STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR
Herausgegeben von Wilfried Barner, Georg Braungart und Martina Wagner-Egelhaaf
Band 1...
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STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR
Herausgegeben von Wilfried Barner, Georg Braungart und Martina Wagner-Egelhaaf
Band 189
Maren J(ger
Die Joyce-Rezeption in der deutschsprachigen Erz(hlliteratur nach 1945
n Max Niemeyer Verlag T2bingen 2009
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet 2ber http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-18189-2
ISSN 0081-7236
< Max Niemeyer Verlag, T2bingen 2009 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich gesch2tzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzul(ssig und strafbar. Das gilt insbesondere f2r Vervielf(ltigungen, Abersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbest(ndigem Papier. Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck und Einband: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Wolfgang Koeppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 »Dichtung und große Weltaufnahme« – Koeppens literarische Genealogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 »Eulenspiegels Wege«: Koeppens ›Tauben im Gras‹ als verspätetes Experiment einer verspäteten Moderne . . . . 2.2 »See? It all works out!« – Die ›Wandering Rocks‹ – Episode im ›Ulysses‹ als Hypotext der ›Tauben im Gras‹ . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Chronotopologische Fixierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 »Displaced persons« und Antihelden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Sukzession und Simultaneität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Filmische Darstellungstechniken und Perspektive . . . . . . . . 2.2.5 »Verbal scraps of urban life« – Montage und Mythos . . . . . 2.3 »Ich bin ein Zuschauer, ein stiller Wahrnehmer, ein Schweiger, ein Beobachter« – Koeppens schriftstellerisches Selbstverständnis . .
26 26 33 40 40 44 49 54 68 81
3. Arno Schmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 3.1 »Zu spät!« – Schmidt, Koeppen und die verlorene Generation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 3.2.1 »Literarische Groß=Lieblinge« und »Kraftquellen« – Arno Schmidts Verhältnis zur literarischen Tradition . . . . . 94 3.2.2 »mein Herz gehört James Joyce !« – Schmidts Würdigungen des ›Ulysses‹ und das Problem der Datierung seiner ersten Lektüre des Romans . . . . . . . . . . . . 97 3.3 Das »BUCH DES HALBJAHRHUNDERTS« – Stationen in Schmidts Auseinandersetzung mit James Joyce nach 1956 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 3.3.1 »Wir Deutschen wissen noch nicht, was der ›Ulysses‹ ist !« – Die Kontroverse um die ›Ulysses‹-Übersetzung Georg Goyerts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 3.3.2 Eine »stotternde Zumutung« – Schmidts ›Finnegans Wake‹-Rezeption als »poetic misreading« . . . . . . . . . . . . . . . 111 3.4 Zwischen Tradition und Innovation – Arno Schmidt vor 1956 . . . 116 V
3.4.1
Poetologisches Programm und literarischer Lebensplan – Die ›Berechnungen‹ als mixtum compositum aus Pioniergeist und Anachronismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 »Kurze Erzählungen; früher süß, jetzt rabiat«: Von den ›Juvenilia‹ zum ›Leviathan‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Die »wahnsinnige Lust am Exakten« – Der Wirklichkeitszugriff in Schmidts Nachkriegserzählungen ›Brand’s Haide‹, ›Die Umsiedler‹, ›Aus dem Leben eines Fauns‹ und ›Das Steinerne Herz‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1 Chronotopologische Fixierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2 »Kein Kontinuum, Kein Kontinuum!« – Radikale Subjektivierung und abbreviatorisches Erzählen . . . . . . . . . 3.5.3 Verfremdung und Suggestivität – Stilexperimente à la ›Ulysses‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.4 Die Transkription der lautlichen Physiognomie einer Epoche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.5 »Arche der Weltliteratur« – Der Zitatcharakter von Schmidts Prosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 »Die Nessel Wirklichkeit fest anfassen« – »Welt-Alltag« in Schmidts Nachkriegserzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
116 126
133 135 139 148 150 152 169
4. Uwe Johnson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 4.1 Uwe Johnsons literarische Sozialisation unter zwei totalitären Regimes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 4.2 Johnsons Verhältnis zur literarischen Tradition . . . . . . . . . . . . . . . 184 4.3 Erzählexperimente auf der Suche nach Objektivität: ›Ingrid Babendererde‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 4.4 Der Anschluss an die Avantgarde: ›Mutmassungen über Jakob‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 4.4.1 Entstehung und Entstehungsmythos der ›Mutmassungen über Jakob‹. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 4.4.2 Der Erzählbeginn und »die drei Manieren des Erzählens« in ›Mutmassungen über Jakob‹: Dialoge, Monologe und Erzählpassagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 4.4.3 Fokalisation, Perspektive und narrative Unzuverlässigkeit . . 216 4.4.4 Der »Sprechstil« in den ›Mutmassungen über Jakob‹ . . . . . 222 4.4.5 Weltgeschichte und Individualgeschichte – Die »ungarische Dimension« und der ›dramatische Höhepunkt‹ der ›Mutmassungen über Jakob‹ . . . . . . . . . . . 234 4.4.6 Die Fiktion der Chronologie: Sukzession und Alinearität in ›Mutmassungen über Jakob‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 4.4.7 Die ›Mutmassungen über Jakob‹ und der Leser. . . . . . . . . . 242 VI
4.5 Die enzyklopädische Bewältigung der Metropole: ›Jahrestage‹ . . . . 246 4.5.1 ›Jahrestage‹ und ›Ulysses‹ als Tagebücher einer Epoche: Tektonik, Zeitstruktur, Finalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 4.5.2 Die ›bipolare‹ Tektonik der ›Jahrestage‹ . . . . . . . . . . . . . . . . 253 4.5.3 Die fluktuierende Erzählperspektive der ›Jahrestage‹ und die Grenzen der Narratologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 4.5.4 Narrative Unzuverlässigkeit und die (Selbst-)Problematisierung von Erzählung und Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . 259 4.5.5 Historiographisches Erzählen in den ›Jahrestagen‹ und die Fiktionalisierung von Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . 265 4.5.6 Der Figurenkosmos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 4.5.7 Das »topographische Erzählverfahren« und die Arbeitsweise Johnsons und Joyce . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 4.5.8 Regionalismus, Realismus und Avantgarde . . . . . . . . . . . . . 287 4.6 Wahrheitssuche als Lebenswerk. Uwe Johnsons Prosa im Lichte seiner Joyce-Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 5. Wolfgang Hildesheimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 5.1 Wolfgang Hildesheimer – ein »deutscher« »Schriftsteller«? Die literarische Sozialisation im Exil und die Rückkehr in die »Heimat« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 5.2 »Joyce bleibt immer aktuell.« Wolfgang Hildesheimer über den »bedeutendsten Schriftsteller unseres Jahrhunderts« – Eckdaten seiner Joyce-Rezeption. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .313 5.3 Hildesheimers publizistische Auseinandersetzung mit James Joyce . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 5.3.1 ›Über James Joyce‹ (1946) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 5.3.2 ›Übersetzung und Interpretation einer Passage aus »Finnegans Wake« von James Joyce‹ (1967) und Anmerkungen zu Hildesheimers Kritik an Arno Schmidts ›Wake‹-Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . 327 5.3.3 ›James Joyce: ›Ulysses‹‹ (1979) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 5.3.4 ›The Jewishness of Mr. Bloom.‹ Bloomsday Dinner Speech (1984) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 5.4 Die großen Prosamonologe: ›Tynset‹ (1964) und ›Masante‹ (1974) . 341 5.4.1 Die Monologform in ›Tynset‹ und ›Penelope‹ – Parallelen und Divergenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 5.4.2 Hamlet und das Labyrinth – Themen und Anspielungen in ›Tynset‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 5.4.3 »Am Rand einer Wüste, einem Punkt des Zufalls…« – Das Verblassen von Raum und Zeit in Hildesheimers Prosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 VII
5.4.4 Die Häscher – Historie und Gesellschaftskritik in ›Tynset‹ und ›Masante‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 5.4.5 Sprache und Musik bei Hildesheimer und Joyce – Die ›Hähne Attikas-Toccata‹, die ›Gesualdo-Kadenz‹ und die ›Bettfuge‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 5.5 »Wer sagt, daß ich aus der Realität ausgestiegen bin, hat recht.« – Hildesheimers Absage an Realismus und Realität . . . 399 6. Rückblick & Abblende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 6.1 Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 6.1.1 Im Wartesaal der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 6.1.2 Im Vorraum der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 Ein Befreiungsschlag – Der Rückgriff auf Joyce . . . . . . . . . 417 Die Verantwortung der Zeitgenossen, oder: »form follows politics« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 Die ›Erbengemeinschaft‹ und das offene Kunstwerk: Schmidt, Koeppen und Johnson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 Eine Ausnahme: Wolfgang Hildesheimer . . . . . . . . . . . . . . 443 Zwischen Erschöpfung und Erneuerung . . . . . . . . . . . . . . . 446 Keine Ausnahme: Günter Grass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 6.2 Abblende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 7. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 7.1 Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 7.2 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 7.3 Interviews, Essays, Reden, Briefe, Dialoge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 7.4 Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491
VIII
1.
Einleitung
Im Dezember 1927, im Jahr der Publikation von Goyerts erster deutscher Übersetzung des ›Ulysses‹,1 schließt Kurt Tucholsky seine Würdigung des Buches in der ›Weltbühne‹ mit den hellsichtigen Worten: »Liebigs Fleischextrakt. Man kann es nicht essen. Aber es werden noch viele Suppen damit zubereitet werden.«2 Ähnlich radikal und ebenso prägnant äußerte sich T. S. Eliot 1923 über den Roman. So fand er im ›Ulysses‹ the most important expression which the present age has found […], a book to which we are all indebted, and from which none of us can escape […]. In using the myth, in manipulating a continuous parallel between contemporaneity and antiquity, Mr. Joyce is pursuing a method which others must pursue after him.3
Heute besteht kein Zweifel mehr daran, dass mit dem Erscheinen des ›Ulysses‹ 1922 eine Revolution des Romans stattgefunden hatte, die in ihrem Wirkungsradius einzigartig war, Schlüsselfiguren der internationalen literarischen Moderne wie Lawrence, Faulkner, Hemingway, Gide, selbst Proust weit in den Schatten stellte und keineswegs ausschließlich auf die englischsprachige Literatur beschränkt bleiben sollte. Hierzu mag beigetragen haben, dass Joyce bereits während der Niederschrift des ›Ulysses‹ im Zentrum des literarischen Lebens und in direktem Kontakt mit den größten Autoren des frühen 20. Jahrhunderts stand, und wohl auch, dass die Veröffentlichung des als pornographisch stigmatisierten Romans mit zahlreichen Skandalen verbunden war. Beides vermag allerdings nicht die gewaltige Erschütterung des Literaturbetriebs wie der Kritik zu erklä-
1
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3
Im Jahr 1930 wurde in einer Auflage von dreitausend Exemplaren eine zweite, revidierte Übersetzung des ›Ulysses‹ – wiederum von Georg Goyert – publiziert, die binnen kurzem vergriffen war; noch im selben Jahr erschien eine dritte, lediglich geringfügig überarbeitete deutsche Fassung (vgl. Breon Mitchell: James Joyce and the German Novel 1922–1933, Athens, Ohio 1976, S. 76). Kurt Tucholsky: Ulysses, in: ders.: Gesamtausgabe. Werke und Briefe, hg. v. Antje Bonitz u.a., Bd. 9: Texte 1927, hg. v. Gisela Enzmann-Kraiker, Reinbek b. Hamburg 1998, S. 597–605, hier S. 605 [zuerst in: Die Weltbühne 23/2 (22.11.1927)]. T. S. Eliot: Order and Myth, in: The Dial LXXV (November 1923), S. 480–483, hier S. 480.
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ren, die der Roman auslöste.4 Die deutsche Literaturkritik sah sich vielmehr mit einem völligen Novum konfrontiert, das aller bisherigen Wertmaßstäbe spottete.
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Einen anschaulichen Eindruck von der gewaltigen Fülle von Rezensionen, die in Deutschland der Publikation des ›Ulysses‹ folgten, vermittelt der Materialienband: Kritisches Erbe. Dokumente zur Rezeption von James Joyce im deutschen Sprachbereich zu Lebzeiten des Autors. Ein Lesebuch, hg. v. Wilhelm Füger, Amsterdam/ Atlanta 2000 (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 40). Überblickt man die publizistische Beschäftigung mit Joyce ›Ulysses‹, so fällt auf, dass sich die Flut der Veröffentlichungen um verschiedene Eckdaten arrangieren lässt. Den Anfangspunkt bildet dabei die Auslieferung der Goyert-Übersetzung am 16. Oktober 1927, die von einer großen Werbekampagne des Rhein-Verlags getragen wurde; zuvor waren nur wenige Rezensionen des Romans in deutschen Zeitungen erschienen, was als ein Beleg dafür angenommen werden muss, dass die Sprachbarriere eine weit reichende Rezeption des Originaltexts verhinderte, wenngleich Auszüge des Romans bereits 1925 von Bernhard Fehr, E. R. Curtius und Karl Arns übersetzt worden waren. Eine Konzentration von Veröffentlichungen zum ›Ulysses‹ lässt sich auch um die Jahre 1932 (Joyce 50. Geburtstag), 1941 (Joyce Tod in Zürich), 1957 (75. Geburtstag), 1961 (20. Todestag), 1962 (80. Geburtstag) ausmachen; spürbar ist auch der Nachhall von Goyerts Übersetzung der Studie Gilberts, die sich um eine Offenlegung der Homer-Korrespondenzen bemühte (Stuart Gilbert: Das Rätsel ›Ulysses‹. Eine Studie, übersetzt von Georg Goyert, Zürich 1932), sowie der Publikation von ›Finnegans Wake‹ im Jahre 1939, wobei die Reaktionen auf Joyce letzten Roman im Schatten der nationalsozialistischen Kulturpolitik standen. Folglich wurden in Deutschland nur wenige Besprechungen von ›Finnegans Wake‹ veröffentlicht, die nicht Ablehnung und Unverständnis zum Ausdruck brachten. Für einen summarischen und informativen Überblick über die kritische Joyce-Rezeption in den Jahren von 1922 bis 1945 sei auf den Aufsatz von Robert Weninger verwiesen: Robert Weninger: James Joyce in German-speaking countries: The Early Reception, 1919–1945, in: The Reception of James Joyce in Europe. Volume I: Germany, Northern and East Central Europe, hg. v. Geert Lernout u. Wim van Mierlo, London/New York 2004 (The Athlone Critical Traditions Series: The Reception of British Authors in Europe), S. 14–50, bes. S. 17–28. Das publizistische Echo auf den ›Ulysses‹ überwiegt bei weitem die Auseinandersetzung mit früheren Werken des Autors, also dem Drama ›Exiles‹ (1918, ins Deutsche übersetzt unter dem Titel ›Verbannte‹ 1919), dem ›Portrait of the Artist as a Young Man‹ (1916, deutsche Übersetzung als ›Jugendbildnis des Künstlers‹ 1926), der Novellensammlung ›Dubliners‹ (1914, ›Dublin‹ 1928), und es dokumentiert eine Konzentration der literarischen Aufmerksamkeit auf diesen Roman; auch die weniger umfangreiche Würdigung, die ›Finnegans Wake‹ erhielt, ist noch deutlich vom Nachhall des ›Ulysses‹ geprägt; kaum eine deutsche ›Wake‹-Rezension spart einen ausführlicheren Rückbezug auf den ›Ulysses‹ aus. Vgl. Weninger: The Institutionalization of ›Joyce‹, S. 68f.: »Understandably, F[innegans]W[ake] has had a much harder time reaching a German audience than U[lysses]. […] And, unsurprisingly, reading F[innegans]W[ake] in German has remained an academic exercise (mostly for a small group of specialists who know the English original and whose job it is to evaluate translations). Lacking a true function as translation, the German F[innegans]W[ake] will in all probability survive as a mere collector’s piece, […]. In short, Joyce’s fame in German-speaking countries […] has always rested, and in all likelihood will always rest, more on U[lysses]
Iwan Goll urteilt 1927 in der ›Weltbühne‹: »Der ›Ulysses‹ ist mit keinem existierenden Buch der Weltliteratur vergleichbar: es ist einzig und ganz neu. Solche Prosa ist die Sprache und der Rhythmus der kommenden Dichtung.«5 Curtius bemerkt 1931 prägnant, Joyce sei »ein großer Unzeitgemäßer und sein Werk […] ein Stein des Anstosses in einer haltlos fluktuierenden Epoche.«6 Die von diesem ›Stein des Anstoßes‹ ausgehende Aufregung des Literaturbetriebs spiegelte sich in den disparaten Urteilen der Rezensenten: »As would be expected, the German reviews published during the interim period 1922–27 were rarely unreservedly enthusiastic; indeed, many were overtly hostile towards Joyce’s radical modernism.«7 Von einem »Riesenscherzbuch«8 war die Rede, vom »gigantischste[n] und ernsthafteste[n] Bierschwefel der Literatur«;9 »ein dunkles, obszönes, ungeheures und ungeheuerliches Werk« nennt Karl Arns den ›Ulysses‹;10 für Gerhard Pohl ist ein »Markstein der Weltliteratur«,11 was für Otto Zarek das »non plus ultra des literarischen Bluffs«12 darstellt. Stefan Zweig nimmt die unzähligen disparaten Urteile auf und führt sie in einer langen, emphatischen enumeratio von Etiketten zusammen: Ein Roman? Nein, durchaus nicht: ein Hexensabbat des Geistes, ein gigantisches Capriccio, eine phänomenale zerebrale Walpurgisnacht. Ein Film psychischer Situationen, sausend und flirrend im Expreßtempo, dabei ungeheure Seelenlandschaft voll genialer und genialistischer Details taumelig vorüberreißend, ein Doppeldenken, ein Tripeldenken, ein Übereinander-, Durcheinander- und Quernebeneinanderfühlen aller Gefühle, eine Orgie der Psychologie, mit einer neutechnischen Zeitlupe begabt, die jede Bewegung und Regung in ihre Atome auflöst. […] Ein Mondstein, kopfüber in unsere Literatur gefallen, eine Großartigkeit, eine phantastische, nur diesem einen
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than either P [=A Portrait of the Artist As a Young Man] or F[innegans]W[ake], not to mention Joyce’s other works.« Iwan Goll: Ulysses: Sup specie aeternitatis, in: Kritisches Erbe, S. 159–161, hier S. 160 [zuerst in: Die Weltbühne 23 (27. Dezember 1927), S. 960–963]. Ernst Robert Curtius: Philologie oder Literaturkritik, in: Kritisches Erbe, S. 258f., hier S. 258 [zuerst in: Die Literarische Welt 7/17 (24. April 1931), S. 7]. Weninger: James Joyce in German-speaking countries, S. 18. Joseph Baake: aus: Das Riesenscherzbuch Ulysses, in: Kritisches Erbe, S. 353–355, hier S. 355 [zuerst in: ders.: Das Riesenscherzbuch Ulysses, Bonn 1937 (Bonner Studien zur Englischen Philologie 32)] Albert Ehrenstein: James Joyce, in: Kritisches Erbe, S. 196–198, hier S. 196 [zuerst in: Berliner Tageblatt (5.4.1928)]. Karl Arns: aus: Jüngstes England: Anthologie und Einführung, in: Kritisches Erbe, S. 108f., hier S. 109 [zuerst veröffentlicht als James Joyce, in: ders.: Jüngstes England. Anthologie und Einführung, Leipzig 1925, S. 43–47]. Gerhard Pohl: ULYSSES, in: Kritisches Erbe, S. 150–154, hier S. 153 [zuerst in: Die Neue Bücherschau. Eine kritische Schriftfolge: Dichtung/Kritik/Graphik, hg. v. Gerhard Pohl, Berlin 1927, S. 224–228]. Otto Zarek: Der ›Ulysses‹ des James Joyce, in: Kritisches Erbe, S. 162–164, hier S. 163 [zuerst in: Das Tagebuch 8/2 (1927), Sp. 1963–66].
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erlaubte Einmaligkeit, das heroische Experiment eines Erzindividualisten, eines Eigenbrötlergenies […] ein Einmaliges, ein Unwiederholbares, ein Neues.13
»Der Roman ist tot – es lebe der Roman.«14 Dieses Diktum Walter Muschgs in einer Rezension vom Januar 1928 erfasst pointiert einerseits die formale Revolution des ›Ulysses‹ und andererseits sein bemerkenswertes Verhältnis zu fundamentalen Paradigmen der flexiblen Gattung, derer sich Joyce gleichermaßen virtuos und reflektiert bedient, um mit seinem neuen Formkunstwerk die Tradition nicht völlig zu zerstören, sondern sie fortzuschreiben und zu verwandeln. Eine grundsätzliche Verwirrung hat daher stets die Joyce-Kritik beschäftigt: Was ist der ›Ulysses‹? Die Frage nach der Gattungszugehörigkeit ist unterschiedlich beantwortet worden: Ein Gedicht, sagen die einen und verweisen (durchaus zu Recht) auf den spatialen und synchronen Charakter des Textes, den metaphorischen Sprachgebrauch, die strukturellen und symbolischen Querverbindungen, die zu einer der Lyrikrezeption ähnelnden Lektüre anregen.15 Ein Text, hört man vielerorts als die dem Zeitgeist der literaturwissenschaftlichen Forschung durchaus entsprechende, dabei jedoch nicht gerade fruchtbare Antwort.16 Handelt es sich letztlich doch um einen Roman oder, um ein in Studien zum ›Ulysses‹ ebenfalls sehr beliebtes Wort zu gebrauchen, einen Anti-Roman?17 Die offenkundige Unsicherheit der Forschung angesichts der Gattungszugehörigkeit des ›Ulysses‹ dokumentiert vor allem eines: Der Schock, den der ›Ulysses‹ beim Lesepublikum18 wie bei den Schriftstellern des frühen 20. Jahrhunderts 13 14 15 16 17 18
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Stefan Zweig: Anmerkung zum Ul ys s e s , in: Kritisches Erbe, S. 214–216, hier S. 214f. [zuerst in: Die Neue Rundschau 29/10 (Oktober 1928), S. 476–479]. Walter Muschg: Der deutsche ›Ulysses‹, in: Kritisches Erbe, S. 183–187, hier S. 187 [zuerst in: Annalen 2 (Januar 1928), S. 19–24]. So Goll: Ulysses: Sub specie aeternitatis, S. 160. Etwa bei Karen Lawrence: The Odyssee of Style in Ulysses, Princeton, NJ 1981, S. 58. Vgl. Zarek: Der ›Ulysses‹ des James Joyce, S. 164. Grundsätzlich muss darauf hingewiesen werden, dass der ›Ulysses‹ in den Jahren vor 1945 zunächst aufgrund der Sprachbarriere, auch nach der Goyert-Übersetzung noch aufgrund der geringen Auflagenhöhe und des hohen Subskriptionspreises jedoch nur einem sehr kleinen, elitären Leserkreis zugänglich war: »[I]n the years immediately following its publication only few German readers were actually able to get hold of a copy – and these were mostly professional reviewers or academics. […] While the German translation helped to make U[lysses] more accessible for a German-language audience, one should not forget that […] the first two German editions could be purchased only on a subscription basis. With the initial 1927 print run amounting to no more than 1,100 copies (100 of which were circulated to the press for review purposes) a wide circulation was unattainable, nor did the first German edition go far to satisfy the demand« (Weninger: James Joyce in German-speaking countries, S. 17 u. 21f.). Der 1927 vom Rhein-Verlag in einer ersten Auflage von 1000 dreibändigen Exemplaren sowie 100 einbändigen Presseexemplaren besorgte Privatdruck kostete 100 Mark, eine für viele Interessierte unerschwingliche Summe; dennoch war der Privatdruck binnen
ausgelöst hat, liegt weniger in seiner vermeintlich pornographischen Natur als gerade darin begründet, dass er jede Art von Lesererwartung zerstört, sich jeglicher Kategorisierung aufgrund von Gattungskonstanten entzieht – jedoch nicht, wie oft behauptet wird, indem die traditionellen Gattungsmerkmale des Romans nicht vorhanden wären. Joyce bedient sich vielmehr dieser Merkmale, treibt das Spiel mit ihnen allerdings an die Grenzen dessen, was das flexible Medium des Romans gestattet. Selbst ein Werk, das als Anti-Roman eingeschätzt wird (oft erscheint Joyce in einer Reihe mit Sternes ›Tristram Shandy‹19 oder Melvilles ›Moby Dick‹20), bewahrt doch letztlich das Genre vor der Erstarrung, schafft neue Ausdrucksmöglichkeiten und tritt wieder im wörtlichen Sinne des Terminus novel hervor. Der ›Ulysses‹ entsteht vor dem Hintergrund einer metaphysischen Skepsis. Joyce hat im ›Ulysses‹ so radikal wie kein Romanschriftsteller vor ihm die formalen und stilistischen Konsequenzen aus der in der Moderne maßgeblichen Frage nach der Abbildbarkeit der Welt gezogen, ohne dabei den Anspruch epischer Totalität (bei aller raum-zeitlichen Reduktion) aufzugeben. Er knüpft mit großer Geste gleichermaßen ironisch und affirmativ an das Urbild des Epos schlechthin – Homers ›Odyssee‹ – an, indem er seinen Roman »Ulysses« überschreibt und seinen 19 Kapiteln die Namen von Episoden der ›Odyssee‹ voranstellt.21 Auch Stephens Monolog am Ende des ›Portrait of the Artist as a Young Man‹ scheint das ambitionierte Projekt eines modernen Epos anzukündigen, in dem ein Volk, eine Kultur in aller Breite ihrer Erfahrungswirklichkeit aufgefächert abgebildet wird: »I go to encounter for the millionth time
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drei Wochen vergriffen. Auch dies mag neben der dem ›Ulysses‹ attestierten ›Unlesbarkeit‹ zu der Tatsache beigetragen haben, dass es sich um einen der meistdiskutierten und am wenigsten gelesenen Romane des Jahrhunderts handelte. Die zweibändige ›Ulysses‹-Ausgabe der zweiten und dritten Auflage von 1930 kostete noch immer 40 Mark; in den folgenden 40 Jahren wurden 30000 Exemplare verkauft; erst die 1956 erschienene Sonderausgabe zum Preis von 19,80 DM fand innerhalb von nur 10 Jahren 76000 Käufer (vgl. Rosemarie Franke: Die Rezeption des ›Ulysses‹ im deutschen Sprachbereich. Übersetzung, Verbreitung und Kritik, in: James Joyce’ ›Ulysses‹. Neuere deutsche Aufsätze, hg. v. Therese Fischer-Seidel, Frankfurt a.M. 1977, S. 105–159, hier S. 105f.). Vgl. Karl Arns: Englands neue und neueste Literatur und wir, in: Kritisches Erbe, S. 236 [zuerst in: Rheinisch-Westfälische Zeitung (29.9.1929)] und Walter Enkenbach: Die Odyssee der verspäteten Schüler, in: Kritisches Erbe, S. 243–246, hier S. 246 [zuerst in: Der Scheinwerfer (April 1930)]. Vgl. Hans Hennecke: James Joyce, in: Kritisches Erbe, S. 408–411, hier S. 410 [zuerst in: Neue Rundschau 52 (1941)]. Die zwischen 1918 und 1920 vorab in der Zeitschrift ›The Little Review‹ publizierten Episoden des ›Ulysses‹ trugen noch die ›homerischen‹ Kapitelüberschriften, die in der Gesamtausgabe des Romans 1922 und in allen späteren Editionen getilgt wurden.
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the reality of experience and to forge in the smithy of my soul the uncreated conscience of my race.«22 Eine auf Totalität zielende ›moderne Mimesis‹ konnte keinesfalls auf einem als nicht mehr tragfähig erkannten Fundament überlieferter Konventionen der Romangattung aufbauen. Joyce zerschlägt nun nicht mit bilderstürmerischer Vernichtungsgeste all diese traditionellen Gattungsmerkmale, sondern beruft sich auf genau diese überlieferten Kategorien, um sie dann umzukehren – und sie schließlich ›von innen‹ zu sprengen. Joyce reduziert die extensive Zeitdarstellung des Romans auf eine intensive von weniger als 24 Stunden,23 die er nicht nur in den berühmten Strukturschemata zum ›Ulysses‹ offen legt,24 sondern die auch anhand von über den Text verstreuten Zeitangaben für den Leser durchweg verifizierbar ist. Hinsichtlich der Zeitgestaltung weist der ›Ulysses‹ zahlreiche Versuche auf, die Linearität, die seit Lessings ›Laokoon‹ gemeinhin als wesentliches Gattungsspezifikum des Romans galt, aufzubrechen. Analog zu den Bestrebungen des Futurismus, Simultaneität in die Literatur einzuführen, um der beschleunigten Zeitwahrnehmung des 20. Jahrhunderts gerecht zu werden, weist der ›Ulysses‹ mit seiner Tendenz zu alinearen Erzählverfahren Passagen auf, in denen der Eindruck von Gleichzeitigkeit durch originär narrative Mittel suggeriert wird. Die Zeitangaben, denen Joyce eine penible Aufmerksamkeit widmete, werden ergänzt durch eine nicht minder akribische topographische Daten- und Detailfülle. Die Erinnerung an seine Heimatstadt kontrollierte Joyce im Exil in Paris, Zürich und Triest anhand von Karten und Stadtplänen – und es gibt wohl kaum einen ›Ulysses‹-Leser, der bei der Lektüre nicht zu einem Stadtplan Dublins gegriffen hat, um die von Joyce exakt kartographierten Schauplätze in der realen Physiognomie der Stadt wieder zu finden – oder sich zumindest ein derartiges Hilfsmittel herbeigewünscht hätte.25 Der alljährlich in Dublin mit 22 23 24
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James Joyce: A Portrait of the Artist as a Young Man, ed. with an introduction and notes by Seamus Deane, London 1992, S. 275f. Die ›Telemachos‹-Episode setzt am 16. Juni 1904 um 8 Uhr ein, ›Penelope‹ endet gegen 2 Uhr früh am Morgen des 17. Juni. Vgl. Stuart Gilbert: Das Rätsel ›Ulysses‹. Eine Studie, übers. v. Georg Goyert, Zürich 1932, S. 26f. In diesen Schemata, die Joyce in den Zwanziger Jahren (in leicht voneinander abweichenden Versionen) Carlo Linati, Valéry Larbaud, Herbert Gorman und Stuart Gilbert zukommen ließ, wird jeder Episode – neben dem jeweiligen Schauplatz und der Stunde der Handlung – ein Organ, eine Kunst, eine Farbe, ein Symbol sowie eine literarische Technik zugeordnet. Seit dem Kommentar von Don Gifford und Robert Seidman: Ulysses Annotated. Notes for James Joyce’s Ulysses, Berkeley, Los Angeles, London 1988 verzichtet keine der kommentierten ›Ulysses‹-Ausgaben mehr auf die Beigabe von Stadtplänen. Das jüngste Beispiel ist die 2004 vom Suhrkamp-Verlag auf der Textgrundlage der Frankfurter Werkausgabe und – hinsichtlich des Kommentars – dem ›Ulysses Annotated‹ besorgte Edition: James Joyce: Ulysses. Roman, übers. v. Hans Wollschläger, hg. u.
einem Spaziergang auf den Spuren Leopold Blooms gefeierte Bloomsday ist vermutlich der beste Beweis für Joyce Behauptung, dass man die Stadt aus seinen Büchern wiedererrichten könne, sollte Dublin je durch eine Naturkatastrophe zerstört werden.26 Mit der Verankerung seines ›Ulysses‹ in der irischen Hauptstadt, die um 1920 keineswegs den Rang einer Weltstadt innehatte, etabliert Joyce den ›Regionalismus‹ in der experimentellen Literatur des 20. Jahrhunderts. Dublin wird zum Mikrokosmos des Weltalltags: »I always write about Dublin, because if I can get to the heart of Dublin I can get to the heart of all cities in the world. In the particular is contained the universal.«27 Obwohl Joyce damit den Regionalismus in der Avantgarde salonfähig gemacht haben sollte, wurde seinen Nachfolgern diese Tendenz immer wieder als Eskapismus oder Begrenztheit angelastet. Joyce präzises, ja akribisches (von Joyce-Gegnern als ›Detailbesessenheit‹ geschmähtes) Arbeitsverfahren, das vor Werkzeugen wie Stadtplänen, Messtischblättern, Kalendern und sogar einer Stoppuhr nicht zurückschreckte, legt durchaus das (wiewohl ein wenig unelegante) Etikett »Hyperrealismus« nahe und hat die Literatur des 20. Jahrhunderts nachhaltig verändert. Historie erscheint im ›Ulysses‹ nie als ›große Geschichte‹, sondern entweder schlagzeilenartig als allgegenwärtige Fragmente der urbanen Informationsflut, als unvermeidlicher Bestandteil von Kneipengesprächen oder – gebrochen durch die Weltwahrnehmung der Protagonisten und verankert in ihrer jeweiligen Biographie – in ihrer Bedeutung als Individualgeschichte. Anstelle von sich entwickelnden Helden oder gar historischen Ereignissen bietet der ›Ulysses‹ den everyman Leopold Bloom und ein Stenogramm von Alltagsbanalitäten. Im ›Ulysses‹ manifestiert sich, mehr als in jedem anderen Roman der Moderne, ein Paradigmenwechsel […], der die bisher üblichen Lesererwartungen nicht mehr aufkommen läßt. So wird man im Roman der Moderne weniger einen Helden als einen Leidenden als Hauptfigur erwarten, jedenfalls widerspricht der alle Widrigkeiten beherrschende Menschentypus ganz und gar der Offenheit des Roman der Moderne, da dieser den Menschen der Grenzenlosigkeit und Unbestimmtheit reiner Möglichkeit aussetzt. Daher wird im Roman reiner Möglichkeit auch kaum die traditionelle Handlungsstruktur zu finden sein, welche durch einen Höhepunkt oder eine Reihe von Aktionsgipfeln gekennzeichnet ist. Denn alles Abschließende, Sinnstiftende, ja alle eigentlichen Lösungen widersprechen der Offenheit reiner Möglichkeit.28
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kommentiert v. Dirk Vanderbeke, Dirk Schultze, Friedrich Reinmuth und Sigrid Altdorf in Verbindung mit Bernd Scharpenberg, mit zahlreichen Karten, Frankfurt a.M. 2004. Vgl. Budgen: James Joyce and the Making of ›Ulysses‹ and Other Writings, S. 64. Zit. n. Richard Ellmann: James Joyce, New York 1959, S. 520. Jürgen H. Petersen: Der deutsche Roman der Moderne. Grundlegung – Typologie – Entwicklung, Stuttgart 1991, S. 48.
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Gerade seine naturalistische Detailfülle, aufgrund derer ›Ulysses‹ oft mit dem Schlagwort »enzyklopädisch«29 belegt worden ist, sprengt den plot. Voraussetzung einer kausal geschlossenen Handlung ist zunächst die Selektion des Autors; lediglich Handlungselemente, die sich in ein Ursache-Wirkung-Schema einfügen lassen, besitzen Daseinsberechtigung. Für den ›Ulysses‹ gilt die Unterscheidung zwischen wichtig und unwichtig nicht; die Opposition von banal vs. ›welthaltig‹ ist hinfällig geworden, denn Joyce geht es gerade um die unverbundenen, losen Details, was Umberto Eco in den ›Ulysses‹-Kapiteln seiner Studie zum Offenen Kunstwerk (›Opera aperta‹) überzeugend darlegt: Der narrative Rhythmus des ›Ulysses‹ ist – wie es Eco am Besuch Leopold Blooms auf dem Toilettenhäuschen exemplifiziert – »wahrhaft ein natürlicher, integrierter und einheitlicher Rhythmus, bei dem es keine einsinnigen Ursache-Wirkung-Beziehungen mehr gibt, und also keine Ordnung qua Hierarchie der Wesenheiten oder Ereignisse.«30 Seine »Poetik des Querschnitts«31 macht den ›Ulysses‹ zur Epopöe des Unbedeutenden, der bêtise, des Nichtausgewählten, denn die Welt ist eben der Totalhorizont der unbedeutenden Ereignisse, die sich zu beständig neuen Konstellationen verbinden, von denen jedes Anfang und Ende einer vitalen Relation ist, Zentrum und Peripherie, erste Ursache und letzte Wirkung einer Kette von Begegnungen und Entgegensetzungen, Verwandtschaften und Diskordanzen.32
Kein vermittelnder Erzähler leistet die kausale Synthese, der Leser steht dem Geschehen, das größtenteils ein inneres ist, mit äußerster Unmittelbarkeit gegenüber; die zentralen Charaktere, Stephen Dedalus, Leopold und Molly Bloom, werden nicht von einem Erzähler vorgestellt, sondern ihre Gedankenwelt und sinnliche Wahrnehmung werden dem Leser vermittels der stream of consciousness-Technik offen gelegt; gerade in den Passagen, in denen die Narration ihrer freien Assoziation folgt, fließen erhebliche Mengen an Daten, Sinneseindrücken, Banalitäten und Obszönitäten in den Text ein, die einen erheblichen Affront gegenüber den traditionellen Darstellungskonventionen und -restriktionen darstellen. Wiewohl alle Figuren des ›Ulysses‹ »unter dem Einfluß desselben undifferenzierten Feldes von physischen und mentalen Ereignissen« stehen, so erhält doch jede von ihnen einen unverwechselbaren Sprach- und Gedanken-›Sound‹,
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Eduard Korrodi: Kritizismus im europäischen Roman, in: Kritisches Erbe, S. 139–141, hier S. 140 [zuerst in: Neue Zürcher Zeitung (11.11.1927)]; Bruno E. Werner: Der Ulysses des James Joyce, in: Kritisches Erbe, S. 207–209, hier S. 209 [zuerst in: Deutsche Rundschau (Juni 1928), S. 268–270]. Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, übers. v. Günter Memmert, Frankfurt a.M. 1977 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 222), S. 389. Ebd., S. 352. Ebd., S. 389.
durch den der Innere Monolog Blooms Merkmale bekommt, die sehr verschieden sind von denen, die den Stephens kennzeichnen, so wie der Stephens von dem Mollys und alle drei verschieden sind von den anderen Wahrnehmungsströmen, die zur Zeichnung einer Person zusammenwirken. Diese persönlichen Stile sind so ausgeprägt und gelungen, daß die Personen des Ulysses lebendiger, wahrer, komplexer und individuierter erscheinen als die irgendeines traditionellen Romans, in dem der Autor sich auf Erklärungen und Motivationen für alles, was in der Seele seines Helden vorgeht, einläßt.33
Im ›Ulysses‹ finden sich nur wenige erläuternde oder beschreibende Passagen, immer ist Joyce bemüht, die Menschen und Dinge aus sich selbst sprechen zu lassen. Auf dem Weg zu einer derartigen ›Bewusstseinsunmittelbarkeit‹ bedarf es präziser und wirkungsvoller sprachlicher Instrumente, die von Joyce neu geschaffen werden. Ebenso wie die formale Geschlossenheit des Romans zugunsten eines episodischen Arrangements und einer komplexen symbolischen Struktur aufgegeben wird, weicht der charakteristische gleichförmige Erzählton einem Stilpluralismus, durch den jedes Kapitel anders klingt; dabei folgt jede Episode – dies gilt vor allem für die zweite Hälfte des ›Ulysses‹ – einem anderen Gestaltungsprinzip. Joyce bedient sich nicht nur gattungsfremder Darstellungsformen (etwa der Dramatisierung in der ›Circe‹-Episode), häufig werden auch außerliterarische Muster und Strukturen (vornehmlich der Musik) zum formalen Vorbild für narrative Einheiten (etwa in der Fugenform von ›Sirens‹). Mit dieser intermedialen Tendenz, den Versuchen einer Grenzüberschreitung zwischen den Künsten, der radikalen Erweiterung genrespezifischer Ausdrucksmittel, steht Joyce in der künstlerischen Avantgarde freilich nicht als Einzelfall dar; der ›Ulysses‹ ist jedoch ein einzigartiges Beispiel für eine Annäherung der Romanform an die Musik (die Joyce mit ›Finnegans Wake‹ noch radikalisieren wird). Das Etikett »lyrical novel« kann auf den ›Ulysses‹ in mancherlei Hinsicht erhellend angewandt werden, da im Rahmen eines Vergleichs mit dem lyrischen Gedicht formale Spezifika des ›Ulysses‹ fasslich werden, die ihn aus dem Genre des Romans herausheben: neben der Adaption musikalischer Strukturen und Formen etwa der Verzicht auf die genrespezifische Finalität zugunsten einer eher lyrischen Spatialität, vor allem durch die hohe Motiv- und Verweisungsdichte, die den ›Ulysses‹ (wie einige Werke seiner Nachfolger) zum unerschöpflichen Vergnügungsplatz für ehrgeizige Kommentatoren und Dechiffriersyndikate macht. Dabei kommt nicht nur dem Mythos und Homers ›Odyssee‹ als kühnem Prä- bzw. Subtext eine erhebliche Rolle zu, zahllose literarische Werke aller Epochen und Gattungen werden durch Motivübernahmen und Zitate zu einem dichten intertextuellen Netz verwoben; planvoller Eklektizismus wird zur Methode, die Tradition mithin zum Material. Allerdings ist es nicht nur die kanonisierte ›Höhenkamm33
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literatur‹, die Eingang in den ›Ulysses‹ findet; ebenso zahlreich sind Anspielungen auf populäre (Massen-)Literatur, Zeitschriften und triviale Romane, die für Joyce einen ebenso beträchtlichen Anteil am Weltalltag bzw. am gesellschaftlichen Bewusstsein seiner Zeit hatten.34 Auch Joyce eigenes literarisches Schaffen fließt wie selbstverständlich in den ›Ulysses‹ mit ein; durch die Wiederaufnahme von Figuren (allen voran Stephen Daedalus/Dedalus aus ›Stephen Hero‹ und ›A Portrait of the Artist‹, außerdem aber auch einige der zahlreichen Nebenfiguren, die noch aus dem Personal der ›Dubliners‹ stammen), von Stoffen und Motiven entsteht der Eindruck, als ›umschreibe‹ sich James Joyce mit einem literarischen Kosmos, der mit jedem neuen Werk größer, bevölkerter, detaillierter und fasslicher wird. Im Rahmen von Joyce Bestreben, Dublin vor den Augen (und Ohren) des Lesers möglichst anschaulich entstehen zu lassen, bleibt es nicht aus, dass auch das Romanpersonal des ›Ulysses‹ teilweise nach realen Vorbildern modelliert wurde; schon unter den Zeitgenossen war der ›Ulysses‹ als ›Schlüsselroman‹ eher gefürchtet als verehrt: Dublin was divided into two camps […]: those who were afraid that they were in the book and those who were afraid that they were not in it. From a superficial knowledge of Dublin the writer would affirm that Joyce certainly did his best by the first group and tried to make the second as small as possible.35
Eine herausragende Rolle in der literarischen Moderne kommt Joyce zu, wenn es um das Experimentieren mit den Möglichkeiten sprachlichen Ausdrucks geht. Der ›Ulysses‹ inkorporiert nicht nur eine Vielzahl von Sprachen und Dialekten, sondern er überschreitet auch die Grenzen der Syntax (v.a. im ›Penelope‹-Kapitel) und verstößt gegen die Gesetze der Grammatik und Semantik. Im Rahmen seiner Bemühung um eine Annäherung der Sprache an die Musik und zugleich um eine möglichst authentische Wiedergabe der lautlichen Physiognomie Dublins Anfang des 20. Jahrhunderts haben Schlager und Songs einen erheblichen Anteil an der Klangwelt des ›Ulysses‹. Das ›enzyklopädische‹ Montageverfahren, mit dem Joyce seinen Roman für Realitätspartikel aller Art öffnet, legt – entsprechend dem urbanen Erscheinungsbild Dublins – einen Schwerpunkt auf Medien und Werbung, Schlagzeilen und Slogans, wobei sowohl akustische als auch visuelle Splitter in den Text eingeflochten werden; bei der Transkription nonverbaler Phänomene wie auch bei der Imitation von optischen Wahrneh-
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Vgl. hierzu R. B[randon] Kershner: Joyce, Bachtin, and Popular Literature. Chronicles of Disorder, Chapel Hill/London 1989, S. 8: »Joyce’s exposure to popular literature and journalistic writing was extensive and, by the time he had begun to write Ulysses, consciously directed. […] From the frequency and kinds of allusions to popular books, magazines, and newspapers in Ulysses, it is clear that Joyce was attempting a sketch of the textual contribution to popular consciousness in Dublin in 1904.« Gorman: James Joyce. His First Forty Years, S. 124.
mungen vollführt Joyce im ›Ulysses‹ mancherlei Grenzüberschreitung, was bereits bei einem flüchtigen Blick auf das Druckbild des Romans augenscheinlich wird. Joyce Instrumentierung, die Aufwertung des Klangs und der Wortgestalt, die häufigen Wortspiele und Lautmalereien rücken das handwerklich-künstlerische Material des Schriftstellers und damit den Artefaktcharakter des Werkes ins Blickfeld des Rezipienten, während seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ein Verbergen des Künstlichen als unabdingbare Voraussetzung für das wirkungsästhetische Ziel der Erzeugung von poetischer Illusion galt. Joyce wendet sich gegen die Vorstellung, dass es sich beim Leseprozess um einen passiven Vorgang handle; Bedeutung ist im ›Ulysses‹ nicht einfach ›vorhanden‹, als etwas eindeutig Erschließbares; auch die zahllosen biblischen, literarischen und philosophischen Zitate, die wie Mosaiksteinchen in das Gesamtbild des Werkes eingefügt sind, haben nicht den Status allgemeingültiger tradierter Wahrheiten, sondern sind Fragmente des ungestalteten Bewusstseins einer Epoche. Auf diese Weise wird die Lektüre des ›Ulysses‹ zu einem Austauschprozess, in dem der Leser auf völlig neuartige Weise aktiv in einen Text miteinbezogen wird, der an seine geistige Mitarbeit, seine Gedächtnisleistung, sein Weltwissen, an seine Kenntnis der literarischen Tradition und seine synthetisierenden Fähigkeiten erheblich höhere Anforderungen stellt als der Roman des 19. Jahrhunderts. Mit diesem summarischen und in mancherlei Hinsicht gewiss verkürzenden und bei einer oberflächlichen Beschreibung verharrenden Abriss der Spezifika des ›Ulysses‹36 sind immerhin die Analysekategorien aufgefächert, die die Lektüre der berücksichtigten Werke Koeppens, Schmidts, Johnsons und Hildesheimers leiten sollen. Der Verstoß gegen Rezeptionskonventionen war es, der Kritiker, Leser und Dichter gleichermaßen verwirrte und die literarische Öffentlichkeit vor die Frage stellte, ob und in welcher Weise eine Fortführung der Romantradition nach dieser Erschütterung noch denkbar sei. Mit dem Erscheinen des ›Ulysses‹ wurden in Deutschland Stimmen laut, die das Ende des Romans proklamierten.37 36
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Auf eine großformatige, der Untersuchung vorangestellte Analyse des ›Ulysses‹, wie sie etwa Ute Müller in ihrer unlängst erschienenen Studie zur Faulkner-Rezeption nach 1945 zu den Werken Faulkners vornimmt (William Faulkner und die Deutsche Nachkriegsliteratur, Würzburg 2005 (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften, Reihe Literaturwissenschaft 537)), soll hier verzichtet werden – nicht nur, da es den Umfang der vorliegenden Studie sprengen würde, sondern auch, da diese es sich keineswegs zum Ziel setzt, die ohnehin zahllosen ›Ulysses‹-Untersuchungen um einen weiteren Beitrag zu vermehren; vielmehr soll in einer komparatistisch angelegten Analyse der Blick auf die Fortschreibung der von Joyce initiierten Traditionslinie nach dem Zweiten Weltkrieg, also auf die Spuren Joycescher Verfahren, Formen und Techniken in den Werken deutscher Nachkriegsautoren gerichtet werden. In Korrodis Rezension aus dem Jahr 1927 heißt es: »Und da haben wir nun das Ende des Romans, in diesem Werk.« (Korrodi: Kritizismus im europäischen Roman, S. 141.) Pointierter, dabei deutlich abwertend, spricht Walter Muschg (Der deutsche Ulysses, S. 186f.) 1928 vom »Harakiri des europäischen Romans«. Arno Schirokauer
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Ob in der frühen Kritik nun vom Todesstoß oder von einer Wiederbelebung die Rede war, Einstimmigkeit bestand darin, dass man am ›Ulysses‹ in Zukunft nicht mehr vorbeikommen werde: »Lobe oder beschimpfe ihn, wer will: er ist da. Man kann nicht mit Gleichmut an ihm vorübergehen.«38 Viele Rezensenten (besonders diejenigen, die selber Schriftsteller waren) legten den deutschen Literaten den Roman als Pflichtlektüre nahe,39 und häufig wurde schon zu diesem frühen Zeitpunkt das zukunftsweisende Potential des ›Ulysses‹ erkannt. So gelangt Bruno E. Werner zu der Erkenntnis, hier ein Standardwerk vor sich zu haben, das eben durch die Tatsache, daß es einen Bilanzstrich unter eine ganze Epoche setzt, bereits wieder in die Zukunft deutet. Denn hier wird mit einer fast fanatischen Besessenheit ein morsches Gebilde bis in seine Fundamente bloßgelegt und damit den kommenden Geschlechtern die Möglichkeit gegeben, das Haus mit besseren Mitteln auf einem neuen Grunde wiederaufzubauen.40
Uneinigkeit bestand in der Kritik darüber, welche Konsequenzen Joyce ›Ulysses‹ für die Weiterentwicklung der deutschen Romantradition haben würde. Dass er nicht folgenlos bleiben würde, stand fest – dennoch reichen die Urteile wiederum von dringendstem Appell bis zum vehementesten ›beware of imitation‹: Franz Blei war überzeugt, die deutschen Romanciers müssten angesichts des ›Ulysses‹ ihre psychologischen und sonstigen handwerklichen Techniken gründlich revidieren. […] Sie werden die Zeit zum Lernen nützen müssen. […] Aber die jüngeren Herrschaften des Romangewerbes werden schon durch dieses kaudinische Joch des James Joyce gehen müssen, wenn sie mehr als bloß so amüsieren wollen mit happy end bürgerlicher Vorstellung. Ulysses trennt die Böcke von den Schafen.41
Walter Schmits gesteht dem ›Ulysses‹ zu, psychologische und technische Anregungen zu bieten, fleht jedoch: »Der Himmel schütze uns gnädig vor unmittelbaren Nachahmungen! Das wäre eine literarische Pest sondergleichen. In Deutschland, wo man Ausländisches gern mit kritiklosem Hosianna begrüßt, ist
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(Bedeutungswandel des Romans, in: Kritisches Erbe, S. 368f., hier S. 369 [zuerst in: Maß und Wert 3 (1940), S. 575–590]) sieht im ›Ulysses‹ mit dem Ende des Individuums den »Abschied vom Roman«, und Lutz Weltmann (Ulysses, in: Kritisches Erbe, S. 188–190, hier S. 190 [zuerst in: Deutsche Zeitung Bohemia (24.2.1928)]) konstatiert: »Joyce sprengt die Form des Romans.« Muschg: Der deutsche Ulysses, S. 187. Bertolt Brecht (Die besten Autoren über die besten Bücher des Jahres, in: Kritisches Erbe, S. 222 [zuerst in: Das Tagebuch 9 (1928), S. 2098]) räumt ihm den Status eines unentbehrlichen »Nachschlagewerks für Schriftsteller« ein. Werner: Der Ulysses des James Joyce, S. 209. Franz Blei: James Joyce: Ulysses, in: Kritisches Erbe, S. 247 [zuerst in: Literarisches Magazin: Neue Revue 4 (Juni 1930), S. 139].
die Gefahr nicht ganz von der Hand zu weisen.«42 Der Zeitraum von über 70 Jahren hat die verhältnismäßig wenigen Kritikerstimmen, die verkündeten, dass der ›Ulysses‹ einmalig oder gar folgenlos bleiben werde, Lügen gestraft. Curtius hatte nicht Unrecht, als er 1928 schrieb: »Zu einem abschließenden Urteil ist die Zeit noch nicht reif. Erst in Jahrzehnten wird man abmessen können, was Joyce in unserer Epoche bedeutet – den Beginn einer neuen Literatur oder eine abseitige grandiose Monstrosität.«43 Die Zeit hat gezeigt, dass der ›Ulysses‹ des James Joyce keineswegs eine ›abseitige Monstrosität‹ blieb oder gar die Totenglocke des Romans geläutet hat; vielmehr hat er sich bis in die Gegenwart hinein als Inspirationsquelle und Herausforderung behauptet. Den nachhaltigsten Einfluss übte Joyce freilich nicht auf die Literaturkritik, sondern auf die Literaten selbst aus. Heute ist unstrittig, dass ohne Joyce radikales Experiment mit dem flexiblen Medium des Romans die weitere Entwicklung dieser Gattung im 20. Jahrhundert anders verlaufen wäre – und das betrifft keineswegs allein die englischsprachige Literatur. Mit der Frage nach dem Einfluss Joyce auf nachfolgende Schriftstellergenerationen ist zunächst ein weites Feld eröffnet, denn welcher Roman der letzten fünfzig Jahre ist rein faktisch keine »post-joycean novel«?44 Selbst Autoren, die in seinen Werken eher eine Bedrohung denn eine Quelle positiver Energie für die weitere Entwicklung des Romans sahen, fanden sich vor die Aufgabe gestellt, in Abgrenzung von Joyce eine Gegenposition zu formulieren. Der Einwand des ersten Joyce-Biographen Gorman, dass es sich um ein hochgradig intellektuelles wie individuelles Werk handle, dessen schillernde Vielgestaltigkeit jedes Nachahmungsversuchs spotte,45 mag zwar insofern zutreffen, als die weitere literarische Entwicklung im 20. Jahrhundert keinen zweiten ›Ulysses‹ hervorbrachte; Gorman verkennt jedoch die sichtbaren Spuren des Romans in den Werken der Nachfolger James Joyce. Döblin war neben Tucholsky einer der ersten Schriftsteller, die das Wirkungspotential des ›Ulysses‹ schon früh erkannten. Während es bei Tucholsky jedoch
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Walter Schmits: James Joyce, in: Kritisches Erbe, S. 136–139, hier S. 139 [zuerst in: Kölnische Zeitung (3.11.1927)]; ähnlich urteilt auch Fritz Gaupp (Kritisches zum Ulysses von James Joyce, in: Kritisches Erbe, S. 194–196, hier S. 194 [zuerst in: Badische Presse (4.4.1928)]): »Der zeitgenössische Roman aber hüte sich vor Nachahmung!« Ernst Robert Curtius: James Joyce, in: Kritisches Erbe, S. 226–232, hier S. 226 [zuerst in: Die Literatur (November 1928), S. 121–128]. Robert Adams: Afterjoyce. Studies in Fiction after Ulysses, New York 1977, S. 3. »Its influence will undoubtedly be felt for many years, but it will be the influence of a cerebral approach, the deepening of a spirit that was already in the air. […] The individuality of ›Ulysses‹ is too striking for it to have many disciples. […] On the other hand, it is impossible to conceive of anybody taking over Joyce’s prose and construction; the man is too various.« (Gorman: James Joyce. His First Forty Years, S. 121.)
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eher bei einer skeptischen Würdigung blieb,46 stellt sich Döblin bewusst an den Anfang der Reihe deutscher Autoren (ihm folgten Ivan Goll – der 1927 die höchste Würdigung Joyce in wenige Worte fasste: »James Joyce ist unser größter Dichter«47 – Hermann Broch, Hans Henny Jahnn und viele mehr), die sich verschiedener Materialien und Verfahren aus der Versuchsapparatur des ›Ulysses‹ bedient, sie variiert und in ihre literarische Produktion integriert haben: »Especially as regards Broch, Döblin, and Jahnn, the first generation of German-language writers inspired by U[lysses], Joyce’s novel had an instant and profound effect on their style, transforming the literary sensibilities literally overnight.«48 Döblins Besprechung des ›Ulysses‹ in ›Das deutsche Buch‹ von 1928 ist bis heute eine der (bei aller gegebenen Kürze) dezidiertesten Würdigungen des Romans sowie zugleich ein aufschlussreiches Dokument für die Faszination, die Joyce auf einen deutschen Schriftsteller ausgeübt hatte, der verneint, »in den letzten Jahrzehnten einem umfangreichen Schriftwerk von derartiger Radikalität in der Form begegnet zu sein […]. Dies ist ja auch ein Experimentierwerk, weder
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Eine Untersuchung zur produktiven Joyce-Rezeption Tucholskys wäre nichtsdestoweniger ein Desiderat, da neben der ›Ulysses‹-Rezension auch der Essay ›Der innere Monolog‹ (1927) (in: ders.: Gesamtausgabe. Werke und Briefe, hg. v. Antje Bonitz u.a., Bd. 9: Texte 1927, hg. v. Gisela Enzmann-Kraiker, Ute Maack u. Renke Siems, Reinbek b. Hamburg 2004, S. 358–361) auf Joyce Bezug nimmt; zudem steht der Gesprächsfetzen in einem literarischen Salon stenographierende Text ›Das Stimmengewirr‹ (Kurt Tucholsky: Das Stimmengewirr, in: ders.: Gesamtausgabe. Werke und Briefe, hg. v. Antje Bonitz u.a., Bd. 13: Texte 1930, hg. v. Sascha Kiefer, Reinbek b. Hamburg 2003, S. 229–231) in seiner interpunktionslosen und montageartigen Form in engem Bezug zu Prosaverfahren, die bereits im ›Ulysses‹ erprobt werden; Tucholskys ›Herr Wendriner kann nicht einschlafen‹ (1926) (in: ders.: Gesamtausgabe. Werke und Briefe, hg. v. Antje Bonitz u.a., Bd. 8: Texte 1926, hg. v. Gisela Enzmann-Kraiker u. Christa Wetzel, Reinbek b. Hamburg 2004, S. 186–188) kann als Replik auf das ›Penelope‹-Kapitel gelesen werden, wie dies auch Renke Siems in seinem Aufsatz ›Gesprochene Schrift. Zu Kurt Tucholskys Erzählprosa‹ andeutet (in: Kurt Tucholsky. Das literarische und publizistische Werk, hg. v. Sabina Becker u. Ute Maack, Darmstadt 2002, S. 213–244, hier S. 228). Ein Vergleich der Lottchen-Monloge mit ›Penelope‹ wäre eine lohnende Aufgabe (vgl. Kurt Tucholsky: Ankunft (1928), in: ders.: Gesamtausgabe. Werke und Briefe, hg. v. Antje Bonitz u.a., Bd. 10: Texte 1928, hg. v. Ute Maack, Reinbek b. Hamburg 2001, S. 372–374; Kurt Tucholsky: Lottchen besucht einen tragischen Film (1929), in: ders.: Gesamtausgabe. Werke und Briefe, hg. v. Antje Bonitz u.a., Bd. 11: Texte 1929, hg. v. Ute Maack u. Victor Otto, Reinbek b. Hamburg 2005, S. 403– 407; Kurt Tucholsky: Lottchen beichtet 1 Geliebten (1931), in: ders.: Gesamtausgabe. Werke und Briefe, hg. v. Antje Bonitz u.a., Bd. 14: Texte 1931, hg. v. Sabina Becker, Reinbek b. Hamburg 1998, S. 32–34; Kurt Tucholsky: Lottchen wird saniert (1931), in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 14, S. 87–91; Kurt Tucholsky: Es reut das Lottchen (1931), in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 14, S. 100–102). Ivan Goll: Der Homer unserer Zeit: Über James Joyce, in: Kritisches Erbe, S. 130– 134, hier 134 [zuerst in: Die Literarische Welt 3/24 (17.6.1927), S. 396–400]. Weninger: James Joyce in German-speaking countries, S. 29.
ein Roman noch eine Dichtung, sondern ein Beklopfen ihrer Grundelemente.«49 Joyce suche »auf seine Weise die Frage zu beantworten: wie kann man heute dichten? Zunächst hat jeder ernste Schriftsteller sich mit diesem Buch zu befassen.«50 Döblin ist nicht der einzige, der künftigen Schriftstellergenerationen den ›Ulysses‹ als Pflichtlektüre nahe legt. Ein ähnliches Anliegen wird von Hermann Broch in seinem Aufsatz ›James Joyce und die Gegenwart‹ (1936) vorgebracht, in dem es heißt, das Werk nehme »zu der Frage nach der Möglichkeit der Weltabbildung, zu der Frage nach der Möglichkeit des Dichterischen schlechthin, Stellung.«51 Broch sieht den ›Ulysses‹ (den er als adäquaten dichterischen Ausdruck moderner Welterfahrung der Relativitätstheorie gegenüberstellt) als das Werk an, das trotz der Erkenntnis einer prinzipiellen Unabbildbarkeit der Welt52 die gewaltige Aufgabe der literarischen Gestaltung von Totalität als »Weltalltag der Epoche«53 in Angriff genommen und bewältigt habe. Broch belegt den ›Ulysses‹ mit dem Schlagwort »Intensiv-Roman« und versteht darunter ein sprachliches Ausdrucksgebilde, das durch die Präzision und Ökonomie seiner Darstellungsmittel, durch die präziseste Wortwahl, durch präziseste Architektonik in Inhalt und Form, durch eine präzise Symbolik im Psychologischen und sogar im Klanglichen das dem Roman vorgeschriebene Totalbild des Lebens zu erreichen trachtet.54
Broch stellt fest, dass es Joyce »um die Totalität des Lebens und des Menschen geht, um eine Totalität, die von der tiefsten irrationalen Schicht bis hinauf zu seinem rationalsten Denken zum Ausdruck gebracht wird.«55 Neben den theoretischen und poetologischen Ausführungen sind Döblins ›Berlin Alexanderplatz‹ und Brochs ›Tod des Vergil‹ beredte Zeugnisse dieser produktiven Auseinandersetzung mit den vom ›Ulysses‹ freigelegten formalen Potentialen. In dieser Reihe wäre als Dritter Hans Henny Jahnn zu nennen, der in seiner Besprechung des Romans aus dem Jahr 1930 zunächst die Parallelen zwischen Döblin und Joyce aufzeigt, kurze Zeit später selbst für den ›Ulysses‹ wirbt (»Kauft das Buch, und lest es immer wieder. Und wer darüber erschrickt, prüfe sich, ob er seine Existenz
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Alfred Döblin: »Ulysses« von Joyce [März 1928], in: ders.: Ausgewählte Werke in Einzelbänden, in Verbindung mit den Söhnen des Dichters hg. v. Anthony W. Riley, Kleine Schriften III, hg. v. Anthony W. Riley, Zürich/Düsseldorf 1999, S. 130–134, hier S. 132 [zuerst in: Das deutsche Buch 8 (1928)]. Ebd., S. 134. Hermann Broch: James Joyce und die Gegenwart, in: ders.: Kommentierte Werkausgabe, hg. v. Paul Michael Lützeler, Bd. 9/1: Schriften zur Literatur I: Kritik, Frankfurt a.M. 1975 (suhrkamp taschenbuch 246), S. 64–94, hier S. 67. Vgl. ebd., S. 66. Ebd., S. 64. Hermann Broch: Hofmannsthal und seine Zeit (1947/48), in: ders.: Kommentierte Werkausgabe, Bd. 9/1, S. 111–284, hier S. 246. Broch: James Joyce und die Gegenwart, S. 75.
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nicht auf Blindheit, Lügen und Taubheit aufgebaut hat.«56) und sich schließlich nach der Publikation von ›Perrudja‹ mit Joyce im vereinigenden ›wir‹ in eine Reihe stellt: »Wir haben nur den Kreis des Schauens zu weiten versucht.«57 Man kann durchaus von einer Tradition produktiver Joyce-Rezeption sprechen, die sich im Rahmen des ohnedies einzigartigen internationalen Austauschs der künstlerischen Moderne in einem Wechselspiel mit originär deutschen avantgardistischen Tendenzen etablierte.58 Diese erste Phase produktiver Joyce-Rezeption, die in der wegweisenden Studie Mitchells ergebnisreich dargelegt worden ist,59 56 57 58
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Hans Henny Jahnn: James Joyce: Ulysses, in: Kritisches Erbe, S. 251 [zuerst in: Der Kreis 7 (1930), S. 472–473]. Hans Henny Jahnn: Aufgabe des Dichters in dieser Zeit, in: Kritisches Erbe, S. 280f., hier S. 281 [zuerst in: Der Kreis 9 (1932), S. 267–275]. Es war jedoch nicht unmöglich, sich dem Tumult des Literaturbetriebs zu entziehen, der 1927 der Publikation des deutschen ›Ulysses‹ folgte; das prominenteste Beispiel dafür war Thomas Mann, der als Romancier an den zentralen Paradigmen der Gattung festhielt und sich von den avantgardistischen Tendenzen weitgehend abgrenzte; Studien über Joyce stellten für ihn den einzigen Weg zu Joyce dar, denn »ihn selbst zu studieren, dazu fehlt es mir an der nötigen rezeptiven Freiheit und Gutwilligkeit. Ich ahne eine Verwandtschaft, möchte sie aber lieber nicht wahrhaben, weil, wenn sie vorhanden wäre, Joyce alles viel besser, kühner, großartiger gemacht hätte.« (Thomas Mann: Brief an Agnes E. Meyer vom 5.8.1944, in: ders.: Briefe 1937–47, hg. v. Erika Mann, Frankfurt a.M. 1963, S. 381–383, hier S. 382.) An anderer Stelle heißt es: »Mein Vorurteil war, daß neben Joyce’ exzentrischem Avantgardismus mein Werk wie flauer Traditionalismus wirken müsse.« (Thomas Mann: Die Entstehung des Dr. Faustus, in: ders. Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Frankfurt a.M. 1960, Bd. XI: Reden und Aufsätze 3, S. 145–301, hier S. 205.) Diese Sorge Thomas Manns ist nicht völlig aus der Luft gegriffen, da die Entwicklung seiner Prosa ähnliche Themenkomplexe berührt, Tendenzen offen legt (als Beispiele seien lediglich die Zeitthematik im ›Zauberberg‹ oder der Innere Monolog Goethes in ›Lotte in Weimar‹ genannt), die im ›Ulysses‹ weitaus radikaler gestaltet wurden; dennoch geht ein Vergleich zwischen Thomas Mann und Joyce insofern von problematischen Prämissen aus, als der experimentelle Avantgardismus des James Joyce und das auf traditionellen Parametern fußende Fortschreiben der Erzähltradition durch Thomas Mann als zwei parallele Stränge der Romanentwicklung im 20. Jahrhundert aufgefasst werden müssen. Diese fundamentale Scheidung zweier historischer Entwicklungen wird beispielsweise in der Studie von Peter Egri (Avantgardism and Modernity. A Comparison of James Joyce’s Ulysses with Thomas Mann’s Der Zauberberg und Lotte in Weimar. Budapest 1972) nicht hinreichend berücksichtigt. Treffender spricht dagegen Michael PalenciaRoth von Thomas Mann’s non-relationship to James Joyce, in: Modern Language Notes 91 (1976), S. 575–582. Vgl. Weninger: James Joyce in German-speaking countries, S. 49. Mitchell: James Joyce and the German Novel 1922–1933. Als durchaus erhellend, wenngleich in starker Anlehnung an Mitchell, ist auch Kapitel 7 (»The impact of Ireland on Germany since 1900«) der Studie von Patrick O’Neill zu bewerten: Ireland and Germany. A Study in Literary Relations, New York, Bern, Frankfurt a.M. 1985. Wenngleich der dokumentierte Zeitraum von O’Neills Arbeit weiter gesteckt sein soll, so bietet sie bedauerlicherweise zur Joyce-Rezeption nach dem Zweiten Weltkrieg nur
fand jedoch nach 1933 ein vorzeitiges Ende, da die nationalsozialistische Kulturpolitik in Deutschland all die experimentellen und avantgardistischen Tendenzen, deren Blüte kaum begonnen hatte, im Keim erstickte und den Zufluss ›entarteter‹ moderner Kunst aus dem Ausland verhinderte.
wenige und sehr allgemeine, teilweise höchst spekulative und daher fragwürdige Informationen. Einen kenntnis- und materialreichen Ansatz weisen hingegen die zwei Aufsätze Robert Weningers auf, die in dem zweibändigen Sammelband ›The Reception of James Joyce in Europe‹ erschienen sind: Weninger: James Joyce in German-speaking countries: The Early Reception, 1919–1945, sowie ders.: The Institutionalization of ›Joyce‹: James Joyce in (West) Germany, Austria and Switzerland, 1945 to the Present, in: The Reception of James Joyce in Europe (Volume I: Germany, Northern and East Central Europe. Volume II: France, Ireland and Mediterranean Europe, ed. by Geert Lernout and Wim van Mierlo, London/New York 2004 (The Athlone Critical Traditions Series: The Reception of British Authors in Europe), S. 14–50 (darin zu Jahnn bes. S. 29f., zu Döblin S. 30f. und zu Broch S. 31–33) und S. 51–69. Im selben Band beleuchtet ein Aufsatz Wolfgang Wichts die Rezeption – oder vielmehr Stigmatisierung – Joyce in der SBZ/DDR: The Disintegration of Stalinist Cultural Dogmatism: James Joyce in East Germany, 1945 to the Present, in: The Reception of James Joyce in Europe. Volume I, S. 70–88. Als Ergänzung zu Mitchells und Weningers Ausführungen zur Joyce-Rezeption bei Döblin, Broch und Jahnn können herangezogen werden: Joris Duytschaever: Joyce – Dos Passos – Döblin: Einfluß oder Analogie?, in: Materialien zu Alfred Döblins ›Berlin Alexanderplatz‹, hg. v. Matthias Prangel, Frankfurt a.M. 1975, S. 136–149; Ulrich Schneider: Joyce und Döblin, in: ders.: James Joyce. Studien zu Dubliners und Ulysses, hg. v. Eberhard Kreutzer, Arno Löffler, Dieter Petzold, Erlangen 1997, S. 256–269; Ceagha Zalubska: Parallelen der Erzähltechnik in den Werken von Alfred Döblin und James Joyce, in: Studia Germanica Posnaniensia 1 (1971), S. 59–67; Andrew McLean: Joyce’s Ulysses and Döblin’s Alexanderplatz Berlin [sic!], in: Comparative Literature 25 (1973), S. 97–113; Frauke Tomczak: Mythos und Alltäglichkeit am Beispiel von Joyce’ Ulysses und Döblins Berlin Alexanderplatz, Frankfurt 1992; Adrian Stevens: Hermann Broch as a Reader of James Joyce, in: Hermann Broch. Modernismus, Kulturkrise und Hitlerzeit. Londoner Symposium 1991, hg. v. Adrian Stevens, Innsbruck 1994, S. 77–101; Joseph Strelka: Hermann Broch. Comparatist and Humanist, in: Comparative Literature Studies 12 (1975); S. 67–79, Jean-Michel Rabaté: Joyce and Broch, in: Comparative Literature Studies 19 (1982), S. 121–130; Manfred Durzak: Hermann Broch und James Joyce. Zur Ästhetik des modernen Romans, in: DVjS 40 (1966), S. 391–433; Breon Mitchell: Hans Henny Jahnn and James Joyce, in: Arcadia 6 (1971), S. 44–71; Paul Michael Luetzeler: Hermann Broch und Georg Lukács. Zur Wirkungsgeschichte von James Joyce, in: Études Germaniques 35 (1980), S. 290–299; Jürgen Heizmann: Neuer Mythos oder Spiel der Zeichen? Hermann Brochs literarästhetische Auseinandersetzung mit James Joyce, in: DVjS 72 (1998), S. 512–530. Der Beziehung zwischen Joyce und Robert Musil hingegen sind nur wenige Einzeluntersuchungen gewidmet worden; als Beispiel wäre hier Juan García Ponce zu nennen, der in seinem Beitrag ›Musil and Joyce‹ (in: James Joyce Quarterly 5 (1968), S. 75–85) die Frühwerke der Autoren – besonders den ›Törleß‹ und ›A Portrait‹ – einander vergleichend gegenüberstellt.
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Zwar »waren die Verfasser mit irischer Staatsangehörigkeit von den Verbotsanweisungen ausgenommen, sobald eine antibritische Haltung in ihren Romanen nachzuweisen war;«60 ausgenommen von der Ausnahme war jedoch – neben William Butler Yeats – James Joyce.61 Wenngleich der ›Ulysses‹ bereits 1938 von Karl Arns aufgrund seiner »jüdischen Motivik« in den Index der anglo-jüdischen Literatur eingetragen worden war,62 kam es doch erst im Jahr 1942 zu einem staatlichen Verbot des Romans, als Joyce im Verzeichnis englischer und nordamerikanischer Schriftsteller unter den »Autoren der Feindländer« als »unabhängig von der Staatsangehörigkeit unerwünscht« klassifiziert wurde.63 Franke weist darauf hin, dass die Diskriminierung des ›Ulysses‹ sowie die Entfernung des Romans aus Bibliotheken und Unterricht von wissenschaftlichen Kreisen ausging und vermutlich schon vor 1942 vollzogen war.64 Dies bestätigen die Kritiken, die bereits in den frühen dreißiger Jahren von einem zunehmend feindseligen Ton gefärbt waren. Bemerkenswerter als die nationalsozialistischen, radikal ablehnenden Urteile, wie etwa das von Paul Meissner in seiner ›Englischen Literaturgeschichte‹ von 1938, in der von der »entarteten Kunst eines James Joyce« und dem »Zersetzende[n] rein intellektualistischer Kunst«65 die Rede ist, sind die neun Besprechungen des ›Ulysses‹ von Karl Arns,66 anhand derer sich anschau60
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Dietrich Strothmann: Nationalsozialistische Literaturpolitik. Ein Beitrag zur Publizistik im Dritten Reich, 2. verbesserte und mit einem Register versehene Auflage, Bonn 1963, S. 226. Vgl. ebd., Anm. 489. Vgl. ebd., S. 233: »In der Reihe der offiziösen Verbotsbibliographien nimmt der ›Index der anglo-jüdischen Literatur‹ von Karl Arns seiner Zielsetzung entsprechend einen besonderen Platz ein. Dieses Verzeichnis war als Fachindex zur Säuberung der fremdsprachlichen Büchereien in Schulen und Universitäten angefertigt worden und umfasste das vorhandene klassische und moderne Unterrichtsschrifttum bis zum Jahr 1937. Es handelte sich außerdem um einen Katalog, dem eine Prüfung allein nach rassischen Gesichtspunkten vorangegangen war und der neben den Schriften jüdischer Autoren auch Werke enthielt, in denen jüdische Themen behandelt oder jüdische Personen beschrieben wurden.« Jeweils zitiert nach Franke: Die Rezeption des ›Ulysses‹ im deutschen Sprachbereich. Übersetzung, Verbreitung und Kritik, S. 106. Zu diesen und den folgenden Ausführungen bezüglich der Publikationsgeschichte des ›Ulysses‹ in Deutschland vgl. Rosemarie Frankes unerlässliche Studie ›Die Rezeption des ›Ulysses‹ im deutschen Sprachbereich. Übersetzung, Verbreitung und Kritik‹, sowie die Dissertation Rosemarie Frankes: James Joyce und der deutsche Sprachbereich: Übersetzung, Verbreitung und Kritik in der Zeit von 1919–1967, Berlin 1970. Paul Meissner: aus: Englische Literaturgeschichte, Bd. 4: Das 20. Jahrhundert, Berlin 1939, in: Kritisches Erbe, S. 364f., hier S. 365. Karl Arns: James Joyce, in: Kritisches Erbe, S. 108f. [zuerst in: ders.: Jüngstes England: Anthologie und Einführung, Leipzig 1925], Roman und Drama in neuesten England, in: Kritisches Erbe, S. 121f. [zuerst in: Jahrbuch für Wissenschaft und Jugendbildung 2 (1926), S. 40], Die neue englische Romantechnik, in: Kritisches Erbe, S. 124 [zuerst in: Germania (15.2.1927), S. 2], Die Engländerei in der Literatur, in: Kritisches Erbe,
lich nachvollziehen lässt, wie sich selbst bei einem ursprünglich differenziert urteilenden Kritiker, der zunächst dazu beigetragen hatte, Joyce in Deutschland zu Ruhm und Ansehen zu verhelfen, plötzlich negative, ablehnende Tendenzen gegenüber Joyce ›entarteter‹ Formkunst abzeichnen. Hatte Arns Joyce 1925 noch eine »gewaltige künstlerische Dynamik«67 attestiert, postuliert er 1928: »den obszönen und zynischen Joyce lehnen wir ab.«68 1941 werden dem ›Ulysses‹ und seinem Autor gar »typische irische Eigenschaften […] in überzüchteten Formen«69 unterstellt. Obwohl Joyce Romane vermutlich nie in den Flammen der Bücherverbrennungen landeten, schien es in wissenschaftlichen und publizistischen Kreisen angesichts des heraufziehenden politischen Klimas Anfang der dreißiger Jahre offenbar ratsamer, Vorbehalte gegenüber der ›schädlichen Beeinflussung‹ des ›zum Nationalsozialismus zu erziehenden Volkes‹ durch »Sprachkunstwerke und experimentelle Formgebilde«70 zu artikulieren oder sich eines Werturteils zumindest zu enthalten. So konnte Walter Schirmer im Jahr 1944/45 die radikale Unterdrückung avantgardistischer Tendenzen in der deutschen Literatur mit den Worten verkünden: »Heute schon kann man Joyce und sein Werk historisch sehen, er ist passé, nicht nur als Mode in der Laune des Lesepublikums, sondern als Schicksal, das er mit allen großen Anregern teilt, die, gerade weil sie Erfolg hatten, die Fackel weiterreichten und selber ins Dunkel der Vergessenheit zurücktraten.«71 Dass die Zeit Schirmers Urteil Lügen gestraft hat, dass Joyce nach dem Krieg keineswegs »passé« oder vergessen war, beweist nicht allein die umfangreiche Forschung, die noch immer von der Unerschöpflichkeit des ›Ulysses‹ zehrt – auch auf die deutsche Nachkriegsliteratur sollte sich der Einfluss des Romans als nachhaltig erweisen. O’Neill stellt fest, dass, wäre der ›Ulysses‹ nicht geschrieben worden, »the course of German literary history would certainly have been very different and German writing very much the poorer. No twentieth-century English-language writer of whatever national provenance made as deep and lasting
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S. 125f. [zuerst in: Der Hellweg (10.4.1927), S. 105–107], James Joyce: Ulysses, in: Kritisches Erbe, S. 217–220 [zuerst in: Orplid 5 (1928), S. 50–53], Englands neue und neueste Literatur und wir, in: Kritisches Erbe, S. 236f. [zuerst in: Rheinisch-Westfälische Zeitung (29.9.1929)], Alte und neue irische Renaissance, in: Kritisches Erbe, S. 263f. [zuerst in: Der Gral 26 (1931), S. 928–933], aus: ders.: Literatur und Leben im heutigen England, Leipzig 1933, S. 117f., in: Kritisches Erbe, S. 317, aus: ders.: Grundriß der englischen Literatur, Paderborn 1941, S. 146–147, in: Kritisches Erbe, S. 412f. Arns: James Joyce, S. 108. Arns: James Joyce: Ulysses, S. 220. Karl Arns: aus: ders.: Grundriß der englischen Literatur, Paderborn 1941, S. 413. Vgl. Strothmann: Nationalsozialistische Literaturpolitik, S. 324f. Walter Schirmer: James Joyce und der englische Roman, in: Kritisches Erbe, S. 417– 420, hier S. 417 [zuerst in: Aufbau 1 (1944/45), S. 42–46].
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an impact in Germany as did James Joyce.«72 Wenngleich diesem Urteil nachdrücklich zuzustimmen ist, bedürfen O’Neills weitere Ausführungen einer Revision, da sie die existentiellen Probleme im Nachkriegsdeutschland verkennen und insofern ein unzulängliches Bild der Rezeptionssituation zeichnen: A new literary sensation hit German readers in the mid-twenties, one whose long term effects were to alter the face of German literature even more radically: it was the notorious novel Ulysses of yet a third Dubliner, James Joyce. The third Reich put a temporary stop to his impact, but with the renewal of German intellectual life in 1945 Joyce again immediately re-established his claims as the greatest single foreign influence on German Literature of our time.73
So groß der Nachholbedarf nach dem Krieg, so dringend das Bedürfnis, verlorene Zeit aufzuarbeiten und den Schrecken des Krieges literarisch zu gestalten gewesen sein mögen, die Wiederaufnahme der literarischen Produktion und der Wiederanschluss an die internationale Literatur ging bei vielen Dichtern nur langsam vonstatten. Die Nöte des tagtäglichen Überlebens, die Armut, die Papierknappheit forderten ihren Tribut. Für die Rezeption großer Romane, oder gar für die Niederschrift eines solchen fehlte die Zeit, für den Erwerb häufig das Geld; 1948 entzieht die Währungsreform »dem Literaturmarkt die finanzielle Grundlage«.74 Auch die Bedeutung der Kulturpolitik der Siegermächte ist nicht zu unterschätzen; von ihnen wurden unmittelbar nach Kriegsende der Büchermarkt, die Bestückung der Bibliotheken und die Curricula mitbestimmt: Die in der amerikanisch besetzten Zone unter dem Schlagwort re-education von der Information Control Division betriebene Programmatik zielte auf die Verhinderung der Produktion und Verbreitung nationalsozialistischer, rassistischer und militaristischer und auf die Förderung demokratischer Literatur. […] Die amerikanische Literaturpolitik bediente sich dezidiert der Techniken der administrativen Literaturlenkung. Der unmittelbaren Verbotspolitik, die gesteuert wurde durch Papierzuteilungen und Lizenzerteilungen, stand eine Politik der Förderung erwünschter Literatur gegenüber. Es wurde versucht, in den Westzonen das Ideal des American Way of Life zu propagieren; zu den ersten Texten, die in Deutschland wieder publiziert wurden, gehörten Benjamin Franklins Autobiographie sowie Biographien über Thomas Jefferson [und] Stücke Thornton Wilders.75
Zu den amerikanischen Autoren, die im Zuge der re-education-Politik in den Folgejahren importiert wurden, zählten dann auch Hemingway oder Faulkner.
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O’Neill: Ireland and Germany, S. 275. Ebd., S. 248. Peter J. Brenner: Nachkriegsliteratur, in: Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995. Eine Sozialgeschichte, hg. v. Horst A. Glaser, Bern/Stuttgart/Wien 1997 (UTB 1981), S. 33–58, hier S. 48. Ebd.
In der DDR (bzw. der SBZ) freilich stellt sich die Joyce-Rezeption nach 1945 unter den Leitlinien der offiziellen Literaturdoktrin – und mit Georg Lukács als »superior anti-Joycean authority«76 – als ungleich problematischer dar als im Westen. Immerhin galt Joyce hier gleichsam als die Inkarnation des Bösen, the arch-enemy of socialist realism, only equalled by Proust and Kafka. […] In line with the normative determinism of this doctrine [d.h. des Sozialistischen Realismus], the first All-Union Congress of Soviet Writers at Moscow in August 1934 dismissed non-realist forms of literary representation, in particular the new styles of modernism and the avantgarde. Joyce was declared the chief culprit who had commited the crimes of violating the decency of realism (Radek mentions Tolstoy and Balzac) and of producing a petty-bourgeois travesty of capitalist reality completely inadmissible to a socialist society. […] According to Stalinist scripture, Joyce became satan incarnate, since U[lysses] obviously was the seminal work of the kind of fiction that addressed the collapse of any ›truth‹ and messianism. […] Joyce’s name continued to be the anathema after the war, particularly in East Germany.77
»Die gemeinsame Grunderfahrung aller Deutschen seit 1945 ist«, so Robert Hettlage, zweifellos »die eines Kontinuitätsbruchs in der Geschichte«.78 Die JoyceRezeption in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg dokumentiert hingegen eindrucksvoll, wie unscharf, ja schlichtweg unzutreffend die geläufige These von der Stunde Null oder der tabula-rasa-Stimmung der deutschen Nachkriegsliteratur ist. Anstelle eines radikalen Bruchs in der literarischen Tradition lässt sich vielmehr beobachten, wie zentrale experimentelle Tendenzen nach ihrer gewaltsamen Unterdrückung ihren Weg fortsetzen. Einhergehend mit einem Ringen um neue Ausdrucksmittel für die adäquate Gestaltung der Kriegs- und Nachkriegserfahrungen setzt eine Rückbesinnung auf Vorhandenes ein. Es lag nahe, an Angefangenes anzuknüpfen, an modernistische Techniken der ersten Jahrzehnte des Jahrhunderts, war doch die vor dem Krieg junge Schriftstellergeneration mit diesen Techniken wohl vertraut, als sie vom Naziregime zum Verstummen gebracht wurde.79
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Wicht: The Disintegration of Stalinist Cultural Dogmatism, S. 73. Ebd., S. 70–72. Vgl. auch Karl Radek: Schlusswort, in: Kritisches Erbe, S. 329–333 [zuerst in: Internationale Literatur 4/5 (1934)]. Robert Hettlage: Epoche – sozialgeschichtlicher Abriß: BRD – DDR, in: Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995. Eine Sozialgeschichte, hg. v. Horst A. Glaser, Bern/ Stuttgart/Wien 1997 (UTB 1981), S. 5–18, hier S. 5. Allein schon die biographisch bedingte Kontinuität der Literaturentwicklung widerlegt den Mythos von der ›Stunde Null‹, denn mit den Exilanten bzw. den Schriftstellern der Inneren Emigration sind nach dem Krieg »die Autoren jener ›jungen Generation‹ der zwischen 1900 und 1914 geborenen Schriftsteller wieder präsent, die überwiegend schon gegen Ende der Weimarer Republik hervorgetreten waren und auch nach 1933 publizieren konnten: Günter Eich schrieb und realisierte auch während des ›Dritten Reiches‹ Hörspiele, Erich Kästner (1899–1974) war als Filmautor tätig, Wolfgang Koeppen (1906–1996) publizierte 1934 Eine unglückliche Liebe und 1935 Die Mauer schwankt
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So kommt es im Nachkriegsdeutschland in gewisser Weise zu einer zweiten, wiederbelebten Moderne, die auf eine grundlegend veränderte historische Situation trifft. Der existenziellen Krise nach dem Ersten Weltkrieg, die insbesondere in der expressionistischen Dichtung ihren Ausdruck fand, folgt nach 1945 eine noch tiefere Erschütterung nach den Erfahrungen mit den ungleich grausameren Zerstörungsmaschinerien des Zweiten Weltkrieges und des Holocausts. Die avantgardistischen Techniken werden nach 1945 von einem neuen Standpunkt aus hinterfragt, im dichterischen Prozess fortgeführt, modifiziert oder verworfen. Jede komparatistische Arbeit, die auf der Basis von philologischen Befunden Rezeptionsphänomene aufzuzeigen und nachzuweisen bemüht ist, steht vor dem Problem, dass sich die Quellen künstlerischer Einflüsse und der Weg, den diese zurückgelegt haben, oft nur schwer nachvollziehen lassen. Man kann nicht umhin, neben einem direkten Rückgriff auf formale Eigenarten eines Autors eine vermittelte Rezeption anzunehmen, in der weiteren Autoren eine nicht zu unterschätzende Mittlerposition zukommt. The more these writers [Broch, Döblin, Jahnn, Brecht, Th. Mann] appropriated ›Joyce‹, whether in silence, exile, or cunning, and – we should not neglect the larger intertextual context at play in twentieth-century literary history – the more Joyce’s techniques had by and large been used, absorbed by and disseminated through the works of other contemporaries such as Virginia Woolf, John Dos Passos and William Faulkner, the more difficult it becomes to trace and pinpoint the direct lineage of Joyce’s influence on subsequent generations of German-language readers and writers.80
Auch die Teilhabe an einem allgemeinen geistigen Klima kann ähnliche künstlerische Tendenzen und Phänomene hervorbringen, die sich nicht mit den Kategorien ›Einfluss‹ oder ›Rezeption‹ erfassen lassen. Dies trifft in besonderem Maß auf die Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts zu, die sich durch übernationale Verflechtungen künstlerischer Strömungen, einen regen Austausch zwischen Künstlern verschiedener Nationen sowie durch gleichzeitige Entfaltungen paralleler ästhetischer Konzepte auszeichnete.81 James Joyce und sein Werk sind (trotz
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und konnte zwischen 1935 und 1941 im Berliner Tageblatt und der Kölnischen Zeitung Erzählungen publizieren, Alfred Andersch veröffentlichte 1944 ebenfalls in der Kölnischen Zeitung seine erste Erzählung.« (Brenner: Nachkriegsliteratur, S. 46.) Weninger: James Joyce in German-speaking countries, S. 50. Der deutsche Expressionismus brachte künstlerische Ausdrucksformen hervor, die den stilistischen, formalen und inhaltlichen Eigenarten des ›Ulysses‹ sehr ähnlich waren. Eine Vielzahl davon mögen etwa dem ›Joyce-Importeur‹ Döblin als Resultat einer direkten literarischen Vermittlung zuzuschreiben sein; dennoch steht eine Untersuchung, die sich mit der Rezeptionsgeschichte eines Autors bzw. eines Werkes auseinandersetzt, vor dem Problem, dass Befunde, die zunächst als direktes Erbe Joyce erscheinen, vielmehr als Symptome einer allgemeinen literatur- bzw. kunstgeschichtlichen Verfassung des ausgehenden 20. Jahrhunderts aufgefasst werden müssen, in der sich verschiedene geistige Einflüsse kreuzen und mit denen überlagern, die vom Joyceschen
aller Individualität und Einzigartigkeit) nicht losgelöst vom geistigen Klima der künstlerischen Moderne denkbar. Joyce hat die Inspiration, die für einen Künstler der Moderne von Massenmedien wie Kino, Zeitungen und Rundfunk, von dem Siegeszug der Psychoanalyse,82 von den literarischen Werken des späten 19. Jahrhunderts (Ibsen, Dostojewski), sowie von Anregungen durch Zeitgenossen (Dujardin, Pound, Gide, Eliot) ausging, für seinen ›Ulysses‹ fruchtbar gemacht, in sein Werk inkorporiert und mit dem ›Ulysses‹ ein Kompendium avantgardistischer Formbestrebungen an nachfolgende Dichtergenerationen weitergereicht. Andererseits sind die Anregungen, die von Joyce ausgegangen sind, in den folgenden Jahrzehnten in viele Gebiete von Kunst und Literatur versprengt, bzw. sie sind in einem veränderten Kunstbegriff aufgegangen, zu dem sie wesentlich beigetragen haben – ohne dass man sich Joyce als Quelle dessen, was heute längst als selbstverständlich angenommen wird, noch bewusst wird. »Far more people read Joyce than are aware of it« lautet das hellsichtige Urteil Attridges: Such was the impact of his literary revolution that few later novelists have escaped its aftershock […]. We are indirectly reading Joyce therefore, in many of our engagements with the past half century’s serious fiction. […] Even those who read very few novels encounter the effects of Joyce’s revolution every week, if not every day, in television and video, film, popular music, and advertising, all of which are marked as modern genres by the use of Joycean techniques of parody and pastiche, self-referentiality, fragmentation of word and image, open-ended narrative, and multiple point of view. And the unprecedented explicitness with which Joyce introduced the trivial details of ordinary life into the realm of art opened up a new territory for writers, painters, and film-makers. […] There is a sense, therefore, in which we can never read Joyce ›for the first time‹.83
Selbstverständlich schreibt Attridge symptomatische Kennzeichen der künstlerischen Moderne Joyce allein zu, dennoch ist seine Einschätzung durchaus zutreffend, insofern der Einfluss des ›Ulysses‹ über die Grenzen der Literatur hinausgeht.
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Œeuvre ausgingen. Ein Anschluss an die Moderne des frühen 20. Jahrhunderts, wie er sich nach dem Zweiten Weltkrieg abzeichnet, inkorporiert immer heterogene und nicht leicht voneinander zu trennende bzw. auf eine eindeutige Wurzel zurückzuführende Facetten eines umfassenderen ›climate of opinion‹. In diesem Zusammenhang sei noch einmal darauf hingewiesen, dass sich die Innovationen des deutschen Expressionismus und des ›Ulysses‹ ergänzten bzw. gegenseitig verstärkten und die Expressionisten als Mittler für eine indirekte Joyce-Rezeption eine bedeutende Rolle spielten. Joyce stand der Psychoanalyse jedoch recht kritisch gegenüber und distanzierte sich von der Unterstellung einer direkten Beeinflussung. Vgl. hierzu Jean Kimball: Growing Up Together, Joyce and Psychoanalysis, 1900–1922, in: Joyce through the Ages. A Nonlinear View, hg. v. Michael Patrick Gillespie, Gainesville 1999, S. 25–45. Derek Attridge: Reading Joyce, in: The Cambridge Companion to James Joyce, hg. v. Derek Attridge, Cambridge 1990, S. 1–30, hier S. 1.
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Hier soll nun insbesondere die produktive Joyce-Rezeption in der deutschsprachigen Nachkriegsprosa interessieren, d.h. die Fragestellung lautet: In welcher Weise wurde das Experiment ›Ulysses‹ von Autoren nach 1945 für eigene narrative Konzepte und Wirkungsabsichten fruchtbar gemacht? Mit Wolfgang Koeppen, Arno Schmidt, Uwe Johnson und Wolfgang Hildesheimer werden vier Schriftsteller ins Blickfeld gerückt, die – trotz aller offenkundigen Verschiedenheit ihrer Persönlichkeitsstruktur, ihrer Biographie, ihrer poetologischen Auffassungen und prosapraktischen Eigenarten – mehr als zwanzig Jahre nach der Veröffentlichung des ›Ulysses‹ in Deutschland eine Faszination für das formale Experiment des Romans verbindet. Allen gemein ist ihre produktive Aneignung von Problemen, Tendenzen und formalen Innovationen der so genannten klassischen Moderne im Allgemeinen und des James Joyce im Besonderen. Sie stehen insofern an der Spitze einer zweiten Welle der Joyce-Rezeption, deren erste Phase ebenso wie die literarische Moderne des 20. Jahrhunderts zunächst mit der Nazidiktatur ein jähes Ende gefunden hatte, deren Leistungen nach dem Krieg jedoch – wenngleich in modifizierter, den literarischen Bedürfnissen der Nachkriegsliteraten angepasster Form – wiederbelebt wurden. Mit den vier in den Fokus der Analyse gerückten Autoren werden vier hinsichtlich der Intensität, des Zeitraums, der Grundbedingungen ihrer jeweiligen Annäherung an Joyce stark divergierende ›Fallstudien‹ einer ›Ulysses‹-Rezeption skizziert; will man der Autonomie der vier Schriftstellerpersönlichkeiten und ihrer jeweils singulären Art der produktiven Anverwandlung Rechnung tragen, greifen sämtliche generalisierenden theoretischen Ansätze, Intertextualitäts- und Einflusstheorien letztlich zu kurz. Die in Frankreich von Julia Kristeva84 und Gérard Genette85 entwickelte, zu Recht als poststrukturalistisch apostrophierte
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Der totale Textbegriff, wie er in Julia Kristevas Schriften zur Intertextualität (vgl. Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, in: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, hg. v. Jens Ihwe, Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft II, Frankfurt a.M. 1972, S. 345–375) und den Ansätzen des Tel Quel-Kreises proklamiert wird, die zudem die Grundkonstante der Autorschaft verabschieden, ist hier wenig einträglich und dem Ansatz dieser Untersuchung ebenso fremd wie die radikale Annahme, die Literaturgeschichte lasse sich vornehmlich als eine Geschichte der Einflussangst und des Fehllesens schreiben. (Vgl. Harold Bloom: The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry, New York 1973, sowie ders.: A map of Misreading, New York 1975.) Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig, Frankfurt a.M. 1993 (edition suhrkamp 1683, NF 683). So erhellend Genette die transformativen Verfahren analysiert, mit denen die ›Odyssee‹ in den ›Ulysses‹ überführt wird, so wenig fruchtbar ist sein ad nauseam ausdifferenziertes System transtextueller Beziehungen für die produktive Joyce-Rezeption nach dem Zweiten Weltkrieg, da sie der Komplexität und Dynamik der unterschiedlichen Anverwandlungen nicht gerecht zu werden vermag.
Theorie der Inter- bzw. Hypertextualität kann ihre Genese nicht verhehlen. Mit dem Strukturalismus verbindet sie vor allem das Bedürfnis nach einer umfassenden Taxonomie, wie sie sich bei Genette findet, und der Absage an die subjektzentrierte Geschichtsphilosophie, die Kristeva von Michel Foucault übernommen hat. Gemeinsam ist beiden Ansätzen eine sehr globale Sicht auf das Schreiben und Lesen von Texten. Demgegenüber ist die vorliegende Untersuchung insbesondere an der Individualität und Subtilität der produktiven Rezeption von Erzählverfahren interessiert. Folgerichtig orientiert sich ihre Terminologie primär am Sprachgebrauch der untersuchten Autoren selbst. Für diese Autoren ist das ›Schreiben-Lesen‹ (Kristeva) kein Prozess jenseits der schöpferischen Subjektivität; vielmehr ist die je eigene, sich sukzessive entwickelnde Art und Weise, Joyce zu lesen und (um-) zu schreiben von dem Bemühen gekennzeichnet, die Lebenswelt der Erfahrung in Sprachkunstwerke zu übersetzen, mit denen die Leser ihrerseits bedeutsame Erfahrungen machen können. Da sowohl die Erfahrung der Autoren als auch die der Leser jeweils zugleich eine der allgemeinen Geschichte und der Literarhistorie ist, wird ihr Verhältnis zu Joyce von einer doppelten Optik bestimmt: Sein ›Ulysses‹ erscheint einerseits als ein nach wie vor zukunftsweisendes Modell sprachlicher Gestaltung des ›Weltalltags einer Epoche‹, andererseits jedoch als Denkmal einer künstlerischen Einstellung zur Welt, die sich in einem veränderten Epochenkontext, nach den Erfahrungen zwischen 1933 und 1945, nicht mehr ohne weiteres reproduzieren lässt. In diesem Sinne erweisen sich die expliziten und impliziten Bezugnahmen auf Joyce Erzählkunst in den Werken von Koeppen und Schmidt, Johnson oder Hildesheimer als Spuren einer oft mühsamen und nicht immer ganz widerspruchsfreien poetischen Anverwandlung und Umarbeitung. Diesen Spuren bedacht nachzugehen erfordert einen genauen Blick auf Details und die Dialektik der historischen Differenzierung, die den Modus der historischen Anverwandlung und Umarbeitung bildet. Denn gerade in dieser historischen Differenzierung kommt das Produktive der Joyce-Rezeption zum Ausdruck, wird die ›Ulysses‹-Lektüre tatsächlich poietisch. Der Mühe, die es macht, diesen Differenzierungsprozess aufzuzeigen, kann man sich nicht durch die Bezugnahme auf solch globale Konzepte wie das der Intertextualität oder Hypotextualität entziehen, die lediglich Relationen zwischen Texten benennen. Der grundsätzliche Verzicht auf eine Fundierung der vorliegenden Untersuchung durch eine globale Intertextualitätstheorie (sowie der Verzicht darauf, aus den gewonnenen Erkenntnissen eine modifizierte oder neue Theorie abzuleiten) bedeutet jedoch nicht, dass die z.T. anregenden Konzepte Kristevas, Genettes oder auch Blooms im Folgenden restlos ausgeblendet werden. Vielmehr sollen – im Sinne eines produktiven Eklektizismus – punktuell theoretische Ansätze dort bemüht werden, wo sie Denkanstöße liefern und bestimmte Einzelphänomene der produktiven Anverwandlung Joycescher Verfahren zu konturieren helfen.
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2.
Wolfgang Koeppen
2.1.1
»Dichtung und große Weltaufnahme« – Koeppens literarische Genealogie
Seit ich lesen gelernt hatte, las ich, was mir erreichbar war. Bücher zogen mich unwiderstehlich an. Ich war der Schrecken der Bibliothekare und Buchhändler. Bald verschuldete ich mich. Die eigene Lektüre war mir wichtiger als der Unterricht. Die Schule bot mir nicht viel. Ich blieb lieber im Bett und las. Die moderne Literatur, die Zeitgenossen begleiteten die Pubertät. Ich bewunderte die Dichter des Expressionismus. Ich kaufte die schwarzen Hefte der Sammlung »Der jüngste Tag« aus dem Kurt Wolff-Verlag. Schon Kafka, Trakl, Heym und alle Namen der »Menschheitsdämmerung«. Entzücken, Offenbarungen, Erziehung zu Widerstand und Pazifismus. Dann Brecht, Toller. In den Jahren des Studiums und des Anfangs die großen bleibenden Entdeckungen: Marcel Proust, James Joyce, alles von Kafka, Döblin, Musil, Thomas Mann »Der Tod in Venedig«, Heinrich Mann »Der Untertan«. Später Faulkner, überhaupt die Amerikaner. […] Dichtung und große Weltaufnahme.1
Wenige deutsche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts geben so detailliert, bereitwillig, ja unermüdlich Auskunft über ihre ›literarische Genealogie‹ wie Wolfgang Koeppen. In zahlreichen Essays setzt er sich mit seinen »Lehrern« auseinander, nennt sie in Interviews seine »Götter« und stellt über die Jahre hinweg geradezu eine Hierarchie seiner literarischen Vorbilder auf, auf die er sich immer wieder (freilich nicht ohne Konturierung seiner eigenen Leistungen und Ansprüche) beruft. Mit Koeppen rückt diese Untersuchung einen Dichter in den Mittelpunkt, der sich bewusst in eine – stets internationale – Ahnenreihe stellt und diese Tradition reflektiert. Immer wieder unterstreicht Koeppen die Bedeutung, die das Lesen als »folgenreichste und glücklichste Tat«2 bereits in seiner Kindheit für ihn gewann, die
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Wolfgang Koeppen: Ich bin ein Mensch ohne Lebensplan [1982], in: ders.: »Einer der schreibt«. Gespräche und Interviews, hg. v. Hans-Ulrich Treichel, Frankfurt a.M. 1995, S. 144–154, hier S. 144f. (Um eine genauere Datierung der Aussagen zu ermöglichen, werden die Aufsätze und Interviews Koeppens im Folgenden ggf. mit der Jahreszahl der Erstveröffentlichung in eckigen Klammern versehen.) Wolfgang Koeppen: Eine schöne Zeit der Not [1974], in: ders.: Gesammelte Werke, hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Dagmar von Briel, Hans-Ulrich Treichel, Frankfurt a.M. 1990, Bd. V: Berichte und Skizzen II [im Folgenden zitiert als GW, Bd. V], S. 310–321, hier S. 310. Vgl. auch Wolfgang Koeppen: Zur Resignation neige ich sehr [1971], in:
den literarischen Weg eines »geborenen Lesers«3 gleichsam vorzeichnete. Schon in frühster Jugend liest Koeppen die großen französischen Realisten, Flaubert und Zola, wobei er Letzterem trotz aller Würdigung Flauberts als »Schwerstarbeiter des Stils« und Besessenen »des vollendeten Satzes, der wohlausgewogenen Seite«4 eine Vorrangstellung einräumt: »Der Knabe, der ich war, entdeckte den Beobachter in sich und stellte sich an die Seite Zolas. Ich observierte mit Zola das Leben in der Passage in dem unbekannten Kosmos Paris.«5 Beobachter sollte Koeppen sein Leben lang bleiben; die Position im Zeugenstand, wie er sie bei Zola erkannte, entsprach seinem dichterischen Selbstverständnis; er fühlte sich wie dieser als Techniker und nüchterner Observateur, während ihm die subtile Psychologie Flauberts letztlich fremd blieb: »Später habe ich den großen Roman des französischen Realismus, der Flaubert berühmt gemacht hatte und auf den sich sein Ruhm bis heute gründet, studiert und bewundert, wie er es verdient. Doch eine Distanz ist geblieben, und geliebt habe ich ›Madame Bovary‹ nie.«6 In einem Aufsatz zum nouveau roman beweist Koeppen seine scharfsichtige Durchdringung der Traditionsstränge und Genese der literarischen Avantgarde und stellt Zola als Ahnen einer von zwei Richtungen heraus: Es hat immer im französischen Schrifttum wie in der Dichtung überhaupt zwei Richtungen gegeben, zwei uralte Wege zu gleichem Ziel, Zola und Flaubert. Flaubert führt zu Proust und weiter zu Beckett und gilt heute vielfach als eine feinere Art von Literatur, aber wieviel Zola ist in Joyce, Döblin, Faulkner, Dos Passos, Böll, Grass, wie viele Namen der Moderne wären ohne Zola gar nicht denkbar, und selbst die Musterschüler des »nouveau roman« haben sich alle ihr Stück Zola genommen, sich seines Verfahrens bemächtigt, der geduldigen Beobachtung und des genauen Notierens der Dinge, die sie dann registriert und kalt in den Raum ihrer Bücher stellten.7
Koeppen stellt sein dichterisches Selbst-Bewusstsein unter Beweis, indem er sich in die Nachfolge Zolas, in die Ahnenreihe von Joyce, Döblin, Faulkner, Dos Passos, Böll und Grass einordnet. Seine Begegnungen mit literarischen Strömungen seiner Zeitgenossen ziehen sich wie ein roter Faden durch Koeppens autobiographische Ausführungen und
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ders.: »Einer der schreibt«, S. 42 sowie »Ohne Absicht«. Gespräch mit Marcel ReichRanicki in der Reihe »Zeugen des Jahrhunderts«, hg. v. Ingo Hermann, Göttingen 1994, S. 23f. Wolfgang Koeppen: Der geborene Leser, für den ich mich halte... [1975], in: GW, Bd. V, S. 322–329. Wolfgang Koeppen: Flaubert. Eine Neugeburt [1963], in: ders.: GW, Bd. VI: Essays und Rezensionen [im Folgenden zitiert als GW, Bd. VI], S. 118–123, hier S. 121. Koeppen: Der geborene Leser, für den ich mich halte..., S. 328. Wolfgang Koeppen: Flaubert. November [1980], in: GW, Bd. VI, S. 123–127, hier S. 124. Wolfgang Koeppen: Zola und die Moderne [1974], in: GW, Bd. VI, S. 128–139, hier S. 132.
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weisen ihn als hellwach für die jeweils dominanten Impulse der künstlerischen Avantgarde aus, deren Faszination sich Koeppen als junger, literarisch begeisterter Mensch nicht entziehen konnte. Das literarische Klima seiner Jugend war dominiert vom Expressionismus, zu dem sich Koeppen sehr früh bekannte: »Die expressionistischen Dichter waren die Leidenschaft meiner jungen Jahre. Ich versuchte mich in ihrem Stil, oder einfach: es war mein Stil.«8 Dennoch musste Koeppen, der im Jahr 1906 geboren wurde, einsehen, dass er für eine produktive Teilnahme am Expressionismus »zu spät« kam, da diese Bewegung von der Generation der in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts Geborenen getragen wurde: Die Expressionisten vor, während und im Nachkrieg 1914 waren meine Lehrmeister. Ich wollte sein wie sie und erkannte bald, daß ich zu spät geboren war. Was ich liebte und verehrte, strebte schon 1910 seiner Größe zu. Als ich – etwa 1922 – dem Verleger Kurt Wolff für seine Reihe »Der jüngste Tag« (die frühe Sammlung der deutschen expressionistischen Dichtung) meine Schülerlyrik eingereicht hatte, bekam ich sie kommentarlos zurück.9
Später widmete er seine Aufmerksamkeit jedoch einem anderen Dichter, der in Analogie zu der Revolution des Romans, wie Joyce sie im angelsächsischen Bereich geleistet hatte, als größter Erneuerer für die Romanform im deutschen Sprachraum stehen kann. Über den Tod Alfred Döblins im Juni 1957 schreibt Koeppen 1978: »Er ließ seine Leser, seine Schüler, die ihn verehrten, ihn und sein weithin unerschlossenes, labyrinthisches, unsterbliches Werk hinter sich, unter sich, zurück. Er ließ uns stehen, erbaut, bewundernd und ratlos.«10 Mag Koeppens Dichtung die deutlichsten Einflüsse aus Döblins ›Berlin Alexanderplatz‹ (1929) beziehen, so hebt er doch in seinen Essays vor allem die Bedeutung des ›Wallenstein‹ (1920) hervor: »Ich liebe den ›Wallenstein‹, halte ihn für einen der größten deutschen Romane, noch dazu für einen historischen, die meistens langweilig sind.«11 Zwar kommt Döblin in der deutschen Literatur durchaus die Rolle eines einflussreichen ›Importeurs‹, wenn nicht gar Multiplikators von Verfahrensweisen des ›Ulysses‹ zu; dennoch muss an dieser Stelle erneut festgehalten werden, dass Koeppen direkt – und nicht mittelbar über Döblin – auf den ›Ulysses‹ zugegriffen hat und mit diesem vertraut war, bevor Döblin ›Berlin Alexanderplatz‹ fertig gestellt und damit die deutsche Erbfolge des Iren angetreten hatte. Dessen ›Die drei Sprünge des Wang-Lun‹ freilich waren bereits 1915 8 9 10 11
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Wolfgang Koeppen: Mein Zuhause waren die großen Städte [1993], in: ders.: »Einer der schreibt«, S. 262–267, hier S. 262. Wolfgang Koeppen: Einsam durch die Jahre [1986], in: ders.: »Einer der schreibt«, S. 188–193, hier S. 190. Wolfgang Koeppen: Alfred Döblin oder Die lange Flucht [1978], in: GW, Bd. VI, S. 231–239, hier S. 239. Ebd., S. 235.
erschienen, und Koeppen erkennt (rückblickend aus dem Jahr 1978) in diesem Roman die Vorwegnahme der formalen Experimente Joyce bei Döblin und die enge Beziehung zwischen beiden Autoren: Ein erstaunliches Buch, ein Wunder, und eine Überraschung für jeden, der sich für Literatur interessierte und sich einigermaßen auskannte. Döblin, der als Expressionist galt, hatte einen umfangreichen Roman in der Tradition der großen Romane der Weltliteratur verfaßt und doch die Romanform erneuert, sie vorangetrieben ins Kommende, ins Mutig-Ungewisse. Joyce, der »Ulysses« war noch nicht erschienen. Als er 1927 in verdienstvoller, aber unzulänglicher Übersetzung deutsch vorlag, fühlte Döblin sehr wohl die Verwandtschaft.12
Noch vor dem Krieg kommt Koeppen mit einem weiteren großen Vertreter des modernen Romans in Deutschland in Kontakt und wird 1932 zu einem »der ersten, der über seinen Roman ›Perrudja‹ geschrieben hat«,13 in dem er »eine große Dichtung gegen den Menschen und für den Menschen« erkennt.14 Mit seiner Begeisterung für Jahnn wird Koeppen bezeichnenderweise auf einen weiteren deutschen Romancier aufmerksam, der häufig neben Döblin und Broch mit Joyce in eine Reihe gestellt wird. Koeppen bekräftigt auch in späteren Essays und Interviews stets die Auffassung, dass die deutsche Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts im Expressionismus als der adäquaten künstlerischen Reaktion auf die Krise im Gefolge des Ersten Weltkriegs ihren sichtbarsten und letzten Aufstieg genommen habe; er geht sogar so weit, jedem künstlerischen bzw. schöpferischen Ausdruck den expressionistischen Geist als primären Impuls zuzuschreiben: Der deutsche Expressionismus, in der Literatur und besonders in den Künsten, verwandt gleichzeitigen Aufbrüchen in ganz Europa, früh und oft totgesagt, ist der Stil des zwanzigsten Jahrhunderts, der Versuch zu einem neuen Weltbild, der Geist der Utopie. In jedem Werk der Literatur, der Kunst ist Expressionismus als Geburtshelfer zu finden, kein Museum der modernen Poesie oder der Malerei kann lebendig sein ohne den Geist, der alle Schöpfung auszeichnete schon zu biblischer Zeit.15
Hinreichend Zeit zur Entfaltung der avantgardistischen Ausdrucksformen, ihrer utopischen Erneuerungshoffnungen und anarchistischen Kampfansage war dem 12 13 14
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Koeppen: Alfred Döblin oder Die lange Flucht, S. 236. Wolfgang Koeppen: Gespräch mit Wolfgang Koeppen, in: Heinz Ludwig Arnold, Gespräche mit Schriftstellern, München 1975, S. 109–141, hier S. 120. Wolfgang Koeppen: Der mehr schwache als starke Mensch. Ein Versuch über Hans Henny Jahnn und seinen Roman ›Perrudja‹, in: GW, Bd. VI, S. 13–18, hier S. 14f. Koeppen schließt sein Lob im ›Börsen-Courier‹, in dem der Essay publiziert wurde, mit einem provokanten Seitenhieb auf die sich bereits deutlich abzeichnende Kulturpolitik des Nationalsozialismus: »Das Werk ist so nordisch, menschlich, ja so germanisch, daß die Leute, die immer nach einer germanischen Dichtung rufen, es gar nicht begreifen würden.« (Ebd., S. 18.) Wolfgang Koeppen: Deutsche Expressionisten oder Der ungehorsame Mensch [1977], in: GW, Bd. VI, S. 263–273, hier S. 263f.
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Expressionismus jedoch nicht gegeben; einige Vertreter der Bewegung hatten sich im Rahmen der staatlichen Konsolidierung bereits in Richtung der sog. Neuen Sachlichkeit orientiert, einige setzten ihre Hoffnungen in den heraufziehenden Faschismus, der schließlich den letzten revolutionären Impulsen ein Ende bereitete. Koeppen ist überzeugt, dass der Expressionismus in seiner Energie (die auch der Beziehung zur internationalen Avantgarde, etwa zum Futurismus und Surrealismus entsprang) weit über die ihm gegebene Zeit herausreichen musste, er beschwört 1977 in einem Aufsatz über den Expressionismus den »ungehorsamen Menschen« und schließt: »Er ist unsterblich. Ernst Bloch schrieb: ›Das Erbe des Expressionismus ist noch nicht zu Ende, denn es wurde noch gar nicht damit angefangen.‹«16 Gehemmt durch die Nazidiktatur konnte dieses Erbe erst mit Verspätung angetreten werden. Koeppen wirft daher zu Recht die Frage auf, »ob der Expressionismus tatsächlich schon so vergangen ist, oder ob er noch weiter wirkt in den Arbeiten Späterer«,17 sind doch seine Nachkriegsromane, insbesondere die ›Tauben im Gras‹, der beste Beleg für diese These.18 Mag Koeppen auch vermehrt euphorisch und ehrfürchtig von seinen literarischen »Lehrern«, »(Lehr-)Meistern« oder »Göttern«19 sprechen, so verwehrt er sich doch vehement gegen die Schlussfolgerung eines direkten Einflusses: Nein, ich habe mich bestimmt nicht orientiert an bestimmten Vorbildern, aber es ist möglich, daß Schatten dieser Vorbilder, wenn man das so sagen darf, in mir gewesen sind. Natürlich kannte ich Dos Passos, kannte ich Döblin, und ich möchte in diesem Zusammenhang auch Faulkner nennen. Aber es ist nicht bewußt, daß ich mir sagte, dies ist ein Rezept und nach diesem Rezept koche ich jetzt, sondern es war in mir, und ich fand diesen Stil, wie ich ihn in meinen Büchern dann entwickelt habe, den gegebenen für die Themen, für das, was ich sagen, was ich erzählen wollte.20
Diese vorsichtigen Abgrenzungen von Literaten gegenüber ›Vorbildern‹ sind jedoch nicht selten; zudem ist dem Bemühen eines Dichters um Originalität Rechnung zu tragen, da sich zweifellos niemand gern als ›Kopist‹, sondern bestenfalls als »etwas beeinflußt«21 verstehen mag. 16 17 18
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Ebd., S. 273. Wolfgang Koeppen: Von Myrons Kuh und des Gelehrten Affen, in: GW, Bd. VI, S. 57–60, hier S. 57. Die folgende Analyse soll allein auf den ersten Roman der Nachkriegstrilogie Koeppens beschränkt bleiben, da hier der Einfluss des ›Ulysses‹ am deutlichsten ausgeprägt ist und eine zusätzliche Berücksichtigung der Romane ›Das Treibhaus‹ und ›Der Tod in Rom‹ den Rahmen dieser Untersuchung sprengen würde. In ›Franz Kafka oder Ein Denken, eine Angst, ein Herzschlag‹ [1974] (in: GW, Bd. VI, S. 240–242, hier S. 241) nennt Koeppen Proust, Döblin, Joyce und Faulkner, in ›Einsam durch die Jahre‹ (S. 190) werden die Expressionisten so bezeichnet. Koeppen: Zur Resignation neige ich sehr, S. 48. Obige Einschätzung betrifft in diesem Fall Joyce. (Vgl. Koeppen: Ohne Absicht, S. 152.)
