Michel Foucault Der Mut zur Wahrheit Die Regierung des Selbst und der anderen II Vorlesung am College de France
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Michel Foucault Der Mut zur Wahrheit Die Regierung des Selbst und der anderen II Vorlesung am College de France
198]184 Aus dem Französischen von J ürgen Sehröder
Suhrkamp
Veröffentlicht mit freundlicher Unterstützung des Französischen Ministeriums für Kultur Centre National du Livre und der Maisan des Seiences de l'Homme, Paris Titel der Originalausgabe: Le courage de la verite. Le gouvernement de soi et des autres II Cours au College de France (1983-1984)
© Editions du Seuil und Editions Gallimard 2009 Diese Ausgabe wurde unter der Leitung von Fran�ois Ewald und Alessandro Fontana von Fn!deric Gros herausgegeben
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2010 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Satz und Druck: Memminger MedienCentrum Printed in Germany Erste Auflage 2010
ISBN 978-3-518-58544-3 I
2 3 4 5
6
-
15 14 13 12
II
10
Inhalt
Vorwort
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7
Vorlesung I (Sitzung vom
r.
Februar I984, erste Stunde)
I3
Vorlesung I (Sitzung vom
r.
Februar I984, zweite Stunde)
42
Vorlesung 2 (Sitzung vom 8. Februar I984, erste Stunde)
54
Vorlesung 2 (Sitzung vom 8. Februar I984, zweite Stunde) Vorlesung 3 (Sitzung vom I 5. Februar I984, erste Stunde)
IOI
Vorlesung 3 (Sitzung vom
I30
I
5.
Februar I 984, zweite Stunde)
Vorlesung 4 (Sitzung vom 22. Februar I984, erste Stunde) Vorlesung 4 (Sitzung vom 22. Februar I984, zweite Stunde)
I88
Vorlesung 5 (Sitzung vom 29. Februar I984, erste Stunde)
207
Vorlesung 5 (Sitzung vom 29. Februar I984, zweite Stunde)
233
Vorlesung 6 (Sitzung vom 7· März I984, erste Stunde) Vorlesung 6 (Sitzung vom 7· März 1984, zweite Stunde)
Vorlesung 7 (Sitzung vom 14. März 1984, erste Stunde)
0
Vorlesung 7 (Sitzung vom 14. März 1984, zweite Stunde) Vorlesung 8 (Sitzung vom 21. März 1984, erste Stunde)
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Vorlesung 8 (Sitzung vom 21. März 1984, zweite Stunde) .....
301 326 349
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377
0
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396
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417
Frederic Gros, Situierung der Vorlesungen . . . . . . . . .
440
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausführliches Inhaltsverzeichnis . . .. . . . .... . . . .
461 467 475
Vorlesung 9 (Sitzung vom 28.März 1984, erste Stunde) Vorlesung 9 (Sitzung vom 28. März 1984, zweite Stunde)
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Vorwort
}.fichel Foucault hat am College de France von Januar 1971 bis zu seinem Tod im Juni 1984 gelehrt, mit Ausnahme des Jahres :977,
seinem Sabbatjahr. Sein Lehrstuhl trug den Titel: »Ge
schichte der Denksysteme « . Dieser wurde am 30. November 1969 auf Vorschlag von Jules Vuillemin von der Generalversammlung der Professoren des College de France an Stelle des Lehrstuhls der »Geschichte des philosophischen Denkens« eingerichtet, den Jean Hippolyte bis zu seinem Tod innehatte. Dieselbe Versammlung wählte :\lichel Foucault am 12. April 1970 zum Lehrstuhlinhaber.1 Er "''·ar 4 3 Jahre alt. Michel Foucault hielt seine Antrittsvorlesung am 2. Dezember '970.2 Der Unterricht am College de France gehorcht besonderen Regeln: Die Professoren sind verpflichtet, pro Jahr 26 Unter richtsstunden abzuleisten (davon kann höchstens die Hälfte in Form von Seminarsitzungen abgegolten werden).3 Sie müssen jedes Jahr ein neuartiges Forschungsvorhaben vorstellen, wo durch sie gezwungen werden sollen, jeweils einen neuen Un terrichtsinhalt zu bieten. Es gibt keine Anwesenheitspflicht für die Vorlesungen und Seminare; sie setzen weder ein Aufnah meverfahren noch ein Diplom voraus. Und der Professor stellt auch keines aus.4 In der Terminologie des College de France r
Michel Foucault hatte für seine Kandidatur ein Plädoyer unter folgen der Formel abgefaßt: »Man müßte die Geschichte der Denksysteme un ternehmen« (»Titre et Travaux«, in: Dits et Ecrits, 1954-1988, hg. v. Da nie! Defert und Fran�ois Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange, Paris 1 994, Bd. I, 1 964-1969, S. 842-846, bes. S. 846; dt. »Titel und Arbeiten«, in: de rs . , Dits et Ecrits. Schriften, Bd. I , 1954-1969, Frankfurt/Main 2001, S. 1 069-107 5 , bes. S. 1 074 f.). 2 In der Editions Gallimard im März 1 9 7 1 unter dem Titel L'Ordre du dis cours (Die Ordnung des Diskurses) publiziert. 3 Was Michel Foucau!t bis Anfang der 8oer Jahre machte . .;. Im Rahmen des College de France.
heißt das: Die Professoren haben keine Studenten, sondern Hörer. Die Vorlesungen von Michel Foucault fanden immer mitt wochs statt, von Anfang Januar bis Ende März.Die zahlreiche Hörerschaft aus Studenten, Dozenten, Forschern und Neugie rigen, darunter zahlreiche Ausländer, füllte zwei Amphitheater im College de France. Michel Foucault hat sich häufig über die Distanz zwischen sich und seinem Publikum und über den mangelnden Austausch beschwert, die diese Form der Vorle sung mit sich brachte.5 Er träumte von Seminaren als dem Ort echter gemeinsamer Arbeit. Er machte dazu verschiedene An läufe. In den letzten Jahren widmete er gegen Ende seiner Vor lesungen immer eine gewisse Zeit dem Beantworten von Hö rerfragen. Ein Journalist des Nouvel Observateur, Gerard Petitjean, gab die Atmosphäre 1975 mit folgenden Worten wieder: »Wenn Foucault die Arena betritt, eiligen Schritts vorwärtspreschend, wie j emand, der zu einem Kopfsprung ins Wasser ansetzt, steigt er über die Sitzenden hinweg, um zu seinem Pult zu ge langen, schiebt die Tonbänder beiseite, um seine Papiere abzu legen, zieht sein Jackett aus, schaltet die Lampe an und legt los, mit hundert Stundenkilometern. Mit fester und durchdringen der Stimme, die von Lautsprechern übertragen wird, als einzi gem Zugeständnis an die Modernität eines mit nur einer Lampe erhellten Saals, die ihren Schein zum Stuck hoch wirft. Auf drei hundert Sitzplätze pferchen sich fünfhundert Leute, saugen noch den letzten Freiraum auf ... Keinerlei rhetorische Zuge ständnisse. Alles transparent und unglaublich effizient.Nicht das kleinste Zugeständnis an die Improvisation. Foucault hat 5
Michel Foucault verlegte 1 976 in der- vergeblichen - Hoffnung, die Hörerschaft zu reduzieren, den Vorlesungsbeginn von 17 Uhr 45 am späten Nachmittag auf 9 Uhr morgens. Vgl. den Anfang der ersten Vor lesung (am 7.}anuar 1 976) von » Il faut defendre Ia societe«. Cours au College de France ( r 97 5 -76), unter der Leitung von Fran>Alles zu sagen« be cieutet dann: die Wahrheit zu sagen, ohne etwas davon zu ver bergen, ohne sie durch was auch immer zu verschleiern. In der Z:�:eiten Philippika sagt Demostheues daher, daß er im Unter schied zu den schlechten Parrhesiasten, die Beliebiges sagen :md ihre Reden nicht an der Vernunft ausrichten, nicht ohne Yernunft sprechen will. Er will sich nicht »ZU Beschimpfungen herablassen« und »Schlag mit Gegenschlag vergelten«.32 (Sie wissen, jene berüchtigten Streitgespräche, wo man alles mögli-
ehe sagt, vorausgesetzt, daß es dem Gegner schaden und dem eigenen Anliegen nützlich sein kann.) Das will er nicht tun, sondern im Gegenteil mit der parrhesia (meta parrhesias) das Wahre sagen (ta alethe: die wahren Dinge). Allerdings fügt er hinzu: Ich werde nichts verheimlichen (ouch apochrypsomai).33 Nichts verbergen, die wahren Dinge sagen, darin besteht die Praxis der parrhesia. Die parrhesia bedeutet also »alles sagen«, aber ausgerichtet an der Wahrheit: alles von d er Wahrheit sa gen, nichts von der Wahrheit verheimlichen, die Wahrheit sa gen, ohne sie durch irgend etwas zu maskieren. Ich meine jedoch, daß das nicht ausreicht, um diesen Begriff der parrhesia zu charakterisieren und zu bes timmen Um von der parrhesia im positiven Sinne des Begriffs sprechen zu kön nen - lassen wir nun die negativen Wertungen beiseite -, sind zwei zusätzliche B e dingungen nötig, die über die Regel des Al les-Sagens und die der Wahrheit hinausgehen. Es ist nicht nur notwendig, daß diese Wahrheit die persönliche Meinung des Sprechers darstellt, sondern er muß sie auch als das sagen, was er denkt, [und nicht] nur als Lippenbekenntnis�· - darin besteht seine Eigenschaft als Parrhesiast. Der Parrhesiast gibt seine Meinung kund, er sagt, was er denkt, er unterzeichnet gewis sermaßen selbst die Wahrheit, die er ausspricht, er bindet sich an diese Wahrheit und verpflichtet sich folglich auf sie und durch sie. Aber das reicht nicht aus. Denn schließlich können ein Lehrer, ein Grammatiker, ein Geometer eine Wahrheit über das, was sie unterrichten, über die Grammatik oder die Geo metrie sagen, eine Wahrheit, an die sie glauben, eine Wahrheit, die sie denken. Dennoch wird man nicht sagen, daß es sich da bei um pa rrh esia handelt. Man wird nicht sagen, daß der Geo meter oder der Grammatiker Parrhesiasten sind, wenn sie die Wahrheiten lehren, an die sie glauben. Sie erinnern sich, damit parrhesia vorliegt ich habe diesen Punkt letztes Jahr beson ders betont -, muß das Subjekt, [indem es] diese Wahrheit .
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,,. Wiederherstellung des Sinns. M. F. sagte: . . . nicht nur, daß er zufällig die Wahrheit sagt oder daß er sie als Lippenbekenntnis sagt, sondern er muß sie als das sagen, was er denkt.
�sagt], die es als seine Meinung, seine Gedanken, seine Ü ber zeugung kennzeichnet, ein gewisses Risiko eingehen, ein Risi ko, d as gerade die Beziehung zu demj enigen betrifft, an den es ;ich wendet. Damit es sich um parrhesia handelt, muß man, in .iem man die Wahrheit sagt, das Risiko eingehen, begründen ·. md ihm die Stirn bieten, das Risiko nämlich, einen anderen zu •;erletzen, ihn zu reizen, ihn zu erzürnen und eine Reihe von \ ·erhaltensweisen bei ihm hervorzurufen, die bis zur äußer sten Gewalttätigkeit reichen können. Es handelt sich also um die Wahrheit mit dem Risiko der Gewalterfahrung. Nachdem er gesagt hat, daß er meta parrhesias (mit Offenheit) spricht, �fügt] Demosthenes beispielsweise in der Ersten Philippika [hinzu] : Ich weiß wohl, daß ich die Folgen nicht kenne, die sich flir mich aus dem Gesagten ergeben, wenn ich von dieser Of fenheit Gebrauch mache.34 D amit es parrhesia geben kann, ist alles in allem für den Akt der \"\?ahrheit folgendes notwendig: erstens das Bestehen einer grundsätzlichen Verknüpfung zwischen der ausgesprochenen \1/ahrheit und dem Denken dessen, der sie ausgesprochen hat; [zweitens] die Infragestellung der Beziehung zwischen den beiden Gesprächspartnern (demjenigen, der die Wahrheit sagt, und demj enigen, an den diese Wahrheit gerichtet ist). Daher rührt j ener neue Zug der parrhesia: Sie beinhaltet eine be stimmte Form des Mutes, einen Mut, dessen Minimalform dar in besteht, daß der Parrhesiast immer Gefahr läuft, diese Be ziehung zu untergraben, die die Bedingung der Möglichkeit seiner Rede ist. Das läßt sich beispielsweise ganz deutlich an der parrhesia als Gewissensleitung erkennen, wo nur dann eine solche Leitung möglich ist, wenn eine Freundschaft besteht, und wo der Einsatz der Wahrheit in dieser Gewissensleitung gerade das Risiko beinhaltet, die Beziehung der Freundschaft, die d ie wahre Rede doch ermöglicht hat, in Frage zu stellen und zu zerstören. Dieser Mut kann j edoch in einer Reihe von Fällen auch eine :\1aximalform annehmen, wenn man für das Aussprechen der \\"ahrheit nicht nur akzeptieren muß, daß dadurch die persön-
liehe, freundschaftliche Beziehung in Frage gestellt wird, die man zu der Person unterhält, [mit der] man spricht, sondern wenn es dazu führt, sein eigenes Leben zu riskieren. Als Platon Dionysios den Ä lteren besucht - so wird es von Plutarch er zählt -, sagt er ihm verschiedene Wahrheiten, die den Tyrannen dermaßen verletzen, daß er den Entschluß faßt, Platon zu tö ten, den er j edoch nicht ausführt. Aber Platon wußte das im Grunde und akzeptierte dieses Risiko. 35 Die parrhesia setzt also nicht nur die etablierte Beziehung zwischen dem Spre chenden und dem, an den sich die Wahrheit richtet, aufs Spiel, sondern sie riskiert sogar die Existenz des Sprechenden, zu mindest wenn sein Gesprächspartner Macht über ihn hat und er die Wahrheit, die man ihm sagt, nicht ertragen kann. Diese B eziehung zwischen der parrhesia und dem Mut wird sehr schön von Aristoteles verdeutlicht, wenn er in der Nikomachi schen Ethik das, was er die megalopsychia (die Seelengröße) nennt, mit der Praxis der parrhesia verbindet. 36 Die parrhesia kann sich nur - das ist das letzte Merkmal, an das ich kurz erinnern möchte - in so etwas wie einem parrhesia stischen Spiel ausbilden, entwickeln und stabilisieren. Denn wenn der Parrhesiast wirklich derjenige ist, der das Risiko ein geht, seine Beziehung zum anderen und sogar seine eigene Exi stenz in Frage zu stellen, indem er die Wahrheit sagt, die ganze Wahrheit gegenüber allem, dann [muß] derjenige, dem diese Wahrheit gesagt wird - ob es sich nun u m das versammelte Volk handelt, das über die besten Entscheidungen nachdenkt, die in Zukunft getroffen werden müssen, ob es sich um den Fürsten, den Tyrannen oder den König handelt, dem man Rat schläge erteilen soll, oder ob es der Freund ist, den man berät -, (Volk, König oder Freund), wenn er die Rolle spielen will, die ihm der Parrhesiast vorschlägt, indem er ihm die Wahrheit sagt, sie akzeptieren, wie verletzend sie für die anerkannten Mei nungen in der Volksversammlung, für die Leidenschaften und Interessen des Fürsten und für die Unwissenheit oder Verblen dung des Individuums auch sein mag. Das Volk, der Fürst, das Individuum müssen das Spiel der parrhesia akzeptieren. Sie 28
rr;üssen es selbst spielen und anerkennen, daß man dem, der das Risiko eingeht, ihnen die Wahrheit zu sagen, Gehör schenken soll. Auf diese Weise wird das wahre Spiel der parrhesia be �..i n det, im Ausgang von dieser Art von Pakt. Wenn der Par :+.esiast seinen Mut beweist, indem er die Wahrheit über und gegen alles sagt, dann hat das zur Folge, daß derjenige, an den sich diese parrhesia richtet, seine Seelengröße zeigen muß, ::1dem er akzeptiert, daß man ihm die Wahrheit sagt. Diese _-\rt von Pakt zwischen dem, der das Risiko eingeht, die Wahr heit zu sagen, und dem, der bereit ist, sie zu hören, steht im Zentrum dessen, was man das parrhesiastische Spiel nennen könnte. Die parrhesia ist also, kurz gesagt, der Mut zur Wahrheit sei tens desj enigen, der spricht und das Risiko eingeht, trotz allem die ganze Wahrheit zu sagen, die er denkt, sie ist aber auch der :\1ut des Gesprächspartners, der die verletzende Wahrheit, die e r hört, als wahr akzeptiert. Sie sehen also, wie die Praxis der parrhesia Stück für Stück der Kunst der Rhetorik entgegengesetzt ist. Sehr schematisch kann man sagen, daß die Rhetorik, wie sie in der Antike bestimmt und praktiziert wurde, im Grunde eine Technik ist, die die Art und Weise betrifft, die Dinge zu sagen, die aber keinesfalls die Beziehungen zwischen dem Sprechenden und dem, was er sagt, :festlegt. Die Rhetorik ist eine Kunst, eine Technik, eine Menge Yon Verfahrensweisen, die dem Sprechenden erlauben, etwas zu sagen, das vielleicht überhaupt nicht das ist, was er denkt, das aber in j enem, [an] den [er sich wendet],'� eine Reihe von Überzeugungen hervorbringt. Mit anderen Worten, die Rheto rik beinhaltet keinerlei B eziehung eines Glaubens zwischen dem Sprechenden und dem, was er [aussagt]. Der gute Rhetori ker, der gute Rhetor ist der Mann, der in der Lage ist, etwas ganz anderes als das zu sagen, was er weiß, etwas ganz anderes als das, was er glaubt, etwas ganz anderes als das, was er denkt, es aber so zu sagen, daß am Ende das, was er gesagt haben wird ,. M. F.
sagte: dem, der spricht
und was er weder glaubt noch denkt noch weiß, zu dem wird, was die, an die er sich wendet, denken, glauben und zu wissen meinen. In der Rhetorik wird die Verbindung zwischen dem Sprechenden und dem, was er sagt, aufgelöst, aber die Rhetorik stellt eine zwingende Verbindung zwischen dem Gesagten und dem oder denen her, an die sich das Gesagte richtet. Sie sehen, daß die Rhetorik von diesem Gesichtspunkt aus der parrhesia genau entgegengesetzt ist, [die im Gegensatz dazu eine] starke, offenkundige Bindung zwischen dem Sprechenden und dem, was er sagt, [beinhaltet] , da er ja seine Gedanken offenbaren soll und da es bei der parrhesia außer Frage steht, daß man et was anderes sagt als das, was man denkt. Die parrhesia stellt also zwischen dem Sprechenden und dem, was er sagt, eine fe ste, notwendige, konstitutive Verbindung her, lockert jedoch in Form des Risikos die Verknüpfung zwischen dem Sprechen den und dem Angesprochenen. Denn schließlich ist es immer möglich, daß der, an den man sich wendet, nicht annimmt, was man sagt. Er mag dadurch verletzt werden, er mag es ablehnen und er mag schließlich denj enigen bestrafen, der ihm die Wahr heit gesagt hat, und sich an ihm rächen. Die Rhetorik enthält also keine Verknüpfung zwischen dem Sprechenden und dem, was gesagt wird, sondern zielt darauf ab, eine zwingende Ver bindung, eine Verbindung der Macht zwischen dem Gesagten und der Person herzustellen, an die man das Gesagte richtet; im Gegensatz dazu besitzt die parrhesia eine feste und konstituti ve Verbindung zwischen dem Sprechenden und dem Gesagten und eröffnet durch die Wirkung der Wahrheit selbst, durch die Wirkung der Wunden, die die Wahrheit schlägt, die Möglich keit eines Bruchs der Verbindung zwischen dem Sprechenden und dem, an den er sich gewendet hat. Wir können also sehr schematisch sagen, daß der Rhetor ein wirkungsvoller Lügner ist, der die anderen zwingt, oder zumindest ohne weiteres ein solcher sein kann. Der Parrhesiast ist im Gegensatz dazu derj e nige, der mutig die Wahrheit ausspricht, wobei er sein eigenes Leben und seine Beziehung zum anderen riskiert. All das hatte ich Ihnen schon letztes Jahr gesagt. Ich möchte 30
nun etwas weiter gehen und gleich bemerken, daß man nicht glauben sollte, die parrhesia sei eine wohldefinierte Technik, die mit der Rhetorik auf gleichem Fuß steht und symmetrisch z u ihr ist. Man sollte nicht glauben, daß es in der Antike gegen über dem Rhetor, der ein Fachmann, ein Techniker war, gegen über der Rhetorik, die eine Technik war und eine Lehre erfor derte, einen Parrhesiasten und eine parrhesia gegeben hätte, die ebenfalls [ . '�] gewesen wären. Der Parrhesiast ist kein Fachmann. Und die parrhesia ist auch etwas anderes als eine Technik oder ein Beruf, wenngleich es bei der parrhesia technische Aspekte gibt. Die parrhesia ist kein Beruf, sondern etwas, das schwieriger zu umreißen ist. Sie ist eine Einstellung, eine Seinsweise, die mit der Tugend verwandt ist, eine Art und Weise zu handeln. Dabei gibt es zwar Verfah rensweisen und Mittel, die zielgerichtet eingesetzt werden, und das hat mit einer Technik zu tun, aber sie stellt auch eine Rolle, eine nützliche, wertvolle, unverzichtbare Rolle für den Staat und die einzelnen dar. Anstatt [als eine] Technik [ähnlich der] Rhetorik muß die parrhesia vielmehr als eine Modalität des Wahrsprechens charakterisiert werden. Um sie genauer zu be stimmen, kann man sie mit anderen grundlegenden Modalitä ten des Wahrsprechens kontrastieren, die man in der Antike findet, denen man aber auch zweifellos mehr oder weniger verschoben, verkleidet, in verschiedenen Ausgestaltungen in anderen Gesellschaften und auch in unserer eigenen wiederbe gegnet. Im Ausgang von der Antike lassen sich vier grundle gende Modalitäten des Wahrsprechens bestimmen, wenn wir die Dinge in derjenigen Deutlichkeit betrachten, in der sie uns von der Antike überliefert wurden. Erstens, das Wahrsprechen der Prophezeiung. Hier werde ich nicht den Versuch einer Analyse dessen vornehmen, was die Propheten sagten (bzw. der Strukturen dessen, was von den . .
,,. Michel Foucault wird hier unterbrochen von Popmusik aus einem Kas settenrecorder. Man hört, wie ein Assistent zu seinem Gerät stürzt. M. F.: »Ich glaube, Sie haben sich getäuscht. Das ist doch immerhin Michael Jackson? Schade.« 31
Propheten gesagt wird), sondern der Art und Weise, wie sich die Figur des Propheten konstituiert und von den anderen als Subjekt anerkannt wird, das die Wahrheit sagt. Offensichtlich ist der Prophet, wie übrigens auch der Parrhesiast, j emand, der die Wahrheit sagt. Ich glaube jedoch, daß das, was das Wahr sprechen des Propheten, seine Veridiktion, grundlegend aus zeichnet, darin b esteht, daß er eine Vermittlerrolle einnimmt. Der Prophet spricht per definitionem nicht in seinem eigenen Namen. Er spricht für eine andere Stimme, s ein Mund dient als Sprachrohr für eine Stimme, die von anderswoher spricht. Der Prophet gibt ein Wort weiter, das im allgemeinen das Wort Gottes ist. Er bringt eine gegliederte Rede hervor, die nicht sei ne eigene ist. Er richtet eine Wahrheit an die Menschen, die von anderswoher kommt. Der Prophet ist außerdem in der Positi on eines Vermittlers in dem weiteren Sinne, daß er sich zwi schen Gegenwart und Zukunft befindet. Er ist derjenige, der das enthüllt, was die Zeit den Menschen entzieht und was kein menschlicher Blick je sehen und kein menschliches Ohr j e ohne ihn hören könnte; das i s t das zweite Merkmal der Ver mittlerrolle des Propheten. Das prophetische Wahrsprechen vermittelt auch insofern, als der Prophet auf eine bestimmte Weise das enthüllt, zeigt und erhellt, was für die Menschen ver borgen ist. Andererseits oder vielmehr zugleich ist seine Ent hüllung j edoch nicht ohne eine gewisse Dunkelheit, und er of fenbart nicht, ohne das, was er sagt, in eine bestimmte Form zu hüllen, nämlich die Form des Rätsels. Das hat zur Folge, daß die Prophezeiung im Grunde nie eine eindeutige und klare Handlungsanweisung gibt. Sie sagt nicht einfach ganz kraß die Wahrheit in ihrer reinen und schlichten Durchsichtigkeit. Selbst wenn der Prophet sagt, was zu tun ist, muß man sich im mer noch fragen, bleibt immer noch zu wissen übrig, ob man auch richtig verstanden hat. Es bleibt zu fragen übrig, ob man nicht immer noch blind ist. Man muß noch immer fragen, zö gern, interpretieren. Die parrhesia steht nun Stück für Stück im Kontrast zu diesen verschiedenen Merkmalen des prophetischen Wahrsprechens. 32
Der Parrhesiast steht, wie man leicht sieht, insofern im Kon :rast zum Propheten, als der Prophet nicht für sich selbst, son dern im Namen eines anderen spricht und eine Stimme artiku liert, die nicht seine eigene ist. Im Gegensatz dazu spricht der Parrhesiast per definitionem in seinem eigenen Namen. Es ist v:·esentlich, daß es sich um seine eigene Meinung handelt, daß es sein Denken und seine Ü berzeugung ist, die er ausdrückt. Er muß seine Ä ußerung unterzeichnen, seine Offenheit unterliegt dieser Bedingung. Der Prophet muß nicht offenherzig sein, auch wenn er die Wahrheit sagt. Zweitens sagt der Parrhesiast nicht die Zukunft vorher. Gewiß offenbart und enthüllt er, was die Blindheit der Menschen nicht wahrnehmen kann, aber er lüftet den Schleier nicht, der über der Zukunft liegt. Er lüftet den Schleier der Gegenwart. Der Parrhesiast hilft den Men schen nicht entsprechend der ontologischen Struktur des menschlichen Wesens und der Zeit, den Abstand zu ihrer Zu kunft auf eine bestimmte Weise zu überwinden. Er hilft ihnen in ihrer Blindheit, aber in ihrer Blindheit über sich selbst, und daher nicht aufgrund einer ontologischen Struktur, sondern aufgrund eines bestimmten Fehlers, einer moralischen Unacht samkeit oder Ablenkung, die das Ergebnis einer Unaufmerk samkeit, einer Selbstgefälligkeit, einer Feigheit is t Hier, in die .
