erinnerung sei erwähnt, daß die Texte von Kant und Mendelssohn Antworten auf die Frage sind» Was ist Aufklärung ?«, die zuerst von Pastor Zöllner im Dezember 1783 als Anmerkung zu einem Aufsatz gestellt wurde, der in derselben Berlinischen Monatsschrift veröffentlicht wurde und sich auf die Frage nach der Ehe in ihrer bürgerlichen oder religiösen Dimension bezog (zu genaueren Ausführungen vgl. das Buch vonJ. Mondot, Qu'est-ce que les Lumieres?, Saint-Etienne 1991). I r Veröffentlicht im Bulletin de la Socihe franqaise de philosophie vom 27. Mai 1978. r2 Ebd., S.39.
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Wissens und Könnens zu studierenP 1983 wird die Frage nach der Aufklärung als Wiederaufnahme eines Erfordernisses des Wahrsprechens, eines mutigen Ergreifens der wahren Rede gedacht, das bei den Griechen in Erscheinung trat und Anlaß zu einer anderen Fragestellung gibt: Welche Regierung des Selbst muß man einerseits als Grundlage und andererseits als Grenze der Regierung der anderen fordern? Die »Moderne« ändert ebenfalls ihren Sinn: Sie wird zu einer metahistorischen Einstellung des Denkens selbst. 14 Dafür bleibt hier und da der Gegensatz zwischen zwei möglichen Erbschaften Kants bestehen: ein transzendentales Erbe, das Foucault ablehnt (universelle Regeln der Wahrheit zu bestimmen, um der Irreführung einer herrschsüchtigen Vernunft zuvorzukommen); ein »kritisches« Erbe, in dem er sich selbst erkennt (die Gegenwart auf der Grundlage einer Diagnose dessen, »was wir sind«, zu provozieren). Von der ersten Vorlesung an will Foucault also seinen eigenen Ort innerhalb eines philosophischen Erbes bestimmen, als ob er ankündigen wollte, daß er durch diese Studien zur parrhesia den Status seiner eigenen Rede und die Definition ihrer Rolle problematisierte. Im übrigen war Foucault niemals so mit sich im Lot wie in dieser Vorlesung. 15
13 Ebd., S. 46. 14 Vgl. oben, Vorlesung vom 9. März, erste Stunde. 15 Diese Arbeit über die Aufklärung kann auch als eine Art und Weise gelesen werden, seine eigene Schuld gegenüber Kant zu situieren, und zwar auf eine andere Weise als die von]. Habermas, der im selben Jahr von P. Veyne ans College de France eingeladen wurde, um dort Vorlesungen zu halten (vom 7. bis zum 22. März, vgl. die »Zeittafel« von D. Defert, a.a.O, S. 100). Erinnern wir uns, daß Habermas 1981, als die Universität Berkeley die Veranstaltung eines Seminars Foucault-Habermas beabsichtigte, welches zu einer ständigen Einrichtung hätte werden können, als Thema »die Moderne« vorgeschlagen hatte (vgl., was Foucault darüber sagt in Dits et Ecrits: Schriften, Bd. IV, a. a. 0.,
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Ethik und Politik der parrhesia 16
Foucault wird sich der historischen Problematisierung des Begriffs der parrhesia das ganze Jahr 1983 hindurch widmen. Bevor er diese Untersuchung in Angriff nimmt und sich auf eine beispielhafte parrhesiastische Szene stützt, die von Plutarch berichtet wird (Platon macht von seinem Freimut gegenüber dem Tyrannen Dionysios Gebrauch und riskiert sein Leben), beginnt Foucault damit, sie anhand eines Gegensatzes zur Sprechakttheorie der englischen Pragmatisten zu formalisieren (die hauptsächlichen Referenzen scheinen hier Austin und Searle zu sein 17). Man begegnet wieder dem Dialog mit der analytischen angelsächsischen Tradition, der schon in der Archäologie des Wissens 18 begonnen wurde. 1969 ging es jedoch darum, zwei Bestimmungen der »Aussage (enonce)« einander entgegenzusetzen: zum einen die Aussage im Sinne der analytischen Philosophie als Folge einer möglichen Kombination von Lauten, deren Produktionsregeln man definiert; zum anderen die Aussage im Sinne der Archäologie als Folge, die wirklich ins Archiv der Kultur eingeschrieben ist, deren Wirklichkeitsbedingungen man angibt. 1983 ist es die ontologische Verpflichtung des Subjekts im Akt der Äußerung (enonciation), was den Unterschied zu den Sprechakten ausmacht, wobei sich die parrhesia als öffentlicher und riskanter Ausdruck der eigenen Überzeugung auszeichnet. Dieses Wahr-Sprechen, das ein Risiko für den Sprecher bedeutet, kann jedoch in sehr verschiedenen Situationen auftreten: der öffentliche Redner auf der Tribüne vor dem versammelten Volk, der Philosoph in der Stellung des Fürstenberaters usw. 1982 ging es bei den ersten Analysen einfach darum, mit der 16 In Ermangelung einer »Zusammenfassung der Vorlesung« - Foucault