Koeppen erscheint grundsätzlich reservierter, wenn er in Interviews direkt nach Vorbildern befragt wird, und zieht es in diesen Fällen vor, sich unverbindlicher in eine weitere Romantradition einzureihen. Im Rahmen eigener Ausführungen und Reminiszenzen gibt es jedoch weitaus deutlichere Stellungnahmen, die sein Werk in Beziehung zu Joyce, Döblin, Dos Passos, dessen ›Manhattan Transfer‹ er um 1935 las,22 unter Einschränkung auch zu Proust, Musil23 und Faulkner setzen: »Also Proust […] hatte einen ebenso starken Einfluß auf mich. Es kam aus der Bewunderung heraus, die ich für diese beiden Schriftsteller, Proust und Joyce, hatte. Ich weiß nicht, ob das Wort ›beeinflussen‹ richtig ist. Aber irgendwie waren beide für mich Götter, und irgendwie wollte ich mich ihnen nähern.«24 Beim Überblick über die Essays und Interviews kristallisiert sich ein scharfes Bild von Wolfgang Koeppen als einem Schriftsteller heraus, der sich vermutlich weniger durch sein kurzes Studium der Literatur, Philosophie und Kunstgeschichte als Gasthörer an der Universität Greifswald als vielmehr durch umfangreiche, vielseitige und leidenschaftliche Lektüre bewusst seinen Platz in der Tradition des »Unternehmens Roman« gewählt hat und kenntnisreich darüber Rechenschaft abzulegen vermag: »Das Unternehmen Roman ist in Schwierigkeiten geraten, wird aber nach schon begonnener Sanierung auf solider Basis stehen. Die Aufsichtsräte der Firma sind Flaubert, Proust, Joyce, Faulkner. Nicht Kafka. Wer blickte nicht bewundernd und verehrend zu ihnen auf?«25 Wolfgang Koeppen wird in zahlreichen Essays und Interviews nicht müde, seine erste Begegnung mit dem ›Ulysses‹ zu schildern: 22
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Vgl. Koeppen: Die Last der verlorenen Jahre [1989], in: »Einer der schreibt«, S. 208– 220, hier S. 215: »Als ich […] ›Manhattan Transfer‹ in Holland las, war ich begeistert und mir wieder schmerzlich bewußt der Unterdrückung solcher Schreibweise in der deutschen Diktatur. Ich dachte auch an Döblins ›Berlin Alexanderplatz‹.« Dos Passos ›Manhattan Transfer‹ war bereits 1925 erschienen, der deutsche Text 1927 – im selben Jahr wie die Goyert-Übersetzung des ›Ulysses‹. Insgesamt präsentieren sich die komplexen Zusammenhänge zwischen Joyce, Dos Passos, Döblin und Koeppen, wie Durzak treffend feststellt, als ein einzigartiges »Musterbeispiel von Einflußgeschichte« (Durzak, Der Autor als literarischer Architekt? Städtebilder bei Döblin und Koeppen, in: Wolfgang Koeppen & Alfred Döblin. Topographien der literarischen Moderne, hg. v. Walter Erhart, München 2005 (Treibhaus 1), S. 116–129, hier S. 120), das ein komplexes System von Wechselwirkungen und Analogien in sich birgt und die komparatistische Forschung vor eine diffizile Aufgabe stellt. Im Vergleich mit Proust nennt Koeppen Musil »zukunftsträchtiger, ja im Futurum hinterhaltiger [...]. An welcher Stelle ich auch den Musilroman [›Der Mann ohne Eigenschaften‹] aufschlage, ich fühle mich angesprochen, gestellt.« (Wolfgang Koeppen: Robert Musil oder Ein erschreckendes Gebirge [1980], in: GW, Bd. VI, S. 204– 206, hier S. 205.) Koeppen: Ohne Absicht, S. 94. Wolfgang Koeppen: Was ist neu am Neuen Roman? [1963], in: GW, Bd. VI, S. 363– 367, hier S. 363.
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Ich glaube, ich war einer der ersten Leser der im Rhein-Verlag erschienenen deutschen Ausgabe von Joyce, »Ulysses«, 1927. […] Die Ausgabe war gerade erschienen und kostete, was für damalige Verhältnisse enorm war, 250 Mark, für zwei Bände. […] Ich machte mit einem Würzburger Buchhändler – zu der Zeit war ich in Würzburg – ein Abkommen: »Ich kaufe das Buch. Aber Sie versprechen mir, daß Sie es zehn Tage später zurückkaufen. 250 Mark gebe ich, und Sie geben mir dann 200 Mark.« Ich hatte also den »Ulysses« acht Tage bei mir. Ja, und das waren achtmal 24 Stunden. Ich war wach und las das Buch. Ich war hingerissen. Dies ist es, dachte ich damals.26
Somit war Koeppen »einer der ersten in Deutschland, der den ›Ulysses‹ in deutscher Sprache gelesen hat.«27 Der Eindruck muss, will man Koeppen beim Wort nehmen, auf den damals 22-jährigen Dramaturgen und Hilfsregisseur gewaltig gewesen sein. Horst Bienek berichtet er 1962: »Ich war bis in meine Träume hinein mitgerissen«,28 im Gespräch mit Volker Wehdeking heißt es: »Ich muß sagen, es war toll, ein ganz großer Eindruck, ein völlig konträrer Eindruck zu Proust, Döblins ›Berlin Alexanderplatz‹ lag dazwischen«,29 und Claus Hebell gegenüber stellt er fest: »Ich war sehr hingerissen und bin es noch.«30 Ausgehend von den emphatischen Beschreibungen dieses Erlebnisses verwundert es kaum, dass Koeppen Joyce an die Spitze seiner »Götter« stellte.31 Dies ist eine ebenso nachvollziehbare wie charakteristische Reaktion für einen euphorischen Repräsentanten der in den zwanziger Jahren heranwachsenden Schriftstellergeneration, die quasi in den Startlöchern lag, hellwach die verschiedenen Bewegungen und Tendenzen der internationalen künstlerischen Moderne wahrnahm und von dem Experiment ›Ulysses‹ wie von einem Blitzschlag getroffen wurde.
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Koeppen: Ohne Absicht, S. 93f. Aus später Erinnerung heraus nennt Koeppen einen falschen Preis der deutschsprachigen Erstausgabe. Neben der zitierten Version berichtet Koeppen noch in sechs weiteren Gesprächen von dieser ›Ulysses‹-Lektüre, gelegentlich mit abweichenden Angaben zu Erscheinungsjahr oder Preis der deutschen Erstausgabe. Vgl. auch: Selbstanzeige [1971], in: »Einer der schreibt,« S. 30–40, hier bes. S. 39; Gespräch mit Wolfgang Koeppen, bes. S. 119; Werkstattgespräch [1962], in: »Einer der schreibt,« S. 20–29, bes. S. 22f.; Warum nicht in den Rhein? [1980], in: »Einer der schreibt,« S. 134–143, bes. S. 136; Die Last der verlorenen Jahre, S. 136. Koeppen: Gespräch mit Wolfgang Koeppen, S. 119. Wolfgang Koeppen: Werkstattgespräch, S. 22. Koeppen: Die Last der verlorenen Jahre, S. 216. Koeppen: Warum nicht in den Rhein?, S. 136. Vgl. Koeppen: Ohne Absicht, S. 95 sowie ders.: Die Last der verlorenen Jahre, S. 213. Wie oben angemerkt weist Koeppen die Unterstellung einer direkten Vorbildfunktion Joyce zurück, was er mit grundsätzlichen Vorbehalten gegenüber einer unreflektierten »Nachahmung« begründet: »Natürlich ist das die erste, die einmalige Leistung dieses Mannes Joyce. Und nun kann man da hineingeraten, daß man so unter diesem Eindruck steht, daß man absichtlich oder unwillkürlich den Joyce-Stil nachahmt, und das führt dann zu einem Totlaufen der ganzen Sache. Es gibt eine Unmenge von JoyceNachahmern, das ist alles sehr schwer zu wägen, es ist eben ein Jahrhundertwerk.« (Koeppen: Warum nicht in den Rhein?, S. 136.)
2.1.2 »Eulenspiegels Wege«:32 Koeppens ›Tauben im Gras‹ als verspätetes Experiment einer verspäteten Moderne Den jungen Literaten blieb nicht viel Zeit, die Nachfolge der großen Ahnen Joyce oder Proust anzutreten, da (wie Koeppen es stets formuliert) »das Dritte Reich ausbrach« und die Erbfolge avantgardistischen Erzählens jäh unterbrach. In der autobiographischen Skizze ›Eine schöne Zeit der Not‹ schreibt Koeppen: »Als ich dem Ziel nahe war, kam Hitler.«33 Koeppen befand sich zu diesem Zeitpunkt am Beginn einer bis dato scheinbar steilen literarischen Karriere. Er war seit 1931 Feuilletonredakteur beim ›Berliner Börsen-Courier‹ und hatte dort bereits einige kürzere Texte veröffentlicht; es war ihm gelungen, Max Tau und Bruno Cassirer als Freunde, letzteren zudem als Verleger zu gewinnen. Im Jahr der ›Machtergreifung‹ vollendet Koeppen sein Erstlingswerk ›Eine unglückliche Liebe‹, das im Herbst 1934 bei Cassirer erscheint. Er will nun »dicke Bücher schreiben. Da brach das Dritte Reich aus und es war selbst für dünne Bücher keine Zeit.«34 Zugleich muss er einsehen, daß es aus war, daß das Leben, das [er] hatte führen wollen, ein Schriftsteller in Berlin, schon Vergangenheit war, eine Epoche war vorbei, und die sie getragen hatten in Berlin, Hermann Kesten, Arnold Zweig, Alfred Döblin, Joseph Roth, Heinrich Mann, Tucholsky, um einige zu nennen, saßen verjagt in den Kaffeehäusern in aller Welt.35
»Wer 1933 jung war, wurde viel betrogen,«36 bringt es Koeppen schließlich auf den Punkt. Das politische Klima hatte sich rapide verändert, es ließ vielleicht den recht konventionellen Inhalt seines ersten Romans, jedoch keine modernen, ›entarteten‹ Ausdrucksformen zu. Zwar erregt Koeppen in literarischen Kreisen Aufmerksamkeit, die Aufnahme fällt weitgehend positiv aus – dennoch geschieht, was angesichts der politischen Situation zu erwarten war: Die ›Unglückliche Liebe‹ »eckte an.«37 Am 23.12.1934 empört sich Georg Göpfert in seiner Rezension in der ›Berliner Börsen-Zeitung‹: »Schriebe ein alter und emigrierter Mann Derartiges, dann würde man’s begreifen – aber ein junger Dichter, heute? Da kann man nur wünschen: Arbeitsdienst!«38
32 33 34 35 36 37 38
Wolfgang Koeppen: Umwege zum Ziel. Eine autobiographische Skizze, in: GW, Bd. V, S. 250–252, hier S. 252. Koeppen: Eine schöne Zeit der Not, S. 312. Koeppen: Selbstanzeige, S. 30f. Koeppen: Eine schöne Zeit der Not, S. 318. Koeppen: Deutsche Expressionisten oder Der ungehorsame Mensch, S. 273. Koeppen: Zeit des Steppenwolfs, S. 173. Zit. n. Eckart Oehlenschläger: Augenblick und ästhetische Spur. Zu Wolfgang Koeppens früher Prosa, in: Wolfgang Koeppen, hg. v. Eckart Oehlenschläger, Frankfurt a.M. 1987, S. 122–140, hier S. 139, Anm. 10.
33
Im selben Jahr (1934) muss der ›Berliner Börsen-Courier‹ sein Erscheinen einstellen. Eine Beschäftigung bei einem ›gleichgeschalteten Blatt‹ lehnt Koeppen ab; er sieht sich nun in der »Situation des jungen Schriftstellers, der vor dem Dritten Reich noch sein erstes Buch veröffentlicht hatte und nun in seiner Produktion durch das Dritte Reich gehemmt war.«39 Das literarische Leben, ein schließlich soziales Ereignis, war schon im zweiten Jahr des Dritten Reiches krank und siechte dahin. Eine junge Generation von Schriftstellern, nicht ärmer an Begabungen als die vorangegangene, sah ihren Weg versperrt, ihre Entwicklung gehemmt oder unterbrochen oder vernichtet.40
Die hoffnungsvolle und ambitionierte Schriftstellergeneration im Gefolge der Moderne wurde zu einer »verlorenen«, die ihren Ehrgeiz ohne Ziel, ihre Berufung sinnlos, ihren Weg verbaut fand. Diese Formel zieht sich wie ein Trauma leitmotivisch durch die Essays und Interviews Koeppens: »Wir waren wirklich, was Hemingway über seine Gefährten des Ersten Weltkrieges geprägt hat, die verlorene Generation.«41 In einer Rezension der Erinnerungen seines Freundes und Entdeckers Max Tau spricht Koeppen von der letzten Avantgarde vor der Finsternis, einer Generation, noch viel verlorener als die berühmte der Gertrude Stein. Der Referent zählt sich zu ihr und von Tau entdeckt. […] Es waren wenige fruchtbare Jahre. Eine Entwicklung hob an und brach ab. Wir stemmten uns gegen die Zeit, die doch unsere Zeit war.42
Mit der »letzten Avantgarde vor der Finsternis« verstummten auch die produktiven Anregungen, die von den großen Dichtern der Moderne ausgegangen waren. Die letzten Konsequenzen aus den gewagten Stilexperimenten eines Joyce, Dos Passos, Proust, Döblin oder Musil konnten nicht mehr gezogen werden, fielen unter den Einflussbereich der Reichsschrifttumskammer, der Koeppen selbst im Jahr 1933 beigetreten war. Im Romanischen Café leerten sich die Tische, die »Schriftsteller gaben schon auf, gingen ins Ausland, zum Film, oder ins Schweigen.«43 Tatsächlich durchläuft Koeppen selbst alle drei Stationen, reist 1934 mit dem letzten Gehalt des ›Börsen-Courier‹ nach Italien, folgt noch im selben Jahr jüdischen Freunden nach Holland. Dort entsteht sein zweiter Roman, ›Die Mauer schwankt‹, der noch 1935 bei Cassirer erscheint, jedoch nicht mehr von dem jüdischen Verlag verbreitet werden kann, sowie das Romanfragment ›Die Jawanggesellschaft‹.44 Der Roman ›Die Mauer schwankt‹ macht deutliche formale
39 40 41 42 43 44
34
Koeppen: Gespräch mit Wolfgang Koeppen, S. 128. Koeppen: Eine schöne Zeit der Not, S. 319. Koeppen: Zeit des Steppenwolfs, S. 171. Wolfgang Koeppen: Sein Leben – lauter Wunder. Max Tau und das Land, das er verlassen mußte [1962], in: GW, Bd. VI, S. 355–357, hier S. 357. Koeppen: Eine schöne Zeit der Not, S. 313. Der Band Wolfgang Koeppen: Auf dem Phantasieroß. Prosa aus dem Nachlaß, hg. v. Alfred Estermann, Frankfurt a.M. 2000 versammelt eine Vielzahl kurzer Erzählungen
Konzessionen an die Literatur des Nationalsozialismus und stellt in technischer Hinsicht einen Rückschritt gegenüber der narrativen Technik in der ›Unglücklichen Liebe‹ dar, wo sich schon gewisse formale Annäherungen an Joyce ausmachen lassen.45 ›Eine unglückliche Liebe‹ zeichnet in formaler Hinsicht einen
45
und Erzählfragmente, die zu einem beträchtlichen Teil aus den Jahren vor 1933 und während des Zweiten Weltkriegs stammen. Einige der recht bruchstückhaften, inhomogenen Prosastücke, deren Entstehungsdatum und Status (d.h. die Frage, ob es sich um geschlossene Kurzerzählungen, Romananfänge oder -entwürfe handelt) weitgehend ungewiss sind, erinnern im Hinblick auf Sprache und Thematik an Kafka, andere weisen expressionistische Stilmerkmale auf. Hier sei vor allem auf die kurze Erzählung ›Brigitta‹ hingewiesen, die allein aus dem Gedankenstrom einer Frau besteht, der in einfachster Wortwahl notiert ist: »Es ist alles so langweilig. Es müßte mal was passieren. Wenn eine ihr Kleid auf der Bühne verlieren würde. Wenn mir was platzen würde. Ha, das wär ein Spaß. Oh bin ich unglücklich, daß ich keinen Wagen habe. Aber nicht so einen gewöhnlichen...« (Wolfgang Koeppen: Brigitta, in: ders.: Auf dem Phantasieroß, S. 131) Die kurzen, asyndetischen, lose und assoziativ verknüpften Sätze, die Wiedergabe eines Inneren Monologes einer Frau erinnern etwa an Keuns ›Kunstseidenes Mädchen‹, legen zugleich aber auch nahe, dass die Erzählung unter dem Eindruck der ›Penelope‹-Episode des ›Ulysses‹ entstanden sein könnte. Die ungefähre Datierung des Textes durch den Herausgeber (zwischen 1928 und 1933) würde erstere Vermutung stützen. In gewisser Weise sind die Formprinzipien, die Koeppen in ›Tauben im Gras‹ zur zentralen Kompositionsmethode erhebt, in der ›Unglücklichen Liebe‹ (Wolfgang Koeppen: Eine unglückliche Liebe, in: ders.: GW, Bd. I, Romane I [im Folgenden zitiert als GW, Bd. I], S. 9–158) in der Gestalt von auffallenden Schnitten zwischen Erzählgegenwart und Vergangenheit bereits angelegt. Die Sprache des Erstlingswerks lässt streckenweise in ihrem assoziativen Fluss auf eine Verwandtschaft mit Joyce und in ihrer Metaphorik auf eine Nähe zu den Expressionisten schließen, wohingegen zahlreiche Passagen in ihrer Diktion und Perspektivierung durch einen auktorialen Erzähler recht konventionell anmuten. Hier sind die Figurenpsychologie und das formale Experiment der ›Tauben im Gras‹ bestenfalls ansatzweise vorhanden, keineswegs mit der Radikalität vollzogen, die die Nachkriegsromane kennzeichnet – entgegen den Thesen von Wolfdietrich Rasch (Wolfgang Koeppen, in: Über Wolfgang Koeppen, S. 198–222, bes. S. 201) und Stefan Eggert (Wolfgang Koeppen, Berlin 1998), der die Behauptung aufstellt, »Wolfgang Koeppens Schreibweise, seine Motive und Figuren sind in diesem Roman schon vollständig ausgebildet« (S. 29f.). Tatsächlich ließe sich in der ›Unglücklichen Liebe‹ eher ein prominenter Einfluß von Marcel Proust (bes. ›Eine Liebe von Swann‹) aufzeigen, der sich in den atmosphärischen Schilderungen und der subtilen psychologischen Kennzeichnung der Figuren (die jedoch weitgehend durch erzählerische Vermittlung erfolgt) niederschlägt. (Vgl. Martin Hielscher: Zitierte Moderne. Poetische Erfahrung und Reflexion in Wolfgang Koeppens Nachkriegsromanen und in »Jugend«, Heidelberg 1988, S. 56.) In bezug auf ›Die Mauer schwankt‹, Koeppens zweiten Roman (in: Koeppen: GW, Bd. I, S. 159–419), besteht in der Forschung weitgehend Einigkeit darüber, dass es sich hierbei um einen technischen Rückschritt oder (in den Worten Hielschers) um das »Produkt eines Kompromisses« handelt (Hielscher: Zitierte Moderne, S. 63f.). Ein modernistischer Roman in der Nachfolge Joyce, Dos Passos oder Prousts wäre unter dem faschistischen Regime schwerlich zu publizieren, geschweige denn zu verkaufen gewesen.
35
anderen Weg vor als den, den Koeppen durch den Druck des Naziregimes zu gehen gezwungen war: »Ich hätte dieses Buch als mein erstes auch geschrieben, wenn Hitler nicht gekommen wäre, aber mein Stil hätte sich schon damals kühner ins Moderne durchgesetzt, wozu ich mich nach meinem Weggang von der Zeitung bereit und fähig fühlte.«46 Trotz dieser unter den schwierigen Umständen vergleichsweise hohen Produktivität findet sich Koeppen mit dem typischen Problem deutscher Emigranten konfrontiert, die sich ihres Arbeitsmaterials beraubt sahen und die Sprache des Exillandes nicht beherrschten: Ich habe den Sprachwandel nie versucht und hätte ihn nicht geschafft, selbst nie gewollt. Wir wären weltverbundener geblieben, kühner, ausschweifender, einem neuen Leben, einem veränderten Stil, einer freien Moral, humanen Idealen zugewandt. Wir hätten nicht in der deutschen Ecke gestanden, Leibeigene eines in Kunst und Literatur beschränkten Diktators. […] Es ging mir wie den Malern der »entarteten Kunst«, die nicht mehr sie selbst sein durften. Die Zeit war gegen die Literatur und gegen die Künstler.47
Darin liegt vermutlich einer der Gründe für die Rückkehr Koeppens nach Deutschland im Winter 1938/39, wo er sich aufgrund der Vermittlung von Herbert Jhering »beim Film unterstellen« kann.48 Der Reiz, der von dieser Arbeit für Koeppen wie auch für andere Schriftsteller im Dritten Reich ausging, bestand vornehmlich in der Zurückstellung vom Kriegsdienst sowie in der verhältnismäßig hohen Entlohnung. Zwischen den Jahren 1940 und 43 türmen sich jedoch die Probleme; die Leitung der »Bavaria« droht, ihn als »Drückeberger« zu denunzieren. Als Koeppen schließlich seine Berliner Wohnung nach einem Bombenangriff zerstört vorfindet, taucht er unter und verbringt die letzten Kriegsjahre in einem Hotel in Feldafing am Starnberger See. Nach der Kapitulation Deutschlands ist Koeppen »erschöpft« und »verwundert, den Aufstieg und Fall des Dritten Reiches überstanden zu haben.«49 Vermutlich
46 47 48 49
36
Koeppen: Zeit des Steppenwolfs, S. 173. Ebd. Zit. n. Jörg Döring: »...ich stellte mich unter, ich machte mich klein...«. Wolfgang Koeppen 1933–1948, Frankfurt a.M./Basel 2001, S. 343. Dörings materialreiche Monographie (Döring: »...ich stellte mich unter, ich machte mich klein...«) erbringt mit einer Bestandsaufnahme von Koeppens literarischer Aktivität zwischen 1933 und 1948 den Beweis dafür, dass Koeppen in der Kriegszeit und in den Jahren nach dem Krieg keineswegs »verstummte«. Nach dem Krieg publizierte er sporadisch Rezensionen im Feuilleton der ›Neuen Zeitung‹ unter der Leitung Erich Kästners. 1992 wurde Koeppen die Autorschaft des bereits 1948 erstmalig unter dem Namen Littners publizierten Opferberichtes ›Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch‹ zugeschrieben (vgl. Wolfgang Koeppen: Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch. Roman, Frankfurt a.M. 1992). Dieser Text eignet sich indes nicht als Materialgrundlage für die vorliegende Untersuchung, da er auf einer Vorlage fremder
im Jahr 1948 erinnert sich sein Verleger Henry Goverts an Wolfgang Koeppen und nimmt Kontakt zu ihm auf: »Henry Goverts kam zu mir und fragte mich, was ich mache und ob ich nicht was für ihn hätte, ob ich nicht was schreiben wollte. Daraufhin setzte ich mich hin und schrieb in zwei, drei Monaten die ›Tauben im Gras‹.«50 Woher bezieht Koeppen nun die Ausdrucksmittel, woher die Inhalte für diese Phase höchster Produktivität? Das Material für die ›Tauben im Gras‹, die im Jahr 1951 erscheinen, fand er in der unmittelbaren Gegenwart, dem Nachkriegsdeutschland, genauer, seinem damaligen Aufenthaltsort München, auf dem Weg in die Restauration. Mit dem Dritten Reich sind die Barrieren beseitigt, die Koeppen bis zu diesem Zeitpunkt an der Umsetzung seiner schon vor dem Krieg gefassten formalen Konzepte gehindert hatten: »Ich war befreit, hatte alte Pläne, es war der ersehnte neue Anfang.«51 Worin diese alten Pläne bestanden, berichtet Koeppen am prägnantesten in Gesprächen mit HeinzLudwig Arnold und Günter Jurczyk: Nach der »Unglücklichen Liebe« hätte ich einen Roman schreiben mögen, der ungefähr im Stil meiner späteren »Tauben im Gras« gewesen wäre. Das durfte ich aber damals nicht schreiben; das war unmöglich, und der Gedanke, ein Schriftsteller schreibe in schlimmer Zeit für die Schublade, ist eine Laienidee, das kommt fast nie vor.52
Die ›Tauben im Gras‹ sind in diesem Sinne also als ein technisches Wiederanknüpfen, als ein Zeitbild in der formalen Gestalt ›verspäteter Moderne‹ zu lesen. In keinem anderen Roman Koeppens ist der formale Anschluss an die Experimente der literarischen Avantgarde so ausgeprägt; nirgends ist der starke Eindruck der Erzählverfahren des ›Ulysses‹ präsenter als in diesem Werk, das Koeppen selbst als »die Folge eines aufgestauten, eines zu spät verwirklichten
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Autorschaft basiert und das Bemühen um die Darbietung eines authentischen Zeugenberichts stilistische Eigenarten weitgehend zurückdrängt. Döring weist zu Recht darauf hin, dass Koeppen hier »eine sprachliche Täuschungshandlung zu verrichten hatte«, da zum einen die Authentizität der erzählten Leidensgeschichte vom Publikum nicht in Zweifel gezogen werden durfte, zum anderen der »Text glaubhaft die Signatur eines Gelegenheitsproduktes tragen und einem schriftstellerischen Laien zugeschrieben werden sollte« (alle Zitate aus Döring: »...ich stellte mich unter, ich machte mich klein...«, S. 273). Ein entscheidender erzähltechnischer Eingriff des Bearbeiters Koeppen ist jedoch in der Transponierung des Präteritums, in dem die Quelle durchgehend abgefaßt ist, in das Tempus der Gegenwart zu sehen, das der Unmittelbarkeit des Tagebuchstils angemessener ist und eine größere Nähe zwischen Erleben und Niederschrift suggeriert. Unter Einschränkung kann hier eine erzähltechnische Annäherung Koeppens an die Darstellung von Bewußtseinstatsachen festgestellt werden, die jedoch – auch gegenüber der Textvorlage – stark literarisiert dargeboten werden und kaum auf den Stil der ›Tauben im Gras‹ vorausdeuten. Koeppen: Ohne Absicht, S. 149. Koeppen: Gespräch mit Wolfgang Koeppen, S. 127. Ebd., S. 121.
37
Stilexperimentes«53 charakterisiert. Im exemplarischen Fall Koeppens wird eines besonders deutlich: Die viel zitierten Formeln »Stunde Null«, »Kahlschlag« (Weyrauch) oder »Trümmerliteratur« (Böll), die aus programmatischen Schriften der Jahre 1946–1952 stammen,54 sowie die oft beschworene »tabula-rasa-Stimmung« verschleiern eine realistische Diagnose des Ausgangsstatus der deutschen Nachkriegsliteratur, indem sie die Kontinuität, das Fortwirken der nach wie vor kraftvollen internationalen Impulse der Moderne unter das Primat eines Neuanfanges stellen, wie er zweifellos von vielen noch unter dem Schock des Dritten Reiches stehenden Überlebenden ersehnt wurde. Die These von dem absoluten Neuanfang entsprach völlig dem zunächst zukunftsgerichteten Zeitgeist, da man sich (dem gemeinsamen Bedürfnis einer Vergangenheitsbewältigung zum Trotz) von jeglicher Tradition erbittert und erschüttert abwandte. Koeppen selbst hat sich stets in seinen Stellungnahmen gegen eine solch einseitige Einschätzung gewehrt und ein differenziertes Bild der Situation gezeichnet, indem er die Rolle der verlorenen Schriftstellergeneration hervorhob, die auf bereits vor dem Krieg gesammelter Erfahrung aufbauen konnte. Die überlebenden Dichter der um 1910 Geborenen »waren ja noch jung. Verhältnismäßig. Strich man die verlorenen Jahre ab.«55 Koeppen schloss selbstverständlich dort an, wo vor Jahren sein literarischer Weg unterbrochen wurde, Pläne und Werkzeuge liegen geblieben waren. Wie groß das Bedürfnis war, Versäumtes nachzuholen, zeigt seine folgende Äußerung: »Den Stil meiner Nachkriegsromane fühlte ich schon vor dem Krieg. Es ist die gleiche Weltempfindung und derselbe Versuch, mir meine Welt zu gestalten, nur daß ich dies vor dem Krieg nicht schreiben durfte und nach dem Krieg wahrscheinlich zu spät gekommen bin.«56 Der Eindruck der Joyce-Rezeption Koeppens in den späten zwanziger Jahren drängte sich nach dem Krieg geradezu auf und wurde von ihm wiederbelebt: Ich bin überzeugt, daß man heute auch ohne die Wegmarke Joyce in seine Richtung gehen müßte. Dieser Stil entspricht unserem Empfinden, unserem Bewußtsein, unserer bitteren Erfahrung. Und man sollte, weil ein Großer zum erstenmal so gesprochen, so erzählt hat, das Gefundene, das Erreichte nicht leichtfertig verwerfen. Bei uns tut man gern so, als ob mit jedem Debütanten die Literatur neu beginnen müsse. Es gibt eine Tradition! Aber sie ist anders, als unsere Traditionalisten sie sich vorstellen. Die neue Tradition ist international!57
Koeppen erkennt seinen Platz innerhalb einer in Deutschland durch die Übermacht der nationalsozialistischen Kulturpolitik an einem quasi organischen 53 54 55 56 57
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Koeppen: Werkstattgespräch, S. 23. Vgl. Brenner: Nachkriegsliteratur, S. 41. Wolfgang Koeppen: Mein Freund Alfred Andersch [1983], in: GW, Bd. VI, S. 391– 398, hier S. 393. Koeppen: Gespräch mit Wolfgang Koeppen, S. 130. Koeppen: Werkstattgespräch, S. 22.
Fortwirken gehinderten, dennoch zu einem späteren Zeitpunkt ihr Recht beanspruchenden internationalen Tradition, die sich gewissermaßen mit einer historischen Notwendigkeit vollziehen musste; er stellt seinen Roman ›Tauben im Gras‹ in die Erbfolge des ›Ulysses‹, der Gestaltungsmöglichkeiten eröffnete, die Koeppens literarischem Bedürfnis entsprachen: »Das war so, wie ich schreiben wollte. Genau das. […] Insofern war ich wohl etwas von Joyce beeinflußt, aber doch mit dem Gedanken: In dieser Art kann ich mich am besten ausdrücken. […] Das entsprach aber meinem Pulsschlag.«58 So nachvollziehbar der Wunsch, sich nun der Techniken der Moderne zu bedienen, auch sein mag, so offenkundig die Parallelen des Zeitgeistes mit der existenziellen Krise der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts in der Folge des Ersten Weltkriegs erkennbar sind – inwiefern entsprach die Joycesche Formensprache dem ›Pulsschlag‹ der Nachkriegszeit, wie konnte der ›Ulysses‹ für die deutsche Literatur fruchtbar gemacht werden, hatte sich doch unter dem Schock der Vernichtungsmaschinerie der Nazidiktatur der weltgeschichtliche Erfahrungshorizont dramatisch verschoben, hatte eine Erschütterung stattgefunden, die unter politischer wie philosophischer, lebenspraktischer wie religiöser Perspektive schwerwiegende Probleme aufwarf? Diese Frage soll die formale und inhaltliche Analyse der ›Tauben im Gras‹ leiten und sowohl Licht auf die Umsetzung Joycescher Techniken als auch auf die in der spezifischen literarischen und historischen Situation gründende Eigenständigkeit des Romans werfen.59
58 59
Koeppen: Ohne Absicht, S. 149ff. Es scheint mittlerweile in der Koeppen-Forschung beinahe zum guten Ton zu gehören, im Rahmen von Ausführungen narratologischer, rezeptionstheoretischer oder biographischer Art auf Ähnlichkeiten zwischen dem Romanwerk (bes. der Nachkriegstrilogie) Koeppens und Joyce hinzuweisen; dies geschieht jedoch meist formelhaft und wird an keiner Stelle als Ausgangsbasis für detailliertere vergleichende Untersuchungen nutzbar gemacht. Völlig unbegreiflich ist in diesem Zusammenhang, dass Koeppen in Weningers Aufsatz über die Joyce-Rezeption nach 1945 »The Institutionalization of ›Joyce‹« mit keinem Wort erwähnt wird! Stefan Eggert (Wolfgang Koeppen, bes. S. 22) und Helmut Heißenbüttel (Literatur als Aufschub von Literatur? Über den späten Wolfgang Koeppen, in: Text + Kritik 34 (1972): Wolfgang Koeppen, S. 14–32) gelangen in ihren Studien über eine undifferenzierte Auflistung Joyce unter den ›Vorbildern‹ Koeppens kaum hinaus, auch Martin Hielscher (Wolfgang Koeppen, München 1988) bleibt trotz der expliziten Nennung technischer Parallelen, die er durchaus richtig im Simultanstil, in der Großstadtdarstellung, der Assoziations- und Montagetechnik sowie in »Vielperspektivität, Zitate[n], mythologische[n] Verweise[n]« (S. 75) erkennt, in Bezug auf Joyce eher allgemein. Johannes Mittenzwei stellt als Einziger in seiner Studie zum Inneren Monolog in ›Der Tod in Rom‹ (Die musikalische Kompositionstechnik des »inneren Monologes« in Koeppens Roman Der Tod in Rom [1962], in: Über Wolfgang Koeppen, hg. v. Ulrich Greiner, Frankfurt a.M. 1976, S. 109–132) einen direkten Textvergleich mit Joyce an; er gelangt allerdings (nach einem Vergleich von Koeppens Roman mit dem Molly Bloom-Monolog in ›Penelope‹) zu dem wenig überraschenden Fazit, Joyce leiste sich »noch bedeutend mehr als Koeppen«,
39
2.2
»See? It all works out!«60 – Die ›Wandering Rocks‹ – Episode im ›Ulysses‹ als Hypotext der ›Tauben im Gras‹
2.2.1 Chronotopologische Fixierung61 Der ›Ulysses‹ hat dem 16. Juni 1904 in der Literaturgeschichtsschreibung zu einem Ruhm verholfen, den wohl kein anderer Tag der Weltgeschichte je erfah-
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denn er habe »in seinem Hauptwerk Ulysses (1922) den ›inneren Monolog‹ in einer Weise angewandt, daß damit die bisher übliche Romanform völlig zerstört worden ist« (S. 126f.). Dass eine Zerstörung der Romanform keineswegs Koeppens Ziel gewesen sein kann bzw. dass sie seinen literarischen Absichten zuwider gelaufen wäre, wird in der Untersuchung nicht entscheidend berücksichtigt. Die klarsichtigste Einschätzung des Standortes Wolfgang Koeppens in Relation zur literarischen Avantgarde liefert Marcel Reich-Ranicki, der in dem Essay »Der Zeuge Koeppen« [1963] (in: Über Wolfgang Koeppen, hg. v. Ulrich Greiner, Frankfurt a.M. 1976, S. 133–150) ein reflektiertes Bewusstsein internationaler literarischer Traditionen unter Beweis stellt: Koeppen habe »bei Joyce viel gelernt und auch bei dem Dos Passos des Manhattan Transfer. An diese Tradition, deren Fortsetzung in Deutschland zwischen 1933 und 1945 unmöglich war, knüpft der Autor der Tauben im Gras an« (ebd., S. 139). Allein Manfred Durzak leistete auf einer Tagung unter dem Titel »Topographien der Moderne. Stettin, Greifswald, Berlin. Alfred Döblin und Wolfgang Koeppen«, die in Zusammenarbeit mit der Wolfgang-Koeppen-Stiftung im November 2003 an der Universität Greifswald stattfand, im Rahmen seiner Analyse der Städtebilder von Joyce, Dos Passos, Döblin und Koeppen einen differenzierteren Vergleich der genannten Autoren. Durzak arbeitet umsichtig Parallelen wie Differenzen heraus, gelangt schließlich jedoch zu dem – angesichts der zahlreichen Analogien – m.E. überraschenden Fazit: »Die innovativen neuen Wege, die in der epischen Fiktion von Joyce, Dos Passos und von Döblin auftauchen, hat er sensibel registriert, aber produktiv geworden sind sie nur in Ansätzen in seiner eigenen Erzählweise, die vergangenheitsorientiert blieb.« (Durzak: Der Autor als literarischer Architekt?, S. 129.) Insgesamt muss man bedauerlicherweise feststellen, dass den meisten Autoren der hier angeführten Beiträge eine eingehendere Kenntnis des ›Ulysses‹ fehlt; schon eine erste unbefangene Lektüre von Joyce Roman müsste den Blick auf das ›Wandering Rocks‹-Kapitel (und weniger auf den vielzitierten Molly Bloom-Monolog in der Episode ›Penelope‹) lenken, das in vielerlei Hinsicht für die ›Tauben im Gras‹ Pate gestanden haben dürfte. Man darf annehmen, dass Koeppen selbst seine ehrgeizige ›Ulysses‹Lektüre nicht auf das letzte Kapitel des Romans beschränkt hat. James Joyce: Ulysses, hg. v. Walter Gabler u.a., London 1986, S. 126 [Kap. 8, Z. 122]. Im Folgenden innerhalb des fortlaufenden Textes zitiert mit der für diese Ausgabe üblichen Sigle (U [Kapitel].[Zeile]). Vgl. zum Begriff des ›Chronotopos‹, den Bachtin von A. A. Uchtomski (1875–1942) übernahm und in seinem Buch ›Formen der Zeit im Roman‹ (1937/38) verwendete, die erläuternden Ausführungen von M. Bauer: »Er ist zum einen, produktionsästhetisch betrachtet, für das Genre, die Handlung und das Bild der handelnden Menschen, das ein solches Werk vermittelt, konstitutiv. Zum anderen dient er aus rezeptionsästhetischer Sicht dazu, dass sich die Leser im Rahmen der Anschauungsformen von Raum und Zeit ein Bild von den erzählten Ereignissen und ihrer Bedeutung machen
ren wird – dokumentiert Joyce doch den »Weltalltag einer Epoche«62 anhand dieses sommerlichen Donnerstags, an dem er Stephen Dedalus, Leopold Bloom und die zahlreichen weiteren Haupt- und Nebenfiguren oder Statisten auf ihren Wegen durch Dublin verfolgt. Ist der Bürger und Familienvater Leopold Bloom als moderner Odysseus ein ›Jedermann‹, so ist Dublin gleichsam Mikrokosmos der modernen Welt. Joyce entwarf seinen ›Ulysses‹ mit einem Stadtplan Dublins neben sich, auf dem er die Bewegungen seiner Charaktere mit Rotstift markierte. Sein Freund Budgen hält in seinem ›Making of Ulysses‹ seinen Eindruck von Joyce Arbeitsweise am zehnten Kapitel fest: To see Joyce at work on the Wandering Rocks was to see an engineer at work with a compass and slide-rule, a surveyor with theodolite and measuring chain or, more Ulyssean perhaps, a ship’s officer taking the sun, reading the log and calculating every drift and leeway. […] He calculated to a minute the time necessary for his characters to cover a given distance of the city.63
Joyce Akribie bei der Bestimmung der räumlich-zeitlichen Koordinaten erreicht ihren Höhepunkt in der Mitte des Buches, der ›Wandering Rocks‹-Episode,64 einer elaborierten Choreographie von mehr als 30 Figuren im Labyrinth der Dubliner Straßen. C. Hart nennt dieses Kapitel Joyce »most direct, most complete celebration of Dublin, demonstrating succinctly his conception of the importance of physical reality, meticulously documented.«65 Durch die peinlich genaue Datenfülle wird der Anschein einer Objektivität höchsten Grades erweckt. Allein die ersten zwei Seiten des Kapitels enthalten eine Vielzahl räumlicher Koordinaten in Form von Ortsangaben und Straßennamen, die eine exakte Lokalisierung des Geschehens anhand eines Stadtplanes ermöglichen:
62 63 64
65
können.« (Matthias Bauer: Romantheorie und Erzählforschung. Eine Einführung, 2., aktualisierte u. erweiterte Aufl., Stuttgart 2005, S. 131.) Hermann Broch: James Joyce und die Gegenwart. Rede zu Joyce’s 50. Geburtstag, in: Kritisches Erbe, S. 337 und 338. Frank Budgen: James Joyce and the Making of ›Ulysses‹ and other writings, London/ Oxford/Melbourne 1972, S. 123–125. Diese Episode stellt als einzige einen Bruch mit dem Homerischen Prätext dar, da Odysseus nicht (wie die Argonauten) die Irrfelsen, sondern die Ungeheuer Skylla und Charybdis passieren muss. Joyce selbst bezeichnete die Episode als ein »Entr’acte for Ulysses in middle of book after 9th episode Scylla and Charybdis with absolutely no relation to what precedes or follows like a pause in the action of a play.« (James Joyce: To Frank Budgen (24th October 1920), in: ders.: Letters of James Joyce, Bd. I, hg. v. Stuart Gilbert, London 1959, S. 149.) Clive Hart: Wandering Rocks, in: James Joyce’s ›Ulysses‹. Critical Essays, hg. v. Clive Hart u. David Hayman, Berkeley, Los Angeles, London 1974, S. 181–201, hier S. 181.
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presbytery steps (U 10.2) – [Artane (U 10.3)] – Mountjoy square (U 10.12) – corner of Mountjoy square (U 10.40) – Fitzgibbon street (U 10.47) – Mountjoy square east (U 10.54f.) – [corner of Dignam’s court (U 10.60)] – Great Charles street (U 10.68) – North Circular road (U 10.73f.) – Richmond Street (U 10.76) – Saint Joseph’s church, Portland row (U 10.79f.) […]
Gerade diese katalogisierende Ansammlung von zeitlichen und räumlichen Parametern ist es jedoch, die einen verfremdenden Effekt beim Leser hervorruft, da er aufgrund seiner Lektüreerfahrung eine Reduktion des Romangeschehens auf die für eine finalistische Handlungsstruktur relevanten Fakten erwartet. Dagegen entsteht hier eine quasi visuelle Illusion, die eher mit filmischen denn epischen Mitteln inszeniert scheint, und die trotz der Überdeutlichkeit des geographischen Erzählrahmens die Leserreaktion einer auf der Figurenpsychologie gründenden Identifikation, auf die beispielsweise der traditionelle Entwicklungsroman abzielt, bewusst verhindert. Die grundlegende Parallele zwischen den ›Wandering Rocks‹ und Koeppens ›Tauben im Gras‹ liegt darin, dass zentrale Parameter des traditionellen Romans gezielt unterminiert werden. Hierzu gehören in erster Linie die Heraushebung eines zentralen Helden aus einem fest umrissenen Ensemble von Charakteren, eine weitgehend der Chronologie folgende erzählerische Sukzession, eine konstante, zuverlässige Perspektive, durch die die Romanwelt gefiltert und vermittelt wird, sowie ein charakteristischer ›Stil‹, d.h. eine eindeutige Sprachverwendung in einem für den betreffenden Autor typischen Duktus. Die Frage, ob diese Grundkategorien des Romans noch zur Abbildung der modernen Welt, gar zur Vermittlung von Wahrheit oder Sinn taugen, beantworten Joyce und Koeppen mit dem Versuch, sie aufzulösen. ›Tauben im Gras‹ mutet (wie im Folgenden zu zeigen sein wird) wie eine Adaption des ›Wandering-Rocks‹-Experiments an die Gesamtstruktur eines Romans an. Koeppen geht es jedoch keineswegs um die ins Allgemeinmenschliche überhöhte Abbildung des ›Weltalltags einer Epoche‹, sondern um den »Urgrund unseres Heute«,66 also um die Gestaltung einer konkreten und brisanten zeitgeschichtlichen Situation. Die Zeitungsnotiz »André Gide gestern verschieden« leistet die zeitliche Fixierung des Geschehens auf Dienstag, den 20. Februar 1951; weitere Schlagzeilen situieren den Roman in seinem tagespolitischen Kontext: »Krieg um Öl […] Schah heiratet […] Eisenhower inspiziert in Bundesrepublik, […] Adenauer gegen Neutralisierung, Konferenz in Sackgasse.« (TiG, S. 11f.) Neben der Auffälligkeit, dass es sich bei ›Tauben im Gras‹ wie auch beim ›Ulysses‹ um einen Tagesroman handelt, der epische Breite mit zeitlicher Stringenz vereinigt, fällt eine engere Kongruenz der abgesteckten Zeitspanne auf: 66
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[Hervorhebung von mir, M.J.] Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras, in: ders.: GW, Bd. II: Romane II, S. 7–219, hier S. 7 [Vorwort zur 2. Auflage]. Im Folgenden wird der Roman innerhalb des fortlaufenden Textes zitiert als TiG.
Schränkt Joyce die traditionell extensive erzählte Zeit des Romans auf rund 18 Stunden ein (die ›Telemachos‹-Episode legt Joyce auf 8 Uhr, das vorletzte Kapitel, ›Ithaka‹, auf 2 Uhr morgens fest), so ist sie bei Koeppen ebenfalls auf knapp zwanzig Stunden reduziert; in den ›Tauben im Gras‹ lässt sich dies anhand eines zeitlichen Orientierungsrahmens nachvollziehen, der zu Beginn und im letzten Abschnitt etabliert wird: Am Anfang ist die Druckertinte der Zeitungen noch feucht, das »Zeitungspapier roch nach heißgelaufenen Maschinen«, die »Blätter klebten verschmiert aneinander« (TiG, S. 12), wenige Seiten später heißt es »Die Glocken riefen zur Frühmesse« (TiG, S. 14); im letzten Abschnitt liest man »Mitternacht schlägt es vom Turm« (TiG, S. 218). Koeppen setzt nicht nur Zeitmarken in den Text, die das Romangeschehen vor einem historischen Hintergrund fixieren, ähnlich scharf umreißt er die urbane Lokalisierung der Handlung: Als Schauplatz lässt sich unschwer die Stadt München erkennen, wenngleich der Name an keiner Stelle im Text genannt wird. Gleich dem ›Ulysses‹, der als ›setting‹ öffentliche Plätze wie die zahlreichen Pubs, einen Friedhof, eine Bibliothek, eine Klinik, das Rotlichtviertel Dublins und vor allem das Netz der Straßen und Plätze der Stadt bevorzugt, werden auch Koeppens knapp 30 Figuren weitgehend in der Öffentlichkeit beobachtet: Lokalitäten wie das Bräuhaus, die Heiliggeistkirche, der Hauptbahnhof, das Wirtshaus zur Glocke, das Amerikahaus, das Central Exchange oder das Domcafé überwiegen die wenigen privaten Räumlichkeiten wie Alexanders, Carlas, Emilias und Frau Behrends Wohnungen, die Arztpraxen von Dr. Frahm oder Dr. Behude. Anhand eines Münchener Stadtplans lassen sich die Wege der Figuren weitgehend exakt nachvollziehen. Heißenbüttel spricht in diesem Sinne vom »Design des Konkreten«: »Landschaften, Straßen, Gebäude, Stadttopographien und Inventare lokalisieren die Erzählung, halten sie fest und öffnen sich zugleich als immer weiter […] verschiebbare Horizonte.«67 Der Roman ist aus kleinsten Erzählsegmenten montiert; die Handlungsstränge, die eine oder mehrere Figuren verfolgen, werden gleichsam auseinander geschnitten, mit anderen Erzähllinien vermischt bzw. verwoben und zu einem bunten Muster arrangiert. Das Kompositionsverfahren Koeppens erinnert an den Pointillismus: Eine Vielzahl von Punkten präsentiert sich bei einer Betrachtung aus nächster Nähe auf der Leinwand als unverbundenes Gewirr; die Zusammenfügung der Punkte wird der synthetisierenden Wahrnehmung des Betrachters aufgegeben.68 Kaum ein Vergleich mit der bildenden Kunst hebt prägnanter die Aufgabe hervor, die den Rezipienten des ›Ulysses‹ wie der ›Tauben im Gras‹ gleichermaßen zukommt. Die kausale Verknüpfung der Fakten, das Verbinden von 67 68
Helmut Heißenbüttel: Wolfgang Koeppen-Kommentar, in: Über Wolfgang Koeppen, S. 151–162, hier S. 159. Gilbert unterstreicht in seiner grundlegenden Studie zum ›Ulysses‹ Joyce »pointilliste precision.« (Gilbert: James Joyce’s Ulysses, S. 10.)
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Motivkomplexen, die Interpretation der Verbindungen zwischen den Figuren werden nicht im Werk selbst geleistet, sondern können erst während bzw. nach der Lektüre reflektierend im Gesamtzusammenhang erfasst werden. 2.2.2 »Displaced persons« und Antihelden Das ›Wandering Rocks‹-Kapitel führt durch seine Einteilung in 19 Abschnitte in struktureller Analogie die episodische Gesamtstruktur des ›Ulysses‹ vor; in jedem dieser Abschnitte rücken einer oder mehrere der Charaktere in den Blickpunkt, bis fast die komplette ›Romanbesetzung‹ ein- oder mehrmals die Bühne des Geschehens betreten hat – von Corny Kelleher über Boylan, Stephen, Artifoni, Miss Dunne,69 Ned Lambert, Rochford, Flynn, Lenehan, M’Coy, Bloom, Tom Kernan, Stephens Schwestern und seinen Vater, Reverend Conmee, Father Cowley, Ben Dollard, Cunningham, Power, Buck Mulligan und Haines, Farrell, Paddy Dignams Sohn und Molly Bloom bis zu den H.E.L.Y.’S.-Plakatträgern und dem Mann im Macintosh. Selbstverständlich wäre diese Episode keineswegs komplett ohne das »Throwaway«, das Flugblatt mit der Aufschrift »Elijah is coming«, das auch hier auf seinem Weg durch die Liffey an drei verschiedenen Stellen (U 10.294ff., 752ff., 1096ff.) auftaucht.70 Joyce bezeichnet die Technik des Kapitels im Gilbert-Schema als »Labyrinth« (»labyrinthine«);71 die Episode ist »a small labyrinth at the very centre of the huge labyrinth which is Ulysses«.72 Weitgehend willkürlich, nur durch räumlich-zeitliche Koinzidenzen bestimmt, sind die Beziehungen der Menschen, die den Mikrokosmos Dublin bevölkern: »The human elements, like parts of fractured atoms, collide, part, go separate ways, or sink, inert. However human, these elements lack human contact. Related by time and place, they lack human relationship. Moving or inert, they lack meaning or value.«73 Die rund dreißig Figuren bewegen sich zwischen den Antipoden Father Conmee als Vertreter der geistlichen und dem Vizekönig, dem Earl of Dudley, als
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Ihr kommt in dieser Episode die ehrenvolle Aufgabe zu, das Datum zu notieren: den 16. Juni 1904 (vgl. U 10.376). Dieser »Irrfelsen« findet in den ›Tauben im Gras‹ ein entsprechendes Gegenstück: Bei Koeppen ist es der kleine herrenlose Hund, der an verschiedene Herren gerät, auf seinen von Zufall und Gespür bestimmten Wegen durch die Stadt willkürliche Verbindungen zwischen Personen entstehen lässt, beispielsweise zwischen Heinz und Emilia, wenngleich sich diese im Romanverlauf nie persönlich begegnen. Stuart Gilbert: Das Rätsel ›Ulysses‹. Eine Studie, übers. v. Georg Goyert, Zürich 1932, S. 26f. Anthony Burgess: Joysprick. An Introduction to the Language of James Joyce, London 1973, S. 82. William York Tindall: Ulysses, in: ders.: A Reader’s Guide to James Joyce, London 1959, S. 123–258, hier S. 180.
dem Repräsentanten der weltlichen Macht; ihre Wege kreuzen sich bezeichnenderweise nicht. Weist der ›Ulysses‹ mit Bloom und Stephen im Gegensatz zu ›Tauben im Gras‹ zwei klar umrissene Hauptfiguren auf, so werden auch diese beiden in ›Wandering Rocks‹ auf die normal-menschlichen Proportionen durchschnittlicher Passanten reduziert, die sich – ›wie Tauben im Gras‹ – durch das urbane Labyrinth bewegen. Keine Figur erscheint wichtiger als eine andere. Indem die Aufmerksamkeit des Lesers (analog zur Großstadtwahrnehmung) gestreut wird, tritt die Individualität der Charaktere zurück; das zersplitterte Formprinzip des Romans spiegelt »die Desintegration der meisten seiner Protagonisten.«74 In etwa 100 Abschnitten75 verwebt Koeppen die Schicksale seiner knapp 30 Figuren, die einen auf Dichotomien wie Alter, Hautfarbe, Nationalität, soziale Schichtenzugehörigkeit basierenden Bevölkerungsquerschnitt Nachkriegsdeutschlands repräsentieren: Die Kinder (Hillegonda, Heinz, Bene, Kare, Schorschi, Sepp und Ezra) stehen den Erwachsenen gegenüber, die Deutschen den Amerikanern (Richard Kirsch, Christopher), die Weißen den Schwarzen (Washington Price und Odysseus Cotton).76 Angehörige der unteren gesellschaftlichen Schichten wie der Dienstmann Josef oder das Kindermädchen Emmi werden zu den wohlhabenderen Bürgern – beispielsweise dem Schauspieler Alexander und seiner Frau Messalina – in Opposition gesetzt. Am Rand des Figurenspektrums bewegen sich die Prostituierte Susanne oder der medikamentenabhängige Physiker Schnakenbach, der in der Nachkriegsgegenwart keinen Platz mehr findet. Aus dem Raster fällt ebenfalls der amerikanische Dichter Edwin, der Züge André Gides, T. S. Eliots und Thomas Manns in sich vereint und mit dem erfolglosen, an sich selbst verzweifelnden Dichter Philipp kontrastiert wird. Bei allen Differenzen zwischen den Charakteren ist allen doch eines gemein: »Sosehr sie sich voneinander unterscheiden, sosehr sind sie doch alle Opfer ihrer
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Karl-Heinz Hartmann: Romane und Erzählungen der fünfziger und sechziger Jahre (BRD), in: Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995. Eine Sozialgeschichte, hg. v. Horst A. Glaser, Bern/Stuttgart/Wien 1997 (UTB 1981), S. 287–308, hier S. 296. Norbert Altenhofer, der die »typographische Segmentierung« (Wolfgang Koeppen, »Tauben im Gras«, in: Deutsche Romane des 20. Jahrhunderts. Neue Interpretationen, hg. v. Paul Michael Lützeler. Königstein/Ts. 1983, S. 284–295, hier S. 288) zugrunde legt, zählt 102, Hartmut Buchholz (Eine eigene Wahrheit: Über Wolfgang Koeppens Romantrilogie Tauben im Gras, Das Treibhaus und Der Tod in Rom, Frankfurt a.M./Bern 1982, S. 78) 90 und Martin Hielscher (Zitierte Moderne, S. 54) 92 Erzählsequenzen. Die Namensgebung des farbigen US-Soldaten Odysseus Cotton ist zu auffällig, als dass sie im Rahmen dieser Untersuchung unbeachtet bleiben könnte; die Figur kann durchaus als eine Hommage an Joyce aufgefasst werden, zumal mit Odysseus Ankunft in München eine Irrfahrt, eine wahre urbane Odyssee beginnt, die durch Straßen, Kneipen, ins Baseballstadion, bis auf den Domturm führt und schließlich in den Armen der Prostituierten Susanne endet.
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Zeit, auf ihnen lastet – bewußt oder unbewußt – die Vergangenheit.«77 Sie alle sind Kinder des Krieges, repräsentieren in Variationen, jeder auf eigene Weise, Facetten eines nationalen Gesamtschicksals; Erlach bringt es auf die treffende Formel, es handle sich um »Modellfiguren zeittypischer Schicksale.«78 Sie alle sind vom Autor als Produkte ihrer Vergangenheit mit individuellen Zügen gestaltet und dabei funktionalisiert als Fragmente einer negativen gesellschaftlichen Identität: »Wolfgang Koeppen will den Urgrund des Heute beschreiben. Darum interessiert ihn nicht das Einmalige, Besondere, Private des Geschicks seiner Gestalten, vielmehr begreift er ihr Handeln und Leiden, ihre Reflexionen und Träume als Symptome der Zeit – einer kranken Zeit.«79 Koeppens Figuren sind bemüht, sich in der Gegenwart einzurichten, ihre Bedürfnisse nach Ruhm (Alexander), Anerkennung, Genuss (Messalina), finanzieller Sicherheit (Emilia), Liebe (Washington) zu befriedigen, einige versuchen sich eine Zukunft zu sichern; dabei bleiben sie stets Gefangene ihrer Vergangenheit – der Erinnerung, des Hasses, rassistischer Vorurteile und ihrer existenziellen Angst einerseits sowie ihrer Träume, Phantasien und Wunschprojektionen andererseits. Die auffällige Passivität und Ziellosigkeit der Figuren, die München im Jahre 1951 bevölkern, ist Ausdruck der Fremdheit bzw. Entfremdung von ihrer Gegenwart, von ihren Mitmenschen, schließlich von sich selbst. So kunstvoll Koeppen die Wege seiner Figuren ineinander verschlingt, sich kreuzen lässt, am Ende gar (fast) alle zum Vortrag Edwins im Amerikahaus zusammenführt – sie existieren nicht miteinander, sondern nur nebeneinander, ihre Begegnungen sind oberflächlich oder zufällig: Und da Koeppens Gestalten auf der Flucht vor sich selber sind, […] können sie nie zueinander kommen. Sie sind nicht imstande, ihre Einsamkeit zu durchbrechen – auch wenn ihre Wege sich hier und da kreuzen. Denn es sind, bestenfalls, nur äußerliche Begegnungen: Die Menschen bleiben sich fremd.80
Indem Koeppen und Joyce die Orientierungslosigkeit der Romanfiguren durch ihre ziellosen Wege und zufälligen Begegnungen abbilden, übertragen sie das Prinzip urbaner Wahrnehmung auf den Rezipienten. Koeppen wie Joyce kommen dem
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Marcel Reich-Ranicki: Der Zeuge Koeppen, in: Über Wolfgang Koeppen, S. 133–150, hier S. 142. Dietrich Erlach: Wolfgang Koeppen als zeitkritischer Erzähler, Uppsala 1973, S. 132. Insofern ist es umso interessanter, dass sich für einige von Koeppens Romanfiguren »mehrere angebliche Urbilder gemeldet haben,« (Koeppen: Die elenden Skribenten, in: GW, Bd. V, S. 231–235, hier S. 234) was ihn dazu veranlasste, der zweiten Auflage des Romans ein Vorwort voranzustellen, um die Vermutung, es handle sich bei den ›Tauben im Gras‹ um einen Schlüsselroman, zu entkräften. Georg Bungter: Über Wolfgang Koeppens ›Tauben im Gras‹, in: Über Wolfgang Koeppen, S. 186–197, hier S. 193. Vgl. auch Rasch: Wolfgang Koeppen, bes. S. 209. Reich-Ranicki: Der Zeuge Koeppen, S. 142f.
Leser in keiner Weise entgegen, vielmehr wird dieser bewusst von ihnen in die Irre geleitet. Es können keine verbindlichen Aussagen darüber gemacht werden, welche Charaktere am weiteren Handlungsverlauf maßgeblich beteiligt sein werden; wenn eine Figur eingeführt wird, findet der Leser keinerlei Anhaltspunkte, ob es bei einer flüchtigen Begegnung mit einem Statisten verbleiben wird, der wieder in den Menschenströmen der Großstadt untertaucht.81 Das Darstellungsprinzip, das die Charaktere vor dem Leser entstehen lässt, ist ein additives; erst allmählich erhalten die Figuren, aus vielen Einzelbild- und Momentschaltungen allseitig beleuchtet, Gestalt, Kontur, Zusammenhang, Biographie, Charakter. Die zunächst aleatorisch anmutende Figurenvielfalt erfährt durch Wiederaufnahme und Aufeinanderprojektion von Einzelerzählzügen eine Konstellation […].82
Keiner der Charaktere wird bei Koeppen psychologisch entfaltet, ihnen fehlt, wie Eisele zu Recht betont, der Subjektstatus,83 der für die Protagonisten des traditionellen Romans unabdingbar ist. In einer Zeit existenzieller Unsicherheit und Angst kann es zudem keinen Wahrheitsträger im konventionellen Sinne geben; einzelne Lichtblicke der Erkenntnis kommen dem Dichter Philipp zu, der in den ›Tauben im Gras‹ die Figur ist, die unverkennbar autobiographische Züge des Autors Wolfgang Koeppen trägt. Friedhelm Marx stellt eine »Dezentrierung«84 der ›Tauben im Gras‹ fest. Dies trifft gleichermaßen auf zwei Grundkomponenten der epischen Gattung zu, die bei Koeppen aufgelöst werden: die Handlung und den exponierten, in einer Entwicklung dargestellten Helden. Das Konzept einer zentralen Identifikationsfigur, eines autonom, in Freiheit handelnden Subjekts erscheint Koeppen in der Nachkriegszeit nicht mehr tragfähig, sondern läuft seiner Abbildung eines durch Prototypen repräsentierten gesellschaftlichen Querschnitts zuwider: »Denn den Helden gab es ja längst nicht mehr, er war ja Produkt vielfältiger
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Joyce führt das Vexierspiel mit dem Leser deutlich weiter als Koeppen, indem die Charaktere ständig neu benannt werden oder mit dem legendären ›man in the Macintosh‹ eine Figur eingeführt wird, die gelegentlich überraschend im Roman auftaucht (wie eine auffällige Gestalt, die man anhand gewisser äußerer Merkmale in einer Großstadt zufällig wiedererkennt), obwohl sie bis zum Ende opak und mysteriös bleibt. Jürgen Hein: Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras, in: Erzählen, Erinnern. Deutsche Prosa der Gegenwart. Interpretationen, hg. v. Herbert Kaiser u. Gerhard Köpf, Frankfurt a.M. 1992, S. 38–50, hier S. 45. Ulf Eisele: Odysseus trinkt Coca Cola. Wolfgang Koeppens ›Tauben im Gras‹, in: Wolfgang Koeppen, hg. v. Eckart Oehlenschläger, Frankfurt a.M. 1987, S. 258–274, hier S. 167. Friedhelm Marx: Kein Zauberwort, keine Formel. Wolfgang Koeppens Poetik der Unschärfe in Tauben im Gras, in: Metapher und Modell. Ein Wuppertaler Kolloquium zu literarischen und wissenschaftlichen Formen der Wirklichkeitskonstruktion, hg. v. Wolfgang Bergem, Lothar Blum u. Friedhelm Marx, Trier 1996, S. 61–73, hier S. 68.
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Kräfte: Objekt und nicht mehr Subjekt.«85 Somit erscheint es nur folgerichtig, dass Koeppens Hauptfiguren das Schicksal der zahllosen ›displaced persons‹ teilen, die das Nachkriegsdeutschland bevölkern: »Seine ›displaced persons‹ sind allesamt Agierende auf eigene Faust, geschlagene Helden. […] Wiederholt taucht das Bild einer durch die zerstreuten Energien atomisierten Gesellschaft auf, einer Gesellschaft ›vereinzelter Einzelner‹.«86 Mit dem Fehlen von exponierten Figuren wird die Frage nach einem Helden auch im ›Ulysses‹ weitgehend substanzlos. Da in den ›Wandering Rocks‹ die Proportionen der Romancharaktere inmitten des urbanen Panoramas auf ein Minimum reduziert werden, verblasst ihre Individualität. Blickt man über das zehnte Kapitel hinaus, so erscheint Leopold Bloom, »the foremost anti-heroic hero of twentieth-century literature«,87 als Joyce Kommentar zur Heldenproblematik des modernen Romans. Dieser gewinnt an Schärfe durch die Projektion auf den antiken Prätext, durch die Kontrastierung Blooms mit seinem homerischen Vorbild Odysseus: Joyce Odysseus ist ein unheroischer Held, wie auch seine Penelope kein Inbegriff der Treue ist; Bloom tötet keineswegs ihren Liebhaber, sondern er bleibt, während der Ehebruch vollzogen wird, bewusst von zu Hause fern! Dennoch bewegt er sich, wenn nicht listenreich, so doch menschlich und aufrecht durch das von Joyce entworfene urbane Labyrinth: »Joyce builds on seeming trivia, welters of fact and fiction, the minutiae of realistic experience. […] But if this day is typical […] then surely the person who undergoes such a day must be a Ulysses. In a curious way, then, the sheer detail gives the book an epic scope.«88 Ausgestattet mit einer pragmatischen Soziologie, einem lebensnahen Optimismus, menschlichem Mitgefühl und sozialem Impetus ist er der in der Bewältigung seines Alltags tapfere Versager, der den Helden der Antike abgelöst hat; diese negative Heroenfigur im ›Ulysses‹ muss Koeppen so nachhaltig beeindruckt haben, dass Koeppens Überlegungen zur Heldenproblematik des modernen Romans wie eine Charakteristik Blooms erscheinen:
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Ulrich Greiner: Wolfgang Koeppen oder Die Geschichte eines Mißerfolges, in: Über Wolfgang Koeppen, S. 9–21, hier S. 17. Greiners provokante Frage: »War aber dann der Roman überhaupt noch möglich, verlangte nicht seine Form nach der zentralen Figur, mit der sich der Leser identifizieren, mit der er leiden und mit der er sich freuen konnte?« (ebd.) ist durchaus berechtigt. Wir werden an späterer Stelle darauf zurückkommen. Klaus R. Scherpe: Die Realität eines nicht-realistischen Romans. Wolfgang Koeppens Imaginationen des Nachkriegsalltags in »Tauben im Gras«, in: ders.: Die rekonstruierte Moderne. Studien zur deutschen Literatur nach 1945, Köln/Weimar/Wien 1992 (Literatur – Kultur – Geschlecht 3), S. 159–188, hier S. 168f. Zack Bowen: Ulysses, in: A Companion to Joyce Studies, hg. v. Zack Bowen u. James F. Carens, Westport 1984, S. 389–497, hier S. 423. Ebd., S. 426f.
Held ist, auf die Literatur bezogen, schon ein etwas schwieriges Wort; schon Zola wollte eigentlich den Helden wegdrängen, wegtun, und allerdings glaubte er dafür an die Menge, an die Masse. Das ist bei mir sehr viel weniger der Fall, weil ich mehr den einzelnen sehe, der sich allerdings in der Massengesellschaft zurechtfinden muß. Aber ich glaube nicht, daß ich der Erfinder eines positiven Helden sein werde, wobei mir sowohl das Wort Held wie das Wort positiv nicht so recht behagt. Auch in einem weiteren Sinn, in meiner Vorstellung, kann auch ein Versager ein Held sein, vielleicht ist auch sogar der Versager ein Held.89
Bloom ist keineswegs eine so lächerliche Figur, wie es der Vergleich mit dem antiken Muster nahe legt; an ihm exemplifiziert Joyce gewissermaßen das Heroische des modernen Menschen. Er schreibt die von der ›Odyssee‹ gesetzten Maßstäbe bezüglich der Kategorien Heldentum, Treue etc. um, projiziert sie auf das zwanzigste Jahrhundert; sein Odysseus ist kein ruhmreicher Held, aber »a complete man, a good man.«90 2.2.3 Sukzession und Simultaneität Die Frage nach den Zeitverhältnissen in ›Wandering Rocks‹ und ›Tauben im Gras‹ lässt ein den traditionellen Gesetzen der Epik zuwiderlaufendes Erzählverfahren zutage treten. Simultaneität ist das Stichwort, das ›Ulysses‹ und ›Tauben im Gras‹ in die Nähe der Abbildungsziele der Futuristen rückt. Bei Koeppen wie bei Joyce folgen die einzelnen Abschnitte in sich weitgehend der äußeren Chronologie, mehrere Abschnitte unterschiedlicher Erzählstränge lassen sich dagegen im Handlungsgefüge als simultan ausmachen. Joyce erreicht diesen Eindruck von Gleichzeitigkeit durch zwei verschiedene Kunstgriffe: In jeder der neunzehn Sequenzen der ›Wandering Rocks‹-Episode lassen sich ein bis drei Einschübe oder ›inserts‹ ausmachen, und zwar in der Form von Sprüngen an einen weit entfernten Handlungsschauplatz, an dem ein Geschehen verfolgt wird, das einem anderen Erzählstrang zuzuordnen ist. Father Conmee erschreckt in der ersten Sequenz auf seinem Spaziergang über Clongowes Field ein junges Paar: »The young woman abruptly bent and with slow care detached from her light skirt a clinging twig.« (U 10.201f.) Im achten Abschnitt des Kapitels wird ein Dialog zwischen Ned Lambert und J. J. O’Molloy unvermittelt von dem Einschub unterbrochen: »The young woman with slow care detached from her light skirt a clinging twig.« (U 10.440f.) Die fast wortwörtliche Wiederholung desselben Ereignisses fungiert als zeitliche Schnittstelle zwischen den Sequenzen 1 und 8, indem letztere zeitlich in ersterer eingerastet wird.
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Wolfgang Koeppen: Ich habe nichts gegen Babylon, in: »Einer der schreibt«, S. 116– 131, hier S. 124. Joyce zit. n. Budgen: James Joyce and the Making of Ulysses and Other Writings, S. 17.
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Das zweite Prinzip besteht in einer Spielart repetitiven Erzählens, dem mehrfachen Referieren ein und desselben Geschehens aus verschiedenen Blickwinkeln in verschiedenen Sequenzen: »Corny Kelleher sped a silent jet of hayjuice arching from his mouth while a generous white arm from a window in Eccles street flung forth a coin.« (U 10.221–223) Der ›großzügige Arm‹ aus der zweiten Sequenz begegnet dem Leser in der dritten wieder: »The blind of the window was drawn aside. A card Unfurnished Apartments slipped from the sash and fell. A plump bare generous arm was shone, was seen, held forth from a white petticoatbodice and taut shiftstraps. A woman’s hand flung forth a coin over the area railings.« (U 10.250–254)91 Mit der Schluss-Sequenz (19), die ihr Gegenstück in der Rede Edwins im Amerikahaus findet, in der Koeppen seine Charaktere zum Finale versammelt, führt Joyce die subtile Choreographie des Kapitels auf einen grandiosen Höhepunkt zu, indem eine kurze zeitliche Spanne des strengen Raum-Zeit-Gefüges narrativ entfaltet wird. Die Parade des Vizekönigs ist das externe Ereignis, das die Wege aller Charaktere in einer linearen Bewegung verdichtet. Dieses greift durch Querverweise auf (12) und (15) zurück, zu der Gruppe um John Wyse Nolan Powers (U 10.1031f.): »from the shaded door of Kavanagh’s winerooms John Wyse Nolan smiled with unseen coldness towards the lord lieutenantgeneral and general governor of Ireland.« (U 10.1211f.) und zu Kernan, der die Parade um ein Haar verpasst: »At Bloody bridge Mr Thomas Kernan beyond the river greeted him vainly from afar.« (U 10.1183f.)92 Der Leser des ›Ulysses‹ ist gezwungen, die Sukzession der einzelnen Handlungsstränge innerhalb eines strengen zeitlichen Gerüstes synthetisierend nachzuvollziehen, wodurch ein dem Epischen fundamental entgegengesetzter Eindruck einer komplexen zeitlichen Überlagerung von Synchronie und Diachronie, sprich der Simultaneität bei gleichzeitiger Sukzessivität der Sequenzen, entsteht. Vom traditionellen Standpunkt kausaler epischer Verknüpfung aus betrachtet, muss
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Es bedarf keiner übermäßigen Kombinationsgabe, um aus der Tatsache, dass das Schild ›Unfurnished Apartments‹, wie an anderer Stelle berichtet wird, im Fenster des Hauses »number 7 Eccles street« (U 10.542) aufgestellt ist, schließen zu können, dass es sich dabei um Molly Blooms Arm handeln muss. Die »darkbacked figure«, die bereits in der Boylan-Episode (5) auffällt (»A darkbacked figure under Merchants’ arch scanned books on the hawker’s cart.« (U 10.315f.)), wird in (9) von Lenehan und M’Coy als Bloom identifiziert: »They went up the steps and under Merchants’ arch. A darkbacked figure scanned books on the hawker’s cart. – There he is, Lenehan said.« (U 10.520ff.) Daneben dienen Joyce weitere Kunstgriffe als zeitliche Verknüpfungen zwischen zwei Episoden; so endet die Boylan-Episode (5) im Obstgeschäft mit Boylans Bitte, das Telefon benutzen zu dürfen; in (7) erhält dessen Sekretärin Mrs. Dunne genau diesen Anruf von ihrem Chef (U 10.389ff.). Vgl. U 10.798f.: »Mr Kernan hurried forward, blowing pursily. His Excellency! Too bad! Just missed that by a hair. Damn it! What a pity!«
die allein auf ihrer Gleichzeitigkeit basierende Zusammenführung zweier Ereignisse als eine willkürliche erscheinen, da weniger die emotionalen Bindungen zwischen den Charakteren als ihre räumliche Nähe die erzählerische Progression und Selektion bestimmen: »Time and space are the unifiers in the universe of the chapter: the characters moving through Dublin are related by coincidence in time and proximity in space.«93 Die zeitliche Koinzidenz der Ereignisse in den ›Wandering Rocks‹ präsentiert sich als bewusster Gegensatz zu der Sequentialität der Handlung, die seit Lessings Postulat der Erzählung zeitlich-linearen Nacheinanders durch die materiellen Gegebenheiten der Poesie im ›Laokoon‹ für den Roman normative Gültigkeit erlangt hat.94 Was für den ›Ulysses‹ im Ganzen gilt, kann auch auf die einzelne Episode übertragen werden: Räumlichkeit gewinnt neben Temporalität bzw. Chronologie an Eigenwert; ebenso wie sich der Roman als quasi-lyrischer Komplex darstellt, den Querverweise und Motivketten durchziehen, ist auch dieses impressionistisch anmutende Kapitel voller verbaler Echos und thematischer Verknüpfungen, die in alle Richtungen weisen und keineswegs finalistisch angelegt sind. Eine kausale Einheit wird bei aller komplexen strukturellen Formung des äußeren Geschehens nicht geschaffen. Vielmehr dokumentiert das Kapitel eindrucksvoll das Dilemma des modernen Menschen, zu einer Synthese von innerer und äußerer Erfahrungswelt zu gelangen. Im Gegensatz zur konventionellen narrativen Verknüpfung des Romans fehlt der Episode jeglicher kausale Zusammenhang ebenso wie eine Systematisierung oder Hierarchisierung von Ereignissen, verschiedene Ereignisse werden lediglich auf der Grundlage ihrer Gleichzeitigkeit zusammengeführt. Auf diese Weise unterminiert Joyce bewusst die Erwartungshaltung des Lesers bezüglich funktionaler Relevanzkriterien, die den epischen Darstellungsmodus gewöhnlich leiten. Ein auffälliges Indiz dafür
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Lawrence: The Odyssee of Style in Ulysses, S. 84. Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, Stuttgart 1987. Auf Lessings ›Laokoon‹ wird in der ›Proteus‹-Episode explizit verwiesen, in der Stephens Gedankenstrom während eines Spaziergang entlang Sandymount Strand wiedergegeben wird: »I am, a stride at a time. A very short space of time through very short times of space. Five, six: the Nacheinander. […] My two feet in his boots are at the end of his legs, nebeneinander.« (U 3.11–17). Stephen reflektiert subjektive Zeiterfahrung ausgehend von seiner sinnlichen, d.h. zeitlichen und räumlichen Wahrnehmung – der sukzessiven Abfolge der Schritte, des Anblicks seiner Füße als simultan nebeneinander im Raum existierender Körper. Die Einbettung dieser Betrachtungen in den Gedankenstrom, der einerseits zeitlich linear fortschreitet, wobei jedoch Gedanken assoziativ, in einer quasi vertikalen, paradigmatischen Dimension entfaltet werden, weist diese Passage als textimmanente poetologische Reflexion aus. (Vgl. dazu auch die Ausführungen von Udaya Kumar: The Joycean Labyrinth: Repetition, Time, and Tradition in Ulysses, Oxford 1991, bes. Kap. 3: The Structure of Ulysses and the Experience of Time, S. 50–88).
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ist »a strange failing in the ›narrative memory‹«,95 die Erzählinstanz leistet keinerlei Übergänge vom unbestimmten zum bestimmten Artikel, sobald eine Figur als bekannt vorausgesetzt wird; für eine Lokalität bzw. eine Person werden verschiedene Bezeichnungen verwendet (Earl of Dudley = Viceroy = lord lieutenantgeneral = general governor of Ireland). Das Gedächtnis des Lesers muss den Wiedererkennungseffekt herstellen, wie dies auch in der filmischen Darstellung der Fall ist. Außerdem werden dieselben Ereignisse bzw. Dialoge mehrmals referiert, ohne dass ein erzählerisches Bewusstsein dieser Kongruenz offenkundig würde. Auf diese Weise entsteht ein Eindruck von Multiperspektivität und Simultaneität, wenn etwa Mollys Arm in zwei aufeinander folgenden Abschnitten aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven betrachtet wird. Joyce verlangt von dem Rezipienten, der das kunstvoll ausgeklügelte chronotopologische Gewebe dieser Episode durchschauen und erfassen möchte, eine erhöhte Aufmerksamkeit und Gedächtnisleistung: »Our immediate sensation of wandering through a maze seems one of Joyce’s ends […]. His labyrinth is Dublin and this book.«96 Wie bei der Lektüre eines Gedichtes oder dem Betrachten eines Objektes der bildenden Kunst muss der Leser die Fragmente zusammenfügen, die Anspielungen und Korrespondenzen alinear überprüfen und zueinander in Beziehung setzen. In ›Tauben im Gras‹ treten technische Schwierigkeiten zu Tage, wenn es darum geht, die von Joyce auf knapp 30 Seiten überzeugend umgesetzten Verfahrensweisen über einen ganzen, immerhin knapp 200 Seiten umfassenden Roman durchzuhalten. Die Episoden in Koeppens Roman können weitgehend als Elemente der Sukzession gelten; die Zeitangaben sind verhältnismäßig vage, so dass sich eine Gleichzeitigkeit zweier Abläufe verschiedener Handlungsstränge eher vermuten denn belegen lässt. Dennoch sind vereinzelte Ansätze durchaus bemerkenswert – und zweifellos an Joyce Muster angelehnt. Koeppen wählt eine Straßenkreuzung, um eine erste zufällige Begegnung einer Vielzahl seiner Figuren zu inszenieren: Der Wagen des Konsuls, in dem Mr. Edwin zum Hotel gebracht wird, streift dort einen Radfahrer: Dr. Behude (vgl. TiG, S. 46). Dieser überdenkt soeben die Beziehung Philipps zu Emilia, die ebenfalls an der Straßenecke steht, von Behude jedoch nicht wahrgenommen wird. Schließlich lässt Koeppen Washington Price in seiner »horizontblauen Limousine« die Kreuzung passieren (TiG, S. 47) und zwingt Odysseus und Josef an derselben Kreuzung wie Emilia zum Warten: »Die Verkehrsampel stand auf Rot und hemmte den Übergang. Straßenbahnen, Automobile, Radfahrer, schwankende Dreiradwagen und schwere amerikanische Heerestrucks strömten über die Kreuzung. Das rote Licht sperrte vor Emilia den Weg.« (TiG, S. 42)
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Lawrence: The Odyssee of Style in Ulysses, S. 84. Tindall: Ulysses, S. 183.
Odysseus Kofferradio spielt den Song »Bahama-Joe«, der auch von Kay aus dem Bus der Lehrerinnen aus Massachusetts wahrgenommen wird: »An der Kreuzung stand ein Neger. Ein kleiner Radiokoffer spielte Bahama-Joe.« (TiG, S. 51) Koeppen wird zum »Regisseur des Zufalls«,97 der seine Figuren für die Dauer einer Ampelphase am gleichen Ort zur gleichen Zeit zusammenführt und damit deutlich macht, dass der Leser durchaus von komplexen zeitlichen Überlappungen der Sequenzen ausgehen muss und sie nicht wie sorgfältig an der Kette der epischen Chronologie aufgereihte Perlen lesen kann. Koeppen greift damit die Problematik der Darstellung von Zeit wieder auf, die – angeregt durch Bergsons Differenzierung von objektiver, chronologischer temps und subjektiver, diskontinuierlicher durée sowie durch Husserls phänomenologische Untersuchung des menschlichen Zeitempfindens – eines der zentralen Themen des modernen Romans wurde. In der Skizze ›Vom Tisch‹, in der Koeppen romantheoretische Überlegungen anstellt, die von den Experimenten des nouveau roman angeregt sind, reflektiert er über den Versuch einer Aufhebung der Zeit zu einer Gleichzeitigkeit allen Geschehens. Jeder Vorgang gegenwärtig, jetzt und hier, in diesem Augenblick. Kein Vorher und kein Nachher. Weder Vergangenheit noch Zukunft. […] Doch die Zeit wird dadurch nicht weniger unheimlich, daß man sie ignoriert. Oder sich das vornimmt. Es ist eine Anstrengung. Es geht nicht. […] Die Person verliert ihre Perspektive, gewinnt an Nähe, vielleicht an Fläche. Der Roman ist hoffnungslos und deprimiert. Die Vergangenheit nimmt die Zukunft mit. Alles ist eins und gleich. […] Der konservative Roman eine Sinngebung des Sinnlosen, die Versuche konstatieren die Sinnlosigkeit des Seins.98
Koeppens Resignation ist verständlich: Tatsächlich ist ›Tauben im Gras‹ trotz der Reduktion der erzählten Zeit auf weniger als einen Tag lediglich eine Approximation. Die epische Form, die Koeppen wählt, erlaubt aufgrund ihres sprachlichen Materials und des dargestellten Ereignisflusses letztlich keine »Aufhebung der Zeit zu einer Gleichzeitigkeit allen Geschehens.« Ebenso wenig wie Joyce ist Koeppen ein Theoretiker: Die wenigen und wenig aufschlussreichen poetologischen Überlegungen zu seinen Romanen sind in zahlreichen Interviews verstreut, prägnanter jedoch als romanimmanente Theorie im Erzählwerk Koeppens zu finden – seiner Überzeugung gemäß, dass »jeder Roman in seiner Entstehung seine eigene Theorie in sich« trägt.99 Die resignative Reflexion dieser Problematik ist Philipp in den ›Tauben im Gras‹ aufgegeben:
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Bungter: Wolfgang Koeppens ›Tauben im Gras‹, S. 536. Wolfgang Koeppen: Vom Tisch, in: Text + Kritik 34 (April 1972): Wolfgang Koeppen. S. 1–13, hier S. 11. Wolfgang Koeppen: Was ist neu am Neuen Roman? [1963], in: GW, Bd. VI, S. 363– 367, hier S. 363.
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Philipp kam mit der Zeit nicht zurecht. Der Augenblick war wie ein lebendes Bild, der possierliche Gegenstand einer Erstarrung, das Dasein in Gips gegossen […]. Zugleich aber raste dieselbe Zeit, die doch wiederum stillstand und das Jetzt war, dieser Augenblick von schier ewiger Dauer, flog dahin, wenn man die Zeit als die Summe aller Tage betrachtete, den Ablauf aus Licht und Dunkel, der uns auf Erden gegeben ist, glich dem Wind, war etwas und nichts, meßbar durch List, aber niemand konnte sagen, was er da maß, es umströmte die Haut, formte den Menschen und entfloh ungreifbar, unhaltbar: woher? wohin? Aber er, Philipp, stand noch dazu außerhalb dieses Ablaufs der Zeit, nicht eigentlich ausgestoßen aus dem Strom, sondern ursprünglich auf einen Posten gerufen, einen ehrenvollen Posten vielleicht, weil er alles beobachten sollte, aber das Dumme war, daß ihm schwindlig wurde und daß er gar nichts beobachten konnte, schließlich nur ein Wogen sah, in dem einige Jahreszahlen wie Signale aufleuchteten, schon nicht mehr natürliche Zeichen, künstlich listig errichtete Bojen in der Zeitsee, schwankendes Menschenmal auf den ungebändigten Wellen, aber zuweilen erstarrte das Meer, und aus dem Wasser der Unendlichkeit hob sich ein gefrorenes, nichtssagendes, dem Gelächter schon überantwortetes Bild. (TiG, S. 19–21)
Angesichts des zeitlichen Flusses versagt der Dichter auf seinem idealen Beobachterposten; die Subjektivität zeitlicher Wahrnehmung, die Anreicherung des Stromes mit Geschichte, die den Dichter ebenfalls mitreißt – was Philipp, der doch ebenso wie alle anderen Figuren die Male seiner Vergangenheit trägt, bezeichnenderweise übersieht –, macht den epischen Überblick unmöglich. Koeppen beschränkt sich auf eine Andeutung der zeitlichen Komplexität der ›Tauben im Gras‹ und ermöglicht seinem Leser – im Gegensatz zu Joyce – keine exakte Rekonstruktion der Zeitverhältnisse. Maßgeblicher für Koeppens Roman ist vielmehr die Choreographie im Raum, in der er seine Figuren auf ihren Wegen durch München lenkt, bei Koeppen ist (im Unterschied zu Joyce) das Prinzip des räumlichen Zusammentreffens unabdingbare Voraussetzung für die temporale Koinzidenz. Dieses Faktum rückt ›Tauben im Gras‹ in unmittelbare Nähe zum Medium Film, das von diesem Gestaltungsprinzip lebt und von dem Koeppen weitere Ausdrucksformen übernimmt. 2.2.4 Filmische Darstellungstechniken und Perspektive Koeppens früh ausgeprägte Sensibilität für die künstlerischen Ausdrucksformen der Avantgarde schloss selbstverständlich das neue Medium des Films nicht aus; 1928 sah er im Marmorhaus am Kurfürstendamm Eisensteins ›Panzerkreuzer Potemkin‹ und war begeistert: Ich habe den »Panzerkreuzer Potemkin« seit diesem ersten Mal oft und mit nie nachlassender Spannung gesehen, immer wieder angetan von seinem kühnen Schnitt, seiner wegweisenden Montage, der neuen Dramaturgie, seiner schlichten, zuweilen pathetisch vorgetragenen Menschlichkeit.100 100
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Wolfgang Koeppen: Eisenstein und Babel, in: GW, Bd. VI, S. 253–262, hier S. 254. Während Koeppen als begeisterter Kinobesucher die Experimente der avantgardisti-
Die Charakteristika der bewegten Bilder Eisensteins, die auf Koeppen solchen Eindruck hinterließen, scheinen direkten Einzug in sein Romanwerk gehalten zu haben. Karl Prümm erläutert in seinem Aufsatz über »Kinematographisches Schreiben bei Wolfgang Koeppen« dessen »Adaption des Filmmediums im Prozeß des Schreibens« anhand sorgfältiger und erhellender Analysen »von Übertragungen spezifisch kinematographischer Techniken«101 (besonders in ›Jugend‹) und gelangt zu dem Urteil: Das Kino war für Wolfgang Koeppen immer ein Traum, den er in seinen Texten nachleben wollte, eine faszinierende Wahrnehmung und Anverwandlung der Welt, ein poetisches Verfahren, das er in sein Schreiben zu übertragen suchte. Wolfgang Koeppen war ein Kinoerzähler – vielleicht der wichtigste in der Literatur des 20. Jahrhunderts.102
Koeppen selbst bestätigt dies hinsichtlich seines berühmten Romans in einem Gespräch mit Christina Döring und Katja Ziegler: »Insofern ist es möglich, daß ich […] in Tauben im Gras […] ein filmisches Sehen, ein Sehen in Auftritten, in Szenen gehabt habe.«103 Die Perspektivierung in den ›Tauben im Gras‹ ist nicht ausschließlich eine narrative, d.h. mit erzähltheoretischen Kategorien hinreichend erfassbare, denn wir – die Leser, Zuschauer, ›Voyeure‹ – sehen scheinbar selber auf die Schauplätze, Figuren und Handlungen, dennoch wie von einem – selbst unsichtbaren – Auge eines beweglichen Kameraobjektivs gelenkt. Wie filmische Einstellungen muten die Erzähleinheiten an, die mit weicher Überblendtechnik ineinander übergehen, so daß sich das neue Erzählbild oft über das vorhergehende schiebt.104
Eine Passage wie die folgende gewinnt ihre Dynamik durch eine stark visuelle Qualität, die darauf hindeutet, dass die ›Tauben im Gras‹ passagenweise wie filmische Sequenzen interpretiert werden können. Ein narratives Arrangement, das einer Kameraführung gleicht, beginnt mit einer Überblendung zwischen zwei Sequenzen, einer Zusammenführung zweier Detailaufnahmen mittels eines match cut in analoger farblicher Komposition und entwickelt daraus eine dynamische
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schen Filmemacher wie Eisenstein oder Vertov erlebte, versuchte Joyce als Teilhaber an einem Dubliner Kino vergeblich, sie in Geld zu verwandeln. (Zum Volta-Projekt vgl. Ellmann: James Joyce, S. 310ff.) Beide Zitate aus Karl Prümm: »Ich weiß, man kann mit den Mitteln des Films dichten.« Kinematographisches Schreiben bei Wolfgang Koeppen, in: Wolfgang Koeppen & Alfred Döblin, S. 68–85, hier S. 81. Ebd., S. 69. Wolfgang Koeppen: Bericht aus Bonn, in: »Einer der schreibt«, S. 203–207, hier S. 207. Jürgen Hein: Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras, in: Erzählen, Erinnern. Deutsche Prosa der Gegenwart. Interpretationen, hg. v. Herbert Kaiser u. Gerhard Köpf, Frankfurt a.M. 1992, S. 38–50, hier S. 42f.
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Schnittfolge, die in der Form eines ›Schuss-Gegenschuss-Verfahrens‹ wechselseitig die Spieler am Würfeltisch in einer Nahaufnahme darstellt: Washington legte seine große braune Hand auf ein Stück gelber Seide. Die Seide verschwand wie ein gefangener Schmetterling unter seiner Hand. Die schwarze Hand des Negers und die gelblichen schmutzigen Hände der Griechen nahmen die Würfel, schleuderten sie auf das Tuch, ließen sie hüpfen, springen und rollen. Odysseus hatte gewonnen. Josef zupfte ihn an der Jacke: »Mister, wir gehen, schlechte Menschen.« Die Griechen drängten ihn weg. […] Wieder fielen die Würfel. Odysseus verlor. Er blickte verwundert auf die Hände der Griechen, Taschenspielerhände, die sein Geld einsteckten. (TiG, S. 66f.)
Die Anschaulichkeit der Sequenz, in der der amerikanische Luftwaffenoffizier Richard Kirsch München vom Flugzeug aus betrachtet, liegt gerade in der filmischen Blickführung, der symbolträchtigen Vogelperspektive begründet, die die Menschen, ihre Schicksale, selbst eine ganze Stadt auf winzige Proportionen – eben auf die Proportionen von Tauben im Gras – reduziert: er […] blickte herab, blickte herab auf sie in aller Tatsächlichkeit, herab auf ihre Länder, ihre Könige, ihre Grenzen, ihren Hader, ihre Philosophen, ihre Gräber, ihren ganzen ästhetischen, pädagogischen, gedanklichen Humus, ihre ewigen Kriege und Revolutionen, er blickte herab auf ein einziges lächerliches Schlachtfeld, die Erde lag unter ihm wie auf einem Chirurgentisch: arg zerschnitten. (TiG, S. 39)
Koeppen »transportiert die Blickmarkierungen, die im Erzählkino von der Kamera geleistet werden, in sein Schreiben.«105 Sei es beim Blick Odysseus und Josefs vom Domturm, der Odysseus zur Herrscherpose und gleichzeitig Josef zu einer Überschau über sein Leben anregt, oder in der Kontrastierung mit der Froschperspektive Ezras im Bräuhaus, für den »Jeder Mann […] ein Baum. Jeder Baum […] eine Eiche« (TiG, S. 193) ist, sei es in der perspektivischen Umkehrung, in der nun »die Tochter der Hausbesorgerin […] von oben herab«, nämlich zwei Treppenstufen höher stehend, mit Richard Kirsch redet (TiG, S. 125f.): Die Vogelperspektive wird als Struktursymbol des Romans entfaltet; daher mag ein Zitat Budgens zu den ›Wandering Rocks‹ mühelos auch auf das Panorama von ›Tauben im Gras‹ angewandt werden: The scale suddenly changes. Bodies become small in relation to the vast space around them. The persons look like moving specks. […] The spiritual attributes of each person remain what they were, but all, as individuals, become small in relation to the city that contains them.106
Mit Hilfe einer Verwendung von Termini der Filmanalyse lassen sich auch die Montageverfahren der einzelnen ›Sequenzen‹ aus verschiedenen Handlungsli-
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Ebd., S. 82f. Budgen: James Joyce and the Making of ›Ulysses‹ and Other Writings, S. 126.
nien, für die die Erzähltheorie keine Begriffe bereit hält, als verschiedene Typen von Schnitten anschaulich beschreiben und somit die verschiedenen Formen der Verschränkung aufeinander folgender Sequenzen differenziert erfassen. Der Leser konstruiert zwischen den Erzählsequenzen einen semantischen Zusammenhang, ebenso wie der Betrachter eines Films zwischen zwei Einstellungen »in seinem Bewußtsein eine Brücke« bildet: »Es muß also in den Einstellungen etwas geben, was sich in Beziehung setzen läßt: ein Bewegungsvorgang, eine Ähnlichkeit der Gegenstände, eine Identität der Figuren, eine sich ergänzende Handlung, eine ideelle Verbindung.«107 Die Analogie zum Film ist Heißenbüttel in seiner sorgfältigen Analyse der Komposition des Romans nicht entgangen: »Diese Technik erinnert an filmischen Perspektiven- oder Schauplatzwechsel. Auch finden sich sozusagen harte und weiche Schnitte, neben dem Standortwechsel der Kameraschwenk am gleichen Schauplatz, wie etwa die Überleitung von Edwin im Wagen des Konsuls zum Rad fahrenden Dr. Behude.«108 Tatsächlich lebt die oben zitierte Verknüpfung der Abschnitte, in denen sich die Figuren an der Kreuzung begegnen, von einem in der Filmanalyse als ›Plansequenz‹ (sequence shot) bezeichneten Verfahren, d.h. von einer langen, aus nur einer Kameraeinstellung bestehenden ungeschnittenen Filmeinheit mit komplizierten Kamerabewegungen. Die Einheit des Schauplatzes, auch die zeitliche Simultaneität leisten bei Koeppen eine organische, realitätsbezogene Verbindung zwischen den Sequenzen; er greift damit auf ein räumliches Verknüpfungsprinzip zurück, dessen sich auch Joyce in den ›Wandering Rocks‹ bedient, um die inserts in einen ›fremden‹ Handlungsstrang zu integrieren: On Newcomen Bridge the very reverend John Conmee S. J. of Saint Francis Xavier’s church, upper Gardiner street, stepped on to an outward bound tram. Off an inward bound tram stepped the reverend Nicholas Dudley C. C. of Saint Agatha’s church, north William street, on to Newcomen bridge. (U 10.107–112)
Ein flüchtiger Schwenk am selben Schauplatz fängt die gegenläufigen Bewegungen zweier Figuren ein, ohne dass ein ›Schnitt‹ nötig wäre. Das eindrucksvollste Beispiel für einen narrativen sequence shot im ›Ulysses‹ stellt die lange ›Kamerafahrt‹ am Ende der Episode dar: Eine zwar mit komplexen Schwenks verbundene, jedoch ungeschnittene Sequenz entlang der Route des Vizekönigs verbindet in einer einzigen Bewegung sämtliche Akteure des Kapitels. Diese rein visuelle Technik ist bei der Verknüpfung der Abschnitte in ›Tauben im Gras‹ jedoch eher selten. Weitaus häufiger findet man eine formale Überbrückung der Nahtstelle mittels eines match cut, eines zusammenfügenden Schnittes zweier Szenen durch ein rekurrierendes Element. Dies kann einerseits 107 108
Beide Zitate aus Knuth Hickethier: Film- und Fernsehanalyse, 2. überarb. Aufl., Stuttgart 1996, S. 137. Vgl. Bungter: Wolfgang Koeppens ›Tauben im Gras‹, S. 190.
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organisch-sinnlicher Natur,109 andererseits formal-verbaler Art sein, indem eine Verkettung zweier Szenen entweder durch die Weiterführung eines begonnenen Satzes110 oder durch das repetitive Wiederaufgreifen eines Wortes bzw. einer Phrase erzielt wird:111 »[…] ›Schnee Frieden Schlaf‹ // Schlaf, aber keine Heimkehr, keine Einkehr, ein Fall, ein Gefälltwerden.« (TiG, S. 148). Neben der rein verbalen Form der Verknüpfung wird häufig ein metaphorischer bzw. assoziativer Zusammenhang zwischen zwei Episoden hergestellt: »Die Fenster des Negerklubs zerbrachen unter den Steinen. // ›Alles zerbricht‹, dachte Philipp...« (TiG, S. 202). Auf einen dem filmischen Prinzip der Kollision ähnelnden (oft ironischen) Effekt abzielend, arrangiert Koeppen mittels einer verbalen bzw. assoziativen Verknüpfung kontrastierende, miteinander in einem Spannungsverhältnis stehende Sequenzen nebeneinander: »›Frau Carla, am besten machen wir es gleich in der Klinik.‹ // ›Das Beste für Carla.‹« (TiG, S. 65). Eine antithetische Verknüpfung kann dazu dienen, Frau Behrends rassistische Vorurteile dem hoffnungsvollen Optimismus Washingtons gegenüberzustellen: »›...ich will dich hier nicht mit einem Negerkind‹ // Er wollte das Kind.« (TiG, S. 113) oder den jugendlich-idealistischen Patriotismus Richard Kirschs mit der Resignation des Physikers Schnakenbach zu konfrontieren: »Richard Kirsch war bereit, für Amerika zu kämpfen. // Schnakenbach wollte nicht kämpfen« (TiG, S. 120).112
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Diese Funktion erfüllt beispielsweise das Stabat-mater der Orgel in der Heiliggeistkirche, das in die Klänge der Kinoorgel mündet (vgl. TiG, S. 124). In den ›Wandering Rocks‹ finden wir eine ähnliche Art der Verkettung; hier kann ein Buch als verbindendes Element dienen: Die erste Episode endet damit, dass Father Conmee eine Seite seiner Bibel wendet und in der Lektüre fortfährt; zu Beginn der zweiten Sequenz schließt Kelleher sein Journal. Vgl. TiG, S. 60: »Candy-I- // call-the-States!« oder S. 47: »Er brauchte Geld. Gleich // Gleich aus der Linie sechs in die elf.« (Zur typographischen Verdeutlichung werden die Abschnittsgrenzen mit »//« markiert.) In einigen Fällen verleihen die verbalen Verschlußstücke – etwa der Songtitel »Nightand-day« (TiG, S. 29; 30; 33) – den Sequenzen einen Eindruck von Geschlossenheit bzw. eine »Ringstruktur« (Bungter: Wolfgang Koeppens ›Tauben im Gras‹, S. 191). Bungter hebt zudem hervor, dass »auseinandergeschnittene Teile einer linearen Geschichte […] zuweilen mit Klebestellen versehen« seien (vgl. ebd., S. 190), indem einige Worte am Abschnittsende an späterer Stelle bei der Fortsetzung desselben Erzählstranges wiederaufgegriffen werden und so gewissermaßen als »Falz« eine übergreifende Verknüpfung leisten. Das Beispiel, das Bungter anführt – »der Schaum lag wie Schnee auf den Lippen //« (TiG, S. 55); »// wie Schnee auf den Lippen.« (TiG, S. 58) – ist jedoch ein Einzelfall. In den ›Wandering Rocks‹ schließt sich die Textpassage 10 assoziativ und im ironischen Kontrast an die vorangehende Episode an. Lenehan drückt seinen Respekt gegenüber Bloom aus, indem er feststellt: »He’s a cultured allroundman, Bloom is […]. He’s not one of your common or garden ... you know ... There’s a touch of the artist about old Bloom.« (U 10.581–583) In der folgenden »Einstellung« sehen wir Bloom in einem Antiquariat auf der Suche nach pornographischer Lektüre.
Wenngleich sowohl Joyce als auch Koeppen mittels filmischer Darstellungsmodi auf den Effekt einer akausalen, visuellen Reihung abzielen, in der gerade nicht im traditionellen Sinne eine innere Logik, Motivation oder Kausalität, sondern vielmehr der Zufall, d.h. eine zeitlich-räumliche Koinzidenz, die Verquickung verschiedener Handlungsfragmente zu leisten scheint, so lassen beide doch keine disparaten Elemente willkürlich aufeinanderprallen, sondern arrangieren eine kunstvolle Choreographie der Figuren, worin die disponierende, reduzierende und montierende Hand des Autors erkennbar wird. Die auktoriale Kontrolle äußert sich jedoch nun nicht mehr in der Etablierung und Entfaltung einer privilegierten Deutungsperspektive im Rahmen der narrativen Vermittlung der einzelnen Abschnitte; wenngleich sich vor allem bei Koeppen deutliche Spuren einer auktorialen Erzählstimme finden, wird der Erzählerkommentar doch durch die vorherrschende Multiperspektivik ständig unterminiert: »Keine Erzählergestalt vermittelt zwischen uns und dem Erzählten, vielmehr ändert sich die Erzählhaltung dauernd und fordert unsere Akkomodationsfähigkeit heraus.«113 Die ›Wandering Rocks‹ enthalten Bruchstücke verschiedener Wahrnehmungswelten der unterschiedlichsten Charaktere. Während in den übrigen Kapiteln des ›Ulysses‹ allein Stephens, Blooms und Mollys Bewusstseinsströme aufgezeichnet werden, erfahren nun auch Nebenfiguren wie Father Conmee, Blazes Boylan, Miss Dunne, Tom Kernan und Patrick Dignams Sohn die gleiche narrative Behandlung, wodurch die Aufmerksamkeit des Lesers in verschiedene Richtungen gestreut wird. Daneben tritt gelegentlich die Erzählerstimme hervor, die in den ersten neun Kapiteln etabliert wurde; diese erweist sich in den ›Wandering Rocks‹ jedoch als höchst flexibel; der Grad der erzählerischen Intervention schwankt zwischen direkter kommentierender, oft ironischer Einmischung und völligem Zurücktreten des Erzählers hinter die Bewusstseinsprozesse der Charaktere. Zwischen diesen Extremen wird die Perspektivierung vermittels verschiedener Erzählmodi subtil moduliert, häufig auch abrupt verändert. Bereits die ersten Zeilen sind beredtes Zeugnis des gleitenden Perspektivenwechsels: »The superior, the very reverend John Conmee S. J. reset his smooth watch in his interior pocket as he came down the presbytery steps.« (U 10.1f.) Es ist ein neutraler Erzählerbericht, der eine Figur mit ihrem Namen und Status einführt, eine Handlung dieser Figur wiedergibt, das Geschehen über eine Ortsangabe lokalisiert. Dieser konventionellen, prägnanten Exposition folgt der irritierende Kurzsatz: »Five to three.« (U 10.2) – Wäre dies noch immer der Erzähler des ersten Satzes, so stellt die Ellipse einen drastischen Bruch mit der vorangehenden eleganten hypotaktischen Periode dar. Der folgende Satz »Just nice time to walk to Artane« (U 10.3) bestätigt die Vermutung, dass die narrative Vermittlung nun an die Wahrnehmung Father Conmees gekoppelt ist, hinter der der
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Erlach: Wolfgang Koeppen als zeitkritischer Erzähler, S. 66.
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Erzähler zurücktritt. »What was that boy’s name again?« (U 10.3) ist, wie die Verwendung des Präteritum nahe legt, ein Beispiel erlebter (Gedanken-)Rede,114 an die sich der staccatoartige Stil des Inneren Monologs anschließt: »Dignam. Yes. Vere dignum et iustum est.« (U 10.4) Das assoziative Muster verweist auf die Bewusstseinsstruktur Father Conmees: Der Name Dignam erinnert ihn in seiner lautlichen Gestalt an das lateinische Adjektiv dignum, das wiederum in Conmees Gedanken die Eingangsformel der Eucharistie nach sich zieht. Dieses und ähnliche chance words, Aktionsworte, die auf der Basis phonetischer Ähnlichkeit Bewusstseinssprünge von einem Gedankenbereich in einen anderen verursachen, sind als ein Spiel mit Wortbedeutungen charakteristische Strukturmerkmale des stream of consciousness im ›Ulysses‹. Eine ähnliche assoziative Verbindung leisten äußere Sinneseindrücke, wie der Anblick des alten Mannes in der Straßenbahn, der eine Analepse einleitet: »Father Conmee at the altarrails placed the host with difficulty in the mouth of the awkward old man who had the shaky head.« (U 10.131f.) Noch einmal wird ein Bruchstück erlebter Gedankenrede eingeschoben (»Brother Swan was the person to see.« (U 10.4f.)), dann mündet der erste Abschnitt wiederum in den fragmentarischen Stil des Inneren Monologs: »Mr. Cunningham’s letter. Yes. Oblige him, if possible. Good practical catholic: useful at mission time.« (U 10.5f.) Die plötzliche Erinnerung an den Brief, den er in der Tasche trägt, führt Pater Conmees Überlegungen zu der Person Martin Cunninghams und enthüllt seine recht pragmatisch begründete Sympathie für ihn.115 Bereits hier wird deutlich, dass Joyce den Inneren Monolog, der ihm sonst die volle psychologische Auffächerung seiner drei zentralen Charaktere ermöglicht, in den ›Wandering Rocks‹ auch (ähnlich wie Schnitzler im ›Leutnant Gustl‹) zur Ironisierung und Bloßstellung der Nebenfiguren verwendet; in diesem Fall enthüllt der Gedankenstrom die nutzenorientierte Philanthropie eines geistlichen Würdenträgers, für den die Kriterien »useful« und »practical« den guten Katholiken ausmachen. Umso abrupter ist der plötzliche Wechsel von diesem extreme close-up der unmittelbaren Bewusstseinsdarstellung zu einer weiten, bis zur Totalen aufziehenden Einstellung, mit der nun auch der
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Ich folge in der Verwendung narratologischer Terminologie weitgehend Martinez/ Scheffel, die (eklektisch) ausgehend von den einflussreichsten erzähltheoretischen Arbeiten von Stanzel bis Genette ein systematisches Vokabular und Instrumentarium zur Verfügung stellen, das gerade durch seine flexible Anwendbarkeit besticht, in seiner prinzipiellen Offenheit den Eigenwert und die Besonderheiten der Texte nicht beschneidet, dabei aber eine präzise Bezeichnung einzelner erzähltechnischer Phänomene ermöglicht. (Matias Martinez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, 2. durchges. Aufl., München 2000. Besonders hilfreich ist die Systematik zur Präsentation von gesprochener Rede bzw. Gedankenrede, S. 62.) Vermutlich ist Cunningham (der bereits in der Erzählung ›Grace‹ in den ›Dubliners‹ seinen ersten Auftritt hatte) bei der jährlichen Missionszeit ein eifriger Sammler zugunsten seiner Gemeinde.
»onelegged sailor« erfasst wird. Im höchsten Grade amüsant sind beispielsweise die indirekten Rededarstellungen, die – wie auch die Bewusstseinswiedergabe – mit Conmees eigener Diktion so eng geführt werden, dass daraus ein komischer Effekt entsteht: »Yes. They were from Belvedere. The little house. Aha. And were they good boys at school? O. That was very good now. […] And the other little man? His name was Brunny Lynam. O, that was a very nice name to have.« (U 10.41–45) Die Inneren Monologe Blooms und Stephens in den Sektionen 10 und 13 sind vom jeweils charakteristischen sprachlichen bzw. kognitiven Duktus der beiden Figuren gefärbt, mit denen Joyce seinen Leser bereits in den Kapiteln ›Proteus‹ (Stephen) und ›Calypso‹ (Bloom) vertraut gemacht hat. Die beiden Hauptfiguren besitzen ein eigenes, für ihren jeweiligen sinnlichen bzw. rationalen Zugriff auf die Welt distinktives Idiom: Blooms stream of consciousness ist gekennzeichnet durch eine etwas ungelenke Satzstruktur, die meist in kurzen, staccatoartigunzusammenhängenden elliptischen Phrasen oder bloßen Interjektionen zusammenbricht. Charakteristisch für den sinnlichen, erdverbundenen Bloom sind die umgangssprachliche, sehr elementare Diktion sowie die Häufung sensuell aufgeladener Adjektive: Sweets of Sin. More in her line. Let us see. […] Yes. This. Here. Try. […] Yes. Take this. The end. […] Warmth showered gently over him, cowing his flesh. Flesh yielded amply amid rumpled clothes: whites of eyes swooning up. His nostrils arched themselves for prey. Melting breast ointments (for him! for Raoul!). Armpits’ oniony sweat. Fishgluey slime (her heaving embonpoint!). Feel! Press! Chrished! Sulphur dung of lions! Young! Young! (U 10.606–624)
Stephens Monolog dagegen ist in (13) eine wie immer bunte, grandiloquente Mischung erlesenster Gelehrsamkeit, die Elemente aus Miltons ›Paradise Lost‹ mit biblischen Anleihen aus dem Johannesevangelium (Joh 1,5) und der Offenbarung (Off 12,4) vermischt: Born all in the dark wormy earth, cold specks of fire, evil, lights shining in the darkness. Where fallen archangels flung the stars of their brows. Muddy swinesnouts, hands, root and root, gripe and wrest them. (U 10.805–807)
Selbst Stephens Reflexionen über seine Familie, seine Selbstbezichtigungen aufgrund der Tatsache, dass er sich hinter exquisiter Buchgelehrsamkeit verbirgt, während seine Familie der Armut preisgegeben ist, tragen das Muster ausgewogener Rhythmisierung. Seine Gewissensbisse verdichten sich in der mittelenglischen Formel des »agenbite of inwit«116 und pathetisch-melancholischen Bildern poetischer Reflexionen, die wiederum an Ophelia erinnern: »She is drowning. Agenbite. Save her. Agenbite. All against us. She will drown me with her, eyes
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Vgl. ›Telemachus‹, U 1.481f.
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and hair. Lank coils of seaweed hair around me, my heat my soul. Salt green death. We. Agenbite of inwit. Inwit’s agenbite. Misery! Misery!« (U 10.875) Wie in einer Jonglage bedient sich Joyce der gesamten Bandbreite von mimetischen Formen der Rede- und Bewusstseinsdarstellung (autonome direkte Rede bzw. autonomer Innerer Monolog) bis hin zu solchen höchster Mittelbarkeit (Bewusstseins- und Redebericht) sowie zum Erzählerkommentar: »The viewpoint changes from one sentence to another so that the reader must be continually on the alert to follow the variations of scale and angle. The view constantly changes from a close-up to a birds-eye view. […] The scale suddenly changes.«117 Die grundlegende technische Innovation der Bewusstseinsdarstellung im ›Ulysses‹ hatte Koeppen schon früh erkannt: Das war ein sehr, sehr großes Werk für mich, besonders dieses dort sehr selbstverständlich und sehr selbstbewußt hervorgebrachte Mittel des sogenannten inneren Monologs, daß ein Roman nicht auf äußeren Handlungen allein beruhte, sondern auf dem Empfinden, auf der Phantasie, auf dem Gedankenstrom des Romanhelden.118
Koeppen beherrscht die subtilen, gleitenden Übergänge von einer Perspektive in eine andere mit ähnlicher Meisterschaft; bei ihm sind die Brüche jedoch nicht wie bei Joyce effektvoll herausgehoben, um dem Leser den Montagecharakter des Werkes ins Bewusstsein zu rufen, sondern sie stellen vielmehr kaum wahrnehmbare Modulationen dar, die den Leser in die Wahrnehmungs- und Gedankenwelt einer Figur zu ziehen vermögen. Im Gegensatz zu Joyce bleibt bei ihm auch eine »stets um Zusammenhang« 119 bemühte Erzählerstimme als vermittelnd eingreifende, berichtende, kommentierende und kontrollierende Instanz präsent. Sabina Beckers These, dass Koeppen »hinsichtlich der Punkte Erzählerfigur und Erzählerkompetenzen […] eindeutig und ganz entschieden andere, weniger an Döblin als an James Joyce orientierte Wege« gehe, da in »Koeppens Roman […] der Erzählermonolog nahezu jeden Abschnitt« dominiere und zu »keinem Zeitpunkt […] die Stadt ihrer Selbstdarstellung, wie Döblin« überließe,120 ist – zumindest auf den ersten Blick – zuzustimmen. Im Vergleich mit den Experimenten eines James Joyce kommt in der Tat die Position des Erzählers […] der Allmacht des traditionellen Erzählers ziemlich nahe […]. Seine Stimme geht keineswegs in der Vielstimmigkeit der Stadt unter, er hat alle Fäden in der Hand, in Bezug auf seine Figuren knüpft er sie und löst sie wieder.
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Budgen: James Joyce and the Making of ›Ulysses‹ and Other Writings, S. 126. Koeppen: Ohne Absicht, S. 93f. Sabina Becker: Ein verspäteter Modernist? Zum Werk Wolfgang Koeppens im Kontext der literarischen Moderne, in: Wolfgang Koeppen & Alfred Döblin, S. 97–115, hier S. 104. Alle Zitate ebd., S. 103.
Die Figuren begegnen sich, zumeist unbekannterweise, ihre Begegnungen sind flüchtig und von ihnen ungewollt, aber vom Erzähler arrangiert.121
Trotz der »vielfach gebrochene[n] Multiperspektivik«, trotz der Tatsache, dass »Bewußtseinsinhalte einer Vielzahl von Personen […] den Hauptbestandteil des Romans«122 bilden, schließt der Erzähler eine integrative Klammer um die scherbenartig zusammengefügten Reaktionen der Charaktere auf die sie umgebende Welt; er ist der Sprecher des Rahmens, der die über hundert Abschnitte in einer zirkularen Struktur zusammenfügt: Flieger waren über der Stadt, unheilkündende Vögel. Der Lärm der Motoren war Donner, war Hagel, war Sturm. Sturm, Hagel und Donner, täglich und nächtlich, Anflug und Abflug, Übungen des Todes, ein hohles Getöse, ein Beben, ein Erinnern in den Ruinen. Noch waren die Bombenschächte der Flugzeuge leer. Die Auguren lächelten. Niemand blickte zum Himmel auf. (TiG, S. 11)
An keiner anderen Stelle wird die dichterische Stilisierung greifbarer als hier. Der beobachtende, die Beobachtungen poetisierende, Motivketten etablierende und knüpfende, sie in rhetorischen Mustern (wie dem erweiterten Chiasmus DonnerHagel-Sturm – Sturm-Hagel-Donner) organisierende Erzähler ist ein Charakteristikum von ›Tauben im Gras‹, das im ›Ulysses‹ bewusst ausgespart wird: Der Erzähler, der den Roman durch seinen knappen Bericht über die politische Situation am Anfang und Ende einrahmt, behält im Grunde bei allen Perspektiveverschiebungen das Heft immer in der Hand. Er schaltet sich beständig ein, […] zu Beginn und am Schluß der einzelnen Kapitel.123
Wenngleich sich der Koeppensche Erzähler nicht mit auktorialer Gelassenheit über die Szene erhebt, sondern sich als Teil eines von Bedrohung und Angst bestimmten Kollektivbewusstseins begreift, tritt er doch nie völlig zurück, sondern bleibt – wenn nicht in kommentierenden oder gar urteilenden Einschüben – zumindest im Hintergrund »medial« anwesend. Wiewohl der Roman die »Außenwelt weitestgehend durch die Innenwelt«124 der Figuren schildert, wird diesen Innenwelten doch keine völlige Autonomie zugestanden, der Zugriff des Lesers auf sie erfolgt nur auf dem Wege der Vermittlung durch den Erzähler. Betrachten wir im Folgenden beispielhaft eine Sequenz, in der Philipp – mit der Absicht, den ihm anvertrauten Patentkleber zu verkaufen – eine Bürowarenhandlung betritt: Die Schreibmaschinen blitzten im Neonlicht, und Philipp hatte die Empfindung, daß ihre Tastaturen ihn angrinsten: die Buchstabenfront wurde zu einem höhnenden offe121 122 123 124
Ebd., S. 105f. Beide Zitate aus Erlach: Wolfgang Koeppen als zeitkritischer Erzähler, S. 79. Ebd., S. 80. Ebd., S. 91.
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nen Maul, in dem das Alphabet mit bleckenden Zähnen nach ihm schnappte. War Philipp nicht Schriftsteller? Herr der Schreibgeräte? Ein gedemütigter Herr! Wenn er den Mund aufmachte, ein Zauberwort ausspräche, würden sie losklappern: willige Diener. Philipp wußte das Zauberwort nicht. Er hatte es vergessen. […] Was sollte Philipp hier? Er war überflüssig. Er war feige. Er hatte nicht den Mut, dem Geschäftsmann im eleganten Anzug […] den gräflichen Patentkleber anzubieten, einen, wie es Philipp nun vorkam, völlig lächerlichen und unnützen Gegenstand. ›Mir fehlt der Sinn für die Wirklichkeit, ich bin eben kein ernster Mann, der Geschäftsmann hier ist ein ernster Mann. ich kann das, was alle treiben, einfach nicht ernst nehmen, ich finde es komisch, dem Mann etwas zu verkaufen, gleichzeitig bin ich zu feige dazu, soll er seine Pakete verkleben womit er will, was geht es mich an? warum klebt er Pakete? um seine Maschinen zu verschicken, warum verschickt er sie? um Geld zu verdienen, um gut zu essen, um sich gut zu kleiden, weil er gut schlafen will, Emilia hätte diesen Mann heiraten sollen, und was tun die Leute mit den Maschinen, die sie bei ihm gekauft haben? sie wollen mit ihnen Geld verdienen und gut leben, sie stellen Sekretärinnen an, schauen ihnen auf die Waden und diktieren Briefe »Sehr geehrte Herren, wir bestätigen Ihr Gestriges und geben unser Heutiges«, ich möchte ihnen ins Gesicht lachen, dabei lachen sie mich aus, sie haben recht, ich bin der Reingefallene, ein Verbrechen an Emilia, unfähig, feige, überflüssig bin ich: ein deutscher Schriftsteller.‹ – »Was darf ich dem Herrn zeigen?« (TiG, S. 56f.)