sem Spiel zwischen dem Menschen und seiner Blindheit, die in einer Unaufmerksamkeit, einer Selbstgefälligkeit, einer Feig heit, einer moralischen Unachtsamkeit wurzelt, spielt der Par rhesiast seine Rolle, die Rolle eines Enthüllers, die sich daher deutlich [von der] des Propheten unterscheidet, der für seinen Teil eine Stelle einnimmt, an der sich die Endlichkeit des Men schen mit der Struktur der Zeit verbindet. Drittens spricht der Parrhesiast, was ebenfalls per definitionem gilt, im Unter schied zum Propheten nicht in Rätseln. Im Gegenteil sagt er die Dinge so deutlich und so direkt wie möglich, ohne Verklei dung, ohne rhetorischen Schmuck, so daß seine Worte unmit telbar den Wert einer Vorschrift annehmen können. Der Par rhesiast läßt nichts zu deuten übrig. Gewiß läßt er bestimmte Handlungen offen: Er überläßt dem, an den er sich wendet, die 33
harte Aufgabe, den Mut zum Akzeptieren der Wahrheit aufzu bringen, sie zu erkennen und aus ihr ein Prinzip für das Verhal ten zu machen. Er läßt diese moralische Aufgabe übrig, aber im Unterschied zum Propheten läßt er die schwierige Pflicht der Interpretation nicht offen. Zweitens glaube ich, daß man das parrhesiastische Wahrspre chen auch mit einem anderen Modus des Wahrsprechens kon trastieren kann, der in der Antike sehr wichtig war, wichtiger wohl noch für die antike Philosophie als das prophetische Wahrsprechen: dem Modus der Weisheit. Sie wissen, daß der Weise in seinem eigenen Namen spricht, und in dieser Hinsicht unterscheidet er sich zusätzlich vom Propheten, über den wir gerade gesprochen haben. Wenn es richtig ist, daß diese Weis heit ihm von einem Gott eingegeben wird oder von einer Ü berlieferung, einer mehr oder weniger esoterischen Lehre, auf ihn übergehen konnte, ist es doch ebenso wahr, daß der Weise in dem, was er sagt, in seinem Wahrsprechen gegenwär tig ist. Die Weisheit, die er ausspricht, ist in Wirklichkeit seine eigene Weisheit. Der Weise offenbart in dem, was er sagt, seine eigene Seinsweise und insofern ist er nicht einfach ein Sprach rohr, wie es der Prophet sein kann, wenn er tatsächlich eine be stimmte Funktion des Vermittlers zwischen der zeitlosen und überlieferten Weisheit und der Person hat, an die er sich wen det. Er ist selbst ein Weiser, und es ist seine p ersönliche Wirk lichkeit, die ihn als Weisen auszeichnet und ihn ermächtigt, den Diskurs der Weisheit zu sprechen. Insofern er in seiner weisen Rede gegenwärtig ist und s eine eigene Seinsweise in seiner wei sen Rede offenbart, steht er dem Parrhesiasten viel näher als dem Propheten. Aber der Weise - dadurch zeichnet er sich aus, zumindest hinsichtlich einer Reihe von Merkmalen, die man in der antiken Literatur feststellen kann - konzentriert s eine Weisheit in sich, er ist in seinem Wesen zurückgezogen oder zumindest zurückhaltend. Im Grunde ist der Weise ein Weiser an und für sich selbst und braucht nicht zu sprechen. Er ist nicht gezwungen zu sprechen, nichts verpflichtet ihn, s eine Weisheit weiterzugeben, sie zu lehren oder zu offenbaren. Das 34
erklärt, warum der Weise strukturell schweigsam ist, wenn Sie so
wollen. Wenn er spricht, dann nicht, weil er durch die Fra
gen von j emandem dazu aufgefordert wurde oder etwa durch eine Situation, die für den Staat dringlich ist. Das erklärt auch, warum seine Antworten - und in diesem Punkt kann er v ö l l i g dem P r op heten gleichen und ihn häufig auch imitieren und sprechen wie er - vollkommen rätselhaft sein können und die, an die er sich wendet, in der Unwissenheit oder U ng ew ißh e it über das lassen, was er wirklich gemeint hat. Ein weiteres Merkmal des Wahrsprechens der Weisheit besteht darin, daß die Weisheit sagt, was der Fall ist, im Unterschied zu r Prophe zeiung, bei der sich das Gesagte auf die Zukunft bezieht. Der Weise sagt, was der Fall ist, d. h., was das Sein der Welt und der Dinge ist. Und wenn dieses Wah rs p re c hen über das Sein der Welt und der D in g e den Wert einer Vorschrift annehmen kann, dann j e denfall s nicht [in] Gestalt eines Ratschlags, der sich auf eine bestimmte Gelegenheit bezieht, sondern in Gestalt eines
all g e m ein e n Verhalt e n sp ri n zips . Diese Merkmale des Weisen lassen sich sämtlich in einem Text von D i oge n es Laertius - der zwar ein später Text ist, aber hin sichtlich der Charakterisierung auch einer der reichhaltigsten finden und wiederentdecken, in dem er eine Darstellung von Heraklit gibt. Erstens lebt Heraklit wesentlich zurückgezogen. Er hüllt sich in Schweigen. Diogenes Laertius erinnert daran, ab welchem Zeitpunkt und warum sich der Bruch zwischen Heraklit und den Ephesern vollzog. Die Epheser hatten Her modoros, einen Freund von Heraklit, verbannt, und zwar ge rade weil Hermodoros weiser und besser als sie selbst war. Dabei hätten sie gesagt: »Von uns soll keiner der wack erste sein«.37 Und wenn es unter uns einen gibt, der b esser ist als wir, dann soll er anderswo leben. Die Eph ese r ertragen gerade die Ü berlegenheit dessen nicht, der die Wahrheit sagt. Sie verj agen den Parrhesiasten. Sie haben Herrnodores verjagt, der wegge hen mußte, der in diese Verbannung gezwungen wurde, mit der sie den belegten, der fähig ist, die Wahrheit zu sagen. Hera klit hat seinerseits mit freiwil l i ger Zurückgezogenheit reagiert. 35
Da die Epheser den Besten unter ihnen mit Verbannung be straft haben, sagt er, daß alle anderen, die weniger wert sind als Hermodoros, getötet werden sollten. Und da man sie nicht tö tet, werde ich selbst weggehen. Künftig verweigert er sich, wenn man ihn darum bittet, dem Staat Gesetze zu geben. Denn, sagt er, der Staat wird bereits von einer ponera politeia (einer schlechten politischen Lebensweise) beherrscht. Also zieht er sich zurück und wird - ein berühmtes Bild - mit den Kindern das Knöchelspiel spielen. Denen, die sich darüber em pören, diesen Mann beim Knöchelspiel mit den Kindern zu se hen, antwortet er: »Was wundert ihr euch, ihr heilloses Gesin del ? Ist dies nicht eine anständigere Beschäftigung, als mit euch Staatsgeschäfte zu führen ? [met' hymon politeuesthai: das poli tische Leben mit euch zu führen] . Ich schweige, damit ihr plappern könnt.«40 Dioge nes Laertius berichtet, daß er in dieser Zurückgezogenheit sein Gedicht schrieb, und zwar in B egriffen, die absichtlich dunkel sind, damit nur die fähigen Leute es lesen können und man He raklit nicht dafür schmähen kann, daß er von j edem beliebigen gelesen wird.41 Diese Rolle, diese Charakterisierung des Weisen, der grund sätzlich schweigt und nur spricht, wenn er [esJ will, und auch dann [nur] in Rätseln, steht im Gegensatz zur Persönlichkeit und den Merkmalen des Parrhesiasten. Der Parrhesiast ist nicht j emand, der sich grundsätzlich in Zurückhaltung übt. Im Gegenteil, seine Aufgabe, seine Pflicht, seine Mission besteht im Sprechen, und er hat nicht das Recht, sich dieser Aufgabe zu entziehen. Das sieht man gerade an Sokrates, der in der Apolo gie recht häufig daran erinnert: Gott hat ihm die Funktion zu gewiesen, die Menschen zu befragen, sie am Ä rmel zu packen, ihnen Fragen zu stellen. Und dieser Aufgabe wird er sich nicht entziehen. Selbst wenn er vom Tod bedroht ist, wird er seine Aufgabe zu Ende führen, bis zu seinem letzten Atemzug.42 Während der Weise sich in Schweigen hüllt und auf die Fragen,
iie man ihm stellen mag, nur s ehr sparsam, so wenig wie mög �ich antwortet, stellt der Parrhesiast unablässig, ständig und
unerträglich Fragen. Zweitens, während der Weise, gerade vor dem Hintergrund seines schweigsamen Wesens, in Rätseln spricht, muß der Parrhesiast so klar wie möglich sprechen. L�nd während schließlich der Weise sagt, was der Fall ist, indem ·er das Sein der Dinge und der Welt beschreibt, ergreift der Par ::hesiast das Wort und sagt zwar auch, was der Fall ist, aber er bezieht sich auf die Einzigartigkeit der Individuen, Situationen :md Gelegenheiten. Seine besondere Rolle besteht nicht darin, das Sein der Natur und der Dinge auszusagen. Ständig begeg n e n wir bei der Untersuchung der parrhesia diesem Gegensatz zwischen dem nutzlosen Wissen, das das Sein der Dinge und der Welt aussagt, und dem Wahrsprechen des Parrhesiasten, der sich immer bemüht, in Frage stellt, sich an die Individuen und Situationen hält, um zu sagen, was sie in Wirklichkeit sind, u m den Individuen die Wahrheit über sie selbst zu sagen, die sich ihren eigenen Augen entzieht, um ihnen ihre gegenwärtige Situation, ihren Charakter, ihre Fehler, den Wert ihres Verhal :ens und die möglichen Folgen ihrer Entscheidungen zu offen baren. Der Parrhesiast offenbart seinem Gesprächspartner nicht, was der Fall ist. Er enthüllt ihm oder hilft ihm zu erken nen, was er selbst ist. Die dritte Modalität des Wahrsprechens, die man mit dem \'>Denn wißt nur, Ihr Athener, wenn ich schon vor langer Zeit unternommen hätte, Staatsgeschäfte zu betreiben, so wäre ich schon längst umgekommen [ . . . ]. Werdet mir nur nicht böse [sagt er zu sei nen Richtern; M. F.], wenn ich die Wahrheit rede ! Denn kein 59
Mensch kann sich erhalten, der sich - sei es nun euch oder ei ner anderen Volksmenge - tapfer [gnesios: aus edlen Motiven; M. F.] widersetzt und viel Ungerechtes und Gesetzwidriges im Staate zu verhindern sucht.«8 Ein Mann, der aus edlen Motiven spricht und der sich wegen dieser edlen Motive dem Willen al ler entgegenstellt, setzt sich daher, so Sokrates, dem Tod aus. Es stellt sich folgendes Problem (wir werden entweder heute oder nächstes Mal darauf eingehen): Warum war Sokrates, der keine Furcht hatte, sich dem Tod im Namen einer bestimmten Praxis der parrhesia auszusetzen, die er nicht aufgeben wollte, den noch nicht gewillt, jene politische und demokratische parrhesia vor der Volksversammlung auszuüben ? Aber das ist eine ande re Frage.9 Jedenfalls wird hier diese Gefahr der parrhesia als Wahrsprechen in der demokratischen Praxis deutlich bezeich net, eine Gefahr, die nicht den Staat im allgemeinen betrifft, sondern das Individuum, das edle Motive hat, und das sich we gen dieser edlen Motive dem Willen der anderen widersetzen will. Dieselbe Art von Gefahren bringt Isokrates am Anfang der Rede über den Frieden zum Ausdruck, von der ich vorhin ge sprochen habe, wenn er beispielsweise sagt: »Ich mache aller dings die Beobachtung, daß ihr nicht allen Rednern die gleiche Aufmerksamkeit schenkt, sondern daß ihr den einen aufmerk sam zuhört, bei den anderen nicht einmal ihre Stimme ertragen könnt. Doch euer Verhalten ist keineswegs verwunderlich. Denn auch sonst seid ihr es ja gewöhnt, alle Redner von der Rednerbühne zu weisen, außer solche, die euch nach dem Mund reden.>ich nicht überrascht wäre, wenn diese Sprache [deren ich mich euch gegenüber bedient habe; M. F.] mich teurer zu stehen kommen würde als sie [die schlechten Redner; M. F.] das Ü bel zu stehen kommt, das sie euch zugefügt haben. Die Offenheit [der Freimut, die parrhe sia, sagt der Text; N. F.] mögt ihr nicht hinsichtlich aller The men leiden, und es erstaunt mich, daß ihr mich heute sprechen ließet.« 13 Hier entwickelt sich eine Art von parrhesiastischem Spiel, das bei den Rednern dieser Zeit und bei Demosthenes recht geläufig war und bei dem man versucht, den Hörer dazu zu zwingen, eine Wahrheit zu akzeptieren, die ihn verletzt, bei dem man das Volk von Athen dazu zwingt, sich sagen zu las sen: Ihr seid ein Volk, das mit dem Geld zufrieden ist, das man ihm für die Schauspiele gibt. Man zwingt es, diese verletzende Wahrheit zu akzeptieren, indem man es ein zweites Mal durch
einen neuen Vorwurf verletzt. Und dieser Vorwurf besteht darin, daß man sagt: Auf j eden Fall seid ihr nicht in der Lage, die Wahrheit zu akzeptieren. Erstens nehmt ihr Geld für die Schauspiele an und seid damit zufrieden. Zweitens kenne ich das Risiko, daß ich dadurch eingehe, daß ich euch dies sage, und ihr werdet mich wahrscheinlich dafür bestrafen, daß ich es euch gesagt habe. Das ist eine Art von Herausforderung und Erpressung, damit die wahre Rede ihren Platz einnehmen kann. In der Demokratie erscheint die wahre Rede ein Jahr hundert nach Euripides nicht mehr als ein Privileg, das derjeni ge besitzt, der eine Reihe von B edingungen erfüllt. Der wahre Diskurs kann sich nur aufgrund einer Operation des Heraus forderns und der Erpressung durchsetzen: Ich werde euch die Wahrheit sagen, ihr werdet mich wahrscheinlich bestrafen; aber wenn ich euch vorher sage, daß ihr mich wahrscheinlich bestrafen werdet, hindert euch das vermutlich daran, mich zu bestrafen, und gestattet mir, die Wahrheit zu sagen. Das ist derselbe Mechanismus, den man am Anfang der Dritten Philippika findet, wenn Demosthenes die unkontrollierte Zu teilung des Rederechts und seine grenzenlose Vergabe in den athenischen Institutionen anspricht. Er unterstreicht das Ver gnügen, mit dem das Volk j enen zuhört, die ihm schmeicheln, er erinnert an das Verschwinden der parrhesia als Wahrspre chen aufgrund dieser Institutionen und des Gefallens an der Schmeichelei, und er hebt die Risiken hervor, die er selbst ein geht, indem er so spricht, wie er es tat. Dann beginnt er erneut mit jener Herausforderung und Erpressung, indem er sagt: Entweder ihr verzichtet darauf, nur noch den Schmeichlern zuzuhören, und willigt ein, die wahre parrhesia anzuhören; oder ich werde schweigen. Es gibt also diesen Text (Dritte Phil ippika): >>WP.nn ich euch freimütig manche Wahrheiten sage, Athener, glaube ich nicht, daß ihr euch darüber zu ärgern habt. Denkt doch einmal nach. Ihr wollt, daß die Freimütigkeit (par rhesia) bezüglich jedes anderen Gegenstands ein Recht für je dermann in unserer Stadt sei; ihr gesteht es sogar den Fremden zu, und mehr noch den Sklaven; und tatsächlich könnte man
bei euch viele Diener sehen, die alles, was sie wollen, freimüti ger sagen, als es die Bürger in anderen Städten tun.« 14 Das ist also die parrhesia in der athenischen Demokratie: Jedermann sogar die Diener und die Sklaven - kann freimütig reden. Aber die parrhesia (den Freimut) in ihrem positiven Sinn, als Mut, die Wahrheit zu sagen, habt ihr von der Rednerbühne verj agt. Von dem Augenblick an, da die parrhesia zum Freiheitsspiel raum für j edermann wird, kann es keine parrhesia als Mut, die Wahrheit zu sagen, geben. Was ergibt sich nun hieraus ? Nun, sagt Demosthenes, es ergibt sich, daß ihr euch in den Versamm lungen daran ergötzt, daß man euch durch Reden schmeichelt, die zum alleinigen Ziel haben, euch zu gefallen. Aber dann, wenn sich die Ereignisse einstellen, ist euer Heil selbst in Ge fahr. Wenn ihr j etzt in dieser Verfassung seid - darin besteht die Herausforderung und Erpressung -, habe ich euch nichts mehr zu sagen, und es bleibt mir nur noch übrig zu schweigen. Wenn ihr dagegen wirklich zuhören und mich für die Wahrheit, die ich euch sagen werde, nicht bestrafen wollt, wenn ihr wirklich zuhören wollt, ohne zu verlangen, daß man euch schmeichelt, was euer Interesse gebietet, dann bin ich bereit zu sprechen. Auf diese Weise also vollzieht sich die Kritik an der demokrati schen parrhesia oder vielmehr der Hinweis auf eine gewisse Unmöglichkeit, die parrhesia in den demokratischen Institu tionen im vollen und positiven Sinne des Begriffs zum Einsatz zu bringen. Nur kann man sich dann die Frage stellen: Welcher Grund wird dafür angegeben, daß im Spiel der Demokratie die wahre Rede nicht über die falsche siegt ? Wie kommt es denn, daß ein mutiger Redner, ein Redner, der die Wahrheit sagt, nicht in der Lage sein soll, sich Anerkennung zu verschaffen ? Oder wie kommt es auch, daß Leute, die dem Redner zuhören, der die Wahrheit sagt, nicht in der Lage und imstande sind, ihm Gehör zu schenken und ihn anzuerkennen ? Wieso und wes halb, aus welchem Grund ist die Aufteilung zwischen wahrer und falscher Rede in der Demokratie nicht möglich ? Ich glau be, daß wir hier ein grundsätzliches Problem haben, das wir zu erfassen versuchen müssen. Woran liegt es, daß die wahre Rede
in der D emokratie ohnmächtig ist ? Liegt es an der Ohnmacht der wahren Rede an sich ? Gewiß nicht. Es handelt sich viel mehr um eine Art von kontextabhängiger Ohnmacht. Diese Ohnmacht rührt von dem institutionellen Rahmen her, in dem die wahre Rede auftritt und ihre Wahrheit geltend zu machen versucht. Die Ohnmacht der wahren Rede in der Demokratie rührt wohlgemerkt nicht von der wahren Rede her, von der Tatsache, daß die Rede wahr ist. Sie beruht auf der Struktur der Demokratie selbst. Warum erlaubt die Demokratie die Auftei lung in eine wahre und falsche Rede nicht ? Weil man in der De mokratie den guten und den schlechten Redner, die Rede, die die Wahrheit sagt und dem Staat nützt, und die Rede, die lügt, schmeichelt und schadet, nicht voneinander unterscheiden kann. Daß die Demokratie nicht der Ort der wahren Rede sein kann, ist ein Thema, das sich durch die Kritik hindurchzieht, der man während des gesamten 4. ]ahrhunderts [begegnet] . Um nun zu versuchen, das zentrale Argument, aus dem sich alle di � se Kri tiken entwickeln werden, einigermaßen zu erfassen, glaube ich, daß man sich auf die gewissermaßen ungeschliffenste, einfach ste, schematischste, roheste und gröbste, aber auch aufschluß reichste Formulierung beziehen kann. Dieses Prinzip, daß es in der Demokratie keine Aufteilung zwischen der wahren und der falschen Rede geben kann, findet man in einem Text ausgespro chen, der lange Xenophon zugeschrieben wurde, der [aber] in Wirklichkeit einen anderen Ursprung hat [und] vermutlich um die Wende vom 5. zum 4· Jahrhundert geschrieben wurde. Die ser Text ist der Staat der Athener (Politeia Athenaion). Tatsäch lich handelt es sich um ein Pamphlet, ein Pamphlet, das offen bar aristokratischen Ursprungs ist und das in Form einer leicht verdrehten, paradoxen Lobrede vorliegt, einer falschen Lobre de auf die athenische Demokratie, eines ironischen Gesangs zu ihren Ehren, der sich natürlich in eine heftige Kritik umkehrt. Unter dem Vorwand, alle Verdienste der athenischen Demo kratie glänzen zu lassen, bringt der Autor zu ihrer Stützung Gründe vor, die so lächerlich sind, Motive, die so verabscheu-
ungswürdig sind, daß die Lobrede sogleich als grundlegende und radikale Kritik an den athenischen Institutionen erkannt wird. Alle diese Abwandlungen der Form der Lobrede kamen in der griechischen Literatur des 4· Jahrhunderts häufig vor. In dieser paradoxen, kritischen, possenhaften Lobrede auf die athenische Demokratie gibt es eine Reihe von Zeilen, die genau dem Problem der parrhesia gewidmet sind. Sie stehen in Kapi tel l. An dieser Stelle erwähnt der Autor einige Staaten, in de nen, wie er sagt, die Geschicktesten (die Fähigsten, würden wir sagen), die Gesetze verabschieden. In diesen Staaten, sagt er, züchtigen und zügeln auch die guten Staatsbürger die schlech Ien und erlegen ihnen die notwendigen Strafen auf. Schließlich beratschlagen und entscheiden in diesen Staaten die rechtschaf fenen Männer (chrestoi), wohingegen man die Verrückten, die Wahnsinnigen (hoi mainomenoi: jene, die nicht bei Verstand sind) am bauleuein (an der Teilhabe an den beratenden und entscheidungstragenden Instanzen, die die Politik des Staats festlegen) hindert, anstatt ihnen das Rederecht einzuräumen. Diese Leute, die nicht bei Verstand sind (die Wahnsinnigen, die Verrückten), läßt man nicht an den Beratungen der Entschei dungsinstanzen teilhaben, man läßt sie nicht ihre Meinung ab geben, man billigt ihnen keine beratende Stimme in den Rats \·ersammlungen zu. Das ist aber nicht alles. Diesen Leuten, die nicht bei Verstand sind, gibt man in diesen Staaten nicht nur keinen Zugang zur Boule (zur Ratsversammlung), sondern man läßt sie nicht einmal sprechen (legein). Und nicht nur das, man läßt sie nicht einmal ekklesiazein (zur Ekklesia, zur Volks \·ersammlung kommen). Sie haben keinen Platz in der Volks versammlung, sie haben kein Recht zu sprechen und a fortiori haben sie kein Recht, ihre Meinung in den Ratsversammlungen kundzutun. In diesen Staaten, so der Autor des Textes, herrscht aufgrund all dieser Vorsichtsmaßnahmen die eunomia (die gute Verfassung, die gute Staatsform). 15 )I achdem er auf diese Weise die gute Staatsform bestimmt hat, d. h., nachdem er immerhin eine Reihe von Trümpfen ins Spiel gebracht hat, sagt der Autor der vorgetäuschten, ironischen,
paradoxen und possenhaften Lobrede auf die Institutionen Athens: Das große Verdienst Athens besteht gerade darin, auf diesen Luxus der eunomia verzichtet und diese Vorsichtsmaß nahmen nicht getroffen zu haben, die die Wahnsinnigen daran hindern, an der Ratsversammlung teilzunehmen, zu sprechen oder gar zur Volksversammlung zu kommen. Das große Ver dienst Athens, sagt er, ist es, diese eunomia zu vermeiden und solche Beschränkungen abgelehnt zu haben. Warum nimmt Athen diese Ordnung der eingeschränkten Rede und der guten Staatsform, der guten Verfassung nicht an ? Dafür nennt er die folgenden Gründe, und, wie gesagt, trotz ihres ungeschliffe nen, sophistischen, verdrehten Charakters ist die Argumentati on interessant, wie Sie sehen werden. Was geschieht in einem Staat, in dem nur die Besten allein das Rederecht besitzen, in dem die B esten ihre Meinung abgeben und entscheiden ? Die B esten versuchen - eben weil sie die Besten sind - Entschei dungen zu treffen, die mit dem Wohl, dem Interesse und dem Nutzen des Staats übereinstimmen. Nun ist aber das Gute, dasjenige, was dem Staat nützt, per definitionem das, was für die Besten des Staats gut, nützlich und vorteilhaft ist. Folglich dienen sie, indem sie den Staat dazu bewegen, Entscheidungen zu treffen, die für ihn von Nutzen sind, nur ihrem eigenen, egoistischen Interesse der B esten.1 6 Was geschieht nun aber in einer Demokratie, in einer wahrhaften Demokratie wie der athenischen ? Es gibt eine Staatsform, in der nicht die Besten, sondern die vielen (hoi polloi) die Entscheidungen treffen. Und wonach streben sie ? Danach, sich nicht irgendeiner Instanz unterzuordnen. In einer Demokratie wollen die vielen (hoi pol loi) 1 7 vor allem frei sein, keine Sklaven sein (douleuein) und nicht dienen.1 8 Wem wollen sie nicht dienen ? Sie wollen weder den Interessen des Staats noch denen der Besten dienen. Sie wollen selbst archein (gebieten). 1 9 Also werden sie danach stre ben, was für sie selbst nützlich und gut ist, denn worin besteht das Gebieten ? Es besteht darin, daß man fähig ist, zu entschei den und das durchzusetzen, was für einen selbst am besten ist. Aber weil sie die vielen (hoi polloi) sind, können sie auch nicht 66
die Besten sein, da ja die B esten per definitionem die Seltensten sind. Folglich sind sie nicht die Besten, da sie die vielen sind,
und da sie nicht die B esten sind, sind sie die Schlechtesten. Für wen ist also das, nach dem diese Schlechtesten streben, ein Gut ? Für die Schlechtesten im Staat. Nun ist aber das, was für die Schlechten im Staat schlecht ist, zugleich auch schlecht für den Staat. [Der Autor] kommt zu dem Schluß, daß in einem solchen Staat j edermann, den vielen, also den Schlechtesten das Recht zu sprechen zugestanden werden muß.20 Denn, so meint er, wenn die Rede und die Beratung das ausschließliche Privi leg der rechtschaffenen Leute wäre, wenn man die parrhesia nur den Besten einräumte, was würde dann wohl geschehen ? \Venn die parrhesia den Besten vorbehalten wird, würden die Besten das Wohl des Staats durchsetzen wollen, d. h. ihr eige n e s Wohl. Und wenn sie ihr eigenes Wohl, ihren eigenen Nut zen durchsetzten, dann könnte das nur zu ihrem eigenen Vor teil, dem der rechtschaffenen Leute, und zum Nachteil des Volkes sein.21 In einer echten Demokratie wie der athenischen darf d as Rederecht daher nicht den Besten vorbehalten sein, wenn man will, daß das, was gesagt wird, zum Vorteil des Vol kes und der vielen gesagt wird. Der Bösewicht, so der Autor, muß sich daher erheben und das Wort ergreifen können. Dann wird er aussprechen, was für ihn, den Bösewicht, und für sei nesgleichen, die Bösewichter, gut ist.22 Ich möchte nicht weiter auf diesen etwas sophistischen (wie Sie erkennen können) Argumenten beharren. Ich glaube j edoch, daß diese Spielereien interessant und wichtig sind. Denn auch \":enn ihre Logik offensichtlich völlig anfechtbar ist, glaube ich doch, daß sie eine Reihe von Prinzipien zur Anwendung brin gen, von denen man feststellen muß, daß sie im 4. ]ahrhundert in dieser Form der Kritik der Demokratie als Ort der parrhesia allgemein anerkannt wurden. Jedenfalls begegnet man diesen ;-erschiedenen Prinzipien in Formen des Denkens, die anson sten ernstzunehmender sind als dieses etwas karikaturhafte Pamphlet. Diese Prinzipien, die diesem und vielen anderen Texten zu-
grunde liegen, kann man folgendermaßen zusammenfassen und mir scheint, daß sie in einem gewissen Sinne eine Matrix und eine ständige Herausforderung für das politische Denken in der abendländischen Welt darstellten. Erstens haben wir ein Prinzip, das man das quantitative Prin zip oder, wenn Sie so wollen, das Prinzip des Gegensatzes nen nen könnte und das sich auf eine quantitative Unterscheidung gründet. Die Ü berlegung des Autors der Politeia Athenaion gesteht als selbstverständlich zu - und hunderte anderer Texte würden zeigen, daß Leute, die unendlich viel ernsthafter sind als er, auf dieselbe Weise urteilen und denselben Gegensatz ins Spiel bringen -, daß sich die Individuen in einem Staat in zwei große Gruppen einteilen lassen, die sich einzig und allein, aber grundsätzlich durch die Tatsache unterscheiden, daß die einen am zahlreichsten und die anderen am wenigsten zahlreich sind. Auf der einen Seite die »Menge«, auf der anderen »einige we nige« . Diese Absetzung zwischen »hoi polloi« und den »eini gen wenigen« bestimmt grundlegend den Gegensatz in der Ge sellschaft und die Konflikte, die sich dort abspielen können. Zugleich wirft sie die Frage auf, wer regieren soll. Das erste Prinzip ist also ein quantitativer Gegensatz. Das Prinzip der Skandierung der Einheit des Staates. Zweitens fällt dieser Gegensatz, dieses Absetzen der meisten gegen die anderen mit dem Gegensatz zwischen den Besten und den Schlechtesten zusammen. Die quantitative Aufteilung zwischen den Besten und den anderen hat denselben Grundriß wie die ethische Abgrenzung zwischen den Guten und den Schlechten. Man könnte das das Prinzip der ethisch-quantitati ven Isomorphie nennen (verzeihen sie den barbarischen Aus druck). Das dritte Prinzip, das diesem paradoxen Text zugrunde liegt, den ich Ihnen gerade zitiert habe, besteht darin, daß diese ethi sche Abgrenzung zwischen den B esten und den weniger Guten einer politischen Unterscheidung entspricht. Einerseits ist das, was für die Besten im Staat gut ist, auch für den Staat gut: Das Wohl der Besten ist das Wohl des Staates. Umgekehrt ist das, 68
was für die Schlechtesten gut ist, schlecht für den Staat: das Wohl der Schlechten ist das Ü bel für die Gesellschaft. Das könnte man das Prinzip der politischen Transitivität nennen. Der Wille der B esten, die nach dem Guten streben, ist für den Staat nützlich. Der Wille der Schlechtesten, die nach ihrem Wohl streben, ist schlecht für den Staat. Das hat zur Folge - und das ist das vierte Prinzip -, daß die Wahrheit im Bereich des politischen Diskurses - d. h., was für den Staat gut, nützlich und wohltuend ist - offenbar nicht in nerhalb der Demokratie, verstanden als Rederecht aller, gesagt werden kann. In einem Staat und einer politischen Struktur kann die Wahrheit nur aufgrund der Kennzeichnung, der Auf rechterhaltung und der Institutionalisierung einer wesent lichen Absetzung der Guten von den Schlechten zur Sprache kommen. Nur insoweit diese wesentliche ethische Unterschei dung wirklich Gestalt angenommen, ihren Ort gefunden und sich innerhalb des politischen Bereichs manifestiert hat, kann die Wahrheit gesagt werden. Und wenn die Wahrheit gesagt werden kann, dann kann das Wohl des Staates (das, was nütz lich und wohltuend für ihn ist) verwirklicht werden. Mit anderen Worten, damit der Staat existieren kann, damit er gerettet werden kann, ist die Wahrheit notwendig. Aber die Wahrheit kann nicht in einem politischen Umfeld gesagt wer den, das durch die Unterschiedslosigkeit zwischen den spre chenden Subjekten charakterisiert ist. Die Wahrheit kann nur in einem politischen Umfeld gesagt werden, das durch eine Absetzung gekennzeichnet und um sie herum organisiert ist, nämlich die Absetzung der meisten von den wenigen, die zu gleich die ethische Spaltung zwischen den Guten und den Schlechten ist, zwischen den B esten und den Schlechtesten. Deshalb kann das Wahrsprechen keinen Ort im Spiel der De mokratie haben, weil die Demokratie die ethische Aufteilung, aufgrund deren allein das Wahrsprechen möglich ist, nicht an erkennen und nicht einräumen kann. Es würde also nicht ge ::ügen zu sagen - wie es die ersten Texte andeuten mochten, die ich zitiert habe und die an jene aus dem vorigen Jahr anknüpf-
ten -, daß die allen zugestandene Freiheit der Rede das Risiko birgt, das Wahre und das Falsche zu vermischen, die Schmeich ler zu begünstigen und diej enigen, die das Wort ergreifen, per sönlichen Gefahren auszusetzen. All das ist zwar richtig, aber es ist nur die Folge einer ansonsten grundsätzlicheren, Struktu relleren Unmöglichkeit. Es gilt zu verstehen, daß nach [dieser Art] von Analyse, die wir anhand dieses paradoxen Textes zur Sprache brachten, die Form der Demokratie selbst dem Wahrsprechen keinen Platz einräumen kann, wenn der B este dem Schlechtesten unterworfen, die Wertordnung umgekehrt, statt dessen eine Unordnung eingeführt und der Widersinn aufrechterhalten wird. Sie kann es nur auslöschen, indem sie nicht auf es hört, wenn es sich ausspricht oder indem sie es physisch durch den Tod beseitigt [ 'r] . Von hier aus läßt sich verstehen, was man sehr schematisch - entschuldigen Sie, ich werde nur einen sehr groben Überblick geben - die platonische Wende und das aristotelische Zögern nennen könnte. Erstens die platonische Wende. Wenn es tatsächlich stimmt, daß die parrhesia in der Demokratie nicht anzutreffen ist, weil in ihr die notwendige ethische Spaltung fehlt, kann der wahre Diskurs, wird Platon sagen, von dem Augenblick an, wo man ihn durch die Philosophie und in Form der Philosophie als Grundlage der politeia geltend macht, die Demokratie nur beseitigen und ausmerzen. Man könnte auch hier sehr schema tisch sagen, daß zwischen der Demokratie und dem Wahr sprechen ein großer Kampf tobt: Wenn man die demokrati schen Institutionen betrachtet, sieht man einerseits, daß sie das Wahrsprechen nicht dulden können und daß sie es ausschalten müssen; wenn man das Wahrsprechen im Ausgang von der ethischen Entscheidung geltend macht, die den Philosophen und die Philosophie kennzeichnet, dann muß [andererseits] die Demokratie beseitigt werden. Entweder Demokratie oder Wahrsprechen. Im Anschluß an die Kritik der Demokratie, . . .
,,. Nach einer Leerstelle ist nur das Ende des folgenden Satzes zu hören: . . . demokratischen [ . . .], der Wahrheit einen Platz einzuräumen, auf sie zu hören und sie zu unterstützen. 70
daß sie unfähig sei, dem Wahrsprechen einen Platz einzuräu men, besteht die platonische Wende in der Bestätigung des Wahrsprechens als definierendes Prinzip einer politeia (einer politischen Struktur, einer Verfassung, einer Regierungsform), wodurch die Demokratie gerade sorgfältig ausgeschlossen wird. Ich verweise Sie darauf - ich vergaß, Ihnen den Text mit zubringen, aber sie können ihn selbst [lesenJ -, was im VI. Buch des Staats (Abschnitt 4 8 8 a-b) [dargelegt] wird. Das ist die Stel l e, die ich vorhin erwähnt habe, wo Platon sagt: Hör' mal, da mit wir uns richtig verstehen, werde ich ein Gleichnis bemühen müssen (ein ganz klassisches, ganz grundlegendes Gleichnis, das im gesamten politischen Denken der Griechen die Rolle ei ner Matrix spielt) . Man muß sich vorstellen, daß der Staat wie ein Schiff ist, mit einem Schiffsherrn, der zwar ein tapferer Mann guten Willens ist, aber ein bißchen kurzsichtig, und der nicht weiter als bis zu seiner Nasenspitze sieht - dieser Schiffs herr ist selbstverständlich das Volk. Um ihn herum gibt es nun eine Besatzung, die nur eines im Sinn hat, nämlich sich des Ru ders zu bemächtigen und es in ihrem Interesse zu steuern - das sind die Demagogen. Um das Ruder in ihre Gewalt zu bekom men, schmeichelt die Besatzung dem Schiffsherrn, übernimmt das Ruder und regiert, aber weder aufgrund irgendeiner Wis senschaft der Navigation noch des Meeres oder des Himmels, sondern aufgrund ihres Eigeninteresses. Die Demokratie kann sich nicht auf den wahren Diskurs berufen. Dagegen richtet sich im V I I . Buch23 der berühmte Abstieg der Philosophen in die Höhle, als man ihnen folgendes sagt, nachdem sie tatsäch lich die Wahrheit betrachtet haben: Was auch immer das Ver gnügen sei, das ihr beim Betrachten dieser Wahrheit verspürt habt, auch wenn ihr darin eure eigentliche Heimat erkannt habt, so wißt ihr doch genau, daß ihr in den Staat hinabsteigen und ihn regieren müßt. Ihr werdet eure wahre Rede gegen alle durchsetzen, die den Staat nach den Prinzipien der Schmeiche lei regieren wollen. Nach der Kritik der demokratischen par rhesia, die zeigte, daß es in der Demokratie keine parrhesia im Sinne des mutigen Wahrsprechens geben kann, zeigt die plato-
nische Wende also, daß eine Regierung und eine politeia, die gut sein wollen, sich auf einen wahren Diskurs gründen müs sen, der Demokraten und Demagogen verbannen wird. All das ist bekannt, ich möchte j edoch den Nachdruck etwas mehr auf das legen, was man das aristotelische Zögern nennen könnte, das - was auch immer die viel »demokratischeren« (in tausend Anführungszeichen) Empfindungen Aristoteles ' sein mögen - auf derselben Problematik beruht, auf derselben Schwierigkeit, die Existenz einer parrhesia, eines Wahrspre chens innerhalb demokratischer Institutionen zuzugestehen, wenn die Demokratie der ethischen Differenzierung zwischen den sprechenden, überlegenden und entscheidenden Subj ekten keinen Platz einräumen kann. Natürlich hat Aristoteles die schematischen und ungeschliffe nen Prinzipien, die ich vorhin erwähnte, beträchtlich ausgear beitet, modifiziert, umgewandelt und bis zu einem gewissen Grad auch aufgehoben. Beispielsweise hebt Aristoteles die Geltung des Prinzips, daß der Staat sich in zwei gegensätzliche Gruppen aufspaltet (die meisten und die wenigsten), einerseits zwar hervor, er ergänzt und modifiziert es aber auch und stellt es schließlich in Frage, indem er eine weitere Form des Gegen satzes ins Spiel bringt: den Gegensatz zwischen den Reich sten und den Ärmsten. In einem sehr interessanten Kapitel des I I I . Buchs der Politik stellt Aristoteles die Frage: Entspricht der Gegensatz zwischen den meisten und den wenigsten genau dem Gegensatz zwischen den Ärmsten und den Reichsten ?24 Kann man sich denn z. B. keinen Staat vorstellen, in dem die Reichsten am zahlreichsten und die Ä rmsten in der geringsten Anzahl vertreten wären ? Könnte man in diesem Fall noch von einer Demokratie sprechen, wenn man annimmt, daß die Macht den Ä rmsten ( d. h. den wenigsten) gegeben werde ? Mit anderen Worten, wenn man die Demokratie als eine Verfas sung definiert, in der die Macht in den Händen der meisten liegt, hat man es dann noch mit einer Demokratie zu tun, wenn die Reichsten am zahlreichsten sind ? Und wenn die Ä rmsten eine kleine Minderheit darstellen, kann sich dann ihre Macht
noch demokratisch nennen oder muß sie als aristokratisch be zeichnet werden ? Darauf erwidert Aristoteles - eine Antwort, die äußerst interessant und grundlegend ist und vielleicht bis zu einem gewissen Grad das Risiko beinhaltete, das ganze poli rische Denken der Griechen umzustürzen: Die Demokratie zeichnet sich durch die Macht der Ärmsten aus.25 Obwohl sie bei weitem in der Minderheit wären, genügt es, daß sie die :Yfacht ausüben, damit es sich um eine Demokratie handelt. :\lan sieht, daß er hier zögert und gewissermaßen den Gegen satz zwischen den Reicheren und den Ärmeren gegenüber dem Gegensatz zwischen den Zahlreicheren und den weniger Zahl :-eichen ausspielt, der den grundlegenden, allgemeinen und re lativ schwach entwickelten Rahmen bildete, welchem wir in anderen Texten begegneten. Zweitens stellt Aristoteles auch das andere Prinzip in Frage, das ich gerade erwähnt habe, demzufolge die meisten die Schlechtesten und die wenigsten zwangsläufig die Besten sind. Dieses Zusammenfallen des Gegensatzes zwischen den Besse ren und den Schlechteren mit dem Gegensatz zwischen den weniger Zahlreichen und den Zahlreicheren, diese ethisch quantitative Isomorphie stellt Aristoteles ebenfalls in Frage und bezweifelt sie. Das tut er [im] selben III. Buch der Politik Kapitel 4, Abschnitte I 2 76b- 12 77b ), wo er sagt: Aber was sind schließlich »die B esten« ? Sollte man nicht die Tugend des Staatsbürgers von der Tugend des Ehrenmannes unterschei den ? Gibt es nicht eine eigentlich politische Tugend, die darin besteht, daß das Individuum durchaus ein guter Staatsbürger sein kann, der seine Pflichten als Staatsbürger erfüllt, der auch wirklich nach dem Interesse des Staats strebt, der für den Staat nützliche Entscheidungen trifft ?26 Er wird also ein guter Staats bürger s ein, und dennoch ist er vielleicht nicht zwangsläufig ein tugendhafter Mann in dem Sinne, in dem man sagt, daß ein Ehrenmann im allgemeinen in allen Aspekten seines Lebens und Verhaltens tugendhaft ist. Kann man nicht ein guter Staats bürger sein, ohne wirklich ein Ehrenmann zu sein ? Aristoteles' Antwort darauf ist komplex und nicht einfach. Er unterscheidet ;
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diese Beziehung zwischen den beiden Tugenden für den Fall ei ner Person, die einfach regiert wird, und für den Fall eines Re gierenden. 27 Ich möchte nicht auf alle Details eingehen, aber Sie sehen, wie Aristoteles auch hier nicht schlichtweg naiv und grob diese Ü berlagerung zwischen den meisten und den wenigsten einerseits und den Schlechtesten und den B esten andererseits akzeptieren kann, die so lange grundlegend und anerkannt war. Er stellt die ethisch-quantitative Isomorphie in Frage. Drittens schließlich stellt Aristoteles auch das in Frage, was ich das Prinzip der politischen Umkehrbarkeit genannt habe: In dem sie ihr eigenes Interesse verfolgen, streben die B esten nach dem Wohl des Staats und verwirklichen dieses auch, während die Schlimmsten (die Schlechtesten) bei der Verfolgung ihres Eigeninteresses auf das abzielen und nur das erreichen, was dem Staat schadet. Aristoteles stellt dieses Prinzip im seihen I I I . Buch der Politik in Frage, indem er geltend macht, daß es für j ede Art von Regierung, ob es sich nun um die Monarchie, die Aristokratie oder die Regierung aller handelt, im Grunde durchaus zwei Ausrichtungen geben kann.28 Es kann sein, daß es eine Monarchie gibt, in der natürlich ein einziger gebietet. Diese Monarchie kann zwei Formen annehmen. Der Monarch kann durchaus allein regieren, indem er nur auf sein Interesse und nicht auf das des Staats absieht. Oder aber, er kann alleine regieren, indem er j edoch grundsätzlich, zunächst und vor al lem das Interesse des Staats im Auge hat. Dasselbe gilt für eine Aristokratie, die eine Aristokratie sein kann, deren Regierung entweder ihr eigenes Wohl oder das des Staats zum Ziel hat. Ebenso ist es bei der Regierung aller oder der meisten. Das be deutet, daß Aristoteles das Prinzip nicht anerkennt, daß die Regierung weniger nur die Regierung der B esten sein kann und daß diese Regierung der B esten im Interesse der Besten das Wohl des Staats [befördern wird] . Dagegen behauptet er im Prinzip, daß die Regierenden unabhängig von der Regierungs form entweder in ihrem eigenen Interesse oder in dem des Staats regieren können. Sie sehen also, daß j ene drei Prinzipien, die mit stillschweigen74
der Anerkennung und nur grob entwickelt im Text von Pseu do-Xenophon wirksam waren, von Aristoteles in Frage ge stellt, geprüft und bearbeitet werden. Auch wenn Aristoteles, ganz anders als Platon, aufgrund all dieser Dinge nicht zu dem Schluß gelangt, daß allein die wahre Rede einen Staat begrün den können soll und daß dieser Staat, insofern er durch die wahre Rede begründet ist, keine Demokratie sein kann, muß man doch wohl aus dieser Perspektive sagen, daß seine Positi o n im Hinblick auf die B eziehungen zwischen wahrem Dis kurs und Demokratie dennoch weder sehr klar und vor allem nicht ganz endgültig ist. Erstens, denken Sie bitte zunächst an j ene Textstelle, die sich [ebenfalls] im III. Buch der Politik befindet (Kapitel 7, Ab schnitt 1 279a-b), eine berühmte Stelle, mit der sich die Kom mentatoren lange abgemüht haben, ohne jedoch zu einer end gültigen Lösung zu kommen, zumal der Text vielleicht nicht absolut zuverlässig ist. Jedenfalls geht es in dieser Textstelle darum, die verschiedenen Regierungsformen zu benennen, und [Aristoteles] unterscheidet die >>Monarchie« von dem, was man mit >>Königtum« übersetzt bzw. stellt sie in einen Gegen satz dazu: Das Königtum ist eine Regierung vom Typ der Monarchie, >>die gerade das Gemeininteresse berücksichtigt«.29 \Xlir haben also diese Regierungsform, die Königtum genannt wird, bei der der Regierende nicht sein eigenes Wohlergehen zum Ziel hat, sondern das Wohl des Staats. Zweitens, so Ari stoteles, wollen wir eine Regierung >>Aristokratie« nennen, die eine Regierung weniger ist, bei der aber diese wenigen das Wohl des Staats und aller seiner Mitglieder im Auge haben. Was die dritte Form der Regierung angeht, bei der die größte Zahl regiert, nun, sagt Aristoles, es ist sehr schwer, ihr einen Namen zu geben, und ich kann sie nur mit dem allgemeinen Namen der politeia bezeichnen. Und warum gibt es für diese Form der Regierung, bei der die meisten regieren und bei der die meisten nicht auf ihr eigenes Wohl, sondern auf das Wohl des Staates abzielen, keinen besonderen Namen ? Aristoteles erläutert das folgendermaßen: Wenn es möglich ist, daß ein ein75
zelnes Individuum oder selbst eine kleine Zahl die anderen an Tugend übertrifft, so ist es doch sehr schwer, daß eine größere Zahl von Menschen »die Vollkommenheit in j eder Art von Tu gend erreicht«.30 Das ist ein rätselhafter Text, den man aber, glaube ich, nur auf folgende Weise verstehen kann: Wenn es nämlich zwei formale Möglichkeiten für die drei Arten von Regierung gibt - wenn es richtig ist, daß der Monarch im Falle der Monarchie entweder an seinem eigenen Vorteil oder an dem des Staats interessiert sein kann; wenn es im Falle der Ari stokratie eine Form der Aristokratie geben kann, die auf das Wohl der Aristokraten selbst und der wenigen abzielt oder aber auf das Wohl des Staats -, kann man dann beim Modell der D emokratie, in der die Menge regiert, wirklich erwarten, daß die Menge auf etwas anderes als ihr eigenes Wohlergehen ab zielt ? Der Text, so scheint es, sagt folgendes: In den ersten bei den Fällen kann man durchaus zugestehen, daß ein König oder einige wenige es nicht auf ihr eigenes Wohl, sondern auf das des Staates abgesehen haben. Warum kann man sich das vorstel len ? Nun, so der Text, weil es möglich ist, daß ein einzelnes In dividuum oder eine kleine Anzahl von Individuen die anderen an Tugend übertreffen. Es ist also ihre ethische Entscheidung, ihre ethische Differenzierung gegenüber den anderen, die es ermöglicht und garantiert, daß die Regierung im Interesse aller anderen handeln wird. Dagegen sei es sehr schwierig, daß eine größere Zahl von Menschen »die Vollkommenheit in jeglicher Art von Tugend erreichtin der Natur der Dinge S. I 3 8 - I 39· 25 '' · · · die Demokratie [besteht] umgekehrt, wenn nicht die B esitzenden, sondern die Armen (aporoi) regieren« (ebd., 1 279b, III. Buch, 8, S. I 3 8). 26 Ebd., 1 2 76b, III. Buch, 4, S. 1 30. 2 7 Ebd., I 2 na, III. Buch, 4> s. I 3 I . 2 8 Ebd., 1 279a, III. Buch, S . 1 3 7. 29 Ebd. 3 0 Ebd., 1 2 7 9a- 1 2 79 b, III. Buch, 7, S. I 3 7· 3 I Ebd., 1 2 84b, III. Buch, I ) , S. I 5 3 - I 54· 3 2 Ebd., 1 2 84b, III. Buch, I 3, S . I 53 (Aristoteles gebraucht hier den Vergleich mit dem Maler, dem Schiffsbaumeister und dem Chorleiter). 3 3 Aristoteles verwendet tatsächlich nur das B eispiel des Fußes. 34 Aristoteles, Politik, 1 2 84b, III. Buch, I ) , S. r 5 3 · 3 5 Ebd., r 2 84b, III. Buch, I 3 , S. r 5 3 · 3 6 Ebd. «
Vorlesun g
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(Sitzun g vom 8 . Februar 1 9 84, zweite Stunde)
Die Wahrheit und der Tyrann. - Das Beispiel Hierons. - Das Beispiel Peisi stratos'. - Die p s yc h e als Ort der ethischen Differenzierung. - Rückkehr zu Platons VII. Brief - Isokrates wendet sich an Nikokles. - Die Wandlung einer demokratischen parrhesia zu einer autokratischen parrhesia. - Die Eigentümlichkeit des philosophischen Diskurses.