hatte alle vorangegangenen Jahre für die Verwaltung des College de France eine solche verfaßt - geben wir hier eine Beschreibung der Vorlesung des Jahres in ihren Grundzügen. 17 Vgl. die verwendeten Beispiele (»die Sitzung ist eröffnet«, »ich entschuldige mich« etc.) in der Vorlesung vom 12. Januar, zweite Stunde. 18 Archäologie des Wissens, Frankfurt 1973, vgl. z. B. S. 155 f. und passim. 475
parrhesia den Freimut des Lehrmeisters zu beschreiben, der bereit ist, seinen Schüler zu erschüttern und seinen Zorn zu provozieren, indem er ohne Umwege seine Mängel, seine Laster und seine schlechten Leidenschaften anprangert. Foucault hatte damals insbesondere Galens Abhandlung Traite des passions de tame et de ses erreurs studiert und einige Briefe von Seneca an Lucilius, wo der stoische Meister die durchsichtige Rede lobte. 19 Er hatte auch die Besonderheit einer epikureischen parrhesia im Rahmen der Lebensführung hervorgehoben, die anstelle des Gegenübers von Lehrer und Schüler eine Gemeinschaft von Freunden beinhaltete, die sich einander frei anvertrauen, um sich gegenseitig zu korrigieren. 2o Die Vorlesungen von 1984 werden über die Vorlesung von 1983 hinaus diese Problematisierung einer eigentlich ethischen parrhesia fortsetzen, indem sie die Untersuchung der Seelenprüfung bei Sokrates und den Kynikern wiederaufnehmen und weiterführen. 21 Aber wenn auch von Sokrates bis Seneca das Ziel gleich bleibt (das ethos dessen, an den man sich wendet, umzuwandeln), so ist doch die Art und Weise nicht mehr dieselbe. Die parrhesia, die den Gegenstand der Vorlesungen von 1984 bildet, wird nicht mehr innerhalb einer individuellen Beziehung der Leitung ausgeübt, sondern stellt vielmehr eine Ansprache auf dem öffentlichen Platz dar, die die Form der ironischen, maieutischen Rede bei Sokrates oder auch der rüden und groben Standpauke des Kynikers annimmt. Dennoch bleiben alle diese Formen der parrhesia (die sokratische, kynische, stoische oder epikureische) relativ selbständig gegenüber der Beziehung zur Politik. Nun untersucht Foucault 1983 aber von Euripides bis Platon im wesentlichen eine politische parrhesia, auch wenn die letzten Vorlesungen vom März über den Gegensatz von Philoso-
phie und Rhetorik anderen Wegen verpflichtet sind. 22 Diese politische parrhesia umfaßt zwei große geschichtliche Formen: einerseits die Rede, die von einer Person, die darauf bedacht ist, ihre Auffassung vom allgemeinen Interesse durchzusetzen, an die Ratsversammlung, an die Gesamtheit der Bürger gerichtet ist (die demokratische parrhesia); andererseits die private Rede, die der Philosoph an die Seele eines Fürsten richtet, um ihn anzustacheln, sich selbst gut zu führen, und ihn verstehen zu lassen, was ihm die Schmeichler verbergen (die autokratische parrhesia). Die Untersuchung der demokratischen parrhesia geht von zwei Gruppen von Texten aus: den Tragödien von Euripides und den Reden des Perikles, die von Thukydides in seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges »berichtet« werden. Ein großer Teil des Januars ist der sehr eingehenden Analyse des Ion von Euripides gewidmet. 23 Die Tragödie erzählt, wie Ion (der legendäre Vorfahr des ionischen Volkes), geheimgehaltener Sohn einer Liebschaft von Apollon und Kreusa, hinter das Geheimnis seiner Geburt kommt und schließlich, da er eine athenische Mutter gefunden hat, in Athen das demokratische Recht begründet. In diesem Stück wird die parrhesia weder als Grundrecht des Bürgers noch als den politischen Führern eigene technische Kompetenz gedacht. Sie ist die freie Ausübung der Rede, die sich vor dem Hintergrund einer Rivalität zwischen Gleichen ereignet und den am besten zum Regieren Geeigneten auszeichnet. Sie ist in der Dimension der Politik eher als» Erfahrung« (die Foucault im Unterschied zur politeia vorläufig als dynasteia bezeichner24 ) verwurzelt denn als eine Regel zur Organisation von Vielheiten: Es wird gefragt, was das
19 Hermeneutik des Subjekts, Vorlesung vom 10. März, zweite Stunde, a.a.O., S.482-50I. 20 Ebd., S.473-475. 21 Vorlesungen vom Februar und März 1984.
22 Vgl. oben, Vorlesungen vom 2. und 9. März. 23 In der Vorlesung vom 2. Februar, erste Stunde (vgl. oben) untersucht Foucault das Vorkommen des Begriffs parrhesia in anderen Tragödien von Euripides: Die Phoinikerinnen, Hippolytos, Die Bakchen und Orest. In den Vorlesungen, die Foucault in Berkeley hielt, fügte er eine Studie über Elektra hinzu (vgl. M. Foucault, Fearless Speech, Los Angeles 2001, S. 33-36). 24 V gl. oben, Vorlesung vom 2. Februar, erste Stunde.