Ausgehend von konventioneller Beschreibung der Szene durch den Erzähler wird der Leser durch einen Bewusstseinsbericht (»Philipp hatte die Empfindung...«) an die Wahrnehmungswelt Philipps herangeführt; dabei wird bereits eine Bildlichkeit verwendet, die der dichterischen Sensibilität Philipps entsprechen mag. Auch die sich daran anschließende erlebte Rede – gekennzeichnet durch das Präteritum sowie durch Pronomina der dritten Person – mag noch Bestandteil eines traditionellen auktorialen Romans sein, zumal immer wieder auf den stärker vermittelten Bewusstseinsbericht zurückgegriffen wird: »Philipp wußte das Zauberwort nicht.« Auf die Alternanz zwischen Bewusstseinsreport und erlebter Rede folgt nun ein Bewusstseinszitat, das durch einfache Anführungsstriche markiert ist. Gerade diese minimale Markierung unterscheidet Koeppens Erzählverfahren von dem unmarkierten freien assoziativen Spiel des stream of consciousness. Die »Allmacht des Koeppenschen Erzählers« sei, so Sabina Becker, »auch jenen Passagen abzulesen, die als innerer Monolog, als ›stream of consciousness‹ angelegt sind«, jedoch dessen wesentliche Kennzeichen »gar nicht erfüllen.«125 Obwohl der Leser der unmittelbaren präsentischen Erlebniswelt Philipps überlassen wird, behält sich der Erzähler eine letzte Kontrolle vor. Zwischen diesen Begrenzungen der Interpunktion wird jedoch Philipps Bewusstseinsstrom in auffälliger Zeitdehnung assoziativ entfaltet, bis die direkte Rede des Verkäufers jäh in die Außenwelt der Szene zurückführt. Wie im ›Ulysses‹ ist auch in ›Tauben im Gras‹ das Bewusstsein jeder Figur durch einen eigenen Ton bzw. Sprachduktus individualisiert. Die junge ameri125
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Becker: Ein verspäteter Modernist?, S. 108.
kanische Lehrerin Kay besticht durch ihre von Klischees durchsetzte Naivität, wie etwa in dem Folgenden durch ein verbum cogitans eingeleiteten Bewusstseinszitat: Kay dachte ›er sieht mich an, ich gefalle ihm, er ist nicht mehr jung, aber er ist bestimmt sehr berühmt, ich bin erst Stunden hier und schon habe ich einen deutschen Dichter kennengelernt, die Deutschen haben so fürchterlich ausdrucksvolle Gesichter […], die Dichter in Dr. Kaisers deutscher Literaturgeschichte sehen alle so schrecklich romantisch aus, wie Leute aus dem Verbrecheralbum, allerdings tragen sie da Bärte, wahrscheinlich arbeitet er die Nächte durch, daher ist er so blaß, oder er ist traurig weil sein Vaterland Unglück hatte? vielleicht trinkt er auch, viele Dichter trinken, er wird Rheinwein trinken, ich möchte auch Rheinwein trinken, […] er geht in einem Eichenwald spazieren und dichtet, eigentlich ist ein Dichter komisch, Hemingway glaub’ ich ist weniger komisch, Hemingway angelt, es ist weniger komisch zu angeln als im Wald spazierenzugehen, aber ich würde mit dem deutschen Dichter in seinem Eichenwald spazierengehen, wenn er mich dazu aufforderte, schon um es Dr. Kaiser zu erzählen [...].‹ (TiG, S. 99)
Der unmittelbarste Darstellungsmodus des Inneren Monologs wird in ›Tauben im Gras‹ an keiner Stelle mit der Radikalität etwa des Monologs der Molly Bloom im letzten ›Ulysses‹-Kapitel (›Penelope‹) umgesetzt; die am deutlichsten in diese Richtung weisende Sequenz in Koeppens Roman, der einzige unmarkierte Innere Monolog fällt jedoch bezeichnenderweise Emilia zu, als sie masturbierend vor Philipps Bücherregal kniet: sie wollte vergessen, wollte dem betrügenden entlaufen, zu spät, der Materie entkommen, dem Geist nun sich hingeben, dem verkannten, er war ein neuer Retter, seine schwerelosen Kräfte, les fleurs du mal, Blumen aus dem Nichts, der Trost in Dachkammern, wie-hasse-ich-die-Poeten, die Pumper, die-alten-Freitischschlucker, Geist Trost in verfallenen Villen, ja-wir-waren-reich, […] die Vielheitshypothese, kommeals-Tier-wieder, bin-freundlich-zu-den-Tieren, das-Kalb-am-Strick-das-so-schrie-vordem-Garmischer-Schlachthof, das Geworfensein, Kierkegaard Angst tagebuchschreibender Verführer nicht zu Cordelia ins Bett, Sartre der Ekel ich-ekele-mich-nicht, ich treibe dunkele süße Onanie, das Selbst, die Existenz und die Philosophie der Existenz, Millionärin, warmal, es-war-einmal, die Reisen der Großmutter, Wirkliche Geheime Kommerzienrätin, Onanie, dunkele süße […] wenn-sie-alles-in-Gold-angelegt-hätten, Beginn der Sozialversicherung, ich-sollte-kleben-für-mein-Alter, der junge Kaiser, Billioneninflation, hätten-sie-in-Gold, […] die Totenstadt, ich-sterbe-jung, […] Millionen-nicht-in-Gold, […] die Sphinx Cocteau: ich-liebe, wer-liebt-mich?, das Gen der Kern des befruchteten Eis, brauch’-mich-nicht-vorzusehen-zwölfmal-regelmäßig, der Mond, kein Arzt, Behude-ist-neugierig, alle-Ärzte-lüstern, mein Schoß, Körper-gehörtmir, kein Leiden, süße-dunkle-Schuftigkeit – (TiG, S. 32f.)
Hier entsteht ein fließender Übergang vom auktorialen Bewusstseinsbericht (»sie wollte vergessen«), da sich die Diktion mehr und mehr der onanierenden, halb bewussten Emilia annähert, die Sätze werden rhythmisch aneinandergereiht, Bewusstseinsfragmente aneinandergeknüpft, Namen und Titel aus der Literatur, Schlagworte aus der Tagespolitik setzen Erinnerungsprozesse in Gang, rufen 65
Bruchstücke einer früheren Existenz hervor; manche Fragmente werden dominant und gewinnen Refraincharakter, etwa das immer wiederkehrende Wort »Onanie« oder Emilias Vorwurf an ihre Vorfahren, nicht das Vermögen in Gold angelegt zu haben, was sie vor dem Herabsinken in die Armut gerettet hätte. Auf diese Weise entstehen Motivstränge, deren gemeinsamer Nenner die Opposition von heiler Vergangenheit und katastrophaler Gegenwart ist. Die derbe Sinnlichkeit der Passage legt einen Vergleich mit dem Molly-Bloom-Monolog im ›Ulysses‹ nahe. Anstatt jedoch wie Joyce in ›Penelope‹ auf die Interpunktion völlig zu verzichten, um so den Flux des Halbbewusstseins der einschlafenden Molly zu transkribieren, erzeugt Koeppen eine Rhythmisierung durch eine asyndetische Reihung und durch Wortketten, die mit Gedankenstrichen verknüpft werden. Die Verkettung erfolgt auch bei Koeppen über Aktionswörter; so wird der Titel von Sartres Roman ›Der Ekel‹ zum assoziativen Anknüpfungspunkt für Emilias Rechtfertigung der Masturbation: »ich-ekele-mich-nicht.«126 Die Bewusstseinsvorgänge seiner Figuren bilden für Koeppen die Facetten des zeitgenössischen Gesamtbewusstseins; sein Ziel ist es, ausgehend von einer konkreten historischen Situation Epochenpsychologie in poetischer Durchdringung Gestalt werden zu lassen. Das Objekt seiner Darstellung ist die Bevölkerung Münchens Anfang der fünfziger Jahre; dem Prinzip des analytischen Kubismus folgend, wird dieses Objekt in Bruchstücke verschiedener Ebenen aufgelöst, das Objekt wird durch die erzählerische Multiperspektivik quasi simultan aus verschiedenen Blickwinkeln zugleich betrachtet, da die Dominanz einer zentralen, synthetisierenden Perspektive moderner disparater Großstadt- und Lebenserfahrung nicht mehr angemessen scheint. Koeppen gibt uns kein geschlossenes Abbild der Wirklichkeit von einer erhöhten Warte aus, sondern […] hat hier und da Spiegel aufgestellt. Diese Spiegel sind nicht zufällig plaziert, die Romane fügen sich nicht aus lose gereihten Einzelbildern zusammen, sondern es waltet eine genaue Erzählökonomie. Nicht Addition, sondern Komposition, nicht Collage, sondern Montage sind die Strukturkennzeichen.127 126
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Mittenzwei stellt resümierend fest: »In Koeppens Roman begegnen wir der ›erlebten Rede‹ und dem ›inneren Monolog‹ […]. Beide Stilformen hat der Dichter jedoch noch verhältnismäßig maßvoll angewandt und zu dem Inhalt in eine spannungserfüllte Beziehung gesetzt.« (Mittenzwei: Die musikalische Kompositionstechnik des »inneren Monologes« in Koeppens Roman Der Tod in Rom, S. 132). Dieses Fazit ist ebenso korrekt wie Mittenzweis Einschätzung: »James Joyce leistet sich in dieser Hinsicht noch bedeutend mehr als Koeppen […]. Dagegen hat Joyce z.B. in seinem Hauptwerk Ulysses (1922) den ›inneren Monolog‹ in einer Weise angewandt, daß damit die bisher übliche Romanform völlig zerstört worden ist« (ebd., S. 126f.). Eine derartige Beurteilung führt jedoch in eine falsche Richtung, da Koeppen sicherlich nicht daran gelegen war, das radikale Formexperiment des ›Ulysses‹ zu wiederholen. Er war auf die Romanform und ihre Grundelemente angewiesen, da die ›Tauben im Gras‹ einer Situation höchster politischer Betroffenheit entsprangen, die ein Medium brauchte. Erlach: Wolfgang Koeppen als zeitkritischer Erzähler, S. 91.
Wie die Kubisten das Zusammenfügen der visuellen Scherben dem Betrachter überließen, wird bei Koeppen und Joyce dem Leser eine erhöhte Aufmerksamkeit, ein flexibles Anpassungsvermögen abverlangt, er »wird sich […] selbst überlassen, er muß sich selbst zurechtfinden und steht der Welt des Romans so unvermittelt gegenüber wie der wirklichen Welt.«128 Die Feststellung Erlachs ist jedoch insofern zu relativieren, als eine erzählerische Vermittlungsinstanz kontinuierlich hinter der personalen Erzählweise greifbar ist. Koeppen nutzt zugleich die Vorteile, die in der auktorialen Wirklichkeitsdurchdringung liegen, sowie die technischen Möglichkeiten unmittelbarster Vergegenwärtigung, die die personale Multiperspektivik eröffnet. Der Text pendelt so zwischen einem »Ich spreche« und einem »Es spricht« […]. Es macht die besondere Eigenart des Koeppenschen Erzählstils aus, daß der Text diese Spannung immer bewahrt und beständig zwischen den Polen einer sinnhaft geordneten Kommunikationssprache und einer triebhaften, diese Ordnung zersetzenden Sprache changiert.129
Man mag wie Treichel dem Autor einen dem Stoff angemessen spannungsvollen Erzählstil attestieren oder die daraus resultierende Problematik beim Namen nennen: Koeppen übernimmt mit dem Rückgriff auf die auktoriale Intervention und Übersicht des traditionellen Romans zugleich dessen konservatives Konzept der vom Individuum in ihrer Geschlossenheit erfassbaren Wirklichkeit, das doch die dezentrierte, fragmentierte Romanstruktur beständig zu unterlaufen sucht. Wie glücklich die Kombination zweier sich literarhistorisch weitgehend ausschließender bzw. ablösender Erzählmodi im Rahmen eines höchst experimentellen Romangefüges tatsächlich ist, soll hier nicht beurteilt werden. Fraglich ist jedoch, ob die Lenkungs- und Vermittlungsbemühungen Koeppens seine Intention ausschließlich gestützt haben, ist hier doch der Rezeptionsvorgang deutlich stärker vom Autor vorgezeichnet als im ›Ulysses‹, wo der Leser die Integration der Erzählsplitter ganz und gar selbst zu leisten hat. Koeppen stand dem Postulat des nouveau roman, den Erzähler »abzuschaffen«, höchst skeptisch gegenüber: Was wäre gewonnen, wenn man das Ich, den Erzähler wegließe und nur die Welt, die er, der nicht in Erscheinung tritt, beobachtet, zeigen würde? Das wäre ungefähr das von Robbe-Grillet in seinem Roman »La Jalousie« angewandte Prinzip. Aber RobbeGrillet hat die Methode zu Tode gehetzt und ist gescheitert. Der Roman war ohne Leben. Dennoch ließe sich in der Art des Kameraauges manches so schön kalt berichten, überbelichten, durch die Lupe vergrößern, den Lauf anhalten, beschleunigen,
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Ebd., S. 76. Hans-Ulrich Treichel: Das Geräusch und das Vergessen. Realitäts- und Geschichtserfahrung in der Nachkriegstrilogie Wolfgang Koeppens, in: Wolfgang Koeppen, hg. v. Eckart Oehlenschläger, Frankfurt a.M. 1987, S. 47–74, hier S. 56f.
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die Bilder montieren, und der unsichtbare, aber ja doch wirkende Erzähler bliebe als Unperson von vornherein geheimnisvoll.130
Insofern stellt Koeppens Methode einen Kompromiss dar, der einerseits die ›Leblosigkeit‹ des rein experimentellen Romans vermeidet, sich andererseits durchaus die technischen Möglichkeiten eines von einem »wirkenden Erzähler« bewusst und ausgewogen eingesetzten Kameraauges zunutze macht. 2.2.5 »Verbal scraps of urban life« – Montage und Mythos »The true protagonist of Ulysses is neither Bloom, nor Stephen, but the language«,131 bringt Gilbert Joyce Virtuosität im Umgang mit seinem Material auf die prägnanteste Formel. Joyce schöpft das lautliche und visuelle Potential der englischen Sprache aus, beherrscht alle historischen und regionalen Ausprägungen sowie die gesamte Bandbreite der Soziolekte. Der Autor des ›Ulysses‹ ist ein Meister der englischen Sprache. Wie kein zweiter hat er sie in ihrer Komplexität Gestalt werden lassen. Seine Sprache umfaßt vom archaischen Wortlaut bis zur modischen Redensart, von abstrakter Begrifflichkeit bis zu poetischer Bildlichkeit, von gepflegter Hochsprache bis zu unflätigem Slang oder deftigem Dialekt, von flüchtiger Umgangssprache bis zu exakter Farbbezeichnung, von knappster Formulierung bis zu kompliziertester Periode alle nur denkbaren Ausdrucksbereiche, bezieht eine Abfolge historischer Stile der englischen Literatur mit ein und bringt in Klang und Rhythmus suggestive Wirkungen von seltenem Reiz hervor.132
Dabei klingt im ›Ulysses‹ kein harmonischer Erzählton (wie in gewisser Weise noch im ›Portrait‹ oder etwa in den Romanen Thomas Manns); die Herausbildung dominanter stilistischer Muster wird immer wieder jäh unterbrochen, da jedes Kapitel (zumindest von den ›Wandering Rocks‹ an) seinen eigenen komplexen Darstellungsmodus, seine eigene Sprache besitzt. Das Auge des Lesers wird zu einem spielerischen und flexiblen Umgang mit dem Wortmaterial gezwungen. Die Besinnung auf die materiellen Beschaffenheiten, das Spiel mit ihren Ausdrucksmöglichkeiten und Uneindeutigkeiten, das bewusste Herausstellen der Materialität des Wort-, Bild- oder Klangkunstwerks sind grundlegende Merk-
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Koeppen: Vom Tisch, S. 9. Gilbert: James Joyce’s Ulysses, S. 82. Eberhard Kreutzer: Sprache und Spiel im ›Ulysses‹ von James Joyce, Bonn 1969, S. 1. Es ist schier unmöglich, die sprachliche Fülle des ›Ulysses‹, die unzähligen Variationen des Sprachspiels, auf einige grundlegende Beobachtungen zu reduzieren, die einem Vergleich mit Koeppen als Ausgangsbasis dienen können. Eine nur auf die ›Wandering Rocks‹-Episode beschränkte Analyse kann die Vielzahl der Anregungen, die von Joyce Roman ausgegangen sein mögen, keineswegs umfassend herausarbeiten; eine Analyse, die alle stilistischen Phänomene des ›Ulysses‹ katalogisiert und systematisiert, wäre allerdings ein utopisches Projekt.
male der ästhetischen Reflexion der Moderne. Joyce arrangiert das Sprachmaterial als visuelle Zeichen auf der Seite, wodurch der orthographische Effekt ebenso bedeutsam wird wie die Klanggestalt. Die durchgängige Aussparung von Interpunktion und Redemarkierungen (etwa Anführungsstriche), die Kursivierung von Liedelementen und Zitaten aller Art, das beständige Spiel mit Buchstabenpermutationen, Satzumkehrungen, bizarrer Orthographie, Abkürzungen (H.E.L.Y.’S), Akrosticha, der Einfügung musikalischer Notation (U 17.808) tritt neben die individuellen Besonderheiten der auffälligen Kapitellayouts von ›Aeolus‹ (Zeitungsstil mit Schlagzeilen), ›Circe‹ (Dramatisierung), ›Ithaka‹ (Verhörstil) und ›Penelope‹ (fortlaufender Textfluss ohne jegliche Interpunktion). Selbstverständlich bleiben besonders dem mit ›A Portrait of the Artist‹ vertrauten Leser gewisse stilistische Vorlieben des Autors nicht verborgen, etwa die Qualifizierung eines Figurennamens durch eine unmittelbar folgende Partizipialkonstruktion oder Adjektivreihung (»Cashel Boyle O’Connor Fitzmaurice Tisdall Farrell, murmuring, glassyeyed« (U 10.919f.)) oder die Vermeidung von komplexen, hypotaktischen Satzperioden. Stattdessen verwendet Joyce lieber ein Partizip oder die Konjunktion ›and‹. Diese polysyndetische Verknüpfung ist in den ›Wandering Rocks‹ besonders auffällig: »Father Conmee smiled and nodded and smiled and walked along Mountjoy square east« (U 10.54). Im letzten Abschnitt wird das nüchterne ›Auffädeln‹ von Fakten, die katalogisierende Auflistung von Orts-, Personennamen und Titeln auf die Spitze getrieben: Between Queens- and Whitworth bridges lord Dudley’s viceregal carriages passed and were unsaluted by Mr Dudley White, B. L., M. A., who stood on Arran quay outside Mrs M. E. White’s, the pawnbroker’s, at the corner of Arran street west stroking his nose with his forefinger, undecided whether he should arrive at Phibsborough more quickly by a triple change of tram or by hailing a car or on foot through Smithfield, Constitution hill and Broadstone terminus. (U 10.1184–1190)
Die Erzählung enumeriert lediglich Fakten in temporaler Sequenz (zur Betonung der Simultaneität wird gelegentlich auch die Konjunktion ›while‹ verwendet) und leistet keine interpretative bzw. kausale Verknüpfung und Hierarchisierung. Ebenso wird auf eine Reduktion des peinlich detailliert referierten Tatsachenmaterials auf die den Handlungsfortgang motivierenden Fakten und somit auf »any sense of telos«133 verzichtet: »Master Patrick Aloisius Dignam’s came out of Mangan’s, late Fehrenbach’s, carrying a pound and a half of porksteaks.« (U 10.534f.) Joyce legt hier bezeichnenderweise keinerlei Wert auf stilistische Variation – etwa der Inquitformeln »he/she said« oder »he she/asked«; nur an wenigen Stellen wird diese einfachste Form der Redemarkierung ersetzt – z.B. durch ein »cried« (U 10.269) oder »explained« (U 10.292).
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Lawrence: The Odyssee of Style, S. 87.
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Joyce nutzt auch in den ›Wandering Rocks‹ die sensuelle Qualität der Sprache, indem er die Wahrnehmungswelten der Figuren mit anschaulichen Komposita individualisiert: »treeshade,« »sunnywinking,« (U 10.16) und »inkshining« (U 10.31) gehören zur Staffage der Idylle, die Father Conmee zu umgeben scheint; er verzichtet nicht auf die für den ›Ulysses‹ so charakteristischen onomatopoetischen Wendungen wie »pigeons roocoocooed« (U 10.347), »slow swingswong« (U 10.349), »bubbling suds« (U 10.261) und das »barang!« (U 10.282) der Glocke des Dieners an der Tür von Dillons Auktionsräumen – zum »bang!« (U 10.693) gedämpft, sobald der Diener der Verwünschung von Mr Dedalus gewahr wird. In kleinste Erzähleinheiten drängen sich heterogene sprachliche Elemente aus den verschiedensten Erfahrungsräumen: Das Collageverfahren ist einer der prägnantesten Stilzüge des ›Ulysses‹, der sich als diskontinuierliches Gewebe sprachlicher Fragmente aus heterogenen Lebensbereichen des modernen Menschen darbietet. Die Koeppen-Forschung hat das in Kurzszenen fragmentierte Erzählverfahren von ›Tauben im Gras‹ seit den frühesten Rezensionen mit dem Stichwort »mosaikartig« auf eine treffende Formel gebracht. Diese Mosaiksteine bzw. Punkte sind die Vielzahl von Figuren, Milieus, Situationen, Handlungen, Impressionen, Dialogen, Bewusstseinsvorgängen, Perspektiven – und immer wieder Bestandteile alltäglicher Großstadterfahrung, die dem Roman »das Design des Konkreten« verleihen.134 Hieraus wird nun in besonderem Maße der Einfluss ersichtlich, den die Techniken der Moderne auf Koeppen ausübten. Bereits 1928 hatte Alfred Döblin geschrieben: In den Rayon der Literatur ist das Kino eingedrungen, die Zeitungen sind groß geworden, sind das tägliche Brot aller Menschen. Zum Erlebnisbild der heutigen Menschen gehören ferner die Straßen, die sekündlich wechselnden Szenen auf der Straße, die Firmenschilder, der Wagenverkehr.135
Eben diese Bestandteile des Erlebnisbildes des Menschen in der Nachkriegszeit flicht Koeppen in seinen Roman ein, treibt Nägel mit unmittelbarer Referenz auf die greifbare Wirklichkeit durch sein episches patchwork und greift damit auf die Innovationen eines visuellen Verfahrens zurück, mit dem auch Joyce vertraut war. Hugh Kenner nennt ›Ulysses‹ ein Buch »made not of mere sonorous words which neither hurt nor nourish, but of cups and saucers, chairs and tables, sticks and stones«136 und umreißt damit prägnant die Affinität des Romans zum synthetischen Kubismus, der Integration von Realien, greifbaren Fakten in die Wortwelten dichterischer Imagination. Die synthetischen Kubisten klebten papiers collés, Fragmente greifbarer Realität (Zeitungsausschnitte, Fotographien,
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Heißenbüttel: Wolfgang Koeppen-Kommentar, S. 157. Döblin: »Ulysses« von Joyce, S. 131f. Hugh Kenner: Homer’s Sticks and Stones, in: James Joyce Quarterly VI:4 (1969), S. 298.
Speisekarten etc.) in ihre Werke; der Reiz dieses Verfahrens griff über die Grenzen der bildenden Kunst hinaus: Als die herausragenden Meister der literarischen bzw. epischen Collage sind neben Joyce der Amerikaner John Dos Passos und in Deutschland Alfred Döblin zu nennen. Bei John Dos Passos, mit dessen Werk sich Koeppen in den ersten Kriegsjahren vertraut machte, kann durchaus eine Adaption von narrativen Techniken des ›Ulysses‹ angenommen werden, da ›Manhattan Transfer‹ 1925, die ›U.S.A.‹-Trilogie ab 1930 erschien.137 Dos Passos führt in ›U.S.A.‹ das Verfahren zur Perfektion, das er bereits fünf Jahre zuvor in seinem Tagesroman ›Manhattan Transfer‹ (1925) ansatzweise erprobt hatte: Er bedient sich im ersten Band, ›The 42nd Parallel‹ (1930), vier verschiedener narrativer Modi, um sein Objekt Amerika aus vier Blickwinkeln zu betrachten, die jeweils als Stilisierungen von unterschiedlichen Diskursformen des frühen 20. Jahrhunderts konzipiert sind: Neben »narratives«, kurzen Erzählsträngen, die die Handlungen und Erlebnisse verschiedener Figuren dokumentieren,138 treten »camera eye«-Passagen, in denen die Reflexionen und Impressionen eines (vermutlich autobiographisch angelegten) Ich quasi stenographisch in Form des Inneren Monologs aufgezeichnet werden, »biographies«, in denen zentrale Figuren des zeitgenössischen Amerika (von Eugene Debs über Carnegie, Edison, bis zu Robert La Folette) portraitiert werden; die »Newsreels« schließlich sind Dos Passos Versuch, »the clamour, the sound of daily life« zu simulieren, indem er Werbeanzeigen, Fragmente von Zeitungsartikeln und Schlagzeilen mit Songelementen zu Sektionen montiert, die nicht nur das chronologische Skelett des Romans ausmachen, sondern gleichzeitig die Kräfte der Massenmedien repräsentieren, die auf die Charaktere und das »camera eye«-Subjekt wirken: MOON’S PATENT IS FIZZLE insurgent win at Kansas polls. Oak Park soulmates part take autoride says girl begged for her husband PIT SENTIMENT FAVOURS UPTURN Oh you beautiful doll You great big beautiful doll139
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Eight thousand to
Dies vermutet auch Manfred Durzak: Der Autor als literarischer Architekt?, S. 120. Dos Passos erzählerische Behandlung der »narratives« als eine choreographische Umsetzung von Großstadterfahrung steht in engem Verhältnis zu der Gestaltung der ›Wandering Rocks‹-Episode: Dos Passos rückt eine einzelne Figur in den Fokus einer Episode, verfolgt ihre Handlungen und Erfahrungen über eine gewisse Zeitspanne, lässt sie dann fallen, um sie ggf. an einem späteren Punkt der Handlung (oder in einem anderen Teil der Trilogie) wieder aufzugreifen. Diese Figur kann in einem späteren »narrative« durch die Perspektive der jeweils zentralen Figur wiederum in Erscheinung treten, oft als Element eines ›clusters‹ von Figuren. John Dos Passos: The 42nd Parallel, in: ders.: U.S.A., London 1966, S. 119–341, hier S. 119.
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Im ›Ulysses‹ vermischt sich das Idiom des Dichters mit dem Facettenreichtum des Dubliner Sprachenkonglomerates und Zitaten bzw. reproduzierten Sprachbestandteilen – verbalen »scraps of urban life«.140 Die Quellen, aus denen Joyce diese bezieht, sind ungleich zahlreicher als im Fall von Dos Passos: Literarische, philosophische Zitate und Bibelverse sind charakteristisch für Stephen Dedalus gelehrte Reflexionen, Werbetexte und Zeitungselemente treten meist in Verbindung mit der Gedankenwelt des Annoncenaquisiteurs Bloom auf, alle Charaktere sind als Objekte der unaufhörlichen Reizflut des 20. Jahrhundert durch die Bruchstücke von populären Liedtexten, Plakataufschriften, Abzählreimen ausgewiesen, ihre von Joyce mit höchstem Bewusstsein wiedergegebenen Jargons und Idiome repräsentieren die Facettierungen der Sprache Dublins im Jahr 1904.141 Mit der Vielzahl der unterschiedlichsten Charaktere dringt auch eine Vielzahl heterogener Erfahrungs- und Gedankenwelten in die Episode ein: Father Conmees Reflexionen sind durchsetzt mit Bibelzitaten, die bereits durch ihre Kursivierung ins Auge fallen: Im ersten Abschnitt leistet der Name des verstorbenen Paddy Dignam Conmees Assoziation der Eröffnungsworte der Eucharistie: »Vere dignum et iustum est« (U 10.4); die erste Sektion schließt mit einem Wort aus den Psalmen (Ps 119,21): »Sin: Principes persecuti sunt me gratis: et a verbis tuis formidavit cor meum.« (U 10.204) Der Ruf des Seemanns, »For England, home and beauty« (U 10.232ff., 10.1064), stammt aus dem Refrain des Liedes ›The Death of Nelson‹ (S. J. Arnold/John Braham), Lenehans Bemerkung zu M’Coy, »Leopoldo or the Bloom is on the Rye« (U 10.524), ist eine Anspielung auf einen populären Song von Edward Fitzgerald und Sir Henry Bishop: When the Bloom is on the Rye; das Lied My girl’s a Yorkshire girl am Kapitelschluss, in dessen Rhythmus Blazes Boylan seine Schritte setzt, stammt von C. W. Murphy und Dan Lipton; der Refrain wird wenige Zeilen später zitiert (vgl. U 10.1251–1257). Boylans Sekretärin Mrs Dunne lässt eine Ausgabe der ›Woman in White‹, eines Romans von Wilkie Collins in der Schublade verschwinden; ein ganzes trivialliterarisches Spektrum dieser Art bietet der Bücherkarren eines fliegenden Händlers, in dem Leopold Bloom nach Lektüre für Molly sucht.142 John Wyse Nolans Ausspruch in Bezug auf Bloom,
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Joyce zit. n. Budgen: James Joyce and the Making of Ulysses and Other Writings, S. 86f. In diesem Zusammenhang ist Joyce Tante Josephine zu legendärem Ruhm gekommen, da ihr die ehrenvolle Aufgabe zukam, Joyce in seinem selbstgewählten Exil in Paris mit »portable scraps of urban life«, d.h. Straßenbahnfahrscheinen, Theaterkarten, Zeitungsausschnitten etc. zu versorgen. (Vgl. James Joyce: To Mrs William Murray (5 January 1920), in: ders.: Letters I, S. 136; Joyce: To Mrs William Murray (early 1920), in: ders.: Letters I, S. 136; Joyce: To Mrs William Murray (2 November 1921), in: ders.: Letters I, S. 175 u.ö.) Genannt werden ›The Awful Disclosures of Maria Monk‹ (U 10.585), ein sensationeller (damals vielgelesener) Bericht einer Kanadierin über ihre Flucht aus einem Non-
»there is much kindness in the jew« (U 10.980), stammt von keinem Geringern als Shakespeare.143 Die Episode lebt neben der für den ›Ulysses‹ charakteristischen Durchdringung und Vermischung verschiedener Sprachen, Dialekte und Soziolekte144 auf besondere Weise von visuellen Versatzstücken der Alltagswelt Dublins: Das Schild mit der Aufschrift »Unfurnished Apartments« im Fenster der Eccles Street Nr. 7 taucht zweimal in verschiedenen Episoden auf (U 10.250 und 10.542f.), es fällt hinunter und wird wieder aufgestellt; das Flugblatt »Elijah is coming« setzt seinen Weg mit der Liffeyströmung fort und wird dreimal an verschiedenen Stellen erwähnt (U 10.294ff., 752ff., 1096ff.), wobei wiederum exakt die räumlichen Koordinaten genannt werden: Loopline bridge, Customhouse old dock, Georges Quay, new Wapping Street, Benson’s Ferry. Werbeinschriften und -plakate sind ein fester Bestandteil der Kulisse einer Großstadt; sie sind omnipräsent, werden von den Passanten stets eher unbewusst registriert. Joyce formuliert seinen Kommentar dazu anhand eines Plakates der Tänzerin und Schauspielerin Marie Kendall, das nicht weniger als viermal in der Episode von verschiedenen Charakteren wahrgenommen wird, die auf ihre eigene Weise darauf reagieren, es gleichgültig, abwertend, oder aber gar nicht zur Kenntnis nehmen. Miss Dunne beobachtet aus dem Bürofenster an »Dan Lowry’s musichall« mit weiblich-kritischem Blick »the large poster of Mary Kendall. […] Mustard hair and dauby cheeks. She is not nicelooking, is she? The way she’s holding up a bit of her skirt.« (U 10.380–383) Lenehan und M’Coy passieren ebenfalls das Musiktheater, »where Marie Kendall, charming soubrette smiled on them from a poster a dauby smile.« (10.495f.) Auch Master Dignam sieht »the image of Marie Kendall, charming soubrette, beside the two puckers.« (U 10.1141f.) Wenngleich Marie Kendall nur zweidimensional als Plakatfigur anwesend ist, so wird ihr dennoch geradezu ein Eigenleben im Rahmen der ›Wandering Rocks‹ zugestanden, einerseits durch das stets refrainartig wiederholte Epithet »charming soubrette«, andererseits durch die Tatsache, dass auch sie in dem abschließenden »showdown« nicht fehlt, wobei der unbestimmte Artikel an dieser Stelle beinahe am irritierendsten wirkt, so vertraut ist der Leser binnen kurzem mit dem Plakat geworden: »A charming soubrette, Marie Ken-
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nenkloster, pseudo-Aristoteles medizinisch-pornographisches ›Masterpiece‹ (U 10.586), Leopold von Sacher-Masochs ›Tales of the Ghetto‹ (U 10.591), Lovebirchs ›Fair Tyrants‹ (U 10.601); allein der pornographische Roman ›Sweets of Sin‹ (U 10.606), auf den schließlich Blooms Wahl fällt, ist nicht nachweisbar – und vermutlich Joyce eigene Zutat. Vgl. Shakespeare, The Merchant of Venice I iii, 153–154. Stephens italienischer Dialog mit Artifoni wäre hier ebenso zu nennen wie die zahlreichen umgangssprachlichen Wendungen – etwa im Gespräch von Stephens Geschwistern (»Crickey...«, U 10.274) oder die kolloquiale Grußformel von Simon Dedalus: »What’s the best news?« (U 10.885).
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dall, with dauby cheeks and lifted skirt smiled daubily from her poster upon William Humble, Earl of Dudley […]« (U 10.1220f.). Ein amüsantes, in höchstem Maße filmisch anmutendes Detail in dieser Episode sind die H.E.L.Y.’S-Werbeträger, »five tallwhitehatted sandwichmen«. Zunächst laufen sie vor Boylan die Tangier Lane entlang (U 10.310), setzen ihren Werbeauftrag in schöner Ordnung bis zu Moneypeny’s Corner fort (U 10.379), gehen weniger geordnet auf dem gleichen Weg zurück und werden schließlich durch das vorbeifahrende Gespann des Vizekönigs von Joyce in das große Finale eingewoben: »At Ponsonby’s corner a jaded white flagon H. halted and four tallhatted whiteflagons halted behind him, E. L. Y. ’S« (U 10.1236–1238). Mit der Inkorporation von Bestandteilen der sichtbaren Physiognomie einer Großstadt schließt Koeppen an die synthetischen Montageverfahren von Joyce und Dos Passos an. Schon zu Beginn wird die urbane Kulisse Münchens, mit dem allgegenwärtigen »Lautrauschen« und der visuellen Flut der Medien, denen die Bewohner der Großstadt pausenlos ausgesetzt sind, etabliert. Der Rahmen des Romans steht im Zeichen der Zeitungen, Krieg um Öl, Verschärfung im Konflikt, der Volkswille, das Öl den Eingeborenen, die Flotte ohne Öl, Anschlag auf die Pipeline, Truppen schützen Bohrtürme, Schah heiratet, Intrigen um den Pfauenthron, die Russen im Hintergrund, Flugzeugträger im Persischen Golf. […] Spannung, Konflikt. (TiG, S. 11)
Der Schluss greift die Stichworte ›Spannung‹ und ›Konflikt‹ wieder auf, schließt daran an und verkehrt sie in chiastischer Verschränkung: »Spannung, Konflikt, Verschärfung, Bedrohung […] Bedrohung, Verschärfung, Konflikt, Spannung.« (TiG, S. 219) Wie Joyce (und im Gegensatz zu Dos Passos) räumt Koeppen der Sprache der Zeitungen keine separierten Sektionen ein, sondern schiebt sie immer wieder assoziativ in die Erzählung, in die Bewusstseinsvorgänge der Charaktere ein, um ihre Eindringlichkeit, ihre Allgegenwart zu demonstrieren; die Schlagzeilen erhellen »wie Blitzlichter […] die Situation und verweisen auf die geschichtliche Stunde, lassen die weltweite Bedrohung nicht vergessen. Die unpersönliche Übermacht der augenblicklichen Weltlage kontrastiert zur persönlichen Ohnmacht der kleinen Leute.«145 Betrachtet man die Schlagzeilen im Überblick, so wird offensichtlich, dass die Mehrzahl dazu dient, das im Rahmen etablierte Motiv der unmittelbaren Bedrohung durch die Verschärfung des Ost-West-Konflikts, die Wiederbewaffnung Deutschlands, das Zerstörungspotential der Wasserstoffbombe im Roman präsent zu halten: »Konflikt verschärft sich« (TiG, S. 193), »USA gegen Präventivkrieg« (TiG, S. 37f.), »Angriff bedeutet Weltkrieg« (TiG, S. 54), »Superbomber in Europa stationiert« (TiG, S.27), »Erste Legion warnt vor Ohne-mich-Parole, Justizminister
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Bungter: Über Wolfgang Koeppens »Tauben im Gras«, S. 193.
sagt wer Frau und Kind nicht verteidigt, ist kein Mann« (TiG, S. 157), »Deutsche Wehrverfassung kommt« (TiG, S. 163), »Wissenschaftler warnen vor Anwendung« (TiG, S. 72). Die Ölkrise stellt einen zweiten thematischen Schwerpunkt dar, der mit ersterem eng zusammengeführt wird. Die Vergangenheit ist stets präsent in der Nachkriegstrilogie Koeppens – nicht nur in den Reminiszenzen der Figuren; zwischen die Zeitungsmeldungen der unmittelbaren Nachkriegsgegenwart werden Parolen aus der Vergangenheit, etwa der ›Markenzeit‹ gemischt: »Aufruf zweihundertsechzigeinhalb Gramm Weichkäse« (TiG, S. 21). Antisemitische Inschriften werden mit dem Rassismus parallel geführt; gerade durch diese Vermischung von Parolen aus der Zeit des Nationalsozialismus und Schlagwörtern der in den fünfziger Jahren höchst brisanten Apartheid konstruiert Koeppen ein Mahnmahl des Fremdenhasses: »Weiße unerwünscht […] Für Juden verboten […] vorwärts christliche Soldaten […] für Schwarze verboten […] Weiße unerwünscht, Schwarze unerwünscht, […] Juden unerwünscht« (TiG, S. 62f.), »Vernegerung, […] Rassenverrat« (TiG, S. 61), »Rassenschande, arischer Nachweis« (TiG, S. 138). Songs und deutsches, oft nationalistisch gefärbtes Liedgut sind Bestandteile des Klangbildes einer Epoche, um dessen sorgfältige Transkription Koeppen bemüht ist. Die Musik aus Odysseus Kofferradio erstreckt sich refrainartig über längere Passagen des Romans: »Night-and-day« wird ebenso wie »Candy-I-call-my-sugarcandy« (TiG, S. 59ff.) und »she-was-a-nice-girl« (TiG, S. 150ff.) viermal wiederholt (TiG, S. 27, 29, 30, 33), der Song »Bahama-Joe« gleich neunmal auf S. 38ff. Daneben hört man den »Limehouse Blues« (TiG, S. 33), »Jimmy’s-Boogie-Woogie« (TiG, S. 158), die Kinoorgel spielt »Stormy-weather« (TiG, S. 124). Mit diesen amerikanischen Songs vermischen sich die Reminiszenzen an die Hitlerzeit: Die ›Wacht am Rhein‹ (TiG, S. 39f.) wird ebenso beschworen wie das Andenken an den Führer mit dem ›Badenweiler Marsch‹ (TiG, S. 192); die Kapelle in der ›Glocke‹ spielt »Ich-schieß-den-Hirsch-im-wilden-Forst« (TiG, S. 80), im Bräuhaus brüllt man »gefühlsbetont […] Sah-ein-Knab’-ein-Röslein-stehn« (TiG, S. 192). Koeppen illustriert die ›multimediale‹ Verwirrung anhand des ältesten und vermutlich seiner Zeit am hilflosesten gegenüberstehenden Charakters, des Dienstmannes Josef. Er trägt pflichtbewusst Odysseus Kofferradio, aus dem eine Stimme spricht, die er nicht versteht, und Worte in fremden Lauten klingen, die ihm lediglich ein vages Gefühl der Furcht vermitteln: Die Stimme im Musikkoffer sagte: »Zypern.« Zypern war strategisch wichtig. Die Stimme sagte: »Teheran.« […] Die Stimme sagte: »Oil.« Und wieder war Rauschen, Lautrauschen, dumpfes Silbengeplätscher, der Strom der Geschichte rauschte vorüber, Josef saß am Ufer des Stroms, der Alte, der Müde, der Abgekämpfte, noch blinzelnd nach Abendglück, unverständlich war der Strom, unverständlich das Geplätscher, einlullend das Silbenrauschen. […] »Appell an den Haag«, sagte die Stimme. (TiG, S. 81f.)
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Damit wird offenkundig, dass Koeppen sich nicht nur der Schlagzeilen und Radiomeldungen bedient, um seinen Roman historisch-politisch im Jahr 1951 zu verankern, sondern auch, um den »Lärm für ein Jahrhundert« (TiG, S. 56), der die Deutschen betäubt, als entscheidenden Faktor der Nachkriegslethargie zu beleuchten; Film und Trivialliteratur sind neben Zeitungen und Radio maßgeblich daran beteiligt. Alexanders Film »Erzherzogliebe« und sein idealisiertes, zweifelhaftes Heldentum sind durchweg präsent, Rezensionsfragmente treten neben Filmwerbung: »Alexander spielt den Erzherzog, der deutsche Superfilm, der Erzherzog und die Fischerin […] Alexander, die Liebe des Erzherzogs […] Eine deutsche Superproduktion.« (TiG, S. 13f.), »Ein Superfilm.« (TiG, S. 116), »Erzherzogliebe ein Erlebnis auch für Sie« (TiG, S. 151), »Alexander im Gespräch mit Pippin dem Kleinen, Bund erwägt Kulturpfennig stiftet Akademie. […] Erzherzogliebe, Bessere Filme im neuen Deutschland, liegt es am Drehbuch, Dichter an die Filmfront.« (TiG, S. 182) Das Groschenheft, das bezeichnenderweise die bornierte Frau Behrend liest, »Das Schicksal greift nach Hannelore« (TiG, S. 21), ist Koeppens zynischster Kommentar zu der resignativen, versteckt eingeschobenen Schlagzeile »Neorealismus nicht mehr gefragt« (TiG, S. 183). Gefragt ist anspruchslos-affirmative Unterhaltung; die Menschen werden in der Sicherheit trivialer Plots gewiegt, banale Melodramatik dient als emotionales Ventil: »Unsterbliche Leidenschaft gnadenlos ergreifendes Arztschicksal« (TiG, S. 42). Die Inventur der ›Großen‹ dagegen erfolgt bezeichnenderweise in Emilias Onanierszene vor dem Bücherregal: Baudelaire, Benn, Proust, Gide, Philosophen wie Heidegger und Kierkegaard liefern aus »zerlesenen vergeblich befragten Bänden« nur mehr Versatzstücke einer Masturbationsphantasie: les fleurs du mal […] une saison en enfer: il semblaît que ce fût un sinistre lavoir, toujours accablé de la pluie et noir, Benn Gottfried frühe Gedichte, La Morgue ist – dunkele-süße – Onanie, les paradis artificiels auf den Holzwegen […] in den Fußangeln Heideggers […] à la récherche du temps perdu, […] das Geworfensein, Kierkegaard Angst tagebuchschreibender Verführer nicht zu Cordelia ins Bett, Sartre der Ekel […] Admet der junge Gide in Biskra l’Immoraliste […] die Sphinx Cocteau (TiG, S. 35f.)
Die Meldung vom Tod André Gides geht verloren unter den Banalitäten in der Klatschrubrik des Abendechos: »Kater des argentinischen Konsuls entlaufen, André Gide gestern verschieden« (TiG, S. 95). Philipps Wahrnehmungswelt ist eine weitgehend literarische; so ist Emilia für ihn gleichermaßen Jekyll, Hyde und Ophelia: »Emilia meine Ophelia: o-pale-Ophélia-belle-comme-la-neige« (TiG, S. 147). Edwins Vorbilder, Goethe und Platen, werden als repräsentativ für dessen verklärenden Idealismus vorgestellt, der in scharfe Antithetik zum ernüchternden Bild des zerstörten Nachkriegs-München tritt. Die Werbung bedient sich nur wenige Jahre nach dem Holocaust wieder der Illusion einer heilen Welt, um die ›wahren‹ Nachkriegsideale zu propagieren: »Besucht das schöne Deutschland« 76
(TiG, S. 85), »Dachgarten über den Ruinen Cocktailstunde« (TiG, S. 42). Es sind die Vereinigten Staaten, die die Maßstäbe für eine Wohlstandsgesellschaft setzen: »Chikago packt tausend Ochsen pro Minute« (TiG, S. 20), »you can sleep soundly tonight mit Maybels Magnesium Milch« (TiG, S. 50), »the gift that stars the home« (TiG, S. 50). Aus den zitierten Beispielen wird ersichtlich, dass Koeppen keineswegs der weitgehend stenographischen Registrierung von audiovisuellen Alltagserscheinungen eines Dos Passos folgt, sondern seine Einsprengsel der Alltagswirklichkeit einer sorgfältigen Selektion und Anordnung unterzieht und sie mithin zu ironischen Effekten arrangiert, wie in der folgenden Kombination von Werbespruch und Zeitungsmeldung: »Rote Offensive, Kinder lieben Ludens Drops« (TiG, S. 61). Ein konstitutives Charakteristikum moderner Literatur ist die Nutzbarmachung des Mythos. Wie die Alltagswirklichkeit liefert auch der Mythos, einst Glaubensund Traditionsgrundlage, Basis nationaler Identität und Grundstein eines kulturellen Gedächtnisses, die Versatzstücke des Gedankengutes einer Epoche. Im ›Ulysses‹ wird die ›Odyssee‹, das Epos schlechthin, zum strukturellen Muster, sie begründet mit dem archetypischen Schema der Reise die Dreiteilung des Romans in die Telemachiade (Kapitel 1–3), die Odyssee proper (Kapitel 4–15) und die Heimkehr (nostos, Kapitel 16–18); darüber hinaus ist sie das Fundament der episodischen Grundform: Jeder Episode im ›Ulysses‹ (mit Ausnahme der ›Wandering Rocks‹) entspricht eine Station des griechischen Helden. Die kompositorische Funktion der mythischen Projektionsgrundlage wird ergänzt durch ein symbolisches Referenzverhältnis: Zahlreiche Motivstränge des ›Ulysses‹, die Gestaltung der drei Protagonisten in Anlehnung an Odysseus (Bloom), Telemach (Stephen) und Penelope (Molly) verweisen auf den homerischen Prätext, eröffnen eine Konfrontation des modernen mit dem antiken Epos, lassen Analogien wie parodistisch-ironische Verkehrungen hervortreten. Tindall bezeichnet den ›Ulysses‹ als »far from mock-heroic« und fährt fort: »Joyce is not retelling Homer’s myth, but using it for a story of his own. […] Ulysses parodies the Odyssee only in the sense of using it to enlarge by resemblance and difference the actions and people of a Dublin day.«146 Levine stellt fest: »that title is a provocation by which a text is brought into deliberate collision with a powerful predecessor. […] The more detailed our knowledge of Homer’s epic, the stronger the echoes with Ulysses. The more precise, too, our sense of difference.«147 Die ›Odyssee‹ gibt insofern das Fundament der von Joyce erstellten Korrespondenzschemata zum ›Ulysses‹ ab, jedoch keinesfalls im Sinne eines fixen
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Tindall: A Reader’s Guide to James Joyce, S. 129. Jennifer Levine: Ulysses, in: The Cambridge Companion to James Joyce, hg. v. Derek Attridge, Cambridge 1990, S. 131–151, hier S. 131f.
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Sinnhorizonts.148 Vielmehr eröffnet der Bezug des ›Ulysses‹ zu einem Referenzsystem über die Vertrautheit des Lesers mit dem Mythos ein Spiel mit Lektüreerwartungen, da bereits jeder Episodentitel einen Erwartungshorizont bezüglich Handlungsverlauf, Personen und Motivik entstehen lässt. Weit entfernt davon, eine kontinuierliche mythische Symbolstruktur zu verfolgen, bedient sich auch Koeppen mythologischer Versatzstücke;149 die »Oberflächenstruktur« des Romans »wird transparent bzw. doppelbödig durch Assoziationen aus griechisch-römischer bzw. biblischer Antike und Literatur.«150 Die Motivkomplexe von ›Tauben im Gras‹ sind ebenso heterogen wie zahlreich, schöpfen ihre Bezugspunkte aus der greifbaren Realität (Öl, Jagd), aus der Bibel (Jakob/Rahel) sowie der mittelalterlichen und der modernen Literatur (Jekyll/Hyde, Artussage etc.); der (nicht nur in unserem Kontext) auffälligste Motivstrang verbindet die Prostituierte Susanne und Odysseus Cotton mit Figuren Homers: Susanne war Kirke und die Sirenen, sie war es in diesem Augenblick, sie war es eben geworden, und vielleicht war sie auch noch Nausikaa. Niemand im Lokal merkte, daß andere in Susannes Haut steckten, uralte Wesen; Susanne wußte nicht, wer sie alles war, Kirke, die Sirenen und vielleicht Nausikaa. (TiG, S. 152)
Gleich fünf Mal wird auf diese Parallele im Romanverlauf zurückgegriffen – stets unter Verwendung der gleichen sprachlichen Formel »Kirke und die Sirenen und vielleicht Nausikaa:«
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Diesen Eindruck erweckt die Studie Gilberts, die auf dem von Joyce erstellten Schema basiert. (Vgl. Gilbert: James Joyce’s Ulysses.) Martin Hielscher (Wolfgang Koeppen, München 1988, S. 80) erkennt eine fundamentale Differenz zwischen Koeppen und Joyce darin, dass in ›Tauben im Gras‹ die nach traditionellem Gattungsverständnis textfremden Elemente nicht Teil eines umfassenden, synthetisierenden Symbol- bzw. Motivschemas sind, sondern Fragmente der Physiognomie einer Zeit: »Die Sprache des Romans integriert Schlagzeilen, Titel und Zeilen von Songs, Reklame, Nazi- und Soldatenjargon, Radiomeldungen, Slang und zahlreiche Zitate aus Mythen, Märchen, Sagen, aus der Bibel und Volksliedern, aus Groschenheften und aus der Literatur, ja bisweilen ist die Sprache eines Abschnittes fast vollkommen aus Zitaten montiert. Im radikalen Gegensatz zu Döblin oder Joyce werden diese Zitate aber nicht von einem souveränen Erzähler in einen eindeutigen Verweisungszusammenhang gebracht. Sie werden zum Zeichen einer vollkommen gestörten öffentlichen Kommunikation, sie verweisen auf die moderne Kulturindustrie, die das Erbe des nazistischen Propagandaapparates nur allzu gut antrat.« Hielschers Feststellung mag für ›Tauben im Gras‹ durchaus zutreffen; die erwähnte Funktion der Montage inhomogener Elemente, mosaikartig den Alltag einer zeitgeschichtlichen Situation abzubilden, kommt jedoch auch den sprachlichen Verfahren des ›Ulysses‹ zu. Nur wenige dieser sprachlichen Versatzstücke sind Bestandteile eines übergeordneten Verweisungszusammenhangs. Jürgen Hein: Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras, in: Erzählen, Erinnern. Deutsche Prosa der Gegenwart. Interpretationen, hg. v. Herbert Kaiser u. Gerhard Köpf, Frankfurt a.M. 1992, S. 38–50, hier S. 44.
Da Susanne Kirke und die Sirenen und vielleicht noch Nausikaa war, mußte sie Odysseus folgen. (TiG, S. 158) Susanne suchte Odysseus. Sie hatte ihm Geld gestohlen, aber da sie Kirke und die Sirenen und vielleicht auch Nausikaa war, mußte sie wieder zu ihm gehen und konnte ihn nicht in Ruhe lassen. (TiG, S. 188) Susanne, die Kirke und die Sirenen und vielleicht auch Nausikaa war, hielt Odysseus umschlungen. […] Odysseus hatte fliehen, Odysseus hatte sich verstecken müssen, man hatte ihn nicht gefangen, der große listenreiche Odysseus war den Häschern entkommen, er hatte Susanne Kirke die Sirenen betört, oder sie hatten ihn betört, und vielleicht hatte er Nausikaa erobert... (TiG, S. 196) Sie lagen zusammen, weiße Haut, schwarze Haut, Odysseus, Susanne Kirke die Sirenen und vielleicht Nausikaa, […] sie lagen unschuldig auf einem Floß, das in die Unendlichkeit segelte. (TiG, S. 215)
1963 beschreibt Koeppen seine Eindrücke von der Sprache des nouveau roman mit den folgenden Worten: Ein kühnes, dichtes, üppiges Wortgespinst […] oft interpunktionslose Prosa, seitenlange Sätze, den Zugang wehrend, wer spricht? was spricht? von wem, von was ist die Rede? was geschah? geschah überhaupt etwas? wann? damals? jetzt? wen berührt es? wer unterlag? wer litt? wer will es hören? wem wird es erzählt? und mit welchem Gewinn? kaum eine Wegmarke, Komponenten der Erinnerung und der unmittelbarsten Schöpfung, Worte aus Worten geboren; doch überläßt man sich dem Strom, wird man reich belohnt.151
Diese Beobachtungen treffen gleichermaßen auf ›Ulysses‹ und ›Tauben im Gras‹ selbst zu. Koeppens Wortgespinste entspringen einfachsten syntaktischen Fügungen, einfachster Lexik, bilden Auswüchse, refrainartige Wiederholungen, Verkettungen, wuchern zu endlosen rhythmisierten Reihungen – wie in Josefs Alptraum: An der Pforte des Spitals stand Odysseus. Aber er war nicht der freundliche, freigebige Odysseus der Stadtwege. Es war der Odysseus vom Domturm, ein gefährlicher und zu fürchtender Teufel. Er war eins mit der Teufelsfratze des Turmvorsprungs geworden, der Teufelsfratze, auf die er seinen Namen und seine Herkunft geschrieben hatte; ein schwarzer Teufel war Odysseus, wirklich, ein böser schwarzer Teufel; er war nichts als ein ganz gewöhnlicher fürchterlicher Teufel. Was wollte der Teufel von Josef? War Josef nicht immer brav gewesen […]? War die Pflichterfüllung Sünde gewesen? Die Pflicht Sünde? die Pflicht, von der alle redeten, schrieben, schrien und sie verherrlichten? Hatte man ihm nun die Pflicht angekreidet, wie nicht bezahltes Bier auf der Tafel des Wirtes? […] er hatte getötet, er hatte Menschen getötet, er hatte Reisende getötet; er hatte sie getötet am Chemin-des-Dames und im Argonnerwald. Es waren die einzigen Ausflugsziele seines Lebens gewesen, Chemin-des-Dames, Argonnerwald, keine schönen Gegenden, und dorthin war man ausgeflogen, um zu töten und um getötet zu werden. […] War es gerecht, daß er nun für diese angekreidete 151
Koeppen: Was ist neu am Neuen Roman?, S. 365f.
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und nie gestrichene Schuld des erzwungenen Tötens dem Teufel übergeben wurde, dem schwarzen Teufel Odysseus? (TiG, S. 132f.)
Ausgehend von einer in ein simples Satzgefüge gekleideten realistischen Schilderung gewinnt die Sprache mit dem Traum an Eigendynamik: Odysseus nimmt satanische Züge an, das Wort »Teufel« wird in repetitiver Verkettung achtmal aufgegriffen, die einfache parataktische Satzstruktur wird durch Variation ausgedehnt, wird kurz aufgegeben, um dann in einer Reihung geradezu kindlich-naiver, teilweise elliptischer Sprachformeln aufzugehen. Die Antithetik von »Pflicht« und »Sünde« in der staccatoartigen Abfolge rhetorischer Fragen wird durch die Epipher »getötet« abgelöst, die nun den Sprachstrom dominiert, bis sich durch das Wiederaufgreifen der Leitbegriffe des Traumanfangs – »Teufel« und »Odysseus« – die verbale Klammer schließt. Dieser Absatz ist typisch für den meist in assoziativer Klimax organisierten verbalen Strom, der in seiner repetitiven Dynamik und den oft ungewöhnlichen, pathetischen Wortverbindungen (»Wildtöteraugen« (TiG, S. 81)) expressionistisch anmutet. Neben der recht einfachen Lexik liegt dem für ›Tauben im Gras‹ so charakteristischen Stil ein überwiegend parataktisches Satzmuster zugrunde, bei dem die Satzgrenzen häufig nur durch Kommata getrennt sind; durch syntaktische Parallelstrukturen innerhalb der rhythmisierten Wortgefüge entsteht, von Anaphern (oder wie in obigem Beispiel durch Epiphern) unterstützt, der Eindruck »eines hämmernden Staccato«:152 »Häuptling Odysseus König Odysseus General Odysseus Generaldirektor Mister Odysseus Cotton Esquire« (TiG, S. 81). Die wirkungsvolle rhetorische Gestaltung schlägt sich am deutlichsten in den zwei Rahmenabschnitten nieder: Spannung, Konflikt, man lebte im Spannungsfeld, östliche Welt, westliche Welt, man lebte an der Nahtstelle, vielleicht an der Bruchstelle, die Zeit war kostbar, sie war eine Atempause auf dem Schlachtfeld, und man hatte noch nicht richtig Atem geholt […]. Die Flieger, die am Himmel rumorten, waren die Flieger der andern. (TiG, S. 12) Spannung, Konflikt, Verschärfung, Bedrohung. Am Himmel summen die Flieger. […] Bedrohung, Verschärfung, Konflikt, Spannung. […]. Deutschland lebt im Spannungsfeld, östliche Welt, westliche Welt, zerbrochene Welt, zwei Welthälften, einander feind und fremd, Deutschland lebt an der Nahtstelle, an der Bruchstelle, die Zeit ist kostbar, sie ist eine Spanne nur, eine karge Spanne, vertan, eine Sekunde zum Atemholen, Atempause auf einem verdammten Schlachtfeld. (TiG, S. 219)
Die ›Coda‹ greift die Formulierungen der ›Ouvertüre‹ auf, variiert sie minimal, aber bedeutungsschwer. Die im Schlussabschnitt chiastisch verschränkten Schlagworte Spannung, Konflikt, das Thema des Erzählbeginns, werden durch den plötzlichen Wechsel ins Tempus der Gegenwart aktualisiert und verschärft; die »Atempause« ist bereits »vertan,« die Welt in zwei Hälften »zerbrochen.« Dieses 152
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Bungter: Über Wolfgang Koeppens »Tauben im Gras«, S. 192.
effektvolle Beispiel widerlegt eindrücklich Bungters Urteil: »Diese Sprache registriert nur, sie speichert wie ein Elektronengehirn kleine Informationseinheiten in vorgeprägten Satzformen.«153 Auf der sprachlichen Ebene wiederholt sich das strukturelle Prinzip der Montagetechnik des Romans im Ganzen; weit entfernt davon, katalogisierender Dokumentarstil oder naturalistisches Stenogramm zu sein, weist ›Tauben im Gras‹ eine rhetorische Gestaltung auf, die, ausgehend vom alltäglichen Sprachgebrauch, diesen ins Ungewohnte verkehrt und verfremdet, mit Verweisen auf eine Instanz, die ordnend, wertend, handelnd dem dezentrierten Geschehen wieder ein Zentrum implantiert, die dem Sinnlosen wieder Sinn verleiht, dem Zerfallenen Zusammenhang gibt. […] Darstellung und Intention, Bewußtseinsstrom und allegorische Deutung fließen ineinander, die vielen Worte sollen wieder in einem Wort zusammenlaufen, dem »Zauberwort«.154
Koeppens Sprache ist eine beredte Antwort auf die Sprachskepsis der Nachkriegsjahre, indem er versucht, die Sprache in kunstvoller Schmucklosigkeit aus der fatalen ideologischen Indienstnahme durch den Nationalsozialismus herauszulösen und sich mit an Joyce geschulter experimenteller Verfremdung gegen »die erstarrte faule Konvention«,155 gegen ihre Aushöhlung und Entwertung durch die Massenmedien der Nachkriegszeit, das neue heraufziehende »Analphabetentum von Bildzeitungen, Comicstrips, Fernsehen«156 zur Wehr zu setzen: Offensichtlich ist die Sensibilität und Skepsis des Autors gegenüber der Sprache, die gesprochen wird, gegenüber der Sprache, die aus den Lautsprechern dröhnt, der Sprache, die Verständigung will und dabei in der Phrase erstarrt. […] Es scheint also, als wolle Koeppen die in ihrer Sprache ideologisch deformierte Welt durch den unendlichen Bilderreichtum seiner Romanfiktion bekämpfen.157
2.3
»Ich bin ein Zuschauer, ein stiller Wahrnehmer, ein Schweiger, ein Beobachter«158 – Koeppens schriftstellerisches Selbstverständnis
1928 bezeichnete Alfred Döblin den ›Ulysses‹ als »ein Experimentierwerk, weder ein Roman, noch eine Dichtung, sondern ein Beklopfen ihrer Grundelemente.«159
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Ebd., S. 195. Hielscher: Wolfgang Koeppen, S. 81. Wolfgang Koeppen: Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1962, in: GW, Bd. V, S. 253–261, hier S. 257. Ebd., S. 260. Scherpe: Die Realität eines nicht-realistischen Romans, S. 180f. Koeppen: Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1962, S. 253. Döblin: »Ulysses« von Joyce, S. 132.
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In der internationalen Moderne setzt – gleich, ob in der Bildkunst (Kubismus), Musik (Zwölftonmusik), dem neuen Medium des Films (Eisenstein, Vertov) oder in der Dichtung – eine Reflexion der jeweiligen künstlerischen Ausdrucksmittel, ein Bewusstmachen ihrer Medialität und »Gemachtheit« ein; die Werke selbst sind Dokumente dieses bewussten und spannungsvollen Umgangs mit den zentralen Parametern traditioneller Gattungskonzepte. In seinem Aufsatz zum nouveau roman beruft sich Koeppen auf Butor: »Der Neue Roman ist keine Theorie, er ist eine Untersuchung.« Dies ist insofern neu, als es den Schriftstellern erst heute bewußt ist, Untersuchende zu sein, während sie es früher ganz naiv waren. […] Butor nennt den Roman eine Suche. Wie fühle ich mich da angesprochen; selbst auf einem Weg, der zu nichts führt. Schon lange ist der Roman nicht nur auf der Suche nach der verlorenen Zeit, er sucht das verlorene, vielleicht nie zu findende Ich.160
Mit der »Frage nach der Möglichkeit, weiterhin subjektive Erfahrung in der Form von Erzählung, Erfindung, Fiktion mitzuteilen«,161 ist auch die traditionelle Rolle des Dichters als Verkünder einer unumstößlichen Wahrheit fragwürdig geworden. Koeppen gestaltet seine Erfahrung des großstädtischen Panoramas im Bewusstsein der zwiespältigen Situation des Beobachters, der doch gleichzeitig immer selbst Teil des Beobachteten ist: »Es ist dieses merkwürdige Bewusstsein, ein Einzelner in der Menge zu sein, das Leben der Menge zu teilen und zu führen und doch ein Wesen für sich zu sein, das durch diese Situation auch noch dazu gezwungen ist, zu einem Beobachter zu werden.«162 Dieses Dilemma verkennt Edwin, dessen verunglückte Rede im Amerikahaus die Inadäquatheit eines idealisierten Selbstverständnisses ironisch veranschaulicht und der von Philipp als einer »von den rührenden hilflosen gequälten Sehern« (TiG, S. 205) gewürdigt wird. Der Dichter der Nachkriegsgegenwart findet seinen Repräsentanten in Philipp: In der Spannung zwischen traditioneller Vorstellung vom Dichter als Verkünder der Wahrheit und neuzeitlicher Wirklichkeitserfahrung stehend, ist Philipp, der viele autobiographische Züge Koeppens trägt, verstummt, ein Leidender, dem die Worte fehlen, zu sagen, wie er leidet. […] Die geschichtlichen Erfahrungen der Vergangenheit und die naturwissenschaftlich-technische Entwicklung der Neuzeit haben die Weisheit des Dichters in Frage gestellt. Philipp wird mit dieser Situation noch nicht fertig.163
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Koeppen: Was ist neu am Neuen Roman?, S. 364f. Heißenbüttel: Literatur als Aufschub von Literatur?, S. 33. Gespräch mit Wolfgang Koeppen, in: Heinz Ludwig Arnold, Gespräche mit Schriftstellern, München 1975, S. 109–141, hier S. 130. Dieter Kafitz: Ästhetischer Radikalismus. Zur Kunstauffassung Wolfgang Koeppens, in: Wolfgang Koeppen, hg. v. Eckart Oehlenschläger, Frankfurt a.M. 1987, S. 75–88, hier S. 84.
Philipp artikuliert die Aporie, zum Beobachter eines Spiels von Kräften berufen zu sein, die er nicht mehr begreifen kann und deren Spielball er selbst ebenso wie jeder andere ist. Er mag ein ›Außenstehender‹, ein ›Sonderling‹ sein,164 er steht eben nicht außerhalb der Zeit, sondern trägt schwer an seiner eigenen Vergangenheit und fragt sich, ob er sich seiner »Bestimmung entzogen« habe (TiG, S. 28); die von Koeppen beschworene »Aufgabe […] des Beobachters, des Nichtteilnehmers« bleibt ihm letztlich versagt: er selbst hätte mit jedem Schritt und mehr als tausendmal am Tag seine Meinung zu den Verhältnissen in der Welt ändern können. ›Überschaue ich es denn‹, dachte er, ›kenne ich die Rechnung der Politik? die Geheimnisse der Diplomaten? […] kann ich die Wissenschaft noch verstehen? kenne ich die letzte Formel des Weltbildes, kann ich sie lesen?‹ (TiG, S. 164)
Der letzte Satz verweist auf die bemerkenswerte Nähe Philipps zu dem Physiker Schnakenbach: Eine Unendlichkeit! Aber eine Unendlichkeit zusammengefügt aus allerkleinsten Endlichkeiten, das ist die Welt. Unser Körper, unsere Gestalt, das, von dem wir denken, daß wir es sind, das sind nur lauter Pünktchen, kleine aller-aller-kleinste Pünktchen. […] Alles kann explodieren! Aber die Milliarden Kraftstationen sind für den kleinsten Augenblick, für unser Leben, wie Sand in die Form geweht, die wir unser Ich nennen.« (TiG, S. 215)
Die Erschütterung des Weltbilds der klassischen Physik durch die Quantenphysik und die Relativitätstheorie wird zum Symptom der Auflösung von Gegenständlichkeit, parallel geführt mit dem Zweifel des Dichters an der letztgültigen Wahrheit und der Darstellbarkeit von Wirklichkeit. Koeppen betont dabei stets die Analogie zwischen den Aporien und den neuen Ausdrucksformen der Dichtung und der Physik: Aber seit Proust […] haben sich die Kriterien des Romans, ja die Anschauungen über die Gesetze der Dichtung weitgehend geändert. Sie haben sich geändert, wie sich die Gesetze der Physik, unsere Vorstellungen von Raum und Zeit, geändert haben, und zwischen der neuen Physik und dem neuen Roman nach Proust gibt es Berührungen, die nicht berechnet, die nicht Nachahmung, nicht Anbiederung der Dichter an die Gelehrten sind, sondern der Ausdruck eines neuen Weltempfindens, eines gewandelten Daseinsgefühls, eines anderen Sehens, erweiterter Möglichkeiten des Denkens.165
Die Einsicht der Dichter, dass sich die moderne Welt in ihrer Struktur einer realistischen Mimesis entzieht, schlägt sich in einer ernüchterten, wissenschaftlich-forschenden Betrachtungsweise der eigenen Mittel und Ziele nieder: »Es
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Vgl. TiG, S. 163f. Wolfgang Koeppen: Marcel Proust und die Summe der Sensibilität, in: GW, Bd. VI, S. 175–180, hier S. 175.
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gab, es gibt vielleicht noch Schriftsteller, die Wirklichkeit einzufangen meinen, wir anderen forschen verzweifelt, was Wirklichkeit sei und wie man sie erzählen könne.«166 Das Erbe der literarischen Avantgarde, das Koeppens ›Tauben im Gras‹ in die fünfziger Jahre weiter getragen hat, ist genau diese Selbstreflexion des Romans, das »Beklopfen seiner Grundelemente.« Die Frage, ob diese Grundkategorien des Romans noch zur Abbildung der modernen Welt, gar zur Vermittlung von Wahrheit oder Sinn tauglich sind, beantworten Joyce und Koeppen folgerichtig mit dem Versuch ihrer Auflösung. Nach dem Zweiten Weltkrieg stellt sich die Frage der Moderne, ob eine Sinndeutung der erlebten Gegenwart überhaupt noch möglich sei, mit noch größerer Dringlichkeit. Die Bedeutung des Einzelnen verliert sich in der Masse des urbanen Erfahrungsraumes – oder in der Vernichtungsmaschinerie des Zweiten Weltkriegs! – das beschleunigte Zeitempfinden der Menschen, der Eindruck von Simultaneität widerlegen die Vorstellung eines kontinuierlichen, geordneten Nacheinanders, die Sprachen der Menschen und der Kunst sind übertönt vom Lärm der Massenmedien, die Erkenntnisunsicherheit und die Frage nach dem Dichter als Wahrheitsträger, als einer privilegierten Deutungsinstanz, gewinnt nach dem Holocaust eine völlig neue Brisanz. Von hier aus lässt sich die verspätete Adaption der formalen Innovationen des ›Ulysses‹ ebenso erklären wie die festgestellten Divergenzen, die Rückkehr Koeppens zu einer Form, die kritischer Artikulation, der Empörung des Autors angesichts der Restauration, des Vergessens, der Verschärfung des Ost-West-Konflikts, des »Grauens« angesichts der Tatsache, dass der Schauplatz möglicherweise für »ein neues blutiges Drama hergerichtet« wird (TiG, S. 101), Ausdruck zu verleihen vermochte. Marcel Reich-Ranicki gibt eine treffende Einschätzung dieses Sachverhalts, wenn er ausführt, Koeppen habe sich in den fünfziger Jahren manche Errungenschaft seiner Meister zunutze gemacht. Er hat jedoch nichts mechanisch übernommen, nichts kopiert. Der sich assoziativ fortspinnende innere Monolog, die Montagetechnik und der filmhafte Bildwechsel, die Simultaneität und der Pointillismus, der Perspektivenwechsel […], zumal der fast unmerkliche Übergang von der objektiven Darstellung in den Monolog, die Technik der Slogans und der Schlagzeilen – alle diese Mittel hat Koeppen weder erfunden noch in die deutsche Literatur eingeführt. Aber er ist der erste Schriftsteller, der sie mit virtuoser Selbstverständlichkeit zur epischen Bewältigung der deutschen Realität nach 1945 anzuwenden vermochte.167
Was sich im ›Ulysses‹ als ein gewaltiges Spiel darbietet, insofern es stets radikal zu Ende gedacht wird – sei es die unmittelbare Bewusstseinswiedergabe durch den stream of consciousness, die künstlerische Umsetzung von Simultaneität etc. 166 167
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Koeppen: Was ist neu am Neuen Roman?, S. 363. Reich-Ranicki: Der Zeuge Koeppen, S. 139f.
– mutet in ›Tauben im Gras‹ bei aller Analogie oft wie ein Rückschritt oder ein Kompromiss an, der sich der Innovationen des James Joyce reflektiert bedient, sich jedoch bei seinem Beharren auf den letzten Kontrollinstanzen des traditionellen Romans selbst zu hemmen scheint – eine These, zu der auch Sabina Becker in ihrem Aufsatz über Koeppen gelangt; dort heißt es, Koeppen ließe die Stadt nicht aus sich selber sprechen, sondern liefere stattdessen »eine kunstvolle Konstruktion – eine Vorgehensweise, die […] die behauptete Modernität seines Romans im Anschluß an den experimentellen Charakter desselben in Teilen widerlegt.«168 Auch ein Verweis auf den einmaligen Genius eines James Joyce und die Einzigartigkeit des ›Ulysses‹ ist nicht unberechtigt, er eignet sich jedoch nicht als Erklärung für die Intentionen Koeppens als Nachkriegsschriftsteller, der auf eine Abbildung und Kontrastierung unterschiedlicher, im Nachkriegsdeutschland wirksamer Ideologien und damit letztlich auf eine imaginäre »Befreiung
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Becker: Ein Verspäteter Modernist?, S. 103. Sabina Becker widmet sich in ihrer Studie der »Frage […], ob Koeppen tatsächlich ein Vertreter der in die Zeit nach 1945 verlängerten literarischen Moderne« sei. Ihre Antwort fällt überraschenderweise negativ aus: »Mit Blick auf die veränderten soziokulturellen und politischen als auch literarhistorischen Rahmenbedingungen dieser Epoche im Jahr 1951 ist eine solche Zuordnung sicherlich zu verneinen. Die Basis, auf der sich in den Zwanzigerjahren die literarische Moderne entfaltet hatte, ist entzogen« (ebd., S. 111f.). Ihren Ausführungen zur Erzählperspektive der ›Tauben im Gras‹ ist nicht zu widersprechen (vgl. ebd., bes. S. 103–108); auch der relativierenden Einschätzung Beckers ist zweifellos zuzustimmen, denn dass sich die historische Situation erheblich gewandelt hat, bedarf (ebenso wie die Tatsache, dass Koeppen – im Gegensatz zu Döblin, was Becker durchweg betont – in seinen in den Kriegsjahren entstandenen Romanen auf traditionelle »psychologische Romankunst« setze) wohl keiner weiteren Erläuterung. Dennoch überrascht, dass sie Koeppens Roman der Postmoderne zuschlägt (vgl. ebd., S. 112), da in ihren Augen die Unterschiede zwischen den »poetologischen und inhaltlichen Prämissen dieser Moderne auf der einen und Koeppens Romanen auf der anderen Seite […] mehr ins Auge [fallen] als die Gemeinsamkeiten.« Einen Gedanken Hielschers aufgreifend, spricht sie von einem »kalkulierten Rückgriff« Koeppens auf die Moderne: »Kalkuliert weil er zwar an die Verfahrensweisen dieser Moderne anschließt, seine Motivation für die Integration dieser Techniken sich zum einen jedoch erheblich von den Vertretern der Moderne unterscheidet und er zum anderen von dieser abweichende Ziele verfolgt.« (Ebd., S. 98.) Dem ist ausdrücklich zuzustimmen, dennoch schmälert diese Einsicht m.E. nicht die immense Wirkung der Avantgarde im allgemeinen und Joyce im besonderen auf Wolfgang Koeppen; schließlich folgt »Wirkung« bzw. produktive literarische Anverwandlung selbstredend nie einem 1:1-Mechanismus, da die überlieferten Techniken meist in eine neue gesellschaftliche Situation verpflanzt und an die jeweils eigenen werk- und wirkungsästhetischen Bedürfnisse eines Schriftstellers angepasst werden. Vielmehr ist zu fragen, warum sich das »Formenarsenal« der Moderne trotz der veränderten historischen und kulturellen Voraussetzungen als derart wirkungsmächtig erwiesen hat.
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vom ideologisch befangenen Bewußtsein« zielte.169 Koeppen stellt sich – als einer der ersten Schriftsteller nach 1945 – »der Herausforderung […], so etwas wie die Gesamtrealität der Nachkriegszeit in ihrem fragmentarischen Zustand und auch nach ihren im aktuellen Geschehen abwesenden und verdrängten Bedeutungen in Romanform zur Sprache zu bringen.«170 Damit nehmen die ›Tauben im Gras‹ im Nachkriegsdeutschland eine singuläre Stellung ein. Als der Roman 1951 erscheint, befindet sich der Literaturbetrieb noch in einer Phase beträchtlicher Stagnation. »Allein Wolfgang Koeppen«, so urteilt Scherpe rückblickend, »hat die von den Zeitgenossen so wenig geliebte moderne und kritische Erzählliteratur geschrieben«,171 deren Leistung gerade in der sorgfältig montierten Bestandsaufnahme der Gegenwart bestehe: Koeppens Roman »Tauben im Gras« ist prall gefüllt mit Figuren und Ereignissen, mit Fakten, Meinungen und Erfahrungen, die »allgemeingültig« sind für die deutsche Nachkriegszeit. […] Das vielfältige, für sich genommen eher kolportagehafte Geschehen, wird zum Zeitgeschehen dadurch, daß es durchsetzt ist mit den für die Nachkriegszeit in gewissem Sinne repräsentativen Handlungsweisen und Mentalitäten.172
Joyce hatte bereits eindrucksvoll die Grenzen des traditionellen Realismus und des Romans schlechthin aufgezeigt, warum also dieses Experiment wiederholen? Koeppen kann freilich nicht an einer Abbildung des Allgemeinmenschlichen in der epischen Dichte und panoramatischen Breite eines ›Ulysses‹ gelegen gewesen sein; die spezifische zeitgeschichtliche Situation verlangte ein selektives Kompositionsverfahren, das ohne eine vermittelnde Kontrollinstanz des Erzählers Gefahr lief, sich im naturalistischen Dokumentarstil zu verlieren. Joyce konnte besonders im Exil die Position des Beobachters einnehmen, die Koeppen verwehrt war, er konnte die politische Lage in Italien 1936 zweifellos überspitzt, aber dennoch höchst bezeichnend mit den folgenden Worten kommentieren: »For God’s sake don’t talk politics. I’m not interested in politics. The only thing that interests me is style.«173 Koeppen stand nicht außerhalb der Geschichte, bei ihm hatte sich was aufgestaut, da waren Wut und Trauer. Das explodierte. Das hängt mit der Weltgeschichte zusammen, ein wenig mit meiner Biographie. […] Ich mag das Wort »Innere Emigration« nicht. Ich haßte. Das nahm mir den Tag. Die Humanität kam wieder, die literarische Welt; man sagte es. Als die Zeit da war, enttäuschte sie mich. Die Stunde bedrückte auf andere Weise. Welche Wandlung hatte ich erwartet?
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Scherpe: Die Realität eines nicht-realistischen Romans, S. 183. Ebd., S. 160f. Ebd. Ebd., S. 167. Zit. n. Ellmann: James Joyce, S. 710.
Einkehr, nur weil ein Krieg verloren war, wo man den Sieg bejubelt hätte? Aus dieser Situation, Hoffnung und Abscheu, ist der Roman entstanden.174
Das auf Koeppens Joyce-Rezeption fußende »verspätete Stilexperiment« trifft nach der erschütternden Erfahrung des Zweiten Weltkriegs auf eine neue Weltlage: Wenn ich an 1945 denke, meine ich, daß von dort und damals eine Bewegung der Geschlagenen hätte ausgehen können, ein Glaube der Gewaltabsager, der Reumütigen, der Fahnenlosen, der Übernationalen, endlich der Brüderlichen guten Willens schlechthin. Unser reproduziertes Biedermeier, wie es sich in Filmen, Illustriertenromanen, Heiratsanzeigen, Couleurbändern, rheinischen Narrenkappen und wieder eingeknickten Leutnantsmützen zeigt, ist so absurd wie widerlich. Manchmal möchte ich über die zarte Pflanze unserer Demokratie weinen […] ich glaube nicht an den heiteren Tag.175
Koeppen und Joyce gleichen sich darin, dass sie »niemals durch Schreiben irgend jemandem etwas vermitteln wollen«176 oder glauben, etwas vermitteln zu können: »It would be a great impertinence for me to think that I could tell the world what to believe.«177 Wenn sich der Schriftsteller einer Gruppe verschreibt, verliert er den »archimedischen Punkt«178 des neutralen Beobachters,179 »wenn er sein Schreiben, sein Können, seinen Stil für politische Aufsätze einsetzt, dann ist er ein anderer Publizist.«180 Wenngleich ein literarisches Kunstwerk Koeppen zufolge nicht zugleich ein politisches Pamphlet sein kann, ist für ihn der Dichter mit seiner Berufung zum Provokateur, das Kunstwerk in seinem Artefakt-
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Wolfgang Koeppen: Selbstanzeige, in: »Einer der schreibt«, S. 30f. Mit ähnlichen Worten faßt Philipp in den ›Tauben im Gras‹ seine Haltung gegenüber dem Dritten Reich zusammen: »mir schlug die Stunde nicht, ich drückte mich durch die Diktatur, ich haßte aber leise, ich haßte aber in meiner Kammer« (TiG, S. 147). Wolfgang Koeppen: Wahn [1960], in: GW, Bd. V, S. 244–248, hier S. 247f. Koeppen: Gespräch mit Wolfgang Koeppen, S. 115. Padraic Colum: A Portrait of James Joyce, in: New Republic LXVI (May 13, 1931), S. 346–348, hier S. 347. Wolfgang Koeppen: Er schreibt über mich, also bin ich, in: GW, Bd. V, S. 349–351, hier S. 349. Bezeichnenderweise ist es Koeppens letzte publizistische Arbeit, in der er Joyce die Position des Beobachters zuschreibt, die ihm selbst verwehrt war: In seiner kurzen Rezension des Bildbandes ›Memoiren des Auges‹ von Gisèle Freund betrachtet Koeppen 1979 ebenso sensibel wie kenntnisreich die Fotos der jungen Fotografin als Momentaufnahmen aus den letzten Lebensjahren eines »Beobachter[s] der Schöpfung, der Schöpfer wird.« Vgl. Wolfgang Koeppen: Die Augen hinter der Lupe. Gisèle Freund und James Joyce, in: GW, Bd. VI, S. 509f., hier S. 509 [zuerst in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 137 (16. Juni 1979)]. Wolfgang Koeppen: Das gute Recht, zu schweigen. Gespräch mit dem Schriftsteller Wolfgang Koeppen [mit Hans Langsteiner], in: Literaricum 4 (1984), S. 38–49, hier S. 42.
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charakter und seinem bewussten Bruch mit der literarischen Konvention, durch seinen Dialog mit dem Leser per se engagiert: Ich habe später von der engagierten Literatur reden hören, und es verblüffte mich dann schier, daß man aus dem Selbstverständlichen […] eine eigene Mode machen wollte. Der Schriftsteller ist engagiert gegen die Macht, gegen die Gewalt, gegen die Zwänge der Mehrheit, der Masse, der großen Zahl, gegen die erstarrte faule Konvention, er gehört zu den Verfolgten, zu den Verjagten, und wenn er sich der Macht unterwirft, sich mit der Herrschaft verbündet, […] mag er vielleicht noch zu formaler Meisterschaft gelangen, bewunderungswert, aber er hat seine Seele eingebüßt, seine Berufung, seinen geheimnisvollen Auftrag, die Zukunft verraten, und sein wohlgedrechseltes Wort hallt kalt. Ich gehöre zu einem Stand, der vor allen anderen berufen ist und sich nicht scheuen darf, ein Ärgernis zu geben.181
Dieser Berufung, »ein Ärgernis zu geben«, ist Joyce wie kein anderer gerecht geworden – ohne sich dabei jedoch der Waffen der Tagespolitik zu bedienen. Vielmehr hat Joyce sein Publikum durch die permanente Enttäuschung von Rezeptionsgewohnheiten provoziert. Gerade diese aktive Rolle des Lesers, die das Erzählverfahren des ›Ulysses‹ erfordert, macht Koeppen für seine Kritik an der Restauration produktiv nutzbar. Der Rezipient muss aus dem passiven SichEinrichten in dem drohenden Konformismus aufgeschreckt werden. Daher wird der Leser nicht gelenkt, vielmehr sein Zugang zum Romangeschehen bewusst erschwert, werden mit der Zerstörung traditioneller Romankategorien alte Rezeptionsgewohnheiten erschüttert. Das experimentelle Erzählen des ›Ulysses‹ macht eine selbstgefällige Zufriedenheit im Vorhandenen, die die Lektüre eines nach konventionellem Muster verfassten Romans affirmiert, schlechthin unmöglich. Koeppens Roman fordert wie der ›Ulysses‹ eine eigenständige geistige Regsamkeit des Rezipienten. Unregelmäßigkeiten semantischer und syntaktischer Art, ein ver-rücktes Erzählen, sollen zugleich das Chaos der Welt ausdrücken und Anstoß zum Widerstand gegen den drohenden Konformismus geben. Indem Koeppens Dichtung auf konventionelle Sprach- und Erzählformen verzichtet, macht sie den Leser zum Teilnehmer der in ihr eingefangenen Wahrnehmungs- und Erkenntnisunsicherheit des Autors.182
Dichterischer Widerstand kann nur bei der Sprache ansetzen. Koeppen bezieht in seinen Romanen stets eine Gegenposition zur ›geglätteten‹, klischeehaften Sprache der Massenmedien; in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Büchner-Preises erklärt Koeppen 1962: Der Schreibende, so sehr er Mikrophon und Kamera und Scheinwerfer scheuen mag, wird sich dem neuen Analphabetentum von Bildzeitungen, Comicstrips, Fernsehen
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Koeppen: Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1962, S. 257. Kafitz: Ästhetischer Radikalismus, S. 79f.
und auf höherer Ebene von technischen Formen, die uns manipulieren, automatisieren, vielleicht zum Mond führen werden, stellen müssen […].183
Folgerichtig wendet sich sein sperriges, an die Formprinzipien der Avantgarde anschließendes Erzählen »gegen die konventionelle, abgegriffene Sprache der Öffentlichkeit, die den Zugang scheinbar leicht macht, deren Klischeehaftigkeit aber in Wirklichkeit nur erlaubt, daß Leser und Hörer ihre eigenen Erwartungshaltungen bestätigt finden.«184 Bei aller angebrachten Skepsis gegenüber der Möglichkeit des Dichters zum direkten politischen Widerstand, gegenüber dem revolutionären Potential von Literatur setzt Koeppen sein Vertrauen in das sprachliche Material des Kunstwerkes: »Wenn das Wortkunstwerk zustande kommt, erfüllt es aber doch in einer ganz anderen und geheimnisvollen Weise [einen] Veränderungsauftrag.«185 Seine Büchner-Preisrede schließt Koeppen mit dem dreifachen Glaubensbekenntnis: »Ich bekenne mich zu Georg Büchner. Ich bekenne mich zu dem Beruf des Schriftstellers. Ich glaube an das Wort.«186
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Koeppen: Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1962, S. 261. Ebd. Wolfgang Koeppen: Schreiben als Zustand. Gespräch mit Wolfgang Koeppen, in: Christian Linder: Schreiben & Leben: Gespräche mit Jürgen Becker, Peter Handke, Walter Kempowski, Wolfgang Koeppen, Günter Wallraff, Dieter Wellershoff, Köln 1974, S. 61–79, hier S. 65. Koeppen: Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1962, S. 261.
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3.
Arno Schmidt
3.1
»Zu spät!«1 – Schmidt, Koeppen und die verlorene Generation Arno Schmidt und ich waren Konkurrenten im Beruf, soweit wir den Beruf des Schriftstellers überhaupt als einen Beruf ansahen; ein Erwerb war er nicht. Wir waren Einzelgänger und wollten es bleiben. Unordentliche Leute im Ansehen der Welt. Eremiten wissen voneinander; die Kunde geht über Wüsten. Oasen des wartenden Auges, des lauschenden Ohrs. Wir hatten erste Beiträge des anderen zur Literatur des Nachkriegs gelesen, erschienen in Blättern, die überraschend gegründet und schnell gestorben waren. Ein Frühling im Nachregen eines Unwetters. Schmidt und ich waren, wie alle Schriftsteller dieser Welt, vor ein Problem gestellt, den Auseinanderfall, die Entfremdung, ja die Feindseligkeit von Literatur und Gesellschaft.2
Manch ein Zuhörer der Rede Wolfgang Koeppens anlässlich der Verleihung des Arno-Schmidt-Preises 1984 mag stirnrunzelnd auf dieses vergleichende Doppelportrait reagiert haben, das Analogien zwischen zwei Antipoden herauszuarbeiten sucht.3 Ein Harmonisierungsversuch Koeppens angesichts des feierlichen Anlasses? Freilich scheint die Persönlichkeitsstruktur Wolfgang Koeppens, des bescheidenen, lebenslang unterschätzten, sich selbst unterschätzenden und eher schweigsamen ›Eremiten‹, einem Meister der Selbstinszenierung wie Arno Schmidt diametral entgegengesetzt. Letzterer verwandte alle Kraft darauf – gemäß seiner
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Arno Schmidt: Dankadresse zum Goethepreis 1973 [27.7.–8.8.1973], in: ders.: Bargfelder Ausgabe, Werkgruppe III, Essays und Biografisches, Studienausgabe Bd. 4, Essays und Aufsätze 2, hg. v. der Arno Schmidt Stiftung, Bargfeld 1995 [im Folgenden zitiert als BA, Bd. III/4], S. 462–466, hier S. 463. Die Datierung der Manuskriptfassungen (so vorhanden) wird den jeweiligen Aufsatztiteln zur Ergänzung nachgestellt. Wolfgang Koeppen: Gedanken und Gedenken. Über Arno Schmidt, in: GW, Bd. VI, S. 418–425, hier S. 418. In derselben Rede berichtet Koeppen vom ersten Zusammentreffen mit Schmidt im Wartesaal des Stuttgarter Hauptbahnhofs, das von Alfred Andersch angeregt worden war, wobei es kaum verwunderlich scheint, dass die Dichter nichts Rechtes miteinander anzufangen wussten: »Schmidt, ein Schatten unter Schatten, ein Riese, der er anderenorts nicht war. […] Im Wartesaal schwiegen wir […]. Wahrlich, wir machten Karriere und schwiegen weiter.« (Ebd., S. 421.)
Devise: »lieber einmal zu oft und lieber einmal zu laut, als einmal zu wenig !«4 – aus der sicheren Distanz der selbst gewählten Einsiedelei seine Umwelt mit provokanten, wenn nicht aggressiven Attacken herauszufordern und sich bereits zu Lebzeiten zum Mythos und öffentlichen Ärgernis zu stilisieren. Koeppens Urteil jedoch beleuchtet nun gerade die Tatsache, dass beide Formen dichterischen Engagements – so entgegengesetzt in ihrer Erscheinung – auf demselben zeitgeschichtlichen Erfahrungshorizont fußen. Knapp zehn Jahre trennen den im Januar 1914 geborenen Schmidt von Wolfgang Koeppen, der 1906 zur Welt kam. Dabei verband sie jedoch die Begeisterung für Literatur: »Wir waren beide Leser, leidenschaftliche Leser.«5 Arno Schmidt hielt sich wie Koeppen für einen ›geborenen Leser‹, der zeitgleich mit seiner älteren Schwester mit drei Jahren das Lesen lernte und somit »nahezu ab ovo zum Bibliophagen (& zur Isolierung)«6 sowie »zum Wortschlemmer prädestiniert«7 war und berichtet, er habe »inmitten einer unliterarischen Familie alles bedruckte Papier verschlungen, was in Reichweite gelangte.«8 Trotz der Altersdifferenz darf man annehmen, dass Schmidt ähnliche Lektüreerfahrungen mit der Literatur der unmittelbaren Gegenwart wie Koeppen machte, zumal ihn nach eigener Aussage seine unverhohlene Affirmation des Expressionismus im Frühjahr 1933 um das Sehr gut auf dem Abiturzeugnis brachte.9 1933 war Schmidt 19, sein literarischer Werdegang war noch nicht so deutlich vorgezeichnet wie der Koeppens, im Gegenteil, innere Unsicherheit und eine unbefriedigende berufliche Situation (Schmidt arbeitete als Lagerstatistiker der Greiff-Textilwerke in Greiffenberg) prägten seinen Weg. Arno Schmidt ging nicht »Eulenspiegels Wege«; er war »6 Jahre Soldat – Dante war nur ein paar Tage in der Hölle«;10 er wurde 1940 zur leichten Artillerie eingezogen, der Krieg führte ihn über das Elsass nach Norwegen, vom Dienst in Schreibstuben nach seiner Flucht vom Fronturlaub in Schlesien zum Einsatz an der Westfront, schließlich in englische Kriegsgefangenschaft nach Brüssel. Koeppen kontrastiert die ungleichen Kriegserfahrungen: »Ich wollte werden, der ich zu sein glaubte. Fünf Jahre im Abseits. Schließlich in einem Keller überlebt. Arno Schmidt kam
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Arno Schmidt: Der Schriftsteller und die Politik [18.12.1956], in: ders.: Bargfelder Ausgabe, Werkgruppe III, Essays und Biografisches, Studienausgabe Bd. 3, Essays und Aufsätze I, hg. v. der Arno Schmidt Stiftung, Bargfeld 1995 [im Folgenden zitiert als BA, Bd. III/3], S. 327–329, hier S. 329. Koeppen: Das gute Recht, zu schweigen, S. 46. Arno Schmidt: Dichter & ihre Gesellen : Jules Verne [16.–18.8.1965], in: BA, Bd. III/4, S. 413–425, hier S. 416. Arno Schmidt: Begegnung mit Fouqué [27.3.1958], in: BA, Bd. III/3, S. 421–428, hier S. 421. Schmidt: Dichter & ihre Gesellen : Jules Verne, S. 416. Vgl. Schmidt: Begegnung mit Fouqué, S. 422. Arno Schmidt: Herrn H. J. [1948], in: BA, Bd. III/3, S. 42–47, hier S. 42.
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aus dem Feld, dem Graben, dem glühenden Panzer, der Uniform, […] kam vom alltäglichen Sterben, sinnlos dazu.«11 Nach dem Krieg fand Schmidt sich seines Besitzes, seiner »ganze[n] mühsam zusammengehungerte[n] Bücherei«12 beraubt, gleich Koeppen um wichtige Jahre dichterischer Entwicklung betrogen. Auch durch Schmidts autobiographische Stellungnahmen ziehen sich die Flüche des ›Zu spät !‹ wie der ›verlorenen Jahre‹; auch er war ein Opfer des Nationalsozialismus, ein später Angehöriger der ›verlorenen Generation‹: Dagegen stand über unserem Start – ja, über der ganzen Laufbahn – ein böses ›Zu spät !‹. Wir hatten ja nicht einmal SchreiPapier in jenen Jahren, dicht nach ’45; mein ›Leviathan‹ ist auf TelegramFormulare notiert, von denen mir ein englischer Captain einen halben Block geschenkt hatte. Es ist ein wunderlich Manuskript; und die heutigen jung=Unverstandnen, bei denen angeblich ›die Gesellschaft versagt‹, dürften sich getrost daraus entnehmen, was wirkliche Sorgen sind, und was übermütige Wehwehchen. Hinzukam die unwahrscheinliche Energieleistung, mit 35 noch einmal neu anzufangen; und die fehlenden Jahre, um die man uns betrogen hatte, möglichst wieder einzubringen.13
In einem Aufsatz aus dem Jahr 1952 (auf den noch zurückzukommen sein wird) versetzt sich Schmidts treuer Fürsprecher Alfred Andersch in die Position seines Freundes und reflektiert gerade dieses Dilemma: Denn die Kunst ist kein Schulzimmer, in dem nachgeholt wird, denkt er [A. Schmidt]. Möglich, daß wir zehn Jahre versäumt haben. Dann ist es eben unser Schicksal, daß wir sie versäumt haben. In der Kunst können Versäumnisse nicht eingebracht werden. Es ist unmöglich, die Situationen ausländischer Schriftsteller in den Jahren 1933 bis 1945 nachzuvollziehen. Daß das so ist, gehört zu unserer eigenen und unverwechselbaren Situation. […] In unserer Kunst wird gerade das zum Ausdruck kommen: daß wir sie zu spät gelesen haben.14
Der trotzige Grundton in Anderschs Interpretation ist ebenso fragwürdig wie das pauschale Verdikt, dass die Kunst kein Schulzimmer sei. Tatsächlich ist ausgerechnet diese Metapher zur Kennzeichnung der Situation der deutschen Literatur
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Koeppen, Gedanken und Gedenken. Über Arno Schmidt, S. 419. Schmidt: Herrn H. J., S. 42. Schmidt: Dankadresse zum Goethepreis 1973, S. 463. Vgl. hierzu auch Arno Schmidt: Zwei autobiografische Entwürfe, in: ders.: »Wu Hi?« Arno Schmidt in Görlitz Lauban Greiffenberg, hg. v. Jan Philipp Reemtsma und Bernd Rauschenbach, Frankfurt a.M. 1995, S. 9–24, hier S. 13, wo Schmidt sich als »Schriftsteller vom zweiten Range« klassifiziert, denn »wir haben keinen Mann ersten Ranges zur Zeit ! ; besser zu werden, haben mich ungünstige Umstände verhindert; man vergesse nie, daß mein erstes Buch erschien, als ich 35 Jahre alt war – also um 15 Jahre zu spät.« Alfred Andersch: Die Kunst ist kein Schulzimmer, in: ders.: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Kommentierte Ausgabe, hg. v. Dieter Lamping, Bd. 8: Essayistische Schriften I, Zürich 2004, S. 327–332, hier S. 331.
nach dem Zweiten Weltkrieg im Allgemeinen und Arno Schmidts im Besonderen nicht völlig von der Hand zu weisen. Schmidt zog sich hinter verschlossene Türen zurück, praktizierte einen Solipsismus und Kulturpessimismus, der – in seiner Skepsis gegenüber dem etablierten Literaturbetrieb, gegenüber der Öffentlichkeit überhaupt – weit radikaler und feindseliger als Koeppens Distanz war: Wir litten alle unter dem Trauma: Dies nicht wieder! Schmidt unterschrieb, soweit mir bekannt, keinen der vielen Aufrufe guter Kellergeister. Ich merkte erst später, daß es töricht und beleidigend war, mich zu fragen, ob ich gegen Krieg und Bomben sei. Ich sagte es in meinen Büchern. Schmidt ging weiter. Des Menschen alte Gefahr war die Schöpfung, nicht die Last der Waffen, die er auf sein gebrochenes Rückgrat lud, die Krankheit schrecklicher Tode, die er über sich rief. Schmidt organisierte sich nicht in staatlicher Ordnung. Er machte aber klug seinen stillen Frieden mit ihr, vor seiner verschlossenen Tür, weil er seinen Frieden haben wollte. Alles andere war töricht.15
Der Rückzug in den Solipsismus, das verbissene Aufarbeiten der verlorenen Zeit ist charakteristisch für Schmidt und seine spezifische Reaktion auf das schmerzliche Bewusstsein, als einer der jüngeren Schriftsteller der verlorenen Generation anzugehören; er ist sich ebenso wie Koeppen des unnatürlichen Verlaufs der von der Naziherrschaft erstickten künstlerischen Moderne in Parallelität zu seiner eigenen Entwicklung zutiefst bewusst: mein erstes Büchlein ist erschienen, da war ich 36 Jahre alt. (Umstände mehrerer Art, ausschlaggebend die Hitler-Barbarei, verhinderten ein früheres öffentliches Auftreten.) Wie unnatürlich das ist, macht der Leser sich gemeinhin nicht klar. Der organische Entwicklungsgang des GroßLiteraten […] ist ja etwa der : die ersten Gedichte, mit 16=17, in Schülerzeitungen. Das erste Heft Lyrik mit 20. Vor 30 noch die ersten ›Gesammelten Werke‹ in 6 halbstarken Bänden. (Mit 35 dann die Villa an der Costa oder am Bergli.)16
Schmidt nahm eine ungeheure Energieleistung auf sich, arbeitete mit Verbissenheit, um die verlorene Zeit wieder wettzumachen: »ALFRED DÖBLIN hat sich, als wir uns das erste Mal sahen, mein bißchen ›Werdegang‹ schildern lassen; ich machte das so kurz wie möglich ab; worauf er besorgt sagte : ›Sie werden viel arbeiten müssen.‹ Das habe ich getan.«17 Mit Arno Schmidt, dem »Einzelgänger par excellence«, fällt der Blick auf eine der eigenwilligsten ›Institutionen‹ innerhalb der deutschen Nachkriegsliteratur, »die jedem Versuch einer Einordnung widerstreben, aber in ihrer Relevanz für die deutsche Gegenwartsliteratur nicht zu leugnen sind.« Schmidt ist zweifellos ein einzigartiges Phänomen, ein Exot unter den deutschen Schriftstellern nach 1945, da er »sich um keinerlei Form des aktuellen Literaturbetriebs« küm-
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Koeppen: Gedanken und Gedenken. Über Arno Schmidt, S. 419. Schmidt: Dankadresse zum Goethepreis 1973, S. 463. Ebd., S. 464.
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merte, jedoch »immer stärker in Erscheinung getreten ist, ohne daß er selbst einen Schritt auf die literarische Öffentlichkeit zugetan hätte.«18 Ein Beitritt zur Gruppe 47 wäre für Schmidt niemals in Frage gekommen, wiewohl ihn Hans Werner Richter 1949 nach dem ›Leviathan‹-Vorabdruck und Anderschs Fürsprache zu einer Tagung einlud: Schmidt wollte aus demselben Grund nicht in die Gruppe wie Koeppen: er wollte keine Leute, war menschenscheu. Später, als ich ihn dann persönlich kennenlernte, habe ich […] festgestellt, daß er wirklich nicht zu uns gehörte. Wir verstanden uns gar nicht […]. Dazu war er viel zu kauzig.19
3.2.1
»Literarische Groß=Lieblinge« und »Kraftquellen« –, Arno Schmidts Verhältnis zur literarischen Tradition
Schmidts trotz der verlorenen Jahre gewaltiges Werk legt beredtes Zeugnis ab von dem mühsamen Prozess des ›Aufholens‹, ebenso seine nach dem Krieg neu aufgebaute Bibliothek. Nach Schmidts Tod beschreibt Koeppen seinen Eindruck von einem Besuch in Bargfeld wie folgt: Ein Haus aus Büchern für Bücher. Bücher bis unter die Balken eines schwachen Daches. Eine Bibliothek unvergleichbar jeder anderen. Sprachen nach Babel. Urlaute. […] Die Bücherei eines Dichters, eines Gelehrten, eines Sammlers, des Sonderlings. Schmidt wohnte in einer Lesemaschine, utopisch und antiquarisch.20
Seine »Cité des Livres«21 diente Schmidt sicherlich als Festung gegen die nach dem Krieg stets als feindselig empfundene Außenwelt, beweist aber auch seine akribische Bestandsaufnahme der literarischen Tradition, die er als Grundvoraussetzung des Dichterhandwerks betrachtete: Einzig das sei noch einmal betont, wie das Zustandekommen solcher umfangreichen Gebilde nicht wenig erfordert : die Kenntnis der für uns zuständigen, anregenden Vorgänger; was in meinem Fall den Zeitraum bedeutete, von LUKIAN und PHILOSTRATUS,
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Manfred Durzak: Der deutsche Roman der Gegenwart, Stuttgart 1971, S. 17. Hans Werner Richter: Exilautoren und Außenseiter in der frühen Gruppe 47 und Hans Werner Richters Schreibanfänge im Dritten Reich [Gespräch mit Volker Wehdeking am 6.10.1988], in: Volker Wehdeking: Anfänge westdeutscher Nachkriegsliteratur. Aufsätze, Interviews, Materialien, Aachen 1989, S. 173–191, hier S. 184f. Vgl. hierzu auch Gerd Ueding: Das Fehlen des Mondscheins auf dem Mond. Arno Schmidt und die Literaturgeschichte, in: Zettelkasten 12 (1993), S. 101–113, hier S. 103: »Schließlich lagen Welten zwischen Schmidts Prosa und allem, was auf den Tagungen der 47er zum gepflegt anstößigen Ton gehörte. Wer hat die Lehren aus Joyce oder Döblin oder Hans Henny Jahnn gezogen und sich nicht nur damit begnügt, die übliche Gesellschaftskritik in wohlfeile Prosa zu verpacken?« Koeppen: Gedanken und Gedenken. Über Arno Schmidt, S. 423. Arno Schmidt: Meine Bibliothek [9.–16.4.1964], in: BA, Bd. III/4, S. 361–368, hier S. 367.
bis WERFEL und SCHAEFFER. Eine nach Kräften fein gemachte und geübte Hand. Und endlich viel tausendstündige Mühsal.22
Schon vor dem Abitur beginnt der Sammler Schmidt mit seiner Materialrecherche zu Fouqué und legt mit der Beschäftigung mit diesem Autor den Grundstein für seinen ›privaten Kanon‹, der sich im Lauf seines Lebens festigt, auf den er immer wieder, wenngleich nicht unkritisch und widerspruchsfrei, zurückgreift, ihn in seltenen Fällen ergänzt oder beschneidet. Die Lektüre des Autodidakten Arno Schmidt ist sein Leben lang geprägt von seinem freilich oft exzentrisch anmutenden Interesse an unterschätzten Autoren; diese Funde werden integrale Bestandteile einer privaten Tradition, die er als Gegentradition zum germanistisch etablierten Kanon verstanden wissen will.23 Immer wieder finden seine »literarische[n] Groß=Lieblinge« Erwähnung in Schmidts Essays und Nachtprogrammen wie auch in seinem Erzählwerk: Jean Paul, Sir Walter Scott, Jonathan Swift, Laurence Sterne, Voltaire, Wieland, Brockes, Klopstock, Lessing, Ludwig Tieck, E. T. A. Hoffmann, Fouqué, Cooper, Edgar Allan Poe, Lewis Carroll, Jules Verne, Karl May, Schopenhauer, Schnabel, von Meyern, Däubler – und James Joyce. Schmidt misst den »gut=sichtbaren, weniger ›Reihen‹ als Knotengeflechte[n] der Weltliteratur« besondere Bedeutung bei, die er darauf zurückführt, daß es auch im geistigen Leben […] ausgesprochene ›Places d’Étoile‹ gibt, von denen generationenlang, nach allen Richtungen hin, immer wieder Lustwandler ausgehen – werden ja die meisten ›Dinge‹ ganz allgemein erst dadurch etwas, daß viele & möglichst bedeutende Individuen ihre Gedankenspiele damit koppeln.24
Laut Schmidt prägen die Lektüreerlebnisse eines Dichters diesen ebenso sehr wie seine lebensweltliche Erfahrung, »denn auch Bücher anderer sind letztlich ein Stück Außenwelt.«25 Umgekehrt folgt daraus, dass man aus der Bibliothek eines Schriftstellers, anhand des Wissens, »mit welchen Fasanen & Kapaunen er sein Bäuchlein gemästet,« entscheidende Rückschlüsse auf seine literarische
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Schmidt: Dankadresse zum Goethepreis 1973, hier S. 466. Interessante Informationen liefern Gaetjens Bestandsaufnahmen der Bibliothek Arno Schmidts (Dieter Gaetjens: Die Bibliothek Arno Schmidts, Zürich 1991; sowie Die Bibliothek Arno Schmidts oder Literatur entsteht nicht aus Philologie, in: Zettelkasten 13 (1994), S. 179–188), in denen er das »fast vollständige Fehlen der Literatur nach 1945« ebenso betont wie die Tatsache, dass es sich bei Schmidts ›think tank‹ um eine »Arbeits-« bzw. »Lesebibliothek« handelt – nicht um die »Bibliothek eines Sammlers« (ebd., S. 182). Schmidt: Meine Bibliothek, S. 366. Arno Schmidt: Über die Arbeitsweise Edgar Allan Poe’s. (1. Abhandlung) [21.–26.4.1964], in: BA, Bd. III/4, S. 373–388, S. 375.
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Prägung und somit auch auf sein Werk ziehen könne: »Wenn wir nur in jedem Falle wüßten, was die Autoren Alles so gelesen haben ! –«26 Mit dieser privaten Tradition, auf die sich Schmidt immer wieder beruft, sieht er sich durch Kongenialität verbunden, er erkennt in jedem Einzelnen der von ihm ›ausgegrabenen‹27 Autoren (bei allem kritischen Bewusstsein grundlegender Differenzen) »›seinen Gesellen‹ […]; ein Wesen von parziell=ähnlicher Geistes= oder Seelenlage, dessen Themen & ›Erfindungen‹ ihn deshalb faszinieren, weil sie beinah ›von ihm sein‹ könnten.«28 Diese Kongenialität ist es auch, auf deren Basis Schmidt eine produktive Aneignung ›fremden‹ Materials als gerechtfertigt ansieht: »Immerfort & überall bilden sich Materiebrücken, werden Gezeitenkräfte wirksam, wird der un= oder schlecht=benützte Einfall eines Vorgängers zur Kraftquelle.«29 Schmidts essayistisches und erzählerisches Werk trägt Spuren einer kenntnisreichen und reflektierten Auseinandersetzung mit der literarischen Tradition: »Wäre es nicht eigentliche Pflicht jedes guten Lesers, das Kontinuum zumindest der Literatur des eigenen Landes in sich herzustellen ?«30 Schmidt reiht sich (freilich nicht nur als guter Leser, sondern als Literaturschaffender) im Bewusstsein seiner Sonderstellung als Experimentator bzw. Wegbereiter in dieses Kontinuum ein: »Man sieht : was zuerst Experiment war, wird, sobald seine Brauchbarkeit erkannt ist, von selbst nachahmbare, fortsetzbare Tradition : der Experimentator zerstört nämlich mit nichten die Tradition, sondern erweitert sie nach vorn!«31
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Beide Zitate ebd., S. 364. Koeppen vertraute dem Gespür Schmidts auch für abseitige literarhistorische Funde: »Wenn Arno Schmidt einen ausgräbt, bedeutet das was. Für uns, für unseren Tag. Jetzt und hier.« (Koeppen: Gespräch mit Wolfgang Koeppen, S. 140.) Schmidt: Dichter & ihre Gesellen : Jules Verne, S. 415. Schmidt: Meine Bibliothek, S. 364. Arno Schmidt: Die Pflicht des Lesers [21.2.1955], in: BA, Bd. III/3, S. 190f, hier S. 191. Arno Schmidt: Literatur : Tradition oder Experiment [24.1.1957], in: BA, Bd. III/3, S. 338–341, hier S. 339. Schmidt umreißt das Verhältnis der modernen zur älteren Literatur, indem er auf der Grundlage des Verhältnisses von gesellschaftlichen Inhalten und literarischen Ausdrucksformen »2 große Gruppen« unterscheidet: »1.) die ›ältere‹, von HOMER (oder GILGAMESCH) an; und 2.) die ›neuere‹, die mit LEWIS CARROLL, ungefähr um 1870, beginnt. – « (Arno Schmidt: Sylvie & Bruno. Dem Vater der modernen Literatur ein Gruß ! [29.11.– 11.12.1962 und 25.1.–10.2.1963], in: BA, Bd. III/4, S. 246–264, hier S. 257.) Ganz im Sinne seiner Affinität zur Mathematik, wo zwischen der reinen oder theoretischen Mathematik, d.h. der Grundlagenforschung und der angewandten, im Sinne ihrer praktischen Nutzbarmachung für Nachbarwissenschaften wie Physik oder Astronomie, differenziert wird, fordert Schmidt auch eine Unterscheidung zwischen reinen und angewandten Literaten: »Die ›Reinen‹ ? : das sind die ganz=Schweren, die ›Unverständlichen‹; die, weit auf selbstge=macheteten 1=Mann=Pfaden ins Dschungel der Sprache & der ›konformen Abbildungen‹ vorgedrungen, mühsam, und mit noch=schwerfälliger
3.2.2 »mein Herz gehört James Joyce !«32 – Schmidts Würdigungen des ›Ulysses‹ und das Problem der Datierung seiner ersten Lektüre des Romans Die einschlägige Forschung ist einhellig der Meinung, dass Schmidt derjenige deutschsprachige Autor nach 1945 ist, der sich am nachhaltigsten von der Prosa Joyce beeinflusst zeigt: »To date, Arno Schmidt remains the postwar German author most heavily indebted to James Joyce.«33 Die persönliche dichterische Entwicklung Schmidts ist nun von seinem Verhältnis zu seinen ›Helden‹ nicht zu trennen; beides greift im Sinne eines dynamischen Prozesses erhellend ineinander. Schmidts Auseinandersetzungen mit anderen Autoren sind immer produktiver Natur, d.h. Reflexe eigener prosatheoretischer und -praktischer Bedürfnisse und Projekte. Seine Beschäftigung mit James Joyce hebt sich allerdings von seinem Rückbezug auf große Vorgänger ab;34 sie erscheint intensiver, nachhaltiger
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Hand, wie es dem Pionier geziemt, […] neue Kleinst=Beobachtungen fixieren; Neues neu benennen […] (ohne die Vocale & Consonanten zu schonen); die über neue, nach Errichtung dann leicht nach=kletterbare, Gerüste sinnen; und sich überhaupt, falls sie ›Glück haben‹, feiertagslos zu Tode schuften dürfen; (es kann auch schlimmer für sie ausgehen). / und außerdem gibt es eben noch die ›An=Gewandten‹ – die nebenbei bemerkt, 99,9 % der Schriftsteller ausmachen – : das sind Die, die ›das Geld‹ verdienen, und die NOBEL = & sonstigen Preise für Mittelmäßigkeit bekommen.« (Schmidt: Sylvie & Bruno, S. 264.) Zu welcher Gruppe Schmidt sich selbst zählt, dürfte unschwer zu erraten sein. Arno Schmidt: Das Buch Jedermann. James Joyce zum 25. Todestage, in: BA, Bd. III/3, S. 231–256, hier S. 234. Weninger: The Institutionalization of ›Joyce‹, S. 56. Die Joyce-Rezeption bei Arno Schmidt ist ein Problemfeld, das spätestens seit Robert Weningers Dissertation Einzug in die Schmidt-Forschung gehalten hat (Robert Weninger: Arno Schmidts Joyce-Rezeption 1957–1970. Ein Beitrag zur Poetik Arno Schmidts, Frankfurt a.M. 1982; eine sehr stark kondensierte Fassung seiner Thesen findet sich in seinem Aufsatz »The Institutionalization of ›Joyce‹«, bes. S. 53–56). Eng an die Dissertation Weningers, wenngleich mit einer gewissen Schwerpunktverlagerung in Richtung Psychoanalyse und Zeichentheorie, schließt sich die Monographie von Stefan Gradmann an: Das Ungetym. Mythos, Psychoanalyse und Zeichensynthesis in Arno Schmidts Joyce-Rezeption, München 1986. Zuvor hatten einige Aufsätze Jörg Drews, der gleichermaßen Joyce-Experte und Kenner Arno Schmidts war, zur Beschäftigung mit dieser Fragestellung angeregt (vgl. Jörg Drews: Work after the ›Wake‹, or: A first look at the influence of James Joyce on Arno Schmidt, in: Bargfelder Bote 19 (1977), S. 3–14 sowie ders.: Caliban casts out Ariel. Zum Verhältnis von Mythos und Psychoanalyse in Arno Schmidts Erzählung ›Caliban über Setebos‹, in: Protokolle 2 (1981), S. 145–160). Friedhelm Rathjen hat zwei umfang- und ergebnisreiche Monographien mit beträchtlichem Arbeitsaufwand der Auflistung von Zitaten, direkten und indirekten Anspielungen Schmidts auf Joyce und seine Werke gewidmet. (Friedhelm Rathjen: »schlechte Augen«: James Joyce bei Arno Schmidt vor »Zettels Traum«. Ein annotierender Kommentar, München 1988 sowie ders.: »...in fremden Zungen«: James Joyce bei Arno Schmidt ab »Zettels Traum«. Mit Nachträgen zu Schmidts Werk bis 1965.