Ich hatte Ihnen vorhin zu Beginn gesagt, daß die Problemati sierung der parrhesia im 4. Jahrhundert zwei Aspekte aufwies. [Der erste Aspekt bestand in] einer Kritik der Demokratie mit dem Anspruch, den politischen Rahmen zu bestimmen, in dem die parrhesia zugleich möglich und wirksam [wäre] : Die De mokratie ist nicht der privilegierte Ort der parrhesia, sondern im Gegenteil der Ort, an dem [die Ausübung] der parrhesia am schwersten ist. Jetzt möchte ich zu einem anderen Aspekt die ser Problematisierung der parrhesia übergehen, der das Ge g en stück oder die positive Seite dazu darstellt. Wenn die Demo kratie sich immer stärker als möglicher, privilegierter Ort der parrhesia disqualifiziert, erscheint nun umgekehrt ein anderer Typ von politischer Struktur oder vielmehr ein anderer Typ von Beziehung zwischen dem wahren Diskurs und der Regie rung immer mehr als dieser privilegierte Ort oder zumindest als förderlich für die parrhesia und das Wahrsprechen. Diese andere Beziehung - ich hatte sie letztes Jahr schon erwähnt, und dabei waren wir stehengeblieben - ist diej enige zwischen dem Fürsten und seinem Berater. Es ist nicht mehr die Volks versammlung, sondern der Hof, der Hof des Fürsten, die Gruppe j ener, die er anzuhören bereit ist. In diesem Rahmen, in dieser Form kann und muß die parrhesia ihren Platz fin den. D och hier muß man vorsichtig sein und nicht etwa glauben, daß die Beziehung zum Fürsten ganz plötzlich die aufgewerte te, sichere und garantierte Form einer politischen Struktur ist, in der die parrhesia ihre Rechte ausüben und ihre günstigen
Wirkungen finden kann. Man muß sich immer vor Augen hal ten, daß die Person des Fürsten, seine persönliche und monar chische Macht eine oder mehrere Gefahren beinhalten. Und diese Gefahren werden weder j emals vergessen noch ausge löscht. Hinter alledem steht immer und immer auf aktive Wei se - selbst wenn es gedämpft, selbst wenn es ein wenig verblaßt ist - das Bild des Tyrannen als desj enigen, der aufgrund seiner persönlichen Macht die Wahrheit nicht akzeptiert und sie nicht akzeptieren kann, denn er tut nur das und will nur das tun, was ihm gefällt. Er ist in seinem Willen, bloß das zu tun, was ihm gefällt, nur dazu bereit, den Schmeichlern zuzuhören, die ihm gerade das sagen, was ihm gefällt. Auch wenn er wirklich die Wahrheit hören wollte, würde es doch niemand wagen, sie ihm zu sagen. Dieses Schema, diese Figur, diese negative Bewertung der persönlichen, monarchischen, tyrannischen Macht ist eine Konstante im griechischen Denken. Eine der bezeichnendsten Formulierungen dieser Tatsache fin det man etwa bei Xenophon, aber zugunsren einer nicht-de mokratischen (aristokratischen oder monarchischen) Macht. Ich verweise Sie auf den Text mit dem Titel Hieron, in dem ebenfalls eine Art von paradoxem Spiel beschrieben wird. Si monides hält hier eine Lobrede auf das Leben des Tyrannen und richtet diese Lobrede an Hieron. Und Hieron antwortet auf j eden Grund, den Simonides vorbringt, um das Glück und die Glückseligkeit des Tyrannen zu besingen, mit einer Klage. Er beklagt sich über das harte Leben des Tyrannen. Und erst im letzten Kapitel stellt Simonides dem Tyrannen die Formel vor, nach der seine persönliche und monarchische Regierung für ihn und den Staat nützliche Wirkungen [haben] können wird. Jedenfalls sind die ersten Kapitel derjenigen Art von Spiel gewidmet, bei dem Simonides sich den Anschein gibt, das Lob des Tyrannen zu singen und bei dem Hieron mit Klagen antwortet. So ist beispielsweise ein Absatz ganz gezielt der Schmeichelei und der parrhesia gewidmet. Simonides beglück wünscht den Tyrannen und sagt zu ihm: Ach, ihr Tyrannen, wie glücklich ihr doch seid ! »Alle in eurer Umgebung loben al-
les, was ihr sagt und tut. Was den unerträglichsten Lärm be trifft, der zu hören ist, die Beleidigung, so erreicht dieser Lärm niemals eure Ohren; denn niemand wagt es, einen Tyrannen in seiner Anwesenheit zu tadeln. « 1 Worauf Hieron antwortet, in dem er sich über seine Lage als Tyrann beklagt und erklärt, wie schwer es ist, Tyrann zu sein: »Wie kannst du nur denken, daß ein Tyrann sich darüber freut, nichts Böses über sich zu hören, wenn man doch zutreffend weiß, daß diese schweigsamen Leu te gegen ihn nur üble Absichten im Schilde führen; und was glaubst du wohl, welches Vergnügen der Tyrann daran hat, sich loben zu hören, wenn er den Verdacht hegt, daß diese Lobre den immer nur von der Schmeichelei diktiert werden ?«2 Diese Darstellung der Tyrannis als Regierungsform, die mit dem Wahrsprechen unverträglich ist, der Tyrannis als Wahlhei mat für das Schweigen und die Schmeichelei, ist ein Gemein platz, den man sehr häufig und auf verschiedene Weise abge wandelt in der gesamten griechischen Literatur antrifft. Ich verweise Sie auf die interessante Passage in der Politik, wo Ari stoteles sagt, daß der Tyrann Spione in die Stadt schickt, die ihm sagen sollen, was dort wirklich geschieht und was die Bür ger wirklich denken.3 Und Aristoteles' Kommentar dazu lau tet, daß dieser Versuch der Tyrannen, die Wahrheit über die Stadt herauszufinden, nur zu einem Ergebnis führen kann, das dem, wonach sie streben, genau entgegengesetzt ist. Denn wenn die Bürger wissen, daß sie von Leuten ausspioniert wer den, die dem Tyrannen die Wahrheit über das berichten wer den, was sie sagen oder denken, dann werden sie natürlich das, was sie sagen und denken, verbergen, und der Tyrann wird die Wahrheit nicht herausfinden können. Außerdem findet man die Vorstellung (ebenfalls bei Aristoteles, Politik, V, r r, I 3 I 3 b ), daß es für das Wahrsprechen genauso schwer ist, einen Platz in der Tyrannis zu finden wie in der Demokratie oder der D ema gogie (eine negative, abwertende Formel für die Demokratie). Die Schmeichelei wird dagegen, so Aristoteles, in diesen bei den Regierungsformen hoch geschätzt. In den Demokratien spielt der Volksführer die Rolle des Schmeichlers, denn er ist
eine Art von »Höfling des Volkes« . In den Tyranneien » [sind es] die Höflinge«, die die Rolle der Schmeichler spielen. Die se Vertrautheit mit dem Tyrannen ist nichts anderes als ak tivste Schmeichelei. »Denn sie [die Tyrannis] liebt, daß man ihr schmeichelt, und das wird keiner von freier Gesinnung tun.«4 Aber was auch immer die beständigen Gefahren sein mögen, die im griechischen Denken den tyrannischen Regierungen zu geschrieben werden, was auch immer die Gefahr sei, der das Wahrsprechen in dieser Regierungsform begegnen kann, so er kennt man doch der parrhesiastischen Praxis in der Beziehung zwischen dem Fürsten und dem, der die Wahrheit sagt, zwi schen dem Fürsten und seinen Beratern, einen Platz zu. Und das Verhältnis zwischen dem Fürsten und seinem Berater ist für die parrhesia schließlich ein günstigerer Ort als das Verhält nis zwischen dem Volk und den Rednern. Die Tatsache, daß der Souverän der Wahrheit zugänglich sein soll, daß es in der Beziehung zum Souverän einen Ort, einen Platz, eine Stelle für das Wahrsprechen geben soll, wird von ei ner Reihe von Autoren anerkannt. Aristoteles [liefert] dafür im Staat der Athener eine sehr genaue [Illustration] am Beispiel von Peisistratos, der zwar ein Tyrann ist, von dem er aber ein positives Bild zeichnet, indem er von ihm sagt, daß er Athen metrios (maßvoll) regierte kai mallon politikos he tyrannikos (und eher republikanisch oder demokratisch als tyrannisch).5 Für diese eher republikanische oder demokratische als tyranni sche Regierung gibt er ein Beispiel von parrhesia an. Als Peisi stratos auf dem Lande spazieren geht, begegnet er einem arbei tenden Bauern. Er fragt ihn, woran er arbeitet und was er über seine Lage denkt. Der andere antwortet ihm: Ich würde mit Vergnügen arbeiten, wenn ich nicht ein Zehntel meines Ein kommens an Peisistratos abgeben müßte.6 D er Bauer hatte ihn natürlich nicht erkannt, aber aus dieser Art von unabsichtli cher parrhesia zieht Peisistratos eine Lehre und befreit den Bauern von seinen Steuern. Auf dieselbe Weise bezieht sich Platon auf Kyros, den Herrscher von Persien. In den Gesetzen 86
(im IIL Buch, 694c ff.) stellt er beispielsweise Kyros [als] einen der parrhesia zugänglichen Herrscher dar. Vom Hofe des Ky
gibt er folgende Darstellung: Die Untergebenen hatten An teil an der Freiheit, was zur Kühnheit der Soldaten und zur Freundschaft mit den Heerführern beitrug. Und wie der König ihren Freimut (parrhesia) ohne Neid zuließ und diej enigen ehrte, die eine Meinung zu irgendeiner Sache beisteuern konn :.:en, so stellte auch j eder, der klug war und guten Rat wußte, seine Kompetenz und Fähigkeiten in den Dienst aller. Daher konnte dank der Freiheit, der Freundschaft und der Gemein schaft in kurzer Zeit bei den Persern alles gedeihen.7 Folglich ist ein Hof, an dem Redefreiheit [herrscht] und wo die Berater ,-on der parrhesia Gebrauch machen können, ein einheitsstif tender Faktor für den Staat und für den Erfolg seiner Unter nehmungen. \'rlir haben hier also eine ganze Reihe von Texten, die das Ver hältnis zum Fürsten als Ort der parrhesia wertschätzen. Aber und hier liegt nun das Problem, auf das ich j etzt eingehen möchte - man muß eine Antwort auf eine Frage finden, die sich spiegelbildlich zu jener verhält, welche sich vorhin mit B ezug auf die Demokratie stellte. Die Frage war folgende: Warum ist die Demokratie ein so schwieriger, so unwahrscheinlicher, so gefährlicher Ort für das Auftreten des Wahrsprechens ? Den wesentlichen und gewissermaßen strukturellen Grund dafür haben wir gesehen: Er bestand in der Unmöglichkeit des politi schen Umfeldes der Demokratie, der ethischen Differenzie rung einen Platz und Ort einzuräumen. Umgekehrt stellt sich nun die Frage, warum das Verhältnis zum Fürsten ein solcher Ort sein könnte, wo doch die Macht, die der Fürst ausübt, per definitionem grenzenlos und oft auch gesetzlos und deshalb zu allen Gewalttaten imstande ist ? Der Grund dafür - der spiegelbildlich und im umgekehrten Ver hältnis zu dem steht, was wir im Hinblick auf die Demokratie gefunden haben - ist, daß die Seele des Oberhaupts als solche und insofern sie eine individuelle Seele ist (die psyche eines Individuums) sich einer ethischen Differenzierung unterzieros
hen kann, die zugleich vollzogen, wertgeschätzt, gestaltet und dazu auserkoren wird, Wirkungen zu erzielen dank der mora lischen Bildung und Entwicklung, einer Entwicklung, die ihn einerseits in die Lage versetzt, die Wahrheit zu hören, und ihn andererseits und als Folge davon lehrt, seine Macht zu begren zen. Das Wahrsprechen kann seinen Ort im Verhältnis zum Oberhaupt, zum Fürsten, zum König, zum Monarchen ganz einfach deshalb haben - um es ganz roh und grob zu sagen -, weil er eine Seele hat, weil diese Seele überzeugt und gebildet werden kann und weil man ihr durch den wahren Diskurs das ethos beibringen kann, das sie in die Lage versetzt, die Wahr heit zu hören und sich entsprechend dieser Wahrheit zu verhal ten. Genau auf diese Weise hat Platon, Sie erinnern sich, später die Reisen, die er nach Sizilien unternommen hatte, aufgefaßt oder zumindest gerechtfertigt, und gerade auch sein Unterfangen bei Dionysios dem Jüngeren. In dem berühmten VII. Brief, den ich letztes Jahr kommentiert hatte,8 entwickelt Platon seine Rechtfertigung in drei Schritten. Erstens ist er nach Sizilien [gefahren], um sich um die Erziehung Dionysios' zu küm mern, weil er eine erste positive Erfahrung mit einer bestimm ten Person, nämlich Dion (dem Onkel von Dionysios), ge macht hatte, der durch seine Fähigkeit, die Philosophie zu lernen und sie in angemessenes Verhalten umzusetzen, gezeigt hatte, daß die Erziehung Platons Wirkungen auf eine Seele aus üben konnte, und zwar auf j emanden, der zum Regieren auser sehen ist. »Denn Dion, welcher bekanntlich sehr große Lern fähigkeit hatte, war überhaupt, insbesondere aber bei dem Vortrage meiner Ideen über die moralisch-politische Verbesse rung der Menschheit, ein so aufmerksamer und fleißiger Zuhö rer wie keiner der jungen Leute, welche ich unterrichtete; auch die Praxis seines übrigen Lebens beschloß er [nachdem er die Vorlesungen Platons gehört hatte; M. F.] ganz anders einzu richten als das der meisten Italer und Sizilier, indem er das Le ben eines tugendhaften Mannes weit lieber gewann als das des sinnlichen Vergnügens und der übrigen vornehmen Ü ppig88
keit.«9 Der erste Grund ist also der Erfolg in diesem besonde ren Fall. Der zweite Grund, nach Sizilien zu fahren, verbindet sich mit dem ersten und schließt an ihn an: Nach dem Tod von Dionysios dem Älteren empfängt Dionysios der Jüngere die Macht. Die »Jugend des Dionysios und die Wärme seines Ver langens nach philosophia (Philosophie) und paideia (Bildung, Kultur, Erziehung) «,10 seine Umgebung, die immer bereit war, die Lehre (logos) und das Leben (bios) anzunehmen, die von Platon empfohlen wurden, all das stellte einen zweiten günsti gen Faktor dar.U Drittens schließlich spielte die Tatsache eine Rolle, daß Dionysios, der von seinem Onkel beraten wurde und alle guten Voraussetzungen für die philosophia und die paideia mitbrachte, von seinem Vater gerade eine persönliche, absolute Macht empfangen hatte. Dank dieser persönlichen Macht würde es möglich sein, sobald man Zugang zu seiner Seele hätte, auch Zugang zur Stadt, zum Staat, zur politeia zu haben, die er regierte. Platon sagt folgendes: »Als ich daher so die Sache überlegte und hin und her schwankte, ob ich gehen oder wie ich es machen sollte, so gab doch zum Gehenmüssen den Ausschlag [und führte mich schließlich zur Entscheidung, nach Sizilien zu fahren; M. F.] folgender Gedanke: jetzt oder nie müsse man den Versuch machen, wenn man seine Ideen über Staatsgesetze und Staatsverfassung verwirklichen wollte [der griechische Text sagt ganz ausdrücklich: wenn man die Dinge verwirklichen wollte, die ich über die Gesetze und über den Staat gedacht hatte; M. F.]; hätte ich nur einen (hena mo n o n ) von der Wahrheit meiner moralischen Reformidee des Staates vollkommen überzeugt, so würde ich alles Heil dersel ben in der Welt realisiert haben . « 1 2 :\1an kann wohl sagen, und der VII . Brief bestätigt das, daß die s e große Hoffnung enttäuscht wurde und daß das ganze Unter fangen in einem Mißerfolg endete. Aber man sollte verstehen, da.!S der Mißerfolg, den Platon auf Sizilien erleidet und dessen ·�i.nzelne Episoden er beschreibt, von ihm nicht als eine Art von strukturellem Mißerfolg aufgefaßt wird. Einerseits ist die De :nokratie strukturell unfähig, der parrhesia einen Platz einzu-
räumen, doch wenn das Wahrsprechen Platons, wenn seine philosophische Veridiktion bei Dionysios dem Jüngeren nicht verfangen hat und auf Sizilien gescheitert ist, dann eigentlich nur aus historischen und die besondere Gelegenheit betreffen den Gründen: Dionysios' üble Natur, seine üble Umgebung, alle Intrigen, denen Platon begegnet ist und denen er am Hofe Dionysios' entgegenzutreten hatte, [und] schließlich später die Ermordung Dions. Hier handelt es sich - das macht diesen VII. Brief so besonders, weil es im Grunde um einen historischen Bericht geht (von allen Texten Platons ist er zusammen mit dem VIII. Brief die einzige detaillierte Erzählung eines histo rischen Ablaufs) - um historische, einzigartige, auf eine be stimmte Gelegenheit bezogene Gründe, die bemüht werden, um den Mißerfolg der platonischen parrhesia auf Sizilien zu er klären. Das Prinzip an sich steht nicht in Frage. Den Gebieten den eine philosophische Bildung zuteil werden zu lassen stellt weiterhin ein Ziel dar. [Im Falle des Dionysios'] handelt es sich also um einen auf bestimmte Umstände zurückgehenden Miß erfolg. Bei einer demokratischen Verfassung haben wir dage gen einen strukturellen Mißerfolg, eine strukturelle Unmög lichkeit der parrhesia. Ich glaube, daß Platon die Vorstellung hatte, daß die parrhesia gegenüber dem Fürsten immer riskant ist, immer scheitern kann, immer auf ungünstige Umstände treffen kann, aber nicht an sich unmöglich ist und immer die Mühe lohnt, unternom men zu werden. Man findet sie auf dieselbe Weise in einem Text von Isokrates, am Beginn der Rede, die an Nikokles gerichtet ist. Die Person des Nikokles stand Dionysios dem Jüngeren nicht sehr fern, zumindest was seine politische Lage betraf. Er war der Sohn eines Tyrannen, nämlich Evagoras. Evagoras ist gerade gestorben. Nikokles empfängt die Macht bzw. die Au torität in seinem Stadtstaat, und genau zu dieser Zeit wendet sich Isokrates an ihn. Er beginnt damit, alle Leute aufzuzählen, die als Höflinge den Regierenden, den Königen (tois basileusin) verschiedenste Geschenke, Kleider und Gold bringen.13 Was mich betrifft, sagt Isokrates, so möchte ich kein derartiges Ge-
schenk darbringen. Ich meine, daß das Geschenk, das ich brin ge, >> das schönste« ist: »[ . ] wenn ich dir Richtlinien (epitedeu mata) geben könnte, womit du dich beschäftigen sollst und was du unterlassen mußt, um deine Polis und dein Königreich am besten zu regieren. Für Privatleute nun gibt es viele Voraus setzungen, die zu ihrer Erziehung beitragen [ . ]. Alleinherr scher aber haben diese Möglichkeiten nicht, im GegenteilSie [ d. h. die Könige und Herrscher; M. F.], die mehr als alle anderen Erziehung nötig hätten, bleiben, wenn sie an die Macht gekommen sind, ihr Leben lang ohne Kritik. prechen können, dieses berühmte Verbot des Dämons, das ihn zurückgehalten und ihn daran gehindert hat, sich auf den öf :entlichen Platz zu b egeben, hat in der Tat eine Teilungslinie gezogen und, wie mir scheint, im griechischen und somit im :.bendländischen Denken die Trennung zwischen [einer] Praxis des politischen Wahrsprechens, die ihre Gefahren besitzt, und e:ner anderen Praxis des Wahrsprechens markiert, die sich ganz anders gebildet hat, die ganz anderen Regeln gehorcht ;md mit ganz anderen Zielen verbunden ist, die jedoch - das Beispiel und die Geschichte Sokrates' beweisen es zur Genü ge genauso gefährlich ist. Folglich haben wir zwei Arten des J.Iutes, die Wahrheit zu sagen, die sich um diese rätselhafte Li ::ie herum abzeichnen und aufteilen, eine Linie, die von der Stimme des Dämons, die Sokrates zurückgehalten hatte, gezo gen bzw. markiert wurde. Lnd nun möchte ich folgende Bemerkungen hinzufügen. In der Darstellung der anderen Form mutiger Veridiktion, j ener .mderen Form der Veridiktion, die der Seinsgrund des ganzen ersten Teils der Apologie ist, diesem zugrunde liegt und ihn durchzieht, findet man leicht Hinweise auf andere Typen der Veridiktion, über die ich letztes Mal und vorletztes Mal ge sprochen habe (die Veridiktion der Prophezeiung, die Veridik :ion der Weisheit, die Veridiktion der Lehre). Ich hatte Ihnen auf schematische und gewissermaßen synchronische Weise zu sagen versucht, daß man in der griechischen Kultur vier große Formen des Wahrsprechens finden könne: das Wahrsprechen des Propheten, das Wahrsprechen des Lehrers, des Technikers {des Mannes der techne) und dann die Veridiktion des Parrhe siasten. Ich glaube, daß die anderen drei Formen der Veridikti on (Prophezeiung, Weisheit und Lehre) in der Apologie des So hates explizit vorkommen. Sokrates hat bei seinem Versuch der Bestimmung, worin seine Mission besteht, ganz ausdrück lich die unterscheidenden Punkte zu den anderen Formen der Veridiktion gekennzeichnet, und er hat gezeigt, wie er seinen eigenen Weg zwischen [diesen] verfolgte. Erstens - das haben wir vorhin gesehen, das war sogar unser -
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Ausgangspunkt -, im Vergleich mit der prophetischen Veridik tion hat Sokrates in der Tat die Mission seiner parrhesia mit dem prophetischen Wort des Gottes begonnen, den man dort befragt hatte, wo er eben seinen prophetischen Diskurs hält, nämlich in Delphi. In diesem Sinne stützt sich also Sokrates' gesamte neue parrhesia - worauf er aus einer Reihe von Grün den großen Wert legt - auf die Prophezeiung des Gottes, was ihm erlaubt, den Vorwurf der Gottlosigkeit abzuweisen. Wir hatten aber auch gesehen, und das ist wichtig, daß Sokrates die ser Prophezeiung des Gottes oder, wenn Sie so wollen, der prophetischen Haltung und der Anhörung der wahren Rede des Propheten eine Reihe von Wendungen verleiht, indem er die Worte des Gottes einer Untersuchung unterzieht, die in ei ner B efragung umgesetzt wird und auf die Wahrheit gerichtet ist. Er hat das prophetische Wort und seine Wirkungen aus dem Bereich der Wirklichkeit, in dem seine Verwirklichung er wartet wird, in den Spielraum der Wahrheit transponiert, in dem man prüfen will, ob dieses Wort wirklich wahr ist. Es han delt sich also um die Transposition der prophetischen Veridik tion in den Bereich der Wahrheit. Zweitens gibt es in dem Text auch einen sehr offensichtlichen Bezug auf das Wahrsprechen der Weisheit, auf das Wahrspre chen des Weisen. Sie finden sie an der Stelle, wo Sokrates an die Anklage erinnert, deren Opfer er ist, eine sehr alte Anklage, die viel weiter zurückgeht als die des Anytos und des Meletos. Diese Anklage bestand in der Behauptung, daß Sokrates gott los sei, daß er schuldig sei, daß er eine Ungerechtigkeit began gen habe (adikein), weil er versuchte zu erkennen, was sich im Himmel und unter der Erde zuträgt, und dadurch die schwä chere Rede zur stärkeren machte (eine herkömmliche Formel, um auszudrücken, daß er zur Verwechslung des Falschen mit dem Wahren anreizte).39 Das Wort, das hier verwendet wird, ist zetein (suchen), dasselbe Wort, das Sokrates verwendete. Denn Sokrates will gerade zeigen, daß das, was er tut, im Ge gensatz zu den gegen ihn erhobenen Anklagen, sich völlig von der zetesis unterscheidet, von j ener Tätigkeit, die darin besteht, 122
das zu suchen (zetein ), was im Himmel oder unter der Erde vor sich gehen könnte. B ei r 8d fordert er seine Zuhörer heraus, j e
:nanden zu finden, der ihn von diesen Dingen so hätte reden hören. Er hat nie darüber gesprochen, was im Himmel und un :cr der Erde vorgeht, und außerdem zeigt er in der gesamten Apologie, daß das, womit er sich beschäftigt, überhaupt nicht das Sein der Dinge und die Ordnung der Welt ist, was hingegen der Diskurs der Weisheit zum Gegenstand hat. Er spricht nicht vom Sein der Dinge und von der Ordnung der Welt, sondern •:on der Prüfung [epreuve] der Seele. Die sokratische zetesis steht insofern im Gegensatz zu der des Weisen, der danach strebt, das Sein der Dinge und die Ordnung der Welt zu be schreiben, als es bei der zetesis (der Erforschung) der Seele um die Seele und die Wahrheit der Seele geht. Es gibt also nicht nur eine Unterscheidung im Hinblick auf das prophetische Wahr sprechen, sondern auch eine Unterscheidung bzw. einen Ge gensatz im Hinblick auf das Wahrsprechen der Weisheit. Schließlich kennzeichnet Sokrates drittens auch den Unter schied zwischen seiner Veridiktion und dem Wahrsprechen j e ner, die bestimmte Techniken kennen und besitzen und in der Lage sind, diese zu lehren. Auch hier sagt er es ganz ausdrück lich mit B ezug auf die gegen ihn erhobene Anklage, als man behauptete, daß er versucht habe, die Untersuchungen, die er durchgeführt hatte, zu lehren (didaskein).40 Worauf er auch hier auf zweierlei Weisen antwortet. Auf die Sache bezogen und unmittelbar, indem er recht energisch verkündet, daß er sich nicht wie jene Sophisten, nämlich Gorgias, Prodikos oder Hippias, verhält, die ihr Wissen gegen Geld verkaufen und ge wöhnliche Lehrer sind.41 Aber dann antwortet er auch durch die ganze Apologie hindurch, indem er seine beständige Un wissenheit hervorkehrt und zeigt, daß er nicht wie ein Lehrer ruhig und ohne Risiko denen, die wissen, sein eigenes Wissen beibringt bzw. das, was er zu wissen vorgibt oder zu wissen glaubt. Im Gegensatz dazu zeigt er den anderen mutig, daß sie nicht wissen und daß sie sich um sich selbst kümmern müssen. 123
Insgesamt begründet Sokrates also gegenüber den rätselhaften Worten des Gottes eine Untersuchung, eine Befragung, die nicht zum Ziel hat, die Verwirklichung dieser Worte abzuwar ten oder sie zu verhindern. Er verschiebt die Wirkungen, in dem er sie in einer Untersuchung der Wahrheit verankert. Zweitens macht er im Vergleich zu den Worten, der Veridikti on, dem Wahrsprechen des Weisen den Unterschied durch eine radikale Unterscheidung des Gegenstands fest. Er spricht nicht von derselben Sache, und ihre Untersuchung b ezieht sich nicht auf denselben Gegenstandsbereich. Schließlich begründet So krates gegenüber der Rede des Unterrichts einen Unterschied durch eine Umkehrung, wenn Sie so wollen. Dort, wo der Leh rer sagt: Ich weiß, und: Hört mir zu, sagt Sokrates: Ich weiß nichts, und wenn ich mich um euch kümmere, dann nicht, um euch das Wissen beizubringen, das euch fehlt, sondern damit ihr lernt, euch um euch selbst zu kümmern, da mir klar ist, daß ihr nichts wißt. Sie sehen also, daß Sokrates in diesem Text der Apologie im Grunde zwei Dinge tut, die ich folgendermaßen zusammenfas sen werde: Erstens, sein eigenes Wahrsprechen von den ande ren drei großen [Modalitäten] des Wahrsprechens, denen er um sich herum begegnet (Prophezeiung, Weisheit, Lehre) radikal zu unterscheiden; zweitens, wie ich Ihnen erklärt habe, zu zei gen, inwiefern für diese Form der Veridiktion, die parrhesia, Mut notwendig ist. Aber dieser Mut soll nicht auf einer politi schen Bühne zum Einsatz kommen, auf der sein Auftrag in der Tat nicht erfüllt werden könnte. Diesen Mut zur Wahrheit muß er in Form einer nicht-politischen parrhesia ausüben, einer parrhesia, die sich durch die Prüfung der Seele vollzieht. Dies wird nun eine ethische parrhesia sein. Als Schlußfolgerung möchte ich folgendes sagen. Man sieht hier, wie sich eine andere parrhesia abzeichnet, die man nicht der Gefahr der Politik aussetzen darf, zum einen, weil sie eine ganze andere Form aufweist, weil sie mit der Rednerbühne und den Formen der Rhetorik, die dem politischen Diskurs eigen tümlich sind, unverträglich ist, und weil sie andererseits Gefahr 1 24
�icfe, zum Schweigen gezwungen zu sein, gleichgültig, ob sie ;·ersuchen würde, sich in einer Demokratie oder in einer Olig zchie zu manifestieren. [Dennoch] ist diese parrhesia, die man -.-or dem politischen Risiko bewahren muß, für den Staat nicht ;;; e niger nützlich. Das wiederholt Sokrates unablässig durch die gesamte Apologie hindurch: Wenn ich euch dazu anstache : e, euch um euch selbst zu kümmern, dann bin ich für den gan zen Staat von Nutzen. Und wenn ich mein Leben schütze, dann gerade im Interesse des Staates. Im Interesse des Staates �regt es, den wahren Diskurs, die mutige Veridiktion zu schüt z en, die die Bürger anhält, sich um sich selbst zu kümmern. S;; hließlich wird sich die Philosophie - als mutige Veridiktion, 2-ls nicht-politische parrhesia, die jedoch in einer wesentlichen Beziehung zum Nutzen für den Staat steht - entlang der ge samten Kette dessen entfalten, was man die große Kette der Sorge und der Fürsorge nennen könnte. Weil der Gott sich um die Menschen sorgte, hat er Sokrates als den weisesten Men sÜ Kriton, das Leben ist =ine Krankeit ! < «8 Wir haben also nicht nur Lamartine, sondern :uch Nietzsche. Vielleicht werden sie nun um so überzeugter s-e : n .