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politische Engagement erfordert, und zwar im Hinblick auf die Herstellung einer Selbstbeziehung durch das Subjekt. Es geht also darum, Euripides' Tragödie als jenen legendären Augenblick des Wahrsprechens in der athenischen Demokratie zu lesen, in dem ein Bürger seine freie Rede einsetzt, um in die Angelegenheiten des Staates einzugreifen, insofern dieses Wahrsprechen nicht auf das bloße Recht aller reduziert werden kann, das Wort zu ergreifen (isegoria). Foucault macht jedoch auch in der Studie der beiden Reden Kreusas die Anfänge zweier parrhesiastischer Modalitäten sichtbar, die dazu berufen sind, sich gegenseitig zu verstärken und sich zu entwickeln: die fluchende Rede eines Untergebenen, der sich vor seinem Vorgesetzten erhebt, um dessen Ungerechtigkeit anzuprangern, was zum mutigen Ergreifen des Wortes durch den Philosophen gegenüber dem Fürsten wird; das Eingeständnis eines Fehlverhaltens gegenüber einem Vertrauten, was sich in der christlichen parrhesia wieder findet, die als durchsichtige Öffnung des Herzens gegenüber dem Leiter des Gewissens neu definiert wird. 25 Die erste Modalität wird den ganzen Februar 1983 hindurch untersucht. Die zweite wird erst 1984 zum Gegenstand einer Standortbestimmung, die unter dem Zeitdruck der letzten Vorlesung vorgenommen wird. 26 1980 hatte Foucault zwar das akademische Jahr der Analyse der Verfassung des christlichen Bekenntnisses im Ausgang von Bußritualen27 gewidmet, es war aber nicht die Rede von der parrhesia gewesen. Die demokratische parrhesia war in Euripides' Ion Gegenstand einer legendären Gründung. Die von Thukydides wiedergegebenen Reden des Perikles ermöglichen es nun, sie in ihrer konkreten Ausübung zu beobachten. Die genaue Untersuchung dieser Rede, ein Zeugnis dessen, was Foucault das »goldene Zeitalter« der demokratischen parrhesia nennt, erlaubt ihm, den Unterschied zwischen dem egalitären Ergreifen 25 Vgl. oben, Vorlesung vom 26. Februar, zweite Stunde. 26 Vorlesung vom 24. März 1984, zweite Stunde. 27 Vgl. die Vorlesungen vom Februar und März 1980. 47 8
des Wortes (der isegoria) einerseits und dem mutigen und singulären Ergreifen des Wortes andererseits herauszustellen, wodurch der Unterschied eines Wahrsprechens in die Debatte eingeführt wird. Es ist diese Spannung zwischen einer verfassungsmäßigen Gleichheit und einer Ungleichheit, die mit der effektiven Ausübung der demokratischen Macht zu tun hat, was Foucault interessiert. In der Tat soll diese Ungleichheit, die von der parrhesia eingeführt wird (Ausübung eines Einflusses) und die weit davon entfernt ist, das demokratische Fundament in Frage zu stellen, seine konkrete Ausübung garantieren. Dennoch ist dieses Gleichgewicht empfindlich. Der formale Egalitarismus kann in jedem Moment auf diesen Unterschied zurückwirken, der durch den wahren Diskurs dessen eingeführt wurde, der mutig seine Rede einsetzt, um seine Auffassung des allgemeinen Interesses zu verteidigen. Das ist dann der demagogische Augenblick als Überschneidung der parrhesia durch die isegoria, der von Isokrates und Platon kritisiert wurde. Der Parrhesiast wird dann von einem wankelmütigen Pöbel, dem die Demagogen nach Belieben schmeicheln, abgelehnt und in Verruf gebracht. Die demokratische parrhesia ändert und wandelt sich: Sie wird zum öffentlich anerkannten Recht, jedem alles auf beliebige Weise zu sagen. Die parrhesia wird dann wieder in ihrem positiven Aspekt auftauchen, aber innerhalb eines anderen Rahmens, nämlich dem der Konfrontation zwischen dem Philosophen und dem Fürsten. Um dieses neue Wahrsprechen zu untersuchen, stürzt sich Foucault in die zweite große Lektüreübung des Jahres 1983: auf Euripides' Ion folgt der VII. Brief Platons. Auch hier wird der enge Rahmen einer historischen Beschreibung der Modalitäten der parrhesia bald verlassen, um anhand einer erstaunlichen Platoninterpretation das Wesen des philosophischen Unternehmens selbst zu bestimmen. 1981 (in der Vorlesung vom 18. März) hatte Foucault schon das Problem der Beziehung zwischen philosophischem Diskurs und Wirklichkeit gestellt. Er erinnerte daran, daß man traditionellerweise meint, die Philosophie spiegele das Wirkliche wider, maskiere oder rationali479