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und ambivalenter, ja widersprüchlicher, reicht von euphorischer Würdigung bis zu polemischer Kritik, die Werk und Autor gleichermaßen attackiert. Schmidts Joyce-Essays müssen als subjektive Dokumente einer ›Wahlverwandtschaft‹ mit erhöhter Wachsamkeit rezipiert werden, wobei man der Tatsache Rechnung tragen muss, dass Schmidt häufig der Gefahr einer Projektion der eigenen Dichterpersönlichkeit in andere Autorenbiographien und Werke erliegt, und insofern hinter seiner publizistischen Beschäftigung mit anderen Schriftstellern nicht selten ein Selbstbekenntnis verborgen ist.35 So defizitär dabei der objektive Informationsgehalt der Essays bezüglich ihres Gegenstands ist, so erhellend ist das durchscheinende Selbstzeugnis des Autors Schmidt. In seiner prosatheoretischen und -praktischen Auseinandersetzung mit Joyce zeichnet sich ein für den Autor Schmidt prekäres Problem ab: Er wollte sich Zeit seines Lebens als literarischen Pionier begriffen wissen und legt Wert auf die Einschätzung, dass er – fast von jeder Seite ohne Zögern als »Avantgardist« eingestuft – seit Jahren das vergipste Gravitationszentrum des Gebrauchsdeutschen verlassen habe, und bewußt in den Randgebieten und Bayous unserer Sprache neue Wege suche (oder präziser : bahne). Ich gehe hier also lediglich vom Standpunkt des Pioniers aus, [der Worte nicht nur verwendet, um beim Bäckerjungen verständlich seine Morgensemmel zu bestellen; sondern um die Fülle der Erscheinungen linguistisch einzuholen, sie immer überlegener zu benennen ( also zu beherrschen ! ) und Neues sichtbar zu machen].36
Ein Autor, der so nachdrücklich wie Schmidt den innovativen, experimentellen Charakter des eigenen Werkes betont, wird die Nähe zu einem übermächtigen Vorgänger zwangsläufig als Bedrohung seiner literarischen Eigenständigkeit emp-
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Ein annotierender Kommentar, München 1995). Daneben liegen von Rathjen drei Sammelbände mit Aufsätzen zum Joyce/Schmidt-Themenkomplex vor: Dublin → Bargfeld. Von James Joyce zu Arno Schmidt, Frankfurt a.M. 1987; sowie das Pendant: Bargfeld → Dublin. Mit Arno Schmidt zurück zu James Joyce. Dialoge, Rezensionen, Komparatistisches, Frankfurt a.M. 1992; außerdem: Dritte Wege. Kontexte für Arno Schmidt und James Joyce, Scheeßel 2005. Des Weiteren publizierte Rathjen regelmäßig im ›Zettelkasten‹ Aufsätze aus dem Umfeld dieses Einflussverhältnisses, die nur teilweise Eingang in die genannten drei Sammelbände gefunden haben. Stefan Gradmann (Das Ungetym, S. 108) sieht in Schmidts Beschäftigung mit Joyce »ein systemgebundenes, von Schmidt folgerichtig und systematisch radikalisiertes MißVerständnis.« Dies lässt sich für den späten Werkabschnitt Schmidts, den Gradmann ins Zentrum seiner Darlegungen rückt, nicht leugnen, zumal die Etymtheorie und ihre literarische Umsetzung in ›Zettels Traum‹ belegen, dass dieses Missverständnis sich als höchst produktiv erwiesen hat. Dagegen scheint im Zusammenhang der vorliegenden Studie von größerer Bedeutung, dass sich das poetologische und prosapraktische Verhältnis Schmidts zu Joyce bis etwa 1960 durch eine bemerkenswerte Nähe beider Positionen ausweist, die auf einem tief greifenden Verständnis beruht. Arno Schmidt: Gesegnete Majuskeln [12.8.1954], in: BA, Bd. III/3, S. 107–108, hier S. 107.
finden; insofern ist Gradmanns Kennzeichnung der Begegnung Schmidts mit den Werken und der Person Joyce völlig zutreffend. Er sieht darin einen Prozess, in dessen Verlauf Schmidts oft außerordentlich heftige und emotional bestimmte Reaktionen starken Schwankungen unterworfen waren; dieser Prozeß, der von Bewunderung, Faszination und Ablehnung geprägt war, ist interpretierbar unter anderem als der Versuch der Emanzipation von […] Joyce.37
Von der vergleichenden Forschung verlangt dieser Emanzipationsversuch eine erhöhte kritische Aufmerksamkeit, da zum einen Schmidts Werturteile, seine Einschätzungen und Deutungen des Œuvre von James Joyce untrennbar mit seinen eigenen Intentionen, seinem eigenen dichterischen Entwicklungsprozess verbunden sind, zum anderen ein gewisser blinder Fleck der Selbsterkenntnis zumindest als möglich angenommen werden muss. Die bisher scharfsinnigste Einschätzung von Schmidts Verhältnis zu Joyce gibt Friedhelm Rathjen in seinem Aufsatz ›Nutzen und Bedrohung‹, in dem es heißt: Wenn wir das Werk Arno Schmidts in Relation zu jenem von James Joyce bringen, neigen wir gemeinhin dazu, den Begriff ›Einfluß‹ zu verwenden – und daß es in der Tat einen Einfluß des Iren auf Schmidt gegeben hat, steht wohl außer Frage. Dennoch ist der Einflußbegriff mit einem Vorverständnis von der Beziehung zwischen zwei Wortkünstlern korreliert, das kaum geeignet erscheint zur angemessenen Betrachtung dessen, was nach der Joyce-Lektüre mit dem Werk Arno Schmidts passierte. […] Je mehr Schmidt in ein fremdes Werk künstlerisch involviert war, desto größer war auch die Notwendigkeit, Minen auszulegen, mit deren Hilfe die Gefahren der Verstrickung in ein solches Werk abgewendet werden konnten […]. Schmidt ist im engeren Sinne keineswegs ein Nacheiferer des Iren; vielmehr eignet er sich dessen Werk an, und das heißt, er macht sich den Joyceschen Prosakosmos in jeder Hinsicht nutzbar. […] James Joyce stellte sich Schmidt als der (nicht ungefährliche) Idealfall jenes Mannes dar, der zum einen so hoch über der übrigen Literatur seines Jahrhunderts stand, daß er ihn nicht völlig ignorieren konnte, und der zum anderen eben auch in der Nutzanwendung auf Jahre hinaus fruchtbarer wurde als jeder andere. Arno Schmidt hatte keine Chance, zu kneifen; er mußte diesen Brocken irgendwie bewältigen, und das ist es, was er dann auch [sic] seine Weise ja schließlich auch tat.38
Schmidts Essays sind voll der Lobeshymnen auf Joyce ›Ulysses‹, den er zu »den wahren Spitzenleistungen der Prosagenialität«39 zählt und als das »Buch des Jahrhunderts«40 bezeichnet; an anderer Stelle heißt es, ›Ulysses‹ und ›Finnegans
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Gradmann: Das Ungetym, S. 10f. Friedhelm Rathjen: Nutzen und Bedrohung. Zu einigen Grundbedingungen der Joyceanisierung Arno Schmidts, in: Bargfelder Bote 156/157 (1991), S. 16–24, hier S. 16–23. Arno Schmidt: Bedeutend; aber... [3.–8.10.1959], in: BA, Bd. III/3, S. 495–500, hier S. 495. Arno Schmidt: Meine Bibliothek, S. 362. In Das Geheimnis von ›Finnegans Wake‹ ([15.–20.11.1960], in: BA, Bd. III/4, S. 32–54, hier S. 38) nennt Schmidt den ›Ulysses‹ lediglich das »Buch der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts« (ebenso in Schmidt: Jen-
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Wake‹ seien »2 der größten Bücher unserer Zeit«41 (ein Urteil, das im Fall von ›Finnegans Wake‹ nicht unproblematisch ist, wie im Folgenden zu sehen sein wird); Joyce selbst sei »viel zu wenig gekannt & geachtet.«42 Die emphatischste Würdigung jedoch stammt aus dem Jahr 1957 und erfolgte anlässlich der Kontroverse mit Georg Goyert:43 Der zweite Gipfel in der Kette der Joyce’schen Werke ist der ›Ulysses‹ : an seinen Hängen, in seinen Steilwänden, kann man alle Linien unterscheiden, jedes Glimmerplättchen blitzen sehen. Weit ist die Aussicht vom Gipfel; zukunftsweisend; denn hier hat Joyce eine neue Prosaform entwickelt, eine der möglichen neuen Arten, die Welt konform abzubilden. Und mehr : er hat gleichzeitig ein ganz großes Musterbeispiel gegeben, nicht auszulesen bis ans Ende des Angelsächsischen.44
Diese Urteile stammen sämtlich aus den Essays ab 1957; zum Zeitpunkt ihrer Publikation lagen die Nachkriegserzählungen, das Frühwerk Schmidts (worunter im Folgenden die Prosa vom ›Leviathan‹ bis zum ›Steinernen Herzen‹ begriffen werden soll) bereits vor. Greift man auf die Chronologie der Joyce-Rezeption bei Arno Schmidt zurück, wie sie in den bisher vorliegenden Studien zu diesem Themenkomplex bereits zum unkritisch weitergegebenen Gemeinplatz geworden ist, sieht man sich einem scheinbar unüberwindbaren Problem gegenübergestellt: Übereinstimmend datiert die Forschung die erste ›Ulysses‹-Lektüre Schmidts auf den Winter 1956/57, ausgehend von einem Passus in einem Brief von Schmidt an Alfred Andersch.45 Zudem beruft man sich auf eine Erwide-
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seits von Forschung und Textkritik. [3.–6.7.1961], in: BA, Bd. III/4, S. 78–86, hier S. 78), sicherlich nicht zuletzt in der Hoffnung darauf, dass er es sein werde, der mit ›Zettels Traum‹ das Buch der zweiten Jahrhunderthälfte vorlegt. Arno Schmidt: Der Mimus von Mir, Dir & den Mädies [17.–19.4.1964], in: BA, Bd. III/4, S. 369–372, hier S. 372. Arno Schmidt: Niemandes Betulichkeit. [17.12.1961–5.1.1962], in: BA, Bd. III/4, S. 170– 178, hier S. 176. Vgl. hierzu Kap. 3.3.1. Arno Schmidt: Ulysses in Deutschland. (Zum 75. Geburtstage von James Joyce) [7.9.1957], in: BA, Bd. III/3, S. 374–380, hier S. 374. Dort heißt es: »Nachdem ich 10 Jahre lang ein ›Nachahmer Joyce’‹ gescholten worden bin, habe ich nun endlich einmal, als Krawehl mir die deutsche und englische Ausgabe des ›Ulysses‹ mitgebracht hatte, mich an diesen gemacht – ein großer Mann, zugegeben : aber es besteht natürlich nicht die geringste Ähnlichkeit ! Nun, das sagten sie ja selbst – nun habe ich mir aber die Mühe gemacht, einmal 50 Seiten der Übersetzung zu vergleichen, und dabei wahrhaft haarsträubende Fehler feststellen müssen !« (Arno Schmidt: An Alfred Andersch (23. Dezember 1956), in: ders.: Der Briefwechsel mit Alfred Andersch, hg. v. Bernd Rauschenbach, Zürich 1985, S. 106.) Diese Datierung wird von Drews, Weninger, Rathjen und Gradmann ohne Einschränkungen zugrunde gelegt. (Vgl. Drews: Work after the Wake, S. 3–14; Weninger: Arno Schmidts JoyceRezeption 1957–1970, bes. S. 8ff.; ders.: The Institutionalization of ›Joyce‹, S. 53f.; Gradmann, Das Ungetym, bes. S. 7ff.; Rathjen: »...in fremden Zungen«, bes. das Kap. »Zur Chronologie von Schmidts Joyce-Rezeption«, S. 183–198, sowie ders.: »schlechte
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rung Schmidts auf Egon Holthusens Rezension von ›Brand’s Haide‹,46 in der Schmidt vehement eine ›Joyce-Nachfolge‹ mit der Begründung bestreitet: »Ich kann ihnen schwören, daß ich keine Zeile von Joyce kannte, als ich ›Brand’s Haide‹ schrieb.«47 Auch eine Replik von Schmidts Freund Alfred Andersch auf Holthusen wird als Stütze dieser Behauptung herangezogen: »Quatsch, sagt der Einkäufer, der Schmidt hat ja von diesem Joyce keine Zeile gelesen. Das is’ es
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Augen«, S. 183–198.) Friedhelm Rathjen datiert auf diesen Zeitpunkt auch die Übergabe zweier ›Ulysses‹-Ausgaben durch Krawehl an Schmidt – und erwähnt in diesem Zusammenhang eine bemerkenswerte Entdeckung: »Der Brief an Andersch wurde 1956 geschrieben; im Hebst desselben Jahres hatte Schmidt von seinem damaligen Verehrer Ernst Krawehl sowohl das englische Original als auch Georg Goyerts Übersetzung des Ulysses bekommen, wobei das Interesse an Joyce offensichtlich in zumindest zeitlichem Zusammenhang mit den (bald danach gescheiterten) Plänen einer Auswanderung nach Irland stand.« (Rathjen: Leidenschaft mit Widerhaken, S. 280.) Angesichts von Rathjens Befund stehen wir vor einer veritablen ›henn-and-egg‹-Situation, führt Rathjen in seinem Aufsatz doch aus, dass Schmidt 1960 in seiner Joyce-Bewunderung so weit ging, gar einen Umzug nach Triest zu erwägen: War Joyce für Schmidt wegen seiner Umzugspläne von Interesse – oder könnte nicht auch dieser Wunsch nach einer Übersiedlung nach Irland – mit dem Schmidt doch augenscheinlich zu dieser Zeit gar nichts (außer Joyce) verband – letztlich ein Reflex der Hochachtung vor Joyce gewesen sein? (Rathjen belegt diese Überlegungen Schmidts anhand eines Lesezeichens, das sich in Meyers Großem Konversations-Lexikon im Eintrag zu Triest befindet, und mit einem Verweis auf den Briefwechsel Schmidts mit Schlotter; vgl. Arno Schmidt: Brief an Eberhard Schlotter, 20.12.1980 [75], in: ders.: Der Briefwechsel mit Eberhard Schlotter, hg. v. Bernd Rauschenbach, Briefe III, Zürich 1991, S. 154.) Hans Egon Holthusen: Bärendienst für Arno Schmidt [1951], in: Bargfelder Bote 79/80 (1984), S. 17–18, hier S. 17. Darin heißt es: »Schmidt ist […] ein Erbe, kein ›Avantgardist‹; ein Nachfahre wie fast alle jüngeren Schriftsteller in Deutschland (und nicht nur in Deutschland), nur daß der Erblasser in diesem Fall nicht Rilke oder Eliot, Bert Brecht oder Valéry heißt, sondern Joyce. Schmidt hat innerhalb unserer jüngsten Literatur sozusagen eine empfindliche Lücke ausgefüllt: Die Joyce-Nachfolge war endlich fällig geworden. Und in der Tat: Das Druckbild ist dem des großen Iren und seiner amerikanischen Schüler täuschend ähnlich […], aber darüber hinaus ergeben sich nur wenige Vergleichsmöglichkeiten.« Diese nicht in allen Punkten schmeichelhafte Rezension, die Schmidt sicherlich in einigen Punkten sauer aufgestoßen ist, fordert einen Einspruch geradezu heraus; welcher Schriftsteller lässt sich widerspruchslos auf Kosten seiner Originalität als ›Nachfahre‹, d.h. als Epigone, wenn nicht gar als Plagiator klassifizieren – zumal wenn er sich mit der Emphase eines Arno Schmidt als Avantgardist und Pionier verstanden wissen wollte! Zitiert nach anon.: Mensch nach der Katastrophe, in: Der Spiegel 6 (1952), S. 31–32, hier S. 32. Die Formulierung »als ich ›Brand’s Haide‹ schrieb« gibt zu denken. Hätte Schmidt nicht, wenn er zum Zeitpunkt des Interviews (also immerhin vier Jahre vor der Datierung der ersten ›Ulysses‹-Lektüre durch die Forschung) mit dem ›Ulysses‹ nicht vertraut gewesen wäre, vielmehr angemerkt, dass er gegenwärtig noch keine Zeile von Joyce kenne?
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ja gerade!«48 Andersch wird zum Eideshelfer Schmidts in der Abwehr der Einflusshypothese und beschließt seine Polemik mit einem fingierten Einblick in Schmidts Gedankenwelten – mit dem er allerdings so falsch nicht liegt: Talent und Fleiß, denkt er, hat der Holthusen gesagt, muß ich aufbringen, und die großen sprachlichen Errungenschaften der zwanziger Jahre muß ich verarbeiten. Fleißig bin ich schon, überlegt er, der junge Spund in den Vierzigern (im gleichen Alter wie die meisten jungen Spunde, die in die deutsche Literatur rein wollen), aber Talent hab’ ich nicht die Bohne. Was ich hab’, ist Genie, und ich schreibe aus eigener Machtvollkommenheit. Und ich hab’ Gedanken und Themata, die keiner vor mir gehabt hat; und mich bewegen Sprachformen, die nur mir gehören. Und einer, der im Jahre 1952 schreibt, kann von einem, der im Jahre 1920 geschrieben hat, eigentlich gar nichts lernen. […] An welche großen alten Leute ich mich anschließe, und woher ich meine Anregungen und Stimmungen hole […], das bestimme ich allein. Und wenn der Rowohlt noch mal wagt, in den Waschzettel zu schmieren, ich schriebe so, wie Max Ernst malt, und setze fort, was Joyce begonnen, dann schreib’ ich ihm einen Brief, daß es nur so raucht. Ich schreibe nicht so, wie !49
1959 zitiert der ›Spiegel‹ Schmidts Erklärung, er habe »bis vor wenigen Jahren keine Zeile von Joyce gelesen«,50 und in einem Interview aus dem Jahr 1970 heißt es: Ich will es nur gestehen: Ich habe Joyce wirklich sehr spät kennengelernt, ganz einfach deshalb, weil man zu Hitlers Zeit in Deutschland solche Bücher überhaupt nicht bekam. Und nach dem Krieg war ich viel zu arm, um mir Bücher kaufen zu können. So habe ich Joyce erst kennengelernt, als ich Anfang 40 war [= nach 1954, M.J.]. Das heißt, ich war praktisch schon Arno Schmidt.51
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Andersch: Die Kunst ist kein Schulzimmer, S. 328. Andersch präsentiert in diesem Aufsatz seine Version von Schmidts erster Begegnung mit dem ›Ulysses‹: »Während man mit ihm Geduld hat, sitzt der Schmidt in seinem Flüchtlingszimmer in Kastel bei Saarburg (dem wievielten seiner Flucht?) und läßt sich vielleicht gerade den Ulysses kommen, denn der Holthusen hat geschrieben, er, der Schmidt, habe dem Joyce abgeguckt, wie er sich räuspert und wie er spuckt. Das will der Schmidt doch mal feststellen, wie das zugeht, wo er den Joyce doch gar nicht gelesen hat. Also schreibt er seinem Verleger oder irgendwem, er solle ihm mal den Joyce leihen, denn kaufen kann er ihn sich nicht.« (Ebd., S. 328.) Ausgerechnet durch Holthusens Rezension werde Andersch zufolge also Schmidts Neugierde auf den ›Ulysses‹ geweckt, in dem er schließlich »zum erstenmal […] blättert und gleich interessiert ist, weil ihn Genieluft daraus anwittert.« (Ebd., S. 329.) Diesen Gedanken einer ›self-fulfilling prophecy‹ greift Weninger auf: »Arno Schmidt came to be influenced by Joyce precisely because critics claimed Joyce had influenced him.« (The Institutionalization of ›Joyce‹, S. 54.) Ebd., S. 329f. Zitiert nach anon.: Arno Schmidt, in: Der Spiegel 20 (1959), S. 44–60, hier S. 48. Zitiert nach Gunar Ortlepp: »APROPOS: AH!; PRO=POE«, in: Der Spiegel 17 (1970), S. 225–235, hier S. 228.
Schmidts Diktum »Ich habe nichts gegen Lügen; aber ich hasse Unakkuratesse!«52 stimmt bedenklich. Er war ein Meister im Spurenverwischen, der die Wahrheitsliebe stets gegenüber dem Ziel der Selbststilisierung, der Wunschbiographie hintanstellte; hinzu kam, dass es ihm stets eine wahre Lust gewesen ist, die ungeliebte »Fielo=Lügnerei« an der Nase herumzuführen.53 Tatsächlich sprechen einige Indizien deutlich dafür, dass Schmidt Joyce bereits einige Jahre vor 1956 kannte. Es wäre recht verwunderlich, hätte ein umfassend belesener und von Natur aus mit Neugierde und einer geradezu akribischen Gründlichkeit begabter Mensch wie Arno Schmidt Joyce jahrelang ignoriert, besonders nachdem man ihn mit diesem stets verglichen hat. Darüber hinaus war es Schmidt – trotz des Tods seines Vaters, 1928, und des Umzugs der Familie von Hamburg nach Schlesien, der zeitlich ungefähr mit dem Erscheinen des deutschen ›Ulysses‹ koinzidierte – keineswegs unmöglich, den Band in der Stadtbibliothek Laubans zu rezipieren, die der lesewütige junge Schmidt eifrig frequentierte, da in »ihrem LeseSäälchen […] immer die neuesten expressionistisch’n Anthologien standn.«54 Unweit von Lauban, in Greiffenberg, kam es während der Zeit seiner Anstellung als Lagerstatistiker bei den Greiff-Werken (1937–1940) zu einer Freundschaft Schmidts mit dem vielseitig gebildeten und belesenen Johannes Schmidt, der sich im Gespräch mit Reemtsma daran erinnert, Arno Schmidt in einer Unterhaltung auf den Inneren Monolog hingewiesen und ihm daraufhin seine Ausgabe des ›Ulysses‹ geliehen zu haben.55 So zweifelhaft die Datierung der Joyce-Lektüre auf den Winter 1956/57 sein mag, die bisher erschlossenen Selbstzeugnisse erlauben keine grundsätzliche Widerlegung dieser Hypothese. Dennoch ist die Einstimmigkeit der SchmidtForschung angesichts dieser Problemlage gleichermaßen überraschend wie die Tat-
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Arno Schmidt: Schutzrede für ein graues Neutrum [27.12.1963–1.1.1964], in: BA, Bd. III/4, S. 347–350, hier S. 350. Arno Schmidt: Zettels Traum, Frankfurt a.M. 2002, Zettel 820 mu. Schmidt: Abend mit Goldrand, S. 153. Vgl. Johannes Schmidt: »...jene dunklen Greiffenberger Jahre«. Ein Gesprächsprotokoll aufgezeichnet von Jan Philipp Reemtsma, in: »Wu Hi?« Arno Schmidt in Görlitz Lauban Greiffenberg, hg. v. Jan Philipp Reemtsma u. Bernd Rauschenbach, Frankfurt a.M. 1995, S. 131–159, hier S. 158: »Eine Empfehlung Johannes Schmidts scheint keine Spuren hinterlassen zu haben – oder diese wurde später von Arno Schmidt, sei es bewußt, sei es unbewußt, verleugnet. Anläßlich einer Diskussion über Wieland und die Formen der Prosa […], wies Johannes Schmidt darauf hin, daß es neben dem Monolog, dem Dialog, der Briefform auch noch den ›inneren Monolog‹ gebe – und er zeigte ihm sein Exemplar der Goyert’schen Übersetzung des ›Ulysses‹. Johannes Schmidt meint, Arno Schmidt habe das Buch für kurze Zeit entliehen – ob er es allerdings gelesen habe, wisse er nicht, denn Arno Schmidt sei darauf nicht zurückgekommen.« Es ist höchst unwahrscheinlich, dass Schmidt den ›Ulysses‹ zurückgegeben haben soll, ohne auch nur einen flüchtigen Blick in das Buch geworfen zu haben, dessen Weltruhm ihm nicht entgangen sein dürfte.
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sache, dass man hier trotz aller gebotenen Skepsis gegenüber den Aussagen Arno Schmidts sein Wort zum Gesetz erhoben und vor der zumindest eingeschränkten Wahrheitsliebe Schmidts die Augen verschlossen hat, anstatt ihnen bei der Lektüre von Schmidts Nachkriegsprosa zu trauen, schien doch der Befund einer auffallenden Ähnlichkeit zwischen Joyce und Schmidt im Hinblick auf Sprache und Stil für die unvoreingenommenen frühen Rezensenten unübersehbar. Diese Ähnlichkeit war es auch, die Schmidts Fürsprecher als Argument zur Verteidigung des Kunstcharakters der Erzählung ›Seelandschaft mit Pocahontas‹ gegen den Vorwurf der Pornographie und Gotteslästerung ins Feld führten, und auf die man sich berief, als schließlich das Ermittlungsverfahren zur ›PocahontasAffäre‹ eingestellt wurde.56
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Vgl. zur sog. ›Pocahontas-Affäre‹ den Materialienband In Sachen Arno Schmidt ./. Prozesse 1 & 2, hg. v. Jan Philipp Reemtsma u. Georg Eyring, Zürich 1988. Im April 1955 hatte der Kölner Jurist K. Panzer gegen den Luchterhand-Verleger Eduard Reiffenscheid, den Herausgeber der Zeitschrift ›Texte und Zeichen‹ Alfred Andersch und Arno Schmidt als Autor der ›Seelandschaft mit Pocahontas‹ »wegen Gotteslästerung und wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften« Strafanzeige erstattet (vgl. ebd. S. 101ff.). In der vom Generalstaatsanwalt erbetenen Stellungnahme des Senates für Volksbildung vom 15. September 1955 wird betont, Schmidt habe »mit dem Kurzroman im Gefolge von Ernest Hemingway und James Joyce ein formales Experiment unternommen« (ebd. S. 134); in dem engagierten Gutachten Hermann Kasacks, des Präsidenten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, heißt es: »Es gibt eine Reihe von literarhistorischen Untersuchungen über den Strukturwandel des epischen Kunstwerks, in denen die Veränderungen der Erzählweise im 20. Jahrhundert gegenüber der des 18. und 19. Jahrhunderts grundsätzlich aufgezeigt werden. Große Beispiele dafür sind: Marcel Proust, André Gide, John dos Pasos [sic], James Joyce, Hermann Broch, Thomas Mann, Alfred Döblin, Franz Kafka usw. Es gibt in der ernsten Literatur aller Länder immer Dichter, die in dem, was sie schreiben, das Wagnis des Experiments auf sich nehmen. Ohne diesen Willen zum Experiment, wenn es auch häufig von der Zeitkritik abgelehnt wird, würde die Kunst in einem restaurativen Eklektizismus münden. Ich halte es durchaus für möglich, daß später einmal die Literaturgeschichte die Prosadichtungen von Arno Schmidt zu den notwendigen Sprachexperimenten unserer Zeit zählen könnte« (ebd. S. 173f.). Weiter wird festgestellt, dass die Handlung der Erzählung »in der schon von Joyce eingeführten Form des sog. ›inneren Monologs‹ vorgetragen« werde (ebd. S. 175). Das Gutachten Kasacks war ausschlaggebend für die Einstellung des sich über ein Jahr hinziehenden Verfahrens, die in der Verfügung vom 26. Juli 1956 unter Rückbezug auf Kasacks Einschätzung (vgl. ebd. S. 183) und einem erneuten Verweis auf Joyce begründet wurde, wobei sich freilich Parallelen zwischen dem ›Ulysses‹-Skandal und der ›Pocahontas-Affäre‹ aufdrängen (vgl. ebd. S. 183f.): »In der Tat finden sich z.B. in dem ›Ulysses‹ von James Joyce Stellen, die, wenn man von dem künstlerischen Wert dieses Werkes absehen würde, mindestens ebenso sehr, wenn nicht noch mehr geeignet wären, religiöse oder sittliche Ärgernisse zu geben als ›Seelandschaft mit Pocahontas‹.« (Ebd. S. 184).
Selbstverständlich haben eine undifferenzierte Gleichsetzung beider Autoren oder eine völlige Ignoranz gegenüber der Quellenlage57 keinerlei wissenschaftlichen Wert und sollen hier nicht ›rehabilitiert‹ werden; dennoch zeugt es von positivistischer Überheblichkeit, wenn man eine Vielzahl analoger, auf intensiver Lektüre, literarischer Analyse und darauf begründetem philologischen Befund fußende Urteile als »naiv« und »überholt« zu diskreditieren sucht. Eine primär auf punktuelle Verweise auf Joyce, direkte Anspielungen und Zitate abzielende Spurensuche mag eine verdienstvolle, aufwendige und sicherlich einen Aspekt des Verhältnisses von Schmidt zu Joyce (den Zitatcharakter des Prosawerks) erhellende Praxis sein;58 fasst man jedoch das Erzählwerk Schmidts als ein literarhis-
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Etwa in Frenzels ›Daten deutscher Dichtung‹ heißt es in dem Eintrag zu ›Das Steinerne Herz‹ lapidar, der Roman sei »[a]n Joyce und Döblin geschult« (Herbert A. u. Elisabeth Frenzel: Daten Deutscher Dichtung. Chronologischer Abriß der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 2: Vom Biedermeier bis zur Gegenwart, Köln 1953, S. 689.) Ein leiser Zweifel daran, ob diese Spurensuche tatsächlich mit der gebotenen Sorgfalt betrieben wurde, ist insofern angebracht, als Weninger (Arno Schmidts Joyce-Rezeption 1957–1970, S. 9) beispielsweise Mollys prägnanten Fluch »O, rocks!« (U 4.343 u.ö.) in verschiedenen Erzählungen und Essays von Arno Schmidt aufspürt und das Äquivalent dazu im Roman ›Kaff‹ in der Wendung »O leck!« (Arno Schmidt: Kaff auch Mare Crisium, in: ders.: Bargfelder Ausgabe, Werkgruppe I, Romane, Erzählungen, Gedichte, Juvenilia, Studienausgabe Bd. 3, Kaff auch Mare Crisium, Ländliche Erzählungen, hg. v. der Arno Schmidt Stiftung Zürich 1987 [im Folgenden zitiert als BA I/3], S. 7–277, S. 112, S. 250, S. 300, S. 321) erkannt zu haben glaubt – dabei jedoch übersieht, dass »O leck !« bereits im ›Steinernen Herzen‹ (1954/55) vorkommt (Arno Schmidt: Das Steinerne Herz. Historischer Roman aus dem Jahre 1954 nach Christi, in: Bargfelder Ausgabe, Werkgruppe I: Romane, Erzählungen Gedichte, Juvenilia, Studienausgabe Bd. 2: Das Steinerne Herz, Tina, Goethe, Die Gelehrtenrepublik, hg. v. der Arno Schmidt Stiftung, Zürich 1987 [im Folgenden zitiert als BA I/2], S. 7–165, hier S. 68) und schon in den ›Umsiedlern‹ von 1952 ein Passus auffällt, der mit demselben Recht auf Mollys »O, rocks!« zurückgeführt werden könnte: »O Rock und Bluse ! […] O Rock. Blauweiß das Himmelsschachbrett mit Wipfeln bewegt. Und Bluse.« (Arno Schmidt: Die Umsiedler, in: Bargfelder Ausgabe, Werkgruppe I, Romane, Erzählungen, Gedichte, Juvenilia, Studienausgabe Bd. 1: Enthymesis, Leviathan, Gadir, Alexander, Brand’s Haide, Schwarze Spiegel, Die Umsiedler, Aus dem Leben eines Fauns, Seelandschaft mit Pocahontas, Kosmas, hg. v. der Arno Schmidt Stiftung, Zürich 1987 [im Folgenden zitiert als BA I/1], S. 261–297, hier S. 266f.) Im englischen Wortlaut: »oh rocks !« erscheint die Wendung erstmalig – darauf hat Rathjen hingewiesen – (neben anderen Joyce-Anspielungen) in der Erzählung ›Großer Kain‹ [Niederschrift Oktober 1961] in: BA I/3, S. 351–367, hier S. 354 (vgl. Friedhelm Rathjen: Kains Panoptikum. James Joyce in Arno Schmidts Erzählung »Großer Kain«, in: Zettelkasten 3 (1987), S. 78–103, hier S. 79). Schwerer noch wiegt der Befund, dass Grete in ›Brand’s Haide‹ mit den Worten charakterisiert wird: »Ein kleines stilles Mädchen, etwa 30, aber plain Jane, also eigentlich häßlich.« (Arno Schmidt: Brand’s Haide, in: BA I/1, S. 115–199, hier S. 120. Im Folgenden innerhalb des fortlaufenden Textes zitiert mit der Sigle (B [Seitenangabe]). Bei den englischen Worten »plain Jane« handelt es sich keineswegs um eine geläufige
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torisches Phänomen im Rahmen des unvollendeten Projekts der literarischen Moderne auf, kann man nicht vernachlässigen, dass die Parallelen der Romane Schmidts mit formalen (d.h. sprachlichen und strukturellen) und in der Wirkungsästhetik gründenden Merkmalen des ›Ulysses‹ auch vor den ersten Namensnennungen und Zitaten so grundlegend sind, dass sie im Rahmen einer Arbeit nicht vernachlässigt werden dürfen, die breitere Strömungen und Tendenzen der Literaturgeschichte sichtbar machen will.59 Die Auswirkungen der Joyce-Rezeption Arno Schmidts erfordern dabei jedoch auch insofern eine differenzierte Betrachtungsweise, als sie in ihren Ausprägungen vielschichtiger und verschiedenartiger sind als bei Wolfgang Koeppen. Ließ sich bei diesem die produktive Auseinandersetzung mit dem ›Ulysses‹ weitgehend anhand seiner erzählerischen Praxis bzw. der Adaption und Variation des strukturellen Musters sowie erzähltechnischer Verfahren des ›Ulysses‹ in ›Tauben im Gras‹ nachweisen, ist bei der Beschäftigung mit Arno Schmidt ein grundlegend anderes methodisches Vorgehen vonnöten, um der Vielseitigkeit seines Werkes gerecht zu werden und dem Eklektizismus und der Eigendynamik der bis tief ins Persönliche reichenden Joyce-Rezeption Schmidts Rechnung zu tragen. Der nachhaltige Einfluss des James Joyce auf Arno Schmidt lässt sich nicht allein an Schmidts Erzählwerk nachweisen, wenngleich die Erzählungen Schmidts
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sprichwörtliche Wendung, was man vermuten könnte, sondern um ein direktes Zitat aus dem ›Ulysses‹, wo es heißt: »Plain Jane, no damn nonsense.« (U 7.201f.) Dies stellt auch Heinrich Schwier, der Autor des Handbuchs zu ›Brand’s Haide‹ fest, zieht aber keine nahe liegenden Schlüsse. (Vgl. Heinrich Schwier: Lore, Grete & Schmidt. Ein kommentierendes Handbuch zu Arno Schmidts Roman »Brand’s Haide«, München 2000 (Bargfelder Bote, Sonderlfg.), S. 44.) Die fundamentalen Gemeinsamkeiten der Prosa Schmidts schon vor 1956/57 mit Joyce sind auch Friedhelm Rathjen nicht entgangen; die Selbstaussagen Schmidts bezüglich seiner ersten Joyce-Lektüre hindern ihn jedoch daran, aus der folgenden klarsichtigen Diagnose die nahe liegenden Schlüsse zu ziehen: »Weit jenseits des höchst oberflächlichen Plagiarismusvorwurfs, wie ihn neben Holthusen auch noch andere Stimmen erhoben, lassen sich allerdings in der Tat Vergleiche zwischen dem Arno Schmidt der frühen 50er Jahre und den Büchern von Joyce – vor allem ›Ulysses‹ – ziehen. In einem sehr abstrakten Sinn eignet den Texten, die Schmidt vor seiner Bekanntschaft mit Joyce schrieb, etwas von den Qualitäten der Joyceschen Prosakunst: die Verve des Schreibimpulses und des Prosaduktus; die Virtuosität und Präzision im Umgang mit verschiedenen Stilebenen und Sprachregistern; die Befähigung zur scharfen literarischen Wiedergabe nichtliterarischer Sprechweisen und auch nichtsprachlicher Kommunikationsformen; die Einbindung graphisch typographischer Momente in die literarische Aussage; der ausgeprägte Zitatismus; die formale und sprachliche Kompromisslosigkeit und Konsequenz in der Umsetzung der jeweils vorhandenen Darstellungsabsichten. Bei diesen Vergleichskriterien geht es aber gerade nicht um plagiierbare Oberflächeneigenschaften, sondern um genuine Qualitätsmaßstäbe, die von Schmidt ebenso wie von Joyce erfüllt werden; der Vorwurf der Epigonalität ist darum besonders fehl am Platz.« (Rathjen: Leidenschaft mit Widerhaken, S. 278f.)
die Argumentationsgrundlage des vorliegenden Kapitels bilden sollen, die Rückschlüsse auf eine Joyce-Rezeption vor dem von der Forschung gemeinhin angenommenen Zeitpunkt zulässt. Ein Abriss von Schmidts Auseinandersetzung mit Joyce, der sich auf die von der Forschung erschlossenen Textdokumente und Selbstzeugnisse Schmidts, seine kritischen Einschätzungen und Würdigungen Joyce in den Essays zur Literatur und in seinen Funkfeatures stützt, in denen der Autor explizit auf Joyce Bezug nimmt, soll der vergleichenden Textanalyse vorangestellt sein. Ein solches Vorgehen kann die Vielschichtigkeit und Dynamik der Joyce-Rezeption Schmids erhellen, muss jedoch um einen analytischen Teil, d.h. eine Betrachtung des prosatheoretischen Programms der fünfziger Jahre, der ›Berechnungen‹, und einen eingehenden Blick auf Schmidts Erzählwerk der Nachkriegsjahre erweitert werden.
3.3
Das »BUCH DES HALBJAHRHUNDERTS« – Stationen in Schmidts Auseinandersetzung mit James Joyce nach 1956
3.3.1
»Wir Deutschen wissen noch nicht, was der ›Ulysses‹ ist !« – Die Kontroverse um die ›Ulysses‹-Übersetzung Georg Goyerts
Zwar finden sich seit 1957 in Schmidts prosatheoretischen Schriften gehäuft Verweise auf Joyce und seinen ›Ulysses‹,60 Schmidts essayistische Auseinandersetzung
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Die erste Erwähnung des Namens James Joyce erfolgt hingegen bereits in dem Aufsatz »Stigma der Mittelmäßigkeit«, ([3.6.1956], in: BA, Bd. III/3, S. 295–297, hier S. 296) in dem Schmidt moniert, dass die »Besten der Nation« bei der Vergabe des Nobelpreises stets leer ausgegangen seien. Dort heißt es: »Wer hat im Englischen James Joyce geehrt, oder Ezra Pound ?« Diese Namensnennung setzt zugegebenermaßen nicht notwendig eine Joyce-Lektüre voraus; die ersten handfesten Indizien finden sich (wie auch Rathjen festgestellt hat) in dem Prosastück »Goethe, und Einer seiner Bewunderer« ([1956/57], in: ders.: BA, Bd. I/2, S. 189–220, hier S. 207). Dort fällt die Formulierung »aus gekochten Bordeauxaugen« auf, auf die Schmidt später im Rahmen seiner Kritik der Goyert-Übersetzung zurückkommen wird. Dabei handelt es sich um die Übertragung der Formulierung »parboiled eyes« (U 8.606). Ebenfalls in »Goethe, und Einer seiner Bewunderer« findet bereits ›Finnegans Wake‹ Erwähnung. Hier ist von einem »Sprachgemisch aus ›Kritik der reinen Vernunft‹ und ›Finnegans Wake‹« (ebd., S. 191) die Rede, was darauf schließen lässt, dass Schmidt wenigstens einen kursorischen Eindruck von den Sprachspieltechniken des Romans erhalten haben muss. Eine auf diesen Erwähnungen basierende Datierung der ›Ulysses‹-Lektüre auf das Jahresende 1956 würde durch den Brief an Andersch Bestätigung finden. In der Forschung herrscht Konsens darüber, dass sich der erste explizite Rückgriff auf Joyce in der Erzählung »Trommler beim Zaren« finden lässt, wo es heißt: »Schon kam
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mit dem Roman erreicht jedoch einen einmaligen publizistischen Höhepunkt in der Kontroverse um die deutsche ›Ulysses‹-Übersetzung Georg Goyerts. Dieser von Schmidt mit äußerster Polemik betriebene Schlagabtausch ging von seiner Übersetzungskritik »Ulysses in Deutschland« aus.61 Wenngleich die grundsätzliche Frage nach der Übersetzbarkeit des ›Ulysses‹ und zugleich leise Zweifel an der Leistung Goyerts seit den frühen Rezensionen laut wurden, waren diese verschwindend gering neben dem weitgehend positiven Urteil der Kritik, die sich dabei zumeist auf den ungeheuren Arbeitsaufwand berief.62 Tatsächlich gibt jedoch die – verhältnismäßig – kurze Zeitspanne bis zum Erscheinen des deutschen ›Ulysses‹ (der ersten vollständigen Übersetzung weltweit) zu denken: Goyert’s translation had been produced rather hastily and without the benefit of knowing the structural plan of U[lysses] that Joyce had already shared with Larbaud, Linati and Benoist-Méchin; the translator and the Rhein-Verlag had wanted to get the book on the market as quickly as possible. Joyce was not too happy with the outcome and, as a consequence, seems to have aided Goyert in preparing the second edition […].63
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ich mir wieder vor, wie bei Homers : los : skin the goat!« (Arno Schmidt: Trommler beim Zaren, in: BA, Bd. I/4, S. 129–134, hier S. 131). Dieser Text gründet – wie der ›Ulysses‹ – auf einer mythischen Folie und übernimmt zudem einige inhaltliche Elemente. Die »Blüte« der Joyce-Rezeption sieht die Forschung weitgehend einhellig in »Caliban über Setebos«, einer Erzählung, deren narratives Gerüst auf der Integration verschiedener Mythen basiert. Seit der ›Gelehrtenrepublik‹, in die Schmidt eine kleine Hommage an Joyce einfügt, der gleich mit einer ganzen Schwadron von Reiterstandbildern geehrt werden soll (vgl. Arno Schmidt: Die Gelehrtenrepublik. Kurzroman aus den Roßbreiten, in: BA I/2, S. 221–351, S. 293), lassen sich immer wieder punktuelle Hinweise auf Joyce in den Romanen finden, die Rathjen in seinen Monographien zusammengestellt und erläutert hat. (Vgl. Rathjen: »...in fremden Zungen« sowie ders.: »schlechte Augen«.) Seit Anfang der fünfziger Jahre war Schmidt, der hervorragende Kenntnisse des Englischen besaß und über einen bemerkenswerten Wortschatz verfügte, als Übersetzer vornehmlich amerikanischer zeitgenössischer Belletristik produktiv, eine Tätigkeit, die er zunächst als lebensnotwendige ›Brotarbeit‹ gering achtete, bis er sich später nach seinen persönlichen literarischen Kriterien für Autoren wie Poe, Cooper, Collins oder Bulwer-Lytton entscheiden konnte. Es blieb jedoch ein lebenslanger Traum Schmidts, dass man ihm die Übersetzung von ›Finnegans Wake‹ auftragen würde, ein Projekt, das schließlich Dieter H. Stündel zufiel. Daneben sind die Übersetzungen von ›My Brother’s Keeper‹ und des ›Dublin Diary‹ von Stanislaus Joyce erwähnenswert. Das weitgehend positive Urteil mag teilweise freilich auf die mangelnden Englischkenntnisse der Rezensenten zurückzuführen sein. Dennoch waren schon früh Zweifel an der Übersetzungsleistung Goyerts laut geworden; Tucholsky beispielsweise gelangte zu dem kritischen Urteil: »Hier ist entweder ein Mord geschehen oder eine Leiche photographiert« (Tucholsky: Ulysses, S. 600). Tucholsky gab in seiner Rezension jedoch auch unumwunden zu, dass seine Englischkenntnisse für eine Lektüre des Originals nicht ausreichten und er sich lediglich auf Stichproben beschränkt hat. Weninger: James Joyce in German-speaking countries, S. 21f.
Schmidts Artikel, der am 26. Oktober 1957 in der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹ erschien, war die erste ausschließlich der Übersetzung gewidmete Kritik des ›Ulysses‹ in Deutschland. Er führt Beispiele an, weist Goyert mangelnde Präzision sowie Monotonie und Farblosigkeit seines Wortschatzes nach; er kritisiert Druckfehler, die verfälschende Übertragung von Eigennamen sowie die Verstöße gegen Vokalharmonie und Rhythmus vor allem in Gedicht- und Schlagerzeilen. Charakteristisch für sein auf exempla basierendes Argumentationsverfahren ist die Tatsache, dass Schmidt für alle seiner Auffassung nach fehlerhaften Fälle stets einen Gegenvorschlag unterbreitet und insofern sein bemerkenswert differenziertes Sprachgefühl unter Beweis stellt. Wenngleich die Beispiele nicht gar so zufällig herausgegriffen sind, wie Schmidt es gern verstanden wissen möchte, zeugen sie immerhin von seiner detaillierten Kenntnis des englischen wie des deutschen Textes, zu der er vermutlich auch bei intensiver vergleichender Arbeit nicht innerhalb eines knappen Jahres gelangt ist, heißt es doch in dem Aufsatz: »ich weiß, was ich sage, ich kenn’ es wohl; so klingt das ganze Buch; ich habe manche Zeit damit verloren.«64 Schmidts Invektive schließt mit dem vernichtenden Resümee : Was uns im Augenblick als ›Ulysses des James Joyce‹ vorgesetzt wird, ist […] genial übersetzt ? : ein Bruchteil. handwerklich brauchbar (als Vorarbeit für den – hoffentlich – kommenden Besseren) : die Hälfte. der Rest ? : eine Satire auf das grandiose Original ! Wir Deutschen wissen noch nicht, was der ›Ulysses‹ ist !65
Es liegt auf der Hand, dass Schmidt damit den Übersetzer auf den Plan rief, der in einer Replik vom 6. Dezember seine Selbstrechtfertigung darauf zu gründen suchte, dass der gesamte deutsche Text von Joyce autorisiert sei, und sich auf dessen Mitarbeit beruft: »Bei diesen Besprechungen wurde der ganze deutsche Text des ›Ulysses‹ von Joyce geprüft und gutgeheißen und somit festgelegt.«66 Diese Replik forderte Schmidt zu der nahe liegenden Frage heraus, ob Joyce Sprachkenntnisse überhaupt zureichend gewesen sein mögen, eine deutsche Übersetzung kritisch zu prüfen: »So zuständig also Joyce für’s Englische war – da konnte er nicht irren, wenn er von Dublin her ex cathedra sprach ! – so wenig kommt sein placet zu der vorliegenden deutschen Ausgabe einer Sanktionierung jedes Buchstabens gleich.«67
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Schmidt: Ulysses in Deutschland, S. 379. Ebd., S. 379f. Georg Goyert: Noch einmal: Ulysses in Deutschland, in: FAZ (6. Dezember 1957). Schmidt: Noch einmal ›Ulysses in Deutschland‹ [25.11.1957], S. 396. In der Tat verfügte Joyce über einen eindrucksvollen, dabei recht exzentrischen Wortschatz des Deutschen, der sich auch in ›Finnegans Wake‹ niederschlägt (vgl. Helmut Bonheim: A Lexicon of the German in Finnegans Wake, München 1967); er war jedoch keineswegs in der Lage, sich fehlerfrei in deutscher Sprache zu artikulieren; sein gewaltiges
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Im Rahmen dieser Übersetzungskritik treten die zwei zentralen Merkmale von Arno Schmidts Essayistik in größter Deutlichkeit hervor; zum einen – und darin mag der Grund für die Polarisierung von Schmidts Leserschaft und für die Anfeindungen liegen, mit denen sich Schmidt nicht selten konfrontiert sah – lässt der Autor keine Gelegenheit als Anlass schärfster Polemik ungenutzt. Er formuliert einen extremen Standpunkt, von dem aus er seine zumeist höchst subjektiv gefärbten Anschauungen verkündet und das Lesepublikum zur Parteinahme zwingt, sich dabei deutlich von der Methodik der Philologie abgrenzt und auch keinerlei wissenschaftlichen Anspruch erhebt. Hinter diesem aggressiven, herausfordernden Auftreten wird als Motor der Polemik jedoch ein Anliegen erkennbar, das in Schmidts Selbstverständnis als Leser und Autor verwurzelt ist: Seit nunmehr 30 Jahren kursiert, in lieben Deutschlands Mitten, und als hoch=genuin propagiert, die verballhornte Übersetzung eines Buches, das zu den ewigen Besitztümern der Menschheit zu zählen ist. Nicht genug, daß man vor der Mißgeburt bisher nicht gewarnt hat : angepriesen hat man sie sogar; und tut es wohl noch heute munter. Niemand lebt auf der Welt, der sich einer tieferen Ehrerbietung vor dem dichterischen Genius rühmen könnte als ich; hierin lasse ich Keinem den Vorrang : ich weiß zu verehren, wo es angebracht ist ! Deshalb wurde es meine Pflicht, auf diese, unserer Literatur unwürdige Lücke, hinzuweisen. Und damit auf den wahren James Joyce ! 68
Die aufrichtige Verehrung Joyce und die Sorge um die Verbreitung von dessen ›Ulysses‹ beim deutschen Publikum bringen ihn gegen eine Entstellung oder Verzerrung des Werkes auf; der Hinweis auf einen Anspruch der deutschsprachigen Leserschaft auf einen klaren und unverstellten Zugang zur großen Weltliteratur bildet die zweite Komponente der Doppelrolle als Anwalt des Autors und des Publikums, der Schmidt sich verpflichtet fühlt. Den Vorwurf der »Unverständlichkeit«, der bei den deutschen Lesern und Kritikern des ›Ulysses‹ weit verbreitet war,69 führt Schmidt allein auf die mangelhafte Übersetzung zurück, und er diskutiert Beispiele, die belegen, dass Goyert den Sinn des Textes nicht erfasst oder entstellt wiedergegeben habe: »Dergleichen schändliche Witze sind schuld daran, daß es bei uns noch so oft heißt, Joyce wäre unverständlich : Joyce ist goldklar;
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Sprachgefühl allein war für eine Autorisierung der Übersetzung oder gar eine Mitarbeit unzureichend. Schmidt: Ulysses in Deutschland, S. 380. Siehe dazu etwa die Rezensionen von Walter Schmits (James Joyce, S. 138), Manfred George (Der Ulysses von James Joyce: Fundament, Offenbarung, Bluff?, in: Kritisches Erbe, S. 167–170, bes. S. 169 [zuerst in: Badische Presse (4.1.1928)]), Harald Theile (Credo der Ausgestoßenheit. Zu James Joyce’ Ulysses, in: Kritisches Erbe, S. 306–313, bes. S. 310 [zuerst in: Eckart 9/2 (Februar 1933)]) und Karl Radek (Schlusswort, in: Kritisches Erbe, S. 329–333, bes. S. 330 [zuerst in: Internationale Literatur 4/5 (1934)]).
unverständlich nur Herr Goyert !«70 Schmidts Kritik zielt ebenfalls gegen finanziell motivierte Verlagspolitik und Nachlass-Spekulationen; sein erklärtes Ziel ist die Bewahrung eines Erbes, der »ewigen Besitztümer der Menschheit«:71 davor müßte die Leserschaft geschützt werden, daß ihm nun die betreffende, notorisch mangelhafte Übertragung bis 50 Jahre nach dem Tode des Verfassers aufgezwungen wird. […] 1927 erschien die unzulängliche Übersetzung vom ODYSSEUS des James Joyce, eines Dichters vom allerersten Rang; da Dieser 1941 starb, wird sein Werk erst 1991 ›frei‹ – vierundsechzig Jahre lang kann also ›rechtens‹ verhindert werden, daß eine bessere, würdigere Übersetzung erscheint; […] zwei volle Generationen Deutsche sind, insofern sie nicht wirklich gut Englisch können, dazu verurteilt, nie ein ausreichendes Bild davon zu bekommen, worum es sich bei diesem BUCH DES HALBJAHRHUNDERTS HANDELT !72
Man mag Schmidts Schmährede Polemik und (intendierte!) Unwissenschaftlichkeit zum Vorwurf machen, dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass sie ihr Ziel erreichte. Der Aufruhr, den die ›FAZ‹-Kontroverse nach sich zog, hat nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass der Suhrkamp-Verlag im Rahmen seiner kompletten Neuausgabe der Werke James Joyce 1975 eine neue ›Ulysses‹Übersetzung vorlegte, die von Hans Wollschläger – einem engen Freund und Verehrer Arno Schmidts – in sechsjähriger Arbeit besorgt worden war und von der Kritik (mit gutem Recht) euphorisch besprochen wurde.73 3.3.2 Eine »stotternde Zumutung« – Schmidts ›Finnegans Wake‹-Rezeption als »poetic misreading« Den Datierungsversuchen der Forschung zufolge müsste sich Schmidt unmittelbar nach der ›Ulysses‹-Lektüre und der Kontroverse mit Goyert ›Finnegans Wake‹ zugewandt haben, da sich an eine ›erste Phase‹ der Joyce-Rezeption Schmidts,74 die sich in der Übersetzungskritik verdichtet, noch im Jahr 1957 eine zweite Phase der ›Wake‹-Rezeption anschließt, die mit dem Versuch einer Dechiffrierung und 70
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Schmidt: Ulysses in Deutschland, S. 377. Dieses (freilich nicht immer uneigennützige) Engagement für die Bewahrung von Kunstwerken und die angemessene Würdigung ihrer Urheber zieht sich wie ein roter Faden durch Schmidts Werk, nicht nur als expliziter Appell, sondern zugleich in der Inkorporation literarischer Zitate. (Vgl. hierzu auch Kap. 3.5.5.) Schmidt: Ulysses in Deutschland, S. 380. Arno Schmidt: Jenseits von Forschung und Textkritik [3.–6.7.1961], in: BA, Bd. III/4, S. 78–86, hier S. 78. Reaktionen von Arno Schmidt auf diese Neuübersetzung liegen allerdings nicht vor; es ist fraglich, ob Schmidt an der Arbeit (zumindest beratend) beteiligt oder möglicherweise darüber gekränkt war, dass man ihm diese Aufgabe nicht aufgetragen hatte; ein Vergleich der Wollschläger-Übersetzung mit den Vorschlägen, die Schmidt in ›Ulysses in Deutschland‹ und ›Der Bogen des Ulysses‹ macht, fiel negativ aus. Vgl. Weninger: Arno Schmidts Joyce-Rezeption 1957–1970, S. 11f.
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Interpretation des Textes beginnt und in seiner produktiven Nutzbarmachung im Rahmen der ›Etymtheorie‹ und des Projekts ›Zettels Traum‹ (1965–1968) kulminiert. In diesen Zeitraum, in dem Schmidt auch die wichtigsten Studien zu Joyce ›Ulysses‹ und ›Finnegans Wake‹ rezipiert,75 fallen auch die Übertragungen von ›My Brother’s Keeper‹ (1960)76 und des ›Dublin Diary‹ (1964)77 von James Joyce Bruder Stanislaus, der »Schlüsselgestalt=aller=Schlüsselgestalten«,78 zu dem Schmidt eine persönliche Affinität entwickelt, die oft in verbalen Attacken gegen die Person James Joyce ihren Ausdruck findet.79 Es ist offenkundig und unumstritten, dass Schmidts Spätwerk durch die ›Finnegans Wake‹-Lektüre und die Rezeption der Freudschen Psychoanalyse geprägt ist, die sich theoretisch in der ›Etymtheorie‹ niederschlägt, die er vor allem in dem Carroll-Aufsatz »Sylvie & Bruno«, der Studie zu Leben und Werk Karl Mays, »Sitara und der Weg dorthin«, in den Auseinandersetzungen mit ›Finne-
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Schmidt bezog vermittels Wilhelm Michels diverse Bücher über James Joyce, wie aus dem Briefwechsel hervorgeht. In einem Brief vom 20.5.1959 bittet er Michels um die Bestellung von ›Chamber Music‹ sowie ›The Essential James Joyce‹ (vgl. Schmidt: An Wilhelm Michels (20.5.59), in: ders.: Arno-Schmidt-Brief-Edition, hg. v. der Arno Schmidt Stiftung, Bd. II: Der Briefwechsel mit Wilhelm Michels, hg. v. Bernd Rauschenbach, Zürich 1987, S. 117f.), wenige Wochen später um Herbert Gormans Joyce-Biographie (vgl. Arno Schmidt: An Wilhelm Michels (8.6.1959), in: ders.: ArnoSchmidt-Brief-Edition, Bd. II, S. 121) am 7.4.1960 um Budgens und Ellmanns Monographien, sowie Bd. 2 der Briefe (vgl. Arno Schmidt: An Wilhelm Michels (7.5.1960), in: ders.: Arno-Schmidt-Brief-Edition, Bd. II, S. 158f.). Überblickt man die Liste der in Schmidts Bibliothek zu Joyce versammelten Bücher (vgl. Gaetjens: Die Bibliothek Arno Schmidts, Zürich 1991, bes. S. 246–250 sowie Friedhelm Rathjen: Lesezeichen nach Triest. Zu den Joyceana in Arno Schmidts Bibliothek und einem adriatischen Plan, in: Zettelkasten 16 (1997), S. 285–301) fällt auf, dass es sich dabei schwerpunktmäßig um biographische Ansätze der Beschäftigung mit Joyce Werk sowie um ›Dechiffrierungen‹ und Stellenkommentare handelt. (Darunter finden sich Atherton: The Books at the Wake; Budgen: James Joyce and the Making of Ulysses; Campbell & Robinson: A Skeleton Key to Finnegans Wake; Ellmann: James Joyce; Gilbert: James Joyce’s Ulysses; Gorman: James Joyce; Tindall: A Reader’s Guide to James Joyce; für die vollständigen Titelangaben siehe die Bibliographie der vorliegenden Arbeit.) Stanislaus Joyce: Meines Bruders Hüter, übers. v. Arno Schmidt, Frankfurt a.M. 1960. Stanislaus Joyce: Das Dubliner Tagebuch des Stanislaus Joyce, übers. v. Arno Schmidt, Frankfurt a.M. 1964. Arno Schmidt: Das Buch Jedermann, in: BA, Bd. II/3, S. 231–256, hier S. 237. So urteilt Schmidt in dem Funkessay »Das Geheimnis von Finnegans Wake« ([gesendet vom SDR am 18.11.1960], in: BA, Bd. II/2, S. 433–474, hier S. 446): »mit zunehmendem Alter entwickeln sich bei James Joyce ausgesprochen paranoische Züge : Autismus; sowie Größen= und Verfolgungswahn.« Sein ›Finnegans Wake‹ enthalte »von der 2. Seite an bis zur vorletzten SCHLEIM & GALLE !« (ebd.).
gans Wake‹80 und schließlich in ›Zettels Traum‹ entwickelt.81 Verglichen mit den uneingeschränkt positiven, wo nicht euphorischen Würdigungen des ›Ulysses‹ fällt die stellenweise vernichtende Kritik an Joyce letztem Roman auf, die umso überraschender erscheint, wenn man bedenkt, mit welchem Zeit- und Arbeitsaufwand Schmidt sich mit dem Text auseinandergesetzt und welchen Stimulus ›Finnegans Wake‹ für sein literarisches Schaffen ab 1960 dargestellt haben muss. Er nennt den Roman »wissens-arm, bei Vortäuschung des umfassendsten Wissens; manhattisch-imposant, wie ein leerer Silo«82 und damit eine »stotternde Zumutung«83 für den Leser, da das Werk »an der zu subjektiven Verschlüsselung gescheitert«84 und noch dazu »absichtlich von Joyce verunklart worden« sei.85 Rathjen wendet Harold Blooms Begriffe der »anxiety of influence«, »creative correction« und des »poetic misreading«86 luzide auf Schmidts ›Finnegans Wake‹-
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Arno Schmidt: Das Geheimnis von ›Finnegans Wake‹ [15.–20.11.1960], in: BA, Bd. III/4, S. 32–54; Das Geheimnis von ›Finnegans Wake‹ [Funkdialog, gesendet vom SDR am 18.11.1960], in: BA, Bd. II/2, S. 433–474; Kalleidoskopische Kollidier=Eskapaden [9.– 11.9.1961], in: BA, Bd. III/4, S. 115–129; Der Triton mit dem Sonnenschirm. (Überlegungen zu einer Lesbarmachung von Finnegans Wake) [gesendet vom SDR am 10.11.1961], in: ders.: Bargfelder Ausgabe, Werkgruppe II: Dialoge Bd. 3, hg. v. der Arno Schmidt-Stiftung, Zürich 1991 [im Folgenden zitiert als BA, Bd. II/3], S. 31–70; Sylvie & Bruno. Dem Vater der modernen Literatur ein Gruß ! [29.11.–11.12.1962 und 25.1.–10.2.1963], in: BA, Bd. III/4, S. 246–264; Das Buch Jedermann. James Joyce zum 25. Todestage [gesendet vom SDR am 13.1.1966], in: BA, Bd. II/3, S. 231–256. Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, einen Abriss der von ›Finnegans Wake‹ angeregten prosatheoretischen Entwicklungen und ihrer Umsetzung in ›Zettels Traum‹ darzulegen; stattdessen sei auf die einschlägige Forschung, d.h. v.a. die Studien Weningers und Gradmanns verwiesen. Ergänzend mag der Aufsatz von Drews: Work after the ›Wake‹, or: A first look at the influence of James Joyce on Arno Schmidt, in: Bargfelder Bote 19 (1977), S. 3–14 herangezogen werden. Schmidt: Der Triton mit dem Sonnenschirm, S. 45f. Schmidt: Das Geheimnis von ›Finnegans Wake‹, S. 473. Schmidt: Sylvie & Bruno, S. 258. Arno Schmidt: Kalleidoskopische Kollidier=Eskapaden [9.–11.9.1961], in: BA, Bd. III/4, S. 115–129, hier S. 115f. Harold Bloom: The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry, New York 1973. Wiewohl Blooms Konzeption der Literaturgeschichte als einer Geschichte der Einflussangst und des Fehllesens nur mit Einschränkungen zuzustimmen ist, so erweisen sich seine Ausführung doch gerade in ihrer Anwendung auf Arno Schmidt als erhellend: »Poetic Influence – when it involves two strong, authentic poets, – always proceeds by a misreading of the prior poet, an act of creative correction that is actually and necessarily a misinterpretation. The history of fruitful poetic influence, which is to say the main tradition of poetry since the Renaissance, is a history of anxiety and self-saving caricature, of distortion, of perverse, wilful revisionism without which modern poetry as such could not exist.« (Ebd., S. 30.) Schmidts »poetic misreading« von ›Finnegans Wake‹ ist in der Tat anhand seiner ›Wake‹-Interpretation zu belegen, die (aufgrund ihres biographischen Zuschnitts) in vielerlei Hinsicht fatal in die Irre geht, sein magnum opus ›Zettels Traum‹ ist – als Versuch, die unterstellte Fehlerhaftigkeit des ›Wake‹ zu
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Rezeption an und schließt: »Schmidts mitunter reichlich fehlgehende Interpretationsansätze zu ›Finnegans Wake‹ könnten auch halbbewußte Versuche gewesen sein, Distanz zu Joyce zu schaffen und aufrechtzuerhalten,«87 stand doch Joyce letzter Roman dem, »was Schmidt zu Beginn der 60er Jahre in Angriff nimmt, zumindest in Schmidts Auffassung gerade sehr nahe – so nahe, dass er verschiedene Strategien entwickelt, um sich Joyce vom Leibe zu halten.«88 In diesem Sinne kann ›Zettels Traum‹ mit Fug und Recht als großmaßstäbliche Replik auf ›Finnegans Wake‹ gelesen werden, als ein ehrgeiziger (um nicht zu sagen: größenwahnsinniger) Überbietungsversuch Schmidts. Hellsichtig führt Rathjen dazu aus, ›Zettels Traum‹ scheine eher gegen den als unter dem Einfluß von James Joyce geschrieben worden zu sein. Zettels Traum ist auf einer Ebene der Versuch, das Joycesche Werk ohne dessen vermeintliche Insuffizienzen zu wiederholen und möglichst gar zu übertreffen; eben daraus resultiert allerdings möglicherweise auch ein Teil der Schwächen, die Zettels Traum ohne Zweifel hat:89
Ein entscheidender Grund dafür, dass Arno Schmidt zeit seines Lebens eine noch intensivere Annäherung an Joyce verwehrt war, mag auch darin begründet liegen, dass in Schmidts Weltwahrnehmung wie auch in seiner literarischen Praxis die visuelle Komponente dominiert, wohingegen Joyce seine Umgebung stark auditiv registrierte, was erhebliche Konsequenzen für die klangliche und musikalische Dimension seiner Prosa hatte – besonders natürlich für ›Finnegans Wake‹, das als Klangkunstwerk komponiert ist. Schmidt hingegen hatte kein engeres Verhältnis zur Musik, was auch Gaetjens bei der Bestandaufnahme von
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umgehen – als »creative correction« großen Ausmaßes zu lesen. Rathjen hat den Reiz der Thesen Blooms für das Verhältnis Schmidt/Joyce erkannt und legt diese (explizit oder implizit) sämtlichen Arbeiten zu diesem Themenkomplex zugrunde: »Schmidt imposed his own eccentric conceptions of the literary work of art on Joyce rather than looking for Joyce’s conceptions, and, moreover, Schmidt tried to overcome his ›anxiety of influence‹ by wilfully disparaging Joyce’s character, the professional Joyce exegets, and in part also Joyce’s works, especially certain aspects of Finnegans Wake.« (Friedhelm Rathjen: Thorne Smith in the Wake. Arno Schmidt’s Neglected Recommendation, in: ders.: Dritte Wege, S. 79–84, hier S. 80.) Neben Rathjen hat auch Weninger das Potential der Theorie Blooms für Arno Schmidts Joyce-Rezeption erkannt und nennt ›Zettels Traum‹ »Schmidt’s clinamen«. (Weninger: The Institutionalization of ›Joyce‹, S. 56.) Rathjen: Nutzen und Bedrohung, S. 16f. Zu Schmidts ›Finnegans Wake‹-Rezeption vgl. auch den Aufsatz des Joyce-Experten Fritz Senn: »Entzifferungen & Proben«. »Finnegans Wake« in der Brechung von Arno Schmidt, in: Bargfelder Bote 27 (1978), S. 3–14. Rathjen: Leidenschaft mit Widerhaken, S. 286. Ebd., S. 291.
Schmidts Bibliothek bestätigt.90 Auch Rathjen vertritt diese Auffassung von der Prädominanz des Visuellen bei Schmidt: Es gibt Autoren, bei denen der Klang eine dominierende Rolle spielt; zu ihnen zählt etwa James Joyce, der seine Texte zunehmend als Sprachmusik komponierte. Ganz anders hingegen Joycens vermeintlicher deutscher Bruder Arno Schmidt: ›sein Schreiben geht vom Auge aus‹, so meint ganz zu recht Wolfgang Martynkewicz, und in dem späten Roman Abend mit Goldrand spricht Schmidt selbst nachdrücklich von seinem ›BilderGedächtnis‹.91
In Schmidts Spätwerk offenbart sich das »produktive Mißverständnis«,92 das allerdings auf die Einschätzung des ›Wake‹-Textes beschränkt war.93 Schmidts Einschätzung des ›Ulysses‹ blieb durchweg von Respekt getragen, den zu betonen er nicht müde wurde: der ODYSSEUS ist JOYCE’s eigentlicher Paß in die Unsterblichkeit ! […] Vermittelst des ODYSSEUS werden alle kommenden Säkula in den Beginn unseres 20. Jahrhunderts hindurchschauen können, wie durch eine Glasscheibe : er ist das erste umfassende ›Handbuch für Städtebewohner‹; die erste komplette Darstellung des Vollblut=Pflastertreters : Turbulenz ist unser Schicksal, und wird es immer mehr werden. […] Wie karg & 90 91
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Vgl. Gaetjens: Die Bibliothek Arno Schmidts oder Literatur entsteht nicht aus Philologie, S. 182. Rathjen: Vom Nachleben in dicken Wälzern, S. 20; vgl. hierzu auch Wolfgang Martynkewicz Monographie: Bilder und EinBILDungen. Arno Schmidts Arbeit mit Photographien und Fernsehbildern, München 1994. Gradmann: Das Ungetym, S. 108. Schmidt verfolgt in seiner ›Entschlüsselung‹ des letzten Romans von James Joyce, zu der er sich unter Anwendung der ›Etymtheorie‹ imstande sieht, einen konsequent biographistischen Ansatz, da »doch eigentlich sämtliche Bücher Joyce’s in höchstem Maße autobiografisch seien ..... ? : ! ! !« (Arno Schmidt: Kaleidoskopische Kollidier=Eskapaden [9.–11.9.1961], in: BA, Bd. III/4, S. 115–129, hier S. 117). Bei der Etymtheorie handelt es sich um ein Amalgam aus Freudscher Traumdeutung und zeichentheoretischem Kommunikationsmodell, das in zwei Richtungen wirksam ist, d.h. sowohl für einen Verschlüsselungsprozeß nutzbar gemacht werden kann, als auch in seiner Umkehrung dem aufmerksamen Rezipienten wiederum eine Dechiffrierung ermöglicht. So gelangt Schmidt zu der Überzeugung, daß Joyce unter einem »Hahnrei=Komplex« (Arno Schmidt: Das Geheimnis von ›Finnegans Wake‹ [15.–20.11.1960], in: BA, Bd. III/4, S. 32–54, hier S. 42) gelitten habe und es sich bei ›Finnegans Wake‹ folglich um den »Eifersuchtstraum eines Alkoholikers« (Arno Schmidt: ›Sind wir noch ein Volk der Dichter & Denker ?‹ [18.–24.8.1963], in: BA, Bd. III/4, S. 311–321, hier S. 316), um einen Racheakt James Joyce an dessen Bruder Stanislaus handle. Mit einem derartig einseitigen Lesemodell des Textes missachtet Schmidt dessen Potential, das ja gerade in Joyce Aufhebung sprachlicher und semantischer Eindeutigkeit, in der prinzipiellen Offenheit und der Unerschöpflichkeit des Werkes begründet liegt, und reduziert die einzigartigen Techniken des Sprachspiels, die Benutzung von Polyvalenzen und Onomatopoetika, die Schmidt zuvor mit einem bemerkenswerten Sprachgefühl demonstriert und in ihrer Wirkungsweise erklärt hat, auf einen Code zur Verschlüsselung biographischen Materials.
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plump – nicht nur ›inhaltlich‹, sondern auch ›formal‹ – ist nicht der HOMER’ische ODYSSEUS, im Vergleich mit dem JOYCE’schen !94
Für Schmidt ist und bleibt Joyce »der Meister des Odysseus.«95
3.4
Zwischen Tradition und Innovation – Arno Schmidt vor 1956
3.4.1
Poetologisches Programm und literarischer Lebensplan – Die ›Berechnungen‹ als mixtum compositum aus Pioniergeist und Anachronismus
Eine fundamentale Differenz zwischen James Joyce und Arno Schmidt besteht freilich darin, dass Schmidt sich zeit seines Lebens bemühte, seine erzählerische Praxis oft fast gewaltsam an eine ausgeklügelte Prosatheorie rückzubinden, wohingegen Joyce Erzählwerk auf keinerlei expliziter theoretischer Fundierung fußt. Der ›Ulysses‹ trägt vielmehr sein poetologisches Konzept in sich, und darüber hinaus lassen sich in Briefen und Gesprächsaufzeichnungen nur verstreute Einzelbemerkungen finden. Anders dagegen verhält es sich mit Schmidt: In den ›Berechnungen‹, die in der Zeitschrift ›Texte und Zeichen‹ erschienen,96 wid-
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Arno Schmidt: Das Geheimnis von Finnegans Wake, in: BA, Bd. II/2, S. 433–474, hier S. 436f. Ebd., S. 437. In ›Kaff‹ wird der Band ›The Essential James Joyce‹ erwähnt (vgl. Arno Schmidt: Kaff auch Mare Crisium, in: BA, Bd. I/3, S. 7–277, S. 12). Dieser Sammelband enthielt die ›Dubliners‹, ›A Portrait of the Artist as a Young Man‹, ›Exiles‹, ›Chamber Music‹, ›Pomes Pennyeach‹ sowie Ausschnitte aus ›Ulysses‹ und ›Finnegans Wake‹. Es lässt sich annehmen, dass Schmidt ihn zum Zeitpunkt der Niederschrift des Romans zumindest teilweise zur Kenntnis genommen haben muss. Das Frühwerk des Iren sei jedoch, so Schmidt, »lediglich parziell int’ressant ; nämlich autobiografisch« (Arno Schmidt: Das Buch Jedermann, in: BA, Bd. II/3, S. 231–256, hier S. 235.) Er betrachtet das ›Portrait‹ als einen »Ausflug [ins] Falsche=Feinsinnige […], der Joyce mißraten mußte« und erachtet den ›Stephen Hero‹ für »weit reicher ; resoluter« (beide Zitate ebd. S. 234). Sowohl ›Exiles‹ als auch die Gedichtsammlungen werden von Schmidt in seiner Wertschätzung schlichtweg »eliminiert« (vgl. ebd., S. 235). Es existieren insgesamt vier den ›Berechnungen‹ zugehörige Manuskripte, deren erstes – überschrieben mit »Berechnungen« und datiert auf den 10.9.1953 – nie im Druck erschienen ist. Der in der Studienausgabe (Arno Schmidt: Berechnungen, in: BA, Bd. III/3, S. 101–106) abgedruckte Text folgt Martin Walsers Abschrift eines Typoskripts, das ihm als Redakteur des SDR von Schmidt zugeschickt worden war. Das Originaltyposkript muss als verschollen angesehen werden. Dieser erste Essay ist jedoch weitgehend deckungsgleich mit den ›Berechnungen I‹ [Niederschrift vor dem 22.10.1954] (in: BA, Bd. III/3, S. 163–168), die in Texte und Zeichen 1 (1955) erstmalig abgedruckt wurden. Zusätzlich werden in den ›Berechnungen I‹ erstmals die Versuchsreihen 3 und 4 (»Längeres Gedankenspiel« und »Traum«) aufgeführt, zu denen sich Schmidt in den
met er sich der systematischen Darlegung verschiedener Prosaformen, die eine adäquate literarische Umsetzung moderner Erlebnisweisen respektive Bewusstseinsstrukturen darstellen sollen. Die ›Berechnungen‹ müssen als Schmidts Versuch aufgefasst werden, seine bis zu diesem Zeitpunkt vollendeten Erzählungen einem groß angelegten formalen Konzept zu subsumieren und sie gleichzeitig als integrale Bestandteile eines »literarische[n] Lebensplan[s]«97 zu deklarieren, der zumindest den Anschein erwecken sollte, dass sein Autor die darin entworfenen Versuchsreihen mit seinen (zukünftigen) Werken aufzufüllen beabsichtigte.98 Einer Untersuchung von Schmidts prosatheoretischen Postulaten, die in ihrem Nachdruck und dem ihnen innewohnenden Eindruck der Verbindlichkeit geradezu an normative Poetiken erinnern, muss die Warnung vorausgehen, dass zwischen jenen und Schmidts Prosa keinesfalls eine 1:1-Kongruenz besteht, und die ›Berechnungen‹ nicht als ein »Schlüssel zur Interpretation oder Klassifikation des Frühwerks zu betrachten«99 sind. Wolfgang Koeppen war stets irritiert von Schmidts theoretischen »Vorarbeiten, nach denen er sich gerichtet und dann doch herrliche Bücher geschrieben hat!«100 Den ›Berechnungen‹ muss folglich eine Eigenständigkeit beigemessen werden, die sie – bestenfalls in einem
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›Berechnungen II‹ ausführlicher äußert. Diese Fortsetzung, ›Berechnungen II‹ (in: BA, Bd. III/3, S. 275–284), deren Niederschrift am 4.11.1955 abgeschlossen war, erschien 1956 ebenfalls in Texte und Zeichen 5 (1956). Außerdem existiert noch ein dritter Teil (Arno Schmidt: Berechnungen III, in: ders.: Das essayistische Werk zur deutschen Literatur in 4 Bänden. Sämtliche Nachtprogramme und Aufsätze, hg. v. der Arno Schmidt Stiftung, Zürich 1988, Bd. 4, S. 364–347), der nicht zu Lebzeiten Schmidts publiziert wurde und insofern nur lose mit den früheren Texten zusammenhängt, als es darin nicht etwa um die angekündigte Fortsetzung der Versuchsreihen (d.h. die noch ausstehenden Ausführungen zum »Traum«) geht, sondern um Schmidts Überlegungen zur ›fonetischen Schreibung‹ und stenographischen Interpunktion. Dieser ist für das vorliegende Kapitel kaum von Bedeutung; wir werden jedoch im Rahmen der sprachlichen Analyse darauf zurückgreifen. Lenz Prütting: Arno Schmidt, in: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, hg. v. Heinz Ludwig Arnold, Nachlieferung 35, München 1990, S. 1–22, hier S. 3. Die Unstimmigkeiten bei der Zuordnung von Erzählungen zu den Versuchsreihen lassen in der Tat eine »nachträgliche Rationalisierung eigenen Schreibens« vermuten (Jürgen von Stenglin: Der Schreibtisch als imaginierter Stammtisch. Zu Arno Schmidts ›Berechnungen‹, in: Arno Schmidt, das Frühwerk, hg. v. Michael Matthias Schardt, Aachen 1989, Bd. 3: Vermischte Schriften: Interpretationen von »Die Insel« bis »Fouqué«, S. 227–243, hier S. 235). Von Stenglin weist zu Recht darauf hin, dass Schmidt in den ›Berechnungen I‹ zugibt, noch kein ›Längeres Gedankenspiel‹ vorgelegt zu haben, in den ›Berechnungen II‹ jedoch ›Gadir‹ als solches anführt, wenngleich die Erzählung bereits zum Zeitpunkt der Niederschrift von ›Berechnungen I‹ existierte (vgl. ebd. S. 240). Von Stenglin: Der Schreibtisch als imaginierter Stammtisch, S. 237. Wolfgang Koeppen: Das Buch ist die erste und die letzte Fassung, in: ders.: »Einer der schreibt«, S. 229–240, hier S. 232.
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Komplementärverhältnis zu Schmidts Romanen und Erzählungen – als ›technische‹ Bemühungen um neue, der Gegenwartserfahrung adäquate Ausdrucksformen auszeichnet. Die folgenden Überlegungen zu Schmidts ›Berechnungen‹ verfolgen daher nicht das Ziel, sie auf ihre Funktion als theoretisches Gerüst für Schmidts Erzählpraxis hin zu befragen und für die Analyse im folgenden Kapitel nutzbar zu machen, sondern sie betrachten die Essays als relativ eigenständige Quelle seines poetologischen Konzepts, in dem Schmidts ambivalente Position zwischen Tradition und Innovation greifbar wird. Der Problembefund, auf dessen Basis Schmidt die ›Berechnungen‹ vornimmt, geht aus seiner Feststellung hervor: Unsere gebräuchlichen Prosaformen entstammen sämtlich spätestens dem 18. Jahrhundert; seitdem ist kein Versuch zur systematischen Weiterentwicklung unternommen worden (abgesehen von einigen zerfahrenen Ansätzen im Expressionismus). Man sehe zu, daß die sprachliche Beschreibung (= Voraussetzung jeder Art von Beherrschung) unserer Welt […] gleichen Schritt hält mit ihrer, zumal technisch-politischen Entwicklung.101
Abgesehen davon, dass Schmidt dem Expressionismus (vor allem angesichts der Tatsache, dass er selbst ihm in starkem Maße verpflichtet ist) keineswegs gerecht wird und alle weiteren modernen Tendenzen in der Literatur um die Jahrhundertwende radikal unterschlägt, tritt in dieser Aussage ein Spezifikum von Schmidts Prosatheorie hervor, das ihn in die Nähe zu Joyce rückt, ihn jedoch weit von den Überzeugungen und Postulaten der künstlerischen Avantgarde distanziert: Während seit Anfang des 20. Jahrhunderts die Künste mit der Einsicht in die Strukturlosigkeit modernen Daseins, mit dem Zweifel an der objektiven Erkenntnisfähigkeit der exakten Wissenschaften sowie der Einheit des Subjekts konfrontiert waren und sich ein schwerwiegender Zweifel an der prinzipiellen Abbildungsfähigkeit der Welt, eine Resignation angesichts der Möglichkeit einer modernen Mimesis abzeichnete, ist vierzig Jahre später Schmidts Glaube an die »Beschreibung und Durchleuchtung der Welt durch das Wort«102 ungebrochen; er sieht die Aufgabe des Dichters nach wie vor darin, »die Welt nach Kräften präzise abzubilden.«103 Zu einer präzisen Abbildung der modernen Welt bedarf 101 102 103
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Schmidt: Berechnungen, S. 101. Schmidt: Berechnungen I, S. 163. Arno Schmidt: »›W a h r h e i t‹ – ?«, seggt Pilatus und grifflacht….. [1.–4.8.1962], in: BA, Bd. III/4, S. 234–240, hier S. 235. Nur ungleich weniger anachronistisch mutet Schmidts konsequente Rückbindung seiner Prosatheorie an mathematisch-naturwissenschaftliche Methodik an, zu der er zeit seines Lebens eine Affinität zeigte. Dies schlägt sich bereits in dem Titel ›Berechnungen‹ und dem diesen vorangestellten Motto (des Eingangs zur Platonischen Akademie) »Nemo geometriae ignarus intrato« nieder. Termini wie »Lemniskate«, »Hypozykloide« oder »Epizykloide«, mit denen er die »Bewegungskurven« bestimmter Erzählformen bezeichnet (vgl. Schmidt: Berechnungen I, S. 166), müssen als »Einschüchterungsstrategien« (Bernhard Sorg: Die frühen Erzäh-
es allerdings moderner Mittel, denn die überlieferten epischen Darstellungsformen sind Schmidt zufolge Ausdruck soziokultureller Gepflogenheiten, die der modernen gesellschaftlichen Realität und den Erkenntnissen der Psychologie bezüglich menschlicher Wahrnehmungsprozesse nicht mehr oder nur noch teilweise entsprechen und daher ergänzungsbedürftig sind. Während die »gebräuchlichen Prosaformen« äußere Vorgänge und Kommunikationssituationen adäquat abzubilden vermögen, wählt Schmidt nun vier innere, d.h. Bewusstseinsvorgänge aus, die er an den Ausgangpunkt seiner Versuchsreihen stellt: »Erinnerung«, »jüngste Vergangenheit« bzw. »löchrige Gegenwart«, »Tagtraum«, »Nachttraum«. Diesen Bewusstseinsvorgängen ordnet er die Darstellungsmodi »Fotoalbum«, »Musivisches Dasein«, »Längeres Gedankenspiel« und »Traum« zu.104 Das narrative Grundmuster des Fotoalbums skizziert Schmidt wie folgt: Das »Fotoalbum« ermöglich nicht nur die vom Themenkreis geforderte scharfe Einstellung einzelner Bilder, sondern es gibt auch den Prozeß des »Erinnerns« präzise wieder ! Man »erinnere« sich eines beliebigen Komplexes, sei es »Kindheit«, »Sommerreise« : immer erscheinen zunächst zeitrafferisch einzelne, sehr helle, Momentaufnahmen (= Bilder) um die herum sich im weiteren Verlaufe der »Erinnerung« dann ergänzend erläuternde Kleinbruchstücke (= Texte) stellen : eine solche Kette von BildText-Einheiten ist das Endergebnis jedes bewußten Erinnerungsversuches.105
Die ›Fotos‹ stellen also synchrone, zeitlich simultane Querschnitte dar, die um weitere Erinnerungsfragmente angereichert und in eine sukzessive Folge über-
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lungen und Romane. Neue Prosaformen, in: Arno Schmidt: Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Michael Matthias Schardt u. Hartmut Vollmer, Reinbek b. Hamburg 1990, S. 109–120, hier S. 112) aufgefasst werden, sind aber stets Ausdruck der Überzeugung Schmidts, dass man sich als Schriftsteller mit den Möglichkeiten sprachlicher Darstellung den empirischen Beschreibungsprinzipien der ›exakten‹ Wissenschaften anzunähern habe. Auch Joyce bedient sich in ›Stephen Hero‹ zur Kennzeichnung seiner Darstellungstechnik einer wissenschaftlichen Analogie, in seinem Fall ist es jedoch eine medizinische bzw. anatomische: »The modern spirit is vivisective. Vivisection itself is the most modern process one can conceive.« (James Joyce: Stephen Hero. Part of the first draft of ›A Portrait of the Artist as a Young Man‹, hg. v. Theodore Spencer, überarb. Aufl., London 1956, S. 190.) Die Versuchsreihen »Musivisches Dasein« und »Fotoalbum« werden in ›Berechnungen‹ sowie ›Berechnungen I‹ dargelegt, die anderen in ›Berechnungen II‹, wobei der Traum lediglich vage umrissen und der Leser auf eine zukünftige Fortsetzung der Ausführungen verwiesen wird, die Schmidt jedoch (was den »Traum« anbelangt) schuldig bleibt, ebenso wie den Versuch einer prosapraktischen Umsetzung der Versuchsreihe. Schmidt: Berechnungen, S. 102. In den Erzählungen ›Die Umsiedler‹ und ›Seelandschaft mit Pocahontas‹, die Schmidt als Umsetzungen dieser Versuchsreihe verstanden wissen will, sind den Kapiteln tatsächlich drucktechnisch ›gerahmte Fotos‹ von kürzeren Texteinheiten vorangestellt.
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führt werden müssen, um der Defizienz des menschlichen Gedächtnisses Rechnung zu tragen. Auf der Basis von Schmidts Überlegungen zu einer adäquaten Repräsentation des menschlichen Erinnerungsvorgangs wird auch die tradierte Vorstellung des »epischen Flusses« hinfällig: es gibt gar keinen »epischen Fluß«. Jeder vergleiche sein eigenes beschädigtes Lebensmosaik; die Ereignisse springen : grundsätzlich ergibt sich durch unsere mangelhafte Gehirnleistung mit ihrem »Vergessen« eine poröse Struktur unseres Daseins : die Vergangenheit ist für uns immer ein Rasterbild.106
Das Konzept einer kontinuierlich fortlaufenden Handlung, wie es den Roman des 19. Jahrhunderts prägt, wird auch in Schmidts Ausführungen zum Musivischen Dasein als literarischer Form löchriger Gegenwart bzw. jüngster Vergangenheit vehement zurückgewiesen: Eine zweite »neue Prosaform« ergab sich mir aus folgender Überlegung : man rufe sich am Abend den vergangenen Tag zurück, also die »jüngste Vergangenheit« (die auch getrost noch als »älteste Gegenwart« definiert werden könnte) : hat man das Gefühl eines »epischen Flusses« der Ereignisse ? Eines Kontinuums überhaupt ? […] Auf dem Bindfaden der Bedeutungslosigkeit, der allgegenwärtigen langen Weile, ist die Perlenkette kleiner Erlebniseinheiten, innerer und äußerer, aufgereiht. Von Mitternacht zu Mitternacht ist gar nicht »1 Tag«, sondern »1440 Minuten« (und von diesen wiederum sind höchstens 50 belangvoll !). Aus dieser porösen Struktur auch unserer Gegenwartsempfindung ergibt sich ein löcheriges Dasein – : […] Der Sinn dieser »zweiten« Form ist also, an die Stelle der früher beliebten Fiktion der »fortlaufenden Handlung«, ein der menschlichen Erlebnisweise gerechter werdendes, zwar mageres aber trainierteres, Prosagefüge zu setzen.107
Schmidts Konzept des Musivischen Daseins spiegelt sein Selbstverständnis als Mosaikarbeiter108 wie auch seine Überzeugung wider, mit dieser fragmentari-
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Schmidt: Berechnungen, S. 102. Schmidt: Berechnungen I, S. 167f. Auffällig ist, wie beiläufig Schmidt auf die – verglichen mit der extensiven Zeitdarstellung des traditionellen Romans – alles andere als selbstverständliche kleine Zeiteinheit eines Tages zurückgreift. Weiterhin heißt es: »die holde Täuschung eines pausenlos ›tüchtigen‹ Lebens, (wie sie etwa Goethe in seinen Gesprächen mit Eckermann so unangenehm geschäftig zur Schau trägt) wird der Wirklichkeit überhaupt nicht gerecht.« Dieses prosatheoretische Postulat wird auch in Schmidts Erzählung ›Aus dem Leben eines Fauns‹ (1952) vom Erzähler reflektiert: »Mein Leben?!: ist kein Kontinuum! (nicht bloß durch Tag und Nacht in weiß und schwarze Stücke zerbrochen! denn auch am Tage ist bei mir der ein Anderer, der zur Bahn geht; im Amt sitzt; büchert; durch Haine stelzt; begattet; schwatzt, schreibt; Tausendsdenker; auseinanderfallender Fächer; der rennt; raucht; kotet; radiohört; ›Herr Landrat‹ sagt: that’s me!): ein Tablett voll glitzernder snapshots.« (Arno Schmidt: Aus dem Leben eines Fauns, in: BA, Bd. I/1, S. 299–390, hier S. 301. Im Folgenden innerhalb des fortlaufenden Textes nachgewiesen mit der Sigle (F, [Seitenangabe]). Vgl. Arno Schmidt: Seifenblasen und nordisches Gemähre. (Eindrücke von einer neuen SCHEERBART=Ausgabe) [31.12.1962–5.1.1963], in: BA, Bd. III/4, S. 241–245, hier S. 243.
schen Gestaltungsweise einer Abbildung menschlichen Erlebens am nächsten zu kommen. Bezeichnenderweise spricht Schmidt in diesem Kontext auch von »Pointilliertechnik«109 und bedient sich damit einer Analogie, die auch Stuart Gilbert in seiner ›Ulysses‹-Studie zur Veranschaulichung der sprachlichen Präzision des Romans nutzt.110 Als drucktechnisches Merkmal dieses zweiten Grundmusters sollen die Anfangszeilen der ›Kleinkapitel‹ um mindestens drei Anschläge vorgezogen und kursiv gesetzt werden, »weil sie einmal den ›Anlauf‹ (zum Sprung) der – sorgfältig auf Schockwirkung hin ausgesuchten ! – einleitenden Worte fühlbar machen sollen, den ›Stich‹, der der Injektion vorausgeht.«111 Die Erlebniseinheiten, die das Bewusstsein rekapituliert, werden nicht nach dem Kriterium der ›Bedeutsamkeit‹ ausgewählt; vielmehr ist es die Assoziation, die die Kette bildet, auf der die Ereignisse aufgereiht werden. Die Versuchsreihen 3 und 4, Längeres Gedankenspiel und Traum, basieren auf der Überlegung, dass in ihnen eine »doppelte Handlung«112 dargestellt wird, die aus zwei Erlebnisebenen hervorgeht. Schmidt bezeichnet mit E I die objektive, äußere, mit E II die subjektive, ›innere‹ Realität des Erzählers. Das Längere Gedankenspiel unterscheidet sich als Wunschprojektion oder Selbstgespräch vom Traum insofern, als die subjektive Realität in ersterem Falle vom Gedankenspieler in einem aktiven Prozess bewusster Selektion und Imagination gestaltet wird, sich im Traum dagegen unbewusst aufdrängt, bzw. passiv erlitten wird. Die reale Erlebnisebene E I ist jedoch in beiden Formen des Erlebens identisch. Schmidt stellt fest, dass sich eine Vielzahl literarischer Werke als Gemische aus E I und E II ihres Autors darbieten,113 es jedoch kein Schriftstel-
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Schmidt: Berechnungen, S. 103. Vgl. Stuart Gilbert, James Joyce’s Ulysses, S. 10: »Thus, it was necessary to emphasize the ›classical‹ and formal elements, the carefully planned layout of the book, and the minute attention given by its author to detail, each phrase, indeed each word, being assigned its place with pointilliste precision.« Schmidt: Berechnungen III, S. 372. Ein solches Druckbild findet sich erstmalig in ›Alexander oder Was ist Wahrheit‹ (1948), außerdem in den Erzählungen ›Brand’s Haide‹, ›Schwarze Spiegel‹, ›Aus dem Leben eines Fauns‹ oder ›Das Steinerne Herz‹, die von Schmidt (neben ›Enthymesis‹ und ›Leviathan‹, die noch nicht den kursivierten »Anlauf« aufweisen) der Versuchsreihe Musivisches Dasein zugeordnet werden. Schmidt: Berechnungen II, S. 276. Schmidt nennt in den ›Berechnungen II‹ (S. 277) Brockes ›Irdisches Vergnügen in Gott‹ und Coopers ›Pioneers‹ als zwei Beispiele der seltenen Darstellungen ›reiner E I‹. Erzählungen, die ausschließlich die Erlebnisebene II ausschöpfen, sind Schmidt zufolge etwa Poes ›Arthur Gordon Pym‹, Klopstocks ›Gelehrtenrepublik‹, Vernes ›Reise zum Mittelpunkt der Erde‹ oder sein eigener Roman ›Schwarze Spiegel‹, von dem er sagt, es handle sich dabei um das E II seiner »Kriegsgefangenschaft, 1945, im Stacheldrahtkäfig vor Brüssel, there was a sound of revelry by night« (S. 278).
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ler bisher unternommen habe, E I und E II nebeneinander darzustellen,114 was die präziseste Annäherung an »das komplette Porträt eines Menschen in einem gegebenen Zeitraum x«115 darstellen würde. Insgesamt stellen sich die ›Berechnungen‹ – zugespitzt formuliert – als ein Amalgam aus Pioniergeist und Anachronismus dar; ihr quasi normativer Anspruch, die überfälligen formalen Grundlagen für eine moderne Mimesis zu schaffen und mit den Versuchsreihen eine Systematik von Mustern für eine adäquate Abbildung der »Eigentümlichkeiten unserer Gehirnstruktur«116 vorgelegt zu haben, ein Anspruch, der in seinem Gestus einer systematischen Erfassung und Explikation gleichsam an frühneuzeitliche Regelpoetiken und in seinem Ruf nach einer radikalen Erweiterung des literarischen Formenarsenals an die künstlerischen Programme und Manifeste der Avantgarde erinnert, hat nicht die Beachtung erfahren, die Schmidt sich erhofft hatte. Dies ist insofern keineswegs verwunderlich, als seine ›Berechnungen‹ nicht nur gravierende Widersprüche in sich bergen,117 sondern auch ein künstlerisches Programm darstellen, das keineswegs neu ist.
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Dieses Desiderat glaubt Schmidt mit dem Zwei-Spalten-Roman ›Kaff oder Mare Crisium‹ vorzulegen, der einen weiteren Paradigmenwechsel in Schmidts literarischer Entwicklung darstellt, da Schmidt hier seine Bemühungen um eine ›fonetische Schreibung‹ radikalisiert und den Versuch eines Längeren Gedankenspiels vorlegt. Es besteht innerhalb der Forschung Einigkeit darüber, dass Schmidts Prosa mit ›Kaff‹ (Niederschrift 1958–1960) einen entscheidenden Wandel erfährt; Weninger und Gradmann führen diesen Wandel auf Schmidts ›Ulysses‹-Lektüre zurück. Man muss jedoch dagegen halten, dass Schmidt hier konsequent ein eigenes Projekt realisiert, das in den ›Berechnungen‹ vorgezeichnet war. Tatsächlich entspricht die strikte Trennung der Erlebnisebenen E I und E II, wie sie in diesem Roman durch das Vorziehen bzw. die Einrückung von Textblöcken typographisch umgesetzt ist, keineswegs einem Darstellungsmodus des ›Ulysses‹, da hier immer eine Totalität von objektiver Realität und Bewusstseinsprozessen dargeboten wird. Zwar ließen sich ›Proteus‹ als Stephens, ›Circe‹ als Blooms, ›Penelope‹ als Mollys Längere Gedankenspiele betrachten, dennoch wird auf eine Trennung beider Erlebnisebenen verzichtet, da das Bewusstsein Anregungen aus der Realität empfängt, die Sinneswahrnehmung wiederum auf die Realität zurückgreift und insofern eine Separierung von E I und E II einer Abbildung menschlicher Bewusstseinsprozesse, die sich als Synthese von materieller Realität und subjektiver Empfindung präsentieren, kaum gerecht würde. Schmidt scheint sich dessen nicht bewusst geworden zu sein, dass sein analytisches Verfahren in ›Kaff‹ aus diesem Grund äußerst künstlich wirkt, bestenfalls eine »Konzession an den Leser« (von Stenglin, Der Schreibtisch als imaginierter Stammtisch, S. 234) darstellt und seinem Ziel der präzisen Abbildung von »Eigentümlichkeiten unserer Gehirnstruktur« zuwiderläuft. Zudem handelt es sich bei E II in ›Kaff‹ nicht um die Transkription eines Gedankenspiels, sondern um die Erzählung Karls. Schmidt: Berechnungen II, S. 278. Schmidt: Berechnungen I, S. 164. Alle vier von Schmidt umrissenen Prosaformen setzen ein erlebendes Subjekt voraus, dessen Bewusstseinsinhalte und zugleich dessen Bewusstseinsvorgänge selbst (seien es die Erinnerung, die Wahrnehmung unmittelbar zurückliegender Gegenwart, ein
Bei seinem materialistisch-mathematischen Ansatz, der Poetologie als naturwissenschaftliche Aufgabe deklariert, handelt es sich um eine Reminiszenz des Positivismus, der »biologistischen Mode der Zeit um 1930.«118 Die poetologischen Postulate Schmidts stammen ebenfalls aus den Jahren 1920–1930 – es sind die der literarischen Moderne. Schmidts Diktum Die Fabel an sich ist in solchen, dem rein Formalen, gewidmeten Experimenten, belanglos. An sich ist sie hier lediglich der Haken, an dem das formale Gewand (aus originellem Sprachgewebe) aufgehängt wird. […] Entscheidend für den dichterischen und den Lehrwert sind an sich nur Form und Sprache !119
gehört ebenso zum Standardinventar der avantgardistischen Kunstkonzeption wie die Aufwertung des Alltäglichen gegenüber dem Besonderen oder Bedeutenden. Die »Perlenkette kleiner Erlebniseinheiten«, die an die Stelle der »Fiktion« eines bedeutsamen epischen Flusses tritt, fügt der Schriftsteller aus Bruchstücken »der Bedeutungslosigkeit, der allgegenwärtigen langen Weile« zusammen, nämlich, wie Schmidt es später formulieren wird, aus »Kleinbeobachtungen, die vor ihm noch nicht bemerkt & festgehalten wurden (aus dem Alltagsleben übrigens, nur aus dem Alltagsleben : das ist so 1 der untrüglichen Kennzeichen des wahrhaft großen Schreibers),«120 denn das »›Alltägliche‹ ist noch nicht halb so klar, wie man sich einzubilden pflegt; und das Außerordentliche eigentlich nur eine Erfindung der Journalisten, die der Dichter verschmähen sollte.«121 Wie kann Schmidt seine Postulate als Novum deklarieren und dabei völlig außer Acht lassen, dass die Auflösung des epischen Flusses sowie die Aufwertung des Gewöhnlichen gegenüber dem Besonderen schon bei Joyce, in den USA bei
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Tag- oder Nachttraum) in ihrer psychischen Struktur zur Gestaltung gelangen sollen. Dabei treten die Bestandteile einer ›Fabel‹ (die jedoch in jedem Fall nur bruchstückhaft zutage tritt und vom Leser rekonstruiert werden muss) hinter der formalen Umsetzung zurück, die darauf ausgerichtet sein muss, dem Rezipienten die Illusion zu vermitteln, die dargestellten Bewusstseinsvorgänge selbst zu erleben. Das Ziel, das den Schriftstellern von Schmidt in den ›Berechnungen‹ vorgegeben wird, ließe sich pointiert formulieren als die quasi wissenschaftliche, vermittels poetischer Illusion von den Lesern intersubjektiv nachvollziehbare Mimesis subjektiver Bewusstseinsprozesse mit sprachlichen Mitteln. Der implizite Widerspruch in dieser Zweckbestimmung moderner Prosa lässt Zweifel an dem Erfolg der Illusionierung des Rezipienten aufkommen. Prütting: Arno Schmidt, S. 6. Schmidt: Berechnungen, S. 104. Arno Schmidt: Alas, poor Yorick ! [21./22.5.1963], in: BA, Bd. III/4, S. 271–278, hier S. 271. Arno Schmidt: Die 10 Kammern des Blaubart [22./23.8.1961], in: BA, Bd. III/4, S. 108– 114, hier S. 114. Schmidt zitiert hier das Diktum Joyce, »ein Schriftsteller sollte niemals über das Ausgefallene schreiben, das ist Sache des Journalisten« (Joyce zit. n. Djuna Barnes: Vagaries Malicieuses, in: dies.: Paris, Joyce, Paris, übers. v. Karin Kersten, Berlin 1988, S. 9–46, hier S. 21).
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John Dos Passos (›USA‹, ›Manhattan Transfer‹), in Deutschland durch Döblin (etwa in ›Berlin Alexanderplatz‹) vollzogen war? Schließlich hatte schon Döblin in seinem ›Ulysses‹-Aufsatz die Kontinuität des menschlichen Erlebens in Frage gestellt, indem er auf »die Zusammenhanglosigkeit des Tuns, des Daseins überhaupt« hingewiesen und daraus gefolgert hatte: »Der Fabuliersinn und seine Konstruktionen wirken hier naiv.«122 Auch andere Grundelemente der ›Berechnungen‹ sind hier bereits explizit formuliert: die Aufwertung des Alltäglichen, der Verzicht auf die Fabel, sogar die Pointillismusanalogie. Döblin bezeichnet den ›Ulysses‹ als den energischsten »Versuch, dem heutigen Alltag auf den Leib zu rücken […]. Zu diesem Versuch wird jede Fabel völlig abgeschüttelt, und es wird ein minutiöses Vorgehen im Detail nötig. Es wird impressionistisch und pointillistisch gearbeitet.«123 Warum fällt Schmidt nicht auf, dass er Grundannahmen traditioneller Prosa als hinfällig darstellt, die bereits 30 Jahre zuvor verabschiedet worden sind? Und wieso ignoriert er, dass sein Experiment, den Mechanismus des Bewusstseinsprozesses selbst neben den Bewusstseinsinhalten zur Darstellung gelangen zu lassen,124 bereits dreißig Jahre zuvor, angeregt von den Erkenntnissen der Psychoanalyse, von Proust, Broch, Jahnn, Dos Passos und Döblin unternommen wurde? Dass Joyce in seinem ›Ulysses‹ bereits 1922 die eindrucksvollste Komposition von »Versuchen einer konformen Abbildung von Gehirnvorgängen durch besondere Anordnung von Prosaelementen«125 vorgelegt hat? Schmidt scheint sich dessen nicht bewusst, dass er seiner Wiederbelebung eines erzählerischen Programms der Moderne ein wirkungsästhetisches Konzept unterschiebt, das bereits seit dem 18. Jahrhundert Eingang in die deutsche Literatur gefunden und die Anschauungen des 19. Jahrhunderts in entscheidendem Maße geprägt hat. Das Ziel, das der Dichter mit der präzisen Abbildung innerer Vorgänge zu verfolgen habe, besteht für Schmidt darin, »dem Leser die Identifikation, das Nacherlebnis zu erleichtern;« durch die Prosaform des ›Fotoalbums‹ würde »im Leser […] zwangsweise die Illusion eigener Erinnerung suggestiv erzeugt werden ! (Natürlich muß man ihm hierzu auch schärfste Wortkonzentrate injizieren; cela va sans dire !)«126 Schmidts Beharren auf dieser mimetischen und illusionistischen Kunstkonzeption (womit freilich nicht gesagt sei, dass Schmidts Prosa mimetisch und illusionistisch ist) weist ihn trotz allem revolutionären Anspruch
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Döblin: »Ulysses« von Joyce, S. 132. Ebd., S. 133. Vom ›Fotoalbum‹ erwartet Schmidt, dass ein derartiger Darstellungsmodus »das Kristallgitter der betreffenden ›Erinnerung‹ sichtbar werden lassen, zugleich aber auch ungeschwächt die Bildintensität ›von damals‹ vermitteln sollte« (Schmidt: Berechnungen I, S. 164). Ebd. Ebd., S. 164f.
als einer Tradition verhaftet aus, die bereits 1955 alles andere als ›modern‹ war. Die Bemühungen der künstlerischen Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts zielten ja gerade darauf, den Artefaktcharakter und die Medialität ihrer Werke zu beleuchten, vermittels solcher Brüche den Rezeptionsprozess zu rationalisieren und jede Illusionierung zu verhindern. Der für Schmidts prosatheoretische (und -praktische) Bestrebungen konstitutive anachronistische Zug, der sich in den ›Berechnungen‹ abzeichnet, ist zweifellos eine notwendige Folge des Außenseiterdaseins eines Autodidakten, der mit etwa dreißigjähriger Verspätung die Werke der literarischen Moderne rezipiert und mit ihnen ihren wissenschaftlichen und geistesgeschichtlichen Kontext aufnimmt. Diese ›Wiederentdeckungen‹ verbinden sich mit Schmidts bisherigem privaten Kanon. Dieser Eklektizismus, der zu fundamentalen Inkohärenzen im Rahmen seiner Theorie führt, ist Ausdruck eines eigenwilligen Rezeptionsverhaltens Arno Schmidts, der selektiv auf die Tradition zurückgreift, potentielle Widersprüche missachtet und all die Elemente in seine poetologischen Anschauungen und sein Werk integriert, die ihm fruchtbar erscheinen und den formalen Bedürfnissen seiner Prosapraxis entgegenkommen. Das programmatische »Zu spät!« der Rede anlässlich der Verleihung des Goethepreises überschreibt somit auch seine Prosatheorie, die als ein »Aufholen« zu bewerten ist, ein Versuch, eine Tradition fortzuschreiben, die von der Nazidiktatur erstickt wurde, noch bevor Schmidt als Schriftsteller an ihr teilhaben konnte. Schmidt ignoriert, dass die wissenschaftlichen Grundlagen der Psychologie, die er sich zunutze macht, überholt sind und sein zentrales Postulat, dass der primäre Gegenstand der Nachahmung nicht die Welt, sondern die Weltwahrnehmung durch den Menschen sein soll, bereits 1922 in die Praxis umgesetzt worden ist (und zwar weitaus radikaler als in den ›Berechnungen‹) – im ›Ulysses‹.127 Resümierend ließe sich also die provokante Frage aufwerfen, ob Schmidt mit den ›Berechnungen‹ nicht nur seiner eigenen Prosa, sondern auch dem ›Ulysses‹ (und der literarischen Moderne im Allgemeinen) das noch ausstehende bzw. defizitäre poetologische Programm nachgereicht hat.
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Joyce umreißt sein Prinzip der Bewusstseinsdarstellung im ›Ulysses‹ mit den Worten: »In Ulysses I have recorded, simultaneously, what a man says, sees, thinks, and what such seeing, thinking, saying does, to what you Freudians say subconscious.« Frank Budgen erklärte er: »I try to give the unspoken, unacted thoughts of people in the way they occur.« (Joyce zitiert nach Budgen: James Joyce and the Making of Ulysses, S. 94).
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3.4.2 »Kurze Erzählungen; früher süß, jetzt rabiat«128: Von den ›Juvenilia‹ zum ›Leviathan‹ Das Selbstverständnis als Moderner bzw. als Experimentator, das Schmidt in den ›Berechnungen‹ zur Schau stellt, scheint sich in aller Deutlichkeit erst in den Jahren nach dem Krieg herauszubilden. Schmidts frühste dichterische Versuche stellen sich als ein Schmelztiegel aus Einflüssen unterschiedlichster literarischer Epochen dar. In einem Brief an Heinz Jerofsky aus dem Jahr 1940 behauptet Schmidt noch, dass für ihn »die deutsche Literatur […] mit Stifter und Storm aufhört.«129 Die Ernsthaftigkeit dieser Behauptung darf insofern bezweifelt werden, als gerade Schmidts Briefwechsel mit Heinz Jerofsky als ein klares Indiz dafür betrachtet werden kann, in welchem Maße die Lektüre der Expressionisten und ihre »schärfsten Wortkonzentrate«130 den jungen Mann beeindruckt haben müssen: Der mond grinste gequaelt in wolken, wind lief mit geschrei schwarz auf raeubersteigen, arno schmidt, ein fremder prinz aus dem buecherlande umging den steinberg. Auf einer bank, lau in rebenranken, schlief ein quidam: groß, weißes fett, oeliges caesarenhaftes schnarchen – und – ein becken? – – – zum kant, ja! – : ein becken wie ein braukessel!131
Seinem Freund Jerofsky widmete Schmidt auch seine ersten literarischen Versuche, die erstaunlicherweise (angesichts der Tatsache, dass Schmidt die Lyriker später als »Kurzstreckenläufer unter den Wortbastlern«132 diskreditieren sollte) in Gedichten bestanden, die Amalgame aus expressionistischen Wortschöpfungen und romantischer Motivik sind: Da eine Geige weinte um Mitternacht hat mich mein Rausch in mondhelle Gassen gebracht leis tönt mein Schritt in der Nacht. Lampiges Fenster weht auf 128 129 130 131
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Arno Schmidt: Brand’s Haide, in: BA, Bd. I/1, S. 115–199, hier S. 118. Im Folgenden innerhalb des fortlaufenden Textes nachgewiesen mit der Sigle (B, [Seitenangabe]). Schmidt an Jerofsky, 26.5.40, in: Wu Hi?, S. 86–88, hier S. 87. Schmidt: Nachwort zu Coopers »Conanchet« [24.8.–4.9.1961], in: BA, Bd. III/4, S. 130–137, hier S. 136. Schmidt an Jerofsky, 29.8.33, in: Wu Hi?, S. 55–56, hier S. 55. In Schmidts Prosawerk finden sich einige verstreute Würdigungen des Expressionismus; er lässt beispielsweise den Erzähler Düring im ›Faun‹ sagen: »es lebe unser großer heiliger Expressionismus!!« (F, S. 355) und in ›Schwarze Spiegel‹ heißt es: »Einmal neigte ich den Kopf, das Haupt, vor August Stramm: dem großen Dichter! (Auch Albert Ehrenstein, sagt was ihr wollt!)« (Arno Schmidt: Schwarze Spiegel, in: BA, Bd. I/1, S. 199–260, hier S. 209). Vgl. hierzu auch die Ausführungen zum ›Faun‹ in Kap. 3.4.3. Arno Schmidt: Muß das künstlerische Material kalt gehalten werden ? (Anmerkungen zu Extrakten aus Benn’s Pallas und Kunst und Macht.) [24.–26.9.1959], in: BA, Bd. III/3, S. 491–494, hier S. 492.
Stimmen und Wolkenzug Brunnengeliebte am Markt spendet aus steinernem Krug herbstliches Wasser trank ich in stummem Zug.133
Verse wie »Lampiges Fenster weht auf« sind in ihrer Verwendung synästhetischer Wortschöpfungen auffällige expressionistische Einsprengsel in einem Gedichtkorpus, das sich einer Vielzahl von Archaismen und weitgehend romantischer Themen und Motive bedient. Die Schnitter, die, »die letzte Aster [!] in der reifen Hand«, »hinter müden Pferden«134 schreiten, die »sanfte[n] Bienen, die im Mondlicht summen«,135 die »Krüge weinbelaubt«136 sind untrügliche Indizien für Schmidts damalige Verehrung der Romantik. Gleiches gilt für die kurzen Erzählungen, die in den Jahren 1937 bis 1943 entstanden, die ihren Autor ebenfalls als romantischen Epigonen ausweisen, da sie größtenteils aus Versatzstücken romantischer Prosa (Hoffmann, Fouqué, Poe etc.) montiert sind. Fast alle dieser Erzählungen, die von Schmidt später als »›Märchenserie‹ à la Hoffmann & Tieck«137 bezeichnet wurden, sind in utopische oder weltabgewandte Räume und vergangene Zeiten projiziert, bedienen sich eines Arsenals phantastischer Stereotypen.138 133
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Arno Schmidt: Schritte in der Nachtstille, in: BA, Bd. I/4, S. 143. Das Gedicht ist Teil einer mit dem Titel »Schritte in der Nachtstille« überschriebenen Sammlung, die Schmidt am 1.2.1933 Heinz Jerofsky handschriftlich in einem Notizbuch geschenkt hatte. Beide Zitate aus Arno Schmidt: Herbstliche Nacht, in: BA, Bd. I/4, S. 144. Ebd. Arno Schmidt: Gadir, in: BA, Bd. I/4, S. 145f., hier S. 145. Arno Schmidt: Brief an Ernst Krawehl, 26.3.1958, in: BA, Bd. I/4, S. 636. Handlungsschauplatz von Schmidts erster Erzählung ›Die Insel‹ (1937) ist die Bibliothek eines böhmischen Schlosses, die vom Erzähler und seiner Geliebten jedoch zur Flucht in eine geheimnisvolle unterirdische Welt (man denke an Jules Verne!) verlassen wird. Dieser wörtlich zu nehmende Eskapismus prägt auch die übrigen Geschichten. Die im Chronikstil abgefasste Erzählung ›Der junge Herr Siebold‹ (Frühjahr 1941) spielt in einer mittelalterlichen Stadt, ›Das Haus in der Holetschkagasse‹ (Herbst 1941, Garnison Hagenau) in einem geheimnisvollen Moldaustädtchen; in ›Die Fremden‹ (1942) wird Schnabels ›Insel Felsenburg‹ als phantastische Utopie entwickelt; im ›Garten des Herrn von Rosenroth‹ (1942) begegnet der Held gleich einem ganzen Ensemble von Elementargeistern; die Erzählungen ›Der Rebell‹ (1941), ›Das Kraulemännchen‹ (1941) und das Fragment ›Mein Onkel Nikolaus‹ (1943) ergänzen diesen Reigen des vollendeten Anachronismus. Lediglich ›Pharos oder Von der Macht der Dichter‹, eine Erzählung, die von Schmidt auf 1941, von den Herausgebern der ›Juvenilia‹ (Jan Philipp Reemtsma/Bernd Rauschenbach/Wolfgang Schlüter: Editorische Nachbemerkung, in: BA, Bd. I/4, S. 635–637, S. 637) jedoch auf frühestens 1943 datiert wurde, in der ein Schiffbrüchiger von einem titanenhaften Herrn auf einer Insel als Sklave gehalten wird, mag als Parabel auf die Soldatenexistenz und die Unterdrückung der Menschen durch die Nazidiktatur gelesen werden (Vgl. Peter Kock: Lesen? Leben? Schreiben... Über Arno Schmidts ›Pharos oder von der Macht der Dichter‹, in: Arno Schmidt: Das Frühwerk, hg. v. Michael Matthias Schardt, Aachen 1989, Bd. 3: Vermischte Schrif-
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Vor dem Hintergrund der frühen Erzählungen tritt der radikale Paradigmenwechsel scharf konturiert hervor, der mit dem ›Leviathan‹ einsetzt. Hier werden zum ersten Mal in Schmidts Prosawerk konkrete Erfahrungen der Kriegswirklichkeit erzählerisch verarbeitet; erstmals nimmt er es »mit den Bilderfluten seiner drängenden Kriegs- und Vorkriegserinnerungen auf, die er nicht als überbordenden Sprachschwall aufs Papier wirft, sondern aus denen er hochsuggestive Einzelsnapshots extrahiert.«139 Die Freiheit dichterischer Imagination, der Schmidt zuvor ganz im Sinne seiner romantischen Vorbilder gehuldigt hatte, tritt in einen unvereinbaren Konflikt mit der Forderung nach der Abbildung greifbarer Realität, wie sie von Schmidt 1958 in ›Der sanfte Unmensch‹ explizit formuliert wird: »Eines aber sollte jeder Dichter ei nm a l leisten: ein Bild der Zeit uns zu hinterlassen in der er lebte !«140 Die Erfahrung der Schrecken des Krieges scheint dieses Anliegen hervorzubringen und dringlicher denn je zu machen. Die bereits auf den ersten Blick erkennbare äußere Gemeinsamkeit der Nachkriegserzählungen besteht darin, dass von dieser Zäsur an die Handlung nurmehr selten in utopische Räume verlegt,141 sondern im Gegenteil geradezu kartographisch im Raum fixiert und exakt datiert wird. Die geographischen Namen
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ten: Interpretationen von »Die Insel« bis »Fouqué«, S.194–204). ›Pharos‹ hat insofern eine Sonderstellung inne, als Schmidt in der Tagebuchform des sterbenden Erzählers erste Versuche bei der Darstellung von Bewusstseinsprozessen unternimmt. Einen Sonderstatus haben die Alice Schmidt gewidmeten ›Dichtergespräche im Elysium‹ (1940–41), die den Mustern von Lukians ›Göttergesprächen‹ oder Wielands ›Gesprächen im Elysium‹ nachempfunden sind. In den zwölf Unterredungen zwischen Schmidts damaligen »Groß=Lieblingen« (Cervantes, Wieland, Fouqué, Tieck, Hoffmann, Poe u.a.) finden sich bereits viele später ausgeführte prosatheoretische Anschauungen vorgezeichnet. Angesichts der Tatsache, dass Schmidt seine Gedanken aus der Schreibstube einer Kaserne im Riesengebirge ins Elysium wendet, müssen die Göttergespräche jedoch als »Gedankenspiele in rauher Kriegswirklichkeit« (Peter Ahrendt: Der Büchermensch. Wesen, Werk und Wirkung Arno Schmidts. Eine umfassende Einführung, Paderborn 1995, S. 62) und somit als Variation des romantischen Eskapismus der Prosaerzählungen aufgefasst werden. Friedhelm Rathjen: Vom Nachleben in dicken Wälzern. Arno Schmidts postumer Publikationsstrom, in: ders.: Dritte Wege. Kontexte für Arno Schmidt und James Joyce, Scheeßel 2005, S. 15–30, hier S. 21. Arno Schmidt: Der sanfte Unmensch. (Einhundert Jahre ›Nachsommer‹), in: BA, Bd. II/2, S. 61–97, hier S. 63. Ausnahmen sind die Erzählungen ›Enthymesis‹ (entstanden 1946) und ›Gadir‹ (1948), die im Rahmen der vorliegenden Arbeit unberücksichtigt bleiben sollen, da in ihnen die Unterdrückungsmechanismen der Nazidiktatur in die Antike projiziert werden, sowie der dystopische Roman ›Schwarze Spiegel‹ aus dem Jahr 1951, der sich jedoch nicht in dem Selbstzweck utopischer Imagination erschöpft, sondern das Entsetzen der Kriegserfahrungen in einer minutiös dargelegten Zerstörungsphantasie konzentriert.