Schwerwiegender und wichtiger j edoch ist der Umstand, daß ::nan in der Spätantike einen Kommentar findet, den Olympio .i oros, einer der Großen des Neoplatonismus, dem Phaidon Absatz 1 0 3) gewidmet hat.9 Wozu das Hahnopfer an Asklepi0S ? Damit, so Olympiodoros, das geheilt wird, was die Seele 133
en te genesi (im Werden, in der Zeit) erlitten hat. Die Seele wird also durch den Tod in die Ewigkeit eingehen und der genesis (dem Werden, seinen Veränderungen und seinem Verfall) ent rinnen, und indem der Körper stirbt, wird sie folglich von allen Ü beln geheilt werden, die mit der genesis verbunden sind. Das ist zwar nicht ganz die Vorstellung, daß das Leben s elbst eine Krankheit ist, aber alle diese Vorstellungen sind miteinander verwandt, und man kann sagen, daß es diese Interpretation der letzten Worte des Sokrates tatsächlich seit fast zweitausend Jahren gibt, der zufolge ein Opfer angemahnt wird, um dem gegenwärtigen und über diesen Tod wachenden Gott dafür zu danken, daß er Sokrates von der Krankheit des Lebens befreit hat. Dennoch waren mehrere Leute mit dieser Interpretation nicht sonderlich zufrieden. Insbesondere machten zwei davon den vorrangigen, grundsätzlichen und wesentlichen Grund gel tend, daß die Vorstellung, das Leben sei eine Krankheit, de ren Heilung der Tod darstellt, keinesfalls mit der ganzen so kratischen Lehre übereinstimmt und zusammenpaßt. Gerade Nietzsche hat das gesehen (Aphorismus 3 40 der Fröhlichen Wissenschaft, der den Titel trägt Der sterbende Sokrates ) . Denn auch wenn er sagte, daß der Sinn, den man der Formel >> Kriton, ich bin dem Äskulap einen Hahn schuldig« zuweisen sollte, durch »Ü Kriton, das Leben ist eine Krankheit« auszudrücken s ei, so hat er doch innerhalb derselben Passage diese traditio nelle Interpretation reformuliert: >>Ich bewundere die Tapfer keit und Weisheit des Sokrates in allem, was er tat, sagte - und nicht sagte. Dieser spöttische und verliebte Unhold und Rat tenfänger Athens, der die übermütigsten Jünglinge zittern und schluchzen machte, war nicht nur der weiseste Schwätzer, d en es gegeben hat: er war ebenso groß im Schweigen. Ich wollte, er wäre auch im letzten Augenblicke des Lebens schweigsam ge wesen - vielleicht gehörte er dann in eine noch höhere Ord nung der Geister. War es nun der Tod oder das Gift oder die Frömmigkeit oder die Bosheit - irgend etwas löste ihm in je nem Augenblicke die Zunge, und er sagte: >0 Kriton, ich bin 1 34
dem Asklepios einen Hahn schuldig.< Dieses lächerliche und furchtbare >letzte Wort< heißt für den, der Ohren hat: >Ü Kri : o n , das Leben ist eine Krankheit ! < Ist es möglich ! Ein Mann ;-,·ie er, der heiter und vor aller Augen wie ein Soldat gelebt hat war Pessimist ! Er hatte eben nur eine gute Miene zum L eben gemacht und zeitlebens sein letztes Urteil, sein innerstes Gefühl versteckt ! Sokrates, Sokrates hat am Leben gelitten ! ü nd er hat noch seine Rache dafür genommen - mit j enem ver hüllten, schauerlichen, frommen und blasphemischen Worte ! :\i ußte ein Sokrates sich auch noch rächen ? War ein Gran Großmut zu wenig in s einer überreichen Tugend ? - Ach Freunde ! Wir müssen auch die Griechen überwinden ! « 10'� :\"ietzsche hat also völlig klar gesehen, daß zwischen diesen \\"orten, die Sokrates im Ietzen Augenblick seines Lebens aus sprach, und dem ganzen Rest dessen, was er gesagt und getan hatte und was er während seines ganzen Lebens gewesen war, daß zwischen diesen Worten und seinem Leben ein Wider spruch bestand. Und er löst diesen Widerspruch auf, indem er sagt, daß Sokrates schwach wurde und nun dieses Geheimnis =mhüllt hat, dieses dunkle Geheimnis, das er nie ausgespro :hen hatte, wodurch er im letzten Augenblick alles, was er ge sagt und getan hatte, entkräftet. Dasselbe Gefühl des Unbehagens führt Dumezil zu völlig an deren Schlußfolgerungen über den Sinn, den man diesem Text z'.lweisen sollte. Jedenfalls kann man die Behauptung, daß die Interpretation »Das Leben ist eine Krankheit« nicht funktio :1ieren kann, daß man sie nicht einfach akzeptieren und gerade wegs und im s eihen Atemzug alles, was Sokrates zuvor gesagt ::ar und was er j etzt sagt, sehen und denken kann, durch eine Reihe von Texten begründen - darunter natürlich viele Texte im ganzen Werk Platons, aber auch manche Texte, die sich ganz in der Nähe von diesem hier befinden und im Phaidon selbst srehen. Daß das Leben keine Krankheit ist, daß das Leben an sich kein -
' Die Lesung des Zitatendes ruft einen Schwall von Gelächter in der Zu:törerschaft hervor. 135
Ü bel ist, wird deutlich ausgesprochen, und zwar, wie gesagt, nicht nur im Rest des platonischen Werkes, sondern eben gera de im Phaidon, ganz in der Nähe unserer Stelle. Ein Beispiel dafür haben wir im Abschnitt 62b: Das ist der berühmte Text der übrigens Gegenstand vieler Diskussionen war, vielleicht werden wir bei Gelegenheit darauf zurückkommen -, in dem Sokrates ein pythagoreisches Apophtegma zitiert, demzufolge »wir uns in derphroura befinden« 1 1 - was manchmal mit » Ge fängnis « übersetzt wird, manche durch » Gehege« oder »Ver wahranstaltnoch daß j e von den Göttern seine Angelegenheiten vernachlässigt wer den« ist die Ü bersetzung des Griechischen oude ameletai hypo theon ta toutou pragmata. Das heißt: Die Angelegenheiten die ses Mannes (ta toutou pragmata) werden von den Göttern nicht vernachlässigt. Wir haben es hier mit dem Thema der epi meleia, des epimelesthai (für etwas Sorge tragen) und des ame leisthai (vernachlässigen) zu tun. Die Götter kümmern sich also um die Angelegenheiten des weisen Mannes, und daher gibt es für ihn kein mögliches Ü bel, weder in diesem Leben noch im anderen. Wie will man also angesichts dieser Reihe von Texten (und an deren aus der Apologie und dem Phaidon) annehmen, daß es sich bei dem Opfer an Äskulap um den Dank gegenüber dem Gott handelt, der einen von der Krankheit des Lebens erlöst
:-:äne ? Sokrates hat ein so weises, so vom Körper abgelöstes Leben geführt, für das es hienieden gar kein Ü bel geben kann. =r: dem Augenblick, da er sterben wird, da er den Tod akzep ::rert, da er glücklich ist zu sterben, sagt Sokrates weder noch ienkt er noch hat er j emals gesagt oder gedacht, daß das Leben -e i n e Krankheit sei. Die letzten Worte des Sokrates sind also �onderbar rätselhaft, weshalb wir einerseits annehmen müssen, iaE die Opfergabe für Asklepios uns eigentlich in den Innen :-zum eines Rituals führt, das sich auf die Krankheit bezieht, -..: n d daß andererseits der Tod für Sokrates nicht an sich als Hei ,,.mg betrachtet werden kann, weil das Leben an sich keine Krankheit sein kann. Worin besteht also diese Krankheit, von icr die Menschen wirklich befreit wurden und für die ein Op7er nötig ist ? :Jiese Schwierigkeit - die obzwar selten dunkel gefühlt, doch :-:iemals vor Dumezil formuliert wurde - hat übrigens eine Rei ':-;e ,·on Kommentatoren dazu geführt, andere Lösungen vor nschlagen. Nietzsche, der die Diskrepanz zwischen der Lehre ;:ies Sokrates und der Interpretation »das Leben ist eine Krank S.eit« genau gespürt hat, hatte folgende Vorstellung: Sokrates 7.-urde schwach und hat sein Geheimnis im letzten Augenblick ?reisgegeben. Es gibt jemanden, der offenbar gewisse Gründe i:atte, dem Vorschlag von Nietzsche nicht zu folgen, nämlich '.X:'ilamowitz. 1 8 Wilamowitz hat sich aus der Affäre gezogen, indem er sagte: Wenn man nicht umhin kann anzunehmen, daß es sich um eine Krankheit handelt, wenn es aber offensichtlich r:icht um das Leben als Krankheit geht, dann muß Sokrates ::ben früher eine Krankheit gehabt haben (die wir nicht genau kennen), und im Augenblick seines Todes erinnert er sich an >ie. 1 9 Wilamowitz ist immerhin j emand, den man beachten ;ollte. Es gibt die Lösung von Frantz Cumont, der im Compte ,-endu de l'Academie des Inscriptions et Beiles Lettres von 1 94 3 ' "gt: Ja natürlich ist dieses Ä skulap darzubringende Hahn ')pfer ein Heilungsritus, [die] Antwort auf eine Heilung. Man >Dllte aber nicht vergessen, daß der Hahn ein Tier persischen ::.: rsprungs ist und daß in der persischen Mythologie der Hahn 1 39
j enes Tier ist, das die Seelen leitet und sie auf ihrem Weg zur Hölle beschützt. Es handelt sich im Augenblick von Sokrates' Tod hier wohl um ein Echo oder die Erinnerung an die Einfüh rung dieses persischen Hahns.20 Auf diese Weise wird die per sische Mythologie bemüht, ein Problem zu lösen, das für Cu mont zumindest in den Begriffen des griechischen Denkens nicht ganz lösbar zu sein schien. Was tut nun Dumezil angesichts dieser Sachlage ? Erstens räumt er ein - weil er um dieses Zugeständnis nicht herum kommt -, daß es wohl um eine Krankheit geht. Ä skulap Hahn = Krankheit.21 Zweitens kann es sich nicht nur um eine vorübergehende, entfernte und vergessene Krankheit handeln, wie Wilamowitz meinte. Da es Sokrates' letzte Worte sind, die in dem Dialog so feierlich eingeführt werden, geht es wohl um eine ernste Krankheit. Schließlich sollte man nicht wie Nietz sche annehmen, daß Sokrates schwach wurde. Er ist nicht schwach geworden, sondern hat im letzten Augenblick gesagt, was für ihn in seiner Lehrtätigkeit am wichtigsten und offen sichtlichsten war. Diesen wichtigsten und offensichtlichsten Punkt seiner Lehrtätigkeit hat er nur wiederholt. Sie werden sehen, daß er ihn in der Tat wiederholt. Wofür soll man also Ä skulap danken, worin besteht diese Krankheit, deren Heilung diese allerletzte Geste der Dankbar keit fordert ? Nun, Dumezil bezieht sich hier auf den Dialog Kriton, und zwar auf die Episode, die diesem Dialog als Stütze dient und in der Kriton Sokrates vorschlägt zu fliehen.22 War um bringt Dumezil diesen Dialog ins Spiel ? Er geht ganz ein fach von einer belanglosen Bemerkung aus, die Frantz Cumont beiläufig gemacht hatte, aber ohne Nachdruck und ohne eine Folgerung daraus abzuleiten. Dumezil stellt fest, daß diese Aufforderung, dem Asklepios ein Hahnopfer darzubringen, an Kriton gerichtet ist (>>Kriton, wir sind dem Asklepios einen Hahn schuldig. «). Dumezil b emerkt, daß sich die Aufforde rung zwar an Kriton richtet, daß aber unmittelbar danach die Schuld nicht als die des Kriton bezeichnet wird, sondern als eine Schuld, die wir zu entrichten hätten - zumindest Kriton =
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:.1::1d Sokrates und vielleicht sogar Kriton, Sokrates und die an deren, j edenfalls bestimmt und wenigstens Sokrates und Kri :o n..23 Worauf könnte sich nun aber diese Schuld, die sie beide eingegangen wären und deren Kriton sich völlig bewußt wäre, beziehen, da er ja der Aufgeforderte ist ? Die Lösung dieses P:-oblems ist von dem einzigen Dialog zu erwarten, in dem 1\..r iton und Platon in einer vertraulichen Unterredung erschei cen.
Aus dem genannten Grund wendet sich Dumezil also diesem Dialog zu, aber was wird er in ihm suchen ? Sie wissen, daß Kri :o n in diesem Dialog Sokrates den Vorschlag macht, ihn ent :wmmen zu lassen. Ein ganzes Komplott von Freunden wurde ::iazu auf die Beine gestellt, und es würde genügen, daß Sokrates :!.essen Grundidee annimmt, damit es sogleich verwirklicht "''erden kann. Kriton macht nun eine Reihe von Punkten gel :end, um seinen Vorschlag zu unterstützen und um Sokrates Ar pmente für seine Annahme zu liefern. Er sagt Sokrates, daß er 5ich erstens selbst verraten würde, wenn er nicht fliehen wür de;24 zweitens würde er seine eigenen Kinder verraten, wenn er Jen Tod annähme und sie einem Leben aussetzte, in dem er c:ichts für sie tun könnte;25 schließlich wäre es eine Schande für Sokrates' Freunde gegenüber den anderen Bürgern und der öf iendichen Meinung, wenn man ihnen den Vorwurf machen �önnte, nicht alles getan zu haben, nicht alles versucht zu ha oen, nicht alle Möglichkeiten genutzt zu haben, um Sokrates zu retten.26 So würden Sokrates und seine Freunde gewisser :7laßen vor und durch die öffentliche Meinung entehrt. J'.uf genau diesen Punkt wird Sokrates antworten. Auf dieses ?:-oblem der vorherrschenden Meinung, der landläufigen Mei ::ung, der unentwickelten Meinung wird Sokrates seine Ant o;·orr an Kriton aufbauen, indem er die Frage stellt: Muß man 1.uf das Urteil von j edermann Rücksicht nehmen ? Muß man Rücksicht nehmen auf die Meinung, die die Menschen teilen ? Oder gibt es Menschen, auf deren Meinung man Rücksicht ::ehmen muß, und andere, auf deren Meinung man keine Rücksicht zu nehmen braucht ? Um auf diese Frage zu antwor141
ten, bemüht Sokrates ein Beispiel, das die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen den Meinungen der Menschen be weisen solL Dieses B eispiel bezieht sich gemäß eines in den platonischen Dialogen äußerst verbreiteten Verfahrens auf den Körper, auf die Pflege, die man dem Körper zuteil werden las sen soll, und auf die Gymnastik. Er sagt zu Kriton: Aber du verstehst doch wohl, daß man nicht einfach so blind der Mei nung der Leute folgen darf ? Du sagst mir, daß die Meinung der Leute mich und euch verurteilen wird, wenn ich nicht fliehe. Aber wenn es um die Gymnastik geht, wenn es um die Pflege geht, die man d em Körper zuteil werd en lassen soll, folgt man dann der Meinung von j edermann oder der Meinung derer, die sich damit auskennen ? Wenn man der Meinung von allen und jedem folgt, was geschieht dann ? Man befolgt eine schlechte Diät, und der Körper wird das Opfer von tausend Ü beln. Er verdirbt, wird ruiniert, zerstört (Sokrates verwendet das Wort diephtarmenon: zerstört, dem Verfall ausgesetzt, beschädigt)P Wenn es stimmt, so Sokrates, daß man im Hinblick auf den Körper die Meinung der Wissenden befolgen soll, der Gymna stiklehrer, die fähig sind, einem einen guten Diätplan zu geben, ohne den man tausend Tode leidet, meinst du dann nicht, daß man nicht nur im Hinblick auf den Körper, auf das, was ihm nützlich oder schädlich ist, sondern auch im Hinblick auf das Gute und das Böse, auf das Gerechte und das Ungerechte das selbe tun soll ? Wenn man den Meinungen derer folgt, die den Unterschied zwischen dem Gerechten und dem Ungerechten, dem Guten und dem B ösen nicht kennen, würde dann nicht »das [ ], was es auch sei von dem unsrigen, worauf Gerechtig keit und Ungerechtigkeit sich beziehen«28 Gefahr laufen, be schädigt, verdorben, zerstört (diephtarmenon) zu werden ? »Das, was es auch sei von dem unsrigen, worauf Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit sich beziehen«, ist selbstverständlich die Seele. Es ist interessant zu sehen, daß sie hier nicht benannt wird. Ihr Platz wird gewissermaßen leer gelassen. Der Beweis, daß die Seele als unsterbliche Substanz existiert, wird im Phai don entwickelt werden. Vorerst existiert sie und ist ein Teil von . . .
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selbst. Lange bevor die Seele metaphysisch begründet
-;;: i rd, wird hier die Beziehung zu sich selbst in Frage gestellt. -� :::1er Teil von uns selbst, der sich auf die Gerechtigkeit und die
ngerechtigkeit bezieht, läuft Gefahr, diephtarmenon (zerverdorben: gerrau dasselbe Wort wie für den Körper)29 zu :;:erden, wenn man der Meinung von allen und j edem folgt und .",-enn man sich statt dessen nicht an die Meinung der Wissen i::n hält. :Jie Schlußfolgerung aus all diesen Dingen ist also: Man soll �i:h um die Meinung der Menge >>nicht sorgen« (Sokrates ver7: endet das Verb phrontizen),30 sondern allein um das, was ;:7.-ischen dem Gerechten und dem Ungerechten zu entschei ien gestattet. Und hier nennt er die Wahrheit. Die Wahrheit, so So krates, entscheidet darüber, was gerecht und was ungerecht : _,:. ::'vian soll also nicht der Meinung der Menge folgen, son iern, wenn man sich um sich s elbst kümmern will, wenn man ;::h um >>das, was es auch sei von dem unsrigen> Tüch tiges:.rankheit befallen, die ihn glauben machte, daß es für Sokrates Sesser sei zu leben als zu sterben. Kebes und Simmias waren \·on einer Krankheit befallen, die sie glauben machte, daß man reicht die Gewißheit haben kann, eine unsterbliche Seele zu be ::-eien, wenn man stirbt. Mir scheint, daß wir hier die Bestätiuns
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gung dafür haben, daß man für die Heilung dieser Art von Krankheit dem Asklepios einen Hahn schuldig ist. Dumezils Interpretation läßt sich durch die Lektüre des Phaidon selbst bestätigen, in dem man die Verbindung findet zwischen dem, was im Kriton geschieht, und dem, was Sokrates im letzten Au genblick sagt.':· Es bleibt noch eine letzte Schwierigkeit, die Dumezil in seinem Text auflöst. Ich beschränke mich darauf, sie zusammenzufas sen.36 Wenn es stimmt, daß Kriton von einer Krankheit befal len war oder daß in Ergänzung dazu, wie ich gerade nahelegte, auch Kebes und Simmias aufgrund ihrer falschen Meinung krank waren, warum sagt dann Sokrates: Kriton, wir sind dem Asklepios einen Hahn schuldig ? Er sollte sagen: Kriton, du schuldest dem Asklepios einen Hahn, weil du geheilt wurdest. Oder, wenn man annimmt, daß die anderen auch geheilt wur den, sollte er [sagen] : Kriton, du als bester meiner Schüler, [sie und du] ihr alle schuldet dem Asklepios einen Hahn. Er sagt aber: wir sind schuldig. Also wurde auch er geheilt. Dumezil antwortet auf diese Frage, indem er einerseits geltend macht, und zwar, wie mir scheint, auf völlig legitime Weise, daß zwi schen Sokrates und seinen Schülern natürlich ein Band der Sympathie und der Freundschaft besteht, so daß, wenn einer von ihnen an einer Krankheit leidet, die anderen aufgrund der Krankheit des einen ebenfalls leiden, und Sokrates gehört eben dazu. Dumezil macht auch geltend, was von großer Bedeutung ist, daß Sokrates - ohne natürlich Opfer der Versuchung gewe sen zu sein, darum geht es nicht - selbst auch von Kriton hätte überzeugt werden und sich zur Flucht entschließen können (schließlich wird [das Gegenteil] außer durch die persönliche Tapferkeit des Sokrates und seine Ausdauer, an der Wahrheit festzuhalten, durch nichts garantiert). Und solange er nicht wirklich tot ist, solange er den letzten Augenblick seines Le bens noch nicht erreicht hat, besteht dieses Risiko, von einer falschen Meinung befallen zu sein und eine Schädigung der '' M. F. : - Kann ich noch fünf oder zehn Minuten weitermachen oder [Antworten aus dem Publikum:] - Ja, ja !
. . .
?
Seele zu erleiden. Daher muß dieses Opfer, das in einem gewis sen Sinne in dem Augenblick hätte dargebracht werden kön ::len, als Kriton von seiner Krankheit geheilt wurde, nicht nur im Namen Kritons, sondern auch von Sokrates vollzogen wer den und kann erst im letzten Augenblick von Sokrates' Leben, im Augenblick des Todes, entrichtet werden. Es kann nur So krates' letzte Handlung und seine letzte Empfehlung sein, weil schließlich gerade sein Mut allein, allein Sokrates' Beziehung z u sich selbst und zur Wahrheit ihn daran gehindert hat, auf diese falsche Meinung zu hören und sich von ihr verführen zu :;.ssen. jedenfalls glaube ich, daß man diesen Erklärungen Dumezils folgendes hinzufügen könnte: Es ist ein Zug, der die ganze Dramaturgie der platonischen Dialoge kennzeichnet, welche es auch sein mögen, daß alle Gesprächsteilnehmer im Hinblick auf das Unterfangen des Gesprächs solidarisch sind. Sokrates bringt dies bei vielen Gelegenheiten in anderen Dialogen zum _\usdruck: Wenn die falsche Rede siegt, dann handelt es sich :.: m eine Niederlage für alle, aber wenn die richtige Rede siegt, J.ann sind alle Sieger. Das Prinzip, das von Sokrates in den Dia :ogen so oft formuliert wird (das Prinzip der homologia: den selben Iogos zu haben wie j ene, mit denen man diskutiert, d. h. einzugestehen, daß dieselbe Wahrheit für die einen wie für die anderen gilt, und j ene Art von Pakt unterzeichnen, demgemäß ;edermann eine Wahrheit anerkennen wird, sobald sie einmal entdeckt wurde),37 finden wir hier zu einem gewissen Grad wieder. Es gab also jenes große Unterfangen der Diskussion der Meinungen, die große Schlacht des Iogos, es gab j enen elen :bos, der zu prüfen gestattete, was die richtige Meinung war und was die falsche. Aufgrund des Prinzips der homologia be kannte sich jedermann zu dieser Operation. Die heilende Ope ration ist wie eine allgemeine Form, in der Sokrates gefangen ist, auch wenn er selbst diese Operation durchführt. Es ist also ganz normal, daß er sich an Kriton wendet, indem er ihn dar ,.;.n erinnert, daß es eine Krankheit gab, und zwar eine Krank heit Kritons. Aber wenn Kriton gewonnen hätte, wäre diese 1 49
Krankheit auch Sokrates' Krankheit gewesen. Und da alle soli darisch sind, muß das Opfer als Dank für diese Heilung und im Namen aller entrichtet werden. Jetzt möchte ich noch ein wenig zu meinen Schäfchen zurück kehren und versuchen, auf die Frage zu antworten, die Sie sich stellen: Warum habe ich mich bei diesem Text und der Inter pretation Dumezils aufgehalten, die anscheinend nicht auf der selben Linie liegt wie das, was ich Ihnen vorhin und letztes Mal gesagt habe ? Man muß die Frage stellen: Worin besteht diese Heilung, worin besteht die Tätigkeit, durch die Sokrates und seine Schüler mit der Hilfe des Gottes, dem man danken soll, geheilt wurden ? Es hat keinen Sinn, sich zu fragen, wie es man che vielleicht zu tun versucht sein mögen, ob dieses Verfahren d er Heilung zur Medizin gehört oder schon zu so etwas wie der Psychiatrie, ob die Griechen bzw. Sokrates wirklich dach ten, daß diese Art von Irrtum als Geisteskrankheit betrachtet werden könne, oder nicht. In diesem anachronistischen Apo steriori läßt sich das, worum es geht, nicht entdecken. Man tut besser daran, wenn man versucht, dieses Verfahren der Hei lung, auf das Sokrates mehrmals anspielt, in den Bereich der Praktiken zu stellen, in dem sie sich für die Griechen im allge meinen und für Sokrates im besonderen darstellt. Dieser allge meine Bereich von Praktiken umfaßt nun gerade alles, was »epimeleia« genannt wird. Sich um j emanden kümmern, sich um eine Herde kümmern, sich um seine Familie kümmern oder, was man oft im Zusammenhang mit den Ärzten findet, sich um einen Kranken kümmern, das ist es, was >>epimelei sthai« genannt wird. Die Heilung, von der Sokrates hier spricht, gehört zu all j enen Tätigkeiten, durch die man sich um j emanden kümmert, ihn pflegt, wenn er krank ist, über seinen Diätplan wacht, damit er wieder gesund wird, ihm Nahrungs mittel vorschreibt, die er einnehmen soll, oder Ü bungen, die er ausführen soll, durch die man ihn auch darauf hinweist, welche Handlungen er unternehmen und welche er unterlass en soll, durch die man ihm hilft, die wahren Meinungen zu entdecken, die er befolgen soll, und die falschen Meinungen [vor denen er I 50
sich hüten soll], also [das], wodurch man ihn mit wahren Dis :O:ursen speist. All das gehört zum epimelesthai. Wir können :uch sagen, daß diese umfangreiche, vielgestaltige Tätigkeit der ::pimeleia (der Sorge für sich und die anderen, der Sorge für die Seelen) in einer Reihe von Fällen die dringlichste, intensivste ·.:nd notwendigste Form annehmen kann. Dabei handelt es sich :.: :n diej enigen Fälle, in denen gerade eine falsche Meinung das Risiko birgt, eine Seele zu schädigen und krank zu machen. �dan sollte sich daran erinnern, daß der ganze Todeszyklus des Sokrates, den ich in der letzten Stunde darzustellen versucht habe, dieser große Zyklus, der mit der Apologie beginnt, sich ::n Kriton fortsetzt und mit dem Phaidon endet, gerade von diesem Thema der epimeleia durchsetzt ist. Irr der Apologie des Sokrates habe ich Ihnen vorhin zu zeigen ':ersucht, wie Sokrates seine parrhesia, sein mutiges Wahrspre chen als ein Wahrsprechen bestimmte, dessen endgültiges Ziel :md dessen ständige B eschäftigung darin bestand, die Men s.:hen zu lehren, sich um sich selbst zu kümmern. Sokrates kümmert sich zwar um die Menschen, aber nicht im Rahmen :ier Politik: Er will sich um sie kümmern, damit sie lernen, sich :.: :n sich selbst zu kümmern. Der ganzen Apologie liegt also die5es Thema der epimeleia und der Sorge zugrunde. Im Kriton stellt man ebenfalls fest, daß dieses Thema der Sorge, ier epimeleia gegenwärtig ist. Es kommt in einem kleinen De :ail vor, das deshalb von B,e deutung ist, weil wir ihm wiederbe gegnen werden. Es bezieht sich auf Sokrates' Kinder. Als Kri :on zu ihm sagt: Aber schließlich wirst du dich nicht um deine �inder kümmern können. Wie willst du dich um sie kümmern, 7:enn du stirbst ?38 Das ist ein Problem der epimeleia, auf das Sükrates etwas später, nämlich im Phaidon, antworten wird . Abgesehen von diesem kleinen Detail ist die epimeleia, die Sor ge, die Besorgnis ganz allgemein das zentrale Thema des Kri :: o n . Man [begegnet] ihm ganz einfach in der Prosopopoiie der Gesetze wieder.39 Diese Gesetze, die Sokrates ins Spiel bringt, �als er fragt] : Wenn ich fliehen würde, glaubst du nicht, daß die Gesetze sich vor mir erheben würden ?, sagen ihm: Aber wer rp
hat sich um deine Geburt gekümmert ? Bist du nicht damit zu frieden, wie die Ehen in deinem Staat geschlossen werden ? Wer hat sich um dich gekümmert, als du ein Kind warst, und wer hat dich großgezogen ? Wer kümmert sich um das, was im Staat vor sich geht [ . . . ':-] ? Die Gesetze sind gerade die Boten der epi meleia. Genauso wie es im Phaidon heißen wird, daß man der Welt nicht entfliehen soll, weil wir von den Göttern behütet werden (epimelesthai: die Götter kümmern sich um uns),40 ist im Kriton der Grund, warum man nicht aus dem Gefängnis flie hen soll ( d. h., die Stadt verlassen und ins Exil gehen), daß die Gesetze des Staats wie die Götter über die ganze Welt wachen, sich um die Bürger kümmern und wachsam sind. Sie sind für sorglich. Man findet hier dasselbe Thema der epimeleia wie der. Was sagt Sokrates seinen Schülern schließlich und vor allem im Phaidon, als der Augenblick des Todes näherrückt, mit seinen vorletzten Worten ? Hier ist der Text absolut eindeutig. Im Ab schnitt I I 5 b (ob Sokrates den Schierling noch trinken wird oder ihn schon getrunken hat, weiß ich nicht mehr, j edenfalls ist der Tod in diesem Augenblick schon nahe,41 fragt Kriton, der doch der beste von Sokrates' Schülern ist: Welche Weisun gen gibst du uns für deine Kinder (da kommen sie schon) oder für alle anderen Dinge ? Was verlangst du von uns zu tun, daß es dir genehm sei ? Kriton, derselbe, den man am Ende darum bittet, etwas Bestimmtes zu tun (einen Hahn zu opfern) [fragt]: Was sollen wir für deine Kinder tun ? Er dachte an den Letzten Willen, an das Testament. Und Sokrates antwortet: »Was ich immer sage [ ], nichts Besonderes weiter. «42 Was sagt Sokra tes immer, das nichts Besonderes ist und seinen Letzten Willen darstellt, den er seinen Kindern, seiner Umgebung, seinen Freunden übermitteln will ? »Tragt Sorge für euch selbst (hy mon auton epimeloumenoi). «43 Das ist Sokrates' Vermächtnis, sein Letzter Wille. Ü brigens er innert dieser Letzte Wille des Sokrates, der im Phaidon so klar . . .
*
Ende des Satzes unverständlich.
:ormuliert wird, an das, was die Apologie in einem spiegelbild lichen Moment sagt. In der Apologie gibt es drei Momente bzw. drei Reden: die erste Rede, in der Sokrates sich verteidigt; die zweite Rede, in der er vorschlägt, was seine Strafe sein soll; und die dritte Rede, in der er die Tatsache zur Kenntnis nimmt und akzeptiert, daß er zum Tode verurteilt wurde. In diesem letzten Teil der Apologie, wo er sein Todesurteil zur Kenntnis nimmt :md akzeptiert, [in seiner] letzten Rede, als er schon todge weiht ist, sagt Sokrates im Abschnitt 4 1 e folgendes: »An mei n e n Söhnen, wenn sie erwachsen sind [eine weitere Erwähnung der Kinder; die Kinder werden insgesamt dreimal erwähnt: in der Apologie nach der Verurteilung; im Kriton in Form eines Einwands von Kriton; und schließlich im Phaidon in der Passa ge, die ich Ihnen gerade vorgelesen habe; M. F.], nehmt eure Rache ihr Männer, und quält sie ebenso, wie ich euch gequält habe, wenn euch dünkt, daß sie sich um Reichtum oder um sonst irgend etwas eher bemühen (epimelesthai) als um die Tu gend. «44 Epimelesthai aretes: Sie sollen sich um ihre Tugend kümmern. Das sind Sokrates' letzte Worte in der Apologie, der Rede, mit der er sich an seine Richter wendet. Das sind die letz :en Worte, die Sokrates zu seinen Freunden spricht, als sie ihn fragen: Was sollen wir tun ? Sein Letzter Wille, der vor den Bürgern und im Kreis seiner Freunde ausgesprochen wird. ::.Joch eine Kleinigkeit zu diesem Problem der Sorge um sich selbst: In den letzten Zeilen des Phaidon gibt es eine Stelle, wo Sokrates' Schüler ebenfalls fragen: Was sollen wir für deine Be erdigung tun ? Er antwortet, indem er selbst ein Bad nimmt, damit nach seinem Tod die Frauen seinen Körper nicht zu wa schen brauchen. Er trägt Sorge für sich selbst und sogar für sei nen Körper.45 Jedenfalls, wenn man ihn fragt: Was sollen wir für deine Kinder mn und welche Empfehlungen gibst du deinen Freunden ?, lauten Sokrates' letzte Worte und sein Letzter Wille: Was ich immer gesagt habe, » Kümmert euch um euch selbst«, das ist mein Letzter Wille. Es gibt aber noch einen kleinen Zusatz. Dieser kleine Zusatz besteht gerade in der Erwähnung dessen, 1 53
was man dem Asklepios schuldig ist, die Erwähnung j enes Op fers, das man entrichten soll, das Versprechen gegenüber Ä sku lap. Als Dank wofür ? Nun, als Dank für die Hilfe, die der Gott als Gott der Heilung allen zuteil werden ließ, d. h. Sokrates und seinen Schülern, die sich darum bemüht haben, sich um sich selbst zu kümmern (epimelesthai), für sich selbst zu sorgen, für sich selbst Sorge zu tragen, zu »therapeuein« (im Sinne von sich kümmern und heilen), wie Sokrates oft sagt. Und die letzten Worte (nach: » Gebt dem Asklepios einen Hahn«), die allerletz ten Worte, nach denen Sokrates nie wieder sprechen wird, habe ich schon mehrmals zitiert, nämlich: me amelesete (vernachläs sigt nicht, keine Vernachlässigung). Ich habe mich lange bei der Tatsache aufgehalten, daß dieses Nicht-Vernachlässigen, das Sokrates seinen Schülern anempfiehlt, sich auf das Opfer eines Hahns bezog. Es bezieht sich tatsächlich ausdrücklich und di rekt auf das Opfer eines Hahns, also auf eine bestimmte Krank heit. Aber diese Krankheit ist eine solche, von der man geheilt werden kann, wenn man sich um sich selbst kümmert und ge genüber der man j ene Fürsorge für sich selbst walten lassen kann, die einen die eigene Seele erkennen läßt und wie diese mit der Wahrheit verbunden ist. Etymologisch gesehen, gehört das Wort >>amelesete« zu jener Familie, der wir schon so oft begeg net sind, zu einer Familie von Wörtern, die die verschiedenen Weisen des sich Sorgens, des Sorgetragens, der Fürsorge be zeichnen. An dem Ä skulap darzubringenden Opfer erkennt man deutlich, daß die letzten Worte (»vernachlässigt nicht>Weshalb wir aber das beschlossen haben [uns an euch zu wenden, um euch über die Erziehung unserer Kinder um Rat zu fragen; M. F.], lieber Nikias und La ches, das sollt ihr vernehmen, wenn ich auch ein wenig um ständlich sein muß [ . .] . Nun, wie ich gleich anfangs sagte, wir .
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Im Manuskript schreibt Foucault, daß er in der antiken Moral einerseits eine Spannung sieht »zwischen der Sorge um die anderen im Rahmen der Politik, die die ethische Sorge um sich und die anderen so schwierig zu machen scheint, und andererseits der ethischen Sorge um sich und die anderen, von der man so häufig verlangt, daß sie zur politischen Sorge wie zu ihrem Seinsgrund und zu ihrer Erfüllung oder wie zu einer ihrer wesentlichen Pflichten führe«, und andererseits eine Beziehung des ge genseitigen Ausschlusses zwischen »tun, was einem gefällt« und »sich um sich selbst kümmern«: » Dieses Spiel zwischen der Notwendigkeit einer Leitung, durch die der Lehrer oder der Vater die Seele und das Verhalten der anderen steuert, und dem Prinzip einer Autonomie und Souveränität bezüglich sich selbst, die die Krönung dieser Anstrengung und Arbeit, dieser askesis ist, durch die man sich um sich selbst kümmert, ist ein wichtiger Punkt in der Geschichte der antiken Moral.