siere es. Das konkrete Beispiel der großen philosophischen Texte aus der hellenistischen Periode über die Ehe ermögliche es nach Foucault, diese Beziehung neu zu betrachten: Die Philosophie kann tatsächlich als ein Unternehmen des theoretischen Vorschlags und der Ausarbeitung von subjektiven Haltungen bestimmt werden, die sich zur Stilisierung bestimmter sozialer Praktiken eignen. 1983 wird Foucault das Problem der »Wirklichkeit« der Philosophie anders stellen. Mit diesem Begriff meint er keinen außersprachlichen Bezugsgegenstand, sondern das, womit sich eine Tätigkeit auseinandersetzen muß, um ihre eigene Wahrheit zu beweisen. Der VII. Brief gestattet Foucault, diese Wirklichkeit zu bestimmen, wenn Platon seine Gründe für seine Reise nach Sizilien erläutert. Man erfährt dort, daß die philosophische Tätigkeit sich nicht auf die Rede allein beschränken darf, sondern sich der Prüfung durch die Praxis, durch Konflikte und Tatsachen stellen muß. Die Wirklichkeit der Philosophie ist in dieser aktiven Auseinandersetzung mit der Macht zu finden. Die Philosophie findet eine zweite Wirklichkeit in einer kontinuierlichen Seelenpraxis. Sie kann nach dem VII. Brief nämlich nicht als ein fertiges System von Wissensinhalten (mathemata) verstanden werden, sondern ist eine Selbstpraxis, eine ständige Übung der Seele. Foucault findet hier wieder zu Wegen zurück, die er schon 1982 erkundet hatte. Zugleich kann er aber dadurch auf die berühmten Interpretationen Derridas antworten, die Platons »Logozentrismus« anprangern. Nach Foucault findet man bei Platon in der Tat keine platonische Ablehnung der Schrift, die sich im Namen des reinen logos vollziehen würde, sondern eine schweigsame Arbeit des Selbst an sich selbst, die die Gesamtheit des logos für ungeeignet erklärt, sei er nun schriftlich oder mündlich. Diese Kritik der großen Thesen Derridas setzt sich im März mit der Analyse des Phaidros fort, in der Foucault zeigt, daß auch hier die wesentliche Trennungslinie nicht zwischen dem Schriftlichen und dem Mündlichen verläuft, sondern, um die Begriffe des Manuskripts aufzunehmen, zwischen »einer logographischen Seinsweise der rhetorischen Rede und 480
einer Seinsweise der Selbstaskese der philosophischen Rede.«28 Schließlich ermöglicht es die eingehende Untersuchung der ausführlichen politischen »Ratschläge«, die Platon Dions Freunden gibt, daß Foucault die platonische Figur des »Philosophenkönigs« neu betrachten kann. Er lehnt es ab, darin das Thema einer Legitimiertheit durch Wissen zu sehen, als ob die philosophische Wissenschaft durch ihre spekulative Überlegenheit das politische Handeln aufklären könnte. Zusammenkommen muß vielmehr eine Seinsweise, eine Beziehung des Selbst zu sich selbst: Der Philosoph hat nicht politische Ansprüche im Lichte seiner spekulativen Kompetenz zu analysieren; es geht vielmehr darum, den Modus der philosophischen Subjektivierung bei der Ausübung der Macht spielen zu lassen. In einem Gespräch vom April 1983 an der Universität Berkeley führt Foucault diese Analysen fort, indem er es ablehnt, die »Theorien« der Intellektuellen mit der Elle ihrer »politischen Praxis« zu messen: »Den Schlüssel zur persönlichen politischen Haltung eines Philosophen wird man nicht seinen Ideen abgewinnen können, so als ließe er sich daraus ableiten, sondern seine Philosophie als Leben, das heißt seinem philosophischen Leben, seinem ethos.«29 Die beiden letzten Sitzungen von 1983 am College de France deuten schon auf das Jahr 1984 voraus. Foucault untersucht darin nacheinander die Apologie, den Phaidros und den Gorgias Platons. Die Analyse der Apologie wird 1984 wieder aufgenommen und durch die des Phaidon und des Laches gestützt (in geringerem Ausmaß auch durch die des Kriton). Aber wenn auch erneut derselbe Text betrachtet wird, so ist doch die Perspektive eine andere: 1984 wird Foucault die sokratische parrhesia als ethische Bewährungsprobe des eigenen Lebens und des Lebens des anderen durch eine wahre Rede beschreiben. Es wird also darum gehen, das Problem des »wahren Lebens« zu stellen. 28 Manuskript der Vorlesung vom 2. März 1983. 29 "Politik und Ethik: ein Interview«, in: Dits et Ecrits: Bd. IV, Nr.34 1 ,
a.a.O., S.717.
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19 83 bemüht sich Foucault jedoch vor allem, den Gegensatz
zwischen Philosophie und Rhetorik im Rahmen dessen zu kon30 struieren, was er eine »Ontologie der Diskurse« nennt. Das philosophische Wahrsprechen in der Apologie steht durch seinen direkten und unumwundenen Charakter im Gegensatz zur gerichtlichen Rhetorik. Im Phaidros wird der Nachdruck auf die Implikationen eines vollständigen philosophischen Wahrsprechens (eine wahrhafte ontologische Initiation, eine Metaphysik der Verbindung zwischen Seele und Sein) gelegt, das im voraus die Betrügereien der Rhetorik anprangern würde. Der Gorgias schließlich präsentiert auf traditionellere Weise die Scheidung zwischen einer sokratischen parrhesia als Seelenprüfung (Psychagogie) und, mit Kallikles, einer rhetorischen Kunst, die von politischem Ehrgeiz genährt wird.