Kreuzberg, Kerzdorf,142 Drontheim (L, S. 38), Nikolausdorf (L, S. 42) und die Erwähnung der Greiff-Werke (vgl. L, S. 36) lokalisieren den Ausgangspunkt des ›Leviathan‹ in Schmidts Heimat Lauban.143 Die Flucht endet jedoch bereits vor dem 20 km westlich gelegenen Görlitz vermutlich auf dem Neiße-Viadukt (vgl. L, S. 52). Die zeitlichen Koordinaten gewährleisten die Datierung der nachträglich geschilderten ›Erlebniseinheiten‹ durch den Diaristen,144 denn Schmidt wählt für den ›Leviathan‹ den Tagebuchstil als narratologisches Strukturmuster, den er in den ›Berechnungen‹ als Vorläufer des Inneren Monologes deklariert. Der Tagebuchstil ist (nach dem Inneren Monolog) die Textsorte par excellence für eine erlebnisunmittelbare Darstellung äußerer und innerer Vorgänge. Indem die vom Diaristen festgehaltenen Erlebniseinheiten z.T. auf wenige Minuten reduziert und während der Niederschrift stattfindende Ereignisse notiert werden, verstärkt Schmidt den Eindruck eines Bewusstseinsstenogramms, das auf das Präsens als Erzähltempus hindrängt. Die Eintragungen beginnen, indem der Diarist die Schmerzen einer vorangegangenen Verletzung dokumentiert: »Der Kopf pulst wie ein schwellendes Glockenmaul – oh –. Ich muß den Mund blähen und zerren. – Oh ! –.« (L, S. 35) Mit dem von Interjektionen durchbrochenen »Gestammel« ist schon zu Beginn eine größtmögliche Annäherung an die sinnliche Erfahrung des Erzählers erzielt, noch bevor sein sachlicher Bericht im Erzähltempus der Vergangenheit einsetzt. Immer wieder dringt jedoch eine präsentische Darstellung sinnlicher Erfahrungen während der Niederschrift in die Aufzeichnungen ein, etwa bei meteorologischen Beschreibungen: »Die lange Dämmerung. Schleppen. Dunkel raunt ein, wie ein Maler zögernd eine nächtige Farbe mischt. Schleppen. Staubiges Geld. Schleppen. Rauchiges Rot. Schleppen. Durch ein Ruinenfenster zwinkerte feist der erste Stern; dick, dreistgelb, ein Bankier. Schleppen.« (L, S. 36) Auch die quasi-stenografische Transkription der Zugfahrt, wie sie vom Diaristen während der Niederschrift sinnlich wahrgenommen wird, trägt neben den Tempuswechseln zur Erzeugung von Unmittelbarkeit bei und weist dabei alle Merkmale des Inneren Monologes auf: »Da :
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Arno Schmidt: Leviathan, in: BA, Bd. I/1, S. 33–54, hier S. 35. Im Folgenden innerhalb des fortlaufenden Textes zitiert als (L, [Seitenangabe]). Die eminenten biographischen Parallelen und Differenzen zwischen dem Diaristen und Schmidt selbst finden Berücksichtigung bei Wolfgang Martynkewicz (Arno Schmidt, Reinbek b. Hamburg 1992, bes. S. 44). Im Text sind die Zeitangaben, mit denen der Diarist die Einträge überschreibt, kursiviert und lassen insofern das zeitliche Gerüst der Erzählung umso schärfer hervortreten: 14.2.45 [der Tag des dritten Luftangriffs auf Dresden, M. J.] 14.16 ist es – 15,00 – 15,10 – Nach 18,00 – 20,00 – Im Waggon – Vorhin – 21,07 – Später – Fast Mitternacht – Draußen – Noch dunkel – 8,00 – 9,30 – 11,00 – Mittag – Hört, hört – 14,13 – Unten im Wagen – 16,10 – Dämmerung, Dämmerung – 19,30 – Nacht im Wagen – Spät. Spät – 6,18 – 07,00 – 07,10 – 08,20 – Ende. Daraus lässt sich eine äußerste Reduktion der erzählten Zeit auf weniger als zwei Tage ablesen.
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langsamer. Schluß. Na also.« (L, S. 42) Die Verdichtung der Zeit in der Niederschrift des Diaristen erreicht einen ins Mystische übersteigerten finalen Höhepunkt am Schluss der Erzählung, wenn er seine Todesvision im Futur wiedergibt, bevor er das Heft mit seinen Aufzeichnungen in den Abgrund wirft und selbst mit seiner Geliebten in den Tod springt: Wir werden in die grobrote bereifte Tür treten. Goldig geschleiert wird die TeufelsWinter-Sonne lauern, weißrosa und ballkalt. Sie wird das Kinn vorschieben und bengelhaft den Mund spitzen, die Hüften zum Schwung heben. Starr werde ich den Arm um sie legen. Da schlenkere ich das Heft voran : flieg. Fetzen. (L, S. 53)
Die Reflexionen des Erzählers, die einen wesentlichen Teil der Erzählung konstituieren, werden im Präsens wiedergegeben und stellen den philosophischen Fluchtpunkt zur grausamen Kriegswirklichkeit dar. Die Projektionsfläche, auf deren Basis die Realität zu begreifen versucht wird, bietet sich dar als ein Gemisch aus der Philosophie Schopenhauers und Kants, kosmologischen Konzepten eines Universums, das unbegrenzt aber nicht unendlich sei, an dessen Spitze (an die Stelle der von Schmidt vehement abgelehnten christlichen Vorstellung eines gütigen Gottes) mit dem Leviathan der biblische Mythos eines universalen Dämons gesetzt wird. Der vollständige Titel der Erzählung ›Leviathan oder Die beste der Welten‹ verweist ironisch auf die Nazidiktatur als Antithese zur Leibniz-Wolffschen Auffassung von der Erde als der besten aller möglichen Welten. Dieser philosophische Schmelztiegel wird durch eine Vielzahl literarischer Anspielungen und Zitate angereichert, die Teile des Bewusstseins des Diaristen und Facetten von Arno Schmidts privatem literarischem Kanon sind.145 Diese Fragmente werden jedoch nicht mehr als überzeitliche Wahrheiten betrachtet, sondern aus ihrem literarhistorischen Zusammenhang herausgenommen und mit der Kriegswirklichkeit konfrontiert. Die »Inbegriffe humaner Weltkunst«146 (Cervantes, Homer, Mozart) werden als Sedativa beim Anblick des Schwellenreißers wachgerufen, Nietzsche, Platon und Dante erscheinen in diesem Licht als »große Schädlinge« (L, S. 42), da sie als Väter der nationalsozialistischen Ideologie diskreditiert werden;147 »Kant und Schopenhauer […], Gauß und Riemann, Darwin, Goethe, 145
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Vgl. L, S. 41: »Cooper fiel mir ein, also auch der Hochwald [Stifters, M.J.] ›– es liegt etwas Fremdes und Abwehrendes in Schmuck und Feierkleid der Frauen –‹«. Wolfgang Albrecht (Arno Schmidt, Stuttgart/Weimar 1998, S. 16) erkennt den zynischen Kommentar des Diaristen »Fahrt ins Graue mit obligatem Schwellenreißer« als »sarkastische Titelvariante eines der Schmidtschen Lieblingsbücher (Das alte Buch und die Reise ins Blaue hinein, von Tieck, 1835).« Das onomatopoetische »It cracked and growled and roared and howled« (L, S. 43) ist ein Zitat aus S. T. Coleridges ›The Rime of the Ancient Mariner‹. Albrecht: Arno Schmidt, S. 16. Von Dante heißt es, dass die »Schilderung eines wohleingerichteten K.Z.« als Auswuchs seiner »allerchristlichst pervertierten Phantasie« bereits in seiner ›Göttlichen Komödie‹ zu finden sei (beide Zitate L, S. 50).
Wieland« (L, S. 43) werden als Repräsentanten einer aufgeklärten Geisteshaltung der ignoranten und herrschaftsgläubigen Bevölkerung gegenübergestellt. Als die Ausweglosigkeit der Flucht offenbar wird, rafft der Diarist »mühselig zusammen, was dergleichen noch in den Ruinen [s]eines Wissens« (L, S. 51)148 herumliegt; das Netz geistesgeschichtlicher Versatzstücke verdichtet sich in einer staccatohaften Reihung von Namen aus Literatur, Kunst, Philosophie und Wissenschaft,149 die wie eine verzweifelte Geste der Aufbietung von Kultur gegen eine kulturlose Zeit erscheint, den sterbenden Alten betäuben und die Kopulation der betrunkenen Soldaten mit der Prostituierten übertönen soll. Innerhalb von drei Jahren vollzieht sich in Schmidts Diktion ein Wandel zum kompromisslosen Realismus, der anhand zweier Beispiele kontrastiv veranschaulicht werden soll. Bei beiden Textpassagen handelt es sich um die für Schmidts Erzählungen konstitutiven Beschreibungen des Mondes; erstere ist aus Schmidts Erzählung ›Die Fremden‹ entnommen, die zweite stammt aus dem ›Leviathan‹, der drei Jahre später niedergeschrieben wurde: Der Mond stand hoch über den glänzenden Wipfeln, und erfüllte die weiten wirren Wälder mit seinem blassen schönen Licht; Nebel traten stumm wie silbernes Wild aus den tiefen Wiesen, und fern am webenden Horizont glänzte ein Flüßchen in der duftigen Helle. Ein Füchslein bellte in großer Ferne die silberschaligen Wolken an […]. Aus den knisternden Kräutern hüpfte ungemein geschwind ein Eichkätzchen, sah sich nickend um, und führte mit beiden Fäustchen eine schöne aufgesparte Haselnuß zum Mündchen.150 Der Mond grellt im Pappelgang. (L, S. 52)
Der ausgewogene syntaktische Rhythmus der unter dem Einfluss der Romantiker stehenden Prosa, die für Schmidts ›Juvenilia‹ charakteristisch ist, die fließende Satzmelodie, die Diminutive, die zahlreichen Alliterationen, die Archaismen des Stimmungsbildes fallen einer harten, sparsamen Diktion zum Opfer; hier scheint Schmidt seine später in den ›Berechnungen‹ aufgestellte Forderung nach ›schärfsten Wortkonzentraten‹ und einer ›dehydrierten Prosa‹,151 die alle schildernden Elemente ausspart, radikal umzusetzen. Der Neologismus »grellt« – eine für den Expressionismus (man denke etwa an August Stramms Lyrik) charakteristische
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Möglicherweise handelt es sich dabei wiederum um eine Anspielung auf einen Vers aus T. S. Eliots ›The Waste Land‹, (in: ders.: Selected Poems, London 1961, S. 49–93, hier S. 67, [V. What the Thunder Said, V. 430]): »These fragments I have shored against my ruins.« Piranesi, Dante, Poe, Oken, Pseudo-Dionysius, Scotus Erigena, Almericus, David de Dinanto, Giordano Bruno, Spinoza, Goethe, Schelling, Poe treten neben die Gnostiker und Kabbalisten, den Buddhismus etc. (vgl. L, S. 51). Arno Schmidt: Die Fremden, in: BA, Bd. I/4, S. 571. Vgl. Schmidt: Berechnungen I, S. 164f.
131
Transformation eines Adjektivs in ein finites Verb – wird expressiv aufgeladen.152 Eine romantisch-epigonale Prosa wird als unbrauchbar, ja absurd zur Darstellung von Kriegserfahrung erkannt; in einem fiktiven Brief an den Bruder seiner Frau, Werner Murawski (der 1943 im Krieg gefallen war), schrieb Schmidt im Jahr 1948 in scharfer Abgrenzung von Goethes Versepos ›Hermann und Dorothea‹: »Wir, Werner, wissen, was ›Flüchtlinge‹ sind ! Schließe die Augen und laß Dich von dem Schauer überlaufen ! – – Kannst Du Dir nun vorstellen, daß man dergleichen in Hexametern schildert?«153 Die angemessene Abbildung des Kriegsalltags erfordert eine Diktion, die frei von romantischer Verklärung ist und den Schock des Kriegserlebnisses aus sich selbst sprechen lässt. Die Sprache wird mit sinnlichen Qualitäten angereichert, sie erhält lautmalerische und visuelle Funktion.154 Die Lautfolge »Huiiii – Ua« (L, S. 43) imitiert onomatopoetisch das Granatfeuer, und der Mechanismus des Schwellenreißers wird sprachlich transkribiert, indem Gedankenstriche zur Pausierung bzw. Rhythmisierung verwendet werden: »Es zerwürgte gemach noch eine Schwelle. Zögernd, genießend : noch eine. – Noch – eine – – noch. Wir standen.« (L, S. 49) Die sprachliche Darstellung des Luftangriffes geschieht durch eine Auflösung der Syntax in elliptische Splitter und synästhetische Verknüpfungen, wobei die Verben bzw. Partizipien und Substantivierungen (singen, schreiend, jaulend, Geheul, brüllend, schrien, jauchzten) sowie die eine Sphäre des Dämonischen suggerierende Bildlichkeit den Eindruck eines expressionistischen fortissimo entstehen lassen: 152
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In seinem Aufsatz ›Arno Schmidt und August Stramm‹ (Beobachtungen zu den expressionistischen Stilelementen in den frühen Romanen, in: Text + Kritik, Heft 20/20a: Arno Schmidt, 4. Aufl. Neufassung, hg. v. Heinz Ludwig Arnold, München 1986 (zuerst: 1968), S. 82–88) zeigt Jörg Drews anhand einer ergebnisreichen Analyse der Erzählungen vom ›Leviathan‹ bis zu ›Das Steinerne Herz‹ das Fortwirken der expressionistischen Tradition (bes. der Stilmerkmale August Stramms und Albert Ehrensteins) in Schmidts Prosa nach 1945 und gelangt zu dem Fazit: »Hier liegt […] ein direktes Herübergreifen der Expressionismus-Rezeption aus den zwanziger Jahren und den frühen dreißiger Jahren in die Nachkriegsliteratur vor, ein Anknüpfen an die 1933 abgerissenen Verbindungen. Schmidt schließt sich generell mit seinen ersten Publikationen an die deutsche Literatur des ersten Drittels des Jahrhunderts an.« (S. 86) Arno Schmidt: An Uffz. Werner Murawski [1948], in: BA, Bd. III/3, S. 49–61. Im ›Leviathan‹ zeigt Schmidt in dem Bemühen darum, die schlesische Färbung der Sprache der Flüchtlinge wiederzugeben (bes. L, S. 37f.), erstmalig ein Bewusstsein für dialektale Varietäten, das die späteren Erzählungen prägen und fester Bestandteil von Schmidts literarischem Programm werden soll: »[Z]ahlreiche große Dichter machen das, daß sie die ›Wirklichkeit‹ auch sprachlich nachbilden; indem sie jede ihrer Figuren den angemessenen Dialekt reden lassen; und das sind die ›Realisten‹, die dem Leser nicht vorlügen, sie hätten auf ihren Kreuz= und Querzügen allerorten das reinste Hochdeutsch à la ›Duden‹ angetroffen. […] Denn wie und wovon lebt eine Sprache?« (Arno Schmidt: Dichtung und Dialekt [7.2.1957], in: BA, Bd. III/3, S. 350–352, hier S. 351f.)
Feuer brach aus dem geborstenen Kessel, und sofort begannen Granaten in der Luft zu singen (schönes Ziel, was?!). Sie tasteten sich (schreiend in der jaulenden Finsternis) auf der geländerlosen Riesin nach hinten. (Einer mochte stürzen, denn Geheul flog blitzschnell nach unten). Da : ein zackiger Feuerturm stand brüllend am anderen Ende. Wir (Anne und ich. Wir.) krochen stumpf (mit jagenden Herzen) in den Wagen. Die Eisendämonen schrien und jauchzten um uns, über uns, unter uns. (L, S. 53)
3.5
Die »wahnsinnige Lust am Exakten« – Der Wirklichkeitszugriff in Schmidts Nachkriegserzählungen ›Brand’s Haide‹, ›Die Umsiedler‹, ›Aus dem Leben eines Fauns‹ und ›Das Steinerne Herz‹
Ein kompromissloser und unmittelbarer Zugriff auf die Wirklichkeit trennen den ›Leviathan‹ und die folgenden Prosawerke von den ›Juvenilia‹; die Phase in Schmidts Werk, die durch die narrative Gestaltung von Kriegs- und Nachkriegserfahrung präzise eingrenzbar ist, setzt mit dem ›Leviathan‹ (1946) ein und umfasst das folgende Jahrzehnt, folglich die Texte ›Brand’s Haide‹ (1951), ›Schwarze Spiegel‹ (1951), ›Die Umsiedler‹ (1952), ›Aus dem Leben eines Fauns‹ (1952/53), ›Seelandschaft mit Pocahontas‹ (1953) sowie ›Das Steinerne Herz‹ (1954/55). Aus diesem Textkorpus sollen die Erzählungen ›Brand’s Haide‹, ›Die Umsiedler‹, ›Aus dem Leben eines Fauns‹ und ›Das Steinerne Herz‹ für die weitere Analyse herangezogen werden. Mit den ausgewählten Erzählungen fällt der Blick auf vier Zeitbilder, die von Schmidt thematisch entfaltet werden: Im ›Leviathan‹ wurde in der Schilderung einer tödlich endenden Fahrt in einem Flüchtlingszug die unmittelbare, grausame Kriegsrealität des Februar 1945 abgebildet;155 Der »Kurzroman« ›Aus dem Leben 155
In zwei 2002 faksimiliert publizierten Erzählfragmenten, ›Brüssel‹ und ›Die Feuerstellung‹, werden die Eindrücke des Krieges und der Gefangenschaft in ähnlicher Radikalität narrativ entfaltet. (Schmidt: Brüssel/Die Feuerstellung, hg. v. Susanne Fischer, Frankfurt a.M. 2002). Die kurze Erzählung ›Brüssel‹ entstand 1948 und reflektiert die Gespräche in einem Gefangenenlager. Da Schmidt sich selbst im Jahr 1945 in englischer Gefangenschaft befand, mag das Fragment von biographischem Interesse sein – kaum hingegen von literarischem, wie auch Friedhelm Rathjen feststellt: »[A]ls Erzähltext ist Brüssel schnell gescheitert, eben jener Nähe wegen, die für Schmidt nicht zu gestalten war.« (Vom Nachleben in dicken Wälzern, S. 28.) Zudem erinnern die Gespräche unter den Gefangenen (über Fontane, Poe u.a.) an die ›Dichtergespräche im Elysium‹; die Unterstellung eines erneuten ›Eskapismus‹ ist in diesem Fall jedoch unangebracht, da hier die literarischen Reflexionen teilweise (wie in der übrigen Nachkriegsprosa) in ironischer Antithetik der Realität gegenübergestellt werden. ›Die Feuerstellung‹ (erst 1955 begonnen) schildert die Flucht eines Soldatentrupps nach einem Atomangriff; diese Schreckensvision mündet in einer Verquickung der grausamen und ausweglosen Situation der Soldaten mit dem vermutlich von Jules Verne angeregten Wunsch nach einem Rückzug ins Erdinnere, der jedoch nicht ausgeführt ist. Die der
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eines Fauns‹ greift weiter in die Kriegsereignisse zurück und umfasst in seiner Dreiteilung Segmente aus den Jahren 1939 und 1944. ›Brand’s Haide‹ setzt 1946 mit der Erzählung eines Kriegsheimkehrers ein; diese erfährt eine Verknüpfung mit einer Liebesgeschichte, die sich unter den Bedingungen der Nachkriegsrealität abspielt, in der sich jeder selbst der Nächste ist. Die Thematik der ›Umsiedler‹ geht bereits aus dem Titel hervor; der Prozess des ›Sich-Einrichtens‹ ist im ›Steinernen Herzen‹ bereits vollzogen; die Restauration ist im geteilten Deutschland des Jahres 1954 der Hintergrund der kleinbürgerlichen Idylle. Da auf Schmidt im Gegensatz zu Koeppen keine Anregungen struktureller Art vom ›Ulysses‹ ausgegangen sind, die einen ›interlinearen‹ Vergleich wie in Kapitel 2 ermöglichen, sondern die Parallelen im Fall von Arno Schmidt auf einem anderen Niveau zutage treten (und in Einzelaspekten sprachlicher Vermittlung greifbar werden), müssen hier die Behandlung der Texte und der Vergleich mit formalen Besonderheiten des ›Ulysses‹ in anderer Weise als bei ›Tauben im Gras‹ erfolgen. Anhand der vorausgegangenen exemplarischen Kurzanalyse des ›Leviathan‹ sind die drei Kategorien herausgestellt worden, die mit dem Neuansatz der Prosa Schmidts den fundamentalsten Wandel erfahren haben und die auch die folgende Analyse der vier Textbeispiele strukturieren sollen: Die ausgewählten Erzählungen sollen jeweils auf die Aspekte zeitlich-räumlicher Fixierung, d.h. die Verankerung der Handlung in einem greifbaren chronotopologischen Erfahrungsraum, die narrative Vermittlung durch eine in bestimmter Weise gestaltete Erzählerfigur und Erzählstruktur sowie die sprachliche Formung des Stoffes befragt werden. Wenngleich die Reihe der ausgewählten Erzählungen, die mit dem ›Leviathan‹ beginnt, über ›Brand’s Haide‹ und ›Die Umsiedler‹ zu ›Aus dem Leben eines Fauns‹ und dem ›Steinernen Herzen‹ führt, fünf Zeitbilder inkorporiert, die jeweils narrative Umsetzungen eines synchronen Schnittes, d.h. eines historischen Zustands der deutschen (Nach-)Kriegsgesellschaft darstellen, soll die Analyse der Erzählungen den drei Kriterien subsumiert und die daraus gewonnenen Befunde wiederum in eine Beziehung zu entsprechenden Verfahrensweisen des ›Ulysses‹ gesetzt werden.
›Feuerstellung‹ beigefügten Notizzettel sind z.T. von Schmidt für spätere Prosawerke nutzbar gemacht worden, was darauf hindeutet, dass er nicht an einer Fertigstellung der Erzählung interessiert war. Beide Fragmente sind in einem recht lückenhaften Rohzustand verblieben und fallen in puncto narrativer Stringenz und sprachlicher Formung weit hinter den ›Leviathan‹ zurück. ›Brüssel‹ und ›Die Feuerstellung‹ sind nicht gar so »bildmächtig«, wie es der Suhrkamp-Verlag im entsprechenden Werbeprospekt ankündigt (Arno Schmidt. Sein Werk im Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2002 [Werbeprospekt des Verlags in Zusammenarbeit mit der Arno Schmidt Stiftung zur Bargfelder Ausgabe sowie Einzelausgaben, Faksimiles und geplanten Ausgaben], S. 23), und die Tatsache, dass Schmidt keine Veröffentlichung beider Fragmente zu Lebzeiten angeregt bzw. sie nicht fertig gestellt hat, erscheint nach Lektüre der Texte wenig verwunderlich.
134
3.5.1
Chronotopologische Fixierung
Die Verankerung der Nachkriegserzählungen im realen Raum und in realer Zeit durch präzise Koordinaten, die für den Leser nachvollziehbar sein müssen, ist bei Schmidt integraler Bestandteil eines explizit »realistischen« Programms. Als »Realisten« bezeichnet er 1955 diejenigen Schriftsteller, »die präzise eine ganz bestimmte Landschaft, eine nach Länge und Breite fixierbare und benannte Gegend zum Schauplatz ihrer Handlung sich erkiesen […]; die Gruppe der großen Topographen.«156 Angesichts der in minutiösem Kartenstudium von Joyce verifizierten Daten- bzw. Koordinatenmengen im ›Ulysses‹ nimmt es nicht wunder, dass Schmidt dieses »realistische« Programm auf Joyce zurückführt: »[W]er würde schon mit der Lupe über einem Stadtplan von Dublin grübeln, wäre nicht JAMES JOYCE.«157 Einer Lupe bedarf es bei der Lektüre von Schmidts Nachkriegserzählungen nicht, jedoch präziser Karten der Lüneburger Heide oder des Nahetals;158 ein ewiger Kalender kann ebenso hilfreich sein wie astronomische Statistiken über die Mondphasen in den vergangenen Jahrzehnten. Radikal setzt Schmidt dieses realistische Programm in der Erzählung ›Brand’s Haide‹ um, der er eine topographische Skizze beifügt.159 Bereits der Titel (in seiner veralteten Schreibweise) lokalisiert ›Brand’s Haide‹ in der Lüneburger Heide, genauer: in einem winzigen Dorf namens Blakenhof (vgl. B, S. 117); weitere Ortsangaben stützen (neben dem Dialekt der Einwohner und der Landschaftsbeschreibung) die topographische Evidenz.160 Eröffnet wird die Erzählung, die in drei zeitlich voneinander getrennte Kapitel gegliedert ist, durch eine Datumsangabe: »21.3.1946 : auf britischem Klopapier« (B, S. 117). Wie der ›Leviathan‹, der tatsächlich auf einem Telegrammblock niedergeschrieben wurde, ist auch in diesem Fall das Originalmanuskript – sei die Information bezüglich des Schreibmaterials authentisch oder eine fiktive Zugabe des Autors – im Rahmen der Erzählung bereits ein Bild der Zeit, deren Knappheit und Entbehrungen nur durch improvisatorisches Geschick kompensiert werden konnten. Anhand verstreuter Zeitangaben161 und der weitgehend lückenlosen Darstellung, die in ihrem Rhythmus nur durch Schlaf und Träume des Erzählers unterbrochen wird – die Erwäh156 157 158
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Arno Schmidt: Du bist Orplid, mein Land [27.5.1955], in: BA, Bd. III/3, S. 238–240, hier S. 239. Schmidt: Dichter & ihre Gesellen : Jules Verne, S. 414. Diese Hilfsmittel präsentiert Josef Huerkamp in seiner ergebnisreichen Arbeit »Gekettet an Daten & Namen«. Drei Studien zum ›authentischen‹ Erzählen in der Prosa Arno Schmidts, München 1981 (Bargfelder Bote, Sonderlieferung). Vgl. Arno Schmidt: Brand’s Haide, in: ders.: BA I/1, S. 115–199 [im Folgenden zitiert mit der Sigle (B, [Seitenangabe])], hier S. 199. Mit Krumau (B, S. 128) und Uelzen (B, S. 121) werden zwei Orte im näheren Umkreis genannt. »22 Uhr 17 zeigte der Wecker« (B, S. 130), »Rest des Nachmittags« (B, S. 136), »Ist Mitternacht und Guldmond drin« (B, S. 137), »›Mitternacht ist vorüber : das Kreuz
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nung des Mondes erhält auch eine strukturierende Funktion – ergibt sich für die erzählte Zeit des ersten Kapitels »BLAKENHOF ODER DIE ÜBERLEBENDEN« ein Abschnitt von ca. 5 Tagen; das zweite Kapitel »LORE ODER DAS SPIELENDE LICHT«, dem ebenfalls eine Datierung vorangestellt ist (26.7.1946 (B, S. 155)), referiert die Geschehnisse von vier Tagen und endet am 30.7.1946,162 »KRUMAU ODER WILLST DU MICH NOCH EINMAL SEHEN« erstreckt sich ebenfalls über ca. vier Tage (vom 30.10.1946 bis zum 3.11.1946).163 Folglich werden zwischen den ersten beiden Kapiteln exakt vier, zwischen den letzten beiden genau drei Monate ausgespart; einschließlich dieser »Sprünge« umfasst der erzählte Zeitabschnitt, aus dem drei kürzere Spannen herausgegriffen und in extenso vom Erzähler berichtet werden, knapp siebeneinhalb Monate. Bei den ›Umsiedlern‹ stellt sich die Freilegung des zeitlichen Gerüsts komplizierter dar, da hier eine vollständige Angabe des Datums fehlt. Jedoch lässt die Erwähnung des »Novemberhimmel[s]«164 (U, S. 265) zusammen mit dem biographischen Faktum der Umsiedlung des Ehepaares Schmidt von Cordingen nach Gau-Bickelheim, das im Text zu Gau-Bockenheim wird, auf den November des Jahres 1950 schließen. Die in 24 ›Fotos‹ und verbindende Texte gegliederte Erzählung umschließt einen Zeitraum von vermutlich zehn Tagen.165 Der
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beginnt sich zu neigen.‹ hatten Humboldts Gauchos immer gesagt : demnach wärs also bestimmt 12.« (B, S. 150), »7 Uhr 30 : Fertig !« (B, S. 151). Die zeitlichen Fixpunkte stellen (neben der Abfolge von Tag und Nacht) verstreute Zeitangaben dar: »Sonntag früh« (B, S. 166), »9,22« (B, S. 167) oder »Erst Mittags aufgestanden« (B, S. 177). Anhand eines ewigen Kalenders kann man aus der Erwähnung der Messe am Sonntag (vgl. B, S. 166f.) die aus der Erzählung rekonstruierten Daten bestätigen; zudem wäre der Autor nicht Arno Schmidt, wären nicht auch die Beschreibungen der Mondphasen verifizierbar! Dem dritten Kapitel ist zwar keine Datierung vorangestellt, dennoch lässt sich die Zeitstruktur wiederum ohne Probleme rekonstruieren, vor allem aufgrund der Aussage: »Ein deutscher Schriftsteller am 31. Oktober 1946 ist frei« (B, S. 185). Je näher der Abschied rückt, desto kleiner werden die narrativen Einheiten, desto präziser werden die Zeitangaben: »11 Uhr 58« (B, S. 197), »12 Uhr 4« (B, S. 198); vermittels dieser Annäherung von erzählter Zeit und Erzählzeit wird einerseits das erzählte Geschehen durch eine intensive Dramatisierung in den Vordergrund gerückt, andererseits eine narrative Annäherung an das subjektive Zeitempfinden erzielt; der Erzähler erlebt bewusst jede (von der Bahnhofsuhr dokumentierte) Minute der kostbaren Zeit vor der Trennung von der Geliebten. Arno Schmidt: Die Umsiedler, in: BA, Bd. I/1, S. 261–297, hier S. 265. Im Folgenden innerhalb des fortlaufenden Textes zitiert mit der Sigle (U, [Seitenangabe]). Die Kapitel i – xi beschreiben die Reise und die Ankunft in Gau-Bockenheim, die zweite Hälfte der Erzählung (Kapitel xii – xxiv) ist dem mühevollen Prozess des ›SichEinrichtens‹ in der noch fremden Heimat gewidmet; wie ›löchrig‹ das vorgestellte Erinnerungsbild ist, lässt sich für die letzten Bilder der zweiten Hälfte schwerlich ausmachen, möglicherweise wird zwischen den Kapitelgrenzen Zeit ausgespart; die Abfolge der ›Fotos‹ i bis xx kann jedoch als weitgehend ›lückenlos‹ angenommen werden; der Bericht von der Zugfahrt präsentiert sich als Versuch einer Annäherung von Erzählzeit
gemessen an den anderen Nachkriegserzählungen recht opaken Zeitstruktur treten präzise räumliche Koordinaten der Reise gegenüber, anhand derer sich die Stationen der Zugfahrt nachvollziehen lassen: Benefeld (U, S. 263), Eickeloh, Schwarmstedt, Burgwedel (U, S. 270), man macht Station im Göttinger Hauptbahnhof (U, S. 271), dann ist vom »vorbeirinnende[n] Lahntal« die Rede (U, S. 275); Marburg, Westerburg, Alzey werden im Atlas nachgeschlagen (U, S. 266), der Zug passiert die Loreley (U, S. 276), bevor der Weg durchs Nahetal in Gau-Bockenheim (U, S. 277) endet. Wie ›Brand’s Haide‹ ist auch ›Aus dem Leben eines Fauns‹ dreigeteilt, wobei den Kapiteln jeweils Datumsangaben vorangestellt sind, die die Ereignisse zumindest auf Monate genau festlegen. Die erste Erzähleinheit umfasst vier Tage (Freitag bis Montag) des Monats »Februar 1939« (F, S. 301) in chronologischer Folge. Während eine präzisere kalendarische Festlegung des ersten Kapitels nicht möglich ist, lassen sich die Daten der erzählten Zeitspannen in II, über die vorangestellten Monatsangaben »Mai/August 1939« hinausgehend (F, S. 333), anhand von zeitgeschichtlichen Informationen genau abstecken: Hitlers Pakt mit Sowjetrussland (23.8.1939) findet ebenso Erwähnung wie der englisch-polnische Beistandspakt (25.8.1939).166 Diese historischen Ereignisse im unmittelbaren Vorfeld des Zweiten Weltkriegs sind es, die (ähnlich dem Verfahren in ›Tauben im Gras‹) eine genaue Datierung ermöglichen. Das zweite Kapitel setzt ein mit einem (nicht näher bestimmten) Tag im Mai ‘39, darauf folgt eine größere Ellipse, denn Wetterindizien deuten darauf hin, dass die zweite Erzählsequenz des Kapitels bereits in den August fällt. Das dritte Kapitel wird durch die vorangestellte Zeitangabe auf August/September 1944 festgelegt. Hier häufen sich die Referenzen auf Kriegsereignisse; beispielsweise werden die deutschen Truppen im September bis Nancy zurückgedrängt, wo Käthe ihren letzten Einsatz als Nachrichtenhelferin hat. Während der erste umrissene Tag der erzählten Zeit noch in den August fällt, sind die zwei letzten Tage als Samstag, der 2.9., und Sonntag, der 3.9.1944, verifizierbar. Im Gegenzug zu den phantastischen Strukturen in ›Brand’s Haide‹ legt Schmidt im ›Faun‹ wiederum stärkeres Gewicht auf die Authentizität des Materials. Die historischen Realien leisten eine Rückbindung des fiktionalen ›Zeit-Raums‹ an die Zeitgeschichte und erfüllen somit eine Funktion, die auch realistischen Einsprengseln wie den topographischen Koordinaten, den Markennamen, Schlagertexten als Funktionselementen im realistischen Programm Schmidts zukommt – ein Zusammenführen von fiktivem ›plot‹ und realem bzw. historisch verifizierbaren ›setting‹.
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und erzählter Zeit. Interessant ist auch, dass der Erzähler in Ermangelung einer Uhr eine Schätzung anhand der zurückgelegten Wegstrecke vornimmt: »5 Uhr 52 Abfahrt – Eickeloh – Schwarmstedt – Burgwedel – no : Neune?« (U, S. 270). Vgl. F, S. 361 und 363.
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So wird auch die räumliche Präzision in ›Aus dem Leben eines Fauns‹ mit bemerkenswerter Strenge gehandhabt und durch zahlreiche topographische Details und Ortsbeschreibungen gestützt. Der Erzähler Düring lebt mit seiner Familie in der Kolonie Hünzingen, nahe der Polizeischule in Cordingen, wo Schmidt und seine Frau in den Jahren 1946–1950 als Übersetzer beschäftigt waren. Täglich führt ihn sein Weg zur Arbeit im Landratsamt Fallingbostel zum Cordinger Bahnhof; die Fahrtstrecke des Zuges führt über die Zwischenstation Walsrode; im Zusammenhang mit seiner Arbeit an historischen Quellen werden weitere Ortsnamen in der Umgebung genannt (Brommelsen, Kroge, Ebbingen, Jarlingen, Ahrsen, Rethem (F, S. 333), Rothenburg, Visselhövede (F, S. 357)), die sämtlich authentisch sind. Weitere, noch präzisere geographische Angaben liefern Dürings Spaziergänge, auch der Standort der Fluchthütte des ›historischen Faun‹ Thierry kann beinahe auf den Punkt genau rekonstruiert werden. Es nimmt daher kaum Wunder, wenn sich der reale Autor im Verlauf der lokalhistorischen Recherchen seines Erzählerkonstrukts auf das schriftstellerische Handwerkszeug, genauer: in die Karten, sehen lässt: »All dies geschah überm Meßtischblatt 3023« (F, S. 313). Der Untertitel des Romans ›Das Steinerne Herz‹ eröffnet dem Leser den Zeitrahmen der Handlung: »Historischer Roman aus dem Jahre 1954 nach Christi.«167 Der von der Erzählung eingeschlossene Zeitraum umfasst vier Monate und elf Tage, von denen insgesamt 13 erzählerisch dargestellt werden.168 Der erste Teil des Romans setzt ein am 28.7.1954 und endet mit dem 31. Juli; Teil II ist nicht exakt
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Arno Schmidt: Das Steinerne Herz. Historischer Roman aus dem Jahre 1954 nach Christi, in: BA I/2, S. 7–165, hier S. 7. Im Folgenden innerhalb des fortlaufenden Textes zitiert mit der Sigle (DSH, [Seitenangabe]). Die Gattungsbezeichnung des Untertitels »Historischer Roman aus dem Jahre 1954« ist zunächst insofern bemerkenswert, als sich die Niederschrift noch bis ins Jahr 1955 hinzog und damit die unmittelbare Gegenwart, selbst noch die nächste Zukunft von Schmidt mit dem Adjektiv »historisch« belegt wird. Diese Datierung lässt sich errechnen aus der Information des Erzählers: »4 Monate war ich jetzt hier. 4 Monate und 1 Woche.« (DSH, S. 108) Die Feststellung macht er am 4. (»Heut war der 4.« (DSH, S. 108)). Dass es sich dabei um den Monat Dezember handelt, geht eindeutig aus der Erwähnung von Weihnachtsgeschenken sowie der Überlegung Eggerts hervor: »so um den 10. herum würde ich verschwinden. 2 gute Wochen vorm Fest« (DSH, S. 108). Rechnet man folglich um vier Monate und eine Woche zurück, lässt sich der Erzählbeginn auf Mittwoch (laut ewigem Kalender), den 28.7. festlegen. Diese Vermutung wird durch die Information bestätigt, dass Eggert und die Thumanns an diesem Tag den Friedländer-Kommentar im NWDR hören (vgl. DSH, S. 13), eine Radiosendung, die gewöhnlich mittwochs 18.55 – 19.00 Uhr ausgestrahlt wurde (vgl. Josef Huerkamp: Nr. 8: Materialien und Kommentar zu Arno Schmidts Roman »Das Steinerne Herz«. München 1979, S. 123). Die weiteren zahlreichen Nennungen von Wochentagen, die Erwähnung von Glockengeläut an Sonntagen, die bei der Lektüre nachvollziehbare Abfolge von Tag und Nacht stützen das zeitliche Gerüst zusätzlich.
datierbar, schildert jedoch 4 Herbsttage;169 der dritte Teil wiederum beginnt am 4. Dezember und endet am 8. Die zwischen I und II sowie II und III ausgesparten Zeitabschnitte sind vermutlich ähnlich lang, d.h. jeweils zwei Monate. Jeder der drei Teile umfasst folglich etwa den gleichen Zeitabschnitt und beansprucht eine ähnliche Erzählzeit (ca. 60 Seiten der Bargfelder Ausgabe). Im ›Steinernen Herzen‹ wird die Erzählung wiederum durch zahlreiche Ortsangaben in Ahlden topographisch verankert; die Fahrtroute von Eggers mit Karl Thumann nach Berlin im zweiten Teil des Romans ist exakt nachvollziehbar.170 Wie ›Brand’s Haide‹ ist auch diesem Roman das Faksimile einer von Schmidt handgezeichneten Skizze der Laubenkolonien in Ostberlin beigefügt, die dem Leser einen Eindruck von Line Hübners Wohnsituation vermitteln soll. Die topographische Präzision erfährt in ›Das Steinerne Herz‹ eine besondere Akzentuierung, da der Erzähler Walter Eggers als Experte der niedersächsischen Landesgeschichte und geradezu besessener Sammler historischer Statistiken, Karten und Münzen das realistische Programm verkörpert und die »wahnsinnige Lust am Exakten« (DSH, S. 46) artikuliert: »Wer die Sein=setzende Kraft von Namen, Zahlen, Daten, Grenzen, Tabellen, Karten, nicht empfindet, tut recht daran, Lyriker zu werden; für beste Prosa ist er verloren : hebe Dich hinweg !« (DSH, S. 46) 3.5.2 »Kein Kontinuum, Kein Kontinuum!« – Radikale Subjektivierung und abbreviatorisches Erzählen Dieser akribischen Objektivierung und Präzisierung der äußeren Realität tritt – Schmidts Darstellungsziel einer »möglichst getreue[n] Abbildung innerer Vorgänge unter gleichzeitiger Einwirkung der Außenwelt«171 entsprechend – deren subjektive Wahrnehmung durch das Bewusstsein eines Ich-Erzählers gegenüber, durch das sie gefiltert bzw. um Reflexionen angereichert wird: 169
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Darauf deuten die Landschaftsbeschreibungen hin; es regnet, wird nachts bereits sehr kalt, zudem ist von der »Farbe des gefallenen Laubes« (DSH, S. 61) die Rede, und auf S. 104 heißt es: »[W]ir schleiften wie zwei Herbste.« Die Strecke führt von Ahlden aus über Verden (S. 33), Rotenburg (ebd.), Dageförde und Bösenberg (S. 34), Helmstedt (S. 58), Schermen (S. 61) über die Elbe (S. 61), Hohenwarthe (S. 61), am Nehmitzer See vorbei (S. 62), über den Beltramischen Grenzkreis (S. 62) nach Berlin: »Die Avus hoch« (S. 62), »Charlottenburg« (S. 63); die Laubensiedlung, in der Line lebt, befindet sich in Adlershof (S. 62). In dem Essay ›Die Handlungsreisenden‹ ([13. 6. 1955], in: BA, Bd. III/3, S. 254–258, hier S. 256) heißt es: »Die Einen denken sich ihre Landschaften aus. Die Andern fahren vorher hin, und sehn sie sich an.« Im Rahmen der Recherche für ›Das Steinerne Herz‹ unternahm Schmidt am 25. Juli 1954 von Kastel aus eine Reise nach Ahlden; am 28. Juli reiste das Ehepaar Schmidt weiter nach Ost-Berlin, wo Arno Schmidt auch die Staatsbibliothek besuchte (vgl. Martynkewicz: Arno Schmidt, bes. S. 73ff.). Schmidt: Berechnungen I, S. 319.
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Gings nicht übern Hof ? : gleich runter zum Fenster ! – – : Richtig : ein Kopf mit einem Weib dran : also runter ! »Morgen !« : ihr neugieriges Gesicht, mit roter Mundschleife locker zugebunden […] das breite Schlangenpaar ihrer Arme ! (Knotete sich langsam. Es schwankte zur Wäscheleine, und meine Augen wohnten lange : in Achselhöhlen.) »Och mein Mann kommt’och um 11 : da will er immer gleich essen. Unn schlafen gehen !« Ich ergriff ihre Augen mit den meinen : ich sagte eifrig : »Ich mach uns was zu Trinken, ja ?« (Rauf und runter !) (DSH, S. 30)
Die sinnliche Apperzeption der äußeren Realität durch das Bewusstsein des Erzählers strukturiert den Rhythmus der Erzählung – die akustische Realität: Schritte auf dem Hof, die Begrüßung »Morgen !«; die visuellen Eindrücke, Gesicht und Körper von Frieda Thumann stellen objektive Fixpunkte der äußeren Handlung dar. Dazwischen schieben sich Überlegungen und Reflexionen des Erzählerbewusstseins; da dieses den einzigen Zugang des Lesers zum Romangeschehen darstellt, muss er der subjektiven Apperzeptionsstruktur folgen, um die jeweils beschriebenen Situationen zu identifizieren: »Die situationsinterne Erzählstruktur wird bestimmt durch die stenogrammartige Notierung von Geschehnis-, Eindrucks- und Gedankenpartikeln des Ich-Erzählers.«172 Bei einer ›Übersetzung‹173 des Geschehens muss auf temporale Verknüpfungen zurückgegriffen werden, die bei Schmidt ausgespart sind; desgleichen bedarf es
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Reimer Bull: Bauformen des Erzählens bei Arno Schmidt. Ein Beitrag zur Poetik der Erzählkunst, Bonn 1970, S. 40. Wenn die narrative Progression dem wahrnehmenden Bewusstsein folgen soll, ergibt sich daraus, dass keine Selektion vorgenommen werden darf und auch nach herkömmlichem Verständnis unwichtige oder banale Geschehnisse registriert und aufgezeichnet werden müssen; der Vorwurf der Pornographie und Koprophilie, der gegenüber dem ›Ulysses‹ wie auch Schmidts Erzählungen laut wurde, wird insofern entkräftet, als sowohl Sexualität als auch Verdauungsprozesse konstitutive Bestandteile des menschlichen Alltags sind und insofern auch in einer Prosa ihre Daseinsberechtigung besitzen, die sich eine minutiöse Schilderung dieses Alltags zum Ziel gesetzt hat: »Wenn in meinen Büchern etwa ›Die Sexualität‹ 5 bis 10 % einnimmt, dann ist das weniger, als bei den meisten Menschenferkeln, die sich gar nicht darüber beruhigen können, daß ich einen Spaten einen Spaten nenne : (es scheint fürchterlich schwer zu sein, Normalität ganz schlicht einzugestehen).« (Schmidt: »›Wahr hei t‹ – ?«, seggt Pilatus und grifflacht...., S. 239) Der Versuch einer schlüssigen und kontinuierlichen Rekonstruktion der Handlung in DSH, S. 30 führt etwa zu folgendem Ergebnis: Der Erzähler konnte nicht mehr schlafen und ist bereits seit vier Uhr wach; er wartet jedoch ab, um niemanden zu wecken (oder sich nicht als Frühaufsteher verdächtig zu machen); als er endlich auf dem Hof Schritte hört und sich mit einem Blick durchs Fenster vergewissert, dass auch Frau Thumann aufgestanden ist, verlässt er sein Zimmer und begrüßt sie vor dem Haus, wo sie Wäsche aufhängt, während er die Gelegenheit nutzt, ihr Gesicht, ihre Arme, ihre Achselhöhlen eingehender zu betrachten. Mit dem Hinweis auf die baldige Rückkehr ihres Mannes, dessen Wunsch nach einem frühen Mittagessen und anschließender Bettruhe begründet sie, ihrerseits zeitig aufgestanden zu sein und mit
expliziter Erklärungen, kausaler und temporaler Anschlussformeln und hypotaktischer Gefüge. Der Handlungsbericht erscheint im ›Steinernen Herzen‹ radikal verkürzt; der weitgehende Verzicht auf Verben führt zu elliptischen Satzstrukturen, die eher statische Momentaufnahmen als sukzessive Handlungen in Sprache überführen. Auf diese Weise stellen sich Handlungspartikel als »Schnappschüsse«, »Bilderkacheln«174 kleinster zeitlicher Ausdehnung dar, die wiederum zu elliptischen Komplexen angeordnet werden. Eine derartige diskontinuierliche Aneinanderreihung isolierter Bewusstseinspartikel, die von statischen, momenthaft fixierten Einzelsituationen ausgehen, ist Schmidts radikaler Gegenentwurf zur traditionellen narrativen Entfaltung eines »epischen Flusses«, zu Konzepten erzählerischer Sukzession im Roman schlechthin. Reimer Bull spricht zu Recht von einem »abbreviatorischen Erzählverfahren«,175 das positivistisch auf Erfahrungs- und Bewusstseinstatsachen des Erzählers rekurriert; da dieser jedoch keine Vermittlung im traditionellen Sinne vornimmt, ist es dem Leser aufgegeben, ausgehend von einer zunächst kryptisch verschlüsselt erscheinenden Textgestalt die kausalen Bezüge herzustellen. Ähnlich opak wird das äußere Handlungsgeschehen im 4. Kapitel des ›Ulysses‹ durch die Gedanken Blooms gebrochen, wenn es heißt: »Not there. In the trousers I left off. Must get it. Potato I have. Creaky wardrobe. No use disturbing her.« (U 4.72ff.) Aus dem Zusammenhang und dem weiteren Handlungsfortgang kann der Leser erschließen, dass Bloom in seinen Taschen nach dem Hausschlüssel sucht, ihn jedoch nicht findet, dafür aber in seiner Hosentasche seinen Talisman, eine Kartoffel fühlt. Da die Schranktür quietscht und er befürchtet, mit der Suche nach der Hose, in der sich der Schlüssel befindet, Molly zu wecken, beschließt er stattdessen, die Haustür einen Spalt offen zu lassen. Diese kurze Passage aus der ›Calypso‹-Epsiode weist alle formalen Kennzeichen des Inneren Monologs auf: Die Bewusstseinsinhalte eines Ich werden in Analogie zu der fragmentarischen und diskontinuierlichen Struktur menschlicher Assoziation im Präsens transkribiert, ohne dass ein vermittelnder, selektierender oder die Bruchstücke kausal verknüpfender Erzähler zwischen das Bewusstseinsstenogramm der Romanfigur und den Leser tritt. Arno Schmidt hat sich stets gegen eine Diagnose des Inneren Monologs in seinen Werken gewehrt, bezeichnete ihn als »ein Firmenschild […], das ich aller-
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der Hausarbeit begonnen zu haben. Der Erzähler nimmt Blickkontakt mit ihr auf, bietet ihr etwas zu trinken an, läuft in sein Zimmer, um (wie sich später herausstellt) Kakaopulver und Rum zu holen, und läuft dann die Treppe hinab in die Küche. Das unverhohlene Interesse und der Eifer des Erzählers machen es für den Leser offenkundig, dass Eggert mit seinen Schmeicheleien auf eine erste Annäherung an Frieda Thumann abzielt, wenngleich diese Absicht nicht explizit artikuliert wird. Beide Zitate aus F, S. 307. Vgl. Bull: Bauformen des Erzählens bei Arno Schmidt, S. 40.
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dings nicht schätze.«176 Durchaus zu Recht, denn die fundamentale Differenz zwischen dem Prosawerk Schmidts und dem von Joyce im ›Ulysses‹ zur Anwendung gebrachten stream of consciousness besteht darin, dass der Innere Monolog (bes. in ›Penelope‹) die Transkription eines menschlichen Bewusstseins darstellt, in dem Reflexionen, Erinnerung und sinnliche Wahrnehmung assoziativ verknüpft und dem Leser fragmentarisch und ohne narrative Vermittlung dargelegt werden, wohingegen bei Schmidt eine Mittlerfigur durchweg medial präsent ist, die in der ersten Person Singular rückblickend, d.h. im Präteritum, von erlebten Geschehnissen berichtet: »Ich ergriff ihre Augen mit den meinen : ich sagte eifrig...« (s.o., DSH, S. 30). Mit anderen Worten: Es wird erzählt.177 Dies geschieht zwar ähnlich diskontinuierlich und fragmentarisch wie im ›Ulysses‹, indem die fehlenden Verben den Eindruck einer gegenwärtigen Darstellung erwecken, wie auch die assoziative Verknüpfung disparater Reflexionen, Erinnerungen mit gesprochener Sprache und beschreibenden Passagen ungestaltet dem Bewusstsein des erzählenden Subjekts zu entspringen scheint. Dennoch wird das Strukturmuster der traditionellen Ich-Erzählung, die auf der Spannung zwischen einem erlebenden und einem erzählenden Ich basiert, nicht völlig aufgegeben. Statt einem Inneren Monolog begegnen wir einem veritablen, d.h. erzählten Monolog, in dem von Erlebtem berichtet wird. Alle bisherigen Bücher Arno Schmidts waren im wesentlichen monologisch. Das heißt, der Bewußtseinsraum, aus dem heraus gesprochen, erzählt wurde, war einheitlich. Gewisse Teile dieses reproduzierten Bewußtseins waren, das ist kaum zu übersehen, mit dem des Autors identisch. Das sprachliche Reaktionsvermögen dieses Bewußtseins wurde mit einer Kette von aneinanderhängenden fiktiven (geographisch und chronologisch meist sehr exakt festgelegten) Situationen und Ereignissen in Konflikt gebracht und entfaltete sich dabei monologisch.178
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Schmidt: Sind wir noch ein Volk der Dichter & Denker ? [18.–24.8.1963], in: BA, Bd. III/4, S. 311–321, hier S. 319. Vgl. hierzu Rathjen: Leidenschaft mit Widerhaken, S. 279: »Wer die Bewußtseinsdarstellungtechniken bei Joyce und bei Schmidt untersucht und vergleicht, wird feststellen, daß Schmidts Prosa gerade mit dem ›inneren Monolog‹ überhaupt nichts zu tun hat. Man wird im Gesamtwerk Arno Schmidts keinen einzigen ›inneren Monolog‹ finden können […].« Schärfer noch heißt es bei Weninger: »Largely independent of modernist influences outside of German expressionism, he had sought in his early stories and novels to create a unique type of experimental realism that was coupled with his personal brand of interior monologue, derived more from Döblin than anyone else. While in my opinion only vaguely suggestive of Joyce’s handling of the stream-of-consciousness technique, his rather idiosyncratic first-person narrative style immediately reminded critics of Joyce’s U[lysses].« (Weninger: The Institutionalization of ›Joyce‹, S. 53.) Helmut Heißenbüttel: Der Solipsist in der Heide, in: Der Solipsist in der Heide. Materialien zum Werk Arno Schmidts, hg. v. Jörg Drews u. Hans-Michael Bock, München 1974, S. 47–51, hier S. 49.
Die monologisierenden Ich-Erzähler dominieren auch als Protagonisten die Handlung und weisen dabei zahlreiche biographische Parallelen mit dem Autor Arno Schmidt auf; sei es der namenlose Diarist des ›Leviathan‹, der Erzähler Schmidt [!] in ›Brand’s Haide‹, Düring im ›Faun‹, Otto Kühl (›Die Umsiedler‹) und Walter Eggers (›Das Steinerne Herz‹) – die Erinnerungen und Informationen dieser Erzählerfiguren lassen jeweils ein biographisches Gerüst entstehen, das mit dem des Autors weitgehend kongruent ist.179 Das Charakteristikum der narrativen Vermittlung in Schmidts Nachkriegsprosa besteht darin, dass in der Gestaltung der Erzählerfigur trotz der Verwendung des epischen Präteritum nicht zwischen erzählendem und erzähltem Subjekt geschieden wird; die stenographierten Bewusstseinspartikel können nicht eindeutig einer von beiden Instanzen zugeordnet werden; ein derartiges Strukturmuster stellt eine narrative Annäherung an die Struktur menschlicher Erin-
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In ›Brand’s Haide‹ wird die Adresse der Wohnung in Hamburg-Hamm genannt, in der Schmidt geboren wurde: »Ein Elfenkind : ach, wär ich doch eins, und nicht Rumpffsweg 27, II. geboren« (B, S. 164); auch Schmidts schriftstellerische Tätigkeit wird in die Erzählungen miteinbezogen; auf seine Arbeit hin befragt, äußert sich der Erzähler gegenüber dem Alten: »kurze Erzählungen; früher süß, jetzt rabiat. In den Zwischenräumen Fouqué-Biographie : so als ewiges Lämpchen.« (B, S. 118) Auch diverse Werktitel finden Erwähnung: ›Leviathan‹ (B, S. 124 und S. 166), ›Massenbach‹ (B, S. 139) und ›Kosmas‹ (B, S. 143). Diese Querverweise können – wie in dem folgenden Beispiel – zu einem raffinierten metafiktionalen Spiel fortgeführt werden: »›Davon schreibst Du eine Geschichte : aber süß ! Keine aus der rabiaten Kiste !‹ (Denn sie hatte den Leviathan gelesen). Also eine Süße; und ich war gutmütig und versprachs.« (B, S. 166) In diesem Sinne kann ›Brand’s Haide‹ als Erfüllung der Bitte Lores gelesen werden! Der Erzähler der ›Umsiedler‹ ist Übersetzer und »war Dolmetscher an der Hilfspolizeischule« (U, S. 266). In ›Das Steinerne Herz‹ erinnert sich der Erzähler an seine Jugend in Lauban (vgl. DSH, S. 15) und an die Kriegsgefangenschaft in Brüssel (S. 17); an einer Stelle findet sich der Querverweis: »(vgl. Schmidt, Pocahontas; wir heute könnten den Quijote besser schreiben !)« (DSH, S. 31) Auch der ›Ulysses‹ basiert auf Erlebtem, Dublin ist Joyce Heimat, die Physiognomie und Einwohner dieser Stadt sind ihm vertraut, viele Figuren sind Menschen aus seiner Bekanntschaft nachgebildet, Stephen Dedalus besitzt zahlreiche autobiographische Züge. Betrachtet man hingegen den Erzähler des ›Faun‹ genauer, fallen entscheidende biographische Differenzen zu Schmidt ins Auge: Düring ist nicht nur verheiratet, sondern zudem Vater zweier Kinder (wenngleich er den familiären Bindungen keinerlei Bedeutung beimisst, sie vielmehr als Ärgernis, seine Kinder wie seine Eltern als »Fremde« betrachtet (vgl. F, S. 374)). Er ist 26 Jahre älter als sein Autor und hat als kleinbürgerlicher Verwaltungsbeamter – allem offenkundigen Aufbegehren zum Trotz – die Strukturen seiner Zeit verinnerlicht. Als Produkt eines repressiven Gesellschaftssystems, das ihn zum Spagat zwischen äußerer Anpassung und geistigem Dissidententum zwingt, ist er in stärkerem Maße narratives Konstrukt als die anderen Erzählerfiguren.
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nerung dar,180 in der im Bewusstseinsvorgang das Erlebte aktualisiert wird und mit Reflexionen des Subjekts in eins fällt:
Der frühreife Mond schob, rachitisch krumm, übern Bahndamm; einmal wieder Fleisch satt. Büsche noch mit etwas frischem Regen verziert; und wieder Anfang könn zu rauchen. Eine fette Wolkennutte räkelte graue Schultern hinter den Abendwäldern; Makkaroni und die harte Ecke Schweizer reingerieben. Zwei Windsbräute rannten auf mich zu, mit zarten staubigen Mähnen, durchsichtigen gelben Leibern; irrten verlegen näher, rafften bebend die Schleppe, drehten sich und seufzten entzückend (dann kam aber schon das Lieferauto von Trempenau, und sie mußten hinterher, gezogen, mit langem mänadisch durchgebogenem Kreuz : Eener mit’m Auto hat immer mehr Chancen !) (U, S. 263)
Im Erzählbeginn der ›Umsiedler‹ – dem ersten ›Foto‹ – mischt sich die apperzeptive Wahrnehmung der objektiven Realität, des Nachthimmels und der Regenlandschaft durch den Erzähler, die in der für ihn charakteristischen Sprache beschrieben wird, unvermittelt mit seinem Wunschdenken. Die Bewusstseinssprünge ›Mond – Stück Fleisch‹, ›Regen – Rauchen‹, ›Wolke – Makkaroni mit Käse‹ sind für den Leser kaum logisch oder nachvollziehbar. Das typographisch durch den Rahmen hervorgehobene Textelement hebt sich jedoch nicht wesentlich von dem folgenden Erzählverlauf ab, wie dies Schmidt zufolge, im Sinne einer narrativen, auf der Erinnerung fußenden Anreicherung einer vorangestellten Momentaufnahme, in der Prosaform des Fotoalbums zu erwarten wäre. Außerdem bildet der gerahmte Text keineswegs simultan wie ein Foto statisches bzw. räumliches Nebeneinander ab, sondern folgt – und darin liegt tatsächlich die fundamentale Besonderheit des Erzählverfahrens – dem assoziativ fortschreiten-
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Die tatsächliche Differenz zwischen den Erzählungen ›Brand’s Haide‹, ›Aus dem Leben eines Fauns‹ und ›Das Steinerne Herz‹ einerseits und ›Die Umsiedler‹ andererseits, die ja Schmidts ›Berechnungen‹ zufolge verschiedene Prosaformen, d.h. literarische Umsetzungen unterschiedlicher Bewusstseinsvorgänge repräsentieren (nämlich das ›Musivische Dasein‹/›jüngste Gegenwart‹ gegenüber dem ›Fotoalbum‹/der ›Erinnerung‹) stellt sich lediglich als eine typographische dar; die ›Erlebniseinheiten‹ der ersten beiden Erzählungen unterscheiden sich nur geringfügig (d.h. drucktechnisch und in ihrer minimierten zeitlichen Ausdehnung) von den ›Kleinstkapiteln‹ des Fotoalbum. Die in den ›Berechnungen‹ getroffene Unterscheidung der Prosaformen Fotoalbum und Musivisches Dasein erweisen sich mit Blick auf ihre prosapraktische Umsetzung als redundant, da beide auf der Struktur von Erinnerungsprozessen basieren.
den Bewusstsein des Erzählers.181 Den Mechanismus der Assoziation lösen sinnliche Wahrnehmungen, d.h. äußere Reize aus, wie es das Beispiel aus ›Brand’s Haide‹ veranschaulicht: Den Wasserschlauch : beim Pfarrer dehnte ihn Einer in feisten Händen : Laokoon oder über die Grenzen von Malerei und Dichtkunst. (B, S. 118)
Der ›Kurzroman‹ ›Aus dem Leben eines Fauns‹ nimmt in vielerlei Hinsicht eine Sonderstellung innerhalb der Nachkriegsprosa Arno Schmidts ein, da hier die prosatheoretischen Überlegungen des Autors dem Ich-Erzähler Düring in den Mund gelegt werden, so dass die Erzählung verschiedene narratologische MiniEssays inkorporiert. Passagenweise antizipiert der Roman Ausführungen der ›Berechnungen‹, etwa wenn Düring bereits in den ersten Sätzen auf die Diskontinuität seines Daseins verweist: Mein Leben ?! : ist kein Kontinuum! (nicht bloß durch Tag und Nacht in weiß und schwarze Stücke zerbrochen! Denn auch am Tage ist bei mir der ein Anderer, der zur Bahn geht; im Amt sitzt; büchert; durch Haine stelzt; begattet; schwatzt; schreibt; Tausendsdenker; auseinanderfallender Fächer; der rennt; raucht; kotet, radiohört; »Herr Landrat« sagt: that’s me!): ein Tablett voll glitzernder snapshots. Kein Kontinuum, kein Kontinuum! : so rennt mein Leben, so die Erinnerungen (wie ein Zuckender ein Nachtgewitter sieht): Flamme: da fletscht ein nacktes Siedlungshaus in giftgrünem Gesträuch: Nacht. Flamme: gaffen weiße Sichter, Zungen klöppeln, Finger zahnen: Nacht. Flamme: stehen Baumglieder; treiben Knabenreifen; Frauen kocken; Mädchen schelmen blusenauf: Nacht! Flamme: Ich: weh: Nacht!! Aber als majestätisch fließendes Band kann ich mein Leben nicht fühlen; nicht ich! (Begründung). (F, S. 301f.)
Was hier vom unbefangenen Leser noch als Selbstreflexion eines Subjekts verstanden werden mag, stellt sich dem mit den ›Berechnungen‹ vertrauten Rezipienten als eine enge Paraphrase von Arno Schmidts Feldzug gegen den »epischen Fluß« dar. Düring resümiert mit der Reihung heterogener Erlebnispartikel, der »glitzernden Snapshots«, nichts anderes als sein »beschädigtes Lebensmosaik«.182 Der Vergleich mit dem Nachtgewitter, in dem Blitze für einen Augenblick die dunkle Szenerie beleuchten, aus der im Licht der Erinnerung disparate Bewusstseinstatsachen hervortreten, um unmittelbar wieder in Dunkelheit zu versinken, zieht Assoziationen mit der Photographie nach sich. Eine Erinnerung Dürings an ein vergangenes Weihnachtsfest wird analog zur Entstehung eines Fotos in den Erzählvorgang eingeschrieben: Die durch den Auslöser bewegte Öffnung 181
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Ein Eindruck von Simultaneität entsteht daher weder bei Schmidt noch in den stream of consciousness-Passagen des ›Ulysses‹ (im Unterschied zu dem narrativen Muster der ›Wandering Rocks‹). Schmidt: Berechnungen, S. 102.
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der Blende, durch die für einen Augenblick der Film belichtet wird, Konturen, Konstellationen und Situationen hervortreten, wird zum Analogon für das Aufblitzen einer Erinnerung: (Dazu wie ein Blitzlicht die Weihnachtserinnerung : Kerzen schimmerten gekonnt und versonnen, weiche goldgeschmolzene Gesichtlein über weißen schlanken Hälsen, geneigten, verlogen und schein-heilig. Gar gemütlich stank der mit Zimt und Nelken verfälschte Glühwein, rot aus den Sonntagsgläsern; und auch ich hatte mir falsch die Hände über den Leib gelegt, eine der drei schweren Brasil geblasen. Dann hatte ich’s aber doch nicht ausgehalten, und zu dem ollen Atlas von 1850 gegriffen, den ich für ein paar Pfennige in Verden für mich aufgegabelt hatte. Blende zu). ([…] an der Tochter hing das neue Kleid, vorm Spiegel, bonbonenes Gesicht : meine Tochter. Blende zu). (F, S. 306)
Hier sieht der Erzähler seine eigene Vergangenheit in heterogenen Bruchstücken, in »glitzernde[n] snapshots« (F, S. 301), wodurch im Erzählvorgang das poetische Postulat des Erzählbeginns eingelöst wird. Wesentlicher Bestandteil des Erzählerbewusstseins in Schmidts Prosa ist ein umfassender, auch abseitige Dichter und Werke nicht aussparender literarischer Kosmos, der, angeregt von äußeren Eindrücken, aktiviert wird und das Romangeschehen unter Rekurs auf die private literarische Tradition des Autors kommentiert und reflektiert. Der Anblick eines Gärtners mit einem Wasserschlauch ruft in dem Erzähler die Erinnerung an die antike Figurengruppe des Priesters Laokoon (der Gärtner) und seiner Söhne im Kampf mit den Schlangen (der Wasserschlauch) wach; der Name der Plastik dient wiederum als verbale Schaltstelle, die zu Lessings poetologischer Schrift überleitet. Streckenweise werden die literarischen, philosophischen und zeitkritisch-politischen Reflexionen des Erzählers so dominant, dass die formalen Bemühungen um eine bewusstseinsunmittelbare Darlegung hinter einer geradezu traktathaften Darstellung zurücktreten: …stellen S’ich ma Hölderlin als Rekrut aufm Kasernenhof vor ! (Oder Faust; oder ETA Hoffmann : warum hat wohl Herder stets, abscheugeschüttelt, vom ›Roten Halsband‹ gesprochen, das ihm schon in die Wiege gelegt worden war ? Warum hat Chamisso den edlen Wehrdienst ein ›Métier‹ genannt, ›das Herz und Geist vertrocknen macht‹ ? !) ›Wehrmacht‹ ? : das ist etwas, was nicht zu sein braucht ! Merken Sie sich das ! ›Es ist immer so gewesen ? !‹ : Dann wird’s ja Zeit, daß der Unfug mal aufhört ! Wozu haben wir etwas mehr Vernunft als die Tiere ? Achso Sie nicht ? ! – Dann allerdings ! (DSH, S. 29)
Es versteht sich von selbst, dass diese direkten Leseranreden, zu denen sich der Autor hinreißen lässt, dem Rezipienten die Medialität der Erzählform vor Augen führen und sich insofern für das in den ›Berechnungen‹ proklamierte Ziel einer Illusionierung als höchst kontraproduktiv erweisen! Die Freiheiten, die ein in dieser Weise gestaltetes Erzählverfahren durch die Verknüpfung von erzählerischer Formung und Unmittelbarkeit gewährt, werden von Schmidt spielerisch ausge146
nutzt, um Bewusstseinstatsachen und -prozesse experimentell umzusetzen; dies zeigt sich etwa in der Integration verschiedener Träume183 oder des Einschlafens, bei dem das Bewusstsein gleichsam retardiert, bis der Gedankenstrom abreißt: …so ne Villa drüben wär gar nich so dumm : gar. nich. dumm. – Meingottebenerstvier ! : und ich konnt’ und konnt’ nich mehr schlafen ! (DSH, S. 28)
In ›Aus dem Leben eines Fauns‹ koppelt Schmidt die verbale Umsetzung von Traumbildern mit einer Anspielung auf seine prosatheoretischen Überlegungen, wie sie im Erzählanfang des Romans und auch später in den ›Berechnungen‹ formuliert sind. Ohne Schlaf und aus allen Gestrüppen schlichen blitzschnell die Gedankenmakis : Akten zeilten ehrenhaft; Schuljunges matrosenkrägelte; rüpelte picklig Militär; halbwüchsige Geilheiten strichen mandelmilchig ums Bein; alte Sommerreisen tigerten Licht heran; im grünen Weidenkorb der Wälder; die Wölfin kam mehrfach nach Samen geschlendert; (also kein Kontinuum : ein Haufen bunter Bilderkacheln; zerblitztes Museum.) (F, S. 313)
In expressionistisch-synästhetischem Sprachduktus wird hier ein »stream of memory« gleichsam als erzählpraktischer Beleg für Schmidts Prosatheorie des Musivischen Daseins vorgeführt. Die erzählerische Darstellung setzt somit das zentrale Anliegen der ›Berechnungen‹ im prosapraktischen Experiment um, das Schmidt mit Joyce verbindet: Die Prosaform soll die »strukturellen Bedingungen der Apperzeption von Wirklichkeit«184 und den Wahrnehmungsrhythmus des menschlichen Bewusstseins adäquat im Medium der Sprache nachbilden; Realismus wird aufgefasst als ein psychologischer, genauer ein Bewusstseinsrealismus, denn Realität wird als das begriffen, was sich in einem subjektiven Bewusstsein an Welt spiegelt.
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Vgl. in ›Brand’s Haide‹ etwa den Fiebertraum (B, S. 173), den langen Öreland-Traum (B, S. 124–127), die Wunschprojektion, in der der Erzähler Hand in Hand mit Lore durch eine Großstadt läuft (B, S. 130), sowie den Traum, der ihn in seine Zeit als Soldat zurückversetzt (B, S. 185). Auch im ›Faun‹ wird ein Traum des Erzählers, der verschiedene Erinnerungsfragmente und fiktive Elemente unverbunden inkorporiert, entsprechend ›stenographiert‹: »Traumstück : ein Bild ›Erinnerung‹ : Alter Mann auf der Parkbank. Hecken bilden einzelne Abteilungen, auch Lauben. Er sieht sich dort selbst in verschiedenen Altersstufen : als Kind. Im Schwimmbad allein unter vielen halben Mädchen. Über Büchern im Gehen, fern ein Landhaus. In der Mitte des Parkes die große Marmorstatue Käthes. Ohne Punkte).« (F, S. 389) Im ›Steinernen Herzen‹ rekapituliert der Erzähler im Traum Eindrücke aus seiner Jugend; interessanterweise stimmt der Traumbericht mit autobiographischen Details des Autors überein; »Dr. Geister« (DSH, S. 35f.) war Arno Schmidts Englischlehrer. Vgl. auch DSH, S. 15 und S. 45. Bull: Bauformen des Erzählens bei Arno Schmidt, S. 19.
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3.5.3
Verfremdung und Suggestivität – Stilexperimente à la ›Ulysses‹
Bei Arno Schmidt setzt sich der expressionistisch gefärbte Stil, der zuerst im ›Leviathan‹ zur suggestiven Beschreibung des Kriegsgeschehens erprobt wurde, in den Nachkriegserzählungen fort; nach wie vor fallen die visuell aufgeladenen Neologismen und Metaphern auf, etwa in den folgenden Mondbeschreibungen: »[M]ein düsterer Kopf schwankte im mantelgrauen harten Spinnengezweig, Spenstergezweig […]. Wind büffelte faul in noch Ungemähtem; ein altes flaches Goldstück lag, zerbrochen oder zugestaubt, im Himmelsdunst, ganz da drüben« (B, S. 178); oder: »Draußen : Mond buckelte still hinter gelben Wolkenfronten« (B, S. 149). In den ›Umsiedlern‹ heißt es »Ein breiter Silberhauer schwoll aus welkem Wolkenmaul : mampfte greisig wieder zu.« (U, S. 285), im ›Faun‹: »Der kahle Mongolenschädel des Mondes schob sich mir näher« (F, S. 301). Abbreviatorische Suggestivkomposita wie »Fragestirnen« (B, S. 145), die Handlungen in die Wortgestalt selbst einschreiben, sind auch im ›Ulysses‹ häufig: »Davy Byrne smiledyawnednodded all in one« (U 8.969); der taube Kellner in ›Sirens‹ »seehears lipspeech« (U 11.1002).185 Das zweite sprachliche Charakteristikum, dem bereits im ›Leviathan‹ eine bedeutsame Rolle zukam, besteht in der Belebung unbelebter Dinge (besonders technischer, landschaftlicher sowie meteorologischer Erscheinungen), etwa in den Personifizierungen: »Die Regin schluchzte untröstlich und schlug ihr Silberhaar über die Scheiben« (U, S. 272), und »weit vorn stach ein kleines Auto die aufgeschwollenen Augen in die Morgennacht, sah sich langsam zitternd um, und wandte mir dann schwerfällig den rotglühenden Affensteiß her« (F, S. 301). Der umgekehrte Verfremdungseffekt wird durch die Vergegenständlichung von Menschen vermittels einer synekdochischen Darstellung erzielt, die Details
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Das Substantivkompositum »nobodaddy« (U 9.787 und 14.418f.) sei in diesem Zusammenhang aus der Fülle ähnlicher Wortbildungen im ›Ulysses‹ deshalb erwähnt, weil Schmidt 1963 ›Brand’s Haide‹ mit den Erzählungen ›Schwarze Spiegel‹ und ›Aus dem Leben eines Fauns‹ als Romantrilogie unter dem Titel ›Nobodaddy’s Kinder‹ publizierte. Man muss sich fragen, ob er dabei William Blake, die eigentliche Quelle dieses Neologismus (es handelt sich um den Titel eines Gedichtes von Blake: ›To Nobodaddy‹), oder nicht vielmehr dessen Zitat im ›Ulysses‹ im Sinn hatte – und ob damit nicht möglicherweise (wenngleich die Semantik der Nomen ›nobody‹ + ›daddy‹ zur Vorsicht mahnt) auf eine ›Vaterschaft‹ Joyce angespielt wird. (Vgl. auch Friedhelm Rathjen: Kains Panoptikum. James Joyce in Arno Schmidts Erzählung »Großer Kain«, in: Zettelkasten 3 (1987), S. 78–103, hier S. 80.) Eine ähnlich interessante Anspielung auf Joyce findet sich bereits im Titel der Erzählung ›Dr. Mac Intosh: ‹ [Niederschrift Juli 1962], in: BA I/3, S. 399–421 sowie in Großer Kain, S. 360: Dr. Mac Intosh ist nicht nur ein anagrammatischer Doppelgänger seines Autors, sondern natürlich auch eine Anspielung auf den mysteriösen ›man in the Macintosh‹, der dem Leser hie und da im ›Ulysses‹ begegnet.
des menschlichen Körpers isoliert betrachtet und in einer eigenen Bildlichkeit entfaltet. In den ›Umsiedlern‹ werden die Menschen feindselig, ihre Gesichter gegenständlich und zweidimensional wahrgenommen: »da saßen sie mit wütenden Gesichtsscheiben bei 25 Watt« (U, S. 263); die eigenen Gliedmaßen erscheinen vom Körper abgelöst (»Hände mit abgefressenen Nägeln lagen haufenweise vor uns. Herum.« (DSH, S. 68)), Bewegungen von der sie ausführenden Person isoliert: »ihr grauer vielzweigiger Ast ergriff ne Büchse Milch; der Lochmund blies 4 schwarze Silbenplättchen : › › › › :« (DSH, S. 9). Im ›Faun‹ blickt eine Sekretärin im Landratsamt »versonnen auf ihre dünnen glatten Fingerspargel, die in den Karteikarten schnipsten« (F, S. 303). Häufig ist auch eine Verbindung beider Stilmittel zu beobachten, was die wechselseitige Verfremdung von Belebtem und Unbelebtem in ihrer sinnlichen (vornehmlich visuellen) Wirkung noch verstärkt, so im ›Faun‹: Wir liefen leicht und schleifend hinter unseren Gliedern her, über windstille Wiesenscheibchen, bis ich einer breithüftigen Jungtanne in die biegsamen Stachelarme geriet (weit gespreizte Astbeine, weidliches Stammbecken, meine Hand ertappte moosige feuchte Falten; und der Brustküraß federte und jechte […].) (F, S. 385)
Ein spezifisches Stilprinzip der ›Wandering Rocks‹-Episode im ›Ulysses‹ ist ebenfalls die Belebung unbelebter Objekte; Gegenstände erhalten menschliche Attribute, so die »fat pears« (U 10.305, 10.333) und »shame-faced« (U 10.306) oder »blushing peaches« (U 10.333). Umgekehrt werden Menschen zu Gegenständen reduziert: »Mrs M’Guinness, stately, silverhaired, bowed to Father Conmee from the farther footpath along which she sailed.« (U 10.181) Mit sprachlichen Mitteln erzielt Joyce eine anatomische Sezierung von Figuren, indem die Worte den isolierten Gliedmaßen einen Status selbständiger Existenz zu verleihen scheinen: »[A] generous white arm from a window in Eccles street flung forth a coin« (U 10.221f.), und »from a long face a beard and gaze hung on a chessboard« (U 10.425). Der aus der synekdochischen Sprachverwendung resultierende bizarre Effekt entspricht wiederum der filmischen Wahrnehmung: Bei einem close-up können ebenfalls menschliche Gliedmaßen oder sonstige Details in Loslösung von einem Ganzen Subjektstatus gewinnen. Diese Darstellung folgt überdies dem analytischen Panoramablick des Kapitels, das Fragmentarisches in seiner Unverbundenheit und Heterogenität in den Blick nimmt, es kurz beleuchtet, verfolgt, dann wieder fallen lässt, ohne den Eindruck einer Systematisierung oder Hierarchie erwecken zu wollen. Bei der Beschreibung von Frauen ist die Metaphorik bei Schmidt häufig der organischen Natur entlehnt: »Rote Mundschlucht, von Wildwässern überlaufen, aus der leise Windstöße flossen. Ich koppelte nun die andre Hand los, und sie sprang ihr zum Hinterkopf durch die dunkle Haarwiese« (U, S. 280). Die Funktion dieser quasi lyrischen Bildlichkeit besteht darin, höchste visuelle und akustische Suggestivität zu erzeugen, häufig unter synästhetischer Verschmelzung ver149
schiedener Sinneseindrücke; von Katrin heißt es in den ›Umsiedlern‹, sie habe: »Augen wie helles Vogelgeschrei« (U, S. 266). 3.5.4 Die Transkription der lautlichen Physiognomie einer Epoche Zielt der eben umrissene Sprachgebrauch in den Nachkriegserzählungen auf eine Verdichtung verschiedener Sinneseindrücke in beschreibenden Passagen, bzw. vornehmlich auf eine visuelle Anreicherung der Sprache, so wird die akustische Realität bruchstückhaft in den Text montiert und durchbricht immer wieder den charakteristischen Ton der Erzählungen.186 Da die lautliche Physiognomie einer Epoche sich keinesfalls als homogen präsentiert, die Sprache der Menschen ein komplexes Gebilde aus verschiedenen Nationalsprachen, Dialekten und Soziolekten darstellt, das sich mit den Geräuschen des Alltags und dem Lautrauschen der Massenmedien vermischt, liegt es nahe, dass der Schriftsteller, um diese »akustische Realität« adäquat wiedergeben zu können, sich der Montagetechnik bedient, indem er heterogene sprachliche und nonverbale Elemente (bestenfalls assoziativ verbunden) aneinanderreiht. Dazu zählen (wie bei Koeppen, vgl. Kap. 2.2.5) die Schlager der Zeit (etwa »Findest Du das schönste Lied der Welt / : Bring es mit ! : Bring es mit !« (B, S. 166)) sowie traditionelles Liedgut, das auch im Nationalsozialismus populär war: »Hört die Musik / singét mit uns im Chore...« (B, S. 127).187 Das Radio als Komponente des akustischen Alltags spielt in den ›Umsiedlern‹ eine dominante Rolle, der von Schmidts suggestiver Umschreibung Rechnung getragen wird: »›knack am Fänstör – des Panazzo – fallän dunkäll – note Nosön‹ jauchzte es geschmeidig, Geigen pfiffen sich bogig immer höher« (U, S. 267).188 Die akustische Welt in ›Aus dem Leben eines Fauns‹ ist von der Seich-
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Verglichen mit dem ›Leviathan‹ werden in den Nachkriegserzählungen die akustischen Einsprengsel häufiger; in der Entwicklung von Schmidts Prosa bis zum ›Steinernen Herzen‹ lässt sich eine Tendenz zur differenzierteren Wiedergabe der lautlichen gegenüber der visuellen Realität feststellen. Die unzähligen Liedelemente im ›Ulysses‹ bilden den Musikgeschmack des Jahres 1904 dezidiert nach; den musikalischen Anspielungen und Zitaten in Joyce Prosa ist eine umfassende Monographie gewidmet (Zack Bowen: Musical Allusions in the Works of James Joyce, Albany, N.Y. 1974); beispielhaft sei nur das Duett aus Mozarts ›Don Giovanni‹ (I. Akt, 3. Auftritt), ›Là ci darem la mano‹ (mit dem häufig von Bloom fälschlicherweise als »Voglio e non vorrei« zitierten Vers »Vorrei e non vorrei«) genannt (U 4.314, 4.327, 5.224ff., 15.351ff., 15.469, 7.119, u.ö.), das neben dem irischen Lied ›Love’s Old Sweet Song‹ (Musik: James Lyman Molloy, Text: G. Clifton Bingham; vgl. U 4.314) zu den Liedern im ›Ulysses‹ gehört, die an zahlreichen Stellen im Text zitiert werden. Im ›Ulysses‹ gestaltet Joyce in ähnlicher Weise die durch ein technisches Medium verzerrte Klangrealität in einer Textpassage, in der sich Bloom vorstellt, dass man die Stimme eines Verstorbenen zur Erinnerung für die Hinterbliebenen auf einer Schall-
tigkeit nationalsozialistischer Unterhaltung und massiver Propaganda dominiert: »›Habt ihr schon das Hitlerbild?‹ fragte der Egerländermarsch, und beteuerte sogleich weiter: ›Nee, nee, wir ham noch keins / aber kaufen tun wir eins!‹« (F, S. 306). Neben dieser ironischen Variation des von den Nazis fast täglich im Radio gespielten Egerländermarschs wird in parodistischer Umschrift der gesprochenen bzw. gesungenen Sprache aus Ludwig Bauers Lied »O Deutschland, hoch in Ehren« zitiert: »›Duh heiljes Lant dea Treu...‹ […] ›Unt wie des Adlers Flug vom Nest / ihist Dei-nes Geistes Flug : Haltet aus!‹« (F, S. 310). Über Radio und Lautsprecher ist die nationalsozialistische Propaganda allgegenwärtig und wird von Schmidt in ihrer akustischen Gestalt präzise transkribiert: »13 Schiffe aus einem Geleitzug versenkt !«; der Lautsprecher sang und stampfte im Menschenhag; Worte trafen streng und grau; und die faden Wassertoten wehten pathetisch durch unsere Menge. Regen erfingerte mich. Das Gerät brüllte bakeliten und siegte weiter : »Denn wir fah ! ränn ! Gegenn Engellant ! : Engellant !«; Herms Niel und Herm. Löns, die deutsche Schlägerfirma ! (F, S. 373f.)
Die Werbung ist wie das Kino integraler Bestandteil des allumfassenden ›kulturellen‹ Kitsches, der auf Betreiben der Nationalsozialisten zur Unterhaltung des deutschen Publikums und zur Ablenkung von den Kriegsereignissen in den Kinos vorgeführt wurde. Der Kinobesuch Dürings mit seiner Frau wird vom Erzähler mit tiefster innerer Distanz gegenüber der rührseligen Filmhandlung geschildert, etwa wenn die Bilder auf der Leinwand mit verfremdendem Blick als riesenhafte Monstrositäten wiedergegeben werden: Blöd und süß : der Hauptfilm. Man walzte dekorativ (»Nein, diese en-tzückenden Kleider, Heinrich !«); Willi dalberte um Lilian; und Hans Moser, der liebe kleine Schelm : Kinderkinder, wenn auf Totschlag bloß nicht immer gleich so hohe Strafen stünden ! […] Der Kaiser, der Kaiser, die ›Liebe Majestät‹, tanzte höchsteigenhändig mit ihr: und sie griff sich tief in den Falbelrock, mit knixenden Händen, glitt dichter heran : Riesenaufnahme (Oh Swift in Brobdignag !), schob lautlos den Mundhangar auf : lexikongroße Zahnplatten besetzten die Kieferbogen, unterm Nasenpilaster; die Wimpern starrten wie Kistennägel. Aus der Höhle begann es lockend zu walzen (und die seelenlosen Gaffer wiegten sich unmerklich im befohlenen Takt, wie das Lästrygonenhaupt oben hin und her schwankte). Ja, und der Kaiser tanzte also mit ihr, paullinckisch, und s war eine große Ehr’ (vielleicht hatte sie auch schon ›unter‹ 3 Kaisern gedient); […] und es war Alles so erstunken und absurd, so gemütvoll und deutsch : nee ! (F, S. 377f.)
Der Erzähler registriert den verordneten Lärm mit Sarkasmus und Widerwillen:
platte fixieren könne: »Put on poor old greatgrandfather. Kraahraark! Hellohellohello amawfullyglad kraark awfullygladaseeagain hellohello amawf krpthsth.« (U, 6.965f.)
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war nicht gestern Abend »Neues vom Schallplattenmarkt« gewesen, und hatte begonnen : »jadas Kliemaa : von Liemaa : ist priemaa« ?! Was müssen das für gefühllose Automaten sein, die so was a) texten & musiken, b) singen und platt schallen, c) kaufen womöglich, d) im Rundfunk bringen, e) sich ruhig (oder gar angeregt) anhören ! ( : Wer das alles macht ? ! : der berühmte ›Deutsche Mensch‹ ! Von der ChristlichAbendländischen Kultur GmbH !) (F, S. 320)
Diesem unvermeidlichen banalen Lärm wird im Bewusstsein des Erzählers die Welt literarischer Zitate entgegengesetzt, die sich assoziativ als geistige (Abwehr-) Reaktionen eines Intellektuellen auf die Alltagswahrnehmungen einstellen. Auf diese Weise spiegelt Schmidts Prosa dessen Verhältnis zur literarischen Tradition wider, das ihn in die Reihe der Modernen stellt: Trotz allem historischen Bewusstsein besitzt die Literaturgeschichte für Schmidt nicht mehr den Stellenwert unantastbarer, ewig währender Gültigkeit und Normativität; vielmehr bedient er sich aus ihr je nach Bedarf. Schmidt postuliert (wie so oft von sich selbst abstrahierend) eine Art universaler Intertextualität: »Jeder Autor benützt.«189 3.5.5
»Arche der Weltliteratur« – Der Zitatcharakter von Schmidts Prosa
Ein herausragendes Merkmal des Schmidtschen Erzählwerks ist dessen Zitatcharakter, die Inkorporation und Collage von heterogenen Fragmenten der gesamten literarischen Tradition, freilich vornehmlich von Repräsentanten seines privaten Kanons. Sein inkorporierendes Verfahren reicht von der indirekten Anspielung über die Übersetzung in den eigenen Prosastil, das wörtliche Zitat, die Übernahme technischer Eigenarten eines bestimmten Autors bis zur Adaption eines vorgegebenen Modells, das als Form von Schmidt ausgefüllt wird. Prütting zufolge gewinnt man den Eindruck, dass Schmidt »die gesamte bisherige Weltliteratur in seinem eigenen Werk ›aufheben‹, im Sinne von ›bewahren‹, ›beenden‹ und ›höher heben‹« wolle; er begreift »sein Werk als Arche der Weltliteratur.«190
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Schmidt: Über die Arbeitsweise Edgar Allan Poe’s, S. 375. Prütting: Arno Schmidt, S. 4. Daher mag wahrscheinlich Schmidts Insistieren auf einer abgestuften Plagiarismusskala rühren, die von der zufälligen Übereinstimmung über die bewusste Anspielung, das »Aufgreifen und bessermachende Auswerten eines vom Originator selbst geringgeachteten 1=Zeilen=Einfalls« oder einer »gänzlich unausgenützten, ja verpfuschten Episode« bis zur »hastig=frechen Benützung, die’s schlechter macht, als das Original« und schließlich zum »nackten Plagiat« reicht. (Vgl. Arno Schmidt: Meine Bibliothek [9.–16.4.1964], in: BA, Bd. III/4, S. 361–368, hier S. 364f.) Es ist aus dieser Einteilung unschwer abzulesen, welche Verfahren der Übernahme geistigen Materials Schmidts Billigung erhalten und welche nicht. Vgl. dazu auch Axel Dunker: »In der Plagiats-Diskussion in Buch II von ›Zettels Traum‹ schreibt
Diese Tendenz zur Inkorporation der literarischen Tradition, verbunden mit einem gewissen Überbietungsgestus ist eine fundamentale Gemeinsamkeit zwischen Schmidt und Joyce, die sich im ›Ulysses‹ in den zahllosen einmontierten Einzelanspielungen und Zitaten niederschlägt (die insbesondere das Bewusstsein des vielseitig gebildeten Stephen Dedalus konstituieren, aber auch die literarische (Halb-)Bildung der übrigen Figuren charakterisieren). Sie findet ihren augenfälligsten Ausdruck in der ›Oxen of the Sun‹-Episode des ›Ulysses‹, in der Joyce die Handlung eines Kapitels einen Querschnitt der Prosastile der englischen Literaturgeschichte durchlaufen lässt, den Sprachduktus berühmter englischer Dichter in chronologischer Abfolge imitiert und diese Reihe, die aus einer Parodie lateinischer Satzmuster (Sallust/Tacitus) hervorgeht, über die rhythmische Prosa der mittelenglischen Sprachperiode, die stilistischen Charakteristika etwa eines Daniel Defoe, Laurence Sterne und Horace Walpole bis ins ausgehende 19. Jahrhundert (Huxley, Pater, Ruskin) entwickelt wird, schließlich in die dramatisierte Polyphonie des darauf folgenden ›Circe‹-Kapitels überführt.191 Als »Arche« englischer Literarhistorie ist Joyce Erzählverfahren in dieser Episode prägnant erfasst. In ›Brand’s Haide‹ bieten die Zitate und Anspielungen zusammengenommen einen internationalen historischen Querschnitt, der von den Merseburger Zau-
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Schmidt: ›Nun ist ›DAS PLAGIAT‹ ja ein unglaublich=weites, (und ergo noch gar nicht gut gewürdichtes), Feld – vom idiotisch=nakktn Diebstahl des ehrgeizijn aber geistig=Armen an; bis zum Selbst=Copiren des Großmeisters; (bei dem solche ›Wiederholung‹ einer sehr merkwürdijen ›Mitteilung‹ gleichzusetzen sein wird).‹ (ZT 286 lu) Im ›Großen Kain‹ heißt es dann ja auch entsprechend: ›…an sich selbst begeht man kein Plagiat‹ (GK 358).« In diesem Zusammenhang weist Axel Dunker zu Recht auch darauf hin, dass »Schmidt 1961/62 seine schriftstellerische Position nach begonnener eingehender Beschäftigung mit Joyce und Freud als sehr prekär empfunden haben muß.« (»Man begeht kein Plagiat an sich selbst.« Zur Transformation der Werke von James Joyce und Heinrich Albert Oppermann in Arno Schmidts Erzählung »Großer Kain«, in: Bargfelder Bote 152–153 (März 1991), S. 3–24, hier S. 16.) Die Originalitätsbzw. Plagiarismusproblematik hat Schmidt fortwährend (und – so scheint es: drängend) beschäftigt. In ›Abend mit Goldrand‹ bekennt Schmidt: »man kann tatsächlich nichts Neues erfindn« (Arno Schmidt: Abend mit Goldrand. Eine MärchenPosse, in: ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe IV: Das Spätwerk, Band 3, hg. v. der Arno Schmidt Stiftung, Zürich 1993, S. 248); in ›Julia‹ heißt es: »Es muß erstaunlich schwer sein, ›Neues‹ zu erfinden!« (Arno Schmidt: Julia, oder die Gemälde. Scenen aus dem Novecento, Zürich 1992 (Bargfelder Ausgabe IV/4), S.52.) Vgl. die hilfreichen Aufschlüsselungen einzelner Textstellen des ›Ulysses‹ von Gifford/ Seidman: Ulysses Annotated, S. 406–449. Das dichte motivische Netz literarischer Zitate und Anspielungen im ›Ulysses‹ kann kaum vollständig und zugleich systematisch erfasst werden, schon gar nicht im Rahmen dieser Arbeit. Einen Versuch einer auf exempla basierenden Systematisierung, die die Zitate nach ihrer jeweiligen Funktion klassifiziert, unternimmt Ulrich Schneider in seiner ergebnisreichen Studie (Ulrich Schneider: Die Funktion der Zitate im ›Ulysses‹ von James Joyce, Bonn 1970).
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bersprüchen192 über die Dichtung des Minnesangs,193 Shakespeare,194 Swift,195 Sterne,196 Schnabel,197 Klopstock,198 Wieland,199 Humboldt,200 Klinger,201 bis hin zu E. T. A. Hoffmann,202 Scheffel,203 Poe,204 Cooper205 und Storm reicht.206 Die Zitate rücken die Erlebnisgegenwart in ein anderes Licht und kommentieren sie. In ›Aus dem Leben eines Fauns‹ werden Homer,207 Scheffel,208 Klopstock,209
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Vgl. B, S. 130: »eiris sazun idisi.« Vgl. B, S. 129: »Ich hätte sie anbeten mögen : ich bin dîn... (aber ob du mîn bist ... which I am doubtful of !).« Beim Anblick der Seidenkrawatten fällt dem erstaunten Erzähler ›Macbeth‹ II.i ein: »is this a dagger which I see before me ?« (B, S. 146) Vgl. B, S. 156: »Auch Jonathan Swift : ein großer Mann.« Vgl. B, S. 127: »Wie Junker Toby.« Der Traum von einer Flucht auf die ›Insel Felsenburg‹ ist eine Variation des bei Schmidt häufig artikulierten Wunsches nach einem Exil für Intellektuelle und Schriftsteller. Auch in ›Brand’s Haide‹ wird diese Utopie im Traum des Erzählers der Alltagsrealität gegenübergestellt: »[A]us der Tafelmitte strahlte, gewaltig groß, die Insel : weiße Wände über dröhnendem Meer : o du mein Exil ! Ich konntes nicht ertragen; ich drückte den Kopf auf die Fäuste, und heulte und fluchte […]. Ich schrieb einen flehentlichen Brief an Johann Gottfried Schnabel, esquire : er solle wieder einmal ein Schiff von Felsenburg schicken« (B, S. 152f.). Vgl. die Anspielung auf den ›Messias‹, B, S. 158. Vgl. B, S. 164: »Denn daran zu zweifeln fiel mir ebensowenig ein, als sei ich Don Sylvio !« Außerdem wird beim Anblick des Ofenfeuers die Fee Radiante in Erinnerung gerufen (vgl. B, S. 150). Vgl. B, S. 150. Für diese Lektüreempfehlung geht Schmidt zur direkten Leseranrede über: »[L]esen Sie Maximilian Klinger : Geschichte Raphaels de Aquilas : das ist ein Buch ! Nicht wie Sartres Gelumpe !« (B, S. 163) Vgl. B. S. 150. Der Ausspruch »alau tahalaui fugau« (B, S. 142), mit dem der Erzähler die Betrunkenen in die Flucht schlägt, stammt aus dem ›Ekkehard‹. Bezeichnenderweise handelt es sich dabei um eine geheimnisvolle Formel, mit dem eine Schweineherde gebannt wird. Vgl. B, S. 162: »vast forms, that move phantastically; großer Bruder Poe.« Vgl. B, S. 130 und bes. S. 150, wo das »Wish-ton-wish« aus dem vollständigen Titel von Coopers ›Conanchet‹ zur lautlichen Transkription eines Käuzchenrufes benutzt wird. Vgl. B, S. 158, wo sich der Erzähler über die Filmfassung von ›Immensee‹ empört. Mit Blick auf ›Brand’s Haide‹ fällt auf, dass – nimmt man die literarischen Anspielungen für sich – die Literatur für den Erzähler tatsächlich ›mit Storm aufzuhören‹ scheint. Eine vereinzelte Erwähnung von Hesses ›Steppenwolf‹ wird kritisch-distanziert auf Lore bezogen (vgl. B, S. 157). Vgl. F, S. 303. Vgl. F, S. 379: »(cf. Scheffels ›Kastel Toblino‹, pag. 398).« Vgl. F, S. 369: »Schön ist, Mutter Natur, Deiner Erfindung Pracht !«
Swift,210 Wieland,211 Goethe,212 Scott,213 Tieck,214 E.T.A. Hoffmann,215 Poe,216 Balzac und Zola,217 selbstverständlich Cooper,218 Longfellow,219 Kipling220 und Nietzsche221 in das Netz der intertextuellen Anspielungen einbezogen, in das auch 210
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Schmidt fügt im ›Faun‹ recht unvermittelt (der Besuch Dürings beim Antiquar in Hamburg ist ein kaum zureichender Anlass für diesen Exkurs) einen kurzen essayistischen Abriss von ›Gulliver’s Travels‹ in die Erzählung ein (vgl. F, S. 354), der durch die Interpretation des Erzählers sowie durch die Romanhandlung eine besondere Brisanz erhält. Düring sieht sich in der Rolle Gullivers und deutet die »several remote nations of the world« zeithistorisch im Licht des Nationalsozialismus. Zu Swift siehe auch F, S. 317, 329 und 377f. Vgl. F, S. 306, 329 sowie den langen Exkurs F, S. 350ff., der die prosatheoretischen Kerngedanken von Schmidts im April 1957 ausgestrahlten Funkessay ›Wieland oder die Prosaformen‹ (in: BA II/1, S. 275–304) vorwegnimmt. Vgl. F, S. 306 und 360 sowie die für Schmidts Essayistik charakteristischen Schmähreden, die Goethe prosapraktischer »Schlamperei« bezichtigen. So heißt es etwa im Vergleich mit Tieck: »(Und wie steifbeinig-altklug dagegen Goethes ›anständige‹ Geheimratsprosa : der hat nie eine Ahnung davon gehabt, daß Prosa eine Kunstform sein könnte; man kann über die gravitätische Stümperei der ›Novelle‹ z.B. nur lachen !)« (F, S. 317). Vgl. F, S. 329 und 376. Vgl. F, S. 317, 329 und 358. Vgl. F, S. 360. Vgl. F, S. 359, wo die Hütte des Faun als »The Haunted Palace« bezeichnet wird. Vgl. die Kritik an den französischen Romanciers F, S. 375, die doch gemeinhin als zwei Urväter der Moderne betrachtet werden – eine Auffassung, die Schmidt überraschenderweise keineswegs teilt: »Balzac, Balzac : kein Dichter; kein Verhältnis zur Natur (das wichtigste Kriterium !). Nur alle 20 Seiten einmal etwas wirklich Gutes, eine präzise Formulierung, ein suggestives Bild, eine Initialzündung der Fantasie. Wie lächerlich z.B. seine ewigen, unbeholfene Druckseiten langen Beschreibungen von den Boudoirs der Haute Volée ! : vermag Einer die Scherben solch unsinnigen Puzzle-Spiels zusammenzusetzen ? Und so oft Gestalten, Motive, Situationen wiederholt, wie nur je ein Vielschreiber. Männer gelingen ihm nie; nur Incroyables, Geizhälse, Journalisten, giftmischende Portiers (wie wohltuend dagegen selbst Cooper und Scott). Seine Frauen : Kurtisanen oder Mauerblümchen. Psychologie ? ? : o mei !! : den einzigen ›Anton Reiser‹ geb ich nicht für Balzac und Zola zusammen !« Die Erwähnungen von Coopers Namen sowie die Anspielungen auf die Werke von Schmidts »literarischem Groß=Liebling« sind auch im ›Faun‹ zahlreich und fallen stets in höchstem Maße anerkennend aus. Vgl. F, S. 301, 317, 329, 336, 376, 347 und 368f. Die »eddies and dimples« (F, S. 303) stammen aus Longfellows ›The Building of the Ship‹. F, S. 305 zitiert der Erzähler zwei Verse aus Kiplings Gedicht ›Soldier, Soldier‹: »I seen him serve the Queen / in a suit of rifle-green.« Vgl. F, S. 307 mit einem längeren Nietzsche-Zitat, dessen Fundort vom Erzähler in diesem Fall ausdrücklich benannt wird: »Ich schlug die biegsame blaue Kröner-Ausgabe auf, und las den Brief, den Friedrich Nietzsche 1891 von der Hebrideninsel Skye an Jakob Burckhardt gerichtet hat: […] Aber komisch, wo ich N. doch sonst nicht verknusen kann!).«
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ein langes Gnosis-Zitat am Ende des ersten Kapitels (vgl. F, S. 330ff.) sowie – und dies ist für den ›Faun‹ durchaus charakteristisch – eine Reihe nationalsozialistischer Autoren eingewoben sind, die jedoch meist nur mit Namen genannt sind und vom Erzähler jeden literarischen Wert abgesprochen bekommen: Allerdings die neuen BlutundBoden-Schmierer : dagegen ist B. [Balzac, M.J.] ja nun noch ein Gott ! Zum Beispiel hier die Anpreisungen im Umschlag : »der bestrickende Scharm des Anspruchslosen« (wenn die totale Versimpelung nicht mehr geleugnet werden kann !), »ein männliches und offenes Buch« (wenn der Autor mühsam und verlegen sein bißchen Unterleib vorschiebt !), »das endlich eine lang vorhandene Lücke schließt« (wenn die Fabel zufällig mal nicht von Homer, sondern erst von Hesiod datiert !) (F, S. 375f.)222
Im ›Steinernen Herzen‹ wird beispielsweise bei einem Gespräch über Politik die Parole »Solidarität« zynisch mit den Worten Shakespeares aus ›As You Like It‹ definiert: »‘Tis a greek invocation to call fools into a circle.«223 In den meisten Fällen sind sie jedoch vor allem Funktionselemente einer literarischen Gegenwelt, die eine solipsistische, elitäre Abgrenzung von der Masse rechtfertigen: »hat schon mal Einer von ihnen bei Ludwig Tieck geheult vor so viel Schönheit ? Oder sich von Hoffmann adoptieren lassen ?« (U, S. 272). Im ›Faun‹ demonstriert Düring in einem Gespräch mit dem Landrat seine geistige Überlegenheit gegenüber seinem Vorgesetzten mittels seiner eigenen Belesenheit: »Was lesen Sie denn da?« (›da so‹ wäre noch besser gewesen). »Viel Prosa, Herr Landrat«. (vertrauensvoll): »So: Epos, Lyrik, Ballade: das ist nichts für mich«. »– Und was da so?« (endlich ›so‹! Jetzt kalt): »Wieland viel, Herr Landrat; Cooper, Holberg, Moritz, Schnabel, Tieck, Swift; auch Scott.« (›Expressionisten‹ sage ich nicht: Dir nicht) : »auch Romantiker –« fügte ich süß und selig versöhnend hinzu (weil die Brüder die Romantiker ja doch nicht kennen: nicht ihre großen bahnenden Formkünste, nicht ihr concerto grosso der Worte, nicht Wezel, nicht Fouqué, nicht Cramer, ihr Laffen!) Er nickte bei jedem Namen langsam und gewichtig (hatte also keine Ahnung davon, und ich gab ihm die Gute-Nacht-Spritze):
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Vgl. F, S. 370: »Kauend vor einem Buchladen : alpakenes Gereime ankerte durcheinander, Verquollenes : Blunck, Heribert Menzel, Kolbenheyer, ›Chorische Dichtungen‹, ›Hitlerjunge Quex‹, und all die anderen Bänkelsänger des Dritten Reiches« sowie F, S. 363: »heute, wo Alles kolbenheyert und thoraxt (oder präziser : mittelmäßigt !).« Vgl. Shakespeares ›As You Like It‹, II.v. Bei Shakespeare bezieht sich der Vers auf das Nonsenswort »ducdame« aus Jaques Lied ›All Together Here‹. Die Kompilation von literarischen Zitaten und Namen in ›Das Steinerne Herz‹ (bereits der Titel verweist auf ein Märchen von Hauff) ist kaum überschaubar, inhomogen und innerhalb des begrenzten Rahmens der vorliegenden Studie nicht systematisch zu erfassen. Einen Ansatz zur Erschließung der literarischen und sonstigen Anspielungen unternimmt Huerkamp mit seinem hilfreichen Stellenkommentar zu diesem Roman: Josef Huerkamp: Nr. 8: Materialien und Kommentar zu Arno Schmidts Roman »Das Steinerne Herz«, München 1979.
»In Deutschland haben wir ja ein ganz einfaches Mittel, einen intelligenten Menschen zu erkennen.« – »: ? –«. »Wenn er Wieland liebt.« (F, S. 329)
Unnötig zu ergänzen, dass der Landrat mit Wieland nicht vertraut ist, wohingegen Düring sein geistiges Dissidententum auch literarisch – in seinem ›Gegenkanon‹ – verortet und neben der Reihe der Meilensteine seiner Lektürevorlieben die von den Nazis inkriminierten Expressionisten wohlweislich verschweigt. Schmidt macht in den Reflexionen seiner Erzählerfiguren keinen Hehl aus seinen »literarischen Großlieblingen« (freilich werden lediglich diejenigen mit größter Sorgfalt bedacht, bei denen man ihm keine unmittelbare Gefolgschaft, keinen Plagiarismus unterstellen kann) und lässt seinen ›Faun‹-Erzähler Düring mit Nachdruck verkünden: »Wieland ist mein größtes formales Erlebnis neben August Stramm!« (F, S. 351) ›Aus dem Leben eines Fauns‹ kann in mancherlei Hinsicht als Hommage an Schmidts expressionistische Wurzeln gelesen werden;224 hier häufen sich nicht nur explizite Verweise – Düring verkündet bei der Betrachtung von Otto Müllers ›Mädchen im Grünen‹ in der Hamburger Kunsthalle: »[E]s lebe unser großer heiliger Expressionismus !!« (F, S. 355)225 – auch die sprachliche Gestaltung ist von expressionistischen Stilmustern durchsetzt. Die Warenhaus-Sequenz im ›Faun‹ stellt sich dar als expressionistische tour de force – oder eine »Etüde in Stramm« (wenngleich sie mit einem Zitat aus Schillers ›Glocke‹ schließt226) Knöpfe und Stopfwolle : na, hoffentlich stimmts. – Grelle Lichter und dezentes Gelärm. (Wie wares ? : Bänder sprudeln, Gürtel nattern, Kiefer böttchern, Augen stöbern – –?– –. Weiß nicht mehr !). Oder doch ! So wars : ›Im Warenhaus‹: 3. Stock : Hände kläffen bunte Stoffe Kiefer böttchern Augen stöbern Ferne summen Bitte sagen Truhen dösen Sessel siedeln Kleiderdickicht Mantelwälder Bänder sprudeln Arme drängeln Knöpfe äugen Socken bergen Zeige fingern Dmarkstücke Schenkel stehen vom Popo. […] 2. Stock : Schmale preisen zeigen haben Teller scheiben Vasen kerzen Dicke brummen hinter Wangen Ampeln kabeln bügeleisern Spiegel wundern Gürtel nattern Bälle kauern sklavenbunt Münder stolpern Wortprothesen Waden letzen Hüften schamen kasse Rufe Stummelaugen Zähne gaffen schnappen gattern Nasen fortzen hirnig aus. […]
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So entdeckt Wehdeking besonders im ›Faun‹ Parallelen mit Borcherts nachexpressionistischen Prosaverfahren (vgl. Volker Wehdeking: Arno Schmidt und die deutsche Nachkriegsliteratur, in: Arno Schmidt. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Michael Matthias Schardt u. Hartmut Vollmer, Reinbek b. Hamburg 1990, S. 274–293, hier S. 284f.) Vgl. F, S. 301: »die Bäume standen riesenstramm.« Vgl. F, S. 352: »(Ist, glaub ich, von Schiller : ›Kinder jammern Mütter irren Tiere wimmern unter Trümmern Alles rennet rettet flüchtet...‹).« Es ist anzunehmen, dass die eigenwillige Assoziation durch die Dynamik des trochäischen Rhythmus‹, der bei Stramm wie auch bei Schiller auffällt, entstanden ist.
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1. Stock und Erdgeschoß : Büchsen rohren Bambusschlangen Gläser zwitschern Kaffee dünen Lippen krümmen biegen glucken Worte traben wellen trollen Würstchen tupfen bronznen Senf Waagen tatzen Zeiger klügeln gelde Kleine zeig Dich dicker Schmöker Buntschund Fotos starren Mäntel ehrbarn Treppen schweifen rosa knorpeln Ohren Nacken rückenwürdig Matriarchen Ernste tadeln Koffer boxen Türen prügeln hinten nach. (F, S. 352f.)
Herwarth Waldens Konzept einer »abstrakten Wortkunst«, die durch dessen ›Musterschüler‹ August Stramm zum wohl vollendetsten und kompromisslosesten sprachlichen Ausdruck gelangte, forderte eine strenge Konzentration auf das Einzelwort, um die Konventionalität sprachlicher Normen in mechanischen syntaktischen Fügungen zu zerschlagen. Seine bekanntesten Gedichte (›Patrouille‹, ›Traum‹, ›Schlachtfeld‹, ›Erinnerung‹ u.a.) sind weitgehend asyndetische Reihungen von Zweiwortsätzen unter Aussparung von Adjektiven und Adverbien. Die Emphase des Einzelwortes wird häufig dadurch erzielt, dass Stramm Nomen im Plural verwendet (»Roste krumen / Fleische schleimen…«227), die von einer Verbform (3. Pers. Pl.) gefolgt sind, die dem Infinitiv entspricht. Gelegentlich werden diese Zweiwortsyntagmen variiert, indem sie um eine Ergänzung oder Angabe erweitert werden: »Blute filzen Sickerflecke«. Genau diese Strukturen sind ebenfalls in der zitierten ›Faun‹-Passage beobachtbar: »Hände kläffen bunte Stoffe Kiefer böttchern Augen stöbern…« Der alternierende, meist trochäische Rhythmus der Gedichte August Stramms wird von Schmidt übernommen und radikalisiert,228 daneben die emphatischen Reihungen und Parallelismen von Verben bzw. Substantiven und die Verwendung zahlreicher Alliterationen bzw. Assonanzen und Neologismen, die durch Derivationen von Nomen oder Adjektiven zu Verben entstehen (»Roste krumen«; bei Schmidt wird daraus: »Teller scheiben Vasen kerzen […] Gürtel nattern«). Auch in Bezug auf ihr Wirkungsziel sind auffällige Entsprechungen zwischen Stramm und Schmidt festzustellen, geht es bei beiden doch nicht allein um die suggestive und expressive sprachliche Gestaltung von Bewusstseinsinhalten, wobei der Wortsinn der freien Assoziation untergeordnet wird, sondern auch um die Umsetzung von Bewusstseinsprozessen (wie sie sich bei Stramm schon in den Gedichttiteln ›Traum‹ oder ›Erinnerung‹ niederschlägt, die in den Versuchsreihen von Schmidts ›Berechnungen‹ wieder anklingen). Die apokalyptische Explosion der Munitionsfabrik Eibia am Ende der Erzählung mutet wie ein expressionistisches Inferno an. Während Düring und Käthe
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August Stramm: Schlachtfeld, in: ders.: Die Dichtungen. Sämtliche Gedichte, Dramen, Prosa, hg. u. m. einem Nachwort versehen v. Jeremy Adler, München/Zürich 1990, S. 83. Am deutlichsten wird die Dynamik der Trochäen vermutlich in Stramms Gedicht ›Traum‹: »Flüstern plätschert / Blüten gehren / Düfte spritzen / Schauer stürzen / Winde schnellen prellen schwellen […]« (in: ders.: Die Dichtungen, S. 40).
entlang der Bahnstrecke Bomlitz-Cordingen Richtung Osten fliehen und zuletzt Schutz in der Faun-Hütte suchen, kommt es unter Flakbeschuss zu entsetzlichen Explosionen, die Menschen und Landschaft weithin vernichten. Die sprachliche Gestaltung weckt Erinnerungen nicht nur an den ›Leviathan‹, in dem ähnliche Sequenzen (der Beschuss des Zuges) mit analogen sprachlichen Mitteln zur Darstellung gelangen, sondern vor allem an expressionistische Kriegslyrik. Heyms Gedicht ›Der Krieg‹, das in keiner Expressionismus-Anthologie fehlt und gewiss auch Schmidt bekannt war, schöpft seine Weltuntergangsmetaphorik aus der Personifikation des Krieges, der als dämonischer Unbekannter erscheint, die unbelebten Dinge in seinem Umfeld zum Leben erweckt und Tod und Vernichtung nach sich zieht. Die Menschen sind der aufbegehrenden Welt hilflos ausgeliefert. Das Gedicht, das mit der Strophe beginnt Aufgestanden ist er, welcher lange schlief Aufgestanden unten aus Gewölben tief. In der Dämmrung steht er, groß und unerkannt, Und den Mond zerdrückt er in der schwarzen Hand.229
weist in den zahlreichen Personifikationen deutliche Entsprechungen in Schmidts Prosa auf: Es ruckte und pochte wieder, und die Häuser fern lachten hell und irrsinnig aus allen zerklirrenden Gläsern. Explosine, und unzählige Knalle haschten um den Horizont. […] Die Nachtze klatschte in die donnernden Fäuste […]. Die lange Straße zuckte. Ein Baum wies mit mastigem Finger auf uns, taumelte mehr, und schloß den Zweigkäfig hinter uns. […] eine Hausfront stolperte drohend vor, mit seidenrotem Schaum vor dem Mauleck und flackernden Fensteraugen. […] Zwei Eisenbahnschienen hatten sich losgerissen und angelten krebsscherig weg […]. Ein langer Pulversilo skalpierte sich selbst, und ließ sein Blumengehirn übertrüffeln : unten beging er Harakiri, und wiegte oft den denkmaligen Leib über dem blutenden Schlitz, ehe er den Oberrumpf abwarf. […] Hunderte Arme spritzten aus der Grasnarbe und verteilten steinerne Flugblätter, auf jedem stand »Tod«, groß wie ein Tisch. (F, S. 380f.)
Aus Schmidts Metaphernmaterial entstehen durch Personifikationen die entfesselten, gegen die Menschen aufbegehrende Landschaft, die zum Leben erweckten Bauwerke, die die Passage als Explosion des Grauens in Szene setzen sollen. Neben die Personifikationen tritt wiederum das Stilmittel der »Entmenschlichung« oder Depersonifizierung der zahl- und namenlosen Verletzten und Toten, die in ihrer extremen Bildlichkeit als grausiges Personal in die apokalyptische Szenerie eingebunden werden: 229
Georg Heym: Der Krieg [1911], in: Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus. Mit Biographien und Bibliographien neu hg. v. Kurt Pinthus, Reinbek b. Hamburg 1959 (Rowohlts Klassiker der Literatur und der Wissenschaft. Deutsche Literatur 4), S. 79f.
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Und schwarze zappelnde Menschenfische : ein Mädchen mit nacktem Oberkörper sprengte kekkernd heran, und die Haut hing ihr um die verschrumpften Brüste als Spitzenkrausen; aus den Achseln wehten ihr die Arme hinterher wie zwei weiße Leinenbänder. Die roten Wischlappen vom Himmel schrubbten polternd Blut. Ein langer Plattenwagen voll gekochter und gebackener Menschen schwebte auf Gummirädern lautlos vorbei. (F, S. 381)
Am auffälligsten in der behandelten Textpassage ist jedoch eine explizite Anspielung auf Döblins ›Berge, Meere und Giganten‹; es heißt F, S. 382: »Aus Rubinglas pulste eine Feueraktinie in döblinener Waldung, schwankte huldvoll mit hundert Armtrossen (an deren jeder ein nesselnder Fussel wallte).« Drews weist diesen Kommentar als eine Allusion auf Döblins 1924 erschienenen Roman nach, in dem ein schnell wuchernder, alles Leben vernichtender Wald beschrieben wird:230 Ein furchtbares inneres Leben dehnte die brünstigen aufgeregten Pflanzenwesen. Man sah die ungeheurigen tonnigen Massen wie in Krämpfen sich langsam spiralig um sich drehen, längs klaffen und noch immer in die Breite wachsen, in die Höhe aufsteigen, bluten und noch immer wachsen, dabei rauchen; bersten, einer den anderen aufschneidend und mit ihm verschmelzend, dabei zischen und prasseln. […] Das mammutische triefende krachende Wachsen zerpreßte klemmte malmte manschte die Menschen, knackte die Brustkörbe, brach die Wirbel, schob die Schädelknochen zusammen, goß die weißen Gehirne über die Wurzeln. Die Stämme berührten sich. Wurzel Stamm Krone eine Masse, ein verschmolzener, wogender wühlender dampfender Klotz. Oben barst er, zischte. Unten trieb schluckte drang es auf, drang seitwärts bis an die Mauer.231
In keinem anderen Roman sind die sowohl expliziten als auch prosapraktischen Rückgriffe auf den literarischen Expressionismus so offenkundig, wie in ›Aus dem Leben eines Fauns‹. Selbst wenn die direkten Bezüge zu Joyce Prosa nicht in Schmidts Werk greifbar wären, ließe sich eine durch Döblin vermittelte JoyceRezeption des Nachkriegsautors nicht von der Hand weisen. Die Schlüsselfiguren aus Schmidts privatem Kanon bilden in den Nachkriegserzählungen stets den Rahmen eines intellektuellen Kosmos, in dem sich der Erzähler in einer Zeit der Entbehrungen und politischen Enttäuschungen einrichten kann.232 In ›Brand’s Haide‹ werden die Verweise auf Fouqués ›Undine‹ so zahlreich und dominant, dass diesem ›Prä-Text‹ (freilich in kleinerem Maß230 231
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Vgl. Jörg Drews: Arno Schmidt, in: Harlekijn 3 (1982) Nr. 6, S. 25–30, hier S. 27. Alfred Döblin: Berge Meere und Giganten, Olten/Freiburg i. Breisgau 1977 (Alfred Döblin, Jubiläums-Sonderausgabe zum hundertsten Geburtstag des Dichters), S. 116f. Das offene, dabei hoffnungsvolle Ende der ›Umsiedler‹ wird mit der Bestückung des Bücherregals zu einer für Schmidt charakteristischen ›Idylle‹: »das Bücherregal : achtzig Stück. (›Nach m nächsten Krieg sinds nur noch zehn.‹) Neben den Schreibtisch. ›Katri-in.‹ Arm um die Schultern : ›Unser Haus hat eine Seele bekommen‹. (= Bücher. Cicero.). Sie neigte sich und fingerte und las : Cooper, Wieland, Jean Paul : Moritzcervantestieckundsoweiter. Schopenhauerlogarithmentafeln.« (B, S. 291)
stab) eine ähnliche Funktion als Projektionsfläche und Motivquelle zukommt, wie dies mit der ›Odyssee‹ für den ›Ulysses‹ der Fall ist.233 Eine derartige Implosion intertextueller Verweise begreift den Leser als Partner in einem intellektuellen Puzzle, das umso facettenreicher und vielschichtiger wird, je aufmerksamer und kenntnisreicher der Rezipient sich auf das Spiel einlässt. Für James Joyce und Schmidt gilt daher gleichermaßen, was E. E. Kellett in seiner Monographie ›Literary Quotation and Allusion‹ skizziert: Here is a man who steals, and boasts of his thefts: he covers his walls with paintings, and openly proclaims they are taken from a National Gallery. He is not like the Spartan boy who stole and gained glory if undetected: he desires to be detected, and deliberately leaves clues to guide his pursuers to their prey.234
James Joyce und Arno Schmidt durchsetzen ihre Texte zwar mit derartigen Hinweisen, anhand derer der Leser den intertextuellen Verweissystemen auf die Spur zu kommen vermag; nicht selten – besonders, wenn es sich um punk-
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Zunächst fallen neben dem Titel (einer Anspielung auf Fouqués Heimat), den zahlreichen Erwähnungen des Namens Fouqués, seiner Werke und Figuren (vgl. B, S. 118, 119, 133, 150 u.ö.) die zwei umfangreichen Zitate aus ›Alethes von Lindenstein‹ auf, die in den Text montiert sind (vgl. B, S. 181–184 sowie B, S. 190–194); außerdem liest der Erzähler Lore und Grete aus einem Bericht über die Flucht von Fouqués Urgroßmutter vor (B, S. 133–135). Viele inhaltliche und motivische Elemente des Romans weisen Parallelen zu den Texteinschüben, den Referenzen auf Fouqué auf und lassen sich vor diesem Hintergrund interpretieren, so die Figurenkonstellation eines Mannes zwischen zwei Frauen, den Schmidt als biographischen Gehalt in Fouqués Werken erkannt zu haben glaubte; Lore wird explizit mit Undine verglichen (vgl. B, S. 131: »Setzte sich : neben mich ! […] wie Undine : neben mich ! !«); auch ihre poetische Stilisierung als naturhaftes Wesen, als Elfe oder Nymphe sowie die rätselhafte Figur des alten Mannes, die verschiedene phantastische und groteske Züge trägt (er ›verschwindet‹, hängt das Laub an die Bäume etc.) erinnern an die Märchengestalten Fouqués (den ›Oheim‹ in ›Undine‹); der Handlungsschauplatz wird bewusst von Schmidt wie die Räume der Erzählungen von Fouqué gestaltet, Wald und Heidelandschaft werden phantastisch angereichert. Die Kenntnis der Biographie und der Werke Fouqués eröffnet neben einer »realistischen« Lektüre für ›Brand’s Haide‹ eine zweite Lesart und steht dadurch als literarischer Horizont in einem Verhältnis zu Schmidts Erzählung, die mit der Funktion der ›Odyssee‹ für Joyce ›Ulysses‹ parallelisiert werden kann. (Einen detaillierteren Überblick der Fouqué-Bezüge in ›Brand’s Haide‹ bietet Peter Piontek: Zum Wald=Stück »Brand’s Haide«, in: Bargfelder Bote 71–72 (1983), S. 13–37.) In ›Das Steinerne Herz‹ entsteht aus Eggers in extenso referierten historischen Recherchen zur Geschichte Hannovers und der Prinzessin von Ahlden eine historische Folie für die Gegenwartshandlung des Jahres 1954, der eine ähnliche Funktion wie den Undinebezügen in ›Brand’s Haide‹ als einer zweiten, abstrakteren Bedeutungsebene zukommt. Vgl. hierzu Kurt Jauslin: Robinsons Archive oder Der 6. Dezember, in: Bargfelder Bote 87–88 (März 1985), S. 3–22. E[rnest]. E[dward]. Kellett: Literary Quotation and Allusion, Port Washington, N.J./ London 1969, S. 3.