Rechenschaftsablegen über sich selbst«, das sich auf den bios 2II
als Existenz richtet, [eine] Existenzweise, die es während dieser gesamten Existenz prüfen und auf die Probe stellen soll. War um ? Um ihr durch einen bestimmten wahren Diskurs eine be stimmte Form geben zu können. Dieser Diskurs der Bestands aufnahme des Selbst soll die sichtbare Gestalt bestimmen, die die Menschen ihrem Leben geben sollen. Dieses Wahrsprechen ist nun nicht mit dem metaphysischen Risiko konfrontiert, die Wirklichkeit der Seele jenseits oder über den Körper hinaus zu setzen; das Wahrsprechen ist vielmehr dem Risiko und der Ge fahr ausgesetzt, den Menschen zu sagen, was sie an Mut brau chen und was es sie kosten wird, um ihrem Leben einen gewis sen Stil zu verleihen. Mut zum Wahrsprechen, wenn es darum geht, die Seele zu entdecken. Ebenfalls Mut zum Wahrspre chen, wenn es darum geht, dem Leben Form und Stil zu verlei hen. Wenn wir uns mit dem Alkibiades und dem Laches ausein andersetzen, finden wir den Ausgangspunkt für die beiden großen Entwicklungslinien der sokratischen Veridiktion in der gesamten abendländischen Philosophie. Ausgehend von die sem ersten, grundlegenden, gemeinsamen Thema des didonai logon (Rechenschaft über sich selbst ablegen), erstreckt sich eine [ersteJ Linie zum Sein der Seele (der Alkibiades ), während die andere sich auf die Formen der Existenz richtet (der La ches). Dieses berühmte »Rechenschaft über sich selbst able gen«, das die sokratische parrhesia so hartnäckig verfolgt - dar in besteht seine grundsätzliche Mehrdeutigkeit, die sich in der gesamten Geschichte unseres Denkens abzeichnen wird -, kann als die Aufgabe verstanden werden und wurde auch so verstanden, das Sein der Seele finden und aussagen zu müssen, oder aber als die Aufgabe und die Arbeit, die darin besteht, der Existenz einen bestimmten Stil zu verleihen. In dieser Dualität zwischen dem »Sein der Seele« und dem >>Stil der ExistenZ�·as man eine Alethurgie, eine Manifestation der Wahrheit nennen könnte. Zu diesem Thema des kynischen Lebens als Manifestation, als Geste der Wahrheit selbst, möchte ich einen Text zitieren, der zwar ein später, aber interessanter Text ist. Er ist interessant, weil er einerseits die lange Fortdauer des Kynismus in der An :ike und sogar bis zum Ende der Antike zeigt. Und weil er au ßerdem die Verbindungen sichtbar macht, die zwischen dem Kynismus und dem Christentum von so großer Bedeutung waren. Schließlich, weil er sich auf einen Begriff beruft, der be sonders wichtig ist. Diesen Text finden wir [bei] Gregor von Nazianz (4. ]ahrhundert) in der Predigt 2 5 . In dieser Predigt hält Gregor von N azianz, der sich zu diesem Zeitpunkt in Konstantinopel aufhält, eine Lobrede auf einen gewissen Ma ximus, welcher ein Christ ägyptischer Herkunft war, in einer ;:hristlichen Familie geboren wurde und sich für eine gewisse Zeit in die Wüste zurückgezogen hatte. Seinem großen Ruf der Heiligkeit und Askese gelang es, vom Bischof von Alexandria bemerkt zu werden, der ihn nach Konstantinopel geschickt harte. Gregor, der zu j ener Zeit Diözesan von Konstantinopel -;t,·ar, empfängt ihn - am Ende geht die Geschichte j edoch böse J.us , da Maximus, der zum Häretiker geworden war, verurteilt wird und heftige Kämpfe zwischen Gregor und Maximus aus227
brechen werden. Das spielt für uns aber keine Rolle . . . Er emp fängt [also] diesen Mann, der aus Ä gypten in das Land des Mönchtums und der Askese kommt, er empfängt diesen Maxi mus, der dieses Leben der Askese persönlich gekannt und praktiziert hat, und hält darauf eine Lobrede. Er stellt ihn als philosophischen Helden dar, als einen wahren Kyniker. Und als er über Maximus spricht, sagt er ganz konkret folgendes: Er verabscheut zwar die Gottlosigkeit der Kyniker (darauf werden wir später zurückkommen, wenn wir den Kynismus näher untersuchen: Es gab nämlich eine sehr dominante Strö mung der Gottlosigkeit im Kynismus oder zumindest der Un gläubigkeit und des Zweifels gegenüber den Göttern und einer Reihe religiöser Praktiken) und ihre Verachtung der Gottheit, aber er hat von den Kynikern die Einfachheit übernommen wie ein Hund, der die anderen Hunde anbellt. Nachdem er so diesen christlichen Asketen als philosophischen Helden be stimmt hat, der ein wahrer Kyniker ist, der den wichtigen und wertvollen Kern des Kynismus aufgenommen hat, nämlich die Einfachheit und die Lebensweise, und zwar unabhängig von allen falschen Ü berzeugungen oder falscher Ungläubigkeit, fährt Gregor von Nazianz fort, indem er sich nun direkt an Maximus wendet: Ich vergleiche dich mit einem Hund (der Vergleich mit dem Hund bezieht sich natürlich auf die Zu schreibung des wahren Kynismus, den Gregor Maximus ge genüber lobt), nicht weil du unverschämt bist, sondern wegen deiner Offenheit (parrhesia ) Nicht weil du ein Schlemmer bist, sondern von der Hand in den Mund lebst, nicht weil du bellst, sondern weil du auf dem Wachtposten bist zum Heil der See len.19 Und wenig später fügt er hinzu: Du bist der beste und der vollkommenste Philosoph, weil du der Märtyrer, der Zeuge der Wahrheit bist (martyron tes aletheias).20 Natürlich be zeichnet martyron ([vom Verb] martyrein) nicht ausschließlich den Märtyrer in dem Sinne, den wir gewöhnlich mit diesem B egriff verbinden. Hier ist das Zeugnis für die Wahrheit ge meint. Aber Sie sehen wohl, daß es sich im Munde Gregors nicht bloß um ein verbales Zeugnis von j emandem handelt, der .
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die Wahrheit sagt. Es handelt sich vielmehr um j emanden, der :n seinem eigenen Leben, in seinem Leben als Hund, seitdem er
sich für die Askese entschieden hat bis zum j etzigen Zeitpunkt, stets in seinem Körper, in seinem Leben, in seinen Handlun gen, in seiner Schlichtheit, in seinem Verzicht, in seiner Askese der lebendige Zeuge der Wahrheit war. Er hat gelitten, er hat ertragen, er hat verzichtet, damit die Wahrheit gewissermaßen i.11 seinem eigenen Leben, in seiner eigenen Existenz, in seinem eigenen Körper Gestalt annähme. Dieser Ausdruck »martyron tes aletheias« (der Zeuge der \Vahrheit sein) tritt zwar spät auf, aber ich glaube, daß wir ihn verwenden können, um im Grunde das Wesen des Kynismus während der gesamten Antike zu bestimmen und wohl auch i ene Art von Kynismus, die man während der ganzen Ge schichte des Abendlands in verschiedenen Aspekten finden kann. Märtyrer der Wahrheit, verstanden im Sinne von »Zeuge der Wahrheit«: ein Zeugnis, das durch eine Existenz, eine Le �ensform im konkretesten und materiellsten Sinne dieses Aus drucks gegeben, offenbart und beglaubigt wird, ein Zeugnis der Wahrheit, das durch den und im Körper, durch die Klei dung, das Benehmen, die Handlungsweise, die Art zu reagie ren und sich zu verhalten gegeben wird. Der Körper der Wahr heit selbst wird durch einen bestimmten Lebensstil sichtbar, ::.ber auch lächerlich gemacht. Das Leben als unmittelbare, glänzende und wilde Gegenwart der Wahrheit, das kommt im Kynismus zur Manifestation. Aber auch: die Wahrheit als Dis ziplin, als Askese und Nüchternheit des Lebens. Das wahre Leben als Leben der Wahrheit. Die Ausübung des Skandals der \Vahrheit im eigenen und durch das eigene Leben, das wurde ,-om Kynismus seit seinem Erscheinen, das man auf das 4· Jahr ':mndert in die hellenistische Periode datieren kann, praktiziert. Danach setzt es sich zumindest bis zum Ende des Römischen Reiches und - wie ich zeigen möchte - weit darüber hinaus :=ort. Im und durch sein Leben den Skandal der Wahrheit aus zuüben, darin besteht der Kern des Kynismus. Darum haben ';\"ir, so scheint mir, mit dem Kynismus einen sehr bemerkens2 29
werten Punkt erreicht, der ein wenig Aufmerksamkeit ver dient, wenn man die Geschichte der Wahrheit und die Ge schichte der B eziehungen zwischen der Wahrheit und dem Subj ekt schreiben will. Das ist also die Rechtfertigung dafür, daß ich jetzt ein wenig auf den Kynismus eingehen möchte. Die Logik, die Pädagogik, die Regeln aller Lehre sollten mich nun dazu führen, über den Kynismus so zu sprechen, wie man ihn in den alten Texten bestimmen und aus ihnen herauslösen kann, um anschließend zu versuchen, wenn schon nicht seine Geschichte, dann doch wenigstens einige seiner Episoden zu erzählen. Tatsächlich werde ich das Gegenteil tun, um zu rechtfertigen, warum ich Sie ohne Unterlaß in der antiken Phi losophie einsperre. Ich werde einen Umweg nehmen und ver suchen, Ihnen zu zeigen, warum und wie der Kynismus nicht bloß, wie man ihn sich oft vorstellt, eine etwas eigenartige, einzigartige und schließlich vergessene Figur der antiken Phi losophie war, sondern eine historische Kategorie, die in ver schiedenen Formen mit verschiedenen Zielen die ganze abend ländische Geschichte durchzieht. Es gibt einen Kynismus, der eine Einheit bildet mit der Geschichte des abendländischen Denkens, der abendländischen Existenz und der abendländi schen Subjektivität. Diesen transhistorischen Kynismus möch te ich in der nächsten Stunde etwas genauer behandeln. Näch stes Mal werden wir auf das zurückkommen, was man als den historischen Kern des Kynismus in der Antike betrachten kann. Anmerkungen 1 1 9 8 2 hatte Foucau!t in den ersten b eiden Sitzungen des Vorlesungs
jahrs diesen Dialog ausführlich analysiert (L'Hermeneutique du sujet, a. a. O.). 2 Vgl. zu diesem Punkt die Ausführungen in der Vorlesung vom 1 3 . }anu ar 1 9 8 2 (ebd., S. 68 -7o; dt.: $ . 9 8 - r o r ) . 3 »Was ich ihn [Epiktet] aber habe sagen hören, eben das habe ich ver sucht, möglichst mit seinen eigenen Worten aufzuschreiben, um es mir für später zur Erinnerung an seine Gesinnung und den Freimut seiner 230
Rede aufzubewahren e freilich einer dem Glauben nachgeht, zu dem man zu Gott .; dangt, berührt diesen Staat mitnichten [ . . .]. Daher zwingt er :uch die Philosophen, wenn sie zu Christen werden, nicht, ihr A ußeres und ihre Lebensgewohnheiten, die der Religion nicht hinderlich sind, abzulegen, nur ihre falschen Lehrmeinungen :::; üssen sie ändern.«7 Die Lektion des heiligen Augustinus ist :.:iso klar: Sofern seine Lehrmeinungen die richtigen sind, kann ::; a n in der christlichen Gemeinschaft ohne weiteres j emanden .;..l,:z eptieren, der ein kynisches Leben führt, der sich wie ein Kyniker kleidet und wie ein Kyniker lebt. Beim heiligen Hie ronymus findet man beispielsweise ( Contra]ovinianum, Buch II, Absatz IV, Kapitel 1 4) einen Text über den Tod von Dioge ::es, ergänzt durch eine Lobrede. Darin stachelt er die Christen :.:n , einem Philosophen wie Diegenes nicht nachzustehen. ::\atürlich ist es nicht s ehr erstaunlich, daß es zu Beginn des Christentums eine sehr spürbare Wechselwirkung zwischen der kynischen Praxis und der christlichen Askese gegeben hat. �. ran muß j edoch auch feststellen, daß die kynische Lebenswei s e gerade durch die Vermittlung der christlichen Askese und des Mönchstums lange Zeit weitergetragen wurde. Selbst wenn die ausdrücklichen Bezüge zum Kynismus, zu seiner Lehre und zum kynischen Leben verschwänden, selbst wenn sich der 239
Begriff des »Hundes« im Hinblick auf den Kynismus allge mein und den Kynismus von Diogenes auflöste, finden sich doch viele der Themen, Einstellungen, Verhaltensformen, die man bei den Kynikern beobachten konnte, in zahlreichen gei stigen Bewegungen des Mittelalters wieder. Schließlich neh men die Bettelorden - jene Leute, die auf alles verzichten, die einfachsten und grobschlächtigsten Kleider tragen und barfuß umherziehen, um die Menschen aufzurufen, sich um ihr Heil zu kümmern, und die sie in ihren Schmähreden anfahren, deren Heftigkeit bekannt ist8 - de facto ein Verhalten wieder auf, das das Verhalten des Kynikers ist. Die Franziskaner mit ihrer Ent sagung, ihrem Umherziehen, ihrer Armut, ihrer Bettelei sind wohl bis zu einem gewissen Grad die Kyniker des mittelalter lichen Christentums. Was die Dominikaner betrifft, nun, Sie wissen, daß sie sich selbst die Domini canes (die Hunde des Herrn) nannten. Selbst wenn man die Annäherung an den anti ken Kynismus wahrscheinlich erst a posteriori vollzogen hat, wurde doch de facto genau dieses Vorbild reaktiviert, das durch das Christentum weitergetragen wurde. Man könnte noch viele weitere B eispiele [für diese Reaktivierung] in den mehr oder weniger häretischen Bewegungen finden, die wäh rend des ganzen Mittelalters aufblühten und sich weiterent wickelten. Die Beschreibung Roben Arbrissels, dieses geisti gen Erneuerers, der im Westen Frankreichs, im Anj ou und in der Tourraine am Ende des I I . Jahrhunderts große Bedeutung hatte, sieht folgendermaßen aus: Mit Lumpen bekleidet, ging er barfuß von einem Ort zum anderen, kämpfte gegen die De moralisierung des Klerus und rief alle Christen auf, Buße zu tun. In der Waldenserbewegung findet man außerdem folgende Beschreibung: Sie haben keinen festen Wohnort, sie gehen je weils in Zweiergruppen wie die Apostel (tanquam Apostoli cum) umher und folgen nackt der Nacktheit Christi (nudi nu dum Christum sequentes). Dieses Thema (nackt der Nacktheit Christi folgen, nackt der Nacktheit des Kreuzes folgen) wurde für die ganze christliche Spiritualität äußerst wichtig, und auch hier bezieht es sich zumindest implizit auf jene berüchtigte ky-
::ische Nacktheit in ihrem Doppelsinn, eine Lebensweise völli ;tr Entsagung und zugleich in aller Nacktheit die Manifestati � :1 der Wahrheit der Welt und des Lebens zu sein. Die Wahl t::1es Lebens als Skandal der Wahrheit, die Einfachheit des Le ,::ens als eine Art und Weise, am Körper selbst das sichtbare T:: eater der Wahrheit zu inszenieren, scheinen durch die ganze Geschichte des Christentums hindurch nicht nur ein Thema, ;,o :;_dern auch eine besonders lebendige, intensive, kraftvolle ?:-axis in allen Reformbemühungen gewesen zu sein, die im Gegensatz zur Kirche, zu ihren Institutionen, ihrer Bereiche :-c:ng, ihrem Sittenverfall standen. Es gab einen wirklich christ i:-nen Kynismus, einen Kynismus, der sich gegen die Institu ::onen richtete, einen Kynismus, den ich anti-kirchlich nennen ;;,-ürde und dessen noch lebendige Formen und Spuren am Vor :;.b end der protestantischen Reformation, während und inner ::llb der Reformation oder sogar noch innerhalb der katho _ :3chen Gegenreformation spürbar waren. Man könnte also ,.:iese lange Geschichte des christlichen Kynismus schreiben. Z-;;" eitens, wenn wir uns mehr der Gegenwart annähern, wäre :-s auch interessant, eine weitere Stütze der kynischen Exi ;; :::nzform zu analysieren, nämlich den Kynismus verstanden :.is Lebensform im Skandal der Wahrheit. Wir würden ihm ia!ln nicht mehr in den religiösen Institutionen und Praktiken 2egegnen, sondern in den politischen Praktiken. Hier denke :eh natürlich an die revolutionären Bewegungen, oder zumin :iest an manche dieser B ewegungen, die, wie Sie wissen, einen ;::oßen Einfluß auf die verschiedenen Formen der christlichen Spiritualität ausgeübt haben, gleichgültig, ob es sich um or :c'-lodoxe handelte oder nicht. Der Kynismus, die Idee einer .L ebensform, die die plötzlich hervorbrechende, gewaltsame, skandalöse Manifestation der Wahrheit sein sollte, ist und war ,;: in Teil der revolutionären Praxis und der Formen, die die re ';·olutionären Bewegungen während des 1 9. ]ahrhunderts an ::: a hmen. Die Revolution in der modernen europäischen Welt das ist eine bekannte Tatsache, über die wir, glaube ich, letztes Jahr gesprochen haben - war nicht bloß ein politisches Proj ekt,
sondern auch eine Lebensform. Oder genauer, sie wirkte als ein Prinzip, das eine gewisse Lebensweise bestimmte. Wenn man die Art und Weise, wie das Leben als revolutionäre Tätigkeit oder die revolutionäre Tätigkeit als Leben definiert, charakte risiert, organisiert und geregelt wurde, der Bequemlichkeit hal ber als »Aktivismus « bezeichnen will, läßt sich sagen, daß der Aktivismus als revolutionäres Leben, als Leben, das völlig oder teilweise der Revolution gewidmet wurde, im Europa des 1 9 . und zo. Jahrhunderts drei große Formen angenommen hat. Vor allem zwei davon sind bekannt (die älteste und die jüng ste), ich werde mich j edoch auf die dritte konzentrieren. [Erstens haben wir] das revolutionäre Leben in Gestalt des Bundes und der Verborgenheit, das revolutionäre Leben in der Geheimgesellschaft (Vereinigungen, Verschwörungen gegen die vorhandene und sichtbare Gesellschaft, Einrichtung eines unsichtbaren gesellschaftlichen Zusammenlebens, das einem chiliastischen Prinzip oder Ziel verpflichtet ist). Diese Seite des revolutionären Lebens war zu Beginn des 1 9 . Jahrhunderts of fenbar von großer Bedeutung. Zweitens gibt es am anderen Ende den Aktivismus, und zwar nicht mehr in Gestalt des Geheimbundes, sondern der sichtba ren, anerkannten, institutionalisierten Organisation, die ihre Ziele und ihre Dynamik im gesellschaftlichen und politischen B ereich geltend zu machen versucht. Das ist der Aktivismus, der sich nicht mehr im Geheimbund versteckt, sondern in Er scheinung tritt und sich in den gewerkschaftlichen Organisa tionen oder politischen Parteien, die eine revolutionäre Funk tion haben, Anerkennung verschafft. Schließlich ist die dritte bedeutende Form der aktivistischen Existenz der vom Leben bezeugte Aktivismus in Gestalt eines Lebensstils. Dieser Lebensstil, der dem revolutionären Akti vismus eigentümlich ist und für die Bezeugung durch das Le ben sorgt, stellt notwendigerweise einen Bruch mit den Kon ventionen, Gewohnheiten und Werten der Gesellschaft dar. Durch seine sichtbare Form, durch seine beständige Praxis und seine unmittelbare Existenz muß er direkt die konkrete Mög-
>:hkeit und den offensichtlichen Wert einer anderen Lebens ,::�hrung aufzeigen, die das wahre Leben ist, Auch hier findet =: an ganz im Zentrum der Erfahrung, des Lebens, des revolu ::ionären Aktivismus j enes Thema des wahren Lebens wieder, c:.:s so grundlegend und zugleich so rätselhaft und interessant s:. j e nes wahren Lebens, das schon von Sokrates als Problem .: ::.:fgeworfen wurde und dessen Thematik, wie mir scheint, das ; :;-,ze abendländische [Denken] immer durchzog. :)as revolutionäre Leben, das Leben als revolutionäre Tätig •:.:ir nahm die folgenden drei Aspekte an: der Geheimbund, die . ::s:itutionalisierte Organisation und schließlich das Zeugnis : :.: :-eh das Leben (Zeugnis des wahren Lebens durch das Le .>: n selbst). Diese drei Aspekte des revolutionären Aktivismus G eheimbund, Organisation und Lebensstil) waren im ganzen ' 0- Jahrhundert gegenwärtig. Offenbar hatten sie aber nicht :.: �: und immer dieselbe Bedeutung. Schematisch könnte man ''"5-:n, daß sie ihren Einfluß abwechselnd ausübten: Der As :>:okr des Geheimbunds hat die revolutionären Bewegungen zu :':l-:ginn des 1 9. ]ahrhunderts ganz eindeutig dominiert; der As ?·=kt der Organisation wurde im letzten Drittel des I 9 . Jahr :: :mderts mit der Institutionalisierung der politischen Parteien :::. ::d der Gewerkschaften wesentlich; und das Merkmal des Zeugnisses durch das Leben, des Skandals des revolutionären L..:: b ens als Skandal der Wahrheit, war viel eher in den Bewe ;c:ngen der Mitte des 19. ]ahrhunderts bestimmend. Natürlich �-ire hier Dostojewskij und mit ihm der russische Nihilismus � :::anzuziehen; und nach dem russischen Nihilismus der euro ::: i:sche und amerikanische Anarchismus; außerdem noch das ?':-oblem des Terrorismus und die Art und Weise, wie der An -�:-chismus und der Terrorismus als Lebenspraxis, die den Tod �:: r die Wahrheit einschließt (die Bombe, die auch denjenigen •:) :et, der sie legt), als eine gewisse Grenzüberschreitung er ;,:heinen, als dramatische oder irrsinnige Grenzüberschreitung .:: ::es Mutes zur Wahrheit, der von den Griechen und der grie : ;-,ischen Philosophie als eines der Grundprinzipien des wah � =n Lebens postuliert wurde. Die Wahrheit aufsuchen, die ·
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Wahrheit offenbar machen, die Wahrheit explodieren lassen, bis daß man dabei sein Leben verliert oder das Blut der anderen vergießt, das ist etwas, dessen tiefreichende Wurzeln man in der Geschichte des europäischen Denkens findet. Wenn ich jedoch sage, daß dieser Aspekt des Zeugnisses durch das Leben im 19. Jahrhundert vorherrschte, daß man es vor al lem in jenen Bewegungen antrifft, die vom Nihilismus zum Anarchismus oder zum Terrorismus übergehen, meine ich doch nicht, daß dieser Aspekt völlig verschwunden wäre und bloß eine historische Gestalt in der Geschichte des europäi schen Revolutionarismus darstellte. In der Tat sieht man, wie dieses Problem des Lebens als Skandal der Wahrheit unablässig wieder hervortritt. Man sieht [etwa], wie das Problem des re volutionären Lebensstils im Linksextremismus ziemlich be ständig wieder zum Vorschein kommt. Das Wiedererscheinen des Linksextremismus als beständige Tendenz innerhalb des europäischen revolutionären Denkens und seines Proj ekts vollzog sich immer dadurch, daß es sich nicht auf die Dimen sion der Organisation, sondern auf jene Dimension des Akti vismus stützte, die im Geheimbund oder im Lebensstil besteht. Und manchmal offenbarte sich das Paradox eines Geheim bunds in skandalösen Lebensformen. Man braucht übrigens nicht zu glauben, daß dort, wo der Revolutionarismus die Gestalt der Organisation in politische Parteien annimmt, die Dimension des Geheimen und die des Lebensstils oder des Le bens als Skandal der Wahrheit völlig verschwunden sei. Hier müßte man natürlich eine genaue Analyse dessen vornehmen, was die revolutionären Parteien in Frankreich waren (soziali stische und kommunistische Partei). Es wäre interessant zu sehen, wie sich das Problem des Lebensstils in der kommuni stischen Partei gestellt hat, wie es sich in den I 92oer Jahren ge stellt hat, wie es sich allmählich verwandelt hat, Gestalt an nahm, modifiziert und schließlich in sein Gegenteil verkehrt wurde, da man zu jenem paradoxen Ergebnis gelangt, das jedoch in gewissem Sinn nur die Bedeutung des Lebensstils und der Offenbarung der Wahrheit im aktivistischen Leben 244
:-esrangt. In der gegenwärtigen Situation wurden zwar alle :__ :: oensformen und -stile, die die Funktion einer skandalösen ',)iienbarung einer inakzeptablen Wahrheit haben könnten, ' e::-bannt, aber das Thema des Lebensstils bleibt im Aktivismus � = r Kommunistischen Partei Frankreichs dennoch absolut von s�deutung, und zwar in Gestalt der gewissermaßen umgekehr :::r, Aufforderung, daß man in seinem Lebensstil beharrlich ::: d sichtbar alle überkommenen Werte, die gewöhnlichsten ',·erhaltensweisen und die traditionellsten Verhaltensschemata �-".,ehmen und zur Geltung bringen müsse. Auf diese Weise :•:dm sich der Skandal des revolutionären Lebens - als Lebens ,:2• rm, die, indem sie mit j edem überkommenen Lebensstil : richt, die Wahrheit zur Erscheinung bringt und für sie Zeug ::: s ablegt - innerhalb dieser institutionellen Strukturen der �ommunistischen Partei Frankreichs nun in Form der Ver :· ::er
,. Foucault trägt hier eine wichtige Ausführung nicht vor, die man jedoch im Manuskript findet und die folgendermaßen lautet: natürlich gäbe es rund um dieses Thema viele Fragen zu bearbeiten: die eigentliche Entstehung dieser Funktion der Kunst als Kynismus in der Kultur. Siehe in Rameaus Neffe die ersten Zeichen, die diesen Pro zeß ankündigen, der im Laufe des 1 9 . ]ahrhunderts zum Ausbruch kommt. Der Skandal um Baudelaire, Manet (Flaubert ?); die Beziehung zwischen dem Kynismus der Kunst und dem revolutionären Leben: )Jachbarschaft, Faszination des einen durch das andere (der ständige Versuch, den Mut zum revolutionären Wahrsprechen mit der Gewalt samkeit der Kunst als ungebändigtes Einbrechen des Wahren zu verbin den); aber auch eine wesentliche Unmöglichkeit der Überlagerung, die wohl darauf zurückgeht, daß, auch wenn diese kynische Funktion im Zentrum der modernen Kunst steht, sie doch für die revolutionäre Be wegung nur marginal ist, sobald diese von bestimmten Organisations formen beherrscht wird: Wenn sich die revolutionären Bewegungen in Parteien organisieren und die Parteien das »wahre Leben« durch eine makellose Gleichförmigkeit im Hinblick auf gewisse Normen bestim men, d. h. durch eine soziale und kulturelle Gleichförmigkeit. Es ist klar, "· . .