3. Methoden Die Analyse der griechischen Texte ist immer streng und sehr analytisch. Das Manuskript des Jahres 1983 enthält am Rand griechische, neu übersetzte Passagen, was die Wichtigkeit und die Gewissenhaftigkeit dieser Arbeit zeigt, die sich so nahe wie möglich an den ursprünglichen Text hält. Foucault folgt meistens seinem geschriebenen Text, wenn er seine Vorlesung hält, und improvisiert sehr wenig. Nur die Manuskripte der letzten Sitzungen über den Phaidros und vor allem über den Gorgias Platons enthalten lange Ausführungen, die aus Zeitmangel nicht vorgetragen wurden. Mehr als zuvor spürt man 1983, daß Foucault laufende Arbeiten vorstellt: Manchmal ist seine Bewegung tastend und auf der Stelle tretend, dann wieder skizziert und versucht er Synthesen. Der Eindruck, an der Geburtsvorbereitung einer Forschung teilzunehmen, ist oft sehr stark, und der Ton ist niemals dogmatisch (Foucault streut vielfach Wendungen wie »ich glaube«, »man könnte sagen«, »es scheint«, 30 Vgl. oben, Vorlesung vom
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März, erste Stunde. 4 82
»vielleicht« ... ein). Diese Dimension des Gedankenlabors, der theoretischen Versuchsballons, der skizzierten Wege vertrug sich schließlich ziemlich schlecht mit den Bedingungen, die Foucault am College de France vorfand: ein riesiges, schweigendes, gefesseltes Publikum, das darauf eingestellt war, in Andacht und reiner Bewunderung eine dozierende Rede zu empfangen. Kein Austausch, keine Diskussion. Sehr oft beklagt sich Foucault über diese Umgebung und über die Haltung, die sie ihm auferlegt. Wie er selbst sagt, ist er zum »Theater« verurteilt. Er muß die Rolle des großen Professors spielen, der von seinem Lehrstuhl aus alleine seines Amtes waltet. Wiederholt bringt er sein Bedauern und seinen Willen zum Ausdruck, sich mit Studenten und Professoren zu treffen, die über ähnliche Themen arbeiten, um Perspektiven austauschen zu können. Er organisiert Treffen und reserviert Räume, um zu versuchen, eine kleine Arbeitsgruppe zu bilden. Diese Sehnsucht nach der Arbeit in einer Gruppe ist noch 1984 spürbar. Foucault gibt die wenigen kritischen Quellen an, denen er sich hier und da bedienen konnte, um die parrhesia zu problematisieren: Er zitiert Scarpats 31 Buch und vor allem die Artikel großer Enzyklopädien oder theologischer Wörterbücher. 32 Foucault wird jedoch in dieser Sekundärliteratur niemals Thesen oder gar einen Rahmen für die Interpretation suchen, sondern ausschließlich Referenzen, die im ursprünglichen Text sehr schnell überarbeitet und in den Rahmen der eigentlichen Problemstellung einbezogen werden. Die Kommentare zu Euripides, Thukydides und Platon sind gänzlich originell. Die Art und Weise des Vorgehens ist dieselbe wie 1982: sehr genaue Textkommentare, wobei dem griechischen Text große Aufmerksamkeit geschenkt wird (wiederholt korrigiert er die vorhandene Übersetzung), plötzlich unterfüttert 3 I G. Scarpat, Parrhesia. Storie dei termine et delle sue traduzioni in Latino, Brescia 1964. 32 Zum Beispiel H. Schlier, "Parrhesia, parrhesiazomai«, in: G. Kittel (Hg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart 1949- 1979. 4 83