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tuelle Anspielungen handelt, die abseits größerer Motivkomplexe anzusiedeln sind – muten sie ihren respektiven Leserkreisen jedoch auch unerhört viel zu: »Literature of this kind has a poeta doctus as its author and requires a litteratus doctus as its recipient.«235 Um das subtile Spiel mit der literarischen Tradition nachzuvollziehen, bedarf es nicht nur eines litteratus doctus, sondern – wie Arno Schmidts Beispiel ebenso belegt wie der ›Ulysses‹-Kommentar – eines ganzen Dechiffriersyndikats. Zwar mag eine derart exzessive Inkorporation literarischer Bezüge in beiden Fällen nicht selten wie eine Demonstration der ungeheuren Belesenheit der Verfasser anmuten; Schmidt und Joyce ist jedoch zuvorderst das Bestreben gemein, »not merely to add to [English] literature, but to enclose what is actually there.«236 Die (wenngleich oft parodistische) Einverleibung fremder, zumeist älterer sprachlicher Muster im ›Ulysses‹ und in den Erzählungen Schmidts reflektieren ein außergewöhnliches Traditionsbewusstsein, wie es von der bilderstürmerischen, vorwärts strebenden Avantgarde nicht akzeptiert wurde – zumal es mehr ist als ein rein collagistisches Verfahren: Sowohl der ›Ulysses‹ als auch die erzählende Prosa Schmidts erheben den Anspruch, eine Art Gedächtnis der Menschheit zu sein und die literarische Tradition fortzuschreiben, indem die Zitate einer Konturierung der Innovationen dienen, aufgrund derer sich beide Autoren von tradierten Ausdrucksmitteln zu lösen suchen. Das Bild einer Zeit zeichnet Schmidt mittels einer möglichst exakten Wiedergabe der gesprochenen Sprache der Menschen: »›Sie kommwoll aus Gefangenschaft ? – Vom Iwan ? ?‹ ›Nee‹, sagte ich bluffig, widrige Erinnerungen kürzend : ›Brüssel. Vom Engländer.‹ ›Und ? Wie waan die ?‹ […] ›Nee, nee : Persil bleibt Persil !‹ (d.h. Freiheit !)« (B, S. 117). Die kurze Dialogpassage aus ›Brand’s Haide‹ wird zum Kondensat eines Zeitgefühls, indem sie umgangssprachliche Wendungen, einen typischen Markennamen, die geläufigen Bezeichnungen für die Besatzungsmächte, mit der zynischen Anspielung auf den ›Persilschein‹ die Entrüstung über das ungestrafte Fortleben von Naziverbrechern, schließlich repräsentative biographische Erfahrungen sowie deren gezwungen lakonische Artikulation sprachlich transkribiert. Dialekte und Soziolekte werden in einer Art lautlicher Umschrift wiedergegeben, in der sowohl das Lokalkolorit als auch das Aufeinandertreffen von Menschen verschiedener Herkunft fasslich werden. Die spöttische Reaktion der Verkäuferin auf die Anfrage des Erzählers nach Besteck – »Nee ! Dat gifft dat noch nich wedder !« (B, S. 123) – trägt die dialektale Färbung des niedersächsischen Handlungsortes und verweist zugleich auf die Situierung des
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Heinrich F. Plett: Intertextualities, in: Intertextuality, hg. v. Heinrich F. Plett, Berlin/New York 1991 (Research in text theory = Untersuchungen zur Texttheorie 15), S. 3–29, hier S. 15. Anthony Burgess: Here Comes Everybody. An Introduction to James Joyce for the Ordinary Reader, London 1965, S. 156.
Geschehens in einer Zeit des Mangels. In den ›Umsiedlern‹ wird das Landschaftsbild des Rhein-Nahe-Tals ergänzt durch den Dialekt des Bürgermeisters, der bei der Ankunft sofort vom Erzähler registriert wird: »...Ä roin katolscher Oat; ... Alles gutt katolsche Leut...« (U, S. 277). Unter den Menschen im Zug fallen die schlesischen Flüchtlinge durch ihren Dialekt auf: »›Sie jing jar nich räin in das Ding.‹ sagte Borck zu meinen 1.85, ›dos sind Schränke aber käine Schtuben; ich zieh nich hin, und wenn ich morjen bis zum Minister nach Mäinz fahren soll.‹« (U, S. 286). Die Macht des Nationalsozialismus bestimmt auch die sprachlichen Äußerungen der Menschen in dem Roman ›Aus dem Leben eines Fauns‹, der geradezu leitmotivisch vom ›deutschen Gruß‹ durchzogen ist: »Heil!« : »Wiedersehn!« : »Wiedersehn: –« : »Heilittler!« (F, S. 302) »HeilittlerSiewünschen ?« (F, S. 321) »Also Heil !« : »Heil’ittler, Herr Düring !« (F, S. 338)
Auch hier wird die topographische Verankerung der Erzählung in der Lüneburger Heide durch die dialektale Färbung der Sprache der Einheimischen anschaulich gestützt: »Gehen Sie man heut zu S-tegmeier essen : häi wäit all!« […] »Jou : de Häa iss inn‹« […] »Näi bie uns giff dat nix. Näi dor wäit wie nix von. Sowatt heff wie nie-moolshatt.« […] »Näi; blout de Swienhunn !« (F, S. 341)
Die dialektalen Äußerungen dienen darüber hinaus auch zur Charakterisierung der leichtgläubigen und beschränkten Bevölkerung, die die Naziparolen und -gerüchte unkritisch wiederkäut: »Die Polen müssen druff kriegen !« und die Zunge in seiner Maulschüssel rührte flink eine Räubergeschichte an, von zerhackten deutschen Siedlern, deutscher Treue, und vielen vergewaltigten Frauen : »Nee ! : die müssen anständich uff de Hörner kriegen !« (F, S. 344)
Im ›Steinernen Herzen‹ wird die quasi-phonetische Wiedergabe sprachlicher Realität radikal weitergeführt: »Osie vefüan mich immer – mit Ian eksodischn Getränkn« (DSH, S. 30), beschwert sich Frieda Thumann kokett. Die Sprache der Menschen erscheint hier ebenso inhomogen, wie das Sprachgemisch Dublins, das Joyce im ›Ulysses‹ dokumentiert. In der Kneipengesellschaft der ›Cyclops‹-Episode vermischt sich der Dubliner Dialekt (»Boosed at five o’clock. Night he was near being lagged only Paddy Leonard knew the bobby, 14 A. Blind to the world up in shebeen in Bride Street after closing time, fornicating with two shawls and a bully on guard, drinking porter out of teacup.« (U 12.800–804)) mit irischen Sprachfetzen (»a chara« (U12.751), »Na bacleis« (U 12.884) etc.) und derbem Cockney Slang (»God blimey if she aint a clinker, that there bleeding tart. Blimey it makes me kind of bleeding cry, straight, it does, when I sees her cause I thinks of my old mashtub what’s waiting for me down Limehouse way« (U 12.676–678)). Gemeinsames Ziel beider Schriftsteller ist es, 163
die ›Wirklichkeit‹ auch sprachlich nach[zu]bilden; indem sie jede ihrer Figuren den angemessenen Dialekt reden lassen; und das sind die ›Realisten‹, die dem Leser nicht vorlügen, sie hätten auf ihren Kreuz= und Querzügen allerorten das reinste Hochdeutsch à la ›Duden‹ angetroffen. […] Denn wie und wovon lebt eine Sprache?237
Die Doppelfunktion einer solchen Sprachgestaltung umreißt Schmidt in den ›Berechnungen III‹, die vermutlich als einzige theoretische Schrift Schmidts erhellend direkt auf seine Prosapraxis bezogen werden können: Nie werde ich dem zeitlich oder lokal begrenzten Slang bzw. Dialekt das Wort reden (obwohl auch sie zur Physiognomik eines Jahrdreißigst unerläßlich sind, und irgendwo fixiert, d.h. durch den Druck aufbewahrt werden, müssen : ich verwende sie gern – und empfehle es jedem anderen Schriftsteller gleichermaßen – weil sie das Fossilwerden des Sprachgefühls am besten verhindern !)238
Es geht Schmidt demzufolge zugleich um eine Abbildung der lautlichen »Physiognomik« als integralem Bestandteil eines ›lebendigen‹ »Bild[es] seiner Zeit«, als auch um ein Aufbrechen eines eingeschliffenen Sprachgefühls beim Leser. Auch außersprachliche Klangrealität wird von Schmidt transkribiert, in ›Brand’s Haide‹ etwa das Radiosignal des Hamburger Zeitzeichens: »›Tüt. – Tüt : tüt : tüt‹ : 22 Uhr : Wir übermitteln Ihnen das hamburger Zeitzeichen.« (B, S. 137) Der Ruf der Wildtaube wird lautmalerisch wiedergegeben mit »›Du Struhkupp – Du, Du !‹« (B, S. 155),239 der Schrei der Krähen im ›Faun‹ mit: »Kärrll ! Kärrll !« (F, S. 380). Neben Naturlauten werden vor allem Geräusche aus der technischen Alltagswelt klanglich durch Neologismen dargestellt: »ein Auto hojahnte, von fern tahütahoten lustig Feuerwehren« (F, S. 352). In den ›Umsiedlern‹ wird die onomatopoetische Dimension der Sprache genutzt, um den monotonen Rhythmus des fahrenden Zuges abzubilden: »Houh sang die Lok in die getigerte Nacht […]. Ein Mensch schlug verzweifelt mit dem Hammer ans Rad unter uns und schrie eintönig ›ä-ie !‹« (U, S. 273) In der Verbindung mit der Personifizierung des Zuges und der kindlichen Imagination eines Menschen, der die mechanischen Laute hervorbringt, wird hier Sprache suggestiv eingesetzt und somit ihrer bloßen Zeichenhaftigkeit enthoben.240 Im ›Ulysses‹ zeigt sich diese Transkrip-
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Schmidt: Dichtung und Dialekt, S. 351f. Schmidt: Berechnungen III, S. 369. Dieses Beispiel schlägt Schmidt bezeichnenderweise auch im Rahmen seiner Kritik an der Goyert-Übersetzung für eine adäquatere Übertragung des »pigeons roocoocooed« im ›Ulysses‹ (U 10.347) vor: »[D]araus macht Goyert ›wo Tauben giiiirrrrten‹. Mit anderen Worten : er verwandelt eigenmächtig die von Joyce korrekt vorgenommene Lautmalerei auf ›uuu‹ (und man sollte doch meinen, daß Jeder, der Tauben nur einmal gehört hat, dann ihr ›Du Struhkupp, Dudu‹ wüßte !) in sein glashart klirrendes ›iiiirrrr‹.« (Schmidt: Ulysses in Deutschland, S. 378.) Neben ›Sirens‹ ist auch die ›Circe‹-Episode ein Potpourri onomatopoetischer Sprachspiele. Der Wasserfall, den Bloom zu hören glaubt, rauscht: »Poulaphouca Poulaphouca
tion von Klängen (die in der ›Sirens‹-Episode zum zentralen Stilprinzip erhoben wird) beispielsweise im »Tap.« des blinden Klavierstimmers mit seinem Stock, das sich leitmotivisch vor allem durch das 11. Kapitel zieht,241 außerdem in den zunehmend nachdrücklichen Lautäußerungen der hungrigen Katze in ›Calypso‹, die Joyce in klimaxartig aufsteigender Folge anordnet: »Mkgnao! […] Mrkgnao! […] Mrkrgnao! […] Gurrhr!« (U 4.25ff.) oder dem verräterischen Geräusch der Federn von Mollys Bett »Jigjag. Jigajiga. Jigjag« (U 15.1138). Im ›Steinernen Herzen‹ bedient sich Schmidt mit größerer Virtuosität auch der Satzzeichen, um Sprache respektive Pausierungen suggestiv zu imitieren, etwa wenn der Erzähler an Lores Tür horchend ihre Reaktion auf seinen Liebesbrief abwartet: »Stand : – ? – : ein leises tiefes Lachen.« (B, S. 179) Diakritische Zeichen betrachtet Schmidt als Teil des Handwerkszeugs, das dem Schriftsteller zur Verfügung steht, um sein realistisches Programm mit der größtmöglichen Präzision umzusetzen: Was ist eigentlich Interpunktion ? : Keile, Striche, Bogen, Punkte, zur Akzentuierung, Darstellung von Pausen verschiedener Länge, Definierung von Stimmlagen, Hebung und Senkung. (Ärmlich nebenbei noch; es wären neue, zu vereinbarende Zeichen, dem Schreibenden bitter not !). Instrumentation der Perioden also, nichts weiter, und dem Schriftsteller zur Verdeutlichung seiner Meinung frei in die Hand gegeben.242
Eine Gegenfrage »Wer?« bzw. ein fragender Blick wird stenographisch mit der Zeichenfolge »: – ? – :« transkribiert: »›Wie alt ist der eigentlich ? !‹ – ? – ›Der Vetter aus Dingsda !‹« (B, S. 149). Nicht nur Bewegungen und Blicke, sondern
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Poulaphouca Poulaphouca« (U 15.3300f.), an späterer Stelle leicht variiert »Poulaphouca Poulaphouca Phoucaphouca Phoucaphouca« (U 15.3348f.), später »Phillaphulla Poulaphouca Poulaphouca Poulaphouca« (U 15.3429f.). Diese Lautmalerei, die auf dem Namen ›Pool of the Phooka‹ basiert, einem kleineren Wasserfall der Liffey, wird von Schmidt später vielfach aufgegriffen und in seine Prosa eingefügt (vgl. Schmidt: Die Gelehrtenrepublik, S. 104, S. 120, sowie Schmidt: Kaff auch Mare Crisium, S. 306, S. 342). Vgl. U 11.933, 951, 989, 1010, 1037, 1075, 1084, 1100, 1119, 1138, 1166, 1186, 1208, 1218, 1223, 1234 allein in ›Sirens‹. Einem crescendo ähnelnd, wird das Motiv dominanter und entwickelt sich von einem einfachen »Tap.« (U 11.933) zu einer Folge in achtfacher Wiederholung (U 11.1223): »Tap. Tap. Tap. Tap. Tap. Tap. Tap. Tap.« Das klopfende Geräusch des Blindenstocks inspiriert suggestive Neologismen wie das onomatopoetische Verb in U 11.1234: »A stripling, blind, with a tapping cane came taptaptapping...« Schmidt: Berechnungen, S. 103f. Mit der Interpunktion Arno Schmidts beschäftigen sich ergebnisreich Friedhelm Rathjen (»: ? – : ›’ne Pause ! !‹ kreischte ich;«. Arno Schmidt und die Interpunktion, in: ders.: Dritte Wege, S. 65–78) sowie Barbara Malchow, die in ihrer Monographie anhand von ›Seelandschaft mit Pocahontas‹, ›Das Steinerne Herz‹ und ›Kaff‹ vorführt, dass das Zählen von Satzzeichen keine grundsätzlich müßige Tätigkeit darstellt (vgl. Barbara Malchow: »Schärfste Wortkonzentrate«. Untersuchungen zum Sprachstil Arno Schmidts, München 1980, S. 81).
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ganze Dialogpassagen können auf diese Weise ersetzt werden, wie Schmidt es im ›Steinernen Herzen‹ in der Antwort des Apothekers auf die Frage nach Thumanns Haus vorführt: »›Ä=könn’ Sie mir vielleicht sagen .... ?‹ : ›,;. – : ! – : ! !‹ – : ›Ah : Danke schön..‹« (DSH, S. 10)243 Auch Joyce greift verknappend in die Wortgestalt ein, verzichtet weitgehend auf Vokale, um ein stenographisches Verfahren umzusetzen: In »Yrfmstbyes« (U 11.1126) werden die Frage Richie Gouldings »Are you off?« (U 11.1126) und Blooms Antwort »Well, I must be. […] Yes.« (U 11.1126–9) verdichtet; zusätzlich wird dabei – ergänzt durch die Abbreviatur »Blmstup […] Bloom stood up.« (U 11.1126f.) – die Eile des Abschiedes suggestiv in die Wortgestalt transponiert. Schmidt gibt zudem nonverbale bzw. außersprachliche Handlungen unter Verwendung diakritischer Zeichen wieder: »wie gut, daß jetzt Papier und Pappe zum Anfeuern da sind. –. –. – :« (B, S. 149) oder »Klopfen : !, !, ! – : Nichts. (Nur die Gardine rechts verschob sich ganz leise; ich sah ja wohl auch aus, wie’n Reisender. Also noch mal : 1, 2, 3 : ?)« (DSH, S. 11). Die Betätigung der Handpumpe wird in den Worten umschrieben: »Und den : Hebel : uner : müdlich; um : legen),« (DSH, S. 69), wobei die Doppelpunkte als Pausenzeichen den Rhythmus der Hebelbewegung in den Text einschreiben. Die Gestalt des Sprachmaterials als visuelle Zeichen wird im ›Steinernen Herzen‹ zur typographischen Darstellung optischer Realität ausgenutzt: »noch , genau wie früher« (DSH, S. 74).244 Auch bei Joyce wird war die Stadtbahn gelbrot (wie in der Konkreten Poesie) die Zeichengestalt der Sprache im Druckbild als Träger von Bedeutung genutzt; Joyce inkorporiert in den ›Ulysses‹ die Inschriften von Plakaten, Annoncen und Flugblättern,245 die die visuelle Physiognomie der Stadt Dublin prägen; dazu zählen in besonderem Maße die Zeitungen, denen die ›Aeolus‹-Episode gewidmet ist, die bereits in der typographischen Erscheinungsform dem Druckbild von Zeitungen mit Schlagzeilen und Text folgt; auch die Spiegelschrift des Setzers wird im Druckbild wiedergegeben: »mangiD kcirtaP« (U 207.6). Schmidt erweitert im ›Steinernen Herzen‹ das »ärmliche« Inventar der Grapheme um die Akzidentale aus der Notenschrift, um Suprasegmentalia bzw. im
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Eine »Übersetzung« dieses Stenogramms (bzw. eigentlich eines nicht mit diesem identischen: : ».«– : »!«– : »!!!«!) findet sich in ›Berechnungen III‹: »: ›Geradeaus, rechts.‹ : ›Nicht doch : immer auf der Seite da !‹ : ›Zum Teufel, nein : hundert Meter, und dann rennen Sie mit der Nase drauf !!!‹« (Schmidt: Berechnungen III, S. 365). In den ›Berechnungen III‹ heißt es hierzu: »›Wenn Sie [angesprochen ist der Setzer; M.J.], wie von Ihnen beabsichtigt, ›gelb/rot‹ setzen : dann sind das zwei hintereinanderfahrende, verschiedenfarbige Wagen; bestenfalls einer, dessen hintere Hälfte gelb, die vordere rot ist.‹ Zugegeben. ›Während bei meiner Schreibweise der typographische Versuch gemacht wird, die horizontale Halbierung der allbekannten berliner Stadtbahnwagen wiederzugeben.‹« (Schmidt: Berechnungen III, S. 367.) Vgl. hierzu auch die Analyse der visuellen Elemente der ›Wandering Rocks‹-Episode in Kap. 2.2.5. der vorliegenden Arbeit.
folgenden Fall die affektiv bestimmte Tonhöhe bei einem Streit zwischen Frieda und Karl nachzuahmen: »An ihrer Tür vorbei : sie sprach; er antwortete; sie entschied : # (Erhöhung um einen halben Ton !)«246 Die musikalische Dimension der Sprache wird von Schmidt bewusst genutzt, um einen staccatoähnlichen, daher höchst emphatischen Satzrhythmus hervorzubringen: »Ich ergriff meine Oberarme mit beiden Händen und stand. Und. sah.« (B, S. 151f.) oder »›Du bist –‹ schloß den. Wilden. Wünschelmund.« (B, S. 198) Die Parallele zu Joyce Staccato in der ›Sirens‹-Episode »Will? You? I. Want. You. To.« (U 11.1096) ist offenkundig. Die musikalischen Effekte, die Joyce vermittels einer suggestiven Sprachverwendung zu erzielen vermag, beweisen, dass es keineswegs eine Anmaßung ist, wenn Joyce von sich behauptet: »I can do anything with language.«247 Die Musikalisierung der Sprache erreicht im ›Ulysses‹ ihren Höhepunkt in ›Sirens‹, einem Kapitel, das von einer Ouvertüre eingeleitet wird, in der Motivbruchstücke und Textfragmente arrangiert werden, die dem Hauptteil entnommen sind, der wiederum der Struktur einer »fuga per canonem«248 nachgebildet ist. Burgess analysiert präzise Joyce »attempts to do with language what the musician does with notes, producing, for instance, a tremolo: ›Her wavyavyeavyheavyeavyevyevyhair uncomb:’d‹ [U 11.809].«249 In diesem Beispiel bedient sich Joyce ebenfalls der Interpunktion zur Pausierung; der Doppelpunkt übernimmt im Wortinneren die Funktion einer Punktierung, des Dehnungszeichens in der Notenschrift, wie auch insgesamt im ›Ulysses‹ die Verwendung von diakritischen Zeichen wie Doppelpunkten, Punkten und Gedankenstrichen häufig zur Rhythmisierung verwendet wird.250 Im Rahmen einer Erläuterung seiner Verwendung diakritischer Zeichen umreißt Schmidt prägnant die für seine Prosa charakteristische Relation von sprachlicher Form und Inhalt sowie ihre Wirkungsintention: Auf eine Verwendungsart [diakritischer Zeichen, M.J.] sei besonders hingewiesen, die in Kurzformen von Wichtigkeit wird : man kann damit stenografieren ! z.B. es erscheint irgendwo dieser Satz : »Kää-te !« : – : Sie sah herüber : ? Im »alten Stil«
246
247 248 249 250
In den ›Berechnungen III‹ äußert sich Schmidt dazu: »Im ›Steinernen Herzen‹ kommt einmal das Zeichen # vor (einmal : ich muß ja vorsichtig sein; ich wohne ja unter Konservativen=Konserven). Das heißt in der Musik ›Erhöhung um einen halben Ton‹. (Das Ausrufungszeichen brüllt gleich etwas zu grob!).« (S. 367) Schon bei einem flüchtigen Blick auf die Textgestalt des ›Ulysses‹ fällt der Abdruck einer Mensuralnotation des ›Gloria in excelsis Deo‹ (U 9.500) und in ›Ithaca‹ (U 17.802–828) die faksimilierte Wiedergabe eines Manuskripts von der Ballade ›Sir Hugh; or, the Jew’s Daughter‹ in der Handschrift von James Joyce auf. Joyce zitiert nach Tindall: Ulysses, S. 95. James Joyce: To Harriet Shaw Weaver (6 August 1919), in: ders.: Letters I, S. 129. Burgess: Joysprick, S. 23. Vgl. hierzu auch das durch eine Suffixwiederholung erzeugte decrescendo: »endlessnessnessness.......« (U 11.750).
167
hätte dafür etwa stehen können: Er rief laut ihren Namen : »Käthe!« Schon nach ein paar Augenblicken hatte sie ihn entdeckt, sah herüber und fragte zurück: »Was giehibts?!« Für den ganzen letzten Teil dieses Gelalles schreibe man einfach » : ? «; es besagt genau dasselbe ! Bei einiger Übung im Lesen sieht man gültig das neugierig geöffnete Gesicht der Gefragten; mehr noch : man hört keine notdürftig gewortete Frageformel, sondern »die Frage« schlechthin. Das ist bei dem durchschnittlichen stereotypierten Wortschätzchen auch wichtig, um erst einmal zur Loslösung von der konfektionierten Vokabel zu kommen:251
Schmidt insistiert darauf, dass der Leser nicht die sprachliche Formel unterbreitet bekommt, sondern den Akt des Fragens per se sieht; das künstlerische Material wird selbst zum Inhalt und der darzustellende Sachverhalt nicht logisch-kausal expliziert, sondern der Gestalt des Sprachmaterials selbst anvertraut. Das sprachliche Experiment leistet eine neuartige Durchdringung von Inhalt und Form bzw. Materie. Indem die visuelle und die klangliche Gestalt der Sprache von Joyce und Schmidt suggestiv genutzt werden, wird die außersprachliche Realität nicht geschildert oder charakterisiert, sondern sie soll aus sich selbst heraus sprechen. Nicht Abstraktion, sondern Konkretion ist die Aufgabe des Schriftstellers, den Schmidt als Handwerker verstanden wissen will. Dichtung ist für beide sprachlicher Ausdruck, wobei Sprache nicht als statische Form, als passiver Träger geistiger Inhalte verstanden, sondern aus ihrer durch die Konvention gefestigte Fixierung gelöst wird – die Kategorien und Maßgaben der Syntax, der Lexemgrenzen, der Semantik und der Orthographie werden bewusst missachtet; die Freiheit des Schriftstellers von sprachlichen Normen im Umgang mit seinem Material ist die Grundvoraussetzung für »die Weiterentwicklung, die notwendige Verfeinerung, des Schriftstellerischen Handwerkszeuges […] wenn man uns solche Freiheit nicht giebt : dann nehmen wir sie uns ! Denn sie ist nötig. Nötig, um die Sprache zu dem zu machen, was sie sein soll : werden wir nicht müde, die Realität immer besser und suggestiver abzubilden !«252 Die Suggestivität der Sprachgestalt wird einem für die Ausdrucksmittel sensibilisierten und geübten Leserbewusstsein anvertraut. Gegenüber Budgen äußerte sich Joyce zur Sprache des ›Ulysses‹ dementsprechend: »I want the reader to understand always through suggestion rather than direct statement.«253 Diese Rationalisierung des Rezeptionsvorgangs ist die zentrale wirkungsästhetische Kategorie avantgardistischer Kunst, sei es der Prosa Schmidts oder Joyce, sei es des Pointillismus, der Zwölftonmusik oder des Kubismus. Schmidts und Joyce Prosa ist sowohl sprachkritisch, indem sie die Unzulänglichkeiten des Sprachsystems und seines Zeichenbestands demonstriert, als auch sprachschöpferisch, insofern als neue Ausdrucksmöglichkeiten erschlossen und verwertet
251 252 253
168
Schmidt: Berechnungen, S. 104. Schmidt: Berechnungen III, S. 371. Joyce zitiert nach Budgen: The Making of Ulysses and Other Writings, S. 21.
werden. Zugleich wird das Auge des Lesers durch unkonventionelle sprachspielerische Elemente und lexikalische Überraschungen, die einer eingeschliffenen Formensprache bewusst entgegensetzt sind, zu einem neuen Umgang mit Sprache gezwungen, d.h. ein Bewusstsein der gestalthaften Seite der Sprache und ihrer Zeichenhaftigkeit selbst geschaffen und eine unreflektierte, da automatisierte Verwendung von Sprache verhindert.
3.6
»Die Nessel Wirklichkeit fest anfassen«254 – »Welt-Alltag« in Schmidts Nachkriegserzählungen
Die Forderung, der alle sprachlichen Experimente in den Erzählungen Arno Schmidts subsumiert sind, lautet: »Verfeinerung wollen wir ! Die herrlich=exakte Abbildung auch unserer akustischen Realität.«255 Neben der Sprache als Präzisionsinstrument zur »Oberflächenbehandlung«256 ist ein Gerüst erforderlich, das auf einem überschaubaren Netz von objektiv erfahrbaren und messbaren Daten und Fakten gegründet ist (seien es die Straßen Dublins oder die topographischen Spezifika der Lüneburger Heide, der 14. Juni 1904 oder der 21.3.1946). Schmidts Verständnis von ›Realismus‹ verpflichtet den Schriftsteller auf die Bestandsaufnahme und präzise Beschreibung der »Oberflächen der Dinge«,257 »das Handwerklich=Mitteilbare«;258 in dem Funkdialog ›Nichts ist mir zu klein‹ über Brockes heißt es: die ›Realisten‹ sind, getreu dem Gesetz nach dem sie angetreten, keine großen Denker oder Psychologen: […] das Mikroklima der Seelen interessiert sie nicht. Sichtbarkeit ist Voraussetzung, um zu ihrer Gunst zu gelangen; Erfaßbarkeit in Tabellenform gar, erwirbt unfehlbar ihre Liebe. Grübeln ist letzten Endes unfruchtbar; und verfälscht das (ohnehin durch unseren mangelhaften, biologisch eben noch ausreichenden, Sinnesapparat schon genugsam fragwürdige) Detail, zum zweiten, unheilbarsten Male. Also beginnt man am besten, redlich, korrekt, und, gottlob, rüstig, schon beim Aufstehen die dichterische Arbeit: den grandiosen, nüchtern=phantastischen Versuch einer Bewältigung der Welt vermittelst Beschreibung. […] Für den Realisten liegt das Irrationale dieser Welt nicht in der tödlich-mythischen Wesensart der Dinge; sondern in ihrer großen (obwohl nicht unendlichen!: das gibt es gar nicht!) Anzahl: also wendet er sich dieser besorgt, aber entschlossen zu; zu jeder Art von Beschreibung und Bewältigung bereit.259
254 255 256 257 258 259
F, S. 317. Schmidt: Berechnungen III, S. 369. Schmidt: »›Wahrhei t‹ - ?«, seggt Pilatus und grifflacht….., S. 239. Schmidt: Sylvie & Bruno, S. 246. Schmidt: Muß das künstlerische Material kalt gehalten werden ?, S. 491. Arno Schmidt: Nichts ist mir zu klein... Barthold Heinrich Brockes, in: BA, Bd. II/1, S. 129–152, hier S. 135.
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Die verifizierbare außerliterarische Wirklichkeit wird in deren subjektive Wahrnehmung durch ein menschliches Bewusstsein überführt. Eine Darstellung der den Menschen umgebenden Welt ist für beide Autoren nicht losgelöst von dem subjektiven Zugriff der menschlichen Wahrnehmung denkbar; ihr Konzept von ›Realismus‹ ist immer das eines ›Bewusstseinsrealismus‹. Das Verfahren der Assoziation, der Innere Monolog sind Schmidts respektive Joyce Verfahrensweisen, um neben der äußeren Realität zugleich die menschliche Apperzeptionsstruktur literarisch abzubilden; diese Aufwertung von Details, Gedanken und Sinneseindrücken führt notgedrungen zu einer Reduktion und Aufsplitterung der ›äußeren‹ Handlung; dies expliziert Schmidt in dem Funkessay ›Siebzehn sind Zuviel!‹ über Cooper, wobei er sich – wie in den ›Berechnungen‹ – auf die »Wahrheit« als Darstellungsziel beruft: »Sir, hätte ich sagen müssen, es gibt zwei Arten von Schriftstellern : die einen ergreifen den Leser durch die mächtige, wohlzusammenhängende, bedeutende Handlung: Bei den anderen aber ergibt sich die ›Fabel‹ aus den Zuständen und Denkweisen! […] ich brauche gar keine Handlung. Die Wahrheit kennt doch gar keine Handlung, wie ? !«260
In den Erzählungen der Nachkriegsjahre wird Schmidts realistisches Programm greifbar, das in ›Aus dem Leben eines Fauns‹ am nachdrücklichsten dargelegt wird: »Jeder Schriftsteller sollte die Nessel Wirklichkeit fest anfassen; und uns Alles zeigen : die schwarze schmierige Wurzel; den giftgrünen Natternstengel; die prahlende Blume(nbüchse)« (F, S. 317). Schmidt formuliert die Aufgabe des »großen Dichters« – ohne auf die Quelle des Zitats zu verweisen, versteht sich – mit den Worten des Stephen Dedalus am Ende des ›Portrait of the Artist‹: »[E]r formt und bildet das Gewissen der ganzen Gattung, indem er ihre jeweiligen dringendsten Anliegen, auch die dumpf und feige gefühlten, gültig ausspricht.«261 Es ist anzunehmen, dass Schmidt sich in ähnlicher Aufbruchstimmung befand wie Stephen Dedalus, als er nach dem Krieg in radikaler Abkehr von der Formensprache seiner ›Juvenilia‹ im ›Leviathan‹ eine adäquate Form für die Darstellung der Nachkriegserfahrung gefunden hatte. Dabei belegen Schmidts Nachkriegserzählungen, dass experimentelle Stil- und Formprinzipien im Anschluss an die literarische Avantgarde der zwanziger Jahre und politisch hochaktuelle Gesellschaftskritik (die sich nicht nur auf die bundesdeutsche Wirklichkeit der restaurativen Adenauerzeit beschränkt, 260 261
170
Arno Schmidt: Siebzehn sind Zuviel ! James Fenimore Cooper, in: BA, Bd. II/1, S. 105–127, hier S. 125f. Arno Schmidt: Hat unsere Jugend noch Ideale ? [20.5.1959], in: BA, Bd. III/3, S. 475f., hier S. 476. Stephen bekennt sich zu seiner dichterischen Karriere mit dem emphatischen Ausruf: »Welcome, O life! I go to encounter for the millionth time the reality of experience and to forge in the smithy of my soul the uncreated conscience of my race.« (Joyce: A Portrait of the Artist as a Young Man, S. 275f.)
sondern auch einen Blick hinter den Eisernen Vorhang jenseits der innerdeutschen Grenze zulässt),262 sich keineswegs ausschließen, sondern einander vielmehr wirkungsvoll ergänzen. Konstitutive formale Merkmale der Erzählungen ›Leviathan‹, ›Brand’s Haide‹, ›Die Umsiedler‹, ›Aus dem Leben eines Fauns‹ und ›Das Steinerne Herz‹ sind die präzise räumliche und zeitliche Fixierung der Handlung, ihre subjektive narrative Vermittlung, die nach Unmittelbarkeit strebt, indem in ihr die Apperzeptionsmechanismen des menschlichen Bewusstseins und der Assoziation nachgebildet werden, der daraus resultierende Verlust einer kontinuierlichen Handlungsentfaltung sowie eine Sprache, die orthographische und syntaktische Normen bewusst missachtet, um visuelle und klangliche Realität suggestiv zu transkribieren. Die genannten Merkmale stellen nur in Arno Schmidts Prosapraxis ein Novum dar; sie entsprechen den Experimenten, die 1922 im ›Ulysses‹ zum ersten Mal in aller Radikalität durchgeführt worden sind: Joyce hat zum einen in der Präzision seiner Außenwelt- und Bewußtseinsdarstellung die Kollegen weit überflügelt, indem er zugunsten des Exemplarischen auf das Parabolische der Darstellung verzichtete; er hat aber gleichzeitig die Abbildfunktion literarischer Prosa von allen Zeitgenossen am konsequentesten unterhöhlt, indem er die Eigendynamik der Sprache und des Sprechens, auch der Orthographie und der Typographie, forcierte und eine Realität des Romans etablierte, für die die Romanwelt konzeptionell weder einfach Abbild von noch einfach Gegenentwurf zur Realwelt ist.263
Wenngleich Daniel Pagenstecher zufolge »kein Germanist weiß, was für einen Dichter anregend ist«,264 so vermag uns doch eine sorgfältige und kritische Analyse der im Text erkennbaren narrativen Strukturen und ihre Rückführung auf literarische Vorbilder Einsichten verschaffen, die – mögen sie nicht letzte Gewissheit verschaffen – nichtsdestoweniger Schlüsse auf Schmidts ›Anreger‹ dringend nahe legen. Die Summe der erarbeiteten Befunde stützt die Vermutung, dass Schmidt bereits vor der Niederschrift des ›Leviathan‹ Joyce ›Ulysses‹ rezipiert und die daraus gewonnen Anregungen in sein realistisches Programm der Nachkriegszeit inkorporiert hat.
262
263 264
Schmidts ›Steinernes Herz‹ ist vermutlich der erste Nachkriegsroman, der – noch fünf Jahre vor Johnsons ›Mutmassungen über Jakob‹ – die deutsche Teilung zum zentralen Thema hat. Vgl. Michael Scheffel: »Ausländer des Gefühls« – Das geteilte Deutschland im Spiegel der Literatur. Ein Rückblick auf drei Romane von Wolfgang Koeppen, Arno Schmidt und Uwe Johnson, in: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 31 (1998), S. 3–20, hier S. 10f.: »Eggers Fahrt in den Osten stellt einen Kunstgriff dar, der seinem Autor einen anschaulichen Vergleich der politischen Systeme und des alltäglichen Lebens in den beiden Teilen Deutschlands ermöglicht.« Rathjen: Leidenschaft mit Widerhaken, S. 275. Schmidt: Zettels Traum, Zettel 151.
171
4.
Uwe Johnson
4.1
Uwe Johnsons literarische Sozialisation unter zwei totalitären Regimes
Uwe Johnsons Geburtsjahr 1934 (zwanzig Jahre nach Schmidts und beinahe dreißig Jahre nach Koeppens Geburt) legt nahe, dass sich nunmehr sowohl die Rezeptionsbedingungen avantgardistischer Literatur als auch das soziohistorische Umfeld der eigenen literarischen Produktion erheblich gewandelt haben. Geboren in Anklam, verbrachte Johnson seine Jugend in Kosten (dem heutigen Koscian) und Recknitz bei Güstrow, das nach dem Zweiten Weltkrieg unter russische Besatzung fiel. Johnsons schriftstellerische Praxis beginnt (verglichen mit der von Koeppen und Schmidt) verhältnismäßig früh und fällt noch in die Zeit vor seiner Übersiedlung nach Westdeutschland im Erscheinungsjahr der ›Mutmassungen über Jakob‹ 1959. Die Thematik seiner Erzählungen ist somit nicht – wie bei Koeppen oder Schmidt – von der westdeutschen Perspektive auf die Restauration in den Nachkriegsjahren geprägt, vielmehr gründet sie stets in Johnsons Heimat und thematisiert die Erfahrung der Grenze zwischen West und Ost, zwischen den Besatzungszonen der Westmächte und der SBZ, zwischen BRD und DDR – und zugleich die darin manifesten Implikationen: die Ausdifferenzierung zweier Teilstaaten, den weltpolitischen Unterschied zwischen zwei Systemen, die Entfernung und Entfremdung von Menschen (mitsamt ihrer Sprache), die demselben Volk angehören und die gleiche Geschichte erlebt und erlitten haben. Johnson bezeugt, dass sich selbst die Hemmnisse, die die Rezeption avantgardistischer Literatur in der DDR problematisch machten, mit ein wenig Engagement überwinden ließen und stellt fest, daß sich für mich eigentlich nichts geändert hat; sondern da die Grenze zwischen den beiden Gegenden Deutschlands offen war, hatte ich Kenntnis von beiden Teilen und die Möglichkeit, diese Kenntnisse zu vervollständigen.1
1
172
Alois Rummel: Gespräch mit Uwe Johnson [Am 18.6.1964 in West-Berlin], in: »Ich überlege mir die Geschichte...« Uwe Johnson im Gespräch, hg. v. Eberhard Fahlke, Frankfurt a.M. 1988 (edition suhrkamp 1440), S. 208–211, hier S. 209f.
Hier wird bereits deutlich, dass Johnson seine Zeit in der DDR stets insofern als Gewinn betrachtet, als sie ihm eine doppelte, damit relativierende und kritische Perspektive auf beide Deutschland, »eine breitere Auswahl an Denkmöglichkeiten«2 eröffnet hat: Aber ich kenne verschiedene Seiten der deutschen Wirklichkeit, verschiedene Möglichkeiten, sie zu beurteilen oder sie zu untersuchen, und ich halte es für einen Vorteil, wenn man die andere Seite mit ihren eigenen Augen sehen kann.3
Johnson hebt nicht allein die Hemmnisse schriftstellerischen Schaffens unter den doktrinären Kunstkonzeptionen des Marxismus-Leninismus der jungen DDR hervor, sondern wird nicht müde, zugleich auch die Kontinuität der Moderne zu betonen: Nur insofern hat es einen Bruch in der Tradition gegeben, als die Bildung der sowjetischen Besatzungszone eine Änderung aller Lebensbedingungen mit sich gebracht hat. Und vielleicht muß man eine neue Situation mit neuen stilistischen Mitteln beschreiben. Ansonsten bleibt die Tradition der deutschen Literatur ungebrochen.4
Johnson begreift sich als einen der letzten Angehörigen einer Generation, die noch unmittelbar von Krieg, Holocaust und Nazideutschland zeugen kann und damit die deutsche Schuld zu tragen habe: »Ich gehöre wahrscheinlich zu der letzten Generation, die noch durch die Verbrechen der Nazis kompromittiert ist. Danach wird wohl keine mehr kommen, die das als Last ansieht. – Das gehört zum Bewußtsein, zum Selbstverständnis des Individuums dazu.«5 Im Gegensatz zu Koeppen und Schmidt, die das Naziregime bereits als Erwachsene miterlebten und reflektierten, geriet Uwe Johnson als Heranwachsender auf Veranlassung seiner Eltern in die Mechanismen und Rituale nationalsozialistischer Erziehung. Nachdem er vom April 1940 bis zum Juni 1944 die Comenius-Schule in Anklam besucht hatte, wurde der stille, sensible und erfolgreiche Schüler auf der deutschen Heimschule in Kosten angemeldet, die er von Juli 1944 bis zum Einmarsch der Roten Armee im Februar 1945 besuchte. Der Zehnjährige gehörte vermutlich auch dem »Deutschen Jungvolk« an; Johnson erinnert sich zwar, er »habe das nationalsozialistische Gedankengut schnell und schmerzlos ablegen können. [Er] hatte ja nicht viel zu ersetzen. Nicht der Führer stand im Mittelpunkt [s]eines Lebens, sondern [s]eine Eltern. [Er] war noch
2 3 4 5
Reinhard Baumgart: Uwe Johnson im Gespräch [2.8.1967 in München], in: »Ich überlege mir die Geschichte...«, S. 219–230, hier S. 221. Ebd., S. 221. Roloff: Gespräch mit Uwe Johnson, S. 180. Harald Gröhler: »Ich fabriziere keinen Text, ich schreibe ihn.« [Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Uwe Johnson (Am 19.11.1970 in Köln)], in: »Ich überlege mir die Geschichte...«, S. 250–252, hier S. 251.
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zu jung, um nachhaltig beeinflußt zu sein;«6 dennoch erscheint die kurze Zeitspanne in biographischen Dokumenten von und über Johnson als traumatisierendes Erlebnis, mit dem seine unmittelbaren Erfahrungen mit den beiden deutschen Totalitarismen seinen Ausgang nahmen. Weder die von militärischem Drill geprägte Ausbildung des »Jungmannen« noch die Anfeindungen durch die polnische Bevölkerung konnten jedoch seine Begeisterung für Literatur hemmen, die Uwe Johnson schon in früher Kindheit zum Lesewütigen gemacht hatte: Von den polnischen Kindern beschmissen mit Steinen oder gefrorener Hundescheiße (denn es ist Januar), geht der Jungmann durch die zivilistischen Straßen auf die Leihbücherei, das Buch zurückzugeben, das er errungen hat unter heftiger Anschnauzerei von seiten der staatlich angestellten Frau, ehemals von Beruf Dame. Ein Buch über die Rückzugsgefechte der nordamerikanischen Indianer, bedeckt mit einem löchrigen Mantel von Wissenschaft; das Papier ist solider. Daneben die getürkte Autobiographie Hermann Görings. So viel weiß man schon, aber mit zehn Jahren nehmen sie einen nicht für Bibliographie. Wer liest, ist ungesund am Körper. Privates Lesen ist Verweichlichung.7
»1945 wurde eine Diktatur durch eine andere abgelöst,«8 nach der Deportation des Vaters durch die Rote Armee und der Flucht nach Recknitz besuchte Johnson in Güstrow bis zum Abitur im Jahre 1952 die John Brinckmann-Oberschule, wurde 1949 Mitglied der FDJ. »Nun kam er unter ein neues Regime, das mit dem alten den Anspruch auf Allmacht gemeinsam hatte – die Vorzeichen, Fahnen und Bilder waren verschieden, der Anspruch und seine Konsequenzen die gleichen; das hatte dieser kluge, scharf beobachtende Junge schnell heraus.«9 Gleich unter welchem totalitären Regime, Johnson war als Heranwachsender stets bereit, zur Befriedigung seiner literarischen Neugierde Hindernisse zu überwinden. Auf eine Anfrage der Stadtbibliothek Hannover nach seinen ersten Begegnungen mit von den Nazis verb(r)annter Literatur antwortet Johnson 1982: Mit der Lektüre von Büchern, die in der Zeit vom Mai 1933 bis 1945 in Deutschland verboten wurden, habe ich 1948 angefangen, nach dem Lehrplan für die Oberschulen in Mecklenburg-Vorpommern, damals sowjetisch besetzte Zone. Aus dem dazugehörigen Lesebuch für den Deutschunterricht erinnere ich ein Gedicht von Albert Ehrenstein. Zum fakultativen Lehrstoff gehörte Unter fremden Himmeln, ein Abriss der deutschen Exilliteratur von F.C. Weiskopf, 1948 in Ostberlin erschienen; geduldet wurde eine
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Wilhelm J. Schwarz: Gespräche mit Uwe Johnson [Am 10.7.1969 in West-Berlin], in: »Ich überlege mir die Geschichte...«, S. 234–247, hier S. 238. Uwe Johnson: [o.T.], in: Erste Lese-Erlebnisse, hg. v. Siegfried Unseld, Frankfurt a.M. 1975 (suhrkamp taschenbuch 250), S. 107–110, hier S. 108. Schwarz: Gespräche mit Uwe Johnson, S. 238. Helen Wolff: Brief aus Hanover/New Hampshire, in: »Wo ich her bin…«, S. 157–159, hier S. 157.
Zeitlang die Anthologie Verboten und verbrannt, herausgegeben von Richard Drews und Alfred Kantorowicz, 1947 verlegt in München und Westberlin.10
Neben den curricular verordneten kontrollierten Dosen avantgardistischer Literatur – die in den Folgejahren drastisch reduziert werden sollten – hatte Johnson nach dem Krieg ungehinderten Zugang zur Literatur der Moderne, da in Güstrow am Goetheplatz seit 1949 mit Erika Silberstorffs Güstrower Volksbücherei eine gut sortierte Bibliothek existierte, von der auch der Oberschüler Gebrauch machte.11 Lässt man sich zu der Annahme verleiten, dass die Rezeptionsbedingungen avantgardistischer Literatur in der jungen DDR gegenüber dem Westen erheblich erschwert gewesen seien, so wird man von Johnson eines Besseren belehrt: Man kann sich im übrigen von der gesamten westlichen Literatur in Ostdeutschland ein Bild machen, vorausgesetzt ist nur Interesse dafür. Es wird einem nicht ins Haus getragen und angepriesen, man muß sich selbst darum kümmern. Es gibt Büchereien, in denen diese Werke enthalten sind, es gibt Alte, die sie in ihren Privatbibliotheken haben; die Deutsche Bücherei in Leipzig hat von jedem Buch in deutscher Sprache ein Exemplar, heißt es, es hat in den meisten Fällen gestimmt. Und bevor Berlin endgültig geteilt wurde, war es für jeden literarisch Interessierten nicht gerade eine finanzielle, aber eine technische Kleinigkeit, sich Paperbacks zu kaufen oder Taschenbücher.12
Insofern ist anzunehmen, dass Johnson auf den beschriebenen Wegen bereits unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Nazidiktatur expressionistischer und allgemein avantgardistischer Literatur der klassischen Moderne habhaft wurde, zu der gewiss auch Übersetzungen fremdsprachiger Texte zählten. Wenngleich nicht belegt ist, ob ihm darunter auch der ›Ulysses‹ in Goyerts Übersetzung zugänglich war, so bleibt doch zunächst festzuhalten, dass der Zwölf- bis Neunzehnjährige, mithin in der wohl entscheidenden Phase literarischer Sozialisation, weitgehend ungehindert auf Texte zugreifen konnte, die durch die nationalsozialistische wie auch später die sozialistische Kulturdiktatur als entartet, zersetzend oder westlich-dekadent weggesperrt wurden. Zwar wehrt sich Johnson stets gegen die voreilige Unterstellung literarischer Einflüsse oder Vorbilder (vgl. Kap. 4.2), er betont hingegen seine jugendliche Faszination für die Impulse der avantgardistischen Literatur, die er nach 1948 kennen lernte: Eine Auswirkung solcher Lektüre auf die literarische Produktion eines Vierzehnjährigen, der ja einstweilen für Zeugnisse arbeitet, werden Sie wohl selbst ausschliessen, es sei denn, Sie sähen da eine Beihilfe zu seiner vorläufigen Ausbildung, als Ergebnis
10 11 12
Zitiert nach Bernd Neumann: Uwe Johnson, mit zwölf Portr. von Diether Ritzert, Studienausg., Hamburg 1996, S. 75. Vgl. ebd., S. 84. Horst Bienek: Werkstattgespräch mit Uwe Johnson [Am 3.–5.1.1962 in West-Berlin], in: »Ich überlege mir die Geschichte...«, S. 194–207, hier S. 203.
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womöglich das Staunen über die Vielfalt der literarischen Anlässe und Formen, die der Verwaltung des deutschen Faschismus als missliebig und gefährlich erschienen, damit der kindliche Wunsch, es möchten den Lesern solche Einschränkungen hinkünftig erspart bleiben.13
Anders als bei Koeppen und Schmidt, die – auf ihre Weise und ihrer Charakterdisposition entsprechend – in Literatur und Leben eher einzelgängerisch ihre Ziele verfolgten und im Verlauf eines intensiv, aber kaum systematisch betriebenen Selbst-Studiums auf bestimmte literarische Tendenzen und Prägungen stießen, waren es bei Johnson sein Germanistikstudium und damit einhergehende menschliche Begegnungen, die seiner dichterischen Entwicklung wichtige Impulse gaben. 1952 wurde Johnson in Rostock immatrikuliert und bezog ein Zimmer im Keller des Hauses von Alice Hensan: Nach der Erinnerung von Manfred Bierwisch [Uwe Johnsons späterem Freund aus Leipzig, M.J.] – und alle Briefzeugnisse unterstützen diese Aussage – bedeutete Alice Hensan dem jungen Schriftsteller schon bald entschieden mehr als die eigene Mutter. Sie zeichnete sich aus durch beherrschte Herzlichkeit, darin ein »norddeutscher Mensch«. Zudem einer mit einer großen Bibliothek, die von Goethe und Schiller über Fontane bis hin zur englischen Ausgabe von William Faulkners Light in August reichte. Die »englische Dimension«, in ihrer Bedeutsamkeit für sein literarisches Werk gar nicht zu überschätzen – Johnson begegnete ihr zuallererst in dem Haus an der Friedrich-Engels-Straße. […] Diese »Granny« stellte eine äußerst vitale alte Dame mit recht bestimmtem Auftreten dar, die Besucher zur – englischen – Konversation geradezu abzuordnen vermochte. Da kam ihr der neue Untermieter gerade recht. So wie umgekehrt ihr authentisches Englisch dem Studenten zupaß gekommen sein muß, der von Anfang an in Rostock englische Literatur- und Konversationskurse belegte.14
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Johnson bereits in Alice Hensans umfangreicher Bibliothek auf den ›Ulysses‹ stieß; es ist hingegen sicher, dass hier sein bemerkenswertes Interesse für die englische Literatur und Sprache maßgeblich ausgebildet wurde.15 In seinem Zimmer bei der Familie Hensan gelangte auch Johnsons erstes größeres schriftstellerisches Projekt zu einem vorläufigen Abschluss. Die erste Fassung der ›Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953‹ will Uwe Johnson im Winter 1953 angeblich »einer alten Frau […] in die Maschine diktiert« haben.16 Die Erfahrungen aus seiner Schulzeit wurden ergänzt durch 13 14 15
16
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Uwe Johnson: »Nach dem Lehrplan für die Oberschulen in Mecklenburg«, in: »Ich überlege mir die Geschichte...«, S. 166. Neumann: Uwe Johnson, S. 129. Im Gespräch mit Wilhelm J. Schwarz bemerkt Johnson: »Ich spreche gerne Englisch, ich lese gern Englisch. Es gibt gewisse Sachverhalte und Situationen, die ich nur auf Englisch benennen kann. Das ist mehr als bloße Vorliebe, das ist eine Denkungsart – ich bin so etwas wie ein Überläufer. Ich wünschte, ich hätte schon mit acht Jahren Englisch gelernt.« (Schwarz: Gespräche mit Uwe Johnson, S. 242.) Uwe Johnson: Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1996, S. 73f. Im Folgenden zitiert mit der Sigle BU.
seine Erlebnisse in Rostock auf dem Höhepunkt des Kirchenkampfes in der DDR, die bekanntlich ebenfalls an zentraler Stelle Eingang in die ›Babendererde‹ fanden: Als Johnson sich als Angehöriger der »Freien Deutschen Jugend« weigert, Mitglieder der evangelischen »Jungen Gemeinde« zu diffamieren, und statt dessen in seiner öffentlichen Rede vor der »Großversammlung der FDJGruppe Philosophische Fakultät« der DDR-Regierung aufgrund ihrer ideologischen Offensive gegen die angeblich von den USA beauftragte »Tarnorganisation für Kriegshetze, Sabotage und Spionage« einen Verfassungsbruch nachweist, wird er im Mai 1953 vorübergehend exmatrikuliert. Nach dem Tod Stalins entspannte sich die politische Situation in der DDR, wovon Johnson profitierte, der nach dem Kommuniqué des Politbüros der SED am 9. Juni 1953 sein Studium fortsetzen konnte und im darauf folgenden Jahr, wie zuvor beschlossen, zu Beginn seines dritten Studienjahres nach Leipzig wechselte. Erst hier in Leipzig, der »wahre[n] Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik«,17 sollte der Student Johnson ein Umfeld finden, das für seine spätere schriftstellerische Laufbahn richtungsweisend werden sollte. Hier war – zumal in der Tauwetterperiode nach dem zwanzigsten Parteitag des ZK der KPdSU – nicht nur das politische Klima weltoffener und entspannter als in der provinzielleren Hansestadt; zudem traf Johnson an der Universität auf liberale Lehrerfiguren: Statt über Deutsche Nationalliteratur konnte er nun Vorlesungen über »Weltliteratur« als die Geschichte der Nationalliteraturen hören. In ihren noch nicht kompromittierten Anfängen Ende der vierziger Jahre hatte sich die »Demokratische Republik« eine Reihe undogmatischer Köpfe ins Land geholt – Autoren wie Bertolt Brecht und Arnold Zweig, Musiker wie Hans Eisler und Paul Dessau, Wissenschaftler wie Ernst Bloch, Hans Mayer und Karl [Werner, n. b.] Krauss. Die drei Letztgenannten lehrten an der Universität Leipzig.18
In Leipzig besucht Johnson als Gasthörer vermutlich auch anglistische Lehrveranstaltungen, hatte er doch seinen Antrag auf Hochschulwechsel (vom 28.5.1954) mit folgenden Worten begründet: »Es ist mein Wunsch, mein rein germanistisches Studium durch Vorlesungen über die klassische deutsche Philosophie, Philosophiegeschichte, Psychologie zu ergänzen; auch möchte ich meinen anglistischen Interessen etwas mehr Rechnung tragen können.«19 Eine Durchsicht der Vorlesungsverzeichnisse bestätigt jedoch nicht Neumanns Behauptung, dass Johnson »am englischen Seminar eine Veranstaltung zu Joyce’ ›Ulysses‹ besuchte, bevor 17 18 19
Uwe Johnson: Ich über mich. Vorstellung bei der Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, in: Die Zeit (4.11.1977). Neumann: Uwe Johnson, S. 191. So formuliert Johnson es im Antrag auf Hochschulwechsel von Rostock nach Leipzig [Eingangsstempel: ›Rostock, 5. Juli 1954‹], den die Verf. im Uwe Johnson-Archiv einsehen konnte.
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man ihm dann das Zweitstudium als ›bürgerliches Überbleibsel‹ verbot.«20 Eine Veranstaltung allein zu Joyce wäre vermutlich – selbst in der Tauwetterperiode – von der Universitätsleitung kaum geduldet worden; es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass der ›Ulysses‹ im Rahmen einer Überblicksveranstaltung behandelt wurde, freilich ohne dass sich ein verräterischer Hinweis darauf im Veranstaltungstitel findet. Zwar unterlag auch das Universitätsleben in der DDR der zentralen Steuerung, die Universitäten machten jedoch lange Zeit in gewissem Rahmen von ihrer verfassungsgemäßen Unabhängigkeit Gebrauch, allen voran die Universität in der traditionsreichen Buch- und Messestadt, die seit jeher ein außergewöhnlich lebendiges literarisches Leben verzeichnen konnte und deren Deutsche Bücherei Johnson häufig frequentierte. Hans Mayer erinnert sich: In den Fünfziger Jahren wurde alles gelesen, was sich in unserer Institutsbibliothek an Neuem einfand. Besonders wenn der Ludergeruch bürgerlicher Dekadenz zu spüren war. Da ich mich auskannte bei den Leitern der großen westdeutschen Verlage, bekamen wir schöne Bücherpakete als Geschenk. Die Institutsbibliothek und die Deutsche Bücherei: da haben sich Uwe Johnson und seine Freunde planmäßig versorgt. Sie waren stets auf dem Laufenden.21
Der »Ludergeruch bürgerlicher Dekadenz« haftete natürlich vor allem avantgardistischer Kunst und Literatur an, die in der jungen DDR verfemt war, Uwe Johnson nun aber vermittels Hans Mayers Autorität und einer von ihm unterzeichneten Ausleiherlaubnis22 zugänglich wurde: Hans Mayer sprach sich damals zu seinem persönlichen Nachteil für einen Fluß zwischen den Nationalliteraturen aus. Faulkner und Proust waren zu der Zeit Geheimtips, Kafka war für den Giftschrank, nur für Eingeweihte. Heute ist das alles anders, besser, doch dauert es wohl noch zwanzig Jahre, bis man The Sound and the Fury im ersten besten Buchgeschäft kaufen kann.23
Johnsons Aussage spricht dafür, dass er als Student von Hans Mayer zwangsläufig nicht nur mit Faulkner, sondern auch mit den zentralen Exponenten der literarischen Avantgarde der zwanziger Jahre in Berührung kam. Der Einfluss
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Bernd Neumann: Leipzig, oder: die Schule der Modernität. Uwe Johnson und William Faulkner, in: »Wo ich her bin…«, S. 177–216, hier S. 196. Hans Mayer: Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen II, Frankfurt a.M. 1984, S. 113. Uwe Johnson: Einer meiner Lehrer [1967], in: ders.: Porträts und Erinnerungen, hg. v. Eberhard Fahlke, Frankfurt a.M. 1988 (edition suhrkamp 1499, NF 499), S. 13–22, hier S. 15: »Dann wäre da noch die Sache mit dem Zettel. Die Deutsche Bücherei leiht gewisse Werke der Belletristik nicht ohne Bescheinigung aus. Der Zettel könnte die Sondererlaubnis auf bestimmte Titel beschränken. Das Papier, unterschrieben von Hans Mayer, ist allgemein formuliert. Man kann damit bestellen, was man will.« Schwarz: Gespräche mit Uwe Johnson, S. 244f.
des Mannes, den Johnson hochachtungsvoll in einem Essay als seinen »Lehrer«24 bezeichnet, auf die Entwicklung des jungen Schriftstellers ist kaum zu unterschätzen. Wenngleich Mayer bereits 1946 aus Frankfurt am Main nach Leipzig gewechselt war, um dort einen Lehrstuhl für die Geschichte der Nationalliteraturen anzunehmen, und sich damit ostentativ für den sozialistischen Osten Deutschlands entschieden hatte, bedeutete das keineswegs, dass er auch die sozialistisch-stalinistische Kunstauffassung befürwortete, im Gegenteil: Die bürgerliche Kunst des neunzehnten und des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, die er in weiter Perspektive über die deutsche Nationalliteratur hinausblickend vermittelte, war für ihn das Maß aller Dinge. Neumann betont, dass Mayer stets an der »bürgerlichen« Kunst festgehalten hat, als der Kunst, die ihm am weitesten entwickelt und am facettenreichsten differenziert erschien. Nicht zuletzt seine Herkunft aus der kulturellen Welt des 19. Jahrhunderts machte ihn immun gegen die These, die die Verfeinerung ihrer Kultur mit ihrer »Dekadenz« gleichsetzte. [Dabei] stand er mit seiner beharrlichen Forderung nach literarischer Opulenz und einer Zulassung der »spätbürgerlich dekadenten« Literatur der Joyce, Döblin und Faulkner unbeugsam quer zur offiziell gewünschten Ästhetik.25
Im Dezember 1956 publizierte die Wochenzeitung ›Der Sonntag‹ seine ursprünglich als Rundfunkvortrag konzipierte Bestandaufnahme »Zur Gegenwartslage unserer [d.h. natürlich der DDR-] Literatur« mitsamt dem dringenden Appell, Kafka und Joyce nicht länger zu ignorieren oder gar zu verdammen,26 was ihr – wie Mayer in seinen Erinnerungen rückblickend bemerkt – »schlecht bekommen war«.27 Bei Mayer schreibt Johnson 1956/57 seine Examensarbeit über Barlachs ›Gestohlenen Mond‹; schon im Juni 1956 hatte Johnson ihm bei der Examensklausur anstatt eines Aufsatzes zum vorgegebenen Thema »Der IV. Deutsche Schriftstellerkongress im Januar 1956 in Berlin« einige frei aus dem Gedächtnis niedergeschriebene Auszüge aus der ›Babendererde‹ abgeliefert. Mayer setzte sich – obwohl offenkundig über diese ›unvernünftige‹ rebellische Demonstration des Studenten verärgert – für eine Wiederholung der Klausur ein, nachdem die Prüfungskommission deren Anerkennung verweigert hatte.
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Johnson: Einer meiner Lehrer, S. 13 u.ö. Neumann: Uwe Johnson, S. 198–201. Hans Mayer: Zur Gegenwartslage unserer Literatur, in: ders.: Zur deutschen Literatur der Zeit. Zusammenhänge, Schriftsteller, Bücher, Reinbek b. Hamburg 1967, S. 365– 373. Mayer: Ein Deutscher auf Widerruf II, S. 273. Mayers Bemerkung muss als ›Understatement‹ aufgefasst werden: Die verantwortlichen Redakteure der Zeitschrift, Gustav Just und Heinrich Zöger, wurden kurze Zeit nach der Publikation des Beitrags verhaftet und einige Monate später zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt.
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Johnsons Biographen Neumann ist in seiner Einschätzung dieser Situation nachdrücklich zuzustimmen, wenn er feststellt: »In Leipzig, nirgends anders, konstituierte sich der ›Modernist‹ Johnson. Hier traf ›Ossian‹, wie er im neu erworbenen Freundeskreis in der Pleißestadt schon sehr bald heißen würde, auf eine Gruppe kongenial Gleichgesinnter.«28 Es ist wohl nicht unangemessen, den Freundeskreis als einen Verband zum Studium der Moderne in der Kunst zu begreifen. […] Die sich im Freundeskreis versammelten, gehörten einer Generation an, die nach der kulturell-ideologischen »Stunde Null« zurückstrebten zu jener Moderne der zwanziger Jahre, die durch die beiden totalitären Systeme auf deutschem Boden unterdrückt worden war, von Hitler ebenso wie später von Stalins Statthaltern.29
Der Leipziger Freundeskreis – das waren die Linguisten Klaus Baumgärtner (später Professor der Linguistik in Stuttgart) und Johnsons für lange Zeit bester Freund Manfred Bierwisch (einer der bedeutendsten DDR-Linguisten), der Kunstwissenschaftler Joachim Menzhausen (späterer Leiter der Dresdner Kunsthalle) und der Musikwissenschaftler Eberhard Klemm (zuletzt im Eisler-Archiv in Ostberlin tätig). Die Linguisten Baumgärtner und Bierwisch, die Johnson 1954 kennen lernte, stellten ihn auch dem Rest des interdisziplinären Kreises vor. Dabei handelte es sich gewissermaßen um ein eingeschworenes avantgardistisches Soziotop, das sich durch seine Vorliebe für den »Ludergeruch der spätbürgerlichen Dekadenz« konspirativ einte. Nicht zuletzt die Formalismus-Debatte, die in den fünfziger Jahren einen Höhepunkt erreichte, hatte das Interesse an der von Brecht gegenüber Lukács verteidigten »spätbürgerlichen Dekadenz« angestachelt. In langen Diskussionen ereiferte man sich für den Kubismus, für Jazz, Schönberg, Weill, Strawinsky, Berg, Bartók, Breton, Sartre, Benjamin, Adorno, Bloch, Döblin, Broch, Kafka, Hemingway und Faulkner, rezipierte, inszenierte und produzierte gemeinsam Literatur: Zu den gemeinsamen Unternehmungen dieser Zeit gehörte eine bemerkenswerte Veranstaltung, die Ossian für die am Ort verbliebenen Freunde ausrichtete, die er uns gewissermaßen verordnete. Wir waren gehalten – und folgten dem, mit Faszination –, uns eine lückenlose Lesung von Faulkners The Sound and the Fury anzuhören. Ossian las an je einem Nachmittag – es war, wenn ich nicht irre, immer Sonnabends – eins der vier Kapitel dieses auch im Werk Faulkners besonders exemplarischen Romans. Dies war ein Exerzitium für alle, denn wie dringlich auch immer unser Interesse an der modernen Literatur war, ganze Romane gemeinsam zu lesen, gehörte zu unserer Übung nicht. Der Grund dieser Lesung war auch nicht vorab die Diskussion über den Text, die sich natürlich anschloß, und die rigorose Architektur, die Konsequenz
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Neumann: Uwe Johnson, S. 197. Vgl. zum Leipziger Freundeskreis insgesamt die erhellenden Ausführungen ebd., S. 287–310. Ebd., S. 293–296.
der auf die Kapitel und die Personen verteilten Technik des inneren Monologs und die Details ihrer Umsetzung betraf.30
Trotz dieser rückblickenden Bewertung Bierwischs ging es Johnson gewiss bei diesem »Exerzitium« nicht allein um die Lesung des Romans als eines zweckfreien Zelebrierens Faulkners; er rezipierte diesen wie auch Joyce vor dem Hintergrund seiner eigenen poetologischen Betrachtungen und produktionsästhetischen Bedürfnisse und erhoffte sich von der Diskussion des Textes im Freundeskreis entscheidende Anregungen für seine Arbeit an den ›Mutmassungen‹. Leipzig wurde so für Uwe Johnson zur Schule der Moderne in der Kunst. […] William Faulkner, wenngleich nach offizieller Lesart der »spätkapitalistischen Dekadenz« zuzurechnen, befand sich noch knapp außerhalb des Fadenkreuzes der machthabenden Literaturpolizisten. James Joyce dagegen galt als ein wesentlich abgründigerer Geistesverderber.31
Allein schon diese Tatsache hat den ›Ulysses‹ für die konspirativen Avantgardeadepten zweifelsohne attraktiv gemacht. Der unter dem Kürzel James/Jake (JJ) im Johnson-Archiv dokumentierte Briefwechsel zwischen Bierwisch und Johnson belegt,32 wie inspirierend die virtuosen Variationen der Erzählperspektive, die Stilvielfalt des ›Ulysses‹ speziell auf Johnson gewirkt haben, der zu dieser Zeit die ›Ingrid Babendererde‹ auf der Suche nach einer adäquaten Erzählposition vielfach überarbeitet hatte und sich bereits in einer Phase erzähltechnischer Vorüberlegungen zu den ›Mutmassungen‹ befand, um dem (offenbar) zunächst konventionell begonnenen Text ein avantgardistisches Gepräge zu geben. Aus dem Briefwechsel geht zweifelsfrei hervor, dass Johnson den Fortgang seiner literarischen Arbeiten wie auch diese Probleme im Freundeskreis diskutiert hat, und es ist anzunehmen, dass er daraus diverse Anregungen bezogen haben muss. Eindeutige Hinweise darauf finden sich in der Korrespondenz zwischen Johnson und Bierwisch insbesondere der Jahre 1955–57, in der von Beginn an auch Leseerlebnisse thematisiert und diskutiert werden. Neben Sartre, Adorno, Brecht
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Vgl. Manfred Bierwisch: Erinnerungen Uwe Johnson betreffend, in: »Wo ich her bin…«, S. 80–91, hier S. 83f. Einem Brief an Sara Jane King Lennox vom 28. Januar 1970 zufolge hat Johnson zwischen 1955 und 1957 sieben der wichtigsten Romane Faulkners gelesen und bestätigt auch, dass er die Technik des Kursivdrucks von Faulkner übernommen habe, vgl. Neumann: Uwe Johnson, S. 197. Ebd., S. 297. Der bisher unveröffentlichte Briefwechsel wird im Folgenden zitiert mit dem Verweis auf das Uwe Johnson-Archiv, der Archivsignatur, den Initialen der Korrespondenten sowie dem Datum.
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und Benn33 sind es Mailer,34 Faulkner35, Däubler,36 Broch37 und Greene,38 die die Korrespondenten beschäftigen. Aus Johnsons eigenen Aussagen geht nicht hervor, ob seine erste Begegnung mit dem ›Ulysses‹ im Leipziger Freundeskreis oder bereits in den Jahren zuvor stattfand, den Briefen Bierwischs ist jedoch zu entnehmen, dass er die Kenntnis des Romans bei Johnson voraussetzen konnte. Bierwisch las den ›Ulysses‹ erstmals während seines Sanatoriumsaufenthalts im Sommer 1957 und teilte seine Einschätzung dem Freund Uwe Johnson in einem Brief vom 23.6.1957 mit: »Nach dem ersten Drittel des Ulysses erscheint er mir wie ein unerhörtes Experiment, dessen Folgen ja unabsehbar geworden sind, das aber eben vor allem von der Kraft des Experimentierens, weniger des Erreichens lebt.«39 Er hält lange Partien des Romans »für eines der fruchtbaren, großartigen Mißverständnisse«,40 denn die »lückenlos aufgezeichneten inneren Monologe, die auch jede abseitige, unwichtige Assoziation protokollieren«,41 gründen Bierwisch zufolge auf der falschen Voraussetzung, dass der Strom der Gedanken und Assoziationen tatsächlich »nicht in Sätzen oder Satzbrocken vor sich«42 gehe, sondern eine nicht linear bzw. konsekutiv darstellbare Struktur besäße, die zwangsläufig in Konflikt mit dem linearen Gefüge von Sprache gerate: Was man inneren Monolog nennt, ist doch schon ein mit vielen Hilfen der Vermittlung geformtes Kunstprodukt, keineswegs das freie Assoziieren selbst […]. Die Unmittelbarkeit des Gedachten, Assoziierten ist so wenig niederzuschreiben wie der Wald oder der Himmel. […] Und Joyce’s Diktion ist denn auch von der Art, daß man sie zuweilen mühevoll als Chiffren eben des eigentlich noch Sprach-losen oder noch nicht in die artikulierte Sprache eingegangenen lesen und eigentlich rückübersetzen muß.43
Nichtsdestoweniger würdigt Bierwisch den »einmalige[n] Eindruck«, den das Buch hinterlasse:
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Vgl. Uwe Johnson-Archiv: JJ 8 (MB), 5.8.55, S. 1. Vgl. Uwe Johnson-Archiv: JJ 2 (MB and UJ), 12.6.55, S. 1 u. JJ 3 (MB an UJ), 23./24.6.55, S. 3. Uwe Johnson-Archiv: JJ 42 (MB an UJ), 13.7.1957; JJ 63 (UJ an KB), 10.12.1957, S. 2, JJ 76 (MB an UJ), 2.3.58, S. 2 u.ö. Vgl. Uwe Johnson-Archiv: JJ 36 (UJ and MB), 11.6.57, S. 1, JJ 38 (MB an UJ), 23.6.57, S. 2 und JJ 39 (UJ an MB), Leipzig 7.7.57, S. 1. Vgl. Uwe Johnson-Archiv: JJ 54 (MB an UJ), 8.10.57, S. 2 (zu Brochs ›Schlafwandlern‹). Vgl. Uwe Johnson-Archiv: JJ 59 (MB an UJ), 11.11.57, S. 2. Uwe Johnson-Archiv: JJ 38 (MB an UJ), 23.6.1957, S. 2. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
Erstaunliches wird erkennbar bei dem Versuch solcher Lückenlosigkeit und Konsequenz. So etwa die Einsicht, wie ganz anders, wie viel schwieriger sich eine Figur zeichnet, wenn man sie ohne Zugeständnis aus der immanenten Sicht aufbaut, nicht fortwährend den Blick anderer zu Hilfe nimmt, bei dem man im Grunde nicht einmal weiß, aus welchen Perspektiven sich so eine plastische Figur eigentlich zusammensetzt.44
Offenbar fühlt sich Johnson in seiner Antwort herausgefordert, eine Verpflichtung gegenüber der avantgardistischen Erzähltradition einzugestehen, die an vorausgegangene Fortschritte anschließen muss, sie nicht ignorieren und nicht hinter sie zurückfallen darf.45 Die Polyphonie des ›Ulysses‹ (denn von diesem Roman ist im folgenden Brief die Rede), die Stilvielfalt der einzelnen Episoden sei zum Maßstäbe setzenden Muster avanciert: Nun gibt es ja eine Tradition und zwar eine zu Fortsetzung verpflichtende; darf eine Konstruktion von Erzählung (fragte ich:) nun von weniger ausgehen als von den bisher höchsten Errungenschaften, darf einer sozusagen unter den Rekord gehen, hier? Da sagte meine Leihbibliothek: es sei nicht raus dass die Bemerkung von den Sternchen und die dort sinnvoll und sinnfällig geleistete Übereinkunft von Erzähler und Erzähltem nun durchaus als fortschrittlich zu benamsen sei. Immerhin dürfe einer nun nicht tun als hätte es dies nicht gegeben und als wärs nicht da, sie tun es aber meistens etc. Dies hat mich einst sehr interessiert.46
Seine Antwort an Bierwisch wirft allerdings verschiedene Fragen auf: Wer ist Johnsons »private Leihbibliothek«? Dabei wird es sich vermutlich nicht um Hans Mayer handeln (obwohl die sachkundigen und differenzierten Antworten, die der »privaten Leihbibliothek« zugeschrieben werden, auf jenen hindeuten), wahrscheinlicher ist damit (nimmt man das »einst« wörtlich) Alice Hensan in Rostock gemeint, die bekanntlich große Bestände englischsprachiger Literatur verzeich-
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Ebd. Bierwisch negiert jedoch eine Verpflichtung gegenüber der literarischen Tradition, sofern dies allein bedeute, dass einmal verwendete Techniken nunmehr angewandt werden müssen. Maßgeblich für die Hervorbringung neuer Techniken bzw. das Fortschreiben von Vorhandenem sei allein das jeweilige Weltbild der künftigen Literaten; die Tradition sei kein normatives Regelwerk für folgende Schriftstellergenerationen: »Für künftige Bücher ist es gleichgültig, wie der Ulysses aussieht. Denn Literatur kann man nicht fortsetzen wie Quantenmechanik. Nur wenn etwas von Joyces Metaphysik auszuborgen ist, kann auch dessen Technik leben. Das heißt aber nicht, das [sic] man einfach ignorieren kann, sondern nur: Ein technischer Rückfall ist einer in der Ideologie.« (Ebd.) Es darf bezweifelt werden, dass Johnson Bierwischs provokantem Diktum widerspruchslos zugestimmt hat, dass es »für künftige Bücher […] gleichgültig« sei, »wie der Ulysses aussieht« – der Briefwechsel gibt jedoch keinerlei Aufschluss darüber, denn inzwischen – d.h. zwischen dem 13. Juli und dem 18. Juli 1957 – hat Johnson Bierwisch im Sanatorium besucht, wie aus Uwe Johnson-Archiv: JJ 42 (MB an UJ), S. 2 und JJ 43 (MB an UJ): »Es war gut, daß Du hier warst, Ossian.« zu entnehmen ist. Uwe Johnson-Archiv: JJ 39 (UJ an MB), 7.7.57, S. 1.
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nen konnte – oder auch Friedrich »Lütten« Schult in Güstrow, der möglicherweise auch Johnsons Diplomarbeit über Barlach angeregt hatte.47 Und: Wann ist »einst«? Wann hat Johnson den Wechsel der erzählenden Optik im ›Ulysses‹ »verschiedentlich erwogen letztens als einen Grundsatz«? Zwar enthüllt der Brief eine intensive und produktionsorientierte Auseinandersetzung mit Joyce Roman, gibt jedoch nicht preis, wann diese Beschäftigung erfolgt ist – wobei das Wort »einst« freilich nahe legt, dass diese schon eine geraume Zeit zurückliegt.
4.2
Johnsons Verhältnis zur literarischen Tradition
Der vorangegangene biographische Abriss legt eine vorsichtige Eingrenzung einer möglichen ersten Lektüre von Joyce ›Ulysses‹ auf die Jahre zwischen 1953 und 1957 nahe, da in dieser Zeit zunächst durch die Bekanntschaft mit Alice Hensan in Rostock, dann durch den Aufenthalt in der Universitäts- und Bücherstadt Leipzig, die Studien bei Hans Mayer und das Klima des Leipziger Freundeskreises eine intensive Auseinandersetzung Johnsons mit der internationalen literarischen Avantgarde angeregt und befördert wurde. Zudem scheint, wenn nicht bereits das Experimentieren mit der Erzählinstanz in ›Ingrid Babendererde‹, das zunehmende Abweichen von der auktorialen Zentralperspektive, wie es sich in den unterschiedlichen Fassungen darstellt,48 so doch zumindest die Überarbeitung der ›Mutmassungen‹ einen Einfluss Joycescher Repräsentationsverfahren nahe zu legen. Gewiss ist, dass Johnson den ›Ulysses‹ im Sommer 1957 bereits kannte, wie es der Brief Manfred Bierwischs belegt. Was Uwe Johnson mit Arno Schmidt verbindet, ist die Tatsache, dass er zwar Dichterkollegen seine Verehrung auszusprechen weiß, sich dafür jedoch nicht in die Karten blicken lässt und sich auf die Frage nach literarischen Vor-
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Vgl. Wolfgang Strehlow: Ästhetik des Widerspruchs. Versuche über Uwe Johnsons dialektische Schreibweise, Berlin 1993, S. 68f. Für einen umfassenderen Fassungsvergleich vgl. die (bedauerlicherweise) unpublizierte maschinenschriftliche Abschlussarbeit zur Erlangung des Magister Artium der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M. vorgelegt von Daniela Clouth aus Frankfurt a.M.: Uwe Johnsons »Ingrid Babendererde«: Vergleich dreier Fassungen (Mai 1987), die auch auf einem Transkript des schwer lesbaren Manuskripts gründet; daneben die (ebenfalls unpublizierte) Magisterarbeit von Wolfgang Strehlow: Die Entstehung von Uwe Johnsons Romanwelt: Die Textfassungen seines ersten Romans »Ingrid Babendererde« und ihre Bedeutung für die poetologische Konzeption des Romans, Berlin 1988 [Magisterarbeit am FB 1 der Technischen Universität]. Eine Kurzfassung von Strehlows Ausführungen zur Textgeschichte sowie des Fassungsvergleichs von ›Ingrid Babendererde‹ hat Eingang in seine Dissertation gefunden: Ästhetik des Widerspruchs, hier bes. S. 58–75.
bildern sehr bedeckt hält, etwa wenn er kategorisch erklärt: »Überdies bin ich überzeugt, ein jüngerer Schriftsteller könne einen Alten nur als ein moralisches Vorbild nehmen.«49 Ungeachtet dieser recht plump anmutenden und unhaltbaren Reduktion eines komplexen Sachverhalts ist Johnson grundsätzlich zu analytisch in seinem Denken, zu reflektiert in seiner Einschätzung der literarischen Tradition und der eigenen Position darin, als dass er – wie etwa Arno Schmidt – seine Prosapraxis als originäre Eigenleistung herausstellen würde, die quasi im luftleeren Raum seinen individuellen poetologischen Überlegungen entsprungen ist. Johnson erkennt scharfsichtig die Interdependenzen literarischer Produktion und Rezeption: Die Literatur ist auf einer gewissen Ebene ein Gewerbe, und alles, was in diesem Gewerbe unternommen wird, ist voneinander abhängig. Ein Versuch bestimmt den anderen. Sicher sind da Beeinflussungen. Vorbilder wären eine persönliche Sache. Ich wüßte keine.50
Stets betont Johnson das Eigenrecht der ›Geschichte‹, die die jeweils adäquate Form gleichsam aus sich selbst hervorbringen müsse; so auch im folgenden Fall, wenn er erklärt, lernen könne man von früheren Schriftstellergenerationen jeweils aber nur die pure, abgelöste Technik. Denn wie ein Schriftsteller sein eigenes Verhältnis herstellen muß zwischen dem vorgefundenen Zeitstil und den Anforderungen, die er selber stellt an die Sprache, so wird er alle technischen Mittel den Bedürfnissen der Geschichte unterordnen, die er selber erfunden hat aus den Erfahrungen seiner Individualität.51
Betrachtet man den positiven Gehalt dieser Aussage, so ist doch die Adaption überlieferter Techniken festzuhalten, ihre Nutzbarmachung für neue Sujets, die Johnson hier unumwunden zugibt, auch wenn jene in ihrer Anverwandlung durch einen Schriftsteller in den Dienst eigenen Formbewusstseins und eigener Wirkungsintentionen gestellt werden. Gelegentlich nennt Uwe Johnson in Gesprächen immerhin einige Namen aus einem bevorzugten Lektüreprogramm, wobei er meist weit hinter das zwanzigste Jahrhundert zurückgreift; auf die Frage nach literarischen Vorbildern reagiert er jedoch stets abweisend, wie beispielsweise 1964 im Gespräch mit Alois Rummel: »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Das weiß ich nicht. Ich kann Ihnen nur sagen, welche Leute ich immer wieder lese. […] Thukydides, Herodot, die latei-
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Uwe Johnson: »...habe aber nie die Absicht gehabt, durch Parteischriften den Tageslärm zu vermehren«, in: »Ich überlege mir die Geschichte...«, S. 72–75, hier S. 72. Bienek: Werkstattgespräch mit Uwe Johnson, S. 201. Johnson: »...habe aber nie die Absicht gehabt, durch Parteischriften den Tageslärm zu vermehren«, S. 74.
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nischen Geschichtsschreiber. […] Fontane.«52 Und im ›VORWÄRTS‹-Gespräch mit Adalbert Wiemers heißt es: »[I]ch lese immer wieder einzelne, wie Tolstoi, Tschechow, Fontane, Heinrich Mann, Thomas Mann, Thomas Wolfe. Faulkner. Dann die Klassiker: Plutarch, Herodot.«53 Aus der Reihe der deutschen zeitgenössischen Dichterkollegen hebt Johnson 1971 Böll, Walser, Enzensberger und Grass heraus.54 Es erstaunt, dass in diesen Aufzählungen neben den herausragenden klassischen Vertreten der Historiographie die bürgerlichen Erzähler in der realistischen Tradition des 19. Jahrhunderts dominieren, wohingegen kein Schriftsteller der Avantgarde genannt wird, bestenfalls die Anverwandlung avantgardistischer Techniken mit Faulkner repräsentiert ist. Wenn überhaupt einem literarischen Vorgänger, dann kommt William Faulkner in Johnsons Äußerungen eine herausragende Bedeutung zu: Ich glaube, während der Lektüre von Schall und Wahn wurde mir klar, daß ein geschriebener Monolog kursiv gesetzt werden konnte. Und, bezogen auf literarische Techniken, wäre es dies, was ich Faulkner zu verdanken habe. Übrigens, der innere Monolog ist eine Technik, die schon bei Tolstoi entwickelt worden ist, und man kann eine Abstammungslinie ihres Einflusses – Faulkner, Joyce, Tolstoi – erkennen.55
Hier zeigt sich, dass Johnson einen ungetrübten analytischen Blick für Traditionslinien und ihre Impulse hatte, wenn er zum einzigen Mal explizit in produktionsästhetischem Kontext auf Joyce verweist. Eine weitere Würdigung Joyce als eines der drei ›epochemachenden‹ Schriftsteller findet sich in einem Interview mit Jean Tailleur: »Mais, parmi les écrivains que j’aime, il y en a trois, à mon avis, dont l’œuvre fait époche, donne, à un très haut niveau, une version du monde (qu’on accepte ou qu’on la refuse): Brecht, Faulkner et Joyce (dans Ulysse).«56 Neben der folgenschweren Begegnung mit Hans Mayer und dem akademischen Resonanzraum in Leipzig ist das Literaturstudium Uwe Johnsons für sein Rezeptions- und Produktionsverhalten kaum zu unterschätzen. Nichtsdestoweniger scheint es für Johnson zum guten Ton zu gehören, den unleugbaren Wert des Studiums für seine eigene schriftstellerische Tätigkeit herunterzuspielen, etwa wenn er erklärt: »Was hier verlangt scheint, ist gewiß eher die philo52 53
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Rummel: Gespräch mit Uwe Johnson, S. 211. Im weiteren Verlauf des Gesprächs ergänzt Johnsons diese Reihe immerhin um Brecht und Faulkner. Adalbert Wiemers: Keine Mutmaßungen über Johnson mehr [Ein VORWÄRTSGespräch. (Am 15.1.1966 in West-Berlin)], in: »Ich überlege mir die Geschichte...«, S. 217f. Barbara Bronnen: »Beauftragt, Eindrücke festzustellen« [Ein Gespräch mit dem Schriftsteller und Büchner-Preisträger Uwe Johnson (Am 30.11.1971 in Erlangen)], in: »Ich überlege mir die Geschichte...«, S. 257–262, hier S. 259. Michael Roloff: Gespräch mit Uwe Johnson [Am 20.8.1961 in New York], in: »Ich überlege mir die Geschichte…«, S. 171–183, hier 178. Jean Tailleur: »Uwe Johnson: Deux Ans après le Prix Formentor«, in: Les Lettres Françaises (1.–7. Oktober 1964), S. 7.
logische oder sonst wie wissenschaftliche Auslegung, der philosophische Kommentar etwa, und das, es tut mir leid, das kann ich nicht mehr; aus jenem Fach bin ich weggelaufen.«57 Damit unterschlägt er großzügig, dass er immerhin fünf Jahre an den Universitäten Rostock und Leipzig verbracht und sein philologisches Studium mit einem germanistischen Diplom abgeschlossen hat, bevor er aus dem Fach »weggelaufen« ist. Auf Horst Bieneks Frage nach möglichen literarischen Vorbildern und Einflüssen reagiert Uwe Johnson 1962 ausweichend, indem er diese zu akademischen Routinen erklärt: Ich habe Germanistik studiert, und wenn man vier Jahre lang mit allen Mitteln und Ausflüchten und Auskünften der Literatur seminaristisch vertraut gemacht worden ist, stellt sich eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber den Techniken ein.58
Noch ein Jahr zuvor hatte sich Johnson gegenüber Michael Roloff weitaus differenzierter und aufschlussreicher geäußert: Während der vier Jahre an der Universität hat man eine gewisse Gleichgültigkeit sowohl gegenüber lebenden wie toten Schriftstellern entwickelt. Man erwirbt eine Kenntnis ihrer Methoden, man lernt ihre Techniken kennen. Wenn diese Techniken einmal angewandt worden sind, gehören sie zum Bereich des Möglichen, sind Teil des literarischen Kanons, und man – beziehungsweise ich – benutze sie dort, wo sie am nützlichsten zu sein scheinen.59
Im Gespräch mit Alois Rummel 1964 wiederum findet sich die Aussage erneut in modifizierter Form wieder, aus »gleichgültig« wird nun »unsentimental«; konstant bleibt die Betonung der Verfügbarkeit literarischer Techniken, die an nachfolgende Schriftstellergenerationen weitergereicht werden – ob nun als Möglichkeit, »Teil des literarischen Kanons« oder als »Standard des literarischen Handwerks«, »Handwerkzeug« oder »gesammelte Erfahrung«:60 Wissen Sie, während des Studiums auf der Universität lernt man eine ziemlich unsentimentale, kühle Weise, mit Gegenständen der Literatur umzugehen, und wenn Sie in einer Seminararbeit oder in einem Seminar beweisen müssen, wie bei Fontane Schlüsse gemacht werden oder wie bei Döblin Absätze mit Schnelligkeit versehen werden, dann, glaube ich, verliert man ein beeinflußbares Verhältnis zur Literatur; dann ist es die bloße Kenntnis der Techniken, die erfunden und gefunden worden sind, um die sich verändernde Welt zu beschreiben. Und wenn die einmal da sind, gehören sie zum Standard des literarischen Handwerks, dann kann jeder sie benutzen, vorausgesetzt natürlich, sie passen zu der Sache, die er vorbringt.61
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Uwe Johnson: Begegnung mit Thomas Mann, in: »Ich überlege mir die Geschichte...«, S. 76. Bienek: Werkstattgespräch mit Uwe Johnson, S. 201. Roloff: Gespräch mit Uwe Johnson, S. 178. So in Schwarz: Gespräche mit Uwe Johnson, S. 237. Rummel: Gespräch mit Uwe Johnson, S. 209.
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Schon Koeppen hatte sein Verhältnis als junger Literat zur Tradition ganz ähnlich beschrieben (vgl. Kap. 2.1.1). Johnson hingegen ist zurückhaltender als Koeppen, wenn es darum geht, die übernommenen Techniken, die als nützlich empfunden wurden, auf einzelne Personen zurückzuführen. Weitaus wichtiger als die Namen Fontanes und Döblins, die Johnson im Gespräch mit Rummel etwas zögerlich nennt, scheinen die Vorläufer, die ausgespart bleiben: Faulkner und Joyce. Wolfgang Koeppen, der Uwe Johnson in Walter Höllerers Literarischem Colloquium am Berliner Wannsee kennen- und schätzen gelernt hatte, erinnert sich anlässlich eines Nachrufs einen Monat nach Johnsons Tod 1984: Ich hatte Uwe Johnson gegenüber im Anfang unserer Bekanntschaft gemutmaßt, daß Faulkner seinen Stil beeinflußt habe. Das verstimmte Johnson. Er hatte recht. Ich hätte Fontane nennen sollen. Aber auch dieser ehrenvolle Vergleich hätte dem jungen Dichter nicht gefallen. Johnson wollte Johnson sein und war sich des Eigenen bewußt. […] Ich hatte unrecht, seine Anfänge mit Angleichungen an Faulkner oder Fontane zu belasten. Die »Jahrestage« gehören in die Klasse der Gipfel, der Romane von Balzac und Zola, die Dichtung und Zeitgeschichte sind und im Handel ihrer vielen Personen im Umkreis einer Familie von Band zu Band ihr Jahrhundert vor Gericht bringen.62
Koeppen erweist sich hier wie immer als hochsensibel gegenüber literarischen Traditionen, zugleich jedoch als sehr sensibel für die Geisteshaltung und Bedürfnisse eines jungen Literaten, denen er zuletzt Respekt zollt, indem er die Einzigartigkeit der ›Jahrestage‹ unterstreicht: Der Autor Uwe Johnson fühlt sich nach seinem literarischen Debüt angesichts der Unterstellung von Einflüssen welcher Art auch immer keineswegs geschmeichelt, sondern in seiner Originalität offenkundig »belastet« und bedroht. Im Gespräch mit Horst Bienek wehrt sich Johnson dagegen, den Einfluss der erzähltechnischen Umwälzungen der Moderne zu unterschätzen und demgegenüber die individuelle schöpferische Kraft schlichtweg überzubetonen, als Bienek bemerkt: Die meisten Klassiker der neuen Erzählweise (Faulkner) haben ja längst auf die jungen Schriftsteller nicht mehr so viel Einfluß wie etwa auf die Generation von Döblin oder auch von Koeppen. Ich glaube eher, daß die ganz jungen etwas ganz Neues präsentieren werden. 63
Johnson verweist in seiner Replik auf die Kontinuität des schriftstellerischen Gewerbes über die Epochen hinweg sowie auf die Verantwortung des jungen Schriftstellers, literarische Einzelleistungen zu (er)kennen, bewusst an Traditio-
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Wolfgang Koeppen: Ein Bruder der Massen war er nicht. Über Uwe Johnson (Zum Tod von Uwe Johnson am 24. Februar 1984), in: GW, Bd. VI, S. 426–429, hier S. 427 und 429 [zuerst in: Stern (22. März 1984), Heft 13]. Bienek: Werkstattgespräch mit Uwe Johnson, S. 202.
nen anzuschließen und bereits erprobte Verfahrensweisen kraft reflektierter Entscheidungen für eigene Projekte nutzbar zu machen: Ich bin nicht sicher, ob man die Generationen so trennen kann. Das Handwerk oder das Gewerbe des Erzählens bringt es mit sich, daß ein junger Schriftsteller sehr genau wissen muß, was Thomas Mann erreicht hat und wie er es erreicht hat, und das Neue, das Sie sich von den Jüngeren erwarten, wird immer an den persönlichen Entscheidungen und Haltungen dieser Jungen liegen und nicht etwa in ihrer literarischen Unabhängigkeit.64
Und »neu« wäre für Johnson »ein Roman, der zu tun hat mit der Zeit, in der der Leser lebt. […] Das wäre was Neues. Neu, nicht bloß modern, muß das Bewußtsein sein, in dem der Leser sich befindet mit dem Roman.«65 Inwiefern nun Johnson die überlieferten Techniken nutzbar macht, um Romane zu schreiben, die »neu« sind, soll der Fokus der Analyse in den folgenden Kapiteln sein. Den Gegenstand der Untersuchung stellen die Romane ›Mutmassungen über Jakob‹ sowie die ›Jahrestage‹ dar, die sich in ihren modernistischen Verfahrensweisen deutlich auffälliger als etwa die kurzen Erzählungen (in ›Karsch, und andere Prosa‹ veröffentlicht), ›Das dritte Buch über Achim‹, ›Zwei Ansichten‹ oder die ›Skizze eines Verunglückten‹ präsentieren. Angesichts der signifikanten Modifikationen der ›Ingrid Babendererde‹ ist nicht auszuschließen, dass Johnson womöglich zu einem sehr frühen Zeitpunkt (etwa um 1952) in der Bibliothek Alice Hensans den ›Ulysses‹ studiert haben könnte. Spätestens anlässlich der Überarbeitung der ›Mutmassungen‹ muss jedoch die erste ›Ulysses‹-Lektüre erfolgt sein, insofern lassen sich hier in Johnsons formal avanciertestem Werk deutliche Parallelen in Konzeption und Stil nachzeichnen. Während die ›Jahrestage‹ in der einschlägigen Forschung oft als Rückschritt gegenüber der radikalen Polyperspektivik und Stimmenvielfalt der ›Mutmassungen‹ gewertet werden, soll in Kap. 4.5 in Form eines Ausblicks skizziert werden, dass Johnson in seinem großen Roman kaum minder experimentell – wenngleich sehr eigenständig und als (aus)gereifte Dichterpersönlichkeit – das »Abklopfen der Grundelemente« des Romans betreibt, um ihn auf seine Eignung zur Wahrheitsfindung auszuloten.66 64 65 66
Ebd. Uwe Johnson: Wenn Sie mich fragen… (Ein Vortrag) [1975], in: »Ich überlege mir die Geschichte...«, S. 51–64, hier S. 58f. Johnson besaß den ›Ulysses‹ in zwei Einzelausgaben, der englischsprachigen Random House-Ausgabe aus dem Jahr 1946 [P1161] sowie der Goyert-Übersetzung in der Sonderausgabe des Rhein-Verlags von 1956 [P1162]. In dem Band mit der Goyert-Übersetzung lagen fünf perforierte Abschnitte [Archivsignaturen IX62, 63, 64, 65, 66] – vermutlich aus einem Kalender oder Tagebuch (wobei die abgedruckten Daten entweder auf die Jahre 1959, 1964 oder 1970 schließen lassen), die Johnson offenbar als Lesezeichen bzw. Markierungen von Kapitelgrenzen dienten, da sie zu Beginn der Episoden 8 (›Laestrygonians‹), 9 (›Scylla & Charybdis‹), 13 (›Nausicaa‹), 11 (›Sirens‹) und 12
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Bis zur Niederschrift der ›Jahrestage‹ hat Johnson eine bemerkenswerte Sammlung an Joyceana zusammengetragen, die hier nicht unerwähnt bleiben soll. In Johnsons Bibliothek, die aus Sheerness in das Uwe Johnson-Archiv nach Frankfurt überführt wurde, fällt bereits auf den ersten Blick ein umfangreicher Bestand an Werken von und über Joyce ins Auge, der die Ambitionen eines bloßen Sammlers (der Johnson gewiss nicht war) übersteigt, durch eine umsichtige Auswahl der essentiellen Sekundärliteratur zu Joyce (vornehmlich aus den späten 50er und 60er Jahren) seine Sachkenntnis beweist67 und zudem auch durch eine Vorliebe für eher abseitige Spezialmonographien zu Joyce und seinem Werk besticht.68
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(›Cyclops‹) eingelegt waren. Allerdings ist fraglich, in welchen Jahren Johnson diese Bände erworben hat; da er ja bekanntlich nur mit einer Aktentasche in den Westen umgezogen sein will, wird er zwangsläufig seinen vor 1957 erworbenen Bibliotheksbestand zurückgelassen haben. In weiteren Einzelausgaben fanden sich in Sheerness die dreibändige Briefausgabe ›Letters of James Joyce‹ aus dem Jahr 1966, die deutsche Ausgabe von ›Exiles‹ (Frankfurt a.M. 1968) [P1158], eine Edition des Suhrkamp-Verlags mit drei Übersetzungen der ›Anna Livia Plurabelle‹-Episode aus ›Finnegans Wake‹ (1970) [P1159], eine italienische Ausgabe von ›Chamber Music‹ (offenbar ein Geschenk von Margret Boveri, da in den Band eine Postkarte Boveris vom 18.7.1973 eingelegt war), ›Giacomo Joyce‹ im englischsprachigen Original in der New Yorker Viking Press-Ausgabe von 1968 [P1179] sowie in der Reichert-Übersetzung, die 1968 bei Suhrkamp erschien [P1180]. Daneben besaß Johnson die vollständige siebenbändige deutsche Frankfurter Ausgabe der Werke und Briefe, die in den Jahren 1969ff. beim Suhrkamp-Verlag erschien und die neue Wollschläger-Übersetzung des ›Ulysses‹ von 1975 umfasste [P1160]. In den Übersetzungen Arno Schmidts gibt es in der Bibliothek auch Stanislaus Joyce ›Meines Bruders Hüter‹ [P1167] sowie das ›Dubliner Tagebuch‹ [P1168]. Insgesamt sind 14 Bände über Joyce zu verzeichnen (in eckigen Klammern werden die jeweiligen Archivsignaturen angegeben): Stuart Gilberts Studie ›James Joyce’s Ulysses‹ (1960) [P1163], ›Materialien zu James Joyces ›Ein Porträt des Künstlers als junger Mann‹‹ (in zwei Auflagen) [P1164 u. 1165], der ›Skeleton Key to Finnegans Wake‹ [P1166], Richard M. Kain: Dublin In the Age of William Butler Yeats and James Joyce, Norman 1962 (The Centers of Civilization Series) [P1169], Sylvia Beachs Buch über den Buchladen Shakespeare and Company [P1170], Oliver St. John Gogarty: As I Was Going Down Sackville Street, New York 1973 [P1171], Hugh Kenner: Dublin’s Joyce, Boston 1956 [P1172] und Jean Paris: James Joyce in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek b. Hamburg 1960 (rowohlts monographien 40) [P1175]. Daneben fanden sich auch eher speziellere und ›exotische‹ Monographien wie: Constantine Curran: James Joyce Remembered, New York/London 1968 [P1174]; Peter Costello: Leopold Bloom. A Biography, Dublin 1981 [P1176], Jane Lidderdale and Mary Nicholson: Liebe Miss Weaver. Ein Leben für Joyce. Aus dem Englischen von Angela Praesent und Anneliese Strauss, Frankfurt a.M. 1974 [P1173]. Darin liest man auf dem ersten Blatt den handschriftlichen Vermerk Johnsons: »schlampig in Übersetzung / in Korrekturen«; in dem großformatigen Band von Gisèle Freund and V. B. Carleton: James Joyce in Paris. His Final Years. Preface by Simone de Beauvoir, New York 1965 [P1182] fanden sich hinten sechs Zeitungsausschnitte mit Artikeln über Joyce aus deutschen und englischen Zeitungen bzw. Literaturbeilagen der Jahre 1979–82, die Johnson sorgfältig ausgeschnitten, datiert und aufbewahrt hat. Selbstverständlich
4.3
Erzählexperimente auf der Suche nach Objektivität: ›Ingrid Babendererde‹
Mit dem viel zitierten Passus aus den als ›Begleitumstände‹ publizierten Frankfurter Poetikvorlesungen lanciert Johnson selbst den Entstehungsmythos der ›Ingrid Babendererde‹,69 der die Demonstration bürgerlichen Ungehorsams des jungen Autors bei seinem couragierten öffentlichen Eintreten zur Verteidigung der Jungen Gemeinde zum Katalysator stilisiert: So bekam jemand seine ureigene Sache, seinen persönlichen Handel mit der Republik, seinen Streit mit der Welt darüber, wann etwas eine Wahrheit ist und bis wann eine Wahrheit eine Bestrafung verdient. Da ihm verwehrt ist, dies öffentlich auszutragen, wird er es schriftlich tun. (BU, S. 69)
So verlockend die Annahme dieses biographischen Zündfunkens für das epische Werk eines Autors sein mag, der seine schriftstellerische Laufbahn als Wahrheitssuche beginnt, weil ihm das öffentliche Aussprechen seiner politischen Überzeugungen verwehrt bleibt, so wenig überzeugend bleibt er doch angesichts der Tatsache, dass Johnson zu diesem Zeitpunkt noch an eine Publikation seines Romanerstlings in der DDR glaubte. Wiewohl Uwe Johnsons posthum veröffentlichtes Debüt ›Ingrid Babendererde‹ hinter der avantgardistischen Durchformung seiner Erstveröffentlichung ›Mutmassungen über Jakob‹ zurückbleibt, enthält dieser frühe Roman doch eine Vielzahl der »poetologischen Positionen Johnsons in statu nascendi«.70 Die verschiedenen Entstehungsschichten der ›Ingrid Babendererde‹ dokumentieren »ein unentwegtes Ringen um den passenden Erzählmodus.«71 Mag auch Johnson zuletzt der Auffassung sein, den Text »totgeschrieben« zu haben, so machen die Überarbeitungen die konventionelle Schulgeschichte dennoch zu einem alinearen, polyphonen und multiperspektivischen, im politischen Gehalt brisanten und provokanten avantgardistischen Gesellenstück. Bereits der Erstling etabliert einige Grundkonstanten Johnsonschen Erzählens: Die chronotopologische Fixierung des Fiktiven in einem durch präzise räumliche Koordinaten abgesteckten – hier gleichwohl noch fiktiven – Raum, die Rückbindung der Schulgeschichte an die realhistorische Situation in der DDR verlei-
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besaß Johnson auch Richard Ellmanns Joyce-Biographie (in der deutschen Ausgabe des Rhein-Verlags) [P1181]. Auch in dieser Ausgabe finden sich die charakteristischen handschriftlichen Druckfehlerkorrekturen Johnsons – etwa auf S. 546: ›malersich‹, was Johnson im Text und am Rand vermerkt hat. Uwe Johnson: Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953, mit einem Nachwort von Siegfried Unseld, Frankfurt a.M. 1992 (edition suhrkamp 1817, NF 817), S. 9. Im Folgenden zitiert mit der Sigle IB. Durzak: Der deutsche Roman der Gegenwart, S. 64. Strehlow: Ästhetik des Widerspruchs, S. 99.
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hen ›Ingrid Babendererde‹ zugleich das spannungsvolle Gepräge eines Zeit- und Heimatromans. Ersteres wird in den folgenden Jahren zu einem Wesensmerkmal der Prosa Uwe Johnsons, letzteres wird zugunsten einer Öffnung des epischen Raumes zwar nicht aufgegeben, doch erfolgreich objektiviert und relativiert. ›Erfolgreich‹ insofern, als dem Autor diese Dimension seines Erstlings von weiten Teilen der Forschung wie auch von seinem späteren Verleger Siegfried Unseld unnachsichtig als Begrenztheit, ja Gemeinsamkeit mit völkischer Blutund-Boden-Literatur zur Last gelegt wurde.72 In struktureller Hinsicht ist Johnsons Bemühen um eine dem Stoff angemessene Form aus dem Vergleich der verschiedenen Fassungen des Erstlings abzulesen. Eine »Tendenz hin zum Erzählen der kunstvollen Aussparung und der assoziativen Verknüpfung ist in der Folge der Fassungen zu beobachten.«73 Erst mit der Vorwegnahme des Epilogs und der Versetzungstechnik wird eine analytische Erzählstruktur erreicht, die auf der Mikroebene in Johnsons Technik der Andeutungen, der nachträglichen Erhellung von Sachverhalten, des langsamen Erzählens ihre Entsprechung findet. »Dagegen erscheint der Satzstil in der dann letzten Fassung des Erstlings bereits weitgehend als der, der später vollends zu Johnsons stilistischen Markenzeichen
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Peter Suhrkamp unterstellte dem Roman einen »Mangel an Welt«, und das diesbezügliche Urteil Unselds ließ die Publikation zu Lebzeiten Johnsons scheitern: »Das sollte gedruckt werden, sagte jedenfalls Peter Suhrkamp. Aber er hatte damals einen Mitarbeiter, der fand das Ganze zu norddeutsch – da wurde immerzu gesegelt, und es wurden Bäume beschrieben und überhaupt Landschaften, das roch ihm verdächtig nach Blut und Boden, und so entfiel der Plan. Das ist heute mein Verleger...« (Johnson: »Ein verkannter Humorist«. Gespräch mit A. Leslie Willson [Am 20. April 1982 in Sheerness-on-Sea]), in: »Ich überlege mir die Geschichte...«, S. 281–299, hier S. 282.) Neumann schließt sich dem Urteil Unselds vorbehaltlos an: »Der relativen Vormodernität der Erzählhaltung der Babendererde entspricht ihre inhaltliche Signatur als ein ›Heimatroman‹. Unverkennbar weist das Frühwerk Uwe Johnsons unter den Oberflächen Züge auf, die in der Art ihrer Ästhetisierung von geschichtlich und politisch geprägter Landschaft, ihrer Art ihrer Visualisierung und Symbolisierung historischer Kräfte sowie vor allem in der zentralen Art der Thematisierung von ›Heimat‹ nolens volens noch subtile Kräfte völkischer Literatur erkennen lassen.« (Neumann: Uwe Johnson, S. 190) Norbert Mecklenburg hingegen ist zuzustimmen, wenn er die Heimatthematik und die zahlreichen Landschaftsbeschreibungen als »Gegen-Raum« identifiziert und erklärt: »Raum wird bei aller topographischer Bestimmtheit in diesem Frühwerk Johnsons, anders als später in Jahrestage, nicht objektiv dargestellt als Region, d.h. als Kultur-, Geschichts- und Sozialraum, sondern subjektiv als persönliche Umgebung der Figuren und als sinnlich wahrgenommene Landschaft.« (Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa, Frankfurt a.M. 1997, S. 174). Auch Wilhelm Johannes Schwarz klassifiziert ›Ingrid Babendererde‹ als »Heimatliteratur mit politischem Hintergrund«. (Wilhelm Johannes Schwarz: Der Erzähler Uwe Johnson, Bern 1970, S. 8.) Strehlow: Ästhetik des Widerspruchs, S. 92.
geraten sollte.«74 Der Johnson-Ton mit all seinen syntaktischen und rhetorischen Spezifika findet sich in ›Ingrid Babendererde‹ (und zwar durchaus auch in den frühen Fassungen) sehr weit entwickelt. Die Tendenz zu Parataxe und Inversion, der ›parodistische Bibelton‹, die Polyphonie verschiedener Stimmen verstärkt durch Dialekt, Soziolekt und eine authentische Wiedergabe gesprochener Sprache – all diese Merkmale ergänzen auf stilistischer Ebene die Bemühung um eine Integration verschiedener Perspektiven auf der erzähltechnischen Ebene, wie sie auch die polyphone Stimmenvielfalt des ›Ulysses‹ als zentrale werkästhetische Funktion bei Joyce kennzeichnet. Die flexibel gestaltete und sich selbst ständig relativierende heterodiegetische Erzählinstanz in ›Ingrid Babendererde‹ bietet die Möglichkeit einer synthetischen Zusammenführung verschiedener Figurenperspektiven; schon in Johnsons Erstling ist eine Vielfalt an Stimmen und narrativen Techniken vernehmbar, die auf die dialogische Mehrstimmigkeit etwa der ›Mutmassungen‹ voraus weisen. »Der ständige und meist abrupte Wechsel der Töne stellt einen stilistischen Stimmbruch dar, der oft auf Erzähler- und Figurenrede verteilt erscheint.«75 Tatsächlich wirkt die Erzählposition in der letzten Fassung des Erstlings sehr artifiziell bzw. konstruiert; sie scheint nun gerade nicht aus den Erfordernissen des Materials zu erwachsen, sondern vielmehr – wie aus dem Fassungsvergleich hervorgeht – auf diese aufgesetzt, um verschiedene technische Schwierigkeiten bewältigen zu können. Mit den ›Mutmassungen‹ gelingt Johnson eine ›organischere‹ Synthese zwischen Perspektive und Stoff. Die ›Mutmassungen‹ werden das polyphone und multiperspektivische Verfahren insofern radikalisieren, als hier die Bruchstellen nicht (durch eine heterodiegetische Erzählerstimme) geglättet und synthetisiert, sondern bewusst hart und disparat belassen werden. Was ›Ingrid Babendererde‹ noch grundsätzlich etwa von den ›Jahrestagen‹ trennt, ist die relativ geringe Zahl einmontierter ›Fremdkörper‹ und Zitate. Neben dem Jazztitel von »Billie MAY and his orchestra: GOEN OUTSIDE« (vgl. IB, S. 244f.) oder Klaus Übersetzung aus dem Lateinischen »Ins Unreine« (vgl. IB, S. 178ff.) fallen allein die vier Strophen aus Brechts Kommentar zu Schillers ›Bürgschaft‹ (vgl. IB, S. 98f.) in diesem Zusammenhang auf; das Zitat ergibt sich jedoch zweifelsfrei aus dem Kontext des Unterrichtsverlaufs. Die Montagetechnik wird erst beginnend mit den ›Mutmassungen‹ zum entscheidenden Stil- und Strukturprinzip Johnsonschen Erzählens. Vermutlich war Johnson von den zahlreichen Ablehnungen des Romans entmutigt, weshalb sein Urteil vernichtender ausfallen musste als es dem Erstling angemessen ist. Erst mit der Erzählstruktur der letzten Fassung ist (rückblickend betrachtet) der erfolgreiche Schritt in die Richtung eines kunstvollen struktu-
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Neumann: Uwe Johnson, S. 190. Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 170.
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rellen Arrangements getan, das die komplexe historische Realität experimentell zu gestalten vermag. Insofern stellt ›Ingrid Babendererde‹ »einen bemerkenswerten, im Kontext der frühen DDR-Literatur gesehen singulären Versuch dar, die Widersprüche von Sprache, Ideologie und Wirklichkeit im stalinistischen System erzählerisch vorzuführen.«76
4.4
Der Anschluss an die Avantgarde: ›Mutmassungen über Jakob‹
Johnson rückt in seiner Bilanz die verwertbaren Grundelemente der ›Ingrid Babendererde‹ gegenüber dem Erzählverfahren in den Vordergrund: Die Geschichte ist durch die Art des Erzählens ziemlich verstellt und nicht klar zu sehen, aber auf die Geschichte würde ich keineswegs verzichten. Alle diese Bestandteile der Geschichte brauche ich, insbesondere die Personen, die in der Geschichte vorkommen.77
Die ›Personen‹ der ›Ingrid Babendererde‹ bilden den Grundstock zu einem mehr oder minder festen Figurenensemble, das das gesamte Erzählwerk Johnsons tragen wird.78 Folglich resümiert er in den ›Begleitumständen‹ rückblickend in Form einer Bilanz: Die Veröffentlichung der ersten Arbeit ist gescheitert. Negativ Positiv: Die Chance, anzufangen mit einer anderen Veröffentlichung als dieser. Vier Jahre Lehrzeit. Gewonnen: Den Auftrag, nach den Eltern der Brüder Niebuhr zu suchen. Erworben: Den fortdauernden Umgang mit ihnen, ihrem Onkel Martin, auch der Babendererde. Erichson ist aufzuspüren. Frage: was hatte der mit Eva Mau. An Immobilien: Eine kleine Stadt im südöstlichen Mecklenburg […]. Samt Inventar. (BU, S. 99)
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Ebd., S. 169. Baumgart: Uwe Johnson im Gespräch, S. 222. Die Wiederaufnahme der Figuren und des Stoffes aus ›Ingrid Babendererde‹ mit geringfügigen Veränderungen in stark verknappter Form in den ›Jahrestagen‹ deutet darauf hin, dass sich Johnson bei der Arbeit an den ›Mutmassungen‹ offenbar damit abgefunden hat, dass sein Erstling unveröffentlicht bleiben würde (vgl. Uwe Johnson: Jahrestage I. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Frankfurt a.M. 1993 (edition suhrkamp 1822, NF 822), S. 9 [im Folgenden wird die Ausgabe von 1993 (ungeachtet der Bandnummer, da die vier Bände – edition suhrkamp 1822–1825, NF 822–825 – fortlaufend numeriert sind) nachgewiesen mit der Sigle J] u. J, S. 1848).