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daß der Kynismus weit davon entfernt ist, eine Verbindung zwischen dem ethos der modernen Kunst und dem ethos der politischen Praxis, auch wenn sie revolutionär sein mag, zu gewährleisten. Statt dessen be zeichnet er vielmehr einen Punkt der Unverträglichkeit zwischen bei den. Man könnte dieselbe Frage auch anhand einer anderen Formu lierung stellen: Wie ist der Kynismus, der in der Antike eine recht verbreitete Volksbewegung war, im I 9· und 20. Jahrhundert zu einer eli tären und randständigen Haltung geworden, die für unsere Geschichte wichtig ist, obwohl der Begriff des Kynismus selbst kaum negativ be setzt ist ? Eines sollte noch hinzugefügt werden: Der Kynismus kann mit einer anderen Form des griechischen Denkens verglichen werden: mit dem Skeptizismus. Auch dieser ist viel eher ein Stil als eine Lehre, eine Weise des Seins, Handeins und Sprechens; auch er ist eine ethische Hal tung im Hinblick auf die Wahrheit; eine Haltung gegenüber dem Sein, dem Handeln und dem Sprechen; eine Haltung des Erprobens, der Prü fung, der Infragestellung der Prinzipien. Allerdings besteht hier ein gro ßer Unterschied: Der Skeptizismus ist eine Haltung der Prüfung, die man im Bereich des Wissens systematisch entfaltet und bei der man die meiste Zeit praktische Implikationen beiseite läßt; während der Kynis mus vor allem auf eine praktische Haltung zentriert ist und sich auf eine fehlende Neugier oder theoretische Gleichgültigkeit gründet und auf die Annahme einiger grundlegender Prinzipien. Dennoch stand die Kombination des Kynismus und des Skeptizismus im 1 9. ]ahrhundert am Ursprung des »Nihilismus«, verstanden als Lebensweise mit einer bestimmten Haltung gegenüber der Wahrheit. Man sollte die Gewohn heit aufgeben, sich den Nihilismus immer nur unter dem Aspekt vorzu stellen, unter dem man ihn heute betrachtet: entweder in Form eines Schicksals, das der abendländischen Metaphysik eigentümlich ist, ein Schicksal, dem man nur entkommen könnte, wenn man auf das zurück kommt, dessen Vergessen diese Metaphysik selbst ermöglichte; oder in Form eines Schwindelgefühls der Dekadenz, das einer abendländischen Welt eigen ist, die künftig nicht mehr an ihre eigenen Werte glauben kann. Zunächst ist der Nihilismus als eine sehr konkrete historische Fi gur im I 9· und 20. Jahrhundert zu betrachten, was nicht heißen soll, daß man ihn nicht in die lange Geschichte dessen einordnen darf, was ihm voranging und ihn vorbereitete: Skeptizismus; Kynismus. Daher sollte man ihn als eine Episode oder vielmehr eine historisch gut identifizier bare Form j enes Problems betrachten, das sich in der abendländischen Kultur seit langem stellte: das Problem der B eziehung zwischen dem Willen zur Wahrheit und dem Lebensstil. Kynismus und Skeptizismus waren zwei Weisen, das Problem einer Ethik der Wahrheit zu stellen. Ihre Kreuzung im Nihilismus offenbart in der Tat etwas Wesentliches und Zentrales für die abendländische Kul tur. Dieses Wesentliche läßt sich knapp folgendermaßen ausdrücken:
Anmerkungen : P. Tillich, Der Mut zum Sein, Stuttgart 1 9 5 3 , Neuaufl. Ber!in I 99 I . : K. . Heinrich, Parmenides und]ona, Frankfurt/M. I 966. 3 A. Gehlen, Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik, Frank
iurt/M. I 969 . .;. P. Sloterdijk, Kritik
der zynischen Vernunft, Frankfurt/M. I 9 8 3 . ; Vgl. Lucians von Samosata sämtliche Werke, Bd. III, übers. v. C. M. Wieland, Wien u. Prag I 797, S. 8 3 - 8 5 . 5 Ebd., S . p - 5 3 . -:- Augustinus, Der Gottesstaat, XIX, I 9 , übers. v. C.J. Perl, Paderborn u . a. I 979, S. 49 r . : X Cohn, Les Fanatiques de l'Apocalypse, übers. v. S . Clemendot, Paris 1 962; Originalausgabe: The P1ersuit of the Millenium: Revolutionary Millenarians and Mystical Anarchists of the Middle Ages, London 1 9 5 7. 9 �I. Bachtin, Rabelais und seine Welt: Volkskuluer als Gegenkultur, iibers. v. G. Leupold, hg. und mit einem Nachwort versehen v. R. Lach mann, Frankfurt/M. 2003; russ. Originalausgabe I 9 6 5 . : : [G.] Vasari, Lebensläufe der berühmtesten Maler, Bildhauer und Archi rekten [1 5 46], Zürich 2000. (Vgl. Foucaults Text von I 962, »Das >Nein< des Vaters>Der Männer Einsicht schafft dem Staat das Wohlergehen und auch dem Haus, nicht Zither- oder Flötenspiel.«35 Für diese Auffassung des kynischen Unterrichts als Bildung und Rüstzeug für das Leben findet man die Theorie oder zu mindest die theoretische Entwicklung in einem wichtigen Text Senecas. Am Anfang des VII. Buchs von Über die Wohltaten berichtet Seneca, auf welche Weise Demetrius den Unterricht in den Wissenschaften verstand. Verzeihen Sie, daß ich Ihnen das in einer schlechten Ü bersetzung vorlese, da die Bibliothek geschlossen war, aber das ist nicht weiter schlimm: »Hervorra gend nämlich konnte das der Kyniker D emetrius sagen, ein meiner Meinung nach bedeutender Mann, auch wenn man ihn mit den bedeutendsten vergleicht: es pflegt mehr zu nutzen, wenn du wenige Vorschriften der Weisheit einhältst, sie dir aber gegenwärtig sind und zur Verfügung stehen, als wenn du zwar viel gelernt hast, du es aber nicht zur Hand hast. >Wieein großer Ringer ist nicht, wer alle Gänge und Hai-
:E:;riffe gelernt hat, deren Gebrauch im Wettkampf selten ist, ': ::kens. Das philosophische Heldentum, das philosophische _ ;:ben als heldenhaftes Leben wurde durch diese kynische Tra .: . :::ion verankert und weitergegeben . .::: u r gleichen Zeit, da der Kynismus nun dieses Bild des philo :· ?hischen Helden gestaltet hatte, da er dessen Vorzüge gel :::·::d machte, hatte er gerade dadurch einen beträchtlichen Ein >c:3 auf das, was sich [in Form einer] christlichen Askese . ::::: =-• ickeln sollte, die in diesem [Vorbild] des Heldentums zu :·:.:: e m nicht unbeträchtlichen Teil verwurzelt war. Dieses phi : sophische Heldentum stellte so etwas wie eine philosophi • ;he Legendensammlung dar, die das philosophische Leben : �bst auf eine bestimmte Weise, die man sich im Abendland ;�sdachte und praktizierte, und zwar bis heute, geformt hat. , ' ) n hier aus läßt sich die Vorstellung einer Geschichte der Phi · :>sophie begreifen, die etwas anders als diejenige sein könnte, : .: :: man heutzutage traditionellerweise lehrt, eine Geschichte : ::r Philosophie, die keine Geschichte der philosophischen :.. ::hren wäre, sondern [der] Lebensformen, -weisen und -stile, �-· ::-, e Geschichte des philosophischen Lebens als philosophi S . 92 f . 23 Demonax, in: Lucians von Samosata sämtliche Werke, 3 · Teil, a. a. O., S. 229. 24 Dien Chrysostomos, IV. Rede: Über die Herrschaft, in: Sämtliche Re den, übers. v. W. Eiliger, Zürich und Stuttgart I 967, § 2 I -2 3 , S. 69 f. 2 5 Lukian, Demonax, a. a. 0., § 7, S. 2 3 1 . 2 6 Ebd., § 3 (•, diese Gleichgültigkeit gegen alles, was die gewöhnlichen Menschen am höchsten schätzen>Alethes ;reht ebenfalls im Gegensatz zu dem, was nur Widers p iegelung, Bild, Schatten, Imitation, Schein ist; alethes ist das, was seinem Wesen ange ".,-,cssen ist, was id emisch ist. «
aus existiert und sich aufrechterhält, was sich in der Identität, der Unveränderlichkeit und der Unvergänglichkeit durchhält. Diese unverborgene Wahrheit, diese unvermischte Wahrheit, diese geradlinige Wahrheit kann sich durch die Tatsache, daß sie ohne Windung, ohne Schleier, ohne B eimischung, ohne Krümmung oder Störung ist (sie ist ganz gerade), in ihrer unveränderlichen und unvergänglichen Identität aufrechter halten. Das sind ganz schematisch vier wesentliche Bedeutungen, die man [bei] diesen B egriffen, alethes und aletheia, findet. Sie ver stehen nun, daß dieser Begriff der Wahrheit mit seinen ver schiedenen B edeutungen und seinem Bedeutungsfeld, das sich entsprechend diesen vier Achsen aufteilt, auf etwas ganz ande res als auf Propositionen oder Aussagen anwendbar ist. Dieser B egriff der Wahrheit - als etwas, das nicht-verborgen, nicht vermischt, geradlinig, unbeweglich und unvergänglich ist wird entweder im Hinblick auf alle vier Bedeutungen oder auf diese oder j ene davon, auf Seinsweisen, auf Handlungsweisen, Verhaltensweisen oder Handlungsformen angewendet. Man wendet diesen B egriff von Wahrheit mit seinen vier B edeutun gen übrigens auch auf den Iogos selbst an, auf den Iogos, nicht als Proposition oder Aussage verstanden, sondern als Weise des Sprechens. Der Iogos alethes ist nicht einfach nur eine Ge samtheit von korrekten Propositionen, die den Wahrheitswert des Wahren erhalten können. Der Iogos alethes ist eine Weise zu sprechen, bei der erstens nichts verheimlicht wird; bei der sich zweitens weder das Falsche noch die Meinung noch der Schein mit dem Wahren vermischen; [drittens] ist er eine ge radlinige Rede, eine Rede, die mit den Regeln und dem Gesetz übereinstimmt; und schließlich ist der alethes Iogos eine Rede, die dieselbe bleibt, die sich nicht ändert, die weder vergeht noch sich wandelt und die weder besiegt noch umgestoßen noch widerlegt werden kann. Sie verstehen aber auch, wie und warum dieselben Wörter, ale thes und aletheia, auf etwas anderes als den Iogos angewendet werden können. Es gibt mindestens einen B ereich, in dem die 288
?L:lwendung dieser B estimmung von alethes von großer Be Jeutung war. Dabei sollten wir wohl etwas verweilen, zumin :::: ::st im Sinne eines Winks, denn diese B estimmung anhand der Wahrheit ist in der abendländischen Kultur mit Sicherheit von :o:: :rächtlicher Bedeutung. Es handelt sich ganz einfach um den s,::griff des alethes eros (der wahren Liebe). 3 Die wahre Liebe �wiß ein sonderbarer, einzigartiger, zentraler Begriff in der :::iatonischen Philosophie, aber auch allgemein in der griechi ;:,:b:en Ethik -, was ist das ? Nun, in der wahren Liebe finden 11\;� gerade diej enigen Werte wieder, über die ich vorhin sprach. Die wahre Liebe ist erstens j ene, die nicht verheimlicht, und ::wra.r in zweierlei Hinsicht. Erstens weil sie nichts zu verheim Lc:hen hat. Sie hat nichts Schändliches, das verborgen werden =:ü.ßte. Sie sucht nicht den Schatten. Sie willigt ein, und sie ist -;; on solcher Art, daß sie sich immer bereitwillig vor Zeugen :=-igt. Sie ist auch eine Liebe, die ihre Zwecke nicht verbirgt. ::Jie wahre Liebe versucht nicht, von der geliebten Person et ... as zu erlangen, das sie vor den Augen des anderen verbergen :>-ürde, das aber ihr wahres Ziel wäre. Sie verwendet gegenüber .::rre m Partner weder List noch Umwege. Sie verbirgt sich nicht ?vr den Augen der Zeugen und auch nicht vor den Augen ihres ? mners. Die wahre Liebe ist eine Liebe ohne Verheimlichung. Z.o;,·eitens ist die wahre Liebe eine Liebe ohne B eimischung, i. h. ohne Beimischung von Lust und Unlust. Sie ist auch eine _:_:ebe, mit der sich weder sinnliche Lust noch Seelenfreund :.: haft mischen. Sie ist also insofern eine reine Liebe, als sie un :;ennischt ist. Drittens ist die wahre Liebe (alethes eros) eine Liebe, die mit dem Geradlinigen, dem Gerechten überein >:cimmt. Sie ist eine geradlinige Liebe (euthys). An ihr ist nichts, ""a.s der Regel oder dem Brauch widerstreben würde. Und Kinließlieh ist die wahre Liebe eine Liebe, die niemals der Ver L-:derung oder dem Werden unterworfen ist. Sie ist eine unver ;i.11 g liche Liebe, die immer dieselbe bleibt. Wenn Sie die Definition, die Bestimmung, das Porträt der wah :en Liebe in den sokratischen und platonischen Texten be :rachten, begegnen Sie ganz leicht diesen vier B edeutungen der
aletheia wieder. Ich glaube, daß diese Bestimmung der wahren Liebe einen Fortschritt in der Erforschung des Wesens des wahren Lebens (alethes bios) ermöglicht, das j etzt unser Pro blem ist. Es ist übrigens nicht ganz ohne Bedeutung, daß die wahre Liebe in der platonischen Philosophie die Form des wahren Lebens schlechthin war - aber sie wird diese Rolle auch, wie Sie wissen, in einem ganzen Bereich der christlichen Spiritualität und Mystik spielen. Die wahre Liebe, das wahre Leben sind zwei Dinge, die seit dem Platonismus traditionel lerweise zueinander gehören, und der christliche Platonismus wird dieses Thema in seiner ganzen Breite wieder aufnehmen. Lassen wir dies nun, aber das wäre ein sehr interessantes und sehr weites Forschungsfeld. Kommen wir nun zum alethes bios, den ich zunächst außerhalb seiner Bedeutung für die Kyniker und seiner ganz paradoxen Form, die er im Kynismus angenommen hat, einordnen möch te. [Das wahre Leben also], wie es in den philosophischen Tex ten der klassischen Epoche erscheint, im wesentlichen bei Platon, für das man aber zumindest Grundzüge, die natürlich weniger interessant und weniger entwickelt sind, bei Xeno phon findet. B etrachten wir folgende B estimmung. Ich werde nicht versuchen, den Begriff des alethes bios in seiner letztend lichen philosophischen Ausarbeitung bei Platon zu b etrachten, sondern in seinen offensichtlichen, geläufigen Bedeutungen, die man in den platonischen Texten außerhalb j eglicher beson deren philosophischen Ausarbeitung findet. Der alethes bios ist natürlich erstens ein nicht verheimlichtes Leben, d. h. ein Leben, das sich in keinem seiner Teile mit ei nem Schatten umgibt. Er ist ein Leben, das sich dem vollen Licht aussetzen und sich, ohne zu zögern, dem Blick aller of fenbaren kann. Eine Seins- und Verhaltensweise ist also wahr und bringt das wahre Leben zum Ausdruck, wenn sie nichts von ihren Absichten und ihren Zwecken verbirgt. Einen Hin weis auf diese Vorstellung des wahren Lebens als eines Lebens, das nichts verbirgt, finden wir im Hippias dem Kleineren in den Absätzen 3 64e- 3 6 5 a, wo es um den berühmten Vergleich,
den berühmten Gegensatz zwischen Odysseus und Achilles
geht. Der Text, den Sokrates an dieser Stelle zitiert, ist ein Text .ms dem IX. Gesang der Ilias, wo Achilles, der sich an Odys seus wendet und ihn »erfindungsreicher Odysseus « (polyme );an Odysseu) nennt, zu diesem sagt: »Siehe, ich muß mein \\'ort ganz unumwunden verkünden, wie ich vollstrecken es werde und wie 's zu erfüllen ich denke; denn verhaßt ist mir j e ::er, der gleich wie des AYdes Pforten, welcher ein anderes birgt :,."TI Gemüt, ein anderes redet.«4 Sokrates, der diese Ansprache ·.-on Achilles an Odysseus kommentiert, sagt: Odysseus ist der polytropotatos5 Mann, der Mann der tausend Wendungen, d. h. ::er, der seinen Partnern gegenüber verbirgt, was er im Schilde :Uhrt und was er tun will. Im Gegensatz zu Odysseus erscheint Achilles - der gerade dem erfindungsreichen Odysseus gesagt nat: Ich werde dir meine Absichten ohne Umschweife sagen, "'ie ich sie verwirklichen werde, ja nicht nur so, wie ich sie ver ;;·irklichen will, sondern wie ich sie tatsächlich verwirklichen werde, wie ich weiß, [daß ich sie verwirklichen werde] - als \[ann der Wahrheit, ohne Umschweife. Zwischen dem, was er ienkt, und dem, was er sagt, zwischen dem, was er sagt, und iem, was er tun will, zwischen dem, was er tun will und dem, was er tatsächlich tut, gibt es keinen Schleier, keinen Umweg, ::ichts, was den Gedanken seiner Wirklichkeit berauben könn :e und zur Wirklichkeit des Handeins werden könnte. Wir ste �:en also im vollen Licht, und im Hinblick auf diesen Achilles ;agt Sokrates: Hier haben wir einen Mann, der haploustatos :md alethestatos (am einfachsten, direktesten und wahrsten; bc2plous ist derj enige, der keine Umwege kennt)6 ist. Wenn es darum geht, einen Menschen, einen Charakter, eine Lebens ..-.·eise, eine Lebensform zu bezeichnen, kommt die Verbindung von haplous und alethes ziemlich häufig vor. Sie finden übri :;ens diese Kopplung von haplous und alethes auch im Staat, im J: . Buch, wo die Existenzweise des Gottes als Wahrheit, wahres ::.. e ben, wahre Seinsweise charakterisiert wird. Von dieser Exi ;:enzweise heißt es im Staat, daß sie einfach und wahr ist (ha ::: Io un kai alethes: ohne Umschweife und wahrhaft): >>Also ist
Gott offensichtlich von einfach-einheitlichem und wahrhaftem Wesen in Wort und Werk, wandelt sich weder selbst noch täuscht er andere, nicht in Erscheinungen, Worten oder Zei chen, die er entsendet, nicht im Wachen noch im Traum.«7 Sie sehen also, wie diese Einfachheit, die eine Wahrheit der Le bensweise, die das wahre Leben ist, hier beschrieben wird: kei ne Veränderung und keine Täuschungen, die sich durch die Trennung, die Verschiebung zwischen einem Ereignis und den Worten, den Erscheinungen und den Zeichen ergeben könn ten. Die zweite Bedeutung [des Aus drucks] alethes bios entspricht dem, was ich Ihnen vorhin gesagt habe, [nämlich] daß alethes etwas Unvermischtes bezeichnet. Der alethes bios erscheint bei Platon als das Leben ohne Beimischung, ohne Beimischung des Guten und Schlechten, ohne Beimischung der Lust und des Leidens, ohne Beimischung des Lasters und der Tugend. Ein wahres Leben ist kein buntes Leben. All j ene berüchtigte Bunt heit (Buntheit des begehrlichen oder j ähzornigen Teils der See le, Buntheit der demokratischen oder tyrannischen Staaten, in denen die Begierden in ihrer Heftigkeit oder ihrer Eigenart ih ren Ort haben) ist genau das, was einen daran hindert, das wah re Leben zu führen. Daß der buntgescheckte Mensch, der Mensch, der zum Opfer der Vielfalt seiner B egierden, seines Verlangens, der B ewegungen seiner Seele geworden ist, daß dieser Mensch zur Wahrheit nicht fähig ist, dies wird eben im Staat im VIII. Buch gesagt, wo es um die Beschreibung des de mokratischen Menschen geht. Platon beschreibt ihn folgender maßen: »[ . . ] dann lebt er im Gleichgewicht seiner Freuden, überläßt der Lust, die ihn eben befällt [ . ], die Macht über ihn, bis sie gesättigt, und dann wieder einer anderen - und keine verschmäht er, denn sie alle verehrt er nach gleichem Teile. [ . . .] So lebt er denn in den Tag hinein und schenkt sich dem Trieb, der ihn befällt, bald trunken, von Flöten bezaubert, bald nüch tern bei Wasser mager geworden, bald übt er Gymnastik, bald lungert er träge und sorgt sich um nichts, bald will er - so scheint es - gar philosophieren ! Oft treibt er Politik, springt .
. .
mf, hält Reden, setzt Taten - wie es ihm gefällt ! «8 Dieses Le ben des demokratischen Menschen, das manchmal untätig, :nanchmal geschäftig ist, sich manchmal den Lüsten hingibt, manchmal der Politik (wobei er, wenn er sich der Politik ver schreibt, alles B eliebige sagt, was ihm durch den Kopf geht), dieses Leben ohne Einheit, dieses vermischte Leben, dieses der Vielfalt geweihte Leben ist ein Leben ohne Wahrheit. Es ist :licht imstande, so Platon, dem Iogos alethes (der wahren Rede)9 einen Platz einzuräumen. Wir können einen weiteren Text zitieren, wo das wahre Leben dem vermischten Leben -:benso entgegengesetzt wird. Am Ende des Kritias erwähnt Platon kurz die Dekadenz von Atlantis - kurz vor dem Ab bruch des Textes, dessen Ende verlorenging - und erklärt: ::-\ach dem glücklichen Leben, das die Menschen in Atlantis führten, kam eine Zeit, in der das Los bzw. der Anteil, der den :\Ienschen von Atlantis durch die Götter gegeben wurde, sich mit vielen sterblichen Elementen vermischt hatte.10 Diese Mi schung aus dem göttlichen Los, das das wahre Leben der Men schen von Atlantis auszeichnete, und den sterblichen Elemen :en war dafür verantwortlich, daß sie vom wahren Leben, von dem ihm eigentümlichen Glück und der es begleitenden Schön heit abgefallen waren. Sobald das Leben durchmischt wird, ist es nicht mehr das wahre Leben. ':Drittens ist das wahre Leben bei Platon ein geradliniges Leben ,euthys). Gemäß der B estimmung der Wahrheit als Geradlinig keit, des Wahren als des Geradlinigen, ist das wahre Leben ein geradliniges Leben, d. h. ein Leben, das mit den Prinzipien, den Regeln und dem nomos übereinstimmt. Im berühmten VII. Brief erzählt Platon, wie er dazu kam, sich auf das Gesuch Di ons nach Sizilien zu begeben, und daß er gezögert hat, diese ,_
Das Manuskript enthält hier eine Passage, die dem fünften Sinn von Wahrheit entspricht, auf den Foucault verzichtet hat (die Übereinstim mung mit dem Wesen): >>Der
alethes bios ist ein Leben, das sich nicht den Anschein gibt,
etwas
zu sein, was es nicht ist. Es ahmt keine Form nach, die nicht seine eigene wäre. Das wahre Leben läßt sein
ethos leicht erkennen« (Er stützt sich Gesetzen, Abschnitt 73 8d-e).
dabei auf das V. Buch von Platons
29 3
Einladung anzunehmen. Er ließ sich j edoch überzeugen, als er gewahr wurde, daß Dion seine Prinzipien so mühelos ange nommen und sein Leben nach Regeln geformt hatte, die [er] ihm gegeben hatte. 1 1 Diese B ekehrung Dions zur Philosophie, zumindest j edoch die Bildung, die er empfing, erlaubte Platon zu hoffen, daß mit Hilfe Dions der Stadtstaat von Syrakus und vielleicht ganz Sizilien sich dieser Form von Gesetz unterord nen würden. Es gab also zu j ener Zeit eine Hoffnung für alle, ein alethinos bios (ein wahrhaftes Leben) 12 zu führen. Das wahrhafte Leben, das also das Versprechen Platons gegenüber den Siziliern ist oder vielmehr seine H offnung, als er nach Sizi lien ging, ist das Leben nach den Regeln, die Platon oder die Philosophie den Menschen vorzuschlagen vermag, und zwar nicht nur in ihrem privaten Leben wie bei Dion, sondern auch in ihrem gesellschaftlichen, öffentlichen, politischen Leben. Es sind Gesetze und eine politische Ordnung, was Platon den Si ziliern und Syrakusern vorschlagen will." Wir können diese Passage übrigens mit einem Text aus dem Gorgias vergleichen, wo wir ebenfalls diesem Begriff des wah ren Lebens begegnen. Ganz am Ende, als Platon über das Ge richt der Seelen spricht. Im Mythos des Gorgias stellen sich die Seelen nach ihrem Tod ihren Richtern vor, insbesondere Rha damanthys. Sokrates sagt: Rhadamanthys, Richter der Seelen und der Hölle, hat gewiß viel zu tun. Er begegnet Seelen, die zu ihm kommen und die Seelen großer Könige sind. Er läßt sich von diesen Seelen der großen Könige nicht beeindrucken, denn er sieht sofort, daß es in diesen Seelen keinen einzigen gesun den Teil gibt, »alles ist verzerrt durch Lüge und Hoffart [und B etrug; M. F.], und nichts Gerades (euthys) ist an ihr.«13 War um ist nichts Gerades an ihr ? Weil diese Seele ohne Wahrheit (aneu aletheias) gelebt hat: 1 4 »Ja, infolge von Leichtsinn, Üp pigkeit, Hochmut und Maßlosigkeit im Handeln erblickt er '' Im Manuskript steht hier ein erstes Zitat aus dem X. Buch von Platons Staat, Abschnitt 6o4b-c, in dem es um den Vorwurf an die Dichter geht, daß sie nur Nachahmungen hervorbringen. Aber die Passage ist durch gestrichen. 294
an der Seele eine Fülle von Mißverhältnis und Häßlichkeit.« 1 5 Vielgestaltige Seelen, buntgescheckte Seelen, Seelen, die von Begierden, Leichtsinn, Üppigkeit durchdrungen sind, Seelen ohne Wahrheit. Rhadamanthys wird deshalb diese Seelen fort schicken, damit sie die Strafe erleiden, die sie verdienen.16 Aber es geschieht auch, so Sokrates weiter, daß Rhadamanthys See len von ganz anderer Art entdeckt; Seelen, die entweder die Seelen von Philosophen sind oder eventuell auch von gewöhn lichen Bürgern, von Bürgern wie die anderen. Aber ob es sich nun um die Seele eines Philosophen oder die von jemand ganz Gewöhnlichem handelt, diese Seelen haben fromm (hosios) u n d in der Wahrheit (met'aletheias)1 7 gelebt, ohne sich frucht loser Rastlosigkeit hinzugeben. Da diese Seelen in der Wahr heit (met'aletheias) gelebt haben, »bewundert Rhadamanthys ihre Schönheit« und schickt sie auf die Inseln der Glückse ligen. 1 8 Nach dieser B eschwörung zwei er entgegengesetzter Schicksale der Seelen (die einen werden bestraft, weil sie ohne Wahrheit waren; die anderen werden belohnt und in die ewige Glückseligkeit geschickt, weil sie mit der Wahrheit gelebt ha ben), erfolgt Sokrates' Entschluß: Ich will mich durch die Er forschung der Wahrheit bemühen, mich so vollkommen wie möglich zu machen »im Leben und im Sterben « . 1 9 Das Leben mit der Wahrheit ist also der gerade Weg. Schließlich die vierte Bedeutung des Ausdrucks bios alethes, ,;lethinos bios bei Platon: Dieses wahre Leben ist ein Leben, das sich den Störungen, den Veränderungen, dem Vergehen und dem Verfall entzieht und das sich unverändert in der Identität seines Wesens hält. Diese Identität des Lebens im Verhältnis zu sich s elbst läßt es j edem Element der Veränderung entrinnen ·0.nd sichert ihm einerseits eine Freiheit, verstanden als U n abhängigkeit, Nicht-Abhängigkeit, Nicht-Versklavung gegen über allem, was es der Herrschaft und Beherrschung unterwer fen könnte, und gewährt ihm andererseits die Glückseligkeit : eudaimonia), verstanden als Herrschaft des Selbst über sich und als Genuß des Selbst durch sich. Dieses wahre Leben als Leben der vollkommenen B eherrschung und des umfassenden 29 5
Glücks wird, wie wir vorhin gesehen haben, im Kritias ange sprochen: Es ist das Leben jener Bewohner von Atlantis, die, bevor die sterblichen Elemente sich mit ihnen vermischt ha ben, ein wahres und glückliches Leben führten. Die Wahrheit des Lebens ist sein Glück, seine vollkommene Glückseligkeit. Ebenso gibt es im Theaitetos im Hinblick auf ganz ähnliche Werte in den Abschnitten I 74c- r 76a eine wohlbekannte Stelle, wo Platon das geschäftige, lärmende und mußelose Leben all j ener beschreibt, die, da sie mit allen Problemen der prakti schen Existenz vertraut sind, die Fähigkeit haben, ohne weite res mit diesen Problemen zurechtzukommen, die aber ihre ge samte Zeit damit verbringen. Demgegenüber beschwört er das Leben all j ener, die, weil sie die wahre Wahrheit betrachten, in den alltäglichen Tätigkeiten ungeschickt und lächerlich sind und die thrakischen Mägde zum Lachen bringen. Aber diese Leute, die im alltäglichen Leben so ungeschickt sind, können >>in Wohlklang der Rede eingreifend, würdig [ ] preisen das wahrhafte Leben (bion alethe) der seligen Götter und Men schen«.20 Das wahrhafte Leben ist demnach das göttliche und glückselige Leben. Das sind also, wenn Sie so wollen - ganz schematisch und, wie gesagt, ohne eine präzisere philosophi sche Ausarbeitung als background für die Analyse zu versu chen, die ich j etzt vornehmen möchte - die Bedeutungen, die man der Vorstellung des wahren Lebens (alethes bios) zuer kannte. Was wir j etzt festhalten müssen - ich werde damit jetzt nur be ginnen und nächstes Mal weitere Ausführungen anschließen -, ist [die Rolle, die] der Kynismus für diese Vorstellung des alethes bios gespielt hat. Ganz zu Beginn des Lebens von Dio genes, so erzählt Diagenes Laertius, gibt es eine Reihe von wichtigen Episoden oder Andeutungen. Zuerst haben wir die Andeutung der Tatsache, daß Diogenes der Sohn eines Geldwechslers war, eines Bankiers, der mit Münzen umzuge hen hatte und sie gegeneinander tauschen mußte. Dann findet man den Hinweis auf die Tatsache, daß Diogenes oder sein Vater wegen einer Unterschlagung - strenggenommen wegen . . .
Falschmünzerei - aus Sinope verbannt wurden, wo sie ur sprünglich herstammten und wohnten. Der dritte Hinweis auf dieses Thema der Münzen besteht schließlich darin, daß Dio genes, der aus Sinope verbannt war, sich nach Deiphi begab und den Gott, Apollon, bat, ihm einen Rat und eine Meinung zu geben. Und der Rat ApoBons sei gewesen, daß Diogenes :\1ünzen fälschen oder ihren Wert ändern sollte.21 Dieses Prinzip »Präge die gangbare Münze um« wurde in der kynischen Tradition regelmäßig für zwei Zwecke benutzt. Er stens, um das Verhältnis zwischen Sokrates und Diogenes aus zugleichen und zwischen beiden eine Ausgewogenheit her zustellen. Genau wie Sokrates vom delphischen Gott j ene Prophezeiung, j enen Hinweis, jene Zuschreibung der Rolle empfangen hatte, daß er der weiseste aller Menschen sei, so er hält Diogenes, der sich nach Delphi begibt und den Gott fragt, wie es um ihn selbst steht, folgende Antwort: »den Wert der :\Jünze ändern«. Sokrates und Diogenes haben also beide einen A.uftrag empfangen. Diese Spiegelbildlichkeit, diese Nähe zwi schen Sokrates und Diogenes wird die ganze kynische Traditi on hindurch aufrechterhalten werden. In den Texten, die er im +· Jahrhundert gegen die Kyniker und zugunsten des wahren Kynismus schreibt, läßt es J ulian, der mit sehr großem Respekt .,-on Diogenes spricht, nie daran fehlen, von Sokrates und Dio genes zugleich zu reden: Der eine, der die Worte des delphi schen Gottes gehört hatte, wußte von sich, daß er der weiseste ?vf ensch war, und versuchte, sich selbst zu erkennen; der andere hatte vom delphischen Gott einen anderen, ganz verschiede nen Auftrag erhalten, nämlich den Wert der Münzen zu än dern. Es gibt also eine Spiegelbildlichkeit zwischen diesen bei den Persönlichkeiten. Die zweite Bedeutung dieses Gebots ist offenbar viel schwieri ger zu bestimmen. Was bedeutet denn eigentlich >>den Wert der Münzen ändern« (paracharattein to nomisma) ? Um dieses Thema herum werde ich nächstes Mal versuchen, das Problem des wahren kynischen Lebens zu entwickeln. Jetzt möchte ich Sie nur auf folgendes hinweisen: Im Zusammenhang mit dem 29 7
Thema »den Wert der Münzen ändern« muß man erstens die bestehende Nähe zwischen dem Geld und dem Brauch, der Regel, dem Gesetz - auf die das Wort selbst hinweist - geltend machen. Nomisma ist die Münze. Nomos ist das Gesetz. Den Wert der Münze zu ändern bedeutet auch, eine bestimmte Ein stellung gegenüber der Konvention, der Regel, dem Gesetz einzunehmen. Der zweite Punkt steht ebenfalls im Zusammen hang mit der Vorstellung der paracharaxis. Paracharattein (ändern, verändern) bedeutet nicht, die Münze abzuwerten. Manchmal begegnet man der aufschlußreichen B edeutung von eine Münze »verfälschen«, damit sie von ihrem Wert verliert, aber hier bedeutet das Verb im wesentlichen und vor allem: von einer bestimmten Münze, die ein bestimmtes Bildnis trägt, die ses Bildnis auszulöschen und es durch ein anderes zu ersetzen, das ebensoviel darstellt und dieser Münze ermöglicht, mit ih rem wahren Wert umzulaufen. Die Münze soll nicht über ihren wahren Wert hinwegtäuschen. Man soll den ihr eigenen Wert wiederherstellen, indem man ihr ein anderes, besseres und an gemesseneres Bildnis aufprägt. Das ist es, was durch dieses so bedeutende kynische Prinzip bestimmt wird, den Wert der Münze zu ändern. Mir scheint - damit werde ich aufhören und nächstes Mal wei termachen - daß das, worum es im Kynismus im Hinblick auf das wahre Leben geht, vor allem darin besteht, die Münze des alethes bios zu nehmen und sie so ähnlich wie möglich im Hin blick auf die ursprüngliche B edeutung, die sie empfangen hat, neu zu prägen. Von diesem Gesichtspunkt aus ändern die Ky niker sozusagen zwar nicht das Metall dieser Münze. Aber sie werden das Bildnis verändern, und anhand derselben Prinzipi en des wahren Lebens - das unverborgen, unvermischt, gerade und stabil, unvergänglich, glücklich sein soll - werden sie, in dem sie unablässig bis an die Grenze gehen und diese Themen einfach ins Extrem treiben, ein Leben erscheinen lassen, das ge rade das Gegenteil dessen ist, was traditionellerweise [als] das wahre Leben anerkannt wurde. Die Münze neu zu prägen, das Bildnis zu ändern und das Thema des wahren Lebens gewisser-
maßen eine Fratze schneiden zu lassen. D er Kynismus als Frat des wahren Lebens. Die Kyniker haben versucht, das in der Philosophie traditionelle Thema des wahren Lebens eine Frat ze schneiden zu lassen. Anstatt im Kynismus eine Philosophie zu erblicken, die aufgrund ihrer Popularität, oder weil sie im Konsens und der gebildeten philosophischen Gemeinschaft niemals das Bürgerrecht empfangen hat, eine Philosophie des Bruchs sei, sollte man ihn vielmehr als eine Art von Grenz übergang, eine Art von Extrapolation anstatt von Exteriorität, als eine Extrapolation der Themen des wahren Lebens und eine Rückkehr dieser Themen in eine Art von Figur betrachten, die mit dem Vorbild des wahren Lebens übereinstimmt, ihm zu gleich aber auch eine Fratze schneidet. Es handelt sich viel eher u m eine Art von karnevalesker Kontinuität mit dem Thema des wahren Lebens als um einen Bruch mit den Werten, die in der klassischen Philosophie galten, wenn es sich um das wahre Leben handelte. Verzeihen Sie mir, ich habe mein Versprechen fast überhaupt nicht erfüllt, Ihnen zu sagen, was ich Ihnen heute sagen sollte. Ich werde versuchen, den Kynismus nächstes Mal abzuschlie:!:>en. ze
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Anmerkungen r
:!
>>Überhaupt aber mache ich Profession, ein Prophet der Wahrheit und Freymüthigkeit zu sein« (Der Verkauf der philosophischen Sekten, § 8, a. a. O. [ s . ob en, S . 2 3 I , Anm. 6] , S . 3 7 5 ). Gregor von Nazianz, Predigt 2 5 ; vgl. oben, Vorlesung vom 29. Februar,
erste Stunde. 3 Vgl. in L'Usage desplaisirs, Kap . V (»Le veritable amour« , a. a. O . , S . 2 5 1 269; dt.: Der Gebrauch der Lüste, »Die wahrhafte Liebe«, S . 287-3 I O). 4 Platon, Hippias der kleinere, 3 6 s a, i n : Platon: Sämtliche Werke, r . B d . , übers. v . L. Georgii, Heidelberg I 9 8 2, S. I 5 3 · 5 Ebd., 3 64c, S . I 5 2· 6 Tatsächlich ist es Hippias, der Achilles auf diese Weise im Abschnitt 3 64e charakterisiert (» [Homer] beleuchtet [ . . . ] den Charakter eines j e den der beiden Männer, so zwar, daß Achilles wahrhaftig sein solle und gerade (haploustatos kai alethestatos)« (ebd .).