von sehr weitreichenden Gesichtspunkten. Aber Foucault hatte uns schon an diesen betonten Kontrast zwischen akribischen Analysen einiger Zeilen des griechischen Texts und der plötzlichen Erweiterung der Perspektive, der Öffnung auf eine jahrhundertelange Geschichte der Subjektivität gewöhnt. Wie er während der zweiten Vorlesung vom 19. Januar sagt: »Die Tatsache, daß das Wesentliche, das Grundsätzliche der Geschichte durch den feinen und zarten Faden der Ereignisse läuft, ist etwas, wozu man sich, glaube ich, entweder entschließen oder womit man sich mutig auseinandersetzen muß. Die Geschichte und das Wesentliche der Geschichte gehen durch ein Nadelöhr.« Insgesamt bleibt die Methode diejenige, deren er sich im vorangehenden Jahr im Hinblick auf die Sorge um sich bedient hat: Schlüsseltexte im Ausgang von einem Begriff (hier: die parrhesia) zu bestimmen, Strategien des Gebrauchs zu beschreiben und Entwicklungs- oder Bruchlinien zu skizzieren. Die Untersuchung von Euripides' Ion weist jedoch bemerkenswerte Besonderheiten auf: Foucault entfaltet hier eine strukturale Analyse des Werkes, die weit über den ersten Rahmen der Studie hinausgeht (den Begriff der parrhesia). Er prüft dann eine Reihe von Lektürerastern, die erstmals bei der Lektüre von Sophokles' König Ödipus (einer Tragödie, die er mehrmals kommentiert hat: 1971, 1972, 1973, 1980und 19 8133 ) entwickelt wurden. Die Entwicklung des Dramas läßt sich als Folge der Verschachtelung von Bruchstücken der Wahrheit beschreiben, die jeweils paarweise zusammenpassen (die Struktur des symbolon). Die tragische Szene selbst wird als Ort des Auf-
einanderstoßens von konkurrierenden Formen der Veridiktion 34 aufgefaßt (das Wahrsprechen der Götter, das der Menschen usw.), des Auftauchens neuer Strukturen der Veridiktion (die gerichtliche Zeugenaussage im Ödipus, der Fluch und das Geständnis im Ion) und schließlich der Disqualifikation (das Wissen des Tyrannen im Ödipus) oder der Legitimation (das demokratische Wahrsprechen im Ion) einer politischen Rede. Im übrigen folgt Foucault nun im Rahmen der Analyse der großen mythologischen Themen ausdrücklich den Spuren Dumezils, um die Figur Apollons, des Gottes der Stimme, des Goldes und der Fruchtbarkeit, zu untersuchen. 1984 wird Foucault dann mit Bezug auf Platons Phaidon in seiner Vorlesung weiterhin die Studien Dumezils in Anschlag bringen. 3s
4. Herausforderungen Die 1983 gehaltene Vorlesung ist besonders wertvoll, da die darin enthaltenen Studien zu Lebzeiten Foucaults nicht veröffentlicht wurden (die sechs im Oktober 1983 in Berkeley gehaltenen Vorlesungen, die ohne Genehmigung nach seinem Tod veröffentlicht wurden, umreißen in ganz knapper Weise, was von Januar bis März ausführlich entwickelt wurde).36 Schon die Vorlesung von 1982 am College de France (Hermeneutik des Subjekts) zeigte, wie die antike Problematisierung der Sexualität immer nur ein Kapitel einer großen Geschichte jener Praktiken bilden dürfte, durch die ein Subjekt sich in und aufgrund der Beziehung zur Wahrheit konstituiert (die Techni-
33 1971 stellt er eine Studie der Tragödie am College de France vor (in der Vorlesung »Der Wille zum Wissen«), 1972 in den Vereinigten Staaten (Seminar in Buffalo über »Der Wille zur Wahrheit im antiken Griechenland«, das eine Analyse von Sophokles' Tragödie enthielt, und die Vorlesung über »Das Wissen Ödipus'« an der Cornell-Universität), 1973 (die erste im Mai gehaltene Vorlesung in Rio deJaneiro über »Die Wahrheit und die juristischen Formen«), 1980 (Vorlesungsreihe am College de France, Vorlesungen vom 16. und 23. Januar) und 1981 (die erste von sechs Vorlesungen im Mai in Leuven "Übles tun, die Wahrheit sagen. Funktionen des Geständnisses«).
34 Hier ist zu beachten, daß es in der ersten Vorlesung, die Foucault 1970 am College de France gehalten hat, die Praktiken der Rechtsprechung im weiteren Sinne sind, die als Matrizen der Veridiktion erscheinen. 35 Die Interpretation der letzten Worte des Sokrates (»0 Kriton, wir sind dem Asklepios einen Hahn schuldig«, in: Platon: Sämtliche Werke, Phaidon, rr8a, übers v. Friedrich Schleiermacher, Heidelberg 1982) im Ausgang von G. Dumezils Moyne noir en gris dedans Varennes, Paris 19 84. 36 M. Foucault, Fearless Speech, a. a. O.