Johnson zeigt sich von der Absage des Suhrkamp-Verlags keineswegs entmutigt und schreibt am 21. August 1957 an Peter Suhrkamp: »Wenn Sie aus dem Manuskript kein Buch machen möchten, bin ich also einverstanden. Sie fragten mich: wie ich mir denn vorstelle, daß es weitergehen soll mit mir. Ich habe gesagt und weiß inzwischen nichts Besseres: ich will noch eine Geschichte aufschreiben.«79 Nach »[v]ier Jahre[n] Lehrzeit« hat Uwe Johnson die »Chance, anzufangen mit einer anderen Veröffentlichung als dieser.« (BU, S. 99) Und in der Tat lässt Johnson nicht locker, lässt Suhrkamp nicht nach in seinem Interesse an dem jungen Mann, der Anfang 1959 die letzten Korrekturen an den ›Mutmassungen‹ beendet und das Manuskript nach Frankfurt schickt. Suhrkamp bekommt es jedoch nicht mehr zu lesen; er stirbt am 31. März in Frankfurt. Stattdessen ist es Siegfried Unseld, der sich der Publikation annimmt und mit dem Johnson ein langer, intensiver Briefwechsel verbinden wird. Die ›Mutmassungen‹ fordern ihren Tribut von Johnson, der sich nun in der Existenz des Schriftstellers einzurichten hat; sein Weg dorthin – vergegenwärtigt man sich seinen Lebenslauf, die literarischen Anfänge und das Klima in Leipzig – war zweifelsohne präfiguriert, wenngleich er die Hoffnungen, die er mit dem Experiment ›Mutmassungen‹ verknüpfte, herunterspielt und den Lauf der Dinge 1961 im Rückblick als überraschend kennzeichnet, da er: 1959 nicht vorhatte, Schriftsteller zu werden. Ich hatte nur ein Manuskript vorbereitet, und die natürliche Folge schien mir, es zu veröffentlichen. Als das Buch veröffentlicht wurde, war ich sehr plötzlich ein Schriftsteller, und erst dann gewöhnte ich mich daran, als Schriftsteller betrachtet und behandelt zu werden.80
Umsichtig positioniert sich Johnson als Schriftsteller im Spannungsfeld zwischen Ost und West und betont, dass es ihm die politische Situation in den späten fünfziger Jahren – befördert durch die Umstände seines Germanistikstudiums in Leipzig – erlaubt habe, beide Deutschland in ihrem jeweiligen literarischen und politischen Horizont zu erfassen; damit schließt er den Einfluss literarischer Strömungen und Tendenzen, die in Westdeutschland vorherrschten, auf seinen zweiten Roman nicht aus, sondern sieht sich vielmehr den schöpferischen Impulsen beider Teilstaaten verpflichtet. 1957, als ich anfing, mir dieses Buch zu überlegen, war die Grenze zwischen den beiden Teilen Deutschlands noch verhältnismäßig offen. Das Studium der Literaturwissenschaft war einigermaßen zureichend. Es war möglich, sich Informationen über die politischen wie die literarischen Zustände in Deutschland zu beschaffen. Ich habe also
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Uwe Johnson: Brief an Peter Suhrkamp vom 21. August 1957 aus Güstrow, zitiert nach »Die Katze Erinnerung«. Uwe Johnson – Eine Chronik in Briefen und Bildern, zusammengestellt von Eberhard Fahlke, Frankfurt a.M. 1994, S. 74. Ebd.
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von beiden Gegenden Deutschlands Kenntnis gehabt, und das war für mich eine Einheit des Bewußtseins. Ich sehe da keine Nahtstelle.81
Dem Autor der ›Mutmassungen‹ ist bewusst, dass an eine Publikation unter dem eigenen Namen in der DDR nicht zu denken ist; aus dieser Gewissheit zieht Johnson die Konsequenz, als »die Veröffentlichung der Mutmassungen über Jakob ein Stadium erreicht hatte, zu dem das Schriftbild mit dem Titel des Buches und meinem Namen in Druck gehen sollte«:82 Man hätte mir nach dem Erscheinen von Mutmassungen über Jakob unter Umständen ein Gerichtsverfahren anhängen können, wegen staatsfeindlicher Veröffentlichungen etwa. Eine Zeitlang plante ich, das Werk unter einem Pseudonym im Westen erscheinen zu lassen, doch rieten mir meine Freunde davon ab. Ich bin auch wirklich umgezogen, nicht geflüchtet, ich hatte sogar eine Genehmigung. Der Ortswechsel war kein politischer, sondern ein technischer, hygienischer, neutraler Akt. Mit den Wörtern »Flucht« oder »Flüchtling« treibt man überhaupt so viel Mißbrauch. […] Ich bin in aller Ruhe umgezogen, mit der Schreibmaschine in der einen Hand und einer Aktentasche in der anderen.83
Aufgrund der Tatsache, dass sein Erstling unveröffentlicht blieb, schreibt sich Johnson also mit den ›Mutmassungen über Jakob‹ in die Literaturgeschichte Westdeutschlands als Erbe der Avantgarde ein. Tatsächlich wird die Publikation des zweiten Romans zu einem derartig großen Wurf, dass auch für die gegenwärtige Johnson-Forschung die ›Mutmassungen‹ zum Paradigma werden, steht doch – wie Johnson selbst gegenüber Wilhelm J. Schwarz erklärt hat – »[d]er Name eines Autors […] oft auf eine fatale Art in Verbindung mit seinem ersten veröffentlichten Buch.«84 4.4.1 Entstehung und Entstehungsmythos der ›Mutmassungen über Jakob‹ Ein zentraler Mythos der einschlägigen Johnson-Forschung, die sich mit den ›Mutmassungen über Jakob‹ befasst,85 rankt sich um die augenscheinlich bemerkenswerte Genese des Romans. Unschuldig ist der Autor daran gewiss nicht, hat 81 82 83 84 85
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Rummel: Gespräch mit Uwe Johnson, S. 208. Ebd., S. 171. Schwarz: Gespräch mit Uwe Johnson, S. 245. Ebd., S. 236. Dieser Topos erscheint erstmals in Wilhelm Johannes Schwarz richtungsweisender Studie ›Der Erzähler Uwe Johnson‹, deren Verfasser auch die Bedeutung der ›Ulysses‹Lektüre für die Niederschrift der ›Mutmassungen‹ hervorhebt: »Joyces Ulysses hatte [Johnson] im Original gelesen, und er hatte sich bei dieser Lektüre mit den Möglichkeiten des inneren Monologs vertraut gemacht. Unter dem Einfluß von Faulkner begann Johnson, das erste Kapitel von Mutmassungen umzuschreiben. Ursprünglich war in diesem Werk geradlinig erzählt worden; die neue Form wurde dann tatsächlich polyphon, die Fabel unzählige Male durchbrochen« (S. 11).
er sich doch in zahlreichen Gesprächen recht esoterisch darüber geäußert: »Ich habe ein Jahr gebraucht, um über die Geschichte nachzudenken, und ein weiteres, um sie niederzuschreiben.«86 Will man Johnsons Ausführungen Glauben schenken und zugleich die Chronologie externer Zeugen berücksichtigen, muss bereits während des »Nachdenkens« eine erste Fassung des Textes entstanden sein, von der Johnson gegenüber Roloff 1961 sagt: »Ich habe zuerst versucht, die ganze Geschichte aus dem Blickwinkel eines Erzählers zu schreiben. Dabei entstanden stilistische Schwierigkeiten. […] Dazu kam, daß sich größere Zusammenhänge entwickelten, die sich gegen eine chronologische Erzählweise sperrten.«87 Diese Vorstufe der ›Mutmassungen‹ wäre ein ›gefundenes Fressen‹ für die Johnson-Forschung, wäre sie im Nachlass des Autors (oder in den Aktenschränken des Suhrkamp-Verlags) aufgetaucht – denn wie anregend und ergebnisreich hätte sich ein Vergleich eines traditionell-linear erzählten Textes mit dem so genannten ›Mutmassungsstil‹ und der herausfordernd-modernistischen Form der Fassung letzter Hand dargestellt, die den Ruhm des Autors als später Modernist begründet hat. Von besagter Vorstufe fehlt leider jede Spur.88 Ebenso plausibel wie die Annahmen, dass sie von Johnson vernichtet wurde – oder bei seinem »Umzug« in den Westen verloren ging, ist m.E., dass es sie nie gegeben hat. Eine Genese, die sich für die Forschung als verlockend darstellt, hat gewiss auch auf den Autor eine bemerkenswerte Faszination ausgeübt, weshalb ein derartig fingierter Lern-
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Roloff: Gespräch mit Uwe Johnson, S. 174. Ebd., S. 178. Im Uwe Johnson-Archiv in Frankfurt a.M. finden sich zwei geringfügig voneinander abweichende Typoskripte (Mutmassungen über Jakob, 1. Fassung (18) und Mutmassungen über Jakob, 2. Fassung (19)), deren letzteres dem Suhrkamp-Verlag vermutlich als Vorlage für die erste Druckfassung diente, die sich (neben den von Johnson handschriftlich korrigierten Fahnen) ebenfalls im Archiv befindet (DF. 1 (20) und DF. 2 (22)). Im ersten Typoskript finden sich Datierungen vom 6.2.1958 bis zum 4.12.58 sowie auf einzelnen Seiten Verweise auf das zweite (undatierte) Typoskript, das, unter Berücksichtigung der handschriftlichen Korrekturen, eine Reinschrift des ersten darstellt. Dieses zweite Typoskript trägt (vornehmlich Zeilenumbrüche und Absätze betreffende) handschriftliche Anmerkungen des Suhrkamp-Lektors – sowie zahlreiche Spuren (offenkundig von Johnson anschließend) wegradierter Kommata – vgl. dazu Johnsons Erläuterungen im Gespräch mit Bienek: Werkstattgespräch mit Uwe Johnson, S. 196: »Bei der ersten Besprechung wurde ich mit dem Unterton eines kleinen Skandals gefragt, wie denn das mit der Interpunktion sei, denn ich bin da, wo die Schulgrammatik Satzzeichen vorschreibt, etwas sparsam verfahren; und mir wurde mitgeteilt, daß das ja auch einige Arbeit bereitet. Darauf sah ich mir das Manuskript an, und richtig waren überall, wo Kommata hätten sein sollen, kleine Bleistiftstriche für Kommata. Dann, so wurde mir gesagt, nach der Seite 100 oder so, habe sich die Annahme durchgesetzt, daß es nicht ein schlampiges oder nachlässig geschriebenes Manuskript sei, sondern daß offenbar ein Prinzip vorliege. Ich konnte das nur bestätigen, ich erklärte das Prinzip, und wir haben dann einige Zeit damit verbracht, die Kommata wieder herauszuradieren – die mit Bleistift eingeschriebenen.«
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und Überarbeitungsprozess (nach dem Schema: ›ein Stoff – ein Beginn – ein Problem – eine Lösung: eine Form, die dem Stoff gerecht wird‹) als Teil seiner schriftstellerischen Selbststilisierung erklärt werden kann. In dem als Vortrag konzipierten programmatischen Essay aus dem Jahr 1975, der überschrieben ist mit »Wenn Sie mich fragen…«, formuliert Johnson pointiert sein zentrales poetologisches Postulat: »Das Problem von Form und Inhalt darf nicht mehr sichtbar sein. Die Geschichte muss sich die Form auf den Leib gezogen haben. Die Form hat lediglich die Aufgabe, die Geschichte unbeschädigt zur Welt zu bringen. Sie darf vom Inhalt nicht mehr ablösbar sein.«89 Insofern fügt sich Johnsons Bericht von der Suche nach der sich organisch aus den Notwendigkeiten der Geschichte entwickelnden Form nahtlos in seine poetologischen Prämissen ein: Es ging aber, bei den Mutmassungen über Jakob, […] darum, für die Erzählung ein Benehmen zu finden, das der Geschichte jeweils genau passte und geeignet war für die Bewegungen und Schnelligkeiten der Fabel, für die persönlichen und gesellschaftlichen Beziehungen, ihre Lokale, Gefühlsfarben, auch Ergebnisse. Der Versuch, in dem einen Fall den Lebenslauf eines Toten und die Ereignisse vor seinem Sterben zusammenzufinden aus Vermutungen, Behauptungen und knappen Zeugenberichten, ein solcher Versuch muss »schwierig« ausfallen […]. (BU, S. 328)
Johnsons Antwort darauf, wie denn der Überarbeitungsprozess initiiert worden sei und woher er die entsprechenden Denkanstöße bezogen habe, welche die heutige Gestalt der ›Mutmassungen‹ in ihrer bemerkenswerten »Kompromißlosigkeit«90 hervorbrachten, fällt allerdings denkbar vage und unbefriedigend aus: Ich habe auch den ersten Versuch zu diesem Buch auf eine ganz treuherzige Weise gemacht. Ich habe so ungefähr ein Viertel chronologisch geschrieben, ohne da irgendwelche Gespräche oder Monologe dazwischenzuschieben, aber dann ergaben sich stilistische Schwierigkeiten, etwa von der Art, daß ein unbeteiligter Erzähler nicht gut die entschiedene Haltung und Meinung von Herrn Rohlfs wiedergeben kann, ohne sich in seiner allzu kritischen oder allzu ironischen oder allzu feindseligen Art dazu zu verhalten. Das schadet natürlich der Gestalt Rohlfs, und darum wurde aus Herrn Rohlfs ein innerer Monolog. Außerdem: die Gewohnheiten mit deren Hilfe man sich eines Verstorbenen erinnert, sind eben Gespräche und erinnernde Monologe. Das ist dann alles so ziemlich von selbst gekommen.91
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Johnson: Wenn Sie mich fragen…, S. 60. Durzak: Der deutsche Roman der Gegenwart, S. 195. Anselm Neusüß: Über die Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit [Gespräch mit Uwe Johnson. Am 10.9.1961 in West-Berlin], in: »Ich überlege mir die Geschichte...«, S. 184–193, hier S. 185. Manfred Bierwischs ›Erinnerungen Uwe Johnson betreffend‹ scheinen allerdings die Existenz dieser frühen Fassung zu bestätigen (vgl. dort S. 85).
Waren es diese »Schwierigkeiten« allein, die Johnson zum Überdenken einer chronologischen Erzählfolge, der Verwendung einer dominanten Erzählinstanz angeregt haben und diese als unhaltbar erscheinen ließen? Und ist die Lösung gleichsam als deus ex machina binnen eines Vormittags ›über‹ den Autor ›gekommen‹, wie es Johnson das Auditorium seiner Frankfurter Vorlesungen glauben machen möchte, wenn er versichert: »Es war die Lehre eines Vormittags, unvergessen: Die Geschichte sucht, sie macht sich ihre Form selber« (BU, S. 141). Die maßgebliche Losung der literarischen Moderne – ›form follows function‹ – wird bei Johnson umgedeutet in ›form follows story‹. Die Erklärung, es sei »dann alles so ziemlich von selbst gekommen«, steht mit Johnsons emphatisch vorgebrachter Auffassung, dass die Geschichte zwangsläufig ihre Form selbst hervorbringen müsse, durchaus in Einklang, mutet jedoch wenig glaubwürdig und verkürzend an, besonders in Anbetracht der Tatsache, dass Johnson sich in Leipzig, unter dem Einfluss Hans Mayers und in regem Austausch mit dem Freundeskreis über avantgardistische Lösungen besagter Probleme befand, worüber der bereits erwähnte Briefwechsel »James/Jake« eindrucksvoll Aufschluss zu geben vermag. Bierwischs besonderes Interesse gilt (besonders im Jahr 1957) der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit, Gedanken sprachlich zu vermitteln. Als zentral markiert Bierwisch den Sommer des Jahres 1957, in dem er sich in einem Sanatorium aufhielt. Tatsächlich bestätigt der Briefwechsel zwischen ›James‹ und ›Ossian‹ einen Höhepunkt der erzähltechnischen Diskussion über die Möglichkeiten modernistischen Erzählens, die mit Johnsons radikaler Überarbeitung der ›Mutmassungen‹ zeitlich koinzidiert. Im Nachhinein schätzt Bierwisch diesen Sommer als eine entscheidende Zäsur ein: Der Sommer, von dem hier die Rede ist, fiel in die Zeit der Arbeit an den Mutmassungen. In der Zeit, in der ich im Sanatorium war, hat Ossian mich auf seinen Reisen zwischen Leipzig, Güstrow und Rostock mehrfach besucht und Einzelnes aus der gedanklichen Arbeit in der für solche Mitteilungen charakteristischen und eher verbergenden Weise erkennen lassen. […] Geschriebenes freilich war nicht einsehbar, wurde nur ausnahmsweise und zu bestimmtem Zweck zugänglich gemacht. […] So war es ein ungewollter Zufall, daß ich bei einem Urlaub vom Sanatorium auf meinem Leipziger Schreibtisch einen Abschnitt des Romans vorfand, der damals und noch lange Zeit den Titel »Guten Tag, Jakob« hatte. Dies war ein ungebrochenes Stück Prosa in der geraden Erzählweise, die ich aus Ingrid Babendererde kannte. Mag sein, daß dieses Manuskript, in der charakteristischen, nur die halbe Seite nutzenden Form aller Johnson-Arbeiten, nicht erhalten ist. Zwischen dieser Fassung und dem gebrochenen Text der Mutmassungen, die die Vorgänge auf die Perspektiven der Personen verteilt und diesen auch die Architektur des Zeitablaufs abgewinnt, liegt jenes exorbitante Zusammentreffen mit Faulkner, das ich beschreiben wollte. Erst aus dem Ergebnis dieser Begegnung konnte auch der Titel hervorgehen, der wie ein Programm das Buch kennzeichnet, mit dem Johnsons literarische Wirkung begann.92
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Bierwisch: Erinnerungen Uwe Johnson betreffend, S. 85.
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Bierwisch führt die Revolution der Erzählperspektive in den ›Mutmassungen‹ gegenüber der »geraden« Prosa in der (nicht erhaltenen) Urfassung auf Johnsons Faulkner-Lektüre zurück, der jedoch eine Beschäftigung mit Joyce ›Ulysses‹ vorausgegangen sein muss.93 Bierwischs eingangs (Kap. 4.1) zitierte Betrachtungen zu den Erzählverfahren des ›Ulysses‹ schließen an einen kurzen Austausch der beiden Freunde über Weyrauchs ›Bericht an die Regierung‹94 in den zwei vorausgegangenen Briefen an; immer wieder sind es Erzählverfahren und Perspektive, die das Interesse der Korrespondenten auf sich ziehen, wobei auffällt, dass hier weniger die rezeptionsals die produktionsästhetische Perspektive ins Blickfeld gerückt wird – ein Indiz dafür, dass Johnson bereits an der Polyphonie der ›Mutmassungen‹ feilte. Dessen Brief an Bierwisch vom 7.7.1957 enthält Johnsons poetologische Erwägung dieser Zeit gewissermaßen in nuce: Was den Ulysses angeht und den Wechsel der erzählenden Optik, so habe ich das schon verschiedentlich erwogen letztens als einen Grundsatz. In einer Beratung mit meiner privaten Leihbibliothek kamen wir überein: wenn Lieschen Müller ins Zimmer tritt und sich aufs Kanapee wirft und bitterlich weint, so ist noch lange nicht raus woher man das weiss. Es gebe ja nun drei Grundtypen des erzählenden Es: den Gott Balzac (man kann auch sagen: Schiedsrichter beim Tennis, denn der sitzt ja auch höher und weiß über alles); den Briefwechsel; die naturalistische (unterstellte) Beteiligung. Und die letzte ist gebräuchlich Filmes wegen und wegen Hemingway. Der mangelt der Überblick, die muss die Methode wechseln. Sternchen sind eine Erfreuung für Auge und Sinn des Lesers: meine ich, und: dass der Streit um die Optik in jenem Buch am zulänglichsten gelöst ist, das ist ein ästhetischer Fortschritt und so zu sagen eine Errungenschaft.95
Damit ist bereits die narrative Anlage der ›Mutmassungen‹ vorweggenommen: Johnson präferiert freilich den dritten der drei Grundtypen, den er hier auf den Film und auf Hemingway zurückführt. Er erkennt die Problematik dieses Typus, die darin besteht, dass eine neutrale Beobachterperspektive kognitiven
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Vgl. ebd., S. 84. Auch dieser Text ist freilich mit Blick auf die Verwendung wechselnder avantgardistischer Erzähltechniken (wie der dialogischen autonomen direkten Rede) sowohl mit Blick auf den Prätext ›Ulysses‹, als auch als Vergleichstext für die ›Mutmassungen‹ nicht uninteressant, was Johnsons Einschätzung des Buches nahe legt: »Die Erzählung verleugnet ihren Autor, indem: sie meint damit den Fakten dichter auf den Leib rücken zu können.« (Uwe Johnson-Archiv: JJ 32 (UJ an MB), 27.5.57) Uwe Johnson-Archiv: JJ 39 (UJ an MB), 7.7.57, S. 1. Die Bemerkung zu den »Sternchen« bezieht sich auf die Diskussion um Weyrauchs ›Bericht an die Regierung‹. Diese Ausführungen mitsamt der »Schiedsrichter«-Metapher greift Johnson Jahre später (1961) noch einmal auf, und zwar in dem Essay ›Berliner Stadtbahn (veraltet)‹, der von der Johnson-Forschung gemeinhin als das zentrale poetologische Programm des Autors betrachtet wird. (Vgl. Uwe Johnson: Berliner Stadtbahn, in: ders.: Berliner Sachen. Aufsätze, Frankfurt a.M. 1957 (suhrkamp taschenbuch 249), S. 7–21, hier S. 20.)
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Beschränkungen unterliegt, die nur durch Wechsel in der erzählenden Optik (in der »Methode«) relativiert werden können. Eben darum wird – neben Faulkners ›The Sound and the Fury‹96– die Polyphonie des ›Ulysses‹ mit seinen wechselnden narrativen Mustern stilbildend für die ›Mutmassungen‹. Bierwisch hingegen ist mit Johnsons Leihbücherei nicht einverstanden. Entweder hält man sich bei der Grundtatsache auf, daß jede :jede: Geschichte einen Erzähler hat und sich nicht selbst erzählt, also unabdingbar an irgend einer Stelle den Sprung tun muß zur Imagination. Insofern sind 96
Der (zweifellos maßgebliche und von Johnson durchweg bestätigte) Einfluss Faulkners auf Johnson ist bereits von zahlreichen Rezensenten des Romans bemerkt worden (vgl. Marcel Reich-Ranicki: Ein Eisenbahner aus der DDR. Zu Uwe Johnsons Roman »Mutmassungen über Jakob«, in: Uwe Johnsons Frühwerk. Im Spiegel der deutschsprachigen Literaturkritik. Dokumente zur publizistischen Rezeption der Romane »Mutmaßungen über Jakob«, »Das dritte Buch über Achim« und »Ingrid Babendererde«, hg. v. Nicolai Riedel, Bonn 1987 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft 371), S. 60–62 [zuerst in: Sonntagsblatt (22.11.1959) Nr. 47, S. 20], hier S. 62; Heinz Mudrich: Deutschland – ein grauer Rangierbahnhof. Zu dem ersten Roman des 25jährigen Uwe Johnson, in: Uwe Johnsons Frühwerk, S. 68–70 [zuerst in: Saarbrücker Zeitung (28.11.1959) Nr. 274, S. 33], hier S. 69; Günther Rühle: Jakob oder das geteilte Vaterland. Zu Uwe Johnsons Roman »Mutmaßungen über Jakob«, in: Uwe Johnsons Frühwerk, S. 76–78 [zuerst in: Frankfurter Neue Presse (11.12.1959) Nr. 287, S. 6], hier S. 78; Hans Magnus Enzensberger: Die große Ausnahme, in: Uwe Johnsons Frühwerk, S. 79–83 [zuerst in: Frankfurter Hefte 14 (1959) H. 12, S. 910–912], hier S. 83; Herbert Werner: Für die Betroffenen war der Kalte Krieg bislang schon heiß genug. Zu dem Roman von Uwe Johnson »Mutmaßungen über Jakob«, in: Uwe Johnsons Frühwerk, S. 112–115 [zuerst in: Stimme der Gemeinde 12 (1.5.1960), H. 9, S. 282], hier S. 115; Melvin Lasky zit. in: Über Uwe Johnson, hg. v. Reinhard Baumgart, Frankfurt a.M. 1970, S. 21 [zuerst in Out of Germany, a New Creative Voice, in: The New York Times Book Review (14.4.1963)] und hat sich zu einem Topos der einschlägigen Forschung entwickelt (vgl. Schwarz: Der Erzähler Uwe Johnson, S. 11f., Neumann: Uwe Johnson, S. 192, Hugo Steger: Rebellion und Tradition in der Sprache von Uwe Johnsons Mutmaßungen über Jakob, in: Uwe Johnson, S. 83–104, hier S. 101; Bernd Neumann: Utopie und Mythos. Über Uwe Johnson: Mutmaßungen über Jakob, in: Uwe Johnson, S. 105–139, hier S. 126–130; Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 15, 19, 29, 38, 63; Neumann: Uwe Johnson, 1996, S. 297, 300, 303, 305, 561 u.ö.; Uwe Neumann: »Er stellte seine Fallen öffentlich aus«. Zu Uwe Johnsons poetologischen Äußerungen, in: Uwe Johnson. Zwischen Vormoderne und Postmoderne. Internationales Uwe-Johnson-Symposium, 22.–24.9.1994, hg. v. Carsten Gansel, Berlin 1995, S. 55–80, hier S. 64), die jedoch weitgehend auf eine – über die bloße Namensnennung Faulkners hinausreichende – Untersuchungen verzichtet; eine Ausnahme stellt allein Bernd Neumann dar, dessen thematischer und motivischer Vergleich von ›Absalom, Absalom!‹ und den ›Mutmassungen‹ jedoch punktuell an den Haaren herbeigezogen scheint; 2004 hat schließlich Ute Müller in ihrer Dissertation zur Rezeption Faulkners in Deutschland dieses Desiderat vorgelegt, indem sie das Verhältnis in einem eigenen Kapitel präzise und erhellend skizziert (William Faulkner und die Deutsche Nachkriegsliteratur, Würzburg 2005 (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften; Reihe Literaturwissenschaft 537)).
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alle Techniken gleichen Wesens, ob Gott- oder Wanzenperspektive. Fragt man sich aber nach deren Unterschieden, dann reichen drei nicht aus. […] Festlegung auf eine bestimmte Typenzahl scheint mir unsinnig. Warum sollen nicht neue Perspektiven, Techniken zu den vielen, die es schon gibt, dazuerfunden werden? […] Faulkner ist weder a noch b noch c Deiner Tabelle.97
Der Briefwechsel gibt jedoch bedauerlicherweise keinerlei Aufschluss über Johnsons Reaktion auf Bierwischs skeptische Kritik, da diese poetologische Diskussion mündlich fortgeführt wurde. Johnsons Einwände sind lediglich indirekt aus dem folgenden Brief Bierwischs erschließbar: »Den Erzähler kann man entbehren, sagst Du, weil der Bewusstseinsgrad der Gestalten so angewachsen ist, dass aus ihrem Horizont heraus alles gesagt werden kann. Der Schiedsrichter wird arbeitslos.«98 Bierwisch hingegen ist der Meinung, dass man sich in logische bzw. epistemologische Widersprüche verstricke, wolle man auf den heterodiegetischen Erzähler verzichten. Ein grundsätzliches Ausschalten der Erzählerstimme sei schlicht unmöglich sei, denn wie kommt es, daß einer – der ganz reale Erzähler – das Bewußtsein von x Personen kennt und darlegen kann? Wenn eine Geschichte, ganz immanent, die Gedanken von A und dann noch von B darlegt, hat sie damit schon den Erzähler zu erkennen gegeben. Beachte das bitte gebührend. Denn ohne Fiktion kann nur der Inhalt eines Bewußtseins aufgeschrieben werden. (Das hieße, daß alle Personen aufs wirklich erfahrbare, ihre Rede und Taten beschränkt würden, womit aus der Erzählung Drama würde. Und dem nähern sich ja scheinbar die Dialoge Hemingways an. Aber eben nur scheinbar.) Um also den Erzähler-Gott auszuschalten, müßte man sich auf die Ich-Form beschränken, oder alles nicht wirklich Erfahrbare aussparen – und sich dem Drama nähern, das wirklich keinen Erzähler hat (wenn er nicht von Brecht wieder hineingebracht worden wäre.)99
Gerade die Aufgabe von Diegesis zugunsten von Mimesis prägt ja den Charakter der ›Mutmassungen‹, die bekanntlich mit den Dialogpassagen zu einem beträchtlichen Anteil aus dramatischen Formen der Redewiedergabe bestehen. Doch dieser Textstand kann Bierwisch zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorliegen, denn skeptisch fährt er fort: »Du kannst Dich also drehen wie Du willst: […] die Versuche, diesen Kreis zu sprengen, sind als Erschütterungen anderer Art zu spüren. Nur eben: Der Erzähler ist nicht totzuschlagen.«100 Damit müsste Bierwisch eigentlich eine Replik Johnsons herausgefordert haben, die bei einer Durchsicht des Briefwechsels jedoch nicht auszumachen war, was seine Ursache darin haben mag, dass Johnson seine Experimente mit
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Uwe Johnson-Archiv: JJ 42 (MB an UJ), 13. Juli 1957, S. 1. Uwe Johnson-Archiv: JJ 44 (MB an UJ), 4.8.1957, S. 3. Ebd., S. 3f. (Unterstreichung im Original.) Ebd., S. 5.
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den ›Mutmassungen‹ in gerade die (gattungsüberschreitende bzw. -sprengende) Richtung voranzutreiben gedachte, die Bierwisch nicht mit seinem Konzept des Romans vereinbaren konnte. Obwohl Johnson seine Experimente weiter trieb, als dies der Leipziger Freundeskreis erahnt haben mochte, so bildet dieser dennoch das Kraftfeld und den Nährboden für den radikalen formalen Neuansatz gegenüber dem Romanerstling. Bereits zwei Jahre zuvor (im Herbst 1955) formuliert Johnson in einem Brief an einen anderen Studienfreund, den Schriftsteller Jochen Ziem, eine Einsicht, die später die formale Gestalt der ›Mutmassungen‹ prägen sollte. Johnson hatte »Ziemie« bereits in den ersten Monaten nach seinem Studienortwechsel nach Leipzig kennen gelernt und erhielt von diesem regelmäßig literarische Arbeiten, die er mit umsichtiger, stellenweise erbarmungsloser Kritik bedachte, wie im folgenden Passus: Ihre Skizzen, ich meine das bisher an jeder bemerkt zu haben, sind nahezu völlig auf den Schluss bezogen, die Pointe am Ende die das ganze von hinten her erhellt, erleuchtet. Aber meinen Sie wohl dieses Schluß(Betu)Licht sei tragfähig genug, halte einen ganzen Vorgang aus? Einen Vorgang von solcher Schwere wie ihn ein Selbstmord darstellt. Ich meine wirklich, und Sie müssen dies ja nicht auf sich beziehen: dies flashlight am Ende genügt nicht. Sie sollten von Anfang an bedacht sein auf äußerste Ordnung des Erzählens, auf die nur mögliche Deutlichkeit (Sichtbarkeit) der Vorfälle und Situationen von denen Sie reden. […] Grinsen Sie nicht dass ich das anfange gerade von der Außenseite. Von daher ist mir nämlich das eigentlich Betrübende aufgefallen. Diese Skizzen scheinen keinen Punkt zu haben von dem aus sie erzählt sein könnten, für mich haben sei keinen.101
Der ›archimedische Punkt‹ der ›Mutmassungen‹ ist der Tod Jakobs; Johnson gelingt damit nun gerade, was er von Ziems Prosa einfordert: Das »Schluß(Betu)Licht«, das »flashlight« wird an den Anfang gerückt und somit zwangsläufig als Fluchtpunkt des Erzählens bedacht, ja, es ist als »Vorgang von erheblicher Schwere« der Dreh- und Angelpunkt des Stoffs, der Erzählmotor, der Anlass zu ›Mutmassungen‹ gibt und im ersten Satz unumstößlich festgeschrieben wird: »Aber Jakob ist doch immer quer über die Gleise gegangen.«102 In den ›Begleitumständen‹ schildert Johnson – abermals recht mystifizierend – die rettende Eingebung, die Quelle für die spannungsvolle Erzähleröffnung, die zum Zündfunken für die diskursive Dynamik der ›Mutmassungen‹ werden sollte:
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Uwe Johnson: Brief an Jochen Ziem [etwa Herbst 1955], in: ders.: »Leaving Leipsic next week«. Briefe an Jochen Ziem / Texte von Jochen Ziem, hg. u. eingeleitet v. Erdmut Wizisla, Berlin 2002, S. 64–67, hier S. 64f. Um welche Skizzen es sich hier handelt, ist nicht ermittelt. Uwe Johnson: Mutmassungen über Jakob. Roman, Frankfurt a.M. 1992 (edition suhrkamp 1818, NF 818), S. 7. Im Folgenden innerhalb des fortlaufenden Textes zitiert mit der Sigle ›MüJ‹.
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Bei einer von solchen nichtigen Verrichtungen war das Bewusstsein des Verfassers plötzlich fertig mit der gestellten Aufgabe, ohne seine Aufsicht hatte es die Lösung gefunden und warf sie ihm in die Gedanken: Er hörte seine Leute reden. Es war ein Ton, der aufbegehrte gegen eine Gewißheit, die war so unwiderruflich, die war in ein Grab getan; ihm wurde deutlich vorgesprochen, und gehorsam schrieb er nach: Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen. (BU, S. 133)
Das analytische Muster ist symptomatisch für Johnsons schriftstellerischen Anspruch, für sein erklärtes Ziel: »Mit dem Schreiben möchte ich die Wahrheit herausfinden. […] Das ist meine Arbeit, sie reicht mir für meine Gelassenheit.«103 4.4.2 Der Erzählbeginn und »die drei Manieren des Erzählens«104 in ›Mutmassungen über Jakob‹: Dialoge, Monologe und Erzählpassagen Der Titel »Mutmassungen über Jakob« benennt das narrative Programm des Romans, das bis in die Struktur hineinwirkt. Die erzählerische Progression ist insofern analytisch, als der Prozess der Wahrheitsfindung, das ›Wie es dazu kam‹ die narrative Dynamik prägt, ohne einen Eindruck von Finalität, Lösung, Telos, Geschlossenheit zu bieten. Wer weiß, wie Jakob zu Tode kam? Die Figuren geben jeweils ihre Sicht der Dinge wieder, und auch der Erzähler vermittelt nur teilweise zwischen Erinnerungen, Zeugenaussagen und Rohlfs Rechercheergebnissen, die narrative Anlage des Romans ist eine polyperspektivische105 und folgt damit der Einsicht, dass ›Wahrheit‹ aus Teilwahrheiten besteht, alle sind gleichermaßen unzuverlässig, subjektiv, einseitig und beschränkt: Was aber diese Personen, Rohlfs, Dr. Blach und Gesine, sich da so zusammendenken über Jakobs letzte Tage, wie sie gewesen sein könnten, was da war, als sie selbst es nicht sahen – das ist ja unzuverlässig, das bilden die sich ja ein, das sind Interpretationen.106
Wenn Erzählen als Suche nach Wahrheit verstanden wird, gestaltet sich der Text zwangsläufig als eine Untersuchung, in der Zeugenaussagen gehört, Erinnerungen notiert, Dokumente versammelt und der allwissende Schiedsrichter-Erzähler so weit als möglich zurückgedrängt wird. Dieses Erzählziel stellt den Text in den Dienst der Wahrheitsfindung (oder besser: -suche) und ist meisterlich in den ersten Satz eingeschrieben, der manche reißerische Erzähleröffnung in der
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Schwarz: Gespräche mit Uwe Johnson, S. 241. Roloff: Gespräch mit Uwe Johnson, S. 177. Die narrative Multiperspektivik ist einer der Ausgangspunkte des Vergleichs, den Ingrid Riedel in ihrem erhellenden und (weitgehend) überzeugenden Aufsatz zwischen »Johnsons Darstellungsmittel[n] und de[m] Kubismus« zieht (in: Uwe Johnson, S. 70–82). Neusüß: Über die Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit, S. 186.
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(populären) deutschen Literatur an Spannung und Dynamik überbietet: »Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen.« Und das ist wirklich der Anfang dieser Geschichte. Ich holte ihn aus dem ersten Satz: Jakob sei immer über die Gleise gegangen, und ich begriff, das war der Anfang eines Gesprächs, ein protestierender Anfang, der die Geschichte nicht glauben wollte.107
Wenn ein Roman vom Protest gegen ein (von welcher Instanz auch immer) vorgegebenes Deutungsmuster eröffnet wird, ist dies ein Gestus, der auch dem Rezipienten aufgegeben wird, als Warnung vor dem vorschnellen Vertrauen auf offizielle Wahrheiten und als Mahnung, dem Offenkundigen ein ›Aber‹ entgegenzusetzen, als Hinweis auf ein rückerschließendes Lesen, das Ursachen, Motivationen und Möglichkeiten in Betracht zieht. Vom Tod Jakobs ausgehend wird das narrative Muster rückwärts entwickelt; hieraus ergibt sich der Titel des Romans, der zugleich seinen Verlauf benennt und seine Sukzession als eine analytische präfiguriert: Ich habe bei der Geschichte, die darin steht, nur eine Form, eine Lösung gesucht, diese Geschichte zu erzählen. Es ist aber dabei keinerlei germanistische oder konstruktivistische Überlegung vorausgegangen, sondern die Verhältnisse der Geschichte haben einfach die Darstellung bestimmt. Der Mann, um den es geht, ist tot am Ende der Geschichte, das ist überhaupt die Geschichte108
Was bleibt nun von dem Protagonisten, den der Titel als Gegenstand der Untersuchung ausweist, wenn nicht die Erinnerungen der Beteiligten, die in Inneren Monologen und Gesprächen über den Toten narrativ vermittelt werden können? [I]ch versuchte mir klarzumachen, daß der Held, Jakob, tot ist, wenn der Erzähler anfängt. Das bringt natürlich die Frage herauf: was bleibt von einem toten Menschen übrig im Gedächtnis seiner Freunde oder seiner Feinde oder seiner Geliebten? Und da wurde mir klar: natürlich, die erinnern sich an ihn. Widersprüchlich, einer weiß was anderes als der andere, sie streiten sich mitunter, wenn nicht immer, sie erinnern sich. Das wäre der Monolog. Sie reden über ihn und versuchen ihre Meinung gegen andere durchzusetzen: das wäre der Dialog. Und dann ist der Erzähler berechtigt, das hinzuzutun, was er auch noch weiß.109
In dieser Aussage führt Johnson zwei der drei in den ›Mutmassungen‹ zur Anwendung gebrachten Erzählmodi – Monolog, Dialog – auf das Sujet zurück, den Tod eines Menschen, mit dem die Charaktere, die zu Wort kommen, durch ihre jeweilige Erinnerung verbunden sind und dessen Tod sie zu ergründen suchen. Der Drucktypenwechsel, der jeweils den »Wechsel der erzählenden Optik« bzw.
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Bienek: Werkstattgespräch mit Uwe Johnson, S. 203. Neusüß: Über die Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit, S. 185. Bienek: Werkstattgespräch mit Uwe Johnson, S. 203.
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der »Methode«110 signalisiert, ist eine erste Gemeinsamkeit der ›Mutmassungen‹ mit dem ›Ulysses‹. Schlicht und pointiert kennzeichnet Greg Bond die ›Mutmassungen‹ als einen »Roman, in dem die Leute reden«.111 Die Dialoge, deren formales Vorbild in der Dramatisierung der ›Circe‹-Episode im ›Ulysses‹ zu finden wäre, sind der charakteristische Modus für die beträchtliche mimetische Dimension des Romans; auf Inquit-Formeln wird ebenso wie auf eine Benennung der Sprecher konsequent verzichtet. Allein Spiegelstriche signalisieren (wie in Dialogpassagen des ›Ulysses‹) den Sprecherwechsel typographisch, die Identität der Dialogpartner erschließt sich dem aufmerksamen Leser erst nachträglich.112 Dabei weist jeder Sprecher ein durchaus charakteristisches Idiom auf, das Verwechslungen zwar nicht ausschließt, jedoch präzise auf die jeweilige Persönlichkeitsstruktur und den Horizont der Figur abgestimmt ist. Potts maßgeblichem »Handbuch« zu den ›Mutmassungen über Jakob‹ zufolge sind die Dialoge »sozusagen vorweggenommene Teile des V. Kapitels«,113 da sie erst dort ihre räumliche und zeitliche Kontextualisierung erfahren. Die Selbstaussagen Johnsons legen es nahe, eine funktionale und strukturelle Hierarchie der drei Erzählmodi anzunehmen, in der den Dialogen eine konstitutive Funktion zukommt, da sie als Rahmen und Träger der narrativen Struktur figurieren – zumal die Aufteilung des Textes in fünf Großkapitel primär durch den Sprecherwechsel der Dialogpassagen motiviert scheint, die wiederum gestützt werden durch eine jeweils wechselnde Konstellation von Monologen. Eine Visualisierung dieser Struktur, die sich auf Selbstaussagen Johnsons und die Analyse Popps114 stützt, sähe wie folgt aus: 110 111
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Uwe Johnson-Archiv: JJ 39 (UJ an MB), 7.7.57, S. 1. Greg Bond: Die Klassengesellschaft und die Dialektik der Gerechtigkeit. Uwe Johnsons DDR-Erfahrung und seine Lukács-Lektüre, in: »Wo ich her bin…« Uwe Johnson in der D.D.R., hg. v. Roland Berbig u. Erdmut Wizisla, Berlin 1993, S. 217–239, hier S. 237. Die Dialogpartner des ersten und zweiten Kapitels sind Jonas und Jöche, was sich dem Leser erst recht spät offenbart, da ihm die Charaktere noch nicht bekannt sind; erst in II (MüJ, S. 72) ist Jonas durch den sich anschließenden Monolog an seinen Reiseplänen zu erkennen, Jöche kommt ab dem Zeitpunkt seines Eintritts in die Erzählung (MüJ, S. 58) als Gesprächspartner in Betracht; diese Annahme wird im weiteren Verlauf durch verschiedene Andeutungen gestützt. In III, wo die Dialoge jeweils Ausschnitte aus dem Telefonat zwischen Gesine und Jonas darstellen, ist die Identifikation unproblematisch, da sich die Teilnehmer mit Namen melden (»– Hier ist Cresspahl. Wer spricht. / – Blach. Gesine.« (MüJ, S. 142)). Die Gesprächspartner Gesine und Rohlfs in den Dialogen in IV sind für den Leser mit genauer Kenntnis der Figuren recht bald erkennbar, Rohlfs bereits mit den ersten Sätzen (also MüJ, S. 233), Gesine spätestens auf S. 264. Hansjürgen Popp: Einführung in Uwe Johnsons Roman ›Mutmaßungen über Jacob [sic]‹, Stuttgart 1967, S. 20; vgl. hierzu auch Kap. 4.4.6. Vgl. Hansjürgen Popp: Einführung in Mutmassungen über Jakob, in: Uwe Johnson. Materialien, hg. v. Rainer Gerlach u. Matthias Richter, Frankfurt a.M. 1984 (suhrkamp taschenbuch 2061), S. 49–69, hier S. 60.
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Rahmenerzählung zeitliche Situierung: nach Jakobs Tod – Kap. V – Sätze außerhalb der Dialog-Klammer: Aber Jakob ist immer quer über die Gleise (Kap. I: M, S. 7); Und er ist immer über die Gleise gegangen (Kap. IV: M, S. 300) in die Rahmenerzählung eingehängt:
3 Dialoge (zeitlich aufeinander folgend) 1. Dialoge Kap. I + II: Jonas – Jöche (Weinlokal in Westberlin) 2. Dialoge Kap. III: Ferngespräch Gesine – Jonas 3. Dialoge Kap. IV: Rohlfs – Gesine Dialoge müssen sich den Erzählsträngen (qua Anordnung) anpassen; sie gewinnen zum Ende hin an Bedeutung und Gehalt; die Rahmenerzählung hingegen tritt zurück in die Dialoge eingehängt: – Monologe ›M‹ dreier Charaktere (Rohlfs, Jonas, Gesine) – Erzählungen ›E‹, in denen der Autor »das hinzutut, was er auch noch weiß« → insgesamt (M+E) 4 Erzählstränge, die (weitgehend) dem chronologischen Ablauf folgen
Aufgrund der Tatsache, dass die Dialoge gegen Ende der erzählten Zeit zu situieren sind, kommt ihnen ein gewisser Grad an Auktorialität zu, ein Wissensvorsprung selbst gegenüber der heterodiegetischen narrativen Instanz der Erzählpassagen.115
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Dies lässt sich etwa im Gespräch zwischen Jonas und Jöche beobachten: »Sie ist hinter der Grenze, und jetzt: sie ist doch durch Jakobs Bahnhof gefahren unter seinem Turm vorbei, der Zug hat gehalten von 17.03 Uhrzeit bis 17.12 an Bahnsteig drei auf Gleis fünf […] (sie hatte doch nur noch Jakob, deine Mutter glaubt nie dass du vielleicht erwachsen bist und kannst allein für dich aufkommen, sie sollte ihn nun noch einmal sehen, zum letzten Mal [bei seinem Besuch im Flüchtlingslager im Westen]) […]. Jedenfalls hat sie noch mit Jakob telefonieren wollen […] die Nummer war schon richtig und Jakob seine, nur sie bedeutet bei der Post was anderes […]« (MüJ, S. 54). Typische Merkmale, die üblicherweise auf einen auktorialen Erzähler hindeuten, sind die präzisen Zeit- und Ortsangaben (ein Geschehen betreffend, bei dem die Figuren nicht zugegen gewesen sein können), die Innensicht, mit der die Gefühlslage von Jakobs Mutter skizziert wird, bis hin zu der Vorausdeutung »sie sollte ihn nun noch einmal sehen, zum letzten Mal«.
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Die zugrunde liegende Annahme eines hierarchischen Verhältnisses wird gestützt durch den Umstand, dass die Dialoge als einzige der drei Formen (freilich erst durch das V. Kapitel) eine räumliche und zeitliche Situierung erfahren. Im Gegensatz zu den Dialogen ist der situative Kontext der Monologe für den Leser zumeist nicht erschließbar; die Mehrzahl scheint aus der Zeit nach Jakobs Tod zu stammen. In einzelnen Fällen lassen die Monologe jedoch gerade das Wissen um Jakobs Tod vermissen oder sind durchweg im Präsens gehalten bzw. schalten zwischen Präteritum und Präsens hin und her. Damit verbunden ist auch die Frage nach der narratologischen Klassifizierung dieser Erzählpassagen. Handelt es sich um veritable Innere Monologe, d.h. um Bewusstseinsstenogramme wie in ›Penelope‹ – oder um Reflexionen bzw. gar um erzählte Monologe? Rohlfs, Jonas und Gesine sind ›Sprecher‹ der drei Monologstränge, wobei die Namen jedoch nie genannt werden und sich dem Leser allein aus den jeweiligen Bewusstseinswelten und den Eigenarten in der Diktion erschließen. Dabei wird dem Leser eine erhöhte Aufmerksamkeit abverlangt, jedoch handelt es sich bei der Zuordnung der Monologe keineswegs um eine unlösbare Aufgabe, da den ›Sprechern‹ in ähnlicher Weise wie auch Stephen, Leopold Bloom und Molly im ›Ulysses‹ ein unverkennbares Idiom von Uwe Johnson ›zugeschrieben‹ wird: Die Namenlosigkeit der Leute im Druck gründete sich auf das Vertrauen, der Leser werde aus der Sprech- und Redeweise der Leute erkennen, wen er vor sich hat. Das tut man ja in jedem Eisenbahnabteil, wenn man einer Unterhaltung zuhört. Man weiß ungefähr, woher die Leute kommen und auf welche Schule sie gegangen sind und wohin sie unterwegs sind. Und diese interessante Mühe des Zuhörens, die habe ich den Lesern der deutschen Ausgabe allerdings zugemutet.116
Johnson nutzt nicht nur – wie Joyce im ›Ulysses‹ – in seinen Monologpassagen die Möglichkeit, Figuren durch ihre Sprache stärker denn durch auktoriale Charakterisierung fasslich werden zu lassen, auch ihre Wirkungsziele, eine Annäherung an eine möglichst authentische Mimesis menschlicher Wahrnehmungsweisen, entsprechen einander. Insofern kann es kaum überraschen, dass sich Johnson bei der Beschreibung der Gedankenverläufe in den Monologen auf Arno Schmidts ›Berechnungen‹ beruft: »Ich habe mit der Einzelheit angefangen. Das ist ein sehr üblicher Vorgang in der Tätigkeit des Gehirns, diese punktförmige Erinnerung ist von Arno Schmidt auf überzeugende Weise beschrieben worden.«117 Die Monologe der Figuren sind ähnlich wie die Dialoge nicht ungeordnet auf die fünf Kapitel verteilt; das erste Kapitel umfasst nur Monologe von Rohlfs und Gesine, in II finden sich ausschließlich Monologe von Rohlfs und Jonas,
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Johnson: »Ein verkannter Humorist«, S. 286. Johnsons Einschränkung auf die Leser der deutschen Ausgabe rührt daher, dass in der englischen Übersetzung des Romans die Namen der Dialogsprecher ergänzt wurden. Bienek: Werkstattgespräch mit Uwe Johnson, S. 200.
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erst in den Kapiteln III und IV kommen alle drei Monologsprecher zu Wort, in dem reinen ›Erzählkapitel‹ V keiner von ihnen. Die Monologe Jonas Blachs etwa sind durchweg im Präteritum gehalten und lassen eine deutliche Trennung zwischen erzählendem und erlebendem Ich erkennen: »Er [Jakob] dachte bedachte ja etwas, heute weiss ich was es war« (MüJ, S. 75).118 Dennoch weisen einige von ihnen Formeln der Vergegenwärtigung (»Ich fühlte wie jetzt [Hervorhebung von mir, M.J.] die Bewegung der Uhr an meinem Handgelenk und begriff das Ticken nicht mehr.« (MüJ, S. 110)) oder durch ihre assoziative Verknüpfung heterogener Wissens- und Bewusstseinsbestände einen hohen Grad an Unmittelbarkeit auf: Aber nach der Ausweiskontrolle konnte ich nicht wieder einschlafen, weil der Zugfunk auch eine Meinung hatte, Kultur, Politik und Unterhaltung, ohne Ende sang der fette selbstgefällige Bass in meinem Kopf: Hier bin ich. Und was soll ich hier. Unterschreiben dies Papier? Davon hab ich keinen blauen Dunst, hier reimte es sich mit Kunst. Und ja das Schreiben und das Lesen. Ist nie mein Fall gewesen. Denn schon von Kindesbei. Gern hat er die Fraun geküsst. Hat nie gefragt ob es gestattet ist. In ihm habe es gesprochen er solle sie sich nehmen. Aber, aber jedoch: auch er fühlte der wahrhaften Liebe Glut. Und wie weh oft die Falschheit tut. (MüJ, S. 72)
Wenngleich diese für Jonas charakteristischen und belesen anmutenden Häufungen von Bewusstseinsfragmenten stark an die Inneren Monologe des Stephen Dedalus aus dem ›Ulysses‹ erinnern, so ist doch die Differenz offensichtlich: In den ›Mutmassungen‹ handelt es sich um von einer späteren Warte aus erzählte Bewusstseinsnotate. Wenn der Leser zum ersten Mal die Stimme Gesine Cresspahls vernimmt, klingt diese in ihrer charakteristischen Diktion geradezu wie der noch ausstehende traditionelle Erzähleinsatz einer homodiegetischen Instanz: »Mein Vater war achtundsechzig Jahre alt in diesem Herbst und lebte allein in dem Wind, der grau und rauh vom Meer ins Land einfiel hinweg über ihn und sein Haus […].« (MüJ, S. 8f.) Gesines Monologe stehen im Präteritum und sind daher eher als streams of memory, denn als streams of consciousness zu klassifizieren; ihre Erinnerungen sind allerdings stärker an Sinneswahrnehmungen gebunden und erscheinen daher durchweg unmittelbarer als die Jonas Blachs, was ihnen einen poetisch-bildlichen,
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Die Monologe sind typographisch durch ihre fortlaufende Kursivierung herausgehoben, die Johnson einem Brief an Sara Lennox zufolge direkt von Faulkner übernommen haben will: »Ich bin fast sicher, daß ich die Verwendung des Kursivdrucks als optische Kennzeichnung subjektiver Vorgänge (innerer Monolog etc.) in ›The Sound and the Fury‹ zum ersten Mal als wirksame Technik begriff und als solche übernahm.« (Brief an Sara Lennox vom 28.1.1973, zit. n. Sara King Lennox: The Fiction of William Faulkner and Uwe Johnson. A Comparative Study, Diss. (Univ. Wisconsin) 1973, S. 93.)
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rhythmisierten und sinnlichen Duktus verleiht, wie in der folgenden Passage, in der Gesine sich die Zugfahrt mit Jakob nach Jerichow vergegenwärtigt: und noch immer so steif schlaftrunken wie ich neben Jakob lehnte am Fahrkartenschalter stand ich am Schluss des Schnellzuges und hielt mich fest an den Griffen der verschlossenen Tür und sah die Gleise scharf sich aufbäumen hinter unserer heulenden Fahrt, zurückbleibende Signale schrien uns hinterher rot rot, der Wald lief weg mit ihnen als hätt er Augen bekommen und dann kam die grosse Wiese mit dem grauen Mondlicht und die eingeschlafenen Knicks rutschten zum Horizont hinunter mit den sanften Abhängen des nächtlichen Landes, bis die Wolken wieder zusammentrieben und wir schwarz durch das Schwarze jagten in dem engen schwankenden Gehäuse, dicht und finster und hoch standen Menschen um uns wie Bäume und schwiegen und ich schwieg und Jakob schwieg und das Land schloss sich ebenmässig über der aufgerissenen Lärmfurche hinter uns um uns zu Stille. Aber Jakob hielt mich fest an einer Schulter. (MüJ, S. 164)
Je präsenter die Erinnerung im Figurenbewusstsein aufscheint, desto nachhaltiger wirkt sich dies auf die stilistische Gestaltung der Passagen auf; die Gedanken gewinnen an Dynamik, visuelle und akustische Impressionen werden synästhetisch vermischt, drängen über die herkömmliche Syntax hinweg. Als Gesine den Fußweg durch den Gräfinnenwald rekapituliert, dringt ihr Strom der Erinnerung – angeregt durch die seit ihrer Kindheit vertraute Umgebung, die für sie als Mnemotopos figuriert – in eine zweite, weiter zurückliegende Zeitebene hinein, die später benannt wird »ich bin dreizehn Jahre alt jeden Augenblick vor Jakobs grossflächigem reglosem Gesicht und seinen halb geschlossenen Augen« (MüJ, S. 193): Er sah zu mir wie ich mir das triefende Tuch aus den Haaren zog und in den Ring schlang, an dem wir die Pferde anbanden, als er mich mitgenommen hatte zum Beschlagen, und es war nicht das blosse Weisstdunoch du bist von einem Fuss auf den anderen getreten […] es war Jakob, der übriggeblieben war für mich. Der mich angehalten hatte am Arm, da war alles wirklich. (Ich weiss dass die Pferde tot sind.) Nun wollen wir gehen in die Stadt meines Vaters und ansehen wie sie abgefallen ist von meiner Erinnerung. […] [A]llein hätte ich mich gewiss verlaufen in den unzähligen Wegen und wäre in den Typhusfriedhof gekommen an die offenen Gruben wie in dem Sommer nach dem Krieg […] und die Toten auf den Leiterwagen wie Korngarben und wie ich einen nackten Mädchenfuss steif herausrutschen sah aus der fl eckigen Zeltplan und mit geschlossenen Augen den hölzernen Aufschlag hörte unter mir dröhnend auf meinen Lidern […] und es fragte plötzlich aus mir Ist das wahr Jakob mit den Konzentrationslagern: […], ich bin dreizehn Jahre alt jeden Augenblick vor Jakobs grossfl ächigen reglosem Gesicht und seinen halb geschlossenen Augen und höre ihn sagen Ja das ist wahr. Damit kann man nicht leben, das ist unbrauchbar, wie soll es verantwortet werden. (MüJ, S. 191–193)
Die parataktische interpunktionslose Reihung der Erinnerungsströme Gesines gemahnen in ihrer höchsten Intensität aufgrund ihrer polysyndetischen ›und ‹-Reihung der Beschreibungen (»und die Toten auf den Leiterwagen wie Korngarben und wie ich einen nackten Mädchenfuss steif herausrutschen sah aus der fleckigen Zeltplan und mit geschlossenen Augen den hölzernen Aufschlag hörte unter mir dröhnend auf meinen Lidern […] und es fragte plötzlich aus mir«) stark 210
an Molly Blooms Jugenderinnerungen an Gibraltar im stream of consciousness der ›Penelope‹-Episode: […] and the Spanish girls laughing in their shawls and their tall combs and the auctions in the morning the Greeks and the jews and the Arabs and the devil knows who else from all the end of Europe and Duke Street and the fowl market all clucking outside Larby Sharons and the poor donkey slipping half asleep and the vague fellows in the cloaks asleep in the shade on the steps and the big wheels of the carts of the bulls […] (U 18.1585–1592)
Als Teilfazit bleibt festzuhalten, dass die Monologe in den ›Mutmassungen über Jakob‹ eine erhebliche Bandbreite auf der Skala zwischen Mimesis und Diegesis abdecken, bzw. in ihrer Wirkung zwischen ›mittelbar‹ und ›bewusstseinsunmittelbar‹ schwanken (oft innerhalb einer Textpassage) und im einen Extrem bestenfalls quasi-erzählte Monologe, in denen weniger das Unbewusste der Figuren zur Sprache kommt, als deren bewusste Reflexion, andererseits durchaus streams of memory oder unmittelbare Bewusstseinsnotate darstellen, die in ihrer stilistischen Formung (oder scheinbaren Ungeformtheit) das Modell der autonomen Inneren Monologe im ›Ulysses‹ durchscheinen lassen. Dessen ungeachtet können in die Erzählabschnitte, in denen der Erzähler erklärtermaßen das hinzutun soll, »was er auch noch weiß«, Bewusstseinsfragmente unterschiedlicher Figuren montiert sein, die diese (mutmaßlich) diegetischen Passagen unmittelbarer erscheinen lassen als die Monologe. Bevor diese Erzählpassagen, die immerhin den größten Anteil des Romans ausmachen, auf ihre formalen Spezifika hin befragt werden, soll jedoch der Fokus auf die Montage der unterschiedlichen Manieren des Erzählens fallen, da sowohl die Brüche als auch die Formen der Verknüpfung zwischen diesen heterogenen Fragmenten das mosaikartige Erscheinungsbild der ›Mutmassungen‹ vorrangig prägen und die Anlehnung an die Stilvielfalt des ›Ulysses‹ deutlich hervortreten lassen: also den Wechsel der Erzählweisen von Episode zu Episode, der von Johnson selbst als charakteristisch betont wurde. Zwar mag Johnsons Hinweis, dass der Autor in den Erzählpassagen »das hinzutut, was er auch noch weiß« entsprechend Popps Einschätzung suggerieren, dass die Erzählungen die Funktion haben, dem »Leser die vielleicht fehlende Anschauung zu vermitteln«,119 dennoch wäre es zu einfach, sie als nachträgliche Aufschlüsselung vorangegangener Monologe oder Dialoge abzutun. Dies beweist neben Johnsons Erläuterung, dass er bei der Auswahl der jeweiligen »Manier des Erzählens« überlegt habe, »ob der Blickwinkel des Erzählers oder der Monolog einer Person oder ein Dialog den jeweiligen Teil der Handlung am besten erfassen würde«,120 auch eine kurze synoptische Untersuchung der Überleitungen zwischen Monolog-, Dialog- und Erzählpassagen. Vielfach sind die Brüche
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Popp: Einführung in Mutmassungen über Jakob, S. 50. Roloff: Gespräch mit Uwe Johnson, S. 177.
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zwischen ihnen unvermittelt (oft wechselt der Erzählmodus mitten im Satz)121 und/oder ohne scheinbaren kausallogischen Zusammenhang, dennoch sind zahlreiche Monologe etwa im Anschluss an Erzählpassagen oder als die Innensichten und Interpretationen der beteiligten oder unbeteiligten Figuren ergänzender Kommentar zu den Dialogen zu lesen, so auf MüJ, S. 143, wo Gesine Jonas eingesteht: »Und wenn ich könnte würd ich mir diesen Dienstag übelnehmen: […].« Der Doppelpunkt deutet bereits die Fortführung der Reflexion über »diesen Dienstag« in Gesines Erinnerung an, die der folgende Monolog dann auch einlöst: »Ich sage ›Guten Tag. Ist Herr Abs zu Hause […]‹« (MüJ, S. 143). Ein Dialogsegment, in dem Jonas und Jöche darüber mutmaßen, »was sie« – gemeint sind die Vertreter des SSD – Jakob im Verhör »gesagt haben« mögen (MüJ, S. 45–47), mündet in einen Monolog Rohlfs, mit dem das »sie« aus der Anonymität gelöst wird, Jakobs Gesprächspartner während des besagten Verhörs selbst zu Wort kommt und die Tatsachen zu dem spekulativen Gespräch nachliefern darf, indem Rohlfs den Gesprächsverlauf rekapituliert: »Ich stellte mich auf den Boden der Tatsachen.« (MüJ, S. 47) Die Dialoge können ebenfalls auf die Erzählpassagen Bezug nehmen, sie fortführen, ergänzen oder kommentieren. Das Erzählsegment von dem großen Gespräch in Cresspahls Haus schließt mit einer Inquitformel und einem Doppelpunkt: »Er selbst [Jakob] wandte sich ab von Cresspahls über dem Revolver gekrümmten Fingern und sagte unbeirrbar gleichmütig zu Herrn Rohlfs: […].« Die direkte Rede wird im darauf folgenden Dialog von Gesine aus der Erinnerung ergänzt: »–Er sagte: Ich bring dich um wie einen tollen Hund wenn. Und erinnere dich, sie haben gleich hinterher Brüderschaft getrunken.« (MüJ, S. 224) Blickt man über die eingeschobenen »artfremden« Textelemente hinweg, so lassen sich Verknüpfungen zwischen gleichartigen Erzählmodi feststellen, vornehmlich natürlich zwischen den (weitgehend) fortlaufenden Dialogen,122 aber auch Monologe und Erzählpassagen scheinen sich häufig ›aneinander zu erinnern‹. Rohlfs monologische Reflexion über Jakob Abs, »Ich hätte ihn gern gefragt wie er denn lebt. Was ein ernsthafter Mensch dachte ich« (MüJ, S. 50), wird in der nächsten Monologpassage Rohlfs weitergeführt: »aber ich konnte ihn natürlich jetzt nicht fragen, wie er denn lebt« (MüJ, S. 52).
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Die nur aus einer Zeile bestehende Erzählpassage MüJ, S. 76: »Als der Abendzug in Jerichow ankam, sass Herr Rohlfs« geht nahtlos syntaktisch (wenngleich typographisch unterbrochen) in den Monolog desselben über: »schon lange in der Bahnhofswirtschaft beim Abendessen.« Als Gesine Jonas von Jakobs Besuch im Westen berichtet, schließt die entsprechende Dialogpartie mit ihren Worten »und obwohl man doch mindestens drei Minuten unterwegs ist« (MüJ, S. 275) und wird nach dem Einschub einer Erzählpassage syntaktisch nahtlos fortgesetzt: »– war ich doch jedes Mal überrascht, dass er keine Uniformjacke trug« (MüJ, S. 276).
Die Bandbreite an Formen der Verknüpfung heterogener Erzählfragmente reicht vom nahtlosen, die Syntax fortschreibenden Übergang über den inhaltlichen Anschluss bis zum völlig zusammenhanglos erscheinenden Bruch; selbst bei den härtesten Fügungen bleibt die kommentierende Funktion der Montage jedoch immer erhalten, da das Rezeptionsverhalten des Lesers – wie die theoretischen Schriften Eisensteins oder das Kuleschow-Experiment für das Medium des Films eindrucksvoll bewiesen haben123 – immer auf Synthese, Kohärenz und Sinnzuweisung hinstrebt. Johnson hält die Schnitte zwischen den Einblendungen der unterschiedlichen Stimmen stets bewusst und wählt als optische Signale den Drucktypenwechsel und die Absatzmarkierungen durch eine oder mehrere Leerzeilen, wodurch zugleich der Artefaktcharakter und das vorherrschende analytische Schema des polyphonen Arrangements hervorgekehrt werden. Die Erwähnung eines Erzählers, der »berechtigt [ist], das hinzuzutun, was er auch noch weiß«, bedeutet nun nicht, dass Johnson die unterschiedlichen Stimmen in den monologischen bzw. dialogischen Modi vermittels eines auktorialen Erzählers synthetisiert, der durch Formen der Rede- und Bewusstseinsdarstellung die Polyphonie des Textes in einen geschlossenen narrativen Zusammenhang überführt. Vielmehr ist die Erzählinstanz, die in den narrativen Passagen vernehmbar ist, relativiert durch ihre prinzipielle Offenheit für Stimmen und Einschübe jeglicher Art, durch ihre Unzuverlässigkeit und durch ein (auch im ›Ulysses‹ und in der ›Ingrid Babendererde‹ beobachtetes) »strange failing of the narrative memory«, das sowohl auf der Makroebene repetitives Erzählen zulässt, als auch wiederholte Leerstellen auf der Mikroebene nicht aufschlüsselt: »Dort lebte ein Mann namens Cresspahl« (MüJ, S. 15) heißt es, wenige Seiten nachdem der Leser aus Rohlfs Monolog bereits die ›harten Fakten‹ erfahren hat: »Achtundsechzig Jahre alt, Kunsttischler, wohnhaft Jerichow Ziegeleistrasse.« (MüJ, S. 9) Der häufige Gebrauch des unbestimmten Artikels kann als Symptom für eine unzuverlässige Erzählinstanz gewertet werden, die vorausgegangene Informationen nicht in ihren Erzählduktus einzubinden vermag, der die Monologe der Figuren offenkundig unbekannt sind und die selbst eigene Berichte nach kurzer Zeit vergisst, etwa die Tatsache, dass Rohlfs und Hänschen mit einem Auto der Marke Pojbeda reisen: Wenn es in den Erzählpassagen heißt »Drei Schritt 123
Eisenstein betrachtet unterschiedliche filmische Einstellungen wie Zeichen, deren Fügung Sinn generiert; in der ›Kollision der Einstellungen‹ stellt der Zuschauer automatisch einen Sinnzusammenhang her (vgl. Knut Hickethier: Film- und Fernsehanalyse, 2. überarb. Aufl., Stuttgart 1996 (Sammlung Metzler 277), S. 148). Der russische Regisseur Lew Wladimirowitsch Kuleschow (1899–1970) führte bahnbrechende Experimente zum Montageverfahren durch; er montierte beispielsweise drei Einstellungen (die erste zeigte einen Suppenteller, die zweite eine Leiche in einem Sarg, die dritte ein kleines Mädchen) mit dem Gesicht eines Schauspielers; zwar handelte es sich bei letzterem immer um dieselbe Aufnahme, dennoch glaubten die Zuschauer bei jeder Kombination einen neuen emotionalen Ausdruck in seinem Gesicht zu erkennen.
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vor der Laterne hielt an diesem Tage ein Automobil« (MüJ, S. 43), und »ein Wagen vom Typ Pojbeda schwenkte in die Auffahrt« (MüJ, S. 186), so scheint der Erzähler über das Registrieren optischer Eindrücke hinaus keine Verknüpfung des Beobachteten herzustellen, statt dessen wird diese der Gedächtnisleistung des Lesers aufgegeben. Diese Erzählinstanz erhebt sich nicht über die Stimmen der anderen Modi, wenngleich sie nicht den epistemologischen Beschränkungen der homodiegetischen Dialog- und Monologsprecher unterliegt, die Erzählpassagen sind diesen neben- oder gleich geordnet. An die Stelle traditioneller narrativer Synthese tritt das Verfahren der zergliedernden Analyse, die Polyphonie wird nicht harmonisiert, vielmehr wird den Stimmen ein größtmögliches Eigenrecht zugestanden, das sich in der Form des Romans niederschlägt und m.E. auch die Annahme einer strukturellen »Hierarchie« der Erzählformen hinfällig bzw. diese in ihrem Status gleichwertig macht. Die vermittelnde Instanz der Erzählpassagen macht nicht von den kognitiven Potentialen Gebrauch, die einem heterodiegetischen Erzähler traditionell zustehen. Die klassische Perspektive ist tatsächlich »insofern aufgehoben, als sie sich auf die Manieren des Erzählers, diese Allwissenheit, bezieht«,124 der »Schiedsrichter«125 arbeitslos bzw. entlassen. Stattdessen scheint auch der Erzähler auf die Anhörung von Zeugen angewiesen und tritt hinter diesen einmontierten Zeugnissen zurück. Die drei umfangreichsten Zeugenberichte stammen von der Sekretärin des Instituts für Anglistik, von Jakobs Melderin und von seiner Wirtin; diese werden über mehrere Seiten hinweg als quasi-homodiegetische, monologische Binnenerzählungen einmontiert. Alle drei Zeugenfiguren wenden sich an einen nicht in Erscheinung tretenden Adressaten, dessen Anteile an dem Gespräch weitgehend ausgespart werden, so dass es rein monologisch bleibt: Die Sekretärin telefoniert mit einer Freundin, möglicherweise ihrem Mann, die Melderin unterhält sich »mit ihrer Freundin im Vorzimmer der Prüfung« (MüJ, S. 235), Jakobs Wirtin macht ihre Aussage gegenüber einem nicht näher bestimmten »wir«, das entweder Herrn Rohlfs und Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes bezeichnet – oder dem Erzähler eine Rolle innerhalb der Diegese zuweist. Die Zeugenberichte suggerieren Oralität und sind geprägt vom jeweiligen Idiom der Sprecherinnen. Die Redepassagen der Sekretärin wirken wie mitstenographiert: »Verstehst du nicht, hm? […] Das erfährst du alles früh genug. Ja und da, das hab ich dir ja gleich vorhin gesagt, da kam der Chef, kennst ihn ja, hast ihn doch neulich gesehen, der so aussieht wie ein Igel […]« (MüJ, S. 228f.), auch die Erzählung der Melderin ist von Formeln gesprochener Sprache und damit
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Bienek: Werkstattgespräch mit Uwe Johnson, S. 198. Uwe Johnson-Archiv: JJ 39 (UJ an MB), 7.7.57, S. 1.
einem hohen Grad von Unmittelbarkeit geprägt, zudem verwendet sie zahlreiche technische Fachbegriffe aus dem Arbeitsfeld der Dispatcher: Der, das ist ein Lustiger. Hättst gedacht? ich kann es aber auch nicht so sagen. Schon wie er reinkommt […]. Ich dacht ja wunder was als ich zu ihm kam […]. Was ist ein Blockfeld: fragt er. Ein elektrisches Schloss zum Verriegeln von Fahrtstrassenhebeln und Signalen. Stimmt das? ja. […] Wenn der F-d-l Gleis 1 freigeben soll… er lässt mich erklären. Der F-d-l blockt sein Befehlsabgabefeld A2, damit gibt er dem Stellwerk A2 (Befehlsempfangsfeld) frei. […] jetzt können die im Stellwerk Signal A2 ziehen: Einfahrt. […] Das mein ich. (MüJ, S. 235f.)
Die Zeugenaussage der Wirtin erscheint demgegenüber stärker vermittelt und erhält dadurch einen amtlichen Ton, da die Aussagen im Redebericht wiedergegeben werden: »Sie hat ihn ankommen hören, er war sehr leise, aber sie ist immer schon lange wach bevor der Wecker klingelt, sie wartet darauf (sagt sie), […] sie hat noch gesagt er sieht so müde aus, was er darauf geantwortet hat weiß sie nicht mehr« (MüJ, S. 298). Besonders die Erzählpassagen scheinen dem Autor dafür geeignet, Monologfragmente aufzunehmen, die teilweise durch Kursivdruck hervorgehoben sind, teilweise unmarkiert bleiben. An eine Beschreibung Cresspahls, die bereits durch die Wahrnehmung von Jonas als seinem Gegenüber gebrochen scheint, schließt sich ein längerer Monolog Jonas an: Cresspahl »verbeugte sich und schickte sie [Bekannte] mit eben dieser angelegentlichen Gemessenheit von dannen. Es wird mir nie gelingen eine ganze Stadt zu bewohnen: dachte ich: und wenn ich dreissig Jahr ansässig wäre […]« (MüJ, S. 177). Ebenfalls auf Cresspahl bezieht sich ein Gedankenfetzen Gesines, der als Kommentar zum Geschehen in seiner Darstellung wie ein bewusstseinsunmittelbares Blitzlicht aufscheint: »Cresspahl kam am frühen Nachmittag an, so dass Jonas noch den Schnellzug nach Norden erreichen konnte; sie hatten auf dem Bahnhof etwa zehn Minuten sich zu besprechen und wollten am anderen Morgen wieder zusammentreffen. Mein Vater wird sich zu Tode trinken.« (MüJ, S. 301) Während dieser nicht durch Kursivierung markierte Fremdkörper splitterartig ohne einen offensichtlichen kausallogischen Zusammenhang in den Text montiert ist, vollzieht sich der Übergang in Monologsegmente häufig so subtil, dass diese Bewusstseinsmimesis geradezu zwingend aus der narrativen Dynamik der flexiblen Erzählhaltung hervorgegangen sein muss; dabei werden nicht selten alle narrativen Modi der Skala in Richtung Mimesis hin durchlaufen, wie etwa in der folgenden, gleitenden Verlagerung des Erzählstandpunktes über den Gedankenbericht, die indirekte Gedankenrede, die erlebte Rede bis in den autonomen Inneren Monolog: Er [Jonas] wußte nicht mehr wann sie Jakobs Namen erwähnt hatte, es konnte ja nun aber nicht sehr unauffällig gewesen sein; und es ging so zu dass man mit einem Namen eine ganze Zeit und Verbindung wichtiger Ereignisse überhören konnte, wie oft habe ich nun an ihr vorbeigeredet. Wieviel Jahre? fünf oder acht Jahre sah er sie jetzt neben Jakob an der Steilküste gehen abends […] er hörte auch ihre Stimme rufen
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Hej und leiser erzählen Soll ich dir mal was sagen was das für einer war, fühlte Jakobs grosse ruhige Gestalt neben ihr zuhören; er wird auf das Wasser gesehen haben: ich möchte sie bloss mal beide zusammen sehen. (MüJ, S. 90f.)
Gleiches ist bei der narrativen Vermittlung gesprochener Rede in den Erzählpassagen zu beobachten, etwa wenn der bereits in eine Erzählpassage eingefügte Monolog Jonas Blachs in die autonome direkte Rede transformiert wird, ohne dass Cresspahl als Sprecher noch einmal besonders hervorgehoben würde: dies lustige Befremden sei es, wenn man die Worte in regierungstreue und aufständische Truppen unterteile unterscheide und sie als Uniformen doch nebeneinanderstelle, aber es sei eben Jöche gewesen, kennsu Jöche? Jakob, geh mal mit ihm zu Jöche, erklär ihm dass das kein Eisenbahner ist. Ja? (MüJ, S. 178)
Hier scheint der Erzähler darauf zu vertrauen, dass dem Leser das Cresspahlsche Idiom bereits so geläufig ist, dass er das autonome Redefragment problemlos zuordnen kann – was in der Tat der Fall ist. Im Verlauf der Lektüre gewinnt der Leser eine gewisse Sicherheit in der Zuordnung der selbständigen Stimmen, die in den Erzählfluss montiert werden, sowie im Umgang mit einer Erzählinstanz, die in höchstem Maße flexibel gestaltet ist und sowohl das typische Idiom anderer Figuren annehmen kann oder hinter ihrem jeweiligen Bewusstsein in unterschiedlichen Graden zurücktreten kann. Dem Leser ist es aufgetragen, die zahlreichen Brüche im Fluss der narrativen Passagen zu synthetisieren, sie den Wahrnehmungswelten der unterschiedlichen Figuren zuzuordnen und sie in Bezug zur Erzählung zu setzen. Nichtsdestoweniger bleiben die harten Brüche im Erzählfluss, zumal wenn sie durch Typenwechsel herausgehoben sind, hart und unvermittelt, etwa wenn es mitten im Gespräch zwischen Rohlfs, Jakob und Jonas heißt: »Ich liebe dich wie den Regen« (MüJ, S. 220). Diese Zeile interpunktiert die Zuspitzung des Konflikts im großen Gespräch über den Sozialismus, das von einer Dialogpassage Gesines unterbrochen wird, um bereits nach dem nächsten Satz der Erzählung die drei Worte »wie den Regen« zu wiederholen. 4.4.3 Fokalisation, Perspektive und narrative Unzuverlässigkeit Wiewohl Jakob, der ja das Objekt der Mutmassungen ist, folgerichtig nicht als Sprecher der Monologpassagen in Frage kommt, erhält der Leser auch Einblicke in sein Bewusstsein und wird häufig innerhalb der Erzählpassagen vermittels interner Fokalisation auf die Wahrnehmungsperspektive Jakobs verwiesen: Jakob betrachtete nun Herrn Fabians Gesicht. […] Dessen Gesicht war eines von denen, mit denen Jakob nichts zu tun hatte von sich aus und die er nicht einsah bei zufälligen blickweisen Begegnungen auf der Strasse oder anderswo, und dies war eins von denen, die er nicht gleich für eine sonderliche Art oder den Beruf genommen noch überhaupt bedacht hätte. Das Gesicht wandte sich ihm zu mit aufmerksamen sanftbraunen Augen […]. (MüJ, S. 44)
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Der Wahrnehmungsstandpunkt, von dem aus das Gesicht beschrieben wird, und das Bewusstsein, das die visuelle Beschreibung mit Reflexion anreichert, ist unstrittig das des Jakob Abs. Die interne Fokalisation lässt sich anschaulich an den Formen der Gedankenwiedergabe beobachten, anhand derer Jakobs ›Mutmassungen über Jonas‹ vermittelt werden: Und welchen Zweck verfolge ich? dachte Jakob gelassen spöttisch vor seinem Bildblatt [Gedankenzitat]; er fand seine Stimmung selbst wunderlich [Bewusstseinsbericht]. Verfolgte Jonas den Zweck die Welt zu bereichern um seine Weise sie anzusehen? [erlebte Rede] vielleicht. [erlebte Rede → autonomer Innerer Monolog] Es war nicht sein Beruf »philosophisch über das Subjekt« zu reden, es hatte ihn überkommen, [erlebte Rede] nicht wahr? [erlebte Rede → autonomer Innerer Monolog] und von dieser Redezeit her gesehen waren alle Überdrüsse und Enttäuschungen der albern verwarteten Jahre gerechtfertigt, [erlebte Rede] ja? [erlebte Rede → autonomer Innerer Monolog] (MüJ, S. 136)
Die zitierte Passage schließt alle Formen der Bewusstseinswiedergabe vom Bewusstseinsbericht über das Gedankenzitat bis hin zur erlebten Rede ein, die mit zahlreichen Wendungen durchsetzt ist, welche auf Unmittelbarkeit, somit auf den autonomen Inneren Monolog hinzielen (»vielleicht.«; »nicht wahr?«; »ja?«). Wenige Zeilen weiter lässt sich in der Tat ein stream of consciousness-Fragment Jakobs ausmachen: Arbeitsurlaub. Nennen wir es so. Nennen wir es so: da sass er in Cresspahls Haus in dem Zimmer neben der Haustür (heute, jetzt) und schrieb auf der Maschine was er gemeint hatte. […] Denn Cresspahl wollte er immerhin eine andere (seine) Meinung beibringen über seine Tochter; die war aber in die Ferne gereist. Und Jonas nach Jerichow. Und meine Mutter in die Flüchtlingsbaracken von Westberlin mit der Eisenbahn, und ich sorge dafür dass sie alle sicher und pünktlich kommen wohin sie wollen. Am Abend sprach er mit Oll Peters in der Kantine über die Nicht-Überholen-Methode. Der war aus Mecklenburg. (MüJ, S. 137)126
Insgesamt fällt auf, dass der zitierte Passus stark von den Spezifika gesprochener Sprache (Ellipsen, Wiederholungen, Einschübe, Parataxe, polysyndetische ›und‹Verknüpfungen, Inversionen) bestimmt wird, wobei zunächst unklar ist, ob der eigenwillige Rededuktus der Stimme des Erzählers zugerechnet werden muss, oder welchen Status die in Klammern eingefügten deiktischen Präzisierungen haben; das Pronomen »meine« verweist jedoch eindeutig auf Jakob, der hier als »ich« mit einem Inneren Monolog bewusstseinsunmittelbar vor die Leser tritt.
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Hervorhebung von mir, M.J. Die nachträgliche Einfügung von Namen ist charakteristisch für die Verwendung der erlebten Rede in den ›Mutmassungen‹: »Alles in allem konnte er (Cresspahl) ja wohl nicht in die Speisekammer gehen […]« (MüJ, S. 170).
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Neben derartigen graduellen ›Zoom-Ins‹127 können auch Jakobs Bewusstseinssplitter jäh die Erzählung durchsetzen, wie das folgende Beispiel zeigt, das sein letztes Zusammentreffen mit Sabine kommentiert: Jakob sass neben Sabine an einem Pfeiler […] und legte ihr das Essen vor und bediente sie in allem (fühlte ihre Blicke in seinem Gesicht und fühlte den großen trägen wehen Überdruss, den er ihretwegen gern geleugnet hätte. Das Gesicht ist gehorsam und lächelt, aber bewege dich nur so wenig wie immer), sie schien nicht unruhig. (MüJ, S. 31)128
In die Gestaltung der Erzählinstanz schreibt Johnson sein poetologisches Postulat ein: »Der Verfasser sollte zugeben, daß er erfunden hat, was er vorbringt, er sollte nicht verschweigen, daß seine Informationen lückenhaft sind und ungenau.«129 Die Romaneröffnung gibt dem Leser klare Hinweise darauf, dass er es hier mit einem Erzähler zu tun hat, der über einen eingeschränkten Wissenshorizont verfügt, Kenntnisse bewusst zurückhält, Mutmassungen äußert und auf die Ergänzung und Korrektur durch andere Stimmen angewiesen ist: unterhalb des hohen grossglasäugigen Stellwerkturms kam eine Gestalt quer über das trübe dunstige Gleisfeld gegangen, stieg sicher und achtlos über die Schienen eine Schiene nach der anderen, stand still unter einem grün leuchtenden Signalmast, wurde verdeckt von der Donnerwand eines ausfahrenden Schnellzugs, bewegte sich wieder. An der langsamen stetigen Aufrechtheit des Ganges war vielleicht Jakob zu erkennen […]. (MüJ, S. 7f.)
Die externe Fokalisation, die sich auf das Registrieren visueller Eindrücke beschränkt und selbst eine Namenszuweisung gegenüber der beobachteten Person vermeidet, ist der charakteristische Modus des ›Mutmassungsstils‹ eines Erzählers, der wie Johnson eine »Vorliebe für das Konkrete«, mithin für das Sichtbare besitzt. Der Vergleich zwischen dem Erzähler und den Figuren des Romans, die zu Wort kommen, ergibt keine nennenswerte epistemologische Differenz, und auch der Verfasser legt Wert auf die Einschätzung, dass der Erzähler (den Johnson häufig fälschlicherweise mit dem Verfasser gleichsetzt) ein Zeuge unter anderen sei: Nehmen sie mich oder nehmen Sie den Erzähler einfach als jemanden, der auch von dem Unglück gehört hat, und der auch nur wenig von den zugehörigen Ereignissen weiß oder sie auch erzählt bekommen hat. Weil er Jakob nicht besser kennt als die anderen Personen, wird er sorgsam darauf bedacht sein, die Ereignisse, die dem
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Vgl. Hickethier: Film- und Fernsehanalyse, S. 68: »Der Zoom kombiniert in einem Objektiv durch ein bewegliches Linsensystem die Brennweiten verschiedener Objektive. Der Bewegungseindruck entsteht bei einer Zoomaufnahme durch den gleitenden Wechsel von langen Brennweiten mit einer Tele-Wirkung zu kurzen Brennweiten mit einer Weitwinkel-Wirkung.« Hervorhebung des stream of consciousness von mir, M.J. Johnson: Berliner Stadtbahn, S. 20.
Unglück vorausgehen, nicht mit dem Unglück selbst in Verbindung zu bringen. Zu mutmaßen, ob es doch eine Verbindung gibt, bleibt denen überlassen, die über die Geschichte nachdenken.130
Ebenso wenig wie Personen benannt werden, werden Sachverhalte explizit aufgeschlüsselt. Der Revolver, den Gesine mit in die DDR bringt, wird lediglich durch Andeutung vorgeführt: »Die beiden Stücke Metall lagen zierlich und glänzend nebeneinander; sie klirrten gedämpft, als [Jakob] die Hand darüber schloss. Er liess sie in die Seitentasche seiner Jacke gleiten und holte sie wieder hervor und steckte die Kamera allein weg« (MüJ, S. 204). Während des großen Gesprächs in Cresspahls Haus wird die spannungsreiche Wirkung dieses andeutenden Erzählverfahrens am anschaulichsten: [Cresspahl] hielt mit einer Hand das Gelenk der anderen in eigentümlichem Klammergriff umschlossen: zwei Finger lagen auf dem Ärmelrand in weitem Abstand ausgestreckt als brauchten sie sich nur zu krümmen und hätten schon etwas Längliches unter der Manschette hervor in die Wölbung der Innenhand geschoben. (MüJ, 220f.)
Erst am Ende der Erzählpassage wird der beschriebene Gegenstand explizit als »Revolver« kenntlich gemacht: »[Jakob] wandte sich ab von Cresspahls über dem Revolver gekrümmten Fingern und sagte unbeirrbar gleichmütig zu Herrn Rohlfs: […]« (MüJ, S. 224). Das narrative Verfahren ist ein gleichsam filmisches, das auf die Wiedererkennung der Charaktere durch den Rezipienten setzt, vermittelt doch auch im Film die Kamera allein das Bild und nimmt keine Zuordnung vor. Längst sind Jakob und Jonas in das Figureninventar des Romans eingeführt, dennoch werden sie nicht mit Namen genannt: An dem breiten geräumigen Fenster sassen zwei junge erwachsene Männer, der eine in der sauberen vornehmen gebügelten Uniform mit den drei Sternen auf den silbern beflochtenen Achselklappen, der andere in dem verschwitzten russigen öligen Päckchen des Lokomotivführers, sie waren sich gewohnt und befreundet seit sechs und sieben und acht Jahren […]. (MüJ, S. 62)
Über Jakobs Gefühlsleben während des Gesprächs mit Rohlfs in einem Zimmer des Elbehotels erfährt der Leser nichts, einzig wird ihm mitgeteilt, dass Jakob aussah »wie jemand der zufällig wenn auch unausweichlich angehalten worden war auf dem Wege zu einer abendlichen Festlichkeit. Eigentlich weiss man soviel wie nichts« (MüJ, S. 151). Der metafiktionale Kommentar, der die Beschreibung beschließt, kann als Teil des immanenten poetischen Programms der ›Mutmassungen‹ gelesen werden. Weitere Thesen aus diesem Programm sind, gewissermaßen als theoretischer Subtext, splitterartig in den Text eingestreut und können – wie in der zitierten 130
Roloff: Gespräch mit Uwe Johnson, S. 177.
219
Passage – unvermittelt im Erzählfluss aufblitzen oder in die Gedanken oder Äußerungen einer Figur eingeflochten sein, etwa wenn in einem Monolog Rohlfs das grundlegende Problem der Erzählinstanz in den ›Mutmassungen über Jakob‹ ausgesprochen wird: »Geschichten weiss ich ja keine, nur Einzelheiten von ein paar, das kann man schlecht zusammensetzen.« (MüJ, S. 80). Rohlfs kommt in diesem Zusammenhang insofern eine zentrale Rolle zu, als er ja die Rekonstruktion von Fakten – mithin das narrative Anliegen des Romans – in seiner Ermittlertätigkeit innerhalb der Diegese vorführt: Wenn er sich über das Auftreten Jonas Blachs wundert, »Ich kannte ihn [Jonas] gar nicht, ich wusste nicht wie kommt er in diese Geschichte, was hat er mit Jakob zu tun« (MüJ, S. 77), dann artikuliert er zugleich die Irritation des Lesers, der mit dieser neuen Figur noch nicht vertraut ist und sie nicht ins Figurengefüge einzuordnen weiß. Und wenn Rohlfs von anderen Figuren zum Vorwurf gemacht wird, dass er der Auffassung sei, ein Mensch bestehe aus den Meinungen, die über ihn kursieren, so ist dies zugleich eine Warnung an den Leser, setzt sich doch das Bild, das er von Jakob erhält, fast ausschließlich aus Meinungen bzw. Mutmassungen über ihn zusammen: Im Gespräch mit Gesine räumt Rohlfs ein »– Also gut. Wir einigen uns darauf dass niemand besteht aus den Meinungen, die von ihm umlaufen« (MüJ, S. 241); er wird noch im Verlauf desselben Gesprächs von ihr ermahnt: »– Niemand besteht aus den Meinungen. Wissen Sie noch, wie er aussah?« (MüJ, S. 286). Auch der Lebenslauf eines Menschen ist nur ein unzureichendes Deutungsmuster, wiewohl es sich dabei um gesicherte Fakten handelt, auf die Rohlfs bei seinem Unterfangen angewiesen ist: [O]bwohl er [Jakob] wusste dass die Lebensumstände nichts zu tun haben mit einer Person (während Herr Rohlfs zu meinen schien dass der Lebenslauf oder die Biographie einen Menschen hinlänglich und jedenfalls bis zur Verständlichkeit erkläre: als ob der Staubstreifen hinter einem fortgerückten Schrank und ein nutzloser Nagel in einer leeren Wand und die alberne Traulichkeit eines Blumentopfes auf dem Fensterbrett eines ausgeräumten Zimmers noch verlässliche Nachrichten wären). (MüJ, S. 96)
Fortwährend sieht sich Rohlfs mit dem Vorwurf Gesines konfrontiert: – Aber sehen Sie denn nicht, dass Sie die Wirklichkeit verarmen? Macht es denn Jakobs Leben aus, dass er bei der Reichsbahn beschäftigt war und einen Fotoapparat verschoben hat? Dann reden Sie an ihm vorbei. Begreifen Sie denn nicht dass er seine Mutter hat besuchen wollen, das war alles, von da aus muss es gesehen werden? (MüJ, S. 286)
»– Wir können ihn nicht fragen«, lautet Rohlfs lapidare Antwort. Gesine wird die Rolle der Zweiflerin zugeschrieben, die jede voreilige oder einseitige Deutung des Geschehens in Frage stellt und (als einzige) auch eine Mitschuld an Jakobs Tod auf sich nimmt: »Wenn er seine Antworten nur nicht so verschwiegen hätte. Wenn wir ihm nur die richtigen Fragen gestellt hätten.« (MüJ, 280) Im Dialog mit Jonas gibt sie dieser Skepsis unmissverständlich Aus220
druck: »Ich möchte nur wahrhaben dass keiner sich hinstellen kann und sagen: So war es und nicht anders. Die Schuld hat der und der. Wenn du sie nun hättest Jonas.« (MüJ, S. 166f.) Als Geisteswissenschaftler ist jedoch auch Jonas durchaus bewusst, dass eine einseitige Auslegung der Dinge fehlgehen muss und eine absolute Gewissheit nicht zu erreichen ist; auch er fragt sich, »wie Jakob denn dem Verständnis erreichbar sein könne. Denn Cresspahl in der Ferne und seine verschwundene Mutter und Gesines wahnwitziger Besuch, das alles half gar nichts, das waren wieder alles Leute mit ihren Handlungen für sich allein, die einander nicht erklärten.« (MüJ, S. 252) Interessanterweise scheint Jakob derjenige zu sein, der sich vorschneller Deutungen enthält und sehr genau um die Komplexität der ›Wahrheit‹ und die Illusion des Offensichtlichen weiß: »Was haben die Leute reden«, sagte Jakob, er dachte wirklich: Dann haben sie Cresspahl bloß einsteigen nicht aussteigen sehen, […] als ob die Dinge wären wie einer sie ansieht.« (MüJ, S. 62) Auch seine Einschätzung Jonas Blachs und Cresspahls Verständnislosigkeit gegenüber Blachs akademischem Gehabe zeugen von diesem geschärften Bewusstsein: […] dass er [Jonas] mit seinen dreideutig verknoteten Wortbezüglichkeiten die herkömmliche Weise von Verständigung aufgab, war am Ende auch für Cresspahl in der Ordnung. Obwohl er sich eine andere nicht zu denken wusste: die Dinge sollten klar sein und handlich. Ja, das möchtest du wohl. (MüJ, S. 173)
Jakob nimmt seine Umwelt ebenso aufmerksam wie reflektiert wahr und erliegt nie der Gefahr, der der Leser des Romans permanent ausgesetzt ist, dem »gefürchtete[n] voreilige[n] Ich verstehe – Kann mir das gut vorstellen, denn Jakob hatte ja zugehört.« (MüJ, S. 108) Diese Tendenz zu einer immanenten Reflexion des Erzählens als Möglichkeit der Wahrheitsfindung wird in den ›Jahrestagen‹ zu einem komplexen metafiktionalen Spiel weitgetrieben werden. Diese metafiktionalen Kommentare, die den Figuren in den Mund gelegt werden, finden ihr Pendant in einem Erzähler, der sich selbst immer wieder im Erzählfluss unterbricht, seine Berichte hinterfragt und neu ansetzt: An einem Abend mitten in der Woche wurde Jakob im Ratskeller gesehen mit einer Dame. […] Dann kam das Essen. Weiterhin sah ihr Gespräch ebenmässig aus. Bei einem Vergleich mit den allmählich vorhandenen Bildern wurde das Mädchen als Sabine namhaft. […] ein Gespräch mit Jakob war lange nicht bemerkt worden, wie ich ja sage. Also wie denn nun. Nämlich so: Jakobs Stadt war gross, […]. (MüJ, S. 33)
Die sprachliche Vermittlung der Geschehnisse scheint eines tastenden, sich selbst ständig überprüfenden Erzählstils zu bedürfen, dessen Selbstreflexion immer wieder im Textfluss aufscheint: »Er [Jakob] sah ihn [Jonas] an und versammelte Jonas mit den neuen Eigenheiten seiner Erzählung und erwartete mit? vielleicht mit Geduld wie dies weitergehen sollte.« (MüJ, S. 108) Dieses Verfahren, das 221
seit Gerlachs Studie131 in der Johnson-Forschung mit dem Begriff »intermittierendes Erzählen« bezeichnet worden ist, scheint einen impliziten Leser oder eine skeptische Instanz in den Erzählvorgang einzuschreiben, der beständig den Wahrheitsgehalt der Narration bzw. grundsätzlich die Möglichkeit der narrativen monokausalen Vermittlung von Wahrheit in Zweifel zieht oder dem Erzähler ins Wort fällt, wenn er von dem ›Sichtbaren‹ und ›Konkreten‹ abweicht, Spekulationen über die Figuren und ihre Handlungen einflicht und den Begriff ›Mutmassungen‹ explizit im Text verwendet, um die Unsicherheit der Interpretation von Sachverhalten in den Vordergrund zu rücken: Gesine mochte allenfalls die Vorsicht des Blicks und den Spott der Redeweise und die Verschwiegenheit an sich haben, die sie von ihm gelernt hatte: erlernt hatte. Ja? Das waren Mutmassungen so ungenau wie die Möglichkeit ihre Erzählungen nun mit Jerichow und ihres Vaters Haus auszustatten. (MüJ, S. 182)
Wenn man (wie die Verfasserin) den Mutmassungsstil als ein Spezifikum Johnsonschen Erzählens auffasst, das sowohl erzählstrukturelle und -technische Auffälligkeiten als auch stilistische Signale impliziert, so sind es gerade diese Wendungen wie »Also wie denn nun« oder »Ja, das möchtest du wohl«, die an der Schnittstelle zwischen narrativen Verfahren und stilistischen Charakteristika angesiedelt sind. 4.4.4 Der »Sprechstil« in den ›Mutmassungen über Jakob‹ Auf der Mikroebene müssen all diese aus der gesprochenen Sprache entliehenen Wendungen zuvorderst als Mündlichkeitsfaktoren betrachtet werden, die an dem viel beschworenen ›Johnson-Ton‹ erheblichen Anteil haben; Durzak führt daher den Begriff »Sprechstil« ins Feld.132 Dabei ist es freilich nicht nur der Erzähler, dessen Äußerungen auf Mündlichkeit zielen, auch die Sprache der Figuren soll ein möglichst authentisches Abbild der unterschiedlichen Stimmen ergeben, wozu Johnson (ähnlich wie Joyce und Schmidt) transkriptionsartige Verfahren nutzt, um die phonetischen Eigentümlichkeiten umgangssprachlicher Äußerungen der Figuren zu notieren: »Das is Jakob. Der da, siehssu, welche so ebnmässich kuckt.« (MüJ, S. 24) Als Cresspahl Jakob und Jonas einander vorstellt, wird der kurze Wortwechsel folgendermaßen notiert: – Dis’s Jakob. – Guten Tag. – Kennt ie euch vleich? (MüJ, S. 77)
131 132
222
Ingeborg Gerlach: Auf der Suche nach der verlorenen Identität. Studien zu Uwe Johnsons »Jahrestagen«, Königstein/Ts. 1980. Durzak: Der deutsche Roman der Gegenwart, S. 246.
Cresspahl ist die Figur, die ausschließlich Dialekt spricht, was ein integraler Bestandteil seiner Charakteristik ist: »Hest wat ätn?« Wir lächelten beide (Jakob und ich) über den Klang, der eigentlich fürsorglich war und zärtlich. »Ne-i« sagte Jakob, »Un he?« fragte er, und er? »Je« sprach Cresspahl mit List […] und polkte Schmalz aus einer Schale hinunter, »he hett mi to schpät telegrafiet, nu heck twei veschiedne Sootn, Schnitzl un Kabonaode, öwe Jakob döef sick utsäukn«. […] Er redete unablässig: da sei er zu »Lowise Arwt« gegangen […] und auf der Strasse sei ein Hund geschritten, »de keek mi so an, un dunn sä he« […] (MüJ, S. 79)
Für den Leser, der (dies ist sicherlich der Regelfall) nicht mit dieser Varietät vertraut ist, stellen derartige Textpassagen eine Schwierigkeit dar; besonders längere Dialoge und Monologe der Figuren erschließen sich dem Verständnis nicht augenblicklich und müssen zunächst dechiffriert bzw. übersetzt werden. Indem der Dialekt dem Hochdeutschen gegenübergestellt wird, tritt er zugleich als Kommentar und Korrektiv in den Roman ein: »Der Dialekt ist ein ausgezeichnetes Instrument, um zu überprüfen, was das Hochdeutsche denn nun wirklich bedeuten soll und will.«133 Das mecklenburgische Platt suggeriert zudem eine Intimität zwischen den Figuren, die besonders in den dialektalen Dialogen zwischen Cresspahl und Gesine ein Zeichen größter Vertrautheit ist; Gesine selbst spricht vornehmlich hochdeutsch, fällt jedoch im Gespräch mit ihrem Vater in den Dialekt: »Lieben Tochter« sagte Cresspahl: »schreim tussu nich –«. Sie schreibe nicht, und so erlaube er sich diesen Anruf mitten in der Nacht. Und ob es zu tun habe mit dem Herbst, der nass aus dem Himmel falle auf seine Tochter hinauf. »Schreips du kein.« »Doch. Jakob.« »Du has kein Woulgefalln inne Welt.« »Nein. Lieben Vater es is allens so nass […].« »Ich schprech noch. Ich sach mein Tochte ssu auf ein Kopf dassi das Fenste offn hat wo annere Leute längs heizn«. […] »Lange. Stehssu anne Haustür?« So verhalte es sich: sagte Cresspahl. »Binn ein Shawl um dein Hals ere du dich verküllst auffe Reise. Un lass vleich büschn Geld da und die Schlüssl. Krist Besäuk, ne oll Frau, bliwt bi di«. »Heiliger Cresspahl« sagte sie erschrocken und »werüm!« […] »Ja. Ende. Lieber Vater. Deine dich liebende Tochter. Ende.« (MüJ, S. 37f.)
133
Werner Bruck: »Ein Bauer weiß, daß es ein Jahr nach dem andern gibt.« [Interview mit Uwe Johnson (Am 24.4.1975 in Köln)], in: »Ich überlege mir die Geschichte...«, S. 268–272, hier S. 271.
223
Für Gesine ist das Mecklenburgische darüber hinaus die Sprache der Erinnerung, die sie mit Jakob verbindet: Jakob […] sagte: »Wa denkst wo du büst« […] [Ich] ging Jakob mit Fäusten an, als er auf mich zukam im Garten und sagte Willn wi din Drachen nu loslaotn hüt, […] Jakob ist mein grosser Bruder (de hett Nögl ünne de Schauh) hüt gaon wi uppe Rehbarg laotn Drachn stign und finde deinen grossen Bruder wütend. Und kann ihm nicht beistehen mit Nögl ünne de Schauh. Und weiss nichts weiter als »Dat geit uns je niks an«. (MüJ, S. 164–166)
Das Mecklenburgische ist inmitten der unterschiedlichen Klangfarben, die der Roman und die Gespräche seiner Figuren annehmen, vielleicht die folkloristischste, da es zahlreiche Sprichwörter bereit hält und zugleich einen genuinen Erzählton impliziert, durch den die Reden Cresspahls eine eigenwillige Dynamik entwickeln: ik süll woll seng dat is nich recht as du läwst. Ik kann min eegn Dochte nich helpn, ik kann nich föe di upkaomn, dat is nich wägn den Hus. Bloss wo du nu so wit aw büst, stöt’k mi de Näs betn dülle. Ge-sine! Seng de Lüe ümme Uln sittn Uln nun dat warn kein Kramsvagels, wennu man die-ne Gro-us-tan-te weitn dee woans du letts. Wou du di Wöte ssu sätzn vermachs un isses mie wüklich eine s-til-le Freude dassu sou allens von einiger Äheplichkeit in dein vollgeläntn Kopf bewechs un mie so akkurat übe schreibs […] dat sall wo so. (MüJ, S. 211)
Die Transkription dialektaler und umgangssprachlicher Äußerungen deutet am augenfälligsten auf das Ziel einer möglichst authentischen Mimesis von Oralität hin, aber auch innerhalb der Grammatik der Erzählpassagen sind verschiedene Phänomene zu beobachten, die auf diese Wirkung abzielen. Parataxe und Inversion sind die syntaktischen Muster, die bereits der Erstling Johnsons aufwies.134 In den ›Mutmassungen über Jakob‹ begegnen die in ›Ingrid Babendererde‹ erprobten stilistischen Eigenarten nun jedoch einem stofflichen und erzählstrukturellen Rahmen, in dem sie funktionaler und zwingender erscheinen – und nicht mehr als Manierismen eines jungen Autors abgetan werden können. Die parataktische Reihung, die jede Kausalzuordnung untergräbt, repräsentiert die Romanstruktur auf der syntaktischen Ebene. Herbert Kolb erfasst die Funktionalität der Parataxe, die er in seiner nach wie vor maßgeblichen Studie an zahlreichen Beispielen erläutert, sehr präzise:
134
Vgl. hierzu etwa MüJ, S. 59 mit dem charakteristischen Anschluss eines Relativsatzes durch den Gebrauch des Demonstrativpronomens und dem Verzicht auf die Separierung der Verbklammer: »Nachher kam Jakob in die Gastwirtschaft an der Industriestrasse, die roch feucht und nüchtern nach der Aufgeräumtheit des Tagesbeginns«, oder die Inversion zugunsten einer refrainartigen Betonung der Dauer, MüJ, S. 14: »Heinrich Cresspahl hatte seine Tochter an die Haustür gebracht acht Jahre lang.«
224
In Satzformen dieses Typus […] bleibt, so läßt sich vielleicht sagen, das zunächst nur nebenbei und nebensächlich Gedachte nicht eine Nebensächlichkeit. Es stellt sich sogleich in gleichwertiger Satzform neben das anfangs übergeordnet Erscheinende, Sachverhalt reiht sich an Sachverhalt auf der gleichen Satzebene. Die formale Unverbundenheit von Teilen, die allein aus ihren Inhalten ein Ganzes bilden, ist überhaupt das Kompositionsmerkmal der Mutmassungen; es spiegelt sich als kennzeichnende literarische Technik im kleinen auch in den Satzformen wider.135
Betrachtet man etwa den Beginn der zweiten Erzählpassage, so finden sich die zentralen syntaktischen Prinzipien bereits versammelt – innerhalb des folgenden Abschnitts lässt sich kein Kausal- oder Konzessivadjunktor wie (»da«, »weil«, »obwohl« etc.) ausmachen: Heinrich Cresspahl war ein mächtiger breiter Mann von schweren langsamen Bewegungen, sein Kopf war ein verbitterter alter Turm unter kurzen grauen scheitellosen Haaren. Seine Frau war tot seit achtzehn Jahren, er entbehrte eine Tochter. In seiner Werkstatt stand wenig Arbeit an den Wänden, er hatte das Schild seines Handwerks schon lange von der Tür genommen. Gelegentlich für das Landesmuseum besserte er kostbare Möbel aus und für Leute die sich seinen Namen weitersagten. (MüJ, S. 9)
Die verquere Syntax des letzten Satzes entspricht bis ins Detail den oft von zahlreichen Inversionen und Anakoluthen geprägten assoziativen Mustern gesprochener Sprache. In den ›Mutmassungen‹ wird Johnsons Verzicht auf mit »dass« eingeleitete Objektsätze gegenüber dem Erstling radikalisiert, da diese den »Fluß des lesenden Denkens« hemmen.136 Auch der ›parodistische Bibelton‹ und die Tendenz zu archaischem Sprechen setzt sich aus der ›Ingrid Babendererde‹ in den ›Mutmassungen‹ fort. Anleihen aus der Lutherbibel figurieren zum einen im Zusammenhang mit der Liebe (so erklärt Gesine: »Jonas ich will dir was sagen. Es ist meine Seele, die liebet Jakob« (MüJ, S. 213), und Jonas wiederum berichtet Jakob über Gesine: »Ihre Seele ist in fremde Gärten gegangen« (MüJ, S. 253)), aber auch in sprachkritischer und parodistischer Verwendung zur Entlarvung der Sprachhülsen des Regimes, etwa wenn der Autor Jonas ironisch sagen lässt: »– Und gilt es denn nicht zu weisen den einzig gangbaren Weg in die Zukunft für die anderen beiden Drittel deutschen Landes, die noch ächzen unter der Willkür und Unvernunft? Dies sei ein grosses Werk. Nicht gilt es zu erbleichen vor den Schwierigkeiten. Denn hingegen« (MüJ, S. 51). Die bereits in ›Ingrid Babendererde‹ evidenten Eigentümlichkeiten nicht nur bezüglich der Syntax, sondern auch der Orthographie und Interpunktion, die Verwendung von ›ss‹ anstelle von ›ß‹ und ein sparsamer Umgang mit Kommata 135 136
Herbert Kolb: Rückfall in die Parataxe. Anläßlich einiger Satzbauformen in Uwe Johnsons erstveröffentlichtem Roman, in: Über Uwe Johnson, S. 74–94, hier S. 81. Uwe Johnson: »Zur Auslassung von Satzzeichen«, in: »Ich überlege mir die Geschichte...«, S. 158f., hier S. 158.
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werden in den ›Mutmassungen‹ radikalisiert, wiewohl Johnson in Gesprächen dazu neigt, diese herunterzuspielen: So radikal waren meine Neuerungen gar nicht. Es war vor allem in der Interpunktion, wo ich etwas eigenwillig vorging. Daneben habe ich in den ersten Büchern versucht, das Verb vorzuziehen; damals dachte ich Beziehung zwischen Subjekt und Objekt durch das Verb herzustellen, was nicht zum allgemein akzeptierten Gebrauch gehörte. […] Auf der Maschine tippe ich manchmal ›ss‹, auch wenn ein ›ß‹ da ist. Das ist aber nicht so wichtig.137
Der Autor kalkuliert Verstöße gegen den allgemein akzeptierten Gebrauch bewusst ein, wenn er sie nicht gar zum Prinzip erklärt, leisten die Regelwidrigkeiten doch ein Aufbrechen der passiven Rezeptionshaltung, ist eine Normabweichung zugleich immer Provokation. Auf diese Weise lassen sich auch die zahlreichen Neologismen erklären, die als feste Bestandteile von Johnsons Lexik immer wiederkehren, etwa »überlegsam« (MüJ, S. 22, 99), »freundwillig« (MüJ, S. 34), »verzichtsam« (MüJ, S. 56), »sozudenken« (MüJ, S. 132), »ebenmässig« (MüJ, S. 24, 235). Der akustische Facettenreichtum des Romans schließt auch zahlreiche fremdsprachige Elemente ein, für die einerseits das Russische als Verkehrssprache des Staatsicherheitsdienstes, andererseits die Kosmopolitin Gesine verantwortlich ist. Als hauptberufliche Übersetzerin für das N.A.T.O.-Hauptquartier ist es nur folgerichtig, dass immer wieder englische Gedankensplitter in ihr Bewusstsein eindringen (»Oder: This is the Elbe River.« (MüJ, S. 140)) und ihre Gespräche mit anderen Figuren prägen, so die erste Begegnung mit Jonas: eine Stimme sagt LISSEN, YOU, meine Stimme sagt Which feature is it (ich weiss: hier fehlte vorhin etwas so geringfügig wie Sand zwischen zwei losen Fingern) und die Stimme sagt I shall never live that down und der Traum bricht ab wie ein Glasfaden […] Aber ich hatte mich eingelassen, nun war nichts abzubrechen, denn wenn einer erst gesagt hat name Conne: DARF ICH VORSTELLEN DIES IST, dann läuft es alles von allein auf den Gleisen des bürgerlichen Benehmens […] und gesteh zu was auf der Hand liegt, doch manche Gemeinsamkeiten, shouldn’t we raise a fambly. (MüJ, S. 199f.)
Die Reden von Rohlfs Kollegen und Untergebenen sind geprägt vom russischen Idiom (in lateinischer Umschrift): gegen Mittag fuhr ich zurück zur M.S.A. und liess mich melden bei Lagin und legte ihm die Mappe hin, wenn schon, dann will ich was davon haben. »Ah –: galubuschka« sagte er. Er hatte alles im Kopf, tolles Gedächtnis, bat mich um Vortrag. Ich hielt ihm Vortrag. Er hielt mir Vortrag. Verabredung. Eto ujasno. Verabredung. Zusammenfassung. Ich sagte noch: »Jesli ana ostawajetzssa galubka na kryschje…« er verstand nicht gleich, die haben dafür eine andere Fassung, dann lachte er. »Lutsche warabeja« sagte er. (MüJ, S. 10)
137
Schwarz: Der Erzähler Uwe Johnson, S. 96.
226
Russische Fragmente können sich aus den zitierten Gesprächen und Zusammenhängen ergeben, in das Bewusstsein der Figuren eindringen, aber auch ohne erkennbare situative Motivation als eigenständiges Fragment in den Text einmontiert sein, so die Formel: »Wetschnaja slawa gerojam krasnoi armii pawschim w borbe sa swobodu i nessawissimostj naschej rodiny 1941–1945 god // dlja weschtschi sozialisma« (MüJ, S. 84). Seltener, aber dafür umso auffälliger in ihrer Platzierung sind die italienischen Bruchstücke, die Gesines Italienreise mit Jonas und ihre zweite Reise dorthin evozieren (vgl. MüJ, S. 209f.). Bei den italienischen Textsplittern handelt es sich einerseits um Gesprächsfetzen mit den Einheimischen, andererseits um die Sprache der Werbung, die Teil des Montageverfahrens der ›Mutmassungen‹ sind. Auch in den Erzählpassagen werden Gedanken, akustische und optische Elemente registriert und unvermittelt nebeneinander montiert; dieses Vorgehen auf der sprachlichen Mikroebene ergänzt die Montage der narrativen Elemente Monolog, Dialog und Erzählpassagen, zwischen denen sich oft harte Brüche feststellen lassen. Die Integration von Schlagzeilen, Songs und anderem Sprachmaterial betrifft von den drei narrativen Verfahren der ›Mutmassungen‹ besonders die Monologe, in denen sich populäre Lieder und Songs als Gedankenfragmente mit Schlagzeilen, Werbesprüchen und literarische Zitate als verbale »scraps of urban life«138 verdichten, mehr oder minder gefiltert durch das Bewusstsein, auf das sie einströmen – etwa der Zugfunk in Jonas Gedankenstrom: weil der Zugfunk auch eine Meinung hatte, Kultur, Politik und Unterhaltung, ohne Ende sang der fette selbstgefällige Bass in meinem Kopf: Hier bin ich. Und was soll ich hier. Unterschreiben dies Papier? Davon hab ich keinen blauen Dunst, hier reimte es sich mit Kunst. Und ja das Schreiben und das Lesen. Ist nie mein Fall gewesen. Denn schon von Kindesbei. Gern hat er die Fraun geküsst. Hat nie gefragt ob es gestattet ist. In ihm habe es gesprochen er solle sie sich nehmen. Aber, aber jedoch: auch er fühlte der wahrhaften Liebe Glut. Und wie weh oft die Falschheit tut. (MüJ, S. 72)
Radio und Lautsprecher haben Teil an dem Klangraum, in dem sich die Figuren bewegen, etwa am Bahnhof, wo Gesine und Jakob »umklammert [werden] von dem grossen fahlen Lampenlicht und dem heiseren Gebell aus den Lautsprechern BITTE ALLES AUSSTEIGEN DER ZUG ENDET HIER DIE NÄCHSTEN FERNANSCHLÜSSE IN FÜNF STUNDEN AM BAHNSTEIG GEGENÜBER […]« (MüJ, S. 165). Angesichts der prekären politischen und privaten Ereignisse, die sich auf der Handlungsebene zutragen, wirkt der banale Lärm des staatlich verordneten Rundfunkprogramms wie ein ironischer Kommentar und wird von den Figuren – selbst von Rohlfs – kritisch wahrgenommen:
138
Joyce zitiert nach Budgen: James Joyce and the Making of Ulysses and Other Writings, S. 86f.
227
Und eine Weile haben wir bloss dem verdammten Radio von nebenan zugehört, gelauscht haben wir, ein verblödeter Mädchenchor ein ewiger neckischer Wiederkehr, das quoll so sehnsüchtig ohne Ende aus der Wand als wär das wunder was: ein Kuss ein Gruss ein Blumenstrauss, die haben ihnen das Glück ins Haus gebracht, ein Kuss ein Gruss ein Blumenstrauss: das singen die nun. (MüJ, S. 47)
In den Text werden jedoch nicht nur akustische Phänomene collageartig eingepasst, auch Inschriften oder Dokumente werden bis ins Schriftbild hinein präzise zitiert,139 etwa – in Blockbuchstaben – das Telegramm, das Cresspahl an Jakob schickt (Jakob »las wie Cresspahl es nannte. Ja aber Cresspahl hatte sich gar nichts gedacht. DEINE MUTTER IST ZUM WESTEN = CRESSPAHL« (MüJ, S. 71)) oder der Wortlaut der Erklärung, die Jakob angesichts seines Besuchs bei seiner Mutter und Gesine unterschreiben muss: »Ich habe unterschrieben« sagte Jakob. Erklärung! Ich wurde heute darauf hingewiesen, dass ich ohne besondere Genehmigung des Leiters meiner Dienststelle nicht Westdeutschland bzw. den Westsektor von Berlin betreten oder durchfahren darf. / Bei genehmigten Reisen dorthin darf ich keinerlei dienstliches Material mitnehmen. / Dies gilt auch für Privatreisen ausserhalb der Dienstzeit. / Ort, Datum, Unterschrift. / II/15/52 – C 324/55 16: naja. (MüJ, S. 260)
Die literarischen Anleihen, die erst in den ›Jahrestagen‹ zu einem dichten Gewebe ausgearbeitet werden sollen, das durch den Text fort gesponnen wird, sind in den ›Mutmassungen‹ noch recht überschaubar; neben einer Anspielung auf Rilkes Gedicht ›Herbsttag‹140 sind es die Sätze aus dem Dialog zwischen Gesine und Jonas (»– Sie hätten eine so verdammt gute Zeit miteinander haben können. – Ist es nicht hübsch, sich das vorzustellen?« (MüJ, S. 163)), die Vivian Liska als eine annähernd wörtliche Übersetzung aus Ernest Hemingways ›The Sun also Rises‹ liest: »›Oh Jake‹, Brett said, ›we could have such a damn good time together.‹ ›Yes‹, I said. ›Isn’t it pretty to think so?‹«141
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Dazu zählt etwa der »rätselhafte weiße Farbkreis […] mit der kyrillischen Schrift auf den Schlussbrettern: Utschebnaja (Fahrschule).« (MüJ, S. 249) In den ›Mutmassungen‹, S. 267 heißt es: Jonas »gab aber acht auf sich und geriet zu seiner Befriedigung wenigstens nicht in die Gedichte, die es gab über das Gehen in herbstlichen Alleen«; die entsprechenden Verse aus Rilkes bekanntem Gedicht lauten: »Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben / und wird in den Alleen hin und her / unruhig wandeln, wenn die Blätter treiben« (Rainer Maria Rilke: Herbsttag, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. I: Gedichte. Erster Teil., hg. v. Rilke-Archiv i. Verbindung m. Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn, Frankfurt a.M. 1955, S. 398). Ernest Hemingway: The Sun also Rises, in: ders.: Three Novel of Ernest Hemingway, New York 1962, S. 3–247, hier S. 247; vgl. dazu Vivian Liska: ›Johnson, kennt einer Johnson?‹ Erzählreflexion und Wirklichkeitssuche in Uwe Johnsons »Mutmassungen über Jakob«, in: Internationales Uwe Johnson-Forum 6 (1997), S. 13–29, hier S. 25.