2 99
7 Platon, S. I p .
Der Staat,
II. Buch, 3 8 2e, übers. v. K. Vretska, Stuttgart 1 9 8o,
8 Platon, Der Staat, VIII. Buch, 5 6 1 b - 5 6 r d, a. a. 0., S. 3 7 I f. 9 »Aber ein wahrhaftiges Wort (logon alethe) empfängt er nicht, noch läßt er es in seine Burgiogenes gezwungen gewesen, die Stadt zu verlassen, sei aus ;ewandert und in Athen ins Exil gegangen.1 1 Diagenes Laer ::us erzählt noch weitere Versionen mit B ezug auf dasselbe T:':lema. [Einigen dieser Versionen] zufolge - er zitiert Eubu ��des - hat Diagenes s elbst, und nicht sein Vater, Geld ge :.ilschtP Nach anderen Quellen hätte Diagenes spontan das Orakel von D eiphi befragt - in dieser Version scheinen weder �: selbst noch sein Vater Geld gefälscht zu haben -, und das {)rakel soll ihm gesagt haben: »Fälsche die Münze« oder » än ±ere den Wert der Münze« . 1 3 Schließlich kombiniert derselbe Diagenes in einer komplizierteren Version die von ihm zuvor ;enannten Versionen und sagt: Manchen zufolge hätte Dioge ::es in seiner Kindheit und Jugend Münzen gefälscht, die sein Yater ihm gegeben hätte - hier finden wir den Vater und sein \/erhältnis zum Geld wieder -, weshalb Diogenes ' Vater als \"erantwortlicher dieser Fälschung ins Gefängnis kam und dort ;:arb. Diagenes wäre zur Strafe verbannt worden oder selbst :usgewandert. Er wäre nach Deiphi gegangen und hätte dem .±dphischen Gott die Frage gestellt: Wie wird man berühmt ? ::nd das Orakel hätte ihm dann gesagt: Präge die Münze um.14 Sie sehen, daß in dieser Erzählung alles miteinander kombi ::iert wurde: der Vater, die Fälschung des Geldes durch Dioge ::es und dann das delphische Gebot »Präge die Münze um« paracharaxon to nomisma). Immerhin wird das Prinzip, die Münze umzuprägen, regelmä Gig mit dem Kynismus assoziiert, und in den Lebensbeschrei jungen, die Diagenes Laertius erzählt, finden wir eine ganze R.eihe von Anekdoten, die die Kyniker regelmäßig mit dem Geld, seiner Verwendung, seinem richtigen oder verfälschten Gebrauch assoziieren. So war beispielsweise Diagenes Laer :ius zufolge Monimos, der der erste Schüler von Diagenes dem Kyniker gewesen sein soll, Diener eines Bankiers . 1 5 Krates sei ::in überaus reicher Mann gewesen, der, nachdem er das Ver mögen s eines Vaters geerbt hatte, dieses Vermögen aufgegeben :.1nd das Geld an die Armen verteilt hätte, wenn er nicht das ganze geerbte Bargeld einer anderen Version zufolge ins Meer JIJ
geworfen hat.16 In der Lebensbeschreibung von Menippos, die Diogenes Laertius nach Hermippos zitiert, sei Menippos ein Wucherer gewesen, der Schätze angehäuft hätte, aber am Ende von seinen Gegnern ruiniert worden sei und sich aus Verzweif lung erhängt hätteY Was Bion von Borysthenes betrifft - der sich an der Grenze zwischen einer bestimmten Form des Pla tonismus und des Kynismus befindet -, so erzählte er Dioge nes Laertius zufolge, daß sein Vater, nachdem er die Steuerbe hörde betrogen hatte, mit seiner ganzen Familie verkauft worden sei. Und so sei Bion von Borysthenes zum Sklaven ge worden.1 8 Wie Sie sehen, wird sehr oft, wenn es um die Kyni ker geht, eine Geschichte über das Geld, die Bank, den Geld wechsel erzählt. Wichtig ist j edoch und das möchte ich festhalten, daß das Prin zip >>Präge die Münze um«, >> Ändere den Wert deiner Münze« als ein Leb ensprinzip und sogar als das grundlegendste und charakteristischste Prinzip der Kyniker gilt. Als Julian bei spielsweise seine beiden großen Reden gegen die Kyniker schreibt, nimmt er sehr oft auf dieses Prinzip B ezug: die Mün ze umprägen, den Wert der Münze ändern. In der Rede Gegen die unwissenden Hunde - erinnern Sie sich, ich habe letztes Mal darüber gesprochen - stellt Julian den Kynismus als eine Art von universeller Philosophie dar, deren wesentliche Züge man in allen anderen Philosophien wiederfindet und deren Grundprinzipien nicht nur bis auf Herkules zurückgehen, sondern auf den Ursprung der Menschheit. In derselben Passa ge spricht Julian aus, was für ihn die beiden Prinzipien des Ky nismus sind; er macht darauf aufmerksam, daß diese beiden Prinzipien genausoweit zurückgehen wie der pythische Apol lon. Die beiden Prinzipien sind nämlich erstens >>Erkenne dich selbst« und zweitens »paracharaxon to nomisma« (bewerte dein Geld neu, präge deine Münze um, ändere ihren Wert) . Und er fügt folgendes hinzu: Wenn das Prinzip, an das die Ky niker sich binden und auf das sie sich berufen, nicht an Diage nes allein gerichtet wurde, weil es ja auch insbesondere an So krates gerichtet wurde und allgemeiner noch an alle gerichtet
war (es war in das Tor des Tempels selbst eingraviert), wurde dagegen das Prinzip »paracharaxon to nomisma« nur an Dio ;enes gerichtet. Julian zufolge hätte sich also von diesen beiden sroßen grundlegenden Prinzipien, von diesen universalsten Prinzipien der Philosophie das eine an alle und an Sokrates gerichtet (»Erkenne dich selbst«), während das andere Diage nes allein vorbehalten geblieben sei (»Präge deine Münze ::m«). t9 In der anderen Rede (Gegen den Kyniker Herakleios) stellt Ju )ian, der noch einmal an die beiden delphischen Prinzipien er :.nnert (»Erkenne dich selbst«, >> Ändere den Wert deiner Mün ze« ) , die wichtige und interessante Frage nach dem Verhältnis iieser Prinzipien.20 Soll man seine Münze umprägen, um sich selbst zu erkennen oder kann man seine Münze umprägen, in dem man sich selbst erkennt ? Julian entscheidet sich für die zweite Lösung, wenn er sagt, daß der, der sich s elbst kennt, ge ::;.au weiß, was er ist und nicht bloß, was er zu sein scheint. D er Sinn, den Julian der Gegenüberstellung und Koordinierung dieser beiden Gebote gibt, wäre also folgender: Das grundle gende Gebot ist >>Präge deine Münze um«; aber diese Umprä gung kann sich nur über den Weg und die Vermittlung des »Er kenne dich selbst>Hundes « . Zu den Gründen, aus denen Diagenes »der Hund« genannt worden war, gibt es verschiedene Interpretationen. Die einen haben mit einem bestimmten Ort zu tun: wegen des Ortes, den Diagenes als sein Heim wähltePAnderen Interpre tationen zufolge sei diese Bestimmung eine Folge dessen, daß er das Leben eines Hundes geführt habe. Da er von den ande ren als Hund betrachtet wurde, habe er sich dies es Attribut zu eigen gemacht und sich zum Hund erklärt. Auch hier spielt der Ursprung der Formel eigentlich keine Rolle. Das Problem be steht vielmehr darin, welche Bedeutung sie annimmt und wie man sie in dieser kynischen Tradition benutzt, die man im er sten Jahrhundert unserer Zeitrechnung erkennen kann. B ei einem Kommentator von Aristoteles23 - aber auch andere Autoren nehmen oft darauf Bezug - finden wir folgende Inter pretation des bios kynikos, die kanonisch gewesen zu sem
;;cheint. Erstens ist das kynikos Leben insofern wie das Leben :i:tes Hundes, als es ohne Schamgefühl, ohne Scham, ohne :nenschliche Ehrfurcht ist. Es ist ein Leben, das in der Ö ffent :ichkeit und in den Augen aller das tut, was allein die Hunde :.:.nd Tiere zu tun wagen, während es die Menschen gewöhnlich ·;erbergen. Das Leben des Kynikers ist das Leben eines Hun jes, da es unzüchtig ist. Zweitens ist das kynische Leben das Leben eines Hundes, weil es wie das der Hunde gleichgültig :sc. Gleichgültig gegenüber allem, was geschehen mag, ist es an =-ichts gebunden, begnügt sich mit seinem B esitz und kennt ;;;eine anderen Bedürfnisse als j ene, die es unmittelbar befriedi ;en kann. Drittens gleicht das Leben der Kyniker dem Leben o:ines Hundes, es erhielt das Attribut kynikos, weil es gewisser :naßen ein Leben ist, das bellt, ein diakritisches (diakritikos) Leben, d. h. ein Leben, das imstande ist, sich zu schlagen, die Feinde anzubellen, das die Guten von den Schlechten zu unter o durch seine leibli che Erscheinung den Beweis erbringen, daß das schlichte und einfache Leben unter freiem Himmel auch die Gesundheit nicht schädigt«.9 Genau das tat Diogenes : denn er ging umher »strahlend von Gesundheit und [zog] gerade durch sein glän zendes Aussehen die Augen der Menge auf sich« . 1 0 Der Ky niker ist also wie die sichtbare Statue der Wahrheit. Von allen überflüssigen Verzierungen befreit, von allem, was für den Körper gewissermaßen das Gegenstück zur Rhetorik wäre, aber zugleich blühend und in voller Gesundheit: das eigentli che Sein des Wahren, das durch den Körper sichtbar gemacht wird. Das ist einer der ersten Wege, einer der ersten Pfade, demgemäß das kynische Leben eine Offenbarung der Wahr heit sein soll. Aber das kynische Leben hat noch weitere Verantwortlichkei ten, andere Aufgaben gegenüb er der Wahrheit. Das kynische Leben soll auch eine genaue Selbstkenntnis beinhalten. Nicht nur die Statue der Wahrheit, sondern auch die Arbeit der Wahrheit des Selbst an sich selbst. Diese Selbsterkenntnis soll zwei Aspekte annehmen. Erstens soll der Kyniker immer in 4 00
der Lage sein, seine Fähigkeiten ordentlich und korrekt zu be urteilen, so daß er die Prüfungen bestehen kann, denen er [aus gesetzt] sein mag, so daß er vermeidet, daß er in der Arbeit an sich selbst nur Situationen begegnet, in denen er besiegt wer den könnte. Der Kyniker ist wie ein Athlet, der sich auf 0lym pia vorbereitet. Aber offensichtlich handelt es sich um einen Kampf, der darüber hinaus ernst ist, weil es ein Kampf gegen die Ü bel ist, gegen die Laster und die Versuchungen. Diese Einschätzung seiner selbst, dieses Maß, das man von sich selbst nehmen soll, bevor man sich den Prüfungen stellt, bringt Epik tet im Absatz 5 r zum Ausdruck, als er seine Empfehlungen dem gibt, der Kyniker sein will: »Nimm erst mal einen Spiegel und betrachte deine Schultern, deine Hüfte und deine Schen kel. « 1 1 Aber diese Selbsterkenntnis soll außerdem noch etwas anderes sein. Sie soll nicht nur eine Selbsteinschätzung sein, sondern auch eine ständige Wachsamkeit über sich selbst, eine Wach samkeit, die sich wesentlich auf die Bewegung der Vorstellun gen selbst beziehen soll. Erinnern Sie sich an jene Passage, die ich Ihnen letztes Mal zitierte, wo Epiktet sagte: Genau wie der Zimmermann als Rohstoff das Holz verwendet, so soll der Ky niker seine Seele als Rohstoff für seine eigene Arbeit nehmen.12 Die Bewegung der Vorstellungen soll unablässig Gegenstand dieser Wachsamkeit sein. Der Kyniker soll der Wächter seines eigenen Denkens sein. Im Hinblick auf die moralische Person und den Gebrauch der Vorstellungen sagt Epiktet daher - auch hier sehen Sie leicht, wie stark die stoische Abwandlung in die sem Text ist, aber im Augenblick spielt das keine Rolle - : »[ . ] da solltest du einmal sehen, was er für Falkenaugen hat; dann würdest du sagen: >Argos war nichts gegen ihn ! «< 1 3 Folglich soll jeder sich selbst gegenüber wie ein Argos sein. 14 Alle Au gen, die er besitzt, sollen auf ihn selbst gerichtet sein. Und Epiktet fährt fort: >> Ist etwa seine Zustimmung vorschnell, sein Wollen vergeblich, sein B egehren fruchtlos, sein Meiden um sonst [das sind die vier großen Kategorien des Stoizismus; M. F.], sein Vorhaben erfolglos ? Wo gäbe es bei ihm Murren, . .
Kleinmut oder Neid ? In der Hinsicht ist seine Achtsamkeit groß (prosoche kai syntasis).« 1 5 Sich selbst messen als o, aber auch über sich selbst wachen, Einschätzung der eigenen Fähig keiten und ständiger Blick auf den Fluß der eigenen Vorstel lungen, das soll den Kyniker auszeichnen. Aber dieses Verhältnis zur Wahrheit seiner selbst, zu den ei genen Fähigkeiten und zum Fluß der Vorstellungen soll von einem anderen sekundiert werden, das ein Verhältnis des Ü ber wachens der anderen ist. Der Kyniker, der sich selbst gegen über ein Argos ist, soll nicht nur die tausend Augen, mit denen er ausgestattet ist, auf sich selbst richten, sondern auch auf die anderen. Er soll betrachten, was sie tun, was sie denken, und ihnen gegenüber eine ständige Prüfung durchführen. Daher rührt die B edeutung des Verbs episkopein, das Epiktet mehr mals wiederholt, wenn es darum geht, die Tätigkeit der Kyni ker zu bestimmen. Die Kyniker sind die Episkope der anderen. Erinnern Sie sich an j ene Passage von Epiktet, die ich Ihnen letztes Mal zitierte, wo er die Verdienste j enes anständigen Fa milienvaters bewertet, der zufällig zwei oder drei rotznasige Gören in die Welt setzt. 1 6 Gegenüber diesem haben die Kyni ker ihrerseits im Hinblick auf die gesamte Menschheit eine Aufgabe, eine Verantwortlichkeit und ein Verdienst, die viel größer sind, weil sie nach Maßgab e ihrer Kraft ihre Ü berwa chung (episkopountes) aller Menschen ausüben, indem sie be obachten, was sie tun, wie sie ihr Leben verbringen, worum sie sich kümmern und was sie entgegen ihren Pflichten vernach lässigen. Prüfung, Ü berwachung der anderen, die dem prüfen den Blick unterstellt werden. Das ist noch eine weitere Funk tion, eine weitere Modalität [der Ums etzung] der Praxis der Wahrheit. Es sollte j edoch klar sein, daß die Kyniker, wenn sie das tun, wenn sie die anderen prüfen und ihre Handlungen überwa chen, wenn sie die Art und Weise belauern, wie sie ihr Leben verbringen, nicht zu den Leuten gehören - vor denen die Grie chen übrigens große Angst hatten und die sie so häufig kriti sierten -, die sich um die Angelegenheiten der anderen küm-
mern, sich in sie einmischen, ihre Nase überall hineinstecken. Von diesem Makel, dieser Einstellung, die von den Griechen so beständig kritisiert wurde, muß der Kyniker abstehen, wenn er sich ordentlich um die Angelegenheiten der anderen küm mertY Indem er sich um die anderen kümmert, soll der Kyni ker sich tatsächlich darum kümmern, was bei den anderen zur Menschheit im allgemeinen gehört. Insofern der Kyniker sich so um die anderen kümmert, indem er jene polypragmosyne vermeidet, die sich in die Angelegenheiten von allen und j edem einmischt, indem er in den Handlungen der anderen nur das betrachtet, was zur Menschheit gehört, kümmert er sich of fenbar also zugleich um sich selbst, weil auch er ein Teil der Menschheit ist. Auf diese Weise steht seine eigene Solidarität mit der Menschheit in Frage. Sie ist der Gegenstand seiner Sor ge, seiner Besorgnis, seiner Ü berwachung, wenn er die Hand lungsweise der Menschen betrachtet, wenn er sieht, wie sie ihr Leben verbringen und wenn er sich fragt, wofür sie Sorge tra gen. Der Kyniker ist also j emand, der, indem er sich um die an deren sorgt, um zu wissen, worum sich die anderen sorgen, sich zugleich und dadurch um sich selbst kümmert. So haben wir bei Epiktet in den Absätzen 96 und 9 7 folgen de Passage: Warum » sollte er da nicht getrost zu seinen Brü dern, seinen Kindern frei von der Leber weg sprechen [hier sind wir mitten in der parrhesia; M. F.], überhaupt zu seinen Verwandten ? « 1 8 Syngeneis: das bezeichnet natürlich die ge samte Menschheit. Der Kyniker ist »nicht etwa ein Mensch, der sich um Dinge kümmert, die ihn nichts angehen fpolyprag mon: jemand der sich zu sehr um die Angelegenheiten der an deren kümmert; M. F.], oder etwa übertrieb en geschäftig; denn er kümmert sich ja nicht um fremde Angelegenheiten, wenn er das menschliche Treiben beobachtet, sondern um seine eige nen.«19 Andernfalls müßte man auch meinen, daß »der Gene ral, der seine Truppen besichtigt (episkope)«, sie durchmustert (exetaze), sie überwacht und diej enigen züchtigt, die die Dis ziplin durcheinanderbringen, polypragman (vorwitzig) ist, wenn man j emanden wie den Kyniker, der sich um die Angele-
genheiten der Menschen kümmert, polypragman nennen soll te .20 Ein General hat nicht als vorwitzig zu gelten, wenn er sich um seine Soldaten kümmert, wenn er sie mustert und über wacht. Er ist kein Vorwitziger, weil sich der Blick des Generals gewissermaßen nicht auf das individuelle Leben der Soldaten richtet, sondern auf all das, wodurch der Soldat ein Teil der Ar mee ist. Genauso wie der General, der sich um seine Soldaten kümmert, sich auch um die gesamte Armee kümmert und so mit auch um sich selbst, da er j a ebenfalls ein Teil von ihr ist und die Verantwortung für sie trägt, ist auch der Kyniker, wenn er sich um die Menschheit wie ein General kümmert, der seine Inspektion vornimmt, kein polypragmon. Er ist kein Vor witziger, der sich in das Privatleben eines j eden hineindrängen würde, er stellt die gesamte Menschheit in Frage, zu der er selbst gehört. Die Sorge um die anderen fällt somit genau mit der Sorge um sich selbst zusammen. Nun bezweckt aber - und das ist ein neuer Aspekt dieser Arbeit an der Wahrheit - die Ü berwachung seiner selbst, die zugleich eine Ü berwachung der anderen ist oder die Ü berwa chung der anderen, die zugleich Ü berwachung seiner selbst ist, eine Veränderung, die in Epiktets Text unter zwei Aspekten er scheint: eine Veränderung im Verhalten der einzelnen; aber auch ein Verhalten in der allgemeinen Konstellation der Welt. Erstens eine Veränderung im Verhalten. Der Kyniker soll den anderen durch die Reden, die er hält, die Kritiken, die er aus teilt, die Skandale, die er verursacht, zeigen, daß sie sich ganz und gar im Irrtum über das Gute und Böse befinden und daß sie das Wesen des Guten und des Bösen dort suchen, wo es in Wirklichkeit nicht ist. Der Kyniker soll sich auf diese Weise an die Leute wenden, die ihn umgeben, und ihnen sagen: >>Wehe, ihr Menschen, wohin treibt ihr ? Was tut ihr Elenden ? Wie Blinde irrt ihr hin und her ! Ihr seid vom wahren Wege abge kommen [ihr folgt einem anderen Weg: allen hodon; M. F.] und geht in die Irre [nachdem ihr den wahren Weg (ten ousan) ver lassen habt]; ihr sucht euer Heil und das Glück, wo es nicht ist, und wenn es euch ein anderer zeigen will, wollt ihr ihm nicht
glauben ! «21 Diese Passage ist interessant, weil sie einerseits zeigt, was der eigentliche Gegenstand des kynischen Diskurses ist, der Gegenstand seiner verbalen Intervention, das Ziel der »Diatribe«, um diese besondere Ausdrucksform zu verwen den, die für die Kyniker charakteristisch war. Das Ziel dieser Intervention besteht darin, den Menschen zu zeigen, daß sie sich irren, daß sie die Wahrheit anderswo suchen, daß sie das Prinzip des Guten und des Bösen an der falschen Stelle suchen, daß sie den Frieden und das Glück anderswo suchen, daß sie sich nicht dorthin wenden, wo diese Dinge sich wirklich befin den. B etrachten Sie die ganze B edeutung, die in diesem Spiel das Anderswo und das Andere spielen: Ihr sucht den Frieden und das Glück anderswo, ihr folgt einem anderen Weg. Nun erin nern Sie sich aber daran, daß das Prinzip des Kynismus gerade in der Behauptung besteht, daß das wahre Leben ein anderes Leben ist. Einer der wesentlichen Punkte der kynischen Praxis hat gerade damit zu tun, daß der Kyniker, indem er - wir hatten das letztes Mal gesehen - die traditionellsten Themen der klas sischen Philosophie wiederaufnimmt, den Wert dieser Münze ändert und offenbar macht, daß das wahre Leb en im Vergleich mit dem traditionellen Leben der Menschen, einschließlich der Philosophen, nur ein anderes Leben s ein kann. Ein wahres Le ben ist nur als anderes Leben möglich, und vom Gesichtspunkt dieses anderen Lebens wird man das gewöhnliche Leben der gewöhnlichen Leute gerade als etwas anderes als das wahre Le ben erscheinen lassen. Ich lebe auf andere Weise und durch die Andersheit meines Lebens zeige ich Ihnen, daß das, was Sie su chen, anderswo ist als dort, wo Sie es suchen, daß der Weg, den Sie einschlagen, ein anderer Weg ist gegenüber dem, den Sie nehmen müßten. Und das wahre Leben - das zugleich Lebens form, Selbstverwirklichung, Plastik der Wahrheit ist, aber auch ein Unternehmen des Nachweises, der Ü berzeugung, der Ü berredung durch die Rede - hat die Funktion zu zeigen, daß, obwohl es anders ist, es die anderen sind, die sich in der An dersheit, im Irrtum, dort befinden, wo sie nicht sein sollen. Die
Aufgab e der kynischen Veridiktion besteht also darin, alle Menschen, die kein kynisches Leben führen, an diese Lebens form zu erinnern, die das wahre Leben ist. Nicht die andere, die sich im Weg geirrt hat, sondern dieselbe, die der Wahrheit treu ist. Dadurch bezieht sich Epiktet auf eine Lebensform, die nicht bloß eine Reform der Individuen wäre, sondern eine Reform der ganzen Welt. Man soll nämlich nicht meinen, daß der Kyni ker sich an eine Handvoll Menschen wendet, um sie zu über zeugen, daß sie ein anderes als ihr tatsächliches Leben führen sollten. Der Kyniker wendet sich an alle Menschen. Allen die sen Menschen zeigt er, daß sie ein anderes Leben als das führen, das sie eigentlich sollten. Und dadurch taucht zwangsläufig eine ganz andere Welt auf, die jedenfalls im Horizont der kyni schen Praxis sein und deren Ziel ausmachen muß::· '' Das Manuskript enthält hier präzisere Angaben, die nicht in die Vorle sung aufgenommen wurden: »Epiktet bezieht sich zumindest in dieser Passage auch auf das wahre Leben, als ob es eine andere Welt sei. Man darf diese andere Welt nicht wie Platon verstehen, d. h. als eine Welt, die den Seelen nach ihrer Erlö sung vom Körper versprochen wäre. Es handelt sich um einen anderen Zustand der Welt, um eine andere >Katastasis< der Welt, um einen Stadt staat der Weisen, wo für den kynischen Aktivismus kein B edarf wäre. Die Bedingung jedoch, um zu diesem wahren Leben zu gelangen, be steht darin, daß jeder Mensch eine Beziehung der Wachsamkeit gegen über sich selbst ausbildet. Das Prinzip des wahren Lebens ist weder im Körper noch in der Ausübung der Macht noch im B esitz eines Vermö gens zu suchen, sondern in sich selbst. In allen diesen Gedanken geht vieles auf den Stoizismus zurück, aber man sieht klar formuliert, was den wichtigsten historischen Kern des Kynismus ausmacht: nämlich daß das wahre Leben das Leben der Wahrheit ist, das die Wahrheit offenbart, das die Wahrheit in der Beziehung zu sich selbst und den anderen prakti ziert, und zwar so, daß dieses Leben der Veridiktion die Verwandlung der Menschheit und der Welt zum Ziel hat. Der Kynismus hat zur philo sophischen Lehre zweifellos nur ganz wenig beigetragen: Er hat kaum mehr getan, als ihr die traditionellsten und geläufigsten Formeln zu ent lehnen. Aber er hat dem philosophischen Leben eine so einzigartige Form gegeben, er hat die Wirklichkeit eines anderen Lebens so stark be tont, daß er [für] Jahrhunderte die Frage nach dem philosophischen Le ben geprägt hat. Eine geringe Bedeutung in der Geschichte der Lehren.
Metaphysische Erfahrung der Welt, historisch-kritische Erfah rung des Lebens: Hier haben wir zwei grundlegende Kerne in der Entstehung der europäischen oder abendländischen philo sophischen Erfahrung. Wir sehen j edenfalls, wie mir scheint, daß sich im Kynismus die Matrix dessen abzeichnet, was die ganze christliche und moderne Tradition hindurch eine geach tete Lebensform war, d. h. die Matrix eines Lebens, das der Wahrheit gewidmet ist, das sowohl der tatsächlichen Manife station der Wahrheit (ergo) als auch der Veridiktion, dem Wahr sprechen, der Manifestation im Diskurs (logo) der Wahrheit gewidmet war. Und diese Praxis der Wahrheit, die das kynische Leben charakterisiert, hat nicht nur zum Ziel, daß gesagt und gezeigt wird, was die Welt in ihrer Wahrheit ist, sondern sie hat auch zum Ziel, und zwar zum letzten Ziel, zu zeigen, daß die Welt ihre Wahrheit nur finden kann, daß sie sich nur verwan deln und anders werden kann, um zu finden, was sie in Wahr heit ist, um den Preis einer Veränderung, einer völligen Ä nde rung, nämlich der völligen Veränderung im Verhältnis, das man zu sich s elbst hat. Und in dieser Rückkehr von sich zu sich selbst, in dieser Sorge um sich liegt das Prinzip des Ü bergangs zu dieser anderen Welt, die der Kynismus verspricht. Das ist im großen und ganzen das, was ich Ihnen über den Ky nismus sagen wollte. Mein Vorhaben - und hier gehe ich zum zweiten Teil dessen über, was ich Ihnen heute sagen wollte war nicht, beim Kynismus zu verweilen, sondern Ihnen zu zei gen, wie der Kynismus zu einer anderen Form, einer anderen Bestimmung der Verhältnisse zwischen dem wahren Leben, dem anderen Leben und der parrhesia, dem Diskurs der Wahr heit führen konnte und auch tatsächlich geführt hat. Es ist klar - wie gesagt, ich möchte darauf nicht zurückkommen -, daß das Porträt des Kynikers, das wir Epiktet zeichnen sahen, in keiner Weise eine genaue historische Darstellung des kyni schen Lebens ist. Es kann keineswegs als klare und zusammen hängende Darstellung der allgemeinen Prinzipien des kyniEine beträchtliche Bedeutung in der Geschichte der Lebenskünste und in der Geschichte der Philosophie als Lebensform.«
sehen Lebens betrachtet werden. Es ist ein Gemisch, ein Ge misch aus Lehren und ein Gemisch aus Praktiken. Aber wenn ich die Analyse des Kynismus bis zu diesem Punkt getrieben habe, wenn ich am Ende als letzten B ezugspunkt die sen Text von Epiktet über den Kynismus genommen habe, der gewissermaß en unrein und vermischt ist, dann deshalb, weil ich zeigen wollte, wie sich um den Kynismus herum eine Reihe von Themen angeordnet haben, die anderen Philosophien ent lehnt wurden, insbesondere dem Stoizismus, und wie der Ky nismus durch diese Kombination eine bestimmte Form anneh men konnte, die, wie gesagt, zweifelsohne im Vergleich mit dem, was vermutlich die wahre kynische Lehre in ihrer Rein heit, Einfachheit und Ungeschliffenheit war, unrein und ver mischt ist. Aber an dieser etwas vermischten und ziemlich rät selhaften Persönlichkeit, die Epiktet im Gespräch 22 des III. Buchs darstellt, konnten Sie schon eine Reihe von Elementen erahnen, denen wir später und insbesondere in der christlichen Erfahrung wiederbegegnen werden. Denn die Vorstellung eines Missionars der Wahrheit, der zu den Menschen kommt, um ihnen das asketische Beispiel des wahren Lebens vorzuführen, um sie an sich selbst zu erinnern, um sie wieder auf den rechten Weg zu bringen und ihnen eine andere Katastasis der Welt zu verkünden, diese Persönlichkeit geht natürlich einerseits bis zu einem gewissen Grad auf das s okratische Erbe, ein modifiziertes Erbe, zurück, aber Sie se hen auch, daß sie sich bis zu einem gewissen Grad dem christli chen Vorbild annähert. Nächstes Jahr werde ich vielleicht versuchen - aber mit allen Vorbehalten, denn ich gestehe, daß ich mir darüber noch nicht im klaren bin, ich habe mich noch nicht entschlossen -, die Er forschung dieser Themen etwas fortzusetzen. Ich werde viel leicht versuchen, die Geschichte der Lebenskünste, der Philo s ophie als Lebensform, der Askese in ihrem Verhältnis zur Wahrheit eben im Christentum nach der antiken Philosophie weiterzuverfolgen. Jedenfalls möchte ich Ihnen heute einfach eine ganz kurze
Skizze vorstellen, eine Art von Ausgangspunkt für derartige Analysen. Für mich ist es ein Ausgangspunkt, wenn ich sie weiterführe; für Sie ist es eine Anregung, wenn Sie sie Ihrerseits wieder aufgreifen. Was ich Ihnen sagen werde, ist also voll kommen vorläufig, völlig ungewiß und noch ganz im Fluß . Es handelt sich um Ideen, die mir gekommen sind und die ich ver sucht habe, auf eine Reihe von Texten und Stellen zu stützen (aber natürlich unter dem Vorbehalt, daß man vielleicht alles neu bearbeiten, alles wieder einreißen und ganz anders von neuem beginnen müßte). Jedenfalls würde ich die Dinge fol gendermaßen sehen. Wenn ich den Ü bergang von einer heid nischen zur christlichen Askese zu analysieren hätte, dann scheint mir, daß ich mich im Augenblick ungefähr in folgende Richtung bewegen würde. Erstens - das ist ziemlich naheliegend - müßte man versuchen, die bereits wohlbekannte und ziemlich gut bestimmte Konti nuität zwischen den Praktiken der Askese, den Formen der Ausdauer, den Arten von Übungen, die man im Kynismus fin det, und denen, die einem im Christentum begegnen, etwas zu rekonstruieren. Mir scheint nämlich, wie gesagt unter dem Vorbehalt von etwas präziseren Ergebnissen, daß zwischen dem, sagen wir aktivistischen, aggressiven, sich selbst und den anderen gegenüber unnachgiebigen Kyniker und dem christli chen Asketen eine Reihe von Gemeinsamkeiten besteht. Man könnte beispielsweise versuchen, die ganz wichtige Geschichte der Beziehungen zur Ernährung, zum Fasten, zur Askese im Hinblick auf die Ernährung zu verfolgen, die viel wichtiger ist als die Geschichte der Sexualität und die in der Antike und im Urchristentum wiederum von zentraler Bedeutung war. D er Augenblick, in dem die sexuelle Askese die Oberhand über die Probleme der Nahrungsaskese gewinnt, findet später statt. Zu Beginn ist jedenfalls das Problem der Nahrungsaskese ganz wichtig. Sie erinnern sich, wie bedeutend es [für] die Kyniker war. Sie finden es in ziemlich ähnlichen Formulierungen bei den Christen wieder, mit dem Unterschied j edoch, daß die Christen die Praktiken des Verzichts der Kyniker unendlich
viel weiter getrieben und versucht hab en, sie noch zu radikali sieren. Sie wissen, daß es beim Kynismus darum ging, durch eine kontinuierliche Arbeit an sich selbst zu einem Punkt zu gelangen, an dem die Befriedigung der B edürfnisse völlig er reicht wäre, ohne daß man der Lust selbst irgendein Zuge ständnis machen würde. Oder besser, um das Maximum an Lust mit einem Minimum an Mitteln zu erreichen, praktizierte der Kyniker eine Art von reduzierter Ernährung. Die Redukti on der Ernährung, die Reduktion dess en, was man ißt und trinkt, auf diej enige elementare Nahrung und diej enigen ele mentaren Getränke, die ein Maximum an Lust mit den gering sten Kosten verschaffen, danach strebte man im großen ganzen im Kynismus. Im Christentum begegnen wir jedoch etwas anderem. Wir finden zwar dieselbe Vorstellung, daß man die Grenze anstreben s oll, aber diese Grenze besteht keineswegs in einem Gleichgewicht zwischen dem Maximum an Lust und dem Minimum an Mitteln. Im Gegenteil wird es um die Re duktion j eglicher Lust gehen, und zwar so, daß weder die N ah rung noch die Getränke j emals an sich irgendeine Art der Lust hervorrufen. Es gibt also zugleich eine Kontinuität und eine bestimmte B ewegung zu einer Grenze hin. Man könnte auch an die christliche Askese denken, und zwar s owohl, wie sie sich mit großer Intensität im 3 · und 4 · Jahrhun dert entwickelt, als auch, wie sie anschließend b egrenzt, regu liert und in b estimmte Formen des Zönobitismus integriert und fast schon sozialisiert wird. Bevor sie j edoch die Formen des Zönobitismus in seinem gewissermaßen wilden und freien Aspekt angenommen hat, findet man in dieser Askese wie im Kynismus die Themen des Skandals, der Gleichgültigkeit ge genüber den Meinungen der anderen, auch der Gleichgültig keit gegenüber den Machtstrukturen und ihrer Vertreter. Ich zitiere Ihnen aus dem Immerwährenden Gebet bei den Vätern einen Text, der sich auf den Abt Theodor von Pherme bezieht, der eines Tages B esuch von einem Mächtigen erhielt. Gerade als dieser Mann ihn besucht, bemerkt ein anderer Asket, daß der Abt Theodor eine entblößte Schulter und nackte Brust hat. 410
Er weist den Abt darauf hin, welcher erwidert: Sind wir die Sklaven der Menschen ? Ich treffe jedenfalls die Menschen, so wie ich bin. Wenn mich einer besucht, antworte ihm nichts Menschliches (anthropinon). Wenn ich esse, sag ihm: Er ißt. Wenn ich schlafe, sag ihm: Er schläft. Mit dem Ausdruck »Menschlichkeit« bezieht sich der Text wohl auf die Mensch lichkeit in ihrer Materialität, aber so, daß diese an Konventio nen gebunden ist, durch die sie in der Form dessen, was für die gesamte Menschheit annehmbar ist, gemildert und sozialisiert wird. Wenn man ißt, dann ißt man. Wenn man schläft, dann schläft man. Diese Roheit der materiellen Existenz soll gegen alle Werte der Menschlichkeit behauptet werden. In der christlichen Askese finden Sie auch einen gewisserma ßen bestialischen Zug, der in einer Reihe von Texten offen zu tage tritt. B eispielsweise berichtet Gregor der Große von St. Benedikt, daß er sich in seiner Höhle versteckte, als die Hirten ihn entdeckten, und als sie ihn im Dickicht mit einer Tierhaut bekleidet sahen, glaubten sie zuerst, daß er ein Tier sei.22 Die Tiernatur des christlichen Asketen kommt sehr häufig in den Geschichten über das Eremitenturn vor. Oder auch die folgen de Geschichte, [die denen der] heiligen Anachoreten [entnom men ist] und die im dritten Band der Moines d'Orient von Festugiere übersetzt wurde.23 Es handelt sich um einen Ein siedler, der vollkommen nackt lebte und der, so der Text, wie die Tiere Gras aß. Er konnte nicht einmal den Geruch eines Menschen ertragen. Hier geht es um die B ehauptung der vollen Tiernatur, und der Ruf dieses Einsiedlers ist so, daß ein Christ, der selbst sehr asketisch, aber in der Askese weniger fortge schritten ist, ihn treffen möchte und ihn verfolgt. Der Christ, der ihn verfolgt, ist so arm und hat sich so um seine eigene Ar mut gesorgt, daß er nur mit einem Leinensack bekleidet ist. Aber der Einsiedler selbst ist nackt. Der Einsiedler flieht nun vor dem Mann, der versucht, ihn zu verfolgen und ihm zu be gegnen. Der andere läuft hinter ihm her und verliert dabei seine Bekleidung. Er ist nun also genauso nackt wie der Einsiedler, den er verfolgt. In diesem Augenblick bleibt der Einsiedler, der 41 1
bemerkt hat, daß sein Verfolger seine B ekleidung verloren hat, stehen und sagt zu ihm: Ich bleibe stehen, weil du j etzt den Schlamm der Welt abgeworfen hast. Man müßte auf all das ge nauer eingehen, aber mir scheint doch, daß man in diesen Prak tiken des asketischen Leb ens eine Reihe von Elementen wie derfinden würde, die in einer Kontinuität zur kynischen Askese stehen, manchmal mit ihr übereinstimmen, aber auch über sie hinausgehen. Nur hat die christliche Askese im Vergleich zur kynischen Tra dition eine Reihe von anderen Elementen beigetragen. Auch hier wäre ich geneigt, gegenwärtig zwei Dinge hervorzuheben, die mir wichtig zu s ein scheinen, wenn ich eine solche Ge schichte des Ü bergangs von der kynischen Askese zur christli chen Askese zu schreiben hätte. Erstens gibt es in der christlichen Askese natürlich eine Bezie hung zum Jenseits, und nicht zu einer anderen Welt. Selbst wenn Sie also in einer Strömung des Christentums - das ist ge wiß eines der großen Probleme, wie man bei Origenes sehen kann - das Thema einer bestimmten Katastasis der Welt finden (Origenes hätte »Apokatastasis« gesagt), durch die die Welt zu ihrem ursprünglichen Zustand zurückkehrt, so ist doch die Vorstellung im Christentum recht beständig, daß das andere Leben, dem sich der Asket widmen soll und das er erwählt hat, nicht einfach nur zum Ziel hat, diese Welt zu verwandeln - wie gesagt, was auch immer das Thema der Katastasis oder der Apokatastasis sein mag -, sondern es hat auch und vor allem den Zweck, den Menschen, eventuell allen Christen, der ge samten christlichen Gemeinschaft Zugang zu einer anderen Welt zu verschaffen. Insofern kann man, glaube ich, sagen, daß einer der Gewaltstreiche des Christentums bzw. seine philoso phische Bedeutung darin bestand, daß es das Thema eines an deren Lebens als wahres Leben und die Idee eines Zugangs zum Jenseits als Zugang zur Wahrheit miteinander verbunden hat. [Einerseits] ein wahres Leben, das ein anderes Leben im Diesseits ist, [andererseits] der Zugang zum Jenseits als Zugang zur Wahrheit und zu dem, was folglich die Wahrheit dieses
wahren Lebens begründet, das man im Diesseits führt: Diese Struktur ist, wie mir scheint, die Kombination, der Punkt der Begegnung, der Verbindungspunkt zwischen einer ursprüng lich kynischen Askese und einer Metaphysik platonischen Ur sprungs . Das ist sehr schematisch, aber mir scheint, daß wir hier einen der ersten großen Unterschiede zwischen der christ lichen und der kynischen Askes e haben. Die christliche Askese ist schließlich durch eine Reihe von historischen Prozessen, die man natürlich genauer betrachten müßte, dazu gelangt, die pla tonische Metaphysik mit dieser Vision, mit dieser historisch kritischen Welterfahrung zu verbinden. D er zweite große Unterschied ist von ganz anderer Art. Es handelt sich um die Bedeutung, die im Christentum, und nur im Christentum, etwas beigemessen wird, das man weder im Kynismus noch im Platonismus antrifft, nämlich dem Prinzip des Gehorsams, des Gehorsams im weiten Sinne des Begriffs. Gehorsam gegenüber Gott, verstanden als Herr (als despotes), dessen Sklave und Diener man ist; Gehorsam gegenüber Sei nem Willen, der zugleich die Form des Gesetzes annimmt; Ge horsam schließlich gegenüber denen, die den despotes (den Herrn und Meister) vertreten und die von Ihm eine Autorität erhalten haben, der man sich völlig unterwerfen muß. Mir scheint also, daß der andere Wendepunkt in dieser langen Ge schichte der erzählten Askese als Kontrapunkt gegenüber dem Verhältnis zum Jenseits das Prinzip eines Gehorsams einem an deren gegenüber im Diesseits und vom Diesseits aus ist mit dem Ziel, Zugang zum wahren Leben zu erlangen. Ein wahres Leben gibt es nur durch den Gehorsam gegenüber dem ande ren, und ein wahres Leben gibt es nur mit dem Ziel, Zugang zum Jenseits zu erlangen. Diese Art und Weise, das Prinzip des anderen Leb ens als wahres Leben an den Gehorsam gegenüber dem anderen im Diesseits und an den Zugang zum Jenseits in einem anderen Leben zu heften, diese Art und Weise, ein plato nisches Element und ein anderes, das eigentlich christlich oder jüdisch-christlich ist, miteinander zu verketten, diese Verbin dung wird für die beiden großen Wendepunkte der kynischen
Askese sorgen und den Ü bergang von der kynischen zur christlichen Form herstellen. Man bräuehre also den Unter schied zwischen dem Heidentum und dem Christentum gar nicht als einen Unterschied zwischen einer christlichen asketi schen Moral und einer nicht-asketischen Moral der Antike zu charakterisieren. Das ist, wie Sie wissen, ein völliges Hirnge spinst. Die Askese war eine Erfindung der heidnischen Antike, der griechischen und römischen Antike. Wir dürfen also nicht die nicht-asketische Moral der heidnischen Antike der asketi schen Moral des Christentums entgegensetzen. Wir dürfen auch nicht, meine ich, so wie etwa Nietzsche, eine antike Aske se, nämlich die des gewalttätigen und aristokratischen Grie chenlands, im Gegensatz zu einer anderen Form der Askese charakterisieren, die die Seele vom Körper trennt. Der Unter schied zwischen der christlichen Askese und anderen Formen, die sie vorbereitet haben und ihr vorausgingen, muß in dieses zweifache Verhältnis gestellt werden: das Verhältnis zum Jen seits, zu dem man dank dieser Askese Zugang hätte, und das Prinzip des Gehorsams dem anderen gegenüber (Gehorsam dem anderen gegenüber im Diesseits, Gehorsam gegenüber dem anderen, der zugleich Gehorsam gegenüber Gott und den Menschen ist, die ihn vertreten). Auf diese Weise könnte man sehen, wie sich ein neuer Stil des Selbstverhältnisses abzeich net, ein neuer Typ von Machtverhältnissen, eine andere Ord nung der Wahrheit. Diese grundlegenden Veränderungen, die äußerst komplex sind und die ich j etzt nur ganz schematisch skizziere, kann man, glaube ich, ganz gut auf der Oberfläche anhand der Entwick lung des Begriffs der parrhesia als Weise der Selbstbeziehung und B eziehung zu den anderen verfolgen, anhand der Aus übung des Wahrsprechens in der christlichen Erfahrung. Diesen Begriff der parrhesia in der christlichen Erfahrung als Verhältnis zum Jenseits und zu Gott, als Verhältnis des Gehorsams gegen über den anderen und gegenüber Gott, möchte ich Ihnen jetzt kurz erläutern. Wir machen fünf Minuten Pause und sprechen dann über die parrhesia in den ersten christlichen Texten.