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ken des Selbst). Die Vorlesung von I 98 3 gibt ihrerseits zu verstehen, inwiefern die historische Untersuchung der Praktiken der ethischen Subjektivierung Foucault nicht vom Thema des Politischen ablenkt. 37 Im Zentrum der Vorlesung findet man in der Tat die Behauptung einer wesentlichen und strukturellen Beziehung zwischen Philosophie und Politik. Diese Beziehung wird jedoch auf vollkommen originelle Weise reflektiert. Traditionellerweise nahm diese Beziehung die Form der »politischen Philosophie« an: entweder die Beschreibung eines idealen Staats, der durch eine Gruppe vollkommener Gesetze regiert wird (das Problem der besten Regierungsform), oder aber die vernunftgemäße Begründung, die metaphysische Ableitung oder, bescheidener, die begriffliche Analyse der politischen Beziehung. Wir haben schon gesagt, wie sehr Foucaults Lektüre von Platons VII. Brief ihn dazu veranlaßt hat, diese Beziehung neu zu bewerten. Die Philosophie begegnet mit der Politik ihrer »Wirklichkeit«: Sie kann ihre Wahrheit nur in der Auseinandersetzung mit der Politik beweisen. Das bedeutet, daß die Philosophie nicht die Wahrheit der Politik auszusprechen hat, sondern sich mit dem Politischen auseinandersetzen muß, um ihre eigene Wahrheit zu beweisen. Ihre »Wirklichkeit« zu finden bedeutet für die Philosophie, entweder im Feld der Politik die Eigenart ihrer Rede zum Einsatz zu bringen (das Beispiel der parrhesia des Perikles bei Thukydides) oder aber den »politischen Willen«38, zu belehren, d. h. strukturierende Elemente einer Selbstbeziehung vorzuschlagen, die geeignet ist, das politische Engagement, die politische Anhängerschaft oder das politische Handeln hervorzurufen. 37 Durch die erneute Zentrierung auf die Untersuchung des griechischen politischen Denkens erinnert die Vorlesung von 1983 an die erste Vorlesung von 1971 ("Der Wille zum Wissen«), die den gerichtlichen Prak-
tiken im archaischen Griechenland gewidmet war, und stellt schon eine Analyse wesentlicher Begriffe der athenischen Demokratie bereit, wie z. B. den der isonomia. 38 Vorlesung vom 16. Februar, erste Stunde (dabei dient die platonische Figur des Philosophen als Berater des Fürsten zur Illustration). 4 86
In dieser Hinsicht tut die Vorlesung von I 98 3 etwas ganz anderes, als das Problem der »Sorge um die anderen« zu stellen, nachdem das Problem der »Sorge um sich« im Vorjahr gestellt wurde. Es geht vielmehr darum, wie der philosophische Diskurs im Abendland einen grundlegenden Anteil seiner Identität in dieser Falte der Regierung des Selbst und der anderen ausbildet: Welche Beziehung zu sich selbst muß bei demjenigen ausgebildet werden, der die anderen führen will, und bei denen, die ihm gehorchen werden? Diese Falte stand schon im Zentrum von Kants Frage nach der Aufklärung, wie Foucault sie verstanden hatte. Die politischen Herausforderungen der Vorlesung gehen weit über ihren Äußerungskontext hinaus, auch wenn man im Rückblick nicht versäumen kann, Koinzidenzen zwischen dem Gehalt der damaligen Debatten und den von Foucault vertretenen theoretischen Positionen im Hinblick auf die Beziehung zwischen Philosophie und Politik hervorzuheben. 39 Es ist jedoch 39 Seit Mai 1981 ist in Frankreich die Linke an der Macht und F. Mitterand
an der Spitze des Landes. Von der liberalen Wende der Mitterandschen Politik an wird man bald beklagen, daß es den »Linksintellektuellen«, die einst so aktiv in ihrem Protest waren, heute an Energie mangelt, um konkrete Vorschläge zu machen oder neue Reformen zu verteidigen. In Le Monde vom 26. Juli 1983 veröffentlicht Max Gallo, der damals eine Debatte über diese Verwerfungen hervorrufen wollte, einen Aufsatz über »das Schweigen der Intellektuellen«, in dem er über der Feststellung des »Wiedererstehens von Ideen der Rechten« bedauert, daß ein »großer Anteil« der neuen intellektuellen Generation sich in dem Augenblick »auf den Aventin 'zurückgezogen«< habe, wo man über die ersten Schritte des Landes auf dem Weg einer aktiven »Modernisierung« nachdenken müsse. Einige Tage später setzt Philippe Boggio die Debatte fort (unter demselben Titel. »Das Schweigen der Intellektuellen«) und bemerkt: "Seitens des College de France, der Verlage oder des CNRS beeilt man sich kaum, seinen eigenen Baustein zum Gebäude der die Macht innehabenden Linken beizusteuern, besonders wenn der Wind der Polemik mit der Opposition weht.« Da er sie an »ihre Beziehungen zum Staat« erinnern wollte, stellt er fest, daß »manche, wie Simone de Beauvoir und Michel Foucault, sich geweigert haben, an dieser Ermittlung teilzunehmen« (Foucault sah sich aufgrund seines häufigen konkreten Engagements von dieser Kritik nicht betroffen). Diese Aufsätze erscheinen im Juli (der Vollständigkeit halber müßte