Auch die Sprache der Zeitungen geht in die Montage ein und weist die Printmedien als ein Instrument des Regimes aus, da sie die Phrasen der sozialistischen Staatsmacht linientreu nachbeten: Mit Vorbedacht hatte [Jakob] alle möglichen Benennungen aus der Sprache der Zeitungen vermieden, denn er wollte Kasch nicht verärgern. Sicherlich war dies »ein bedeutender Beitrag« (wenn es gelang) und ein »harter Schlag gegen die Monopolkapitalisten«, wenn der »Dorn in ihrem Auge« (das Staatswesen, in dem Jakob lebte) wuchs und gedieh. (MüJ, S. 132)
Die Figuren sehen sich fortwährend vor die Aufgabe gestellt, zu der sozialistischen Sprachverwendung Stellung zu beziehen; die Parolen sind allgegenwärtig, auch als Bewusstseinsbestände der Figuren werden sie zu einem häufigen Objekt der unwillkürlichen Assoziation oder der bewussten Reflexion. Interessanterweise ist es der Dialektsprecher Cresspahl, der in den ›Mutmassungen‹ als Sprachkritiker auftritt; ebenso wie er sich auf Jonas Sprachgebrauch keinen Reim machen kann, erscheinen ihm die sozialistischen Schlagworte unverständlich, vage und widersprüchlich: »Wir« hatte [Jonas] gesagt, […]: »Wir sind ja der Sache des Fortschritts unbelehrbar ergeben«. Cresspahl hatte an der SACHE DES FORTSCHRITTS wohl nichts mehr zu verteidigen gefunden (denn was war das?), aber über dem UNBELEHRBAR ERGEBEN war er bedenklich geworden. Denn UNBELEHRBAR war das Wort, das die sozialistische Staatsmacht für ihre Feinde gebrauchte und hiess soviel wie streitsüchtig besserwisserisch töricht unnütz, aber ERGEBEN verwandte sie für den anderen Teil der Bevölkerung und der internationalen Arbeiterklasse, der von dem einmal eingeschlagenen Weg zum Sozialismus UNBEIRRBAR überzeugt war und unermüdlich arbeitwillig die Anweisungen der Parteileitungen ausführte, und was hiess UNBELEHRBAR ERGEBEN (dachte Cresspahl:) wenn es in Jonas’ Munde war? Sichtlich waren seine Gedanken sämtlich auf die Einrichtung des einen deutschen Drittelstaates gerichtet und befassten sich unablässig mit dem was die einen und die anderen und die dritten und die neunten mit jeweils unterschiedlicher Sinnesart und Bedeutung SOZIALISMUS nannten […]. (MüJ, S. 172)142
Die Crux dieser Sprache besteht für Cresspahl in ihrer Mehrdeutigkeit und Mehrdeutbarkeit, da sie sich den divergierenden Intentionen unterschiedlicher Sprecher anzuschmiegen scheint und sich in den Dienst grundverschiedener Interessen stellen lässt. Die ›Mutmassungen über Jakob‹ sind ein eminent sprachkritischer Roman; jedoch wird an keiner Stelle explizit (außer durch Cresspahls Bewusst-
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Dies wird an keiner Stelle deutlicher, als im großen Gespräch in Cresspahls Haus. Mit dem Dialekt spricht aus Cresspahl die Stimme des common sense, die sich einer einfachen Sprache bedient, die Rohlfs ›Übersetzung‹ in die Regimesprache als abstrakt, fadenscheinig und bodenlos entlarvt: »›Er hat gesagt, dein Vater‹: sagte Jakob: ›Wie gehn sie mit dem Menschen um, sieh dir an was einem zustösst und wie es noch kommen soll, und kannst dich auf nichts berufen. […]‹« (MüJ, S. 217)
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sein) Sprachkritik geäußert, vielmehr vertraut der Autor auf die Polyphonie des Romans, die Gegenüberstellung der verschiedenen Stimmen und Sprachen, die sich gegenseitig kommentieren und prüfen. Außerdem fallen in den ›Mutmassungen‹ die oft in naturalistischer Detailfülle wiedergegebenen Beschreibungen technischer Vorgänge ins Auge, die den akribischen Rechercheaufwand des Autors unter Beweis stellen.143 Günter Blöcker spricht im Hinblick auf eine Schilderung von Jakobs Zugfahrt nach Jerichow von »an die Katalog-Poesie des Ithaka-Kapitels bei Joyce gemahnenden Fixierungskünsten«!144 Eine andere Facette des »gebrochene[n], lakonischst chronikale[n] und doch üppig sich fortzeugende[n] Prosastil[s] des Umständemachens (in ferner Verwandtschaft zum mimetischen Naturalismus Arno Schmidts)«, in dem Dittberner »Uwe Johnsons Beitrag zur deutschen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts« sieht,145 sind die die katalog- oder listenartigen Substantiv- und Adjektivreihungen.146 Neben die Mimesis von Oralität, die Transkription des akustischen und visuellen Zeitbilds, das aus Schlagzeilen, Songs und anderem Sprachmaterial montiert wird, tritt hier ein registrierendes Erzählen, das Dinge und Personen unvermittelt aus sich selbst sprechen lässt. Dieses wirkungsästhetische Ziel wird auch in den mittelbaren Beschreibungen, in denen die Stimme des Erzählers deutlicher vernehmbar wird, nicht aufgegeben. Diese deskriptiven Passagen sind von synästhetischen und filmischen Darstellungsprinzipien bestimmt, die zuvor auch bei Joyce, Koeppen und Schmidt aufgezeigt wurden, etwa die Materialisierung von visuellen Eindrücken und Klängen, die in ihrer Verdinglichung kinetischen Gesetzen unterworfen scheinen: »Stimmenlärm und Lampenlicht beulten den Raum immer mehr aus,« (MüJ, S. 246) und: Er [Jöche] lehnte auf dem Türgitter der Lokomotive und spuckte Zigarettenrauch in den raschen schmutzigen Fahrtwind, der Turm rutschte ihm entgegen in den schleierigen Lichtschwaden. Er gab das Signal Achtung, der hohle zähe Pfeifton schwang sich aus dem eiligen Poltern des Zuges und stieg vor Jakobs Fenster, stand und fiel davon. Jöches hochgekehrtes langes Gesicht wandte sich seitlich mit der Entfernung des Turms, zog sich zurück in das Gehäuse, der Zug klirrte quer durch das Gleisfeld
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Ein viel zitiertes Beispiel für diesen ›technischen Naturalismus‹ ist die Beschreibung einer Telefonverbindung MüJ, S. 64–66. Günter Blöcker: Roman der beiden Deutschland, in: Über Uwe Johnson, S. 10–14, hier S. 12 [zuerst in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (15.10.1967)]. Hugo Dittberner: Umstände halber versenkt ins Licht des Textes. Uwe Johnsons frühe Romane, in: Text und Kritik, Uwe Johnson, Heft 65/66, Neufassung 2001, S. 69–82, hier S. 81. »[E]in Güterzug von hundertzwanzig Achsen mit Kies Schnittholz Braunkohle Rundfunkapparaten Schiffsmotoren Panzern (ein Dg. vielleicht 1204)« (MüJ, S. 22); »ihre Stimme sang gleichmütig unverändert unwillkürlich« (MüJ, S. 110).
auf dem Rangierbahnhof, die Signale wechselten hinter ihm, die Schlusslichter glitten über in das frühe Licht. (MüJ, S. 58f.)
Die Beschreibung von »Jöches hochgekehrte[m] lange[n] Gesicht«, das – gerahmt und ausgeschnitten vom Fenster der Lokomotive – von Jakobs Sinneswahrnehmung von Jöches Körper isoliert registriert wird, ist typisch für ein filmisches Darstellungsverfahren, das im Close-Up die Menschen von ihren Extremitäten trennt: »Jetzt sass er [Jakob] tief und angelehnt im Stuhl, seine Hände auf den Armstützen lagen ruhig und locker wie zwei kluge erfahrene träge Wesen für sich allein.« (MüJ, S. 99) Besonders die zahlreichen Beschreibungen von Händen sind charakteristisch für diese »sezierende« Blickführung: »Seine [Rohlfs] Hände kehrten sich mit locker ausgestreckten Fingern offen« (MüJ, S. 156). Es sind nicht die Figuren, die ihre Hände verschränken, sondern die Finger selbst, die die Bewegungen ausführen: »Seine [Hänschens] Finger gerieten ineinander und verschlangen sich.« (MüJ, S. 218) Die Wahrnehmungsdeixis nimmt selten die erhöhte Warte des »Schiedsrichters beim Tennis« ein und folgt der Perspektive der jeweiligen Reflektorfiguren; angesichts der angestrebten Bewusstseinsmimesis ist es nur folgerichtig, dass die Ausfahrt eines Zuges aus dem Bahnhof der visuellen Wahrnehmung Jonas Blachs folgt und nicht das Anfahren des Zuges von außen beschrieben wird, sondern »der sanfte Ruck das Bahnsteigpflaster ein Abschiedsgesicht, einen Gepäckkarren zum Gleiten« bringt (MüJ, S. 72). Die Personifikation unbelebter Gegenstände ergänzt dieses veranschaulichende, sinnliche Darstellungsverfahren; die Beschreibung des anfahrenden Taxis erinnert an die Beschreibung eines Autos (vermutlich eines VW-Käfers) im ›Faun‹. Heißt es bei Arno Schmidt: »[W]eit vorn stach ein kleines Auto die aufgeschwollenen Augen in die Morgennacht, sah sich langsam zitternd um, und wandte mir dann schwerfällig den rotglühenden Affensteiß her« (F, S. 301), so lautet Gesines Monolog: Der Wagen versammelte seine steif gespreizten Beine unter sich und räusperte sich in seiner Brust und kriegte das Husten und rollte klappernd in die Strasse zurück, aus der wir gekommen waren, und glitt anmasslich behende alterseigensinnig unter den strahlenden Richtzeigern hindurch auf die Ausfahrtstrasse zwischen den Giebelhäusern und Lagerschuppen aus dem vorvorigen Jahrhundert, die Scheinwerfer pflückten Fetzen aus der Nacht […]. (MüJ, S. 247)
Oft ist es Jakobs Arbeitsumfeld, die Maschinerie der Züge und Gleisstrecken, die eine Kulisse bildet, welche ebenfalls mit menschlichen Attributen ausgestattet wird: Denn da hatten sie wohl den schweren eiligen Zug mit windverwehtem Gesang durch den Nebel schlagen hören unterhalb des Turms, er war nicht beleuchtet und sah von oben ungeheuerlich aus wie ein rotäugig zurückkriechender Wurm, […]. Jakob beugte sich seitlich und hob von den schreienden Telefonen einen Hörer nach dem
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anderen ab, hilflos zirpend lagen die Schallarme nebeneinander, während die Lautsprecher dröhnten […] erst nach einiger Zeit bölkten die Lautsprecher rechthaberisch und wachsam, […] und jetzt kam der zweite Zug aus dem Norden und blieb heftig atmend stehen zwischen den Bahnsteigen des Personenbahnhofs, […] schwerfällig und geschickt begannen die Ungetüme auf die Rampe zu klettern, die Rangierer krochen noch unter den Wagen umher und schlossen die Bremsschläuche, Trupp für Trupp stürmte aus den Lastwagen über die engen Treppen auf die Waggons zu, Megafone knatterten, Motoren heulten, Holz splitterte zierlich unter den Raupenketten, die Rangierlokomotive zog fauchend ab (MüJ, S. 247–250).
So wird die Zugdurchfahrt der russischen Militärtransporte zur brutalen Niederschlagung des ungarischen Aufstands mittels expressionistischer Stilprinzipien147 als ein synästhetisches Inferno geschildert, über das Jakob auf seinem Turm Herr zu werden sucht, bis sich der Lärm der Maschinerie beruhigt hat und abklingt. Der ›Ulysses‹ wurde aufgrund seiner vielfältigen und schier unüberschaubaren motivischen Verweissysteme oft als ein Gedicht beschrieben, das von einem engmaschigen Gewebe von Wiederholungsstrukturen durchzogen ist; auch die ›Mutmassungen‹ weisen ein (vergleichsweise natürlich beschränktes) Netz von Refrains und Leitmotiven auf, die im Text immer wieder anklingen. Dies zeigt sich auf der stilistischen und auf der thematisch-motivischen Ebene des Textes. Gesines monologische Beschreibung ihres Vaters wird eröffnet mit den Worten: »Mein Vater war achtundsechzig Jahre alt in diesem Herbst und lebte allein in dem Wind, der grau und rauh vom Meer ins Land einfiel hinweg über ihn und sein Haus« (MüJ, S. 8f.); auf S. 15 und S. 41 greift die Erzählpassage diesen Wortlaut wie ein Echo auf: Jerichow war früher eine Bauerstadt gewesen […] an der mecklenburgischen Ostseeküste, wohin der Wind grau und rauh kam das ganze Jahr… (MüJ, S. 15) Wenig später drückte sich der Wagen rückwärts und […] jagte davon in die bläuliche Entfernung weg aus Jerichow, wohin aber der Wind grau und rauh kam vom Meer und ins Land fällt hinweg über meinen Vater und sein Haus: wie Gesine in einem Brief geschrieben hatte, das ist die Tochter, die ist jetzt nicht mehr da. (MüJ, S. 41)
Verschiedene Wortfolgen werden bei der Figurencharakteristik angerissen und an einer späteren Stelle im Roman wieder aufgegriffen, etwa das leitmotivische »Guten Tag (Jakob)«,148 »er ist (doch) immer (quer) über die Gleise gegangen«,149 die Charakterisierung Jakobs »welche so ebnmässich kuckt«,150 Gesines Redewen-
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Unwillkürlich wird der Leser an die Beschreibung der Lokomotive in Schmidts ›Leviathan‹ als einer »geländerlosen Riesin« umgeben von »Eisendämonen« (L, S. 53) erinnert. Vgl. MüJ, S. 26, 29, 83, 148f., 167, 200. Vgl. MüJ, S. 7, 131f., 142, 300, 304. Vgl. MüJ, S. 24 (zweimal, in Dialog und Erzählpassage).
dung »diese durch und durch verluderten Engländer«151 oder die von Rohlfs ironisch weil als contradictio in adiecto erkannte Wendung »öffentlich im Krug von Jerichow«.152 Bestimmte Episoden, die für die Erinnerung der Hauptfiguren konstitutiv sind, werden zunächst nur angedeutet, dann abermals zitiert und narrativ ausgeführt, etwa die Drachenepisode aus Gesines Kindheitserinnerung, die sie im Traum noch einmal durchlebt (»hüt gaon wi uppe Rehbarg laotn Drachn stign«153). Auch deskriptive Elemente – wie die Beschreibung des Himmels als »weiss«154 – werden mehrfach verwendet, stärken die narrative Dichte, mit der das Erscheinungsbild Mecklenburgs vermittelt wird und bilden daneben ein eigenes motivisches System aus, das in ein dichtes Netz von Motivfolgen eingewoben wird, zu denen auch die Rede vom »Wünschenswert«, die durch die zahlreichen Wiederaufnahmen und Variationen den Stellenwert einer Theorie erhält, oder die Katze zählen; bei letzterer handelt es sich bekanntlich um ein thematisches Motiv, das für Johnsons Prosa einen hohen Stellenwert hat und in den ›Jahrestagen‹ als »Katze Erinnerung« noch an Bedeutungstiefe gewinnt. In den ›Mutmassungen‹ erscheint die Katze zunächst als Vergleichsgröße zur Beschreibung von Figuren und ihrem Verhalten,155 tritt als Cresspahls Katze mit menschlichen Attributen in Erscheinung; Jonas beobachtet sie mit Interesse, gewinnt allmählich ihr Vertrauen,156 führt schließlich gar imaginierte Dialoge mit der Katze, wobei der »Redebeitrag« der Katze wie die Monologe der Figuren durch Kursivdruck hervorgehoben ist: Nachdem sie sich überall gewaschen hatte, richtete sie sich auf und beobachtete ihn aus engen glimmenden Augen reglos. Sie hatte dreiundzwanzig Barthaare. Und das schreiben Sie so zu Ihrem Spass? sagte sie. Irgend wie leben muss einer, jedermann ist der Beste, schto lutsche tschewo. Hätten Sie nicht vielleicht ein bisschen Milch…? ...sehen Sie mal wie mein Bart zittert. (MüJ, S. 179)
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Vgl. MüJ, S. 264 (Dialog) und 266 (Monolog). Vgl. MüJ, S. 9f. und 78. MüJ, S. 164f.; vgl. auch MüJ, S. 295. Vgl. MüJ, S. 25: »der Himmel war weiss all denTag«, S. 43: »Der Himmel war weiss«, S. 206: »Die Dämmerung war weiss geworden«, S. 215: »Ich erinnere mich dass der Himmel wieder völlig weiss war […]. Ich erinnere mich an den harten Wind« und S. 216: »Dann blieb der Himmel weiss wie Blei bis zur Dämmerung«. Jakob wird von Jonas mit einer Katze verglichen (vgl. MüJ, S. 38), Cresspahl von Gesine durch seine Anziehung auf Katzen charakterisiert (vgl. MüJ, S. 183). Vgl. MüJ, S. 167, 178, 180.
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4.4.5 Weltgeschichte und Individualgeschichte – Die »ungarische Dimension«157 und der ›dramatische Höhepunkt‹ der ›Mutmassungen über Jakob‹ Präsentiert der ›Ulysses‹ Zeitgeschichte verdichtet und gebrochen durch Individualgeschichte, so erhalten auch die ›Mutmassungen über Jakob‹ durch die zeitliche Parallelführung der privaten Tragödie Jakobs mit der historischen des Ungarnaufstands eine zusätzliche Bedeutungsdimension, da im Kleinen wie im Großen die Hoffnungen auf einen lebenswerten »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« zerbrechen und scheitern. Es ist kein Zufall, dass »Jakobs Oktober« zeitlich mit den Studentendemonstrationen und der Rückkehr Imre Nagys in Ungarn zusammenfällt (vgl. MüJ, S. 160, 162, 195), dass Jakobs und Gesines ›Flucht‹ nach Jerichow mit der Eröffnung des Feuers durch die AVH auf die Studenten im Rundfunkhaus in Budapest koinzidiert. Während die folgenden Tage in Budapest von Straßenkämpfen bestimmt sind, findet das große Gespräch in Cresspahls Haus statt; als Gesine die Ausreise ermöglicht wird, ziehen russische Panzer aus Budapest ab; während Jakobs Besuch bei Gesine und seiner Mutter im Westen (3. Oktober bis 4. November 1956) wird in Budapest mit einer Delegation der Sowjetunion verhandelt und von Imre Nagy der Versuch einer demokratischen Regierungsbildung unternommen. Diese Engführung politischer und privater Geschehnisse dokumentiert die Übermacht der politischen Ereignisse, die die Hoffnungen der Charaktere auf ein »richtiges Leben im falschen« als illusionär erweist: Es ist deutlich, wie Johnson jeweils durch die Gegenüberstellung von epischer Fiktion mit verbürgten historischen Ereignissen zweierlei erreicht: Er dokumentiert zum ersten mit aller Deutlichkeit, daß so etwas wie private Existenz des Einzelnen eine Wunschvorstellung darstellt, die die reale Geschichte widerlegt, indem sie unerbittlich in das Leben des Einzelnen eingreift, es beeinflußt und verändert; er zeigt zum andern die Desillusionierung seiner Romanfiguren durch die Realität, verdeutlicht die Diskrepanz, die zwischen subjektiver Vorstellung und politischer Realität besteht, zeigt den einzelnen im Zustand des Scheiterns an dieser Realität, akzentuiert also die von außen her motivierte Fluchtbewegung seiner Romanfiguren.158
Mit der Durchfahrt der russischen Transporte durch die Elbestadt am 30. Oktober, die Jakob bei der Arbeit unmittelbar erlebt (vgl. MüJ, S. 246ff.), hat jedoch bereits die dramatische Berührung der historischen und der individuellen Dimension stattgefunden, die den hoffnungsvollen Verlauf der Verhandlungen in ein anderes Licht rückt. Der Bedeutungsschwere dieses »dramatischen Höhepunktes« angemessen, ist die narrative Zeitgestaltung dieser Erzählpassage fulminant
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Bernd Neumann: Uwe Johnsons Mutmassungen über Jakob, Stuttgart 1989 (RUB 8184), S. 58. Durzak: Der deutsche Roman der Gegenwart, S. 218.
arrangiert: Mitten in das langsame Andante aus Jonas Reflexionen über Jakobs »konkrete Tätigkeit«, um die er ihn beneidet, fällt die lapidare Prolepse: Denn sie konnten noch lange nicht nach Hause. Als Bartsch die Tür aufschloss hatte Jakob eben ein weitläufiges Stück Zeit aus der Nacht geschnitten mit leichtem und schwerem Eilgüterverkehr und Vorortzügen und Fernverbindungen, die blieben als ein verknäulter Haufen für den kommenden Tag, man konnte es nur noch zusammenwickeln und ordentlich verschnüren und wegschmeissen: sagte er, er hatte einen queren Strich gezogen und alle Fahrten mussten aufhören wo der hingefahren war, da schrien die Lautsprecher ihn schon lange an: wie sie das machen sollten […] aber die Anweisungen lauteten anders, die Fahrstrasse musste frei bleiben, wofür denn, das werdet ihr schon sehen, allerdings hatte Jakob da schon längst die Verbindung mit dem Dispatcher der Nordstrecke unentwegt am Ohr […] (MüJ, S. 245f.)
Jakob, der im Romanverlauf fortwährend zum ›Herrscher über die Zeit‹ stilisiert wird, dem »die Aufsicht über die Zeit […] möglich« (MüJ, S. 65) ist, steht den historischen Ereignissen ebenso hilflos gegenüber, wie Jonas und sämtliche anderen Figuren im Dispatcherbüro. Die Durchfahrt der Militärtransporte auf dem Weg nach Ungarn zwingt sich dem positiven Helden wie eine Peripetie auf, die seine individuelle Auseinandersetzung mit dem totalitären Regime in ein gleißendes Licht taucht: Jakob gerät im Romanverlauf in einen Zustand latenter »Verunsicherung« und zunehmenden »Wirklichkeitsverlustes«.159 Für alle Beteiligten liegt auf der Hand, dass dieses Manöver die Ereignisse des 4.11. präfiguriert: Während Imre Nagy noch über den Sender Budapest an die Öffentlichkeit appelliert, wird mit blutigen russischen Angriffen auf die Hauptstadt die Niederschlagung des ungarischen Aufstands besiegelt. Ein Dispatcherkollege Jakobs spielt die alternative Möglichkeit durch, indem er die Durchfahrt des Zuges willentlich verzögert. Jakob dagegen bezeichnet ihn verächtlich als »Ehrenpussel« (MüJ, S. 247, 251) und wendet die Mechanismen seiner täglichen Arbeit als Dispatcher auch auf diese Situation an, getreu dem Leitsatz: »Die Leute wollen nach Hause« (MüJ, S. 247). Die Wendung »da schrien ihn die Lautsprecher schon lange an« ist einer von zahlreichen Simultaneitätseffekten (signalisiert durch Zeitadverbien wie »während«, »indessen«, »schon längst«, »immer noch« etc.), die die virtuose Schnittfolge zwischen den Handlungsschauplätzen, die Jakob von seinem Turm aus überwacht, instrumentieren. Wie der Einschub »wofür denn, das werdet ihr schon sehen« anzeigt, wird auch zwischen den narrativen Modi, d.h. den Formen der Gedankenwiedergabe rasch und unvermittelt geschnitten, wobei besonders die mimetische Form der autonomen direkten Rede immer wieder den Bericht durchkreuzt:
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Ebd., S. 194.
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die Rangierlokomotive zog fauchend ab. Nun noch ein Gespräch an die Lokleitung, ist die S immer noch nicht da, was macht ihr da eigentlich, die Fertigstellung des Zuges ist an F-d-l zu melden, F-d-l fragt ob ausfahren soll, soll ausfahren. Und nun wollen wir mal sehen was wir inzwischen geleistet haben. Da ist ein grosser freier Platz auf dem Blatt zwischen Zeit und Raum wo sonst ein säuberliches dichtes kluges Knüpfwerk war, und was läuft quer durch diese Leere? drei Striche und ein halber. Wir gehen jetzt und wenn der inzwischen eingestampfte Verkehr sich nicht festgefressen hat, wirst du um Mitternacht die bis jetzt vorliegenden Verspätungen aufgedröselt haben, dann hast du natürlich neue. Die Russen? das Armeekommando? Schöne Grüsse. Mahlzeit. Mahlzeit Jakob. Mahlzeit. Du Jakob. »Ja«: sagte Jakob. (MüJ, S. 249)160
Die virtuose Dynamik der Passage entsteht nicht nur stilistisch durch das Feuerwerk an Simultaneitätseffekten, sondern auch durch die raschen Schnitte (›jump cuts‹) zwischen den zahlreichen Handlungsschauplätzen und Jakob im Dispatcherturm, während sich darüber noch der raumübergreifende Funkverkehr zwischen den Dispatchern legt.161 Diese Darstellung, die etwa sechs Seiten umfasst, muss zwar im Ganzen als zeitraffend betrachtet werden, da die Ereignisse von einer halben Nacht narrativ in höchster Beschleunigung wiedergegeben werden; dennoch entsteht das hohe Tempo der Passage auch durch zeitdeckende Erzählweisen (wie die autonome Gedankenrede oder kurze deskriptive Elemente) und die Simultaneitätseffekte,162 die auch in der ›Wandering Rocks‹-Episode des ›Ulysses‹ beobachtet wurden und im Roman zwangsläufig zur Zeitdehnung führen.
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Vgl. auch MüJ, S. 249: »der zweite Militärzug bekam die Ausfahrt, den sind wir los, jetzt noch den dritten: […].« Die Schnittfolge im Überblick beginnt mit einer Naheinstellung auf Jakob im Dispatcherturm, dann folgt eine Totale auf den Güterzug »irgendwo an der grossen Wiese in der Dämmerung« (MüJ, S. 246); die weitere Bewegung lässt sich stichpunktartig wie folgt skizzieren: Jakob im Dispatcherturm → »auf den zweiten Gleisen die abendlichen Arbeiterzüge und Schnelltriebwagen und Güterfahrten aller Art« (MüJ, S. 247) → »In den Bahnhofshallen« (MüJ, S. 247) → Jakob → die »Transportpolizei […] vor den Zufahrtsstrassen zum Güterbahnhof« (MüJ, S. 248) → »die Funkwagen überall in der Stadt« (MüJ, S. 248) → Jakob → »der zweite Zug aus dem Norden zwischen den Bahnsteigen des Personenbahnhofs« (MüJ, S. 249) → die »Garnison in der Stadt« (MüJ, S. 249). Zuletzt folgt die filmische Blickführung in einer langen Plansequenz den Armeelastwagen und Motorrädern durch das Verkehrsnetz der Stadt bis vors Bahnhofsfeld, bevor endgültig zurück in den Dispatcherturm geschnitten wird. Unter den Anachronien innerhalb einzelner Sequenzen finden sich einige kunstvoll arrangierte Erzählpassagen, die durch einen plötzlichen ›jump cut‹ ebenfalls die Simultaneität von Ereignissen an verschiedenen Handlungsschauplätzen suggerieren bzw. zwei räumlich getrennte Geschehen synchronisieren; hier ist die lange Erzählpassage besonders prägnant, in der die von der Stasi überwachte Briefzustellung beschrieben wird, der auch Gesines Brief an Jakob aus Taormina zum Opfer fällt; so begibt es sich, dass Jakob und Herr Rohlfs Gesines Brief zur selben Zeit lesen: »Am frühen Vormittag noch kam Jakobs Brief mit einem anderen zurück in den Sortierschrank, zu Hause nachmittags fand er einen Brief von Gesine mit 40 Philipp Morris […] und
4.4.6 Die Fiktion der Chronologie: Sukzession und Alinearität in ›Mutmassungen über Jakob‹ Ist die narrative Sukzession im ›Ulysses‹ grundsätzlich (sieht man von der Simultaneität der ›Wandering Rocks‹ ab) linear, insofern als jeder Episode eine genaue Uhrzeit zugewiesen wird und die Progression innerhalb der Kapitel häufig dem voranschreitenden Bewusstsein einer Figur folgt, so erweist sich das zeitliche Gerüst der ›Mutmassungen‹ als hochkomplex und weitgehend achronologisch, wenn man über einzelne Erzählsegmente hinausblickt. Die traditionelle lineare Sukzession des Romans wird aufgehoben zugunsten einer ›thematischen‹; wie in einem Gespräch (sofern es nicht ein Bericht ist) selten ein Geschehen linear entwickelt, sondern vielmehr thematisch-assoziativ entfaltet wird, wobei unsortierte Zeitangaben das zeitliche Raster des Erzählten kartographieren. In den unter dem Titel ›Wenn Sie mich fragen…‹ erneut veröffentlichten ›Vorschlägen zur Prüfung eines Romans‹ bemerkt Johnson [z]ur Chronologie: Wie sie eine Erfindung ist, gemacht zu einer Sortierung der Dinge, so ist es eine Erfindung, daß auch nur die Romane des neunzehnten Jahrhunderts sie strikte befolgt hätten. Wir benutzen in unserem Denken die zeitliche Folge, jedoch auch andere Methoden. Warum sollten wir nicht als Kompliment ansehen, daß Romane unserer Zeit wenigstens sich versuchen an den artistischen Fertigkeiten zeitgenössischer Gehirne?163
Seinen Verzicht auf das traditionell-chronologische Erzählen begründet Johnson unter Berufung auf die Tradition sowie mit einem Verweis auf die Beschaffenheit des menschlichen Zeitempfindens und die mimetische Umsetzung von Bewusstseinsstrukturen in der Literatur, der an Arno Schmidts Postulate aus den ›Berechnungen‹ erinnert. Eine genaue Rekonstruktion des zeitlichen Skeletts der ›Mutmassungen‹, die es erlaubt, den meisten der Dialoge und Erzählpassagen einen genauen Platz in der Sukzession zuzuweisen, ist zwar nicht unmöglich, da jedem Ereignis, jedem Bericht ein genauer Punkt auf der zeitlichen Achse der Diegese zugewiesen ist. Wenn es heißt »an einem beliebigen Dienstag nach Einbruch der Dunkelheit« (MüJ, S. 188), oder »mitten in der Nacht an einem beliebigen Mittwoch« (MüJ, S. 191), so sind diese Wochentage keineswegs beliebig: Bei dem besagten Dienstag handelt es sich um den 23. November 1956, an dem Jakob und Gesine
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Wolfgang Bartsch merkte […], dass Jakobs übliche Zigaretten anders schmeckten, […] ›die schickt uns das Ministerium.‹ Und Rohlfs hielt das feste elastische Fotopapier straff und las zu mehreren Malen was sie geschrieben hatte« (MüJ, S. 33). Johnson: Wenn Sie mich fragen, S. 60. [Zuerst veröffentlicht unter dem Titel: Vorschläge zur Prüfung eines Romans, in: Romantheorie. Dokumentation ihrer Geschichte in Deutschland seit 1880, hg. v. Eberhard Lämmert u.a., Würzburg 1975. S. 398–403, hier S. 401.]
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nach Jerichow aufbrechen, während der »beliebige Mittwoch«, tatsächlich der 24. November 1956 ist, der ihre Ankunft in Jerichow (und zugleich die Zuspitzung der Straßenkämpfe in Ungarn) markiert. Derartige Zuweisungen sind aber allein mit erhöhter Aufmerksamkeit bei der Lektüre – und nicht ohne schriftliche Notizen – zu leisten. Das Verfahren, das hierzu angewandt werden muss, ist ein sammelndes bzw. akkumulierendes, das höchste Anforderungen auch an einen geübten Leser stellt, da kein Hinweis auf Wochentage und/oder historische Ereignisse übersehen werden darf; erst mittels einiger Fixpunkte ergeben sich vor- und zurückspringend Querverweise, die in ihrer Gesamtheit die Zeitstruktur stützen und verdichten. Dann allerdings »zeigt sich, daß die Zeitstruktur der Mutmaßungen keineswegs undurchsichtig ist; die für die Geschichte wichtigen Ereignisse werden zueinander in ein exaktes Zeitverhältnis gesetzt und im Roman selbst präzise datiert.«164 Die zeitliche Komplexität und Artifizialität der ›Mutmassungen‹ ist weniger ein für den Leser ausgelegtes Puzzle, der dessen quer über den Text verstreute Teile zusammentragen muss, sondern vielmehr die notwendige Konsequenz aus der Erzählanlage: Sobald das Ende feststeht und Finalität aufgegeben wird, ist eine lineare Progression innerhalb des Textes hinfällig, da die Handlungsfragmente vom Leser auf das Faktum von Jakobs Tod ausgerichtet werden. Die Dialoge sind aufgrund ihrer zeitlichen Situierung nach Jakobs Tod als ein Epilog zu verstehen, der – wie der Fluchtepilog in ›Ingrid Babendererde‹ – zerschnitten und über den Roman verteilt wird; wie im Erstling enthält erst Kapitel V, das Romanende, die entscheidenden Hinweise auf die raum-zeitliche Situierung der Dialogsegmente: »Der Zweck dieses Kapitels ist […], Orte zu fixieren, die der Roman von Anfang an in Anspruch genommen hat: die Sprechsituationen der Dialogpartien.«165 Die Dialoge der Kapitel I und II finden noch am Tag von Jakobs Tod statt (Jonas besucht Jöche in Jerichow, ihre Unterredung in Peter Wulffs Gaststätte Krug lässt sich auf Donnerstag, den 8.11.1956 datieren (vgl. MüJ, S. 302–304)). Die Textpassage endet mit den Worten: »Endlich hob Jöche den Kopf und sah Jonas an und sagte: ›Aber er ist doch immer über die Gleise gegangen.‹« (MüJ, S. 304). Indem im Schlusskapitel die Begegnung zwischen Jonas und Jöche (leicht variiert) in den ersten Satz des Romans mündet, wird die Zirkularstruktur des Textes ebenso offenkundig wie die Komplexität der Zeitverhältnisse. Bei den Dialogen des III. Kapitels handelt es sich um Bruchstücke des Telefonats zwischen Gesine und Jonas am 9.11. (Freitag), das von Rohlfs abgehört wird. Das Telefonat erfährt seine Situierung im V. Kapitel, wobei wiederum der Beginn der Unterredung zitiert wird: »›Kein Tonband‹ sagte Herr Rohlfs. Hier ist Cresspahl; wer spricht. Teilnehmer bitte
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Popp: Einführung in Mutmassungen über Jakob, S. 63. Ebd., S. 56.
melden Sie sich. Weisst du es schon. ›Tatsachen. Ich habe keine Einwände. Meine Verabredung mit der Dame darf nicht erwähnt werden.‹« (MüJ, S. 305) In einem Weinlokal in Westberlin treffen sich schließlich Gesine und Rohlfs am 10.11. (Samstag, der letzte Tag der erzählten Zeit), womit die Schlusszeilen des Romans zugleich die noch ausstehende räumlich-zeitliche Fixierung der Dialogpassagen in IV leisten: Das Lokal war nicht teuer. Es war ihr eingefallen weil sie die weissgescheuerten Tische gern mochte. Sie kam wenige Minuten zu spät, und Herr Rohlfs stand auf, als er sie in der Tür sah. Ich wäre froh eine Schwester zu haben. Und sie sah nicht aus wie eine, die geweint hat; das wollen wir doch mal sagen. (MüJ, S. 308)
Die Sukzession der Dialoge und Monologe ist innerhalb der jeweiligen Segmente weitgehend linear. Die Dialoge als mimetischer Modus schreiten dem Gesprächsverlauf folgend voran, weisen zwar innerhalb der Kapitel Aussparungen auf, sind jedoch nicht achronologisch montiert; die Monologe sind zwar in ihrer zeitlichen Situierung im Gesamtplan unbestimmt, folgen aber in sich jeweils dem voranschreitenden Figurenbewusstsein. Die Erzählpassagen dagegen können Analepsen inkorporieren, die häufig große Zeiträume umspannen und raffend wiedergeben; auf diese Weise wird die erzählte Zeit über den Zeitraum der Haupthandlung – »Jakobs Oktober« (MüJ, S. 18)166 bis zu seinem Tod am 8. November 1956 – über die Spanne von Jakobs Leben bis ins Jahr 1928 (Jakobs Geburt) in die Vergangenheit hinein erweitert. Die Ereignisse der Vorgeschichte dringen in Analepsen in die Erzählpassagen ein und sind als Erinnerungen der Figuren auch auf die Monologe verteilt. Diese »epische Genauigkeit allmählichen Vervollständigens«167 ist ein für die ›Mutmassungen‹ in hohem Maße charakteristisches Verfahren; häufig wird ein Ereignis angerissen und erst im weiteren Romanverlauf ›portionsweise‹ um einzelne Facetten und Fakten ergänzt, etwa folgender (zentraler!) »Nachtrag« zum großen Gespräch in Cresspahls Haus: (Und warum hat Jakob Gesine mit Jonas an den Strand geschickt und Cresspahl die Tür abschliessen lassen hinter ihnen und dann gerade vor Cresspahl angefangen zu sagen »du, Cresspahl…« und zu erzählen vom vorigen Donnerstag an? oder vielmehr: er sagte nichts, er legte den Revolver auf den Tisch und liess Cresspahl ihn ansehen und begreifen dass die Umstände (die Sseitn) nun gediehen waren bis zu diesem kostbaren Stück Stahl. […] Wollte er [Jakob] endlich einen Mitwisser und nicht mehr gänzlich für alles aufkommen müssen mit seinem einsamen Urteil? oder hielt er seine Meinung nicht für die einzige Zuständigkeit?) (MüJ, S. 221)
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Der eigentliche Beginn der erzählten Zeit ist die Nacht von Samstag, dem 6. auf Sonntag, den 7.10.1956. Samstag spät sieht Rohlfs die Akte Heinrich Cresspahls durch, stößt dabei auf Gesine, die er für den SSD anwerben will, und fährt noch in der gleichen Nacht mit seinem Chauffeur und Assistenten Hänschen nach Jerichow, »das war aber so um den siebenten Oktober« (MüJ, S. 11). Neumann: Uwe Johnson, S. 166.
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Die eben zitierte interne Rückwendung verdeutlicht aufs Neue, dass die Abfolge der Erzählpassagen keineswegs linear voranschreitet. Was ihre Anordnung in der Tektonik des Romans anbelangt, weicht die Disposition der Gespräche, Monologe und der Erzählpassagen von der äußeren Chronologie erheblich ab; die traditionelle iterative bzw. singulative Erzählweise wird hier zugunsten des ungewöhnlichen Effekts von repetitivem Erzählen aufgegeben, der in logischem Zusammenhang mit dem polyperspektivischen Erzählmuster steht. Wie kaum ein anderes erzähltechnisches Verfahren fordert repetitives Erzählen die Aktivität des Lesers heraus, da sich ein Vergleich der Versionen aufdrängt. So bedarf es keines außergewöhnlichen Spürsinns, zu der Einsicht zu gelangen, dass der Taxifahrer, der Gesine und Jakob nach Jerichow gefahren hat, ihnen einen höheren Fahrpreis abgenommen hat, als er Rohlfs gegenüber zugibt.168 Im Verlauf des ›Ulysses‹ kehrt Leopold Blooms Erinnerung immer wieder zu seiner ersten romantischen Begegnung mit Molly zurück; das Gegenstück zu den Erinnerungsfragmenten Blooms liefert der lange Schlussmonolog, der ebenfalls in die Howth-Episode mündet. Auch von der ersten Begegnung zwischen Gesine und Jonas erfährt der Leser an zwei Stellen des Romans, die knapp hundert Seiten voneinander getrennt sind: zunächst im Monolog Jonas Blachs, später in der Erinnerung Gesines.169 Zwar widersprechen sich die berichteten Fakten nicht, jedoch lassen die unterschiedlichen Reflexionen, die Gewichtung der erinnerten Facetten, die Details, die im Gedächtnis von Jonas und Gesine zurückgeblieben sind, Rückschlüsse auf die Figuren zu – und auf die Bedeutung, die sie diesem Ereignis zuschreiben, während der Eindruck, den der Leser von der Begegnung erhält, durch die zweite Version ergänzt aber zugleich relativiert wird. Im Gespräch mit Leslie Willson bekennt Johnson sich zu seinem Glauben »an die individuelle Wahrheit, die persönliche. [Willson: Gibt es dann viele Wahrheiten?] Ja, notwendigerweise miteinander streitende Wahrheiten.«170 Es geht Johnson also darum, mehrere Teilwahrheiten für sich sprechen zu lassen und diese nicht zugunsten einer fiktiven Wahrheit aufzulösen bzw. zu harmonisieren, mithin zu vereinfachen und zu ver-
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169 170
In der entsprechenden Erzählpassage berichtet der Chauffeur des Taxis Herrn Rohlfs: »Ich sage: das kost Sie siebzig Mark, seit einer halben Stunde ist Nachttarif. Macht ihnen nichts aus. Gewiss ist das eine ungewöhnliche Strecke, aber ich krieg mein Geld fürs Fahren und nicht fürs Diskutieren, nich? Wenn sie von dem einen Bahnhof an den anderen wollten, wird ihnen der erste eben nicht gefallen haben: schon gut, Meister.« (MüJ, S. 158f.) In Gesines Monolog dagegen ist von immerhin 85 Mark die Rede: »Oh und wie mocht ich das Taxi leiden. […] ›Das kost’ Sie fünvenachzich‹ sagte der Chauffeur.« (MüJ, S. 163ff.) Vgl. MüJ, S. 109–111 (Jonas) und S. 198–200 (Gesine). Johnson: »Ein verkannter Humorist«, S. 288.
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fälschen, denn: »Wo die Realität nur ungenau bekannt ist, würde ich nicht versuchen, sie bekannter darzustellen.«171 Die Begegnung zwischen Gesine und Rohlfs am Dienstag, dem 23.10. im Elbehotel ist eine konsequente Umsetzung zeitdeckenden Erzählens, das sich anhand von Rohlfs Beobachtungen der Uhr fixieren und überprüfen lässt: »Neunzehn-sieben. Noch acht« (MüJ, S. 147); streng genommen kann hier nicht von repetitivem Erzählen gesprochen werden, da eine Begebenheit biperspektivisch aufgesplittet und zwischen Rohlfs und Gesines Reflexionen hin- und her geschnitten wird. Da beide sich gegenseitig beobachten, hat diese Schnitttechnik in der Gegenüberstellung der Monologe, die durch den kurzen Einschub »Guten Tag« unterbrochen wird, aufschlussreiche Brechungseffekte zur Folge: Vielleicht seh ich noch auf wen sie wartet, es würde nichts hinzutun: sie kann warten auf wen sie will: sie wird doch immer klar achtsam gespannt dasitzen auf ihre Weise so dass ein Zuschauer es wissen will ohne jeden Nutzen. […] Ich dürft den Kellner nicht so anschnauzen. Ich hab eine Menge schlechter Gewohnheiten. Früher war ich ein zartes Kind: und ich hab ein unbrauchbares Gedächtnis an manchem Abend. Neunzehn-elf. Guten Tag Ich weiss gar nicht was ich davon halten soll: sagte der Frosch, da sah er in den Spiegel. Was für eine herrenhafte Neugier der Mensch am Leibe hat, […] Habe ich mir so das Gesicht der herrschenden Klasse vorzustellen? mürrisch anmasslich sehr weise? […] Er fährt auf den Kellner los wie ein Schiesshund […] Wir sehen uns an wie zwei fremde Tiere. (MüJ, S. 146–148)
Mit der Wiederholung von Erzählfragmenten wählt Johnson ein narratives Verfahren, das bereits in der Besprechung der ›Wandering Rocks‹-Episode erläutert wurde, die sich verschiedentlich selbst zitiert; zwei unterschiedliche Stellen im Textverlauf werden durch repetitives Erzählen eines Ereignisses (nachträglich) übereinander geschoben. Johnson kann es dabei jedoch nicht allein um einen Simultaneitätseffekt gegangen sein; vielmehr bringt die analytische Struktur der ›Mutmassungen‹, die bewusst hält, dass »verschiedene Menschen unterschiedliche Häuser brennen sehen« und keiner dieser Teilwahrheiten den Vorzug gibt, die Umkehrung der narrativen Sukzession mit sich. Die jedem Eindruck von Finalität zuwiderlaufende Anlage des Textes wird gerade dadurch suggeriert, dass der Leser nach 300 Seiten wieder auf den Erzählbeginn verwiesen wird; er kennt zuletzt die Charaktere, ihre Charakterdispositionen und Motivationen, ist vertraut mit den Geschehnissen der Haupthandlung in der Zeit zwischen dem 7.10. und 171
Neusüß: Über die Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit, S. 191. Diese erzählerische Maxime wird in einem versteckten metafiktionalen Kommentar innerhalb des Textes reflektiert: »Das ungefähre Einverständnis ist nicht sehr kräftig in den öffentlichen Reden der Redner der Gegenwart, Cresspahl würde sagen: anwesend seien wohl die mehreren gewesen, aber da habe jeder ein anderes Haus brennen sehen, Häuser seien sich ohnehin nicht gleich […].« (MüJ, S. 67)
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10.11.1956 und ihrer Bewertung durch die verschiedenen Figuren; nichtsdestoweniger findet er sich zuletzt auf den Anfang der Erzählung und damit den Zweifel an einer eindimensionalen Deutung von Jakobs Tod zurückgeworfen; die Frage nach dessen Hintergrund stellt sich von neuem und bleibt – nach der Lektüre freilich vor einem breiteren Horizont an Möglichkeiten und (Teil-)Wahrheiten – notgedrungen offen. 4.4.7 Die ›Mutmassungen über Jakob‹ und der Leser Im Gespräch mit Anselm Neusüß erörtert Uwe Johnson seine ›Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit‹: Was ist denn die Wahrheit? Es gibt eine subjektive, die Erlebniswahrheit, die unter anderem an sich hat, daß ein Vorgang von fünf Minuten in der Erinnerung auf eine Sekunde zusammenschrumpfen kann, oder eine Sekunde weitet sich aus zur Unendlichkeit: da ist nichts genau zu fixieren. Es gibt bei dieser subjektiven Wahrheit der Erlebniszeit auch Teilwahrheiten, die gar nicht formulierbar sind. […] Dann gibt es auch objektive Wahrheiten, etwa die Geschichtsschreibung oder die Statistik, und dann gibt es auch noch die parteiische Wahrheit. […] [A]ll diese Teilwahrheiten: sie mögen sich manchmal überdecken, mitunter bestätigen sie sich, aber alle greifen von ganz verschiedenen Aspekten her den Gegenstand oder den Vorfall oder das Gefühl an, und sehr oft widersprechen sie sich. Was ist denn da die Wahrheit?172
Johnsons grundsätzliche Skepsis gegenüber monokausalen Erklärungen und eindimensionalen Deutungen von Sachverhalten muss zugleich als seine poetologische Maxime angenommen werden, die den Erzählprozess in erheblichem Maße prägt und ihn mit Komplexität anreichert. Wenn keiner (Teil-)Wahrheit gegenüber anderen der Vorzug gegeben werden soll, dann müssen alle Teilwahrheiten gleichberechtigt narrativ gestaltet werden; Polyphonie, Polyperspektivik und repetitives Erzählen sind die folgerichtigen narrativen Erscheinungsformen der ›Mutmassungen über Jakob‹, die Uwe Johnson in der epischen Avantgarde im Allgemeinen und im ›Ulysses‹ im Besonderen vorfand. Jedoch scheint er die Vertrautheit des Lesepublikums mit deren Innovationen überschätzt zu haben, wenn er lapidar bemerkt: »Und was das Technische angeht, dass die Monologe kursiv gesetzt sind und die Dialoge mit einem Strich eingeleitet werden, das sind optische Signale und nicht die allerneuesten Hüte.«173 Wenngleich die Vorbilder im »Technischen« hier ungenannt bleiben, so lassen sich zwei Namen doch ohne Schwierigkeiten ergänzen: William Faulkner – und James Joyce. Der Schock, den die Publikation der ›Mutmassungen über Jakob‹ bei der literarischen Kritik und dem Lesepublikum auslöste, zeigt das ungebrochene Provokationspotential dieser erzählerischen Verfahrensweisen, die offenkundig auch 172 173
Neusüß: Über die Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit, S. 192. Baumgart: Uwe Johnson im Gespräch, S. 227.
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nach beinahe einem halben Jahrhundert noch nicht zu einer Selbstverständlichkeit im Erfahrungshorizont der Rezipienten geworden waren. Und noch immer scheint – das zeigt die Reaktion von Schülern und Studenten auf den Text – Johnsons erste Veröffentlichung als »Zumutung« für den Leser empfunden zu werden. Obwohl Johnson häufig erklärt, sein erstes großes literarisches Experiment weitgehend ohne Rücksicht auf mögliche Publikumsreaktionen unternommen zu haben,174 skizziert er doch einen »idealen Leser«, der die aktive Rolle annimmt, die ihm vom Verfasser zugedacht ist: »Ich habe das Buch so geschrieben, als würden die Leute es so langsam lesen, wie ich es geschrieben habe. Wir haben aber eine ganz andere Form des Lesens heutzutage, die sehr hastig ist und sich eigentlich nur nach Signalen orientiert.«175 Die ›Vorschläge zur Prüfung eines Romans‹ enthalten nicht nur maßgebliche Facetten einer »Poetik« Uwe Johnsons, sondern beweisen auch sein beständiges Bemühen um einen Dialog mit dem Leser – sowohl in seiner Prosa, als auch über diese: Wozu also taugt der Roman? Er ist ein Angebot. Sie bekommen eine Version der Wirklichkeit. Es ist nicht eine Gesellschaft in der Miniatur, und es ist kein maßstäbliches Modell. Es ist auch nicht ein Spiegel der Welt und weiterhin nicht ihre Widerspiegelung; es ist eine Welt, gegen die Welt zu halten. Sie sind eingeladen, diese Version der Wirklichkeit zu vergleichen mit jener, die Sie unterhalten und pflegen. Vielleicht paßt der andere, der unterschiedliche Blick in die Ihre hinein. Verteidigen Sie Ihre Unabhängigkeit bis zur letzten Seite des Buches. Wird Ihnen ausdrücklich gesagt, was der Roman zu sagen versuchte, ist dies der letzte Augenblick zur Entfernung des Buches. Sie haben sich das Recht erworben auf eine Geschichte. Die Lieferung einer Quintessenz oder einer Moral ist Bruch des Vertrages. Mit dem Roman ist die Geschichte versprochen. Was dazu gesagt wird, sagen Sie.176
Wenngleich Johnson sich als Schriftsteller für die Unterhaltung des Lesers verantwortlich fühlt,177 so scheut er sich nicht, den Leser zu brüskieren, und erlaubt keinerlei Zugeständnisse an die Wahrnehmungsgewohnheiten des Publikums, die tendenziell den Innovationen der Künste hinterherhinken (denn dies liegt in der Natur der ›Avantgarde‹): 174
175 176 177
»Es war eigentlich der Versuch, eine Geschichte zu erzählen. Ein sehr privater Versuch. Deshalb orientiert sich die Technik des Buches – seine Konstruktion – noch nicht an den Leuten, die es lesen werden.« (Roloff: Gespräch mit Uwe Johnson, S. 172.) Neusüß: Über die Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit, S. 185. Johnson: Wenn Sie mich fragen, S. 62. »Der Roman muß Sie unterhalten. […] Dann wäre zumindest Teilung der Arbeit festzustellen. Während Sie anders beschäftigt sind, beschafft der Romanschreiber Ihnen Unterhaltung und Information. Dann hätte er seine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, sofern sie einseitig bestehen kann, erfüllt.« (Johnson: Wenn Sie mich fragen, S. 63.)
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Zugegeben, die Manieren neuer Romane können weit weg sein von den Wahrnehmungsfähigkeiten des Publikums. Wie in anderen Künsten auch. Da mag ein Dilemma sein. Eine Alternative ist es nicht.178
Johnson geht es also – und in dieser Hinsicht steht er den wirkungsästhetischen Prinzipien Brechts nahe – um ein Aufbrechen der passiven Rezeptionshaltung, um eine »Schule des Lesens«.179 Zwar gestaltet Johnson in den ›Mutmassungen‹ (wie in all seinen Erzählungen) das »immerwährende Staunen, dass wir dieselbe Sprache und andere Verhältnisse haben«;180 im Gegensatz zu Brecht spricht er jedoch – auch darin besteht eine grundlegende Parallele zu Joyce – dem Roman eine unmittelbare politische Wirkung ab. Der Roman sei keine »revolutionäre Waffe«,181 er bediene sich nicht politischer, sondern formaler und stilistischer Mittel, mit denen er auf den Leser wirkt; sein grundlegendes wirkungsästhetische Potential sieht Johnson hingegen darin, bestehende Wahrnehmungsmuster aufzubrechen und dem Leser auf diese Weise neue Einsichten in seine unmittelbare Gegenwart zu eröffnen: Die Geschichte in einem Roman muß also mehr tun, als der Welt des Lesers etwas hinzufügen [sic]. Sie muß sie erweitern, zwar auch durch Neuigkeiten, gründlich aber durch Erfahrung, die der Leser aus Mangel an Zeit oder Erlaubnis bisher versäumte, so daß er wählen kann, ob er sie probieren will oder vermeiden. Das wäre was Neues. Neu, nicht bloß modern, muß das Bewußtsein sein, in dem der Leser sich mit dem Roman befindet. Die Geschichte allein tut es nicht, der Roman muß sie mit der Welt
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Ebd., S. 61. Als eine solche versteht Popp die ›Mutmassungen über Jakob‹ und setzt sich intensiv gerade mit der Vermittlung des Textes im Unterricht auseinander. Sein Plädoyer für die Behandlung des komplexen Romans (gepaart mit sorgfältigen Handreichungen zu seinem Verständnis und seiner didaktischen Aufbereitung) verdient allemal höchsten Respekt. Und was Popp für die Lektüre der ›Mutmassungen‹ als unerlässlich darstellt, gilt für avantgardistische Prosa im Allgemeinen: »Wer sich entschließt, die ›Mutmaßungen über Jakob‹ mit seiner Klasse zu lesen, wird gut daran tun, diese Lektüre methodisch eben darauf abzustellen, daß man hier gezwungen ist, so zu lesen, wie man eigentlich immer lesen müßte. Man sollte die ›Mutmaßungen‹ im Deutschunterricht ganz bewußt als eine Schule des Lesens betrachten. […] Aufmerksames, umsichtiges und geduldiges Zuhören, auch Zurückblättern, Vergleichen und wiederholtes Lesen werden hier zur Selbstverständlichkeit; denn die nachträgliche Entschlüsselung ist eine Grundtechnik dieses Buches. Und das Bemühen um die Fabel sieht sich beständig auf die Frage nach den Mitteln der Gestaltung verwiesen und fordert zugleich, daß man sich jederzeit über Sinn und Bedeutung jeder Handlung und jedes Satzes ablegt.« (Hansjürgen Popp: Mutmassungen über Jakob‹ im Deutschunterricht, in: DU 1 (1968), S. 57–68, hier S. 57f.) Neusüß: Über die Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit, S. 187. Johnson: Wenn sie mich fragen, S. 61.
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verbinden. Was wir bisher gelernt haben über unsere Situation, ist nur die Voraussetzung; der Roman muß ein neues Ergebnis einbringen.182
Das Bestreben, etwas wirklich »Neues« zu schaffen, läuft dem Rückgriff auf bereits erprobte Techniken und Verfahren nicht zuwider, im Gegenteil, Johnson sieht die Autoren der Gegenwart gegenüber bisherigen Innovationen verpflichtet: »Im Interesse der Geschichte in einem Roman muß das schreibende Gewerbe alle Techniken, Reserven und Auskünfte anwenden. Anders wird die Arbeit nicht haltbar.«183 Das Bemühen um eine äußerste Präzision mit erzählerischen Mitteln ist auf die Mitarbeit des Lesers angewiesen; erst durch seine Aktivität fügt sich das Puzzle zusammen, gewinnt der epische Raum an Fasslichkeit, dessen Bestandteile sich oft über weite Strecken des Textes verstreut finden, nur mit Mühe und häufig allein durch rückerschließendes Lesen geprüft und zusammengefügt werden können. Der hohe Grad an Artifizialität, der den ›Mutmassungen‹ eignet, ist die notwendige Bedingung für einen Gesamteindruck äußerster Natürlichkeit. Dann entsteht ein Eindruck von der erzählten Welt, ihrem Personal, deren Wahrnehmungsweisen und Sprache, der keinesfalls abstrakt ist, wie es die komplexe Erzählanlage auf den ersten Blick vermuten lässt, sondern so konkret und anschaulich, dass es gerechtfertigt ist, Johnsons Erzählen (wie den ›Ulysses‹) mit der (etwas uneleganten) Bezeichnung ›avantgardistischer Realismus‹ zu charakterisieren. Johnsons Vertrauen in die Wirkungsmöglichkeiten des Romans ist auch nach dem Postulat von dessen »Tod« ungebrochen, wenngleich er die Chance eines direkten Anschlusses an die Experimente der literarischen Avantgarde und des James Joyce als vertan und – aufgrund der unzureichenden Beschäftigung mit der Literatur der Moderne im Rahmen der Curricula – vergeblich ansieht: Solange Fiktion akzeptiert wird von einem Leser als ein Mittel des Erzählens, traue ich dem Roman schlechthin alles zu. Es ist sehr schade, daß die Auffassungsmöglichkeit des Publikums so schlecht gepflegt wird von den öffentlichen Schulen, daß zum Beispiel niemand von uns da weitermachen kann, wo James Joyce aufgehört hat. Aber da machen wir ja alle einen Kompromiß, wir wollen alle doch verstanden werden, mit einer Ausnahme, und ich habe kein Vertrauen in den Tod des Romans. Ich halte das überhaupt nur für eine Formel, die geeignet war, gewisse Aufsprünge des Feuilletons zu fördern.184
Hans Magnus Enzensberger preist die ›Mutmassungen über Jakob‹ euphorisch als erstes »gesamtdeutsch[es]« Buch nach dem Krieg und stellt es in der Erfas-
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Ebd., S. 58f. Ebd., S. 61. Bruck: »Ein Bauer weiß, daß es ein Jahr nach dem andern gibt«, S. 272.
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sung dieser bisher grob vernachlässigten Thematik neben bzw. über Schmidts ›Steinernes Herz‹: Das Thema, das auf der Hand liegende, das zentrale, zum Himmel schreiende Thema der deutschen Teilung hat zehn Jahre lang auf seinen Autor gewartet. […] Die Tatsache, daß es zwei Deutschland gibt, ist bisher nur in einem einzigen Buch unserer Literatur, dem »Steinernen Herzen« von Arno Schmidt, und auch dort nur am Rande, in Erscheinung getreten.185
Wenngleich die Verbindungen zwischen Joyce und Johnson nicht mehr so zwingend sind, die Rezeption mittelbarer ist, so wurden doch manche der im ›Ulysses‹ erprobten Techniken auch zur Gestaltung des Themas der deutschen Teilung als brauchbar erkannt. Joyce wie Johnson begreifen den »Roman als Denkprozeß«.186 Ob die mit zunehmendem Widerwillen bei Koeppen oder Schmidt registrierte Restauration der Adenauer-Ära im Westen Deutschlands oder die (vornehmlich ostdeutsche) Perspektive auf die deutsche Teilung – beide Stoffkomplexe bedurften einer Gestaltung, die durch ihre »Schwierigkeit« den Leser provoziert. Zwar glauben keineswegs alle genannten Autoren an eine eminente politische Wirkung des Romans; dennoch sehen sie sein immediates Wirkungspotential darin, durch hochartifizielle formale Mittel die Aktivität des Lesers zu beanspruchen, ihn – und dieser Sachverhalt lässt es gerechtfertigt erscheinen, von einer »Zweiten Avantgarde« zu sprechen – unter Rückgriff auf Techniken der Moderne zu neuen Wahrnehmungsweisen zu führen, um ihm schließlich neue Einsichten in sein zeitgeschichtliches Umfeld zu ermöglichen.
4.5
Die enzyklopädische Bewältigung der Metropole: ›Jahrestage‹
Bevor man das Unterfangen einer vergleichenden close reading-Analyse von Uwe Johnsons ›Jahrestagen‹ vor dem Hintergrund des ›Ulysses‹ von James Joyce in Angriff nimmt, stellt sich die dringliche Frage, ob der Aufwand den Ertrag rechtfertigt. Diese Frage ist nicht nur aufgrund des gewaltigen Umfangs von Johnsons magnum opus berechtigt, sondern auch angesichts der Tatsache, dass Johnson wenn nicht bereits zu Beginn der Niederschrift der ›Jahrestage‹, so doch während des immer und immer wieder verzögerten, unterbrochenen und schleppend wieder aufgenommenen Schreibprozesses einen genuin eigenen Stil herausgebildet hat. Folglich muss eine erhebliche Zäsur zwischen dem Frühwerk, dessen Abschluss die ›Mutmassungen‹ bilden, und dem großen Projekt ›Jahrestage‹ angenommen werden – in die Zwischenzeit fällt immerhin noch die Publikation zweier wei185 186
Enzensberger: Die große Ausnahme, S. 79f. Durzak: Der deutsche Roman der Gegenwart, S. 184.
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terer Romane (›Das dritte Buch über Achim‹, 1961; ›Zwei Ansichten‹, 1965) und des Prosabands ›Karsch‹ (1964) – in der der Autor sich zunehmend vom avantgardistischen Impetus und der Aufnahme fremder Einflüsse in sein Werk ›frei geschrieben‹ hat und zu einer autonomen Schriftstellerpersönlichkeit mit einem genuinen stofflichen, formalen und stilistischen Habitus gereift ist. Im Oktober 1973 fand unter der Regie von Hans Mayer und Uwe Johnson in Berlin ein Beckett-Symposion statt, auf dem Ihab Hassan, einer der führenden Theoretiker der Postmoderne, über ›Joyce, Beckett, und die post-moderne Imagination‹ referierte. In einer Nebenbemerkung zu seinem Vortrag stellte er Uwe Johnson in eine Reihe mit James Joyce und wies ihm die ›Joyce-Nachfolge‹ zu: »Uwe Johnson. Kunst in ihrer unauflösbaren Integrität. Sollte irgendwer die Geschichte des zeitgenössischen weltlichen Helden […] schreiben, so wird es Johnson sein.«187 Johnson als Nachfolger in der Ahnenreihe von Homer bis Joyce? Gesine Cresspahl als Odysseus, Leopold Bloom oder als ›everywoman‹? Hier wird Johnson und dem (zum Zeitpunkt des Colloquiums bereits erheblich strauchelnden) ›Jahrestage‹-Projekt ein schweres Erbe aufgebürdet, gegen das er sich keineswegs zur Wehr zu setzen scheint, im Gegenteil. Die frühen Rezensenten konstatierten die ›Jahrestage‹ betreffend jedoch einen Rückschritt gegenüber den ›Mutmassungen‹, und die Forschung – sofern sie sich von derartigen Werturteilen überhaupt distanziert hat – neigt dazu, Johnsons erste Romanpublikation der Kategorie »Moderne«, seine letzte der »Postmoderne« zuzuschlagen.188 Gewiss sprechen dafür einige Stilzüge, die in den ›Mutmassungen‹ bestenfalls im Keim angelegt, in den ›Jahrestagen‹ nun zu maßgeblichen Paradigmen aufgefächert werden (etwa die metafiktionalen Elemente, s.u.). So plausibel dergleichen Spekulationen bezüglich eines schriftstellerischen Reifeprozesses erscheinen, so vermögen sie jedoch nicht darüber hinwegzutäuschen, dass auch die ›Jahrestage‹ gleichermaßen an die literarische Moderne und an die in seinen früheren Romanen erprobten Techniken und Verfahrensweisen anschließen, diese fortschreiben und in einen ungleich größeren epischen Komplex integrieren. Die avantgardistischen Spuren in den ›Jahrestagen‹, die den
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Ihab Hassan: Joyce, Beckett, und die post-moderne Imagination, in: Das Werk von Samuel Beckett. Berliner Colloquium, hg. v. Hans Mayer u. Uwe Johnson, Frankfurt a.M. 1975 (suhrkamp taschenbuch 225), S. 1–24, hier S. 17. Als symptomatisch kann das Urteil Helmut Heißenbüttels gelten: »Soweit es den ersten Teil betrifft, ist der Verfasser hinter das, was die ›Mutmassungen‹ bedeuten, zurückgefallen« (zitiert nach BU, S. 429). Zum Urteil der ›Jahrestage‹-Forschung vgl. beispielsweise Bernd Neumann: Utopie und Mimesis. Zum Verhältnis von Ästhetik, Gesellschaftsphilosophie und Politik in den Romanen Uwe Johnsons, Kronberg/Ts. 1978, S. 289f.: Heinrich Vormweg: Uwe Johnson. Bestandsaufnahme vom Lauf der Welt, in: Zeitkritische Romane des 20. Jahrhunderts. Die Gesellschaft in der Kritik der deutschen Literatur, hg. v. Hans Wagener, Stuttgart 1975, S. 362–380, S. 378f. u.a.
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fortwährenden Nachhall der Auseinandersetzung mit Joyce und seinem ›Ulysses‹ zumindest nahe legen, sollen in Form eines Ausblicks zwar grob umrissen werden, bleiben jedoch auf einige Hinweise beschränkt – und können vielleicht zu einer intensiveren komparatistischen Auseinandersetzung mit beiden Texten, die diese Arbeit nicht leisten kann und will, anregen. Wie Joyce auf den ›Ulysses‹, so verwandte auch Johnson einen beträchtlichen Anteil seiner Lebenszeit auf die ›Jahrestage‹: 15 Jahre vergehen zwischen dem Beginn der Niederschrift während des New York-Aufenthaltes am 29.1.1968 und dem April 1983, in dem Johnson die letzten 5 Tageskapitel fertig stellt.189 Als zur Buchmesse 1983 der vierte und letzte Band190 der ›Jahrestage‹ erschien, hatte sich die literarische Öffentlichkeit bereits damit abgefunden, dass das Werk unvollendet bleiben würde. Mit den ›Jahrestagen‹ legt Johnson den Versuch der narrativen Bewältigung einer, genauer: der Metropole des 20. Jahrhunderts schlechthin vor: Die auch literarische Metropolen-Rolle, die Paris im 19. Jahrhundert in den Romanen Balzacs und Zolas gespielt hat, die in den zwanziger Jahren Berlin zukam, literarisch durchleuchtet und gespiegelt in Döblins ›Berlin Alexanderplatz‹, hat bereits in Dos Passos’ Roman ›Manhattan Transfer‹ (1925) New York übernommen. Dieser literarischen Kartographie fügt sich Johnsons New York der ›Jahrestage‹ folgerichtig ein.191
Im Gegensatz zu Joyce, der Dublin stets als Mikrokosmos, als Platzhalter für »urban life« im Allgemeinen verstand, verneint Johnson vehement schon den Rückschluss von New York auf die USA (»ich bin wie viele andere Deutsche auch der Meinung, dass New York nicht für Amerika stehen kann«192) und betont, dass es sich um ein einzigartiges Phänomen handle:
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Für die Niederschrift von ›Finnegans Wake‹ benötigte Joyce elf Jahre. Die vier Bände erschienen in den Jahren 1970, 1971, 1973 und 1983, was eine erhebliche Retardation im Arbeitprozess andeutet; aus Johnsons Erläuterungen, »Wie es zu den Jahrestagen gekommen ist« (in: »Ich überlege mir die Geschichte...«, S. 65–71, hier S. 69) wird ersichtlich, dass der Autor die Arbeit – gelinde gesagt – unterschätzt hat: »Der Anfang war natürlich falsch. Im August 1967 war ich an der See, am Abend eines Tages sagte ich mir, warum denn nicht jetzt anfangen, und das war der 20. August 1967. Und ich hatte auch schon den Titel: Jahrestage. 365 Jahrestage. Ich fing damals mit der Beschreibung jener See an, die ich in New Jersey gesehen hatte, und bekam tatsächlich das erste Kapitel fertig, diesen Montag nach dem Sonntag. Ich dachte mir: am Dienstag schreibst du ein Kapitel über den Montag, am Mittwoch eines über den Dienstag ... und dann ist ein Jahr vergangen und dann hast du deine 365 Kapitel und dann bist du fertig. Als das 365. Kapitel an der Reihe gewesen wäre, hatte ich bestenfalls 20 geschrieben.« (Zu Johnsons Auseinandersetzung mit dem Zustand des »writer’s block« vgl. auch BU, S. 452.) Ebd., S. 232. Heinz D. Osterle: Todesgedanken? Gespräch mit Uwe Johnson über die »Jahrestage«, in: Internationales Uwe-Johnson-Forum 1 (1989), S. 137–168, hier S. 140.
New York hat mich als Experiment einer Stadt fasziniert, so etwas gibt es sonst einfach nicht. Ich meine damit die gesamten Mechanismen, die gesellschaftlichen wie technischen. […] Von einem Zwischenbesuch in Deutschland kam ich nach New York wie nach Hause zurück. Ich fand diese Stadt bis zum letzten Tag interessant.193
Reinhard Baumgart spricht – nicht ohne Ehrerbietung – von Johnsons »monumentalem Vertrauen in die Monumentalität von Literatur.«194 Gewaltig wie die amerikanische Metropole ist auch Johnsons epischer Zugriff, der ja nicht auf den Raum New Yorks begrenzt bleibt, sondern über den Atlantik hinaus strebt, insgesamt ca. 400 Personen auftreten lässt, nicht nur die Jahre 1967/68, sondern die Vergangenheit von der Weimarer Republik über den Zweiten Weltkrieg bis ins geteilte Deutschland umschließt; diese gewaltige narrative Geste, die mit einem immensen Vertrauen in die Möglichkeiten des Erzählens einhergeht, eint ihn mit Joyce Projekt, anknüpfend an das Muster Homers, die Odyssee des 20. Jahrhunderts narrativ zu bewältigen. Entsprechend voluminös fiel das Ergebnis der »naiven Retrospektive« aus: 1891 (plus XVII) Druckseiten stellten eine Herausforderung an das literarische Publikum dar, das nach rascherer und bequemerer Unterhaltung drängte; für manchen waren sie gar ein Ärgernis: Von dieser fatalen Mischung aus Weltfremdheit und Selbstvertrauen – denn um den Geisteszustand von Menschen, die so langsam lesen, wie anspruchsvolle Romane in der Regel geschrieben werden, muß es besonders schlecht bestellt sein – zeugen auch die ungewöhnlichen Dimensionen der Jahrestage.195
4.5.1
›Jahrestage‹ und ›Ulysses‹ als Tagebücher einer Epoche: Tektonik, Zeitstruktur, Finalität
Im ›Ulysses‹ wie in den ›Jahrestagen‹ sind es objektive Zeitangaben, die die Handlung strukturieren. Während die Sukzession des ›Ulysses‹ kleinschrittig im Stundenrhythmus verfährt, indem jeder Episode eine Stunde des 16. Juni 1904 zugewiesen wird, sind die ›Jahrestage‹ ein Buch aus Tagen196 oder ein »Jahres-Tage-Buch«197 und schreiten diarisch durch die Jahre 1967 und 1968
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Schwarz: Gespräche mit Uwe Johnson, S. 241. Reinhard Baumgart: Eigensinn. Ein vorläufiger Rückblick auf Uwe Johnsons Jahrestage, in: Uwe Johnson. Materialien, hg. v. Rainer Gerlach u. Matthias Richter, Frankfurt a.M. 1984 (suhrkamp taschenbuch 2061), S. 315–324, hier S. 315 [zuerst in: Merkur 422 (1983), S. 921–927]. Marcel Reich-Ranicki: Uwe Johnsons neuer Roman. Der erste Band des Prosawerks Jahrestage, in: Johnsons ›Jahrestage‹, hg. v. Michael Bengel, Frankfurt a.M. 1985 (suhrkamp taschenbuch materialien 2057), S. 135–142, hier S. 136 [zuerst in: Die Zeit (2.10.1970), S. 20f.]. Gröhler: »Ich fabriziere keinen Text, ich schreibe ihn«, S. 250. Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 248.
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voran; die erzählte Zeit umfasst somit im engeren Sinne »365 Tage und dazu die Jahre von 1920 bis zur Zeit eben dieser 365 Tage.«198 Die »auf den ersten Blick schematisch[e]« Zeitstruktur beider Romane, die Joyce und Johnson eine korsetthafte Begrenzung auferlegt, macht jedoch paradoxerweise auch die Offenheit der vorgegebenen Erzählstruktur aus: »Das Experiment der einzelnen Tagesgeschichte ist der expressive Umschlagplatz für Realitätsfragmente aller Art.«199 Die Geschichten drängen über den künstlichen zeitlichen Rahmen hinaus (in den ›Jahrestagen‹ freilich schon durch das Hereinholen der Vergangenheit in großem Umfang, im ›Ulysses‹ durch die – unwillkürlichen – Erinnerungen der Protagonisten), fordern Spekulationen geradezu heraus, denn welcher Leser hätte sich noch nicht gefragt, wie es mit Stephen Dedalus, mit Leopold und Molly Bloom (und ihrer Ehe!) weitergehen mag. In gleichem Maße drängt sich die Frage nach den Cresspahls in Prag auf; Christian Elben spricht gewiss dem Teil des Lesepublikums der ›Jahrestage‹ aus der Seele, der Gesine und Marie über knapp 2000 Seiten gefolgt ist, indem er den unmittelbaren Rezeptionseindruck des Schlusses wie folgt resümiert: Am eigenen Leib erleben wir den Verlust von Personen, die uns dank Johnsons Erzählkunst nahestehen. Dabei handelt es sich um eine Verlusterfahrung, die durch die nicht zu verifizierende Mutmaßung verschärft wird, daß sich in Prag mit den Cresspahls Schreckliches ereignete. […] Als Leser der Jahrestage wissen wir, was aus dem Prager Frühling wurde, und werden nie wissen, woran Gesine und Marie nach dem 20. August waren und sind. Immer besorgter, in einem lesenden Accelerando begriffen, rutschen wir gemeinsam mit ihnen Zeile um Zeile dem 21. August entgegen, um dann – blind mit offenen Augen – in eine unbeschriebene Seite voll böser Ahnungen abzustürzen. In der Vollendung der Jahrestage verrückt Johnson das Schicksal der Familie Cresspahl in eine weiße Seite Papier.200
Daneben stellt sich natürlich grundsätzlich die Frage nach der »Katastrophe«, in die die ›Jahrestage‹ münden, scheint doch die (fatale) Finalität der ›Jahrestage‹ der realistisch-offenen Erzählanlage im Nachhinein ein hoch artifizielles Muster aufzuprägen. Kaum hat der Leser die zeitliche Anlage der ›Jahrestage‹ durchschaut, muss ihm aufgehen – aufgrund dieses Wissensvorsprungs gegenüber der Protagonistin, die ihre Hoffnungen auf diesen im Sommer des Jahres 1968 zumindest möglichen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« projiziert – dass mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen in die Tschechoslowakei, mit dem Ende des Prager Frühlings die Zerstörung dieser Illusion unausweichlich 198 199
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Matthias Prangel: Gespräch mit Uwe Johnson [Am 6.3.1974 in Rotterdam], in: »Ich überlege mir die Geschichte…«, S. 263–267, hier S. 263. Beatrice Schulz: Lektüren von Jahrestagen. Studien zu einer Poetik der »Jahrestage« von Uwe Johnson, Tübingen 1995 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 77), S. 212. Christian Elben: »Ausgeschriebene Schrift«. Uwe Johnsons Jahrestage: Erinnern und Erzählen im Zeichen des Traumas, Göttingen 2002 (Johnson-Studien 5), S. 270.
droht, sobald sich der epische Rahmen am 20. August 1968 geschlossen haben wird. Johnson hat sich jedoch stets dagegen verwehrt, dass dieses finstere Telos Teil seines erzählerischen Plans war, vielmehr sei es ihm – wie auch alle anderen Geschehnisse des politisch hochbrisanten Jahres – nachträglich von der Realität aufgezwungen worden: Ich habe im Juli 1967 angefangen, meine Komposition zu erarbeiten, und im Januar 1968, sie aufzuschreiben. Es war eine Art gemeinsamer Arbeit zwischen mir und G., in der G.s Wirklichkeit geschildert werden sollte. festgelegt auf 365, d.h. vielmehr auf 366 Kapitel und Tage. Der 20. August war unberuflich das letzte Datum. Wenn da etwas offengelassen wurde, dann tat das die Wirklichkeit. Das war nicht meine Idee oder mein Schlußgedanke.201
Die prinzipielle Aufnahmefähigkeit des narrativen Grundmusters für alles, was das Jahr bringen würde, die autonome Entwicklung der Zeitgeschichte hat damit Anteil an der Autorschaft der ›Jahrestage‹. Dass die Zukunft eine derartig desillusionierende Finalität beisteuern würde, erweckt den Eindruck, als hätte der historische Verlauf Johnsons Realismuspostulat ironisch gegengezeichnet. Dass ein Jahresroman einen weiteren historischen Ausschnitt zu inkorporieren vermag als die Chronik eines Tages, liegt auf der Hand – wenngleich sich der geschichtliche Anspielungsreichtum des ›Ulysses‹ selbstredend nicht auf den Bloomsday beschränkt. Beide Autoren eint jedoch gleichermaßen das »homerische Gedächtnis«, das Johnson von seinem Freund Max Frisch attestiert wurde202 – und das Bestreben, ein kompendienhaftes »Tage-Buch der Welt«203 vorzulegen, mit je unterschiedlicher Auslegung des letzteren Kompositums. Im ›Ulysses‹ bilden die Stunden des Tages das Raster für 18 Experimente, in den ›Jahrestagen‹ die 367 Tageskapitel, die mit Ausnahme des ersten datiert 201
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Ebd., S. 158f. Natürlich ist davon auszugehen, dass Johnson, sobald er von diesem politischen Ereignis erfahren hatte, die ›Prag-Dimension‹ ausgestaltet und sie als Projektionsfläche für Gesines Hoffnungen zugespitzt hat, hatte er doch, als er New York im August 1968 verließ, nach eigenen Auskünften lediglich siebzehn Tageskapitel fertig gestellt (vgl. BU, S. 426). Max Frisch: Tagebuch 1966–1971, Frankfurt a.M. 1972, S. 24. In dem Kurzportrait Johnsons (vgl. ebd., S. 23f.) heißt es: »Ein homerisches Gedächtnis hat dieser Mann. Mecklenburg wird sich darauf verlassen dürfen.« Vgl. dazu J, S. 1191, wo die ›New York Times‹ als »Tagebuch der Welt« bezeichnet wird. Was hier im Roman über Gesines bevorzugte Tageszeitung gesagt wird, gilt gleichermaßen programmatisch für den Text selbst. Johnson hingegen steht der Bezeichnung der ›Jahrestage‹ als »Tagebuch« skeptisch gegenüber und hat den formalen Einwand in den Roman selbst eingeschrieben: »Die Gesine Cresspahl der sowjetischen Besatzungszone hatte im Frühjahr 1947 angefangen mit einem Tagebuch. Es war so recht nicht eines. (Wie dies keins ist, hier macht ein Schreiber in ihrem Auftrag für jeden Tag eine Eintragung an ihrer Statt, mit ihrer Erlaubnis, nicht jedoch für den täglichen Tag.)« (J, S. 1474)
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sind und zwischen einer Länge von 16 Zeilen (15. April 1968) und 20 Seiten (17. August 1968) variieren. Auch das »Prinzip Jahrestag«204 erlaubt und fördert formale wie stilistische Variation; so »schematisch« die kalendarische Form scheinen mag, so offen ist sie doch für formale Experimente wie für die Aufnahme verschiedenster narrativer Formen, Geschichten wie Geschichtchen und (zum Zeitpunkt der Niederschrift z.T. noch unbekannter) heterogener Realitätspartikel. Die Tageskapitel sind zwar – wie die Episoden des ›Ulysses‹ – durch die thematisch-motivische, inhaltliche und strukturelle Logik der Gesamttektonik verbunden; dennoch ermöglicht jeder Eintrag als Experimentierfeld und »Assoziationsebene« prinzipiell einen Neuansatz: Ich möchte aber doch meinen, daß es eine flexible Struktur ist, insofern ich mir für den Moment des Schreibens vorbehalten kann, was ich in den jeweiligen Tag als Gegenwart oder Erinnerung hineinlege. Da bin ich ganz frei. Ich brauche nicht schematisch einmal die Zeitebene 1967/68 zu nehmen und dann etwas aus der Vergangenheit, bloß weil es dran wäre. Ich habe mir ja durch Anklänge an Nachrichten der New York Times, aus Problemen, die für das Kind aus diesen Nachrichten entstehen und die dann diskutiert werden und wiederum Erzählung mit sich bringen, eine Assoziationsebene geschaffen. Das ist eine Struktur, die Änderungen während des Schreibens erlaubt, und sie mußte ja so angelegt werden, wenn sie im Verlauf dieses Jahres weltgeschichtliche, zeitgeschichtliche Ereignisse aufnehmen sollte, die ich noch gar nicht kannte.205
Dies belegen eindrucksvoll einzelne Tageseinträge, die sich als selbständige, z. T. essayistische oder lyrische Texteinheiten präsentieren.206 Nichtsdestoweniger fallen die diaristischen Notate bei Johnson im Vergleich deutlich homogener aus, als die Stundeneinträge im ›Ulysses‹ (allein schon aufgrund der Tatsache, dass sie durch ein verbindendes Bewusstsein zusammengehalten werden), so dass Fries ohne Schwierigkeiten ein Muster für den »typischen Jahrestag« herausarbeiten konnte: Das typische Tageskapitel beginnt […] mit Zitaten aus der New York Times (meist in einer verfremdenden Übersetzung, die dann Spuren von Gesines Lesearbeit enthält), des weiteren Momente aus Gesines und/oder Maries Leben und eine Episode aus der Vergangenheitshandlung. Wo die beiden Erzählstränge sich treffen, finden sich häufig Verknüpfungen assoziativer Art, die Gesines Bewußtsein zur Grundlage haben, die aber ohne weiteres auch als Stilprinzip aufgefaßt werden können. Gelegentlich wechseln Vergangenheits- und Gegenwartshandlung innerhalb eines Kapitels mehrfach ab;
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Schulz: Lektüren von Jahrestagen, S. 6. Prangel: Gespräch mit Uwe Johnson, S. 263. Als Beispiele seien nur die »Etüden« über die Farbe Gelb in New York (J, S. 1690– 1693 [1. August 1968]) oder über die Kakerlakenplage (J, S. 823–827 [5. März 1968]) angeführt.
das ist vorzugsweise dann der Fall, wenn die Tochter Marie mit der (Vergangenheits-) Erzählung ihrer Mutter nicht einverstanden ist.207
Jeder Jahrestag schöpft also (die zahllosen weiteren Hereinnahmen von Textund Realitätsfragmenten außer Acht gelassen) aus drei inhaltlichen Kategorien: Deren erste stellt die ›New York Times‹ dar, selektiert und gebrochen durch die Lektüre der Protagonistin, daneben das – im Tempus des Präsens dargestellte und gemeinhin als »Gegenwartshandlung« bezeichnete – Geschehen auf der New York-Ebene der Jahre 1967/68 sowie drittens (eindeutig am epischen Präteritum identifizierbar) die Vergangenheit der Jahre 1931 bis in die Nachkriegszeit, die als ihr »räumliches Zentrum die (fiktive) mecklenburgische Kleinstadt Jerichow«208 hat und die Familienchronik der Cresspahls nachzeichnet.209 Beide Erzählstränge werden weitgehend chronologisch fortgeführt, kommen jedoch nicht ohne interne Analepsen aus (innerhalb der Familiengeschichte bzw. Rückblenden auf die Ereignisse seit der Ankunft von Gesine und Marie in New York). Insgesamt konstituiert sich die erzählte Zeit der ›Jahrestage‹ nicht allein aufgrund der Tage vom 20. August 1967 bis zum 20. August 1968, sondern einschließlich »der Dauer des politischen Lebens von Vater und Tochter Cresspahl. Das macht 48 Jahre, die Zeit vom Kapp-Putsch bis zum Ende des Prager Frühlings.«210 4.5.2 Die »bipolare« Tektonik der ›Jahrestage‹ Der ambivalente Titel des Romans deutet auf die zeitliche Parallelführung bzw. auf »eine diachrone und eine synchrone Struktur«211 hin, indem sowohl der diarisch-summarische (schematisch im Sinne von ›Tag eines Jahres‹) und der zyklischchronikalische Aspekt (erinnernd im Sinne von ›Gedenktage‹) zum Tragen kommen: »›Jahrestage‹ oder ›Anniversaries‹ wird zwei Bedeutungen haben, einmal Tage eines Jahres und zum anderen jene Momente, in denen sich ein Ereignis in der Erinnerung wiederholt.«212 Damit ist zugleich die spezifische »Kreuzung
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Ulrich Fries: Uwe Johnson »Jahrestage«. Erzählstruktur und poetische Subjektivität, Göttingen 1990 (Palaestra. Untersuchungen aus der deutschen, englischen und skandinavischen Philologie 290), S. 54. Vgl. auch Matthias Wilde: Analyse der Erzählstruktur von Uwe Johnsons »Jahrestage«, Berlin 2003, S. 77. Ebd., S. 53f. Will man Gesine als Binnenerzählerin auffassen, so muss die Jerichow-Handlung folgerichtig mit Fries als »Metadiegese« betrachtet werden (vgl. Fries: Uwe Johnson »Jahrestage«, S. 55). Zudem ist Fries Präzisierung zuzustimmen, dass »die Erzählung der Vergangenheit […] sowohl bis vor den August 1931 zurück[geht; genauer: bis zu Cresspahls Geburt im ›Dreikaiserjahr‹ 1888], wie sie auch mit dem Juni 1953 nicht haltmacht, sondern noch den Tod Cresspahls im Herbst 1962 einbegreift« (ebd., S. 78). Ebd., S. 153. Ebd., S. 78. Johnson: »Ein verkannter Humorist«, S. 291.
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von Synchronie und Diachronie«,213 durch das Neben- und Ineinander der sukzessive fortschreitenden New-York-Ebene sowie die durch Erinnerung und Narration assoziativ eingeflochtene und bewusst vorangetriebene Jerichow-Erzählung angedeutet; letztere wird anhand eines (meist motivischen bzw. thematischen, oder eines stilistischen) tertium comparationis bzw. einer Analogie oder durch einen textimmanent von Marie oder durch Gesines Sinneswahrnehmung gegebenen Erinnerungs- und Erzählimpuls an die New Yorker Gegenwarts-Handlung angebunden, gelegentlich jedoch auch ohne erkennbare Überleitung wie mit einem jump cut hinein geschnitten. So wie es den Chronik-Charakter der Jerichow-Handlung unterschneidet, indem deren Linearität zerrissen wird, so wird dem Fragmenthaften des New Yorker Lebens eine letztlich doch chronologisch voranschreitende, episch ausgestaltete Erzählung entgegengesetzt, die aber immer wieder von neuem mit ansetzen muß. Das hat eine Fülle von Schnittstellen zwischen Gegenwart und Vergangenheit zur Folge.214
Durch das Oszillieren der Erzählung zwischen den zwei Zeitdimensionen entsteht der Eindruck einer »latenten Anwesenheit des Vergangenen«.215 Der Jerichow-Komplex wird zwar im Rahmen der Metadiegese erst allmählich ausgestaltet, aufgrund der motivischen Verweisstruktur, die die ›Jahrestage‹ durchzieht, Wortmeldungen der Stimmen provoziert und die Auswahl der ›New York Times‹-Artikel präfiguriert, wird jedoch das gesamte Geschehen in Mecklenburg […] von Anfang an vorausgesetzt, so daß die Jahrestage zu jedem Zeitpunkt darauf zurückgreifen können. Sowohl die Historie wie die Fiktion erfüllen das Postulat der Abgeschlossenheit vor Einsetzen des Erzählens. Vom Interpreten fordert dieses Prinzip zu jeder Stelle die Kenntnis des ganzen Werks. […] Mit dieser zum Verständnis notwendigen Präsenz des Ganzen ab initio setzt dieses Erzählwerk sich in besonderer Weise über eine Bedingtheit des sprachlichen Ausdrucks, über die diachrone Linearität hinweg; der Rezeptionsakt hat die kreative Synchronie zu restituieren.216
Norbert Mecklenburg hat schlüssig die These von der Bipolarität der ›Jahrestage‹ (bezüglich ihrer Erzählstruktur, ihrer Raum- und Zeitgestaltung) vorgebracht und ebenso differenziert wie kenntnisreich ausgeführt; ihm zufolge inkorporiert der Roman »[z]wei klar getrennte Geschehensräume – zwei Zeiträume: Johnsons Raumkonstruktion hat gleichsam zwei Brennpunkte wie eine Ellipse. Diese Zweipoligkeit ist das Grundelement der Raumstruktur der Jahrestage.«217 213
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Ralf Zschachlitz: Zur privaten Erinnerung in Uwe Johnsons Roman »Jahrestage« – Ein Vergleich mit Marcel Proust, in: Internationales Uwe Johnson Forum 5 (1996), S. 139–157, hier S. 143. Fries: Uwe Johnsons »Jahrestage«, S. 108. Ebd., S. 101. Schulz: Lektüren von Jahrestagen, S. 48. Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 215.
Die Dimension, die der ›Ulysses‹ als Gegengewicht und zweite Symbolschicht durch den Mythos erhält, nimmt in den ›Jahrestagen‹ die Mecklenburg-Handlung ein, die als chronotopologischer Gegenpol zur New-York-Ebene figuriert. Neben der Interdependenz von Vergangenheit und Gegenwart wird durch die wechselseitige Durchdringung der zwei Raumkomplexe New York und Mecklenburg die »Spannung von Provinz und Metropole konstitutiv […]. Das Buch stellt mit dieser duplikativen Erzählstruktur eine Art von Doppelroman dar: ein Großstadt- und ein Provinzroman sind ineinandergeschnitten.«218 Der US-Metropole tritt damit ein fiktiver provinzieller Raum gegenüber, der allerdings (schon allein aufgrund seiner genauen Kartographierung in Johnsons früherer Prosa) mit der gleichen topographischen Präzision im Raum fixiert wird wie das urbane New York. In diesem Fall gehört ein Plan Manhattans mitsamt seines U-Bahn-Systems zum unerlässlichen Handwerkszeug des Lesers, will er sich aus dem umfangreichen geographischen Datenmaterial der Straßen, Gebäude, Parks und U-Bahn-Stationen ein anschauliches Bild der Lebensräume von Marie und Gesine Cresspahl innerhalb des nachprüfbaren Rasters der ›Megacity‹ verschaffen. Die Verknüpfung beider Zeitebenen regte nachhaltig zum Vergleich der politischen Zustände der Jahre 1933 bis 1945 und den U.S.A. der späten sechziger Jahre an, wirft sie doch in Brechtscher Manier wechselweise ein verfremdendes Licht der Historisierung auf die durch mehr als zwei Jahrzehnte voneinander getrennten Geschehnisse. Nichtsdestoweniger hat sich Johnson gegen eine tumbe Analogiebildung etwa zwischen Rassendiskriminierung und Holocaust stets vehement gewehrt: Die Kontrapunktik läuft letzten Endes auf eine Entsprechung hinaus zwischen Ereignissen in der Gegenwart und der Vergangenheit. Und es gibt wiederum Vereinfachungen. Was die Nazis von 1933 bis 1945 in Deutschland angestellt haben, das ist eben nicht vergleichbar […] mit […] Vorgängen auf den Straßen von New York.219
Einen Doppelsinn birgt auch der Untertitel »Aus dem Leben von Gesine Cresspahl« – je nachdem, ob man den genitivus objectivus oder subiectivus als Auslegungsmodus bevorzugt, ist Gesine Cresspahl zugleich Objekt oder Autorin des Lebensberichts. Gewiss ist jedoch, dass sie die Person ist, durch die Kalender und Chronik »radikal personalisiert« werden,220 da es dem Autor darum ging, »die Geschichte einer Person herzustellen und damit den Zustand zu erklären, in dem sie ist.«221 Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit lässt Einsich-
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Ebd., S. 337. Osterle: Todesgedanken, S. 153. Schulz: Lektüren von Jahrestagen, S. 6. Vgl. hierzu auch J, S. 536: »Was haben wir zu feiern? [/] – Das Datum, Gesine. [… /] – Es feiert ja jeder seins, Marie.« Christof Schmid: Gespräch mit Uwe Johnson [Am 29.7.1971 in West-Berlin], in: »Ich überlege mir die Geschichte...«, S. 253–256, hier S. 255.
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ten in die Gegenwart zu, enthüllt diese selbst als etwas Gewordenes, denn »die jeweils erzählte Vergangenheit [kann] uns unsere gegenwärtigen Verhältnisse erklären. Wir können die Nachrichten von unseren Vorgängern auf der Erde gebrauchen, wenn sie auch Nachrichten sind für und über uns.«222 Die Individualisierung von Geschichte durch »das Vorstellen einer Person, diesmal aber mit Bekanntgabe aller Mittel zur Bildung einer Person«,223 trennt Johnson auch von der Historiographie: »Es ist keine verkleidete Geschichtsschreibung. Es ist nur der Versuch, die Geschichte einer Person zu schreiben.«224 Indem die Geschichte einer Person mit historiographischen Mitteln rekonstruiert, dann jedoch literarisiert bzw. fiktionalisiert wird, will Johnson Gesines Biographie als überindividuell aufgefasst wissen: »Ich finde, daß gerade das Leben einer so alltäglichen und nicht berühmten Person exemplarisch sein kann.«225 Eine Antiheldin also, an der Geschichte als Erfahrungen unter vier politischen und gesellschaftlichen Systemen veranschaulicht wird, die sich – wie Leopold Bloom – gerade aufgrund ihrer Durchschnittlichkeit (bei allen individuellen Zügen) als exemplum eignet. Wiederum ist Johnsons Ansatz also ein analytischer, wenn man von Johnsons Überzeugung ausgeht, dass »die Gegenwart die Vergangenheit ja enthält«226 und sein poetologisches Konzept der Wahrheitssuche nun auch immer bedeutet, das Vorhandene und Gegenwärtige auf seinen Zustand als etwas Gewordenes hin zu befragen – vorgeführt an seiner ›Person‹ Gesine, die das absolute Bindeglied zwischen den zeitlichen und räumlichen Polen der Handlung darstellt. 4.5.3 Die fluktuierende Erzählperspektive der ›Jahrestage‹ und die Grenzen der Narratologie Die »Fiktion des Primats von Gesines Bewußtsein«227 für den Erzählvorgang wird dadurch gestärkt, dass Gesine als Auftraggeberin für den »Genossen Schriftsteller« und zugleich als autorisierende Instanz bzw. als Korrektiv »mit einem absoluten Vetorecht«228 fungiert: Allwissend – wer ist das schon? Aber wenn diese Person entscheidet, daß sie etwas mehr über ihren Großvater wissen möchte, dann muß ich eben hingehen und ihr den Kapp-Putsch und die mögliche und wirkliche Rolle ihres Großvaters zeigen. Wenn sie das wissen will, dann besorge ich ihr das Wissen. […] Ich erzähle das, was diese –
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Johnson: Wenn Sie mich fragen…, S. 58. Schmid: Gespräch mit Uwe Johnson, S. 255. Prangel: Gespräch mit Uwe Johnson, S. 266. Bruck: »Ein Bauer weiß, daß es ein Jahr nach dem andern gibt«, S. 270. Osterle: Todesgedanken, S. 155. Ebd. Becker/Michaelis/Vormweg: Gespräch mit Uwe Johnson, S. 302.
Mrs. Cresspahl für wichtig hält in ihrem Leben, ich bin also begrenzt durch die Aufgabe, die sie mir gestellt oder vielmehr erlaubt hat.229
Noch immer werden in der Johnsonforschung Grabenkämpfe ausgetragen, noch immer versucht jede neu erscheinende Studie das Rätsel um die Erzählsituation letztgültig zu klären – unter Aufbietung unterschiedlichster narratologischer Ansätze und Kategorien. Nur wenige allerdings nehmen jedoch die viel zitierten Passagen, die den fiktiven Erzählvertrag thematisieren, wörtlich und leiten daraus entsprechende Schlüsse ab:230 Wer erzählt hier eigentlich, Gesine. Wir beide. Das hörst du doch, Johnson. (J, S. 256)
Tatsächlich schafft Johnson eine hochartifizielle, komplexe und flexible Erzählinstanz, die beide Stimmen – die des auktorialen heterodiegetischen Erzählers, der sich selbst zunehmend in die Diegese einschreibt, und die seiner Protagonistin – synthetisiert. Darauf deuteten ja bereits die Erzählexperimente der ›Mutmassungen‹ hin, in denen nicht nur verschiedene Stimmen (in den Dialogen und Monologen) gegenübergestellt wurden, sondern auch die vermittelnde Instanz der Erzählpassagen nie eindeutig festlegbar war, sich sowohl extern fokalisiert neutral gab, als auch passagenweise mittels interner Fokalisation die Innensicht unterschiedlicher Figuren präsentieren konnte. Der deutlichste Unterschied zwischen den ›Mutmassungen‹ und den ›Jahrestagen‹ besteht freilich darin, dass in ersterem Roman die Brüche – durch drei separate Erzählverfahren, die auch typographisch voneinander abgesetzt werden – markiert sind, während in den ›Jahrestagen‹ das erzählende Bewusstsein nur schwerlich bzw. bestenfalls punktuell fixierbar ist. Typographisch abgesetzt sind in den ›Jahrestagen‹ allein die
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Post-Adams: Antworten von Uwe Johnson, S. 276. Als Ausnahme muss Hofmann gelten, der den Widerspruch erkennt und prägnant resümiert: »Wenn sich aber gleich gute Argumente für das Vorherrschen einer personalen wie einer auktorialen Erzählsituation anführen lassen, so kann man zunächst an der Angemessenheit der verwendeten Kategorien zweifeln, vielleicht aber noch einfacher und grundsätzlicher feststellen, daß wir es mit einer ambivalenten, uneinheitlichen Erzählinstanz zu tun haben, und daß der vielbeschworene und vielgescholtene Pakt zwischen Gesine und dem Genossen Schriftsteller die Funktion hat, die Identität eines Erzählers zu unterminieren und damit der Dekonstruktion und Verfremdung des konventionellen Erinnerungsromans weiter Vorschub zu leisten.« (Michael Hofmann: »Ästhetik des Widerstand« und »Jahrestage«. Ansatzpunkte für einen Vergleich, in: Uwe Johnson. Zwischen Vormoderne und Postmoderne, S. 189–199, hier S. 191f.) Obwohl er in seiner Monographie mit erheblichem Aufwand die Erzählposition in Einzelanalysen dingfest zu machen sucht, vermutet auch Fries, »daß der Text selbst – bislang nicht diskursiv, sondern durch seine Uneindeutigkeiten – den Modus des Erzählens problematisiert« (Fries: Uwe Johnsons »Jahrestage«, S. 37).
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›Stimmen‹, die ihren Anteil daran haben, dass die grundlegende Zweistimmigkeit des Romans zur Polyphonie erweitert wird. Man mag sich nicht damit zufrieden geben, dass vor Johnsons großem Roman die gesamte Palette des erzähltheoretischen Handwerkszeugs versagen muss, ist doch schon die grundsätzliche Frage, ob eine (mit Stanzel) Ich- oder Er- oder (mit Genette) homodiegetische oder heterodiegetische Erzählsituation vorliegt, unlösbar.231 In den ›Jahrestagen‹ erscheinen beide Personalpronomina im Erzählfluss oft verwirrend und gleichberechtigt neben- und durcheinander, noch ergänzt durch ein »wir«;232 und die Annahme einer heterodiegetischen Erzählsituation wird durch das Auftreten eines Herrn »Johnson« vor dem Jewish American Congress (vgl. J, S. 253ff.) oder bereits durch die Dialogpartien des Genossen Schriftsteller mit seiner Protagonistin Lügen gestraft.233 Finden wir uns also damit ab, dass Johnson seine Erzählposition als eine fluktuierende gestaltet hat, die Gesine als Reflektorfigur und ihr Bewusstsein als einen Brennpunkt annimmt, »als Treffpunkt der Stimmen aus der Vergangenheit und der Gegenwart«,234 über ein streckenweise personales Erzählverhalten in die Ich-Erzählung wechseln kann (dies ist freilich vor allem in metadiegetischen Passagen der Fall, wenn Gesine Marie von der Vorgeschichte der Familie in Mecklenburg berichtet) – oder gar in den Inneren Monolog (wenn Erinnerungen Gesines transkribiert werden, die delirierend im Fieber liegt). Andererseits wird der Wissenshorizont Gesines mehrfach überschritten, sobald sich die Erzählinstanz dem Fokus eines auktorialen bzw. heterodiegetischen Erzählers annähert – und zwar nicht nur implizit, wenn Gesine über Dinge berichtet, die vor ihrer Geburt liegen, sondern auch explizit: »[…] das Kind […] kommt heimlich am Sonntagmorgen, sich eine Zeitung zu holen, die ganz und gar aus gezeichneten Bilderreihen besteht. Davon weiß die Kundin nichts […].« (J, S. 14) Das narrative Bewusstsein des ›heterodiegetischen‹ Erzählers und das von Gesine Cresspahl sind schon aufgrund der Tatsache schwer voneinander zu separieren, dass beide eine ähnliche Sicht auf die Welt einnehmen, in vielen Überzeugungen und Interpretationsmustern konform gehen, ähnliche sprachliche
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Pokay sieht in der Unlösbarkeit der Frage nach der Erzählsituation gar eine »Schwäche« des Romans. (Vgl. Peter Pokay: Die Erzählsituation der Jahrestage, in: Johnsons ›Jahrestage‹, hg. v. Michael Bengel, Frankfurt a.M. 1985 (suhrkamp taschenbuch materialien 2057), S. 281–302, S. 298.) Vgl. etwa J, S. 74, 384, 1059, 1063, 1114, 1891 u.ö. Erschwerend kommt hinzu, dass Johnson »den Unterschied zwischen Autor und Erzähler nicht [versteht], denn ich bin ja, ich muß notwendigerweise beides sein, und ich muß ihre Geschichte erzählen, und da sie leider, leider eine erfundene Person ist, bin ich auch der Vorbringer, der Autor, beides in einem.« (Ree Post-Adams: Antworten von Uwe Johnson, S. 276.) Gary Lee Baker: Die Poetisierung der Geschichte in Uwe Johnsons »Jahrestage«, in: Uwe Johnson. Zwischen Vormoderne und Postmoderne, S. 143–151, hier S. 148.
Manierismen aufweisen, dass »beide eine in der Regel kritische, wenn nicht sogar ablehnende, zumindest jedoch distanzierte Erzählhaltung einnehmen.«235 Fries ist also in seiner Einschätzung zuzustimmen, dass »von einem zweiten Erzähler nicht die Rede sein [kann], wohl von einem doppelten Erzähler. Die Vorstellung einer gedoppelten Erzählinstanz mit weitgehend, aber nicht völlig abgrenzbaren Anteilen an der fertigen Textgestaltung, scheint plausibel.«236 4.5.4 Narrative Unzuverlässigkeit und die (Selbst-)Problematisierung von Erzählung und Erinnerung Dabei wird im Text selbst immer wieder auf die jeweiligen Unzulänglichkeiten, Unsicherheiten und Fragwürdigkeiten der beiden erzählerischen Brennpunkte verwiesen: Was ist das für ein auktorialer Erzähler, der seine Beschreibungen beginnt mit der ›Gantenbein‹-Formel »Ich stelle mir vor...«237 und damit augenblicklich die Fiktionalität des Beschriebenen hervorhebt, indem er sich kraft seiner Imagination als auctor in Szene setzt? Und was ist das für eine Ich-Erzählerin, die von ihrer Tochter mit den Worten zum Erzählen aufgefordert wird »Vertell, Vertell! […] Du lüchst so schön!« (J, S. 1542, ähnlich auch S. 1548) – und die eine lange Bildbeschreibung einer fotografischen Aufnahme ihrer Familie mit den Worten schließt: »Dies Bild habe ich nie gesehen« (J, S. 113f.). Beide Extrempositionen, die die Erzählsituation der ›Jahrestage‹ annehmen kann, werden ineinander verschoben, indem die auktoriale Erzählsituation personalisiert bzw. subjektiviert und die Ich-Erzählsituation auktorialisiert wird – und attestieren sich permanent selbst ihre Unzuverlässigkeit.238 235
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Isabel Plocher: »Wenigstens mit Kenntnis zu leben.« Der Mediendiskurs in Uwe Johnsons »Jahrestage« am Beispiel der »New York Times«, Würzburg 2004 (Film – Medium – Diskurs 2), S. 45. Fries: Uwe Johnsons »Jahrestage«, S. 59. Auch Durzak erkennt die »Disparatheit der literarischen Form« und spricht treffend von der »erzählperspektivischen Doppelbödigkeit« der ›Jahrestage‹ (Durzak: Der deutsche Roman der Gegenwart, S. 236). Er liest die ›Jahrestage‹ aufgrund ihrer fluktuierenden Erzählsituation gewissermaßen als eine (problematische) Mischform aus psychologischem bzw. Tagebuch- und Montageroman. Diese ›Gantenbein‹-Formel ist nachgerade zu einem geläufigen Topos der deutschen Nachkriegsliteratur avanciert, findet sich erstmalig bei Frisch, aber auch in Hildesheimers ›Masante‹. (Wolfgang Hildesheimer: Masante, in: ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden, hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle, Bd. II: Monologische Prosa. Tynset. Masante, Frankfurt a.M. 1991, S. 155–366, hier S. 158 u.ö. Im Folgenden innerhalb des fortlaufenden Textes zitiert mit der Sigle M.) Marie kommt die Aufgabe zu, den Wahrheitsgehalt der Binnenerzählungen Gesines in Frage zu stellen, zu überprüfen, ihr zu widersprechen und ins Wort zu fallen, wenn sie ihre epistemologische Kompetenz als Erzählerin gar zu drastisch überschreitet; vgl. J, S. 1654: »– Gesine, du lüchst.«; J, S 203: »Das kannst du von dir nicht wissen«; oder den Dialog J, S. 454: »Ich werde dich jetzt prüfen: sagt Marie. – Ich werde jetzt
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Durch diese fluktuierende Erzählposition, die bereits innerhalb eines Satzes völlig unterschiedliche, ja widersprüchliche Diagnosen zulässt, wird die Erzählinstanz in ihrer Zuverlässigkeit infrage gestellt und narrative Vermittlung grundsätzlich problematisiert. Immer geht es darum, die Werkzeuge und Mechanismen der Wahrheitsfindung im Erzählprozess bloßzulegen, indem das Erzählen auf sich selbst verweist. Dies ist etwa der Fall, wenn der reale Autor Johnson mit seinem Auftritt vor dem Jewish American Congress (scheinbar) die Diegese betritt (vgl. J, S. 253ff.) – oder wenn er als Genosse Schriftsteller (scheinbar) textimmanent poetologische Dispute mit seiner Protagonistin austrägt,239 der er übrigens seine reale New Yorker Adresse und Telefonnummer übertragen hat.240 Bei diesen metafiktionalen Elementen handelt es sich nun keineswegs um einen »formalistische[n] Gag«,241 sie sind nicht als ›postmoderne Spielereien‹ hinwegzudeuteln. Vielmehr dienen diese Transgressionen, wie alle (zum Ende der Tet-
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mal nachsehen, woher du deine Vergangenheit hast. Das hat jetzt ein Ende mit dem Anlügen. Erzähl mal was über das Kind Gesine, als es zwei Jahre alt war! – Das Kind Gesine, als es zwei Jahre alt war, konnte sitzen, stehen, gehen, ein wenig sprechen, und das Kind las die Zeitung. – Schon hab ich dich ertappt! ruft Marie.« Die Entgegnungen Gesines auf Maries Einwände machen auch keinen Hehl daraus, dass sie nie den Schein erwecken will, eine andere als ihre eigene, subjektive Wahrheit der Geschichte(n) zu (re)konstruieren, dass sie Lücken in der Erinnerung nicht nur durch die Hinzuziehung unterschiedlicher Quellen, sondern auch kraft ihrer Imagination auffüllt; vgl. hierzu J, S. 670f.: »– Was Dir fehlt beim Erzählen, füllst du auf mit anderem, und ich glaube es doch, sagt sie. – Nie habe ich die Wahrheit versprochen. – Gewiss nicht. Nur deine Wahrheit. – Wie ich sie mir denke.« (J, S. 670f.) Vgl. die zentrale Textstelle J, S. 254–256: »Ans Rednerpult gebeten, nahm Schriftsteller Johnson nicht etwa Abschied von der Veranstaltung (mit Dank für die Einführung), sondern begann im Ernst seine Rede […]. Nun misslang ihm der neuenglische Tonfall […]. Ihm war nicht zuzutrauen […]; er hatte noch nicht begriffen […]. Vielleicht ging ihm etwas auf bei der folgenden Ansprache […]. Johnson saß krumm hinter dem grünen Tuch, hielt sein Manuskript mit beiden Händen abgedeckt, spiegelte das Licht der Scheinwerfer in seiner Glatze und musterte den Saal nur flüchtig mit Blicken zwischen Brauen und Brillenrand hindurch. Sonderbarer Weise trug er zu einem bürgerlichen Hemd eine Jacke aus schwarzem Leder, wie sonst nur die Neger, einige Neger, der Neger […]. Wer erzählt hier eigentlich, Gesine. Wir beide. Das hörst du doch, Johnson.« (J, S. 256) Vgl. BU, S. 410f.: »[D]ie Adresse von Mrs. Cresspahl war einen Augenblick später gesichert. […] Ihre Adresse war: Apartment 204, 243 Riverside Drive, New York, N.Y. 10025.« Durzak: Der deutsche Roman der Gegenwart, S. 236.
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ralogie hin häufiger werdenden) Metalepsen,242 dem Zur-Schau-Stellen und der Problematisierung des Fiktionalisierungsprozesses, handelt es sich bei dem Auftreten seines Autors in seinem Text doch – wenn nicht, wie Neumann es verstanden wissen möchte, um eine mise en abyme243 – so doch um einen »Kurzschluß zwischen realer und literarischer Welt.«244 Es gehört bereits zum guten Ton in der einschlägigen Forschung zu den ›Jahrestagen‹, den Vergleich zwischen Johnsons Roman und Prousts ›À la recherche du temps perdu‹ zu bemühen, ihn partiell zu stützen, um schließlich die fundamentalen Differenzen zwischen beiden Erinnerungskonzepten aufzuzeigen.245 Die intertextuellen Anspielungen legen den Vergleich paradoxerweise zumindest nahe, indem sie ihn ad absurdum führen. Der an zentralen Stellen der ›Jahrestage‹ refrainartig wiederholte Satz, der auch den Schluss der vier Bände bildet: »sie, das Kind, das ich war« (J, S. 1891) klingt wie ein Echo aus ›Le Temps retrouvé‹: »c’était l’enfant que j’étais alors«.246 Prousts Madeleines finden ihr Pendant in Gustafsons Fischsalat, der als Anstoß der mémoire jedoch versagt: »[H]alte ihm [dem Gedächtnis] hin einen teerigen, fauligen, dennoch windfrischen Geruch, den Nebenhauch Gustafsons berühmtem Fischsalat, und bitte um Inhalt für diese Leere, die einmal Wirklichkeit, Lebensgefühl, Handlung war, es wird die Ausfüllung verweigern.« (J, S. 63f.) Die ›Jahrestage‹ bringen zwei unumstößliche Einwände gegen Prousts Konzept der mémoire involontaire vor: Zum einen ›funktioniert‹ die Erinnerung nicht, denn das »Depot des Gedächtnisses ist gerade auf Reproduktion nicht angelegt. Eben dem Abruf eines Vorgangs widersetzt es sich« (J, S. 63), zumal es Gesine »auf eine Funktion des Gedächtnisses [ankommt], die Erinnerung, nicht auf den Speicher, auf die Wiedergabe, auf das Zurückgehen in der Vergangenheit, die Wiederholung des Gewesenen: darinnen noch einmal zu sein, dort noch einmal einzutreten. Das gibt es nicht.« (J, S. 63) Zum anderen – und dies scheint mir der fundamentale Widerspruch, der die Literatur der Nachkriegszeit definitiv von den Erkenntniszielen der lite-
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Diesen Terminus hält die Erzähltheorie nach Genette für derartige Transgressionen »von einer narrativen Ebene zu anderen« bereit (Gérard Genette: Die Erzählung. Aus dem Französischen v. Andreas Knop, mit einem Vorwort hg. v. Jürgen Vogt, München 1994 (UTB für Wissenschaft), S. 167. Neumann: Uwe Johnson, S. 433. Ebd., S. 209. Vgl. Ralf Zschachlitz: Zur privaten Erinnerung in Uwe Johnsons Roman »Jahrestage« – Ein Vergleich mit Marcel Proust, in: Internationales Uwe Johnson Forum 5 (1996), S. 139–158, hier S. 154; Schulz: Lektüren von Jahrestagen, bes. S. 26 und 193; Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 231f. Marcel Proust: Le Temps retrouvé, in: ders.: À la recherche du temps perdu, 4. Bde., hg. v. Jean Yves Tadié, Paris 1987–1989, Bd. IV: Albertine disparue, Le Temps retrouvé, Paris 1989, S. 273–625, hier S. 463. Vgl. Zschachlitz: Zur privaten Erinnerung in Uwe Johnson Roman »Jahrestage«, S. 148.
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rarischen Avantgarde der 20er Jahre trennt – ist ein kontemplatives Versenken in die eigene Kindheit nicht möglich, denn die Kindheiten von Johnsons Figuren vollziehen sich (Marie ausgenommen) sämtlich im Nationalsozialismus »und sind damit für sentimentale, nostalgische, idyllisierende Annäherungen sozusagen gesperrt.«247 Das Interesse Prousts – gleiches gilt für Joyce – richtet sich auf die Mechanismen der Erinnerung und die Gestaltung des psychischen Vorgangs mit künstlerischen Mitteln; bei Johnson sind die Mechanismen der Erinnerung nicht per se von literarischem Interesse, sondern Mittel zum Zweck. Für einen Schriftsteller nach 1945 ist der Prozess der Erinnerung über das gleichsam wissenschaftliche Interesse hinausgehend zwangläufig auf den Komplex der deutschen Schuld verwiesen, denn – so Gesine – »[b]etroffen war die eigene Person: ich bin das Kind eines Vaters, der von der planmäßigen Ermordung der Juden gewußt hat. Betroffen war die eigene Gruppe: ich mag zwölf Jahre alt sein, ich gehöre zu einer nationalen Gruppe, die eine andere Gruppe abgeschlachtet hat in zu großer Zahl.« (J, S. 232) Mit Zschachlitz ist zu bilanzieren: Eine unkritische Parallelisierung der Erzählhaltung Prousts mit der Johnsons verkennt die historische Bedingtheit aller Literatur, abstrahiert unzulässigerweise von den verschiedenen historischen Bedingungen, in denen die Werke entstanden. Für die 1933 geborene Gesine Cresspahl könnte eine nostalgische Rückversetzung in die Kindheit nur unter Ausschluß der politischen und historischen Wirklichkeit, also in einer unzulässigen Idealisierung erfolgen. Für Gesine kann die Erinnerung nur aus der Perspektive des politischen Wissens um diese Zeit stattfinden. Versuche individueller Erinnerung an eine glückliche Kindheit müssen bei einem deutschen Autor nach 1945 an der historischen Erinnerung scheitern.248
Auch bei Johnson führt die Rekonstruktion der Vergangenheit seiner Person Gesine über eine Auseinandersetzung mit dem kognitiven Prozess und damit auch zu einer Einsicht in seine Begrenzungen und Unzulänglichkeiten. Mithin liegt die Aufgabe des Erzählens darin, die Erinnerung mittels einer Unterfütterung mit historischen Realien zu stützen, alternative Möglichkeiten hervorzubringen oder zumindest zu problematisieren. Am überzeugendsten ist in diesem Zusammenhang Mecklenburgs Hinweis, dass der Begriff der recherche mit Blick auf die ›Jahrestage‹ im wörtliche Sinne verstanden werden müsse: als ›Recherche‹ im Sinne der Forschungsarbeit des Historikers, der Quellen studieren, (Zeit-) Zeugen befragen, schließlich auch Konjekturen vornehmen muss, um die zusammengetragenen Daten und Fakten in einen historischen Verlauf (und damit in Erzählung) zu überführen. Die Erzählanlage, die das Leben eines Menschen von Mecklenburg bis Manhattan nachzeichnen soll, ist dazu bestens geeignet: Das narrative Anliegen des
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Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 179. Zschachlitz: Zur privaten Erinnerung in Uwe Johnson Roman »Jahrestage«, S. 155.
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realen Autors Johnson ist zugleich Gesines individuelle Motivation zur Vergangenheitserkundung: Die Beschäftigung der Person G. C. mit Erinnerung und Gedächtnis geht zurück auf das Bedürfnis herauszufinden, was in der Vergangenheit sie in ihren gegenwärtigen Zustand gebracht hat. Das Bedürfnis ist verursacht durch die Annahme, dass man zu einem Leben in New York 1967/68 sehr wohl durch Ereignisse im Mecklenburg der Jahre 1937/38 abgeschickt worden sein kann. Im weiteren ist das die Auffassung, dass eine Person die Summe ihrer Vergangenheit ist, der bewußten wie der nicht bewußten.249
Norbert Mecklenburg bringt ein zentrales Anliegen in Johnsons Prosa auf den Punkt: »Welche spezifischen Erkenntnisleistungen in Hinblick auf Geschichte können durch literarische Verfahren erbracht werden?«250 Gesines Erinnerung – die menschliche Erinnerung schlechthin – ist dazu denkbar ungeeignet, denn sie wird als defizitär und einseitig vorgeführt: »Alles, was die Person von ihrem vorherigen Leben erinnert, das setzt sie eigentlich in ihrem Selbstverständnis zusammen und diese Erinnerung – sie fälscht. […] Mich interessiert, daß da eine Wirklichkeit entsteht, die ganz vom Belieben der Person abhängt.«251 Die Wirklichkeit