Anmerkungen I Epiktet, Gespräche, in: Epiktet, Teles und Musonius, Buch III, Gespräch 22, 9 5 , übers. v. W. Capelle, Zürich I 94S, S. I 4 I . 2 Ebd. 3 Ebd., III, 22, 48-49 > s . I 3 5 . 4 Ebd., III, 2 2 , 6o, S . I 3 6. 5 Ebd., III, 22, 96, S. I 4 L 6 »Denn Kundschafter (kataskopos) ist der Kyniker, dessen nämlich, was den Menschen gut und was ihnen schädlich ist. Und wenn er im Gelän de scharf zugesehen hat, muß er zurückkommen und die Wahrheit be richten, ohne von Furcht benommen oder auf andere Weise von fal schen Vorstellungen betört und verwirrt zu sein S. q2- I 4 3 · I 6 Ebd., III, 22, 77, S . I 39· I 7 Vgl. zu dieser Kritik (hauptsächlich im Ausgang von Plutarchs De curiositate) L'Hermeneutique du sujet, a. a. 0., S. 2 I 0-2 I 3 ; dt.: S. 2 7 5 - 2 8 0. I 8 Epiktet, Gespräche, III, 22, 96, S. 1 4 1 . I 9 Ebd., I II, 22, 97, S . I 4 2 . 20 Ebd., III, 22, 98, S. I 42 . 2 I Ebd., III, 22, 26-27, S. I J Z. 22 Dialogues de Gregoire le Grand, Bd. II, II. Buch: Vie et miracles du ve nerable abbe Benoit, II, I , 8, übers. V. P. Antin, Paris I 979> s. I 3 7· 23 Les Moines d'Orient, übers. v. A.-J. Festugiere, Paris I 96 I - I 96 5 (IIII I , III/z und III/3 : Les Moines de Palestine). Foucault bezieht sich auf eine Anmerkung von Festugiere (III/3, S. I 5> Anm. n ) , der eine Anekdote über die Eremiten von Ä gypten berichtet, »die völlig nackt leben, ohne weitere Kleidung als ihre Haare«. Festugiere zitiert einen Text aus Peri anakoreton hagion: »eiden anthropon boskomenon hos ta theria« (er sah einen Mann, der Gras abweidete wie ein wildes Tier; in: H. Koch, Quellen zur Geschichte der Askese und des Mönchtums in der Alten
Kirche, Tübingen 1 9 3 3 , S. I I 8 - 1 2o). Zu diesem Beispiel schreibt Festu giere: »Der Autor fügt hinzu, daß dieser Eremit flieht, da er den Ge ruch eines Menschen nicht ertragen kann. Der andere setzt ihm nach und wirft während dieser Verfolgung seine Tunika weg (lebetona). Der Eremit bleibt daraufhin stehen und, da er den B esucher nun ganz nackt sieht, empfängt ihn und sagt: »Weil du die hyle tou kosmou abgeworfen hast, habe ich auf dich gewartet« (ebd.).
Vorlesun g 9 (Sitzung vom 2 8 . März 1 9 84, zweite Stunde)
Die Verwendung des Begriffs parrhesia in den ersten vorchristlichen Tex ten: menschliche und göttliche Modalitäten. - Die parrhesia im Neuen Testament: vertrauender Glaube und Öffnung des Herzens. - Die parrhe sia bei den Kirchenvätern: die Unverschämtheit. - Entwicklung eines anti parrhesiastischen Pols: die argwöhnische Selbsterkenntnis. - Die Wahrheit des Lebens als Bedingung für den Zugang zu einer anderen Welt.
Zunächst einige Hinweise - die auch hier völlig skizzenhaft und in Form von Hypothesen ausfallen - zu der sehr merk würdigen Entwicklung der Bedeutung des B egriffs der parrhe sia in den ersten christlichen Texten. Eigentlich möchte ich die se Hinweise um drei Probleme herum anordnen. Erstens die Verwendung des Wortes in vorchristlichen Texten (in j enen, die aus den jüdisch-griechischen Milieus hervorgingen, im we sentlichen bei Philon von Alexandria und in der Version der Septuaginta [der Bibel]; zweitens der Begriff der parrhesia in den apostolischen Texten, vor allem in den patristischen Tex ten, sowie [drittens] in denen der christlichen Askese der ersten Jahrhunderte. Zunächst einige Worte zur Verwendung des Begriffs in den jü disch-hellenistischen Texten. Hier bin ich natürlich überhaupt nicht kompetent, und zwar aus dem ganz einfachen Grund, daß ich kein Hebräisch kann, was zumindest dann unverzicht bar wäre, wenn man die Version der Septuaginta etwas genauer untersuchen wollte. Ich beziehe mich auf Hinweise, die man in einer Reihe von bereits durchgeführten Untersuchungen fin den kann. Unter denen, die am besten zugänglich sind, gibt es [die] von Schlier in dem Artikel »ParrhesiaEr war noch nackt [ . . . ], mit Freimut (en parrhe sia) blickte er in Gottes Antlitz, noch nicht konnte er durch Geschmacks- und Gesichtssinn das Schöne beurteilen, einzig am Herrn hatte er seine Freude [ . . . ] . « 1 8 Das überschneidet sich mit der Vorstellung eines ursprünglichen Lebens bei den Kyni kern, das zugleich auch ein wahres Leben ist, zu dem man zu rückkehren soll, ein Leben der Entsagung und Nacktheit. Sie finden hier die Vorstellung einer parrhesia als parrhesia des Ge genüb ers zu Gott wieder. In diesem ursprünglichen Zustand des Verhältnisses der Menschheit zu Gott haben die Menschen volles Vertrauen. Sie befinden sich in der parrhesia mit Gott: Ö ffnung des Herzens, unmittelbare Gegenwart, direkte Kom munikation der Seele mit Gott. Es gibt eine Reihe von Texten wie diesen hier, die aber am Ende vielleicht weniger aussage-
kräftig sind. Sie sehen, daß der Begriff der parrhesia mit dem positiven Wert des Verhältniss es zu den anderen erscheint, in sofern man in der Lage ist, bis einschließlich zum Märtyrertod den Mut zur Wahrheit aufzubringen. Diesen Mut zur Wahrheit kann man nur insoweit haben, als man ihn in einer Beziehung des Vertrauens auf Gott verankert oder Wurzeln schlagen läßt, die uns Ihm in einer Art des Gegenübers am nächsten bringt, das zumindest bis zu einem gewissen Grad an das ursprüngli che Gegenüber des Menschen und seines Schöpfers erinnert. Das ist der positive Kern dieses Begriffs der parrhesia. Nur, insofern sich im Leben des Christentums, in der christli chen Praxis, in den christlichen Institutionen das Prinzip des Gehorsams durchsetzt, und zwar ebensowohl in der Bezie hung zu sich s elbst wie in der Beziehung zur Wahrheit, wird dieses Verhältnis des Vertrauens - worin die parrhesia be stand - des Menschen zu sich selbst, das sich auf ein Verhältnis des Vertrauens des Menschen zu Gott stützte, dieses Vertrauen (Vertrauen auf das Heil, Vertrauen, daß Gott einen hören wird, daß man Gott nahe ist, daß sich die Seele Gott öffnet) wird sich in einem gewissen Sinne verdunkeln, es wird gegenüber seinem eigenen Ursprung und seiner ursprünglichen Achse erzittern und sich gleichsam mit einem Schleier überziehen. Das Thema der parrhesia als Vertrauen wird durch das Prinzip eines zit ternden Gehorsams ersetzt werden, bei dem der Christ Gott zu fürchten hat und die Notwendigkeit erkennen muß, sich dem Willen Gottes zu unterwerfen und dem Willen derer, die ihn vertreten. Wir werden sehen, wie sich das Thema des Miß trauens gegenüber sich selbst entwickelt sowie die Regel des Schweigens. Aufgrund dessen wird die parrhesia als Ö ffnung des Herzens, als Vertrauensverhältnis , durch die der Mensch und Gott einander gegenüberstehen und ganz nahe sind, davon bedroht, immer mehr als eine Art von Arroganz und Dünkel haftigkeit zu erscheinen. Das alles würde natürlich erfordern, weiter ausgearbeitet zu werden, aber Sie sehen, daß - sagen wir vom 4· Jahrhundert an, aber immer deutlicher im 5 . und 6. Jahrhundert - sich im Chri-
stentum die Autoritätsstrukturen entwickeln, durch die die in dividuelle Askese innerhalb der institutionellen Strukturen, wie j ener des Zönobitismus des kollektiven Mönchtums einer seits und jener des Pastorats andererseits gleichsam eingebettet wird, durch die die Leitung der Seelen Pastoren, Priestern oder Bischöfen anvertraut wird. Zugleich mit der Entwicklung die ser Strukturen wird das Thema eines Verhältnisses zu Gott, das nur durch den Gehorsam vermittelt werden kann, als Voraus setzung und Folge die Vorstellung nach sich ziehen, daß das Individuum nicht durch sich selbst in der Lage ist, sein Heil zu erlangen, daß es durch sich selbst nicht dazu fähig ist, dieses Gegenüber zu Gott wiederzufinden, das seine ursprüngliche Existenz charakterisierte. Und wenn es nicht in der Lage ist, durch sich selbst, durch die Bewegung seiner Seele, durch die Ö ffnung seines Herzens dieses Verhältnis zu Gott herzustel len, wenn es dieses Verhältnis nur durch die Vermittlung j ener Autoritätsstrukturen herstellen kann, dann ist das eben ein Zeichen dafür, daß es sich selbst mißtrauen soll. Es soll nicht glauben, es s oll sich nicht vorstellen, es soll nicht die Arroganz haben zu denken, daß es durch sich s elbst fähig sei, sein eigenes Heil zu erlangen und den Weg der Ö ffnung zu Gott zu finden. Es selbst soll für sich ein Gegenstand des Mißtrauens sein. Es soll Gegenstand einer aufmerksamen, gewissenhaften, arg wöhnischen Wachsamkeit sein. Durch sich und in sich selbst kann es nichts anderes als das Böse finden, und nur durch den Verzicht auf sich selbst und die praktische Umsetzung des all gemeinen Prinzips des Gehorsams kann der Mensch sein Heil erlangen. Diese parrhesia, die doch zu jener Art von Vertrauensverhält nis geworden war, zur Ö ffnung des Herzens, die den Men schen an Gott binden konnte, wird als solche verschwinden, oder vielmehr wird sie als Vertrauen im Lichte eines Mangels, im Lichte einer Gefahr, im Lichte eines Lasters erscheinen. Die parrhesia als Vertrauen ist dem Prinzip der Gottesfurcht fremd. Sie ist dem Gefühl entgegengesetzt, das notwendig ist für die Entfernung von der Welt und den weltlichen Dingen.
Die parrhesia erscheint als unvereinbar mit dem nun strengen Blick, den man auf sich selbst richten soll. Wer sein Heil erlan gen mag - d. h., wer Gott fürchtet, wer sich fremd in der Welt fühlt, überwacht sich selbst und soll sich unablässig überwa chen -, kann unmöglich diese parrhesia besitzen, dieses froh lockende Vertrauen, durch das er mit Gott verbunden war, zu Ihm getragen wurde, bis daß er Ihn in einem direkten Gegen über erfaßte. Die parrhesia erscheint j etzt also als ein tadelns wertes Verhalten der Anmaßung, der Vertrautheit und des ar roganten Selbstvertrauens. So finden wir eine Reihe von Texten, insbesondere in der aske tischen Literatur und im Immerwährenden Gebet bei den Vä tern . B eispielsweise haben wir folgendes Apophtegma: Sei nicht der Vertraute des Higumenen (des Vorstehers der Ge meinschaft), suche ihn nicht zu häufig auf, denn du wirst eine gewisse parrhesia daraus beziehen und schließlich wirst du dei nerseits Vorsteher werden wollen.19 Der berühmteste Text und der grundlegendste in dieser neuen Kritik der parrhesia ist das Apophtegma von Agathon (das erste in der alphabetischen Li ste) . Ein junger Mann besucht Agathon und sagt zu ihm: » Ich möchte mit den Brüdern zusammenleben; sag mir, auf welche Weise man das tun soll . « Agathons Antwort ist: »B ehalte alle Tage deines Lebens die geistige Haltung eines Fremden, die du am ersten Tag hattest, als du zu ihnen gingst, um mit ihnen nicht zu vertraulich zu werden. «20 Und er fährt fort: Was gibt es Schlimmeres als die parrhesia ? Nichts, sagt er. »Sie ist einem großen Glutwind ähnlich: Wenn er entsteht, fliehen alle vor ihm, und die Frucht der Bäume verdirbt er. «21 Der Kontext dieses Apophtegmas ist interessant, und er läßt sich sehr sche matisch folgendermaß en rekonstruieren. Es geht, wie Sie se hen, um die Frage nach dem Leben in der Gemeinschaft. Es geht um einen jungen Mönch, der kommt, um die Askese zu praktizieren, aber gemeinsam mit den Brüdern. Nun gibt es aber in diesem neuen Leben, also mit den Brüdern, unter der Autorität eines Higumenen und mit einer gemeinsamen Regel eine Gefahr. Die Gefahr besteht darin, daß der Mönch, der auf
diese Weise mit den anderen verbunden ist, ein weltliches Le ben im vollen Vertrauen führt, ohne sich selbst und den ande ren zu mißtrauen, und daß er die parrhesia praktiziert, eine parrhesia, von der man weiß, daß sie Vertrauen in sich selbst, Vertrauen in die anderen, Vertrauen in das ist, was man ge meinsam erreichen kann, und folglich vergißt, daß man sich in einem wahrhaft asketischen Leben immer der Arbeit an sich selbst, der Entzifferung s einer selbst widmen muß, was ein Mißtrauen gegenüber sich selbst, Furcht im Hinblick auf das Heil und Zittern vor dem Willen Gottes einschließt. Dieser Text d er Apophtegmata Agathons wird etwas später von Dorotheus von Gaza im IV. Buch seiner Unterweisungen wiederaufgenommen. Er nimmt dieses Apophtegma auf, um es zu kommentieren, und kommentiert es, indem er folgendes sagt, worin man, glaube ich, die Elemente j ener anti p aTrh esia findet, die im Begriff ist, sich zu entwickeln: »Wir jagen aber die Furcht Gottes weit von uns [ . . ], weil wir weder das Ge denken an den Tod noch das Gedenken an die Strafen in uns haben, weil wir nicht auf uns selbst achthaben, weil wir uns nicht s elbst prüfen, wie wir gelebt haben, sondern einfach so dahinleben und uns mit gleichgültigen Menschen abgeben, weil wir vertraulich sind. Das ist das Schlimmste von allem, das ist der völlige Untergang. «22 Wenn man die verschiedenen Ele mente betrachtet, die diese parrhesia charakterisieren, so zeigt sie sich darin, daß man die Gottesfurcht weit von sich jagt, in dem man weder an den Tod noch an die Bestrafung denkt. In j enem vorgeblichen Gottvertrauen vollzieht man in Wirklich keit eine Umkehr und wendet sich von der Gottesfurcht ab, ei ner Furcht davor, was im Augenblick des Todes geschehen wird, einer Furcht vor dem Jüngsten Gericht und einer Furcht vor den Strafen dieses Gerichts . Das zweite Merkmal dieser parrhesia, die j etzt zu einem Mangel und einem Laster gewor den ist: Nicht nur fürchtet man Gott nicht, sondern man achtet auch nicht auf sich selbst. >>Wir jagen aber die Furcht Gottes weit von uns [ . ], weil wir weder das Gedenken an den Tod noch das Gedenken an die Strafen in uns haben, weil wir nicht -
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auf uns selbst achthaben, weil wir uns nicht selbst prüfen. «23 Sie sehen hier, daß die parrhesia j etzt eine Vernachlässigung sei ner selbst ist, während sie früher Sorge um sich selbst war. Man kümmert sich nicht um sich selbst, man hat sich selbst gegen über nicht das nötige Mißtrauen. Drittens: »weil wir einfach so dahinleben und uns mit gleichgültigen Menschen abgeben. «24 Dieses Mal geht es um das Vertrauen auf die Welt. Die Ver trautheit mit der Welt, die Gewohnheit, inmitten der anderen zu leb en, gutzuheißen, was sie tun und sagen, alle diese Bin dungen sind der notwendigen Fremdheit, die wir gegenüber der Welt haben sollen, feindlich und entgegengesetzt. Dadurch wird als o die parrhesia bestimmt: keine Furcht vor Gott, kein Mißtrauen gegenüber sich selbst, kein Mißtrauen gegenüber der Welt. Sie ist ein arrogantes Vertrauen. Doro theus von Gaza fährt fort, indem er sagt, was ebenfalls interes sant ist: »Die parrhesia (die Vertraulichkeit) ist aber sehr vielge staltig: Es kann j emand vertraulich sein durch ein Wort, durch eine Berührung oder durch einen Blick. Durch die parrhesia gelangt man zu unnützem Geschwätz und dazu, Weltliches zu reden. «25 In diesem gemeinschaftlichen, ZÖnobitischen Leben treibt die parrhesia zu unnützem Geschwätz und dazu, von weltlichen Dingen zu sprechen. »Parrhesia ist es auch, j eman den ohne Notwendigkeit zu berühren, seine Hand beim La chen nach j emandem auszustrecken, j emanden zu stoßen oder etwas von ihm zu nehmen, ihn schamlos zu betrachten. «26 Von dieser ganzen Vertrautheit, der physischen, körperlichen Ver trautheit, die man im Gemeinschaftsleben haben kann, soll man sich dadurch lösen, daß man sich selbst mißtraut, den an deren mißtraut und Gott fürchtet. Und schließlich b esteht die parrhesia darin, daß man ohne Scham (anaidos) einen Bruder anblicktP »Denn ohne Ehrfurcht ehrt man selbst Gott nicht, noch beachtet man j emals irgendein Gebot.«28 Sie sehen, daß die parrhesia hier auf ganz merkwürdige Weise gleichsam als Mangel an Ehrfurcht erscheint. Es ist nicht unmöglich, daß es hier einen ausdrücklichen B ezug auf all das gibt, was im Ver ständnis der Griechen das Problem der parrhesia an das stoi43 2
sehe und kynische Problem der aidos oder der anaideia (Scham und Schamlosigkeit) knüpfte. Aber s elbst ohne diesen aus drücklichen Bezug finden wir hier das Problem der parrhesia als Selbstvertrauen wieder, das die notwendige Achtung, die den anderen gebührt, verkennt. Daraus folgt: die Entleerung der parrhesia als Arroganz und Selbstvertrauen; die Notwen digkeit der Achtung, die ihre ursprüngliche Form und ihre we sentliche Manifestation im Gehorsam haben muß. Wo Gehor sam herrscht, kann es keine parrhesia geben. Wir finden also das wieder, was ich Ihnen vorhin gesagt habe, nämlich daß das Problem des Gehorsams sich im Zentrum dieser Umkehrung der Werte der parrhesia befindet. Die positive Auffassung macht aus der parrhesia ein Vertrauen ':l.uf Gott, ein Vertrauen als das Element, durch das der Mensch die Wahrheit, mit der er beauftragt ist, sagen kann, wenn er ein Apostel oder ein Märty rer ist. Die parrhesia ist auch das Vertrauen, das man in die Lie be Gottes hat und in die Art und Weise, wie Gott den Men schen empfangen wird, wenn der Tag des Jüngsten Gerichts kommt. Diese Auffassung der parrhesia hat um sich herum et was auskristallisiert, was man den parrhesiastischen Pol des Christentums nennen könnte, demzufolge das Verhältnis zur Wahrheit im Gegenüber mit Gott hergestellt wird und im Ver trauen, einem menschlichen Vertrauen, das dem Ausfluß der göttlichen Liebe entspricht. Dieser parrhesiastische Pol scheint mir am Ursprung dessen gewesen zu s ein, was man die große mystische Tradition des Christentums nennen könnte. Wer ausreichend Vertrauen in Gott besitzt, wer ein ausreichend rei nes Herz hat, um sich Gott gegenüber öffnen zu können, dem wird Gott durch eine Bewegung antworten, die sein Heil ga rantiert und ihm ermöglicht, einen Zugang zu einem ewigen Gegenüber mit [Ihm] zu haben. So sieht die positive Funktion der parrhesia aus. Dann gibt es im Christentum noch einen anderen Pol, einen anti-parrhesiastischen Pol, der nicht die mystische, sondern die asketische Tradition begründet. Das ist der Pol, demzufolge das Verhältnis zur Wahrheit nur im furchtsamen und ehrerbie433
tigen Gehorsam gegenüber Gott und in Form einer argwöhni schen Selbstentzifferung durch Versuchungen und Prüfungen hergestellt werden kann. Dieser anti-parrhesiastische, asketi sche Pol ohne Vertrauen, dieser Pol des Mißtrauens gegenüber sich selbst und der Furcht vor Gott ist nicht weniger wichtig als der parrhesiastische Pol. Ich würde sogar sagen, daß er in historischer und institutioneller Hinsicht viel wichtiger war, weil sich schließlich um ihn herum alle pastoralen Institutio nen des Christentums entwickelt haben. Und das lange und schwierige Fortb estehen der Mystik, der mystischen Erfah rung im Christentum ist nichts anderes, wie mir scheint, als das Ü berleben des parrhesiastischen Pols des Vertrauens auf Gott, das nicht ohne Mühe an den Rändern gegen das große Unter nehmen des anti-parrhesiastischen Argwohns weiterexistierte, den der Mensch sich selbst und den anderen gegenüber aus Ge horsam gegen Gott und in der Furcht und dem Zittern vor demselben Gott zu beweisen und zu praktizieren berufen 1St. Künftig wird mit der Entwicklung des anti-parrhesiastischen, nicht-parrhesiastischen, asketischen Pols die Wahrheit über sich selbst oder auch das Problem der Beziehungen zwischen der Erkenntnis der Wahrheit und der Wahrheit über sich selbst nicht mehr die gewissermaßen volle und ganze Form einer an deren Leb ensweise annehmen können, die zugleich eine Le bensweise der Wahrheit und eine Lebensweise wäre, durch die man die Wahrheit über sich selbst erkennen könnte. Künftig wird die Selbsterkenntnis (die Erkenntnis im Hinblick auf sich selbst, die Erkenntnis seiner selbst) eine der grundlegenden Be dingungen und sogar die Vorbedingung der Reinigung der See le sein und folglich auch für den Augenblick gelten, in dem man endlich das Vertrauensverhältnis mit Gott erreichen kann. Man wird das wahre Leben nur unter der Vorbedingung errei chen, daß man diese Entzifferung der Wahrheit an sich selbst praktiziert hat. Die Wahrheit über sich selbst in dieser Welt entziffern, sich selbst im Mißtrauen gegenüber sich selbst und der Welt entzif434
fern, und zwar in der Furcht und im Zittern vor Gott, dies und dies allein kann uns Zugang zum wahren Leben verschaffen. Wahrheit des Lebens vor dem wahren Leben, in dieser Um kehrung hat die christliche Askese auf grundlegende Weise eine antike Askese verändert, die immer danach strebte, so wohl das wahre Leben als auch das Leben der Wahrheit zu füh ren und die zumindest im Kynismus die Möglichkeit b ehaup tete, dieses wahre Leben der Wahrheit auch tatsächlich zu führen. Nun also, hören Sie, ich hatte vor, Ihnen einige Dinge zum all gemeinen Rahmen dieser Analysen zu sagen. ''- Aber j etzt ist es zu spät. Also dann, dankeschön. ,,_
M . E bezieht sich hier auf die ganzen folgenden Ausführungen, die das Manuskript aus dem Jahr 1 9 8 4 abschließen: »Beziehungen zwischen Subj ekt und Wahrheit Al Diese in der Antike untersuchen: genauer in j ener langen Zeitspanne, die sich vom klassischen Griechenland bis zu dem erstreckt, was man Spätantike oder den Beginn des Christentums nennt; hier handelt es sich um den anderen Aspekt des Ereignisses, das die Philosophiehistoriker gut kennen, bei dem die Beziehungen zwischen dem Sein und der Wahr heit nach dem Modus der Metaphysik bestimmt werden. BI Diese Beziehungen habe ich relativ unabhängig von dieser hier zu er forschen versucht (= eine Unabhängigkeit, die ebenso die Existenz von Beziehungen impliziert); ich habe sie vom Gesichtspunkt der Selbstpra xis zu erforschen versucht. a: d. h., indem ich die Analysen soweit wie möglich diesseits der Defini tion des Subjekts als Seele hielt und meinen Blick auf das Problem des Selbst, des Verhältnisses zu sich selbst fixierte; natürlich nimmt dieses Selbstverhältnis oft die Form der Beziehung zur Seele an, aber es wäre offenbar etwas reduktionistisch, wenn man sich damit begnügen würde, und die Verschiedenartigkeit der Bedeutungen, die mit dem Begriff der psyche verbunden werden, läßt sich verstehen oder zumindest erhellen, wenn man annimmt, daß die Beziehung zur Seele Teil eines Ganzen ist: B eziehung zum bios, zum Körper, zu den Leidenschaften, zu den Ereig mssen. b: und diese Beziehungen habe ich versucht als Themen von Praktiken zu analysieren, d. h. als Gegenstände der Bearbeitung nach technischen Verfahren, über die man nachdenkt, die man verändert und perfektio niert; die man lehrt und anhand von Beispielen weitergibt; die man sein ganzes Leben lang befolgt, und zwar entweder zu bestimmten privile gierten und ausgewählten Zeiten oder regelmäßig und kontinuierlich; 43 5
diese Praktiken wurzeln in einer grundlegenden Haltung, nämlich im Kümmern um sich selbst, in der Sorge um sich; und sie haben zum Zweck, ein ethos, eine Weise zu sein und zu handeln, eine Weise des Verhaltens hervorzubringen, die gewissen rationalen Prinzipien entspricht und die Ausübung der Freiheit, verstanden als Unabhängigkeit, begründet; die Er forschung der Selbstpraktiken ist also die Untersuchung der konkreten Formen, Vorschriften und Techniken, die von der Sorge um sich in ihrer ethopoietischen Rolle befolgt werden. Cl Im Hinblick auf diese Beziehungen zu sich selbst dachte ich, daß man die Frage nach den Wahrheitsspielen stellen könnte, auf die sie sich beru fen, auf die sie sich stützen und von denen sie bestimmte eigentümliche Wirkungen erwarten; und auf diese Frage gibt es mehrere Antworten: Die ethische Hervorbringung seiner selbst erfordert den Erwerb einer Reihe von mehr oder weniger zahlreichen und komplexen Erkenntnissen, die Bereiche betreffen, die mehr oder weniger ausgedehnt sind und dem Subjekt selbst mehr oder weniger nahe- oder fernstehen: die grundlegende Wahrheit über die Welt, das Leben, den Menschen usw.; praktische Wahr heiten über das, was man in diesen oder j enen Umständen tun soll; kurz, eine ganze Menge von Dingen, die gelernt werden müssen: die mathe mata. Aber die Hervorbringung seiner selbst als ethisches Subjekt impliziert auch ein anderes Spiel der Wahrheit: Nicht me hr das Spiel des E rl ern e ns , des Erwerbs wahrer Propositionen, mit denen man sich für das Leben und seine Ereignisse wappnet und aus rüstet, sondern das der auf sich selbst bezogenen Aufmerksamkeit, der Aufmerksamkeit auf das, was man zu tun fähig ist, auf den Grad der Ab hängigkeit, den man erreicht hat, auf die Fortschritte, die man unterneh men muß und die zu tun bleiben; und diese Spiele der Wahrheit haben nichts mit den mathemata zu tun, sondern sind Übungen, die man an sich selbst vornimmt: Selbstprüfung; Prüfungen der Ausdauer und andere Kontrollen der Vorstellungen; die Dimension der askesis. Das ist nicht alles. Diese Ü bung der Wahrheit an sich selbst genügt nicht. Sie ist nur möglich und findet eine Grundlage nur in j ener Haltung des Mutes zur Wahrheit: den Mut haben, die Wahrheit zu sagen, ohne etwas davon zu verbergen und trotz der Gefahren, die das mit sich bringt. Und hier begegnen wir dem Begriff der parrhesia: ursprünglich ein politi scher Begriff, der sich, ohne diese ursprüngliche B edeutung zu verlieren, abwandelt, indem er sich mit dem Prinzip der Sorge um sich selbst verbin det. Die parrhesia oder vielmehr das parrhesiastische Spiel erscheint unter zwei Aspekten: - der Mut, die Wahrheit demjenigen zu sagen, dem man helfen möchte und den man in der ethischen Bildung seiner selbst leiten möchte - der Mut, gegenüber allem die Wahrheit über sich selbst zu offenbaren, sich so zu zeigen, wie man ist.
An dieser Stelle erscheint der Kyniker: Er hat den unverschämten Mut, sich so zu zeigen, wie er ist; er besitzt die Kühnheit, die Wahrheit zu sagen; und in der Kritik, die er an den Regeln, Konventionen, Gebräuchen und Gewohnheiten übt, indem er sich in völliger Zwanglosigkeit und ganz ag gressiv an die Herrscher und Mächtigen wendet, kehrt er das philosophi sche Leben und die Funktionen der politischen parrhesia um und dramati siert sie auch. Ich weiß sehr wohl, daß ich den Eindruck erwecke, wenn ich die Dinge auf diese Weise präsentiere, dem Kynismus einen wesentlichen Ort in der an tiken Ethik zuzuweisen und aus dem Kynismus eine absolut zentrale Fi gur zu machen, obwohl er doch zumindest von einem bestimmten Ge sichtspunkt aus marginal und grenzwenig bleibt. Tatsächlich wollte ich mit dem Kynismus nur eine Grenze erkunden, eine der beiden Grenzen, zwischen denen die Themen der Sorge um sich und des Mutes zur Wahrheit sich entfalten. Es wäre also besser, die Dinge folgendermaßen zu präsentieren. Die antike Philosophie hat das eine mit dem anderen verbunden: das Prin zip der Sorge um sich selbst (die Pflicht, sich um sich selbst zu kümmern) und das Erfordernis des Mutes, die Wahrheit zu sagen und zu manifestie ren. Tatsächlich hat es viele verschiedene Weisen gegeben, die Sorge um sich selbst und den Mut zur Wahrheit miteinander zu verbinden, und zweifellos kann man zwei extreme Formen, zwei entgegengesetzte Moda litäte n erkennen, die jeweils auf ihre Weise die sokratische epimeleia und parrhesia weitergeführt haben. - Die platonische Modalität. Sie betont ganz entscheidend die Bedeutung und den Umfang der mathemata; sie gibt der Selbsterkenntnis die Form der Selbstbetrachtung und der ontologischen Anerkennung dessen, was die Seele in ihrem eigenen Sein ist; sie tendiert dazu, eine doppelte Spal tung herzustellen: zwischen Seele und Körper; zwischen der wahren Welt und der Welt der Erscheinungen; schließlich rührt ihre beträchtliche Be deutung daher, daß sie diese Form der Sorge um sich selbst an die Begrün dung der Metaphysik binden konnte, während die Unterscheidung zwi schen esoterischer Lehre und den allen zugänglichen Vorlesungen ihre politische Reichweite beschränkte. - Die kynische Modalität. Sie schränkt den Bereich der mathemata so streng wie möglich ein und verleiht der Selbsterkennmis die privilegierte Form der Ü bung, der Probe, der Praktiken der Ausdauer; sie versucht, den Menschen in der Nüchternheit seiner tierhaften Wahrheit zu offenba ren, und wenn sie gegenüber der Metaphysik zurückgeblieben ist, wenn sie ihrer großen historischen Nachwelt gegenüber fremd geblieben ist, so hat sie doch in der Geschichte des Abendlandes eine bestimmte Lebens weise hinterlassen, einen bestimmten bios, der auf verschiedene Weisen eine wesentliche Rolle gespielt hat. Wenn man die Frage nach den Beziehungen zwischen der Sorge um sich selbst und dem Mut zur Wahrheit stellt, dann scheint es, daß der Platonis437
mus und der Kynismus zwei große Formen darstellen, die sich gegenüber stehen und die j eweils eine andere Genealogie hervorgebracht haben: ei nerseits die psyche, die Selbsterkenntnis, die Arbeit der Reinigung, der Zugang zur anderen Welt; andererseits den bios, das Sich-selbst-auf-die Probe-Stellen, die Reduktion auf die Tiernatur; der innerweltliche Kampf gegen die Welt. Aber was ich zum Abschluß hervorheben möchte, ist folgendes: Es gibt keine Einsetzung der Wahrheit ohne eine wesentliche Setzung der An dersheit; die Wahrheit ist nie dasselbe; Wahrheit kann es nur in Form der anderen Welt und des anderen Lebens geben.«
Anmerkungen I H. Schlier, »Parrhesia, parrhesiazomai«, in: G. Kittel, Hg., Theologi sches Wörterbuch zum Neuen Testament; Stuttgart I 949- I 979, S. 8698 84. 2 S. B. Marrow, S.J., » Parrhesia and the New Testament