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nicht dieser Kontext, der Foucaults Positionen erhellt: Vielmehr hilft ihm die Lektüre der Alten dabei, ein politisches ethos zu problematisieren, das er in jenen] ahren erlebt. Wenn die Philosophie ihre Wirklichkeit tatsächlich in einer Beziehung zum Politischen finden soll, dann soll diese Beziehung die eines »widerstrebenden Außenstehens « sein. 40 Die Aktion, die von Foucault seit Dezember 198 I an der Seite der CFDT 4 1 durchgeführt wird, oder auch sein Eingreifen in die damalige französische Debatte (z. B. im Zusammenhang mit der Affäre der Iren von Vincennes 42 im August 1982 oder des Problems der Sozialversicherung 43 ) kann sehr gut als Illustration dieser ethischen Haltung dienen. Diese neue Art und Weise, Politik zu betreiben, indem man problematisiert, anstatt Dogmen aufstellt, indem man auf die ethischen Fähigkeiten der Menschen an statt auf ihre blinde Anhänglichkeit an bestimmte Lehren abzielt, war auch im]uli 1983 der Ursprung der »Academie Tarnier«, einer Gruppe von befreundeten Persönlichkeiten, die sich trafen, um über die internationale politische Lage nachzudenken. 44 In einem allgemeineren Sinne stellt diese Vorlesung einen wichtigen Beitrag zu den großen theoretischen Debatten über die
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man J.-M. Helvigs Antwort auf Max Gallo zitieren, die in Liberation erschien, und die Antwort von P. Guilbert im Quotidien de Paris etc.), also längere Zeit nachdem Foucault seine Vorlesungen am College de France über die politische parrhesia gehalten hatte. Einige der Vorlesungen könnten jedoch als eine vorweggenommene Antwort auf diese Kritik klingen. Foucault hat in der Tat ständig geltend gemacht, daß die Funktion des Philosophen nicht darin besteht, den Politikern zu sagen, was sie zu tun hätten. Er hat weder Gesetze an ihrer Stelle zu machen noch sich als intellektuelle Rückendeckung ihres Handelns darzustellen, als ob er die Begründung ihrer Entscheidungen durch sein Wissen stützen sollte. Vgl. oben, Vorlesung vom 9. März, erste Stunde. Vgl. dazu die "Zeittafel« von D. Defert, a.a. 0., S. 97 (CFDT ist die Abkürzung von Confederation franc;:aise du travail). Vgl. dazu "Terrorismus hier und dort«, in: Dits et Ecrits: Schriften, Bd.IV, Nr. 316, a.a.O., S. 380-382. Vgl. dazu »Ein endliches System angesichts einer unendlichen Nachfrage«, ebd., Nr. 325, S·440-460. Vgl. dazu die »Zeittafel« von D. Defert, a. a. 0., S. 101. 4 88
Demokratie dar und, noch allgemeiner, einen Beitrag zum Wesen des Politischen selbst. Im Ausgang vom Beispiel der Griechen (von Thukydides bis Platon) stellt Foucault auf originelle Weise die jeder Demokratie innewohnende Spannung heraus: Auf dem Boden einer verfassungsmäßigen Gleichheit wird die Demokratie durch einen Dissens vollzogen, der durch das Wahrsprechen eingeführt wird; umgekehrt stellt sie aber immer eine wiederkehrende Bedrohung für dieses Wahrsprechen dar. Man sieht es in dieser Vorlesung: Foucault gehört ebenso wenig dem Lager der zynischen Verleumder der Demokratie an wie dem ihrer blinden Befürworter. Er problematisiert sie bloß. Eine der erstaunlichsten Dimensionen dieser Vorlesung hat vielleicht mit der Art und Weise zu tun, wie Foucault darin mit großer Deutlichkeit und Abgeklärtheit seine Beziehung zur Philosophie als freiem und mutigem Diskurs der Wahrheit ausdrückt. Wir können hier den allgemeinen Gang der Vorlesung noch einmal betrachten. Foucault war mit Kant von einer neuen Bestimmung der modernen Philosophie ausgegangen: Diejenige Philosophie ist modern, die bereit ist, nicht auf der Basis einer Reflexion über ihre eigene Geschichte, sondern aufgrund eines Aufrufs durch die Gegenwart zu denken. Wie steht es mit diesem Heute, das uns zum Denken auffordert? Diese Frage, was in der Gegenwart reflektiert werden soll, insofern sie uns zum Denken auffordert und insofern diese Aufforderung Teil eines Prozesses ist, zu dem der Denker gehört und den er mitvollzieht, war von Foucault als Anfangspunkt einer eigentlich modernen Philosophie bestimmt worden, in deren Tradition er sich selbst stellen wollte. Die Untersuchung der antiken parrhesia führt Foucault zur geduldigen Beschreibung eines philosophischen Wahrsprechens, einer lebhaften Rede von Perikles bis Platon, die das mutige Sich-an-die-Macht-Wenden mit der ethischen Provokation verbindet. Am Ende des Weges 45 stellt er fest, daß das Eigen45 Es handelt sich um die erste Stunde der Vorlesung vom 9. März. 4 89
tümliche der modernen Philosophie seit dem cartesianischen cogito, das die Autoritäten des Wissens ablehnt, bis zum Kantsehen »Sapere aude« in einer Reaktivierung dieser parrhesiastisehen Struktur besteht. Diese Brücke, die zum ersten Mal zwischen der antiken und der modernen Philosophie geschlagen wurde, ist schließlich imstande, bei Foucault den Ausblick auf eine metahistorische Bestimmung der philosophischen Tätigkeit zu öffnen: die der Ausübung einer mutigen und freien Rede, die im Spiel der Politik beharrlich den Dissens und die Entschiedenheit eines Wahrsprechens geltend macht und darauf abzielt, die Seinsweise der Subjekte zu beunruhigen und zu verwandeln. Mein Dank geht an Daniel Defert für seine beständige Großzügigkeit und an Jorge Davila für seine Seelengröße.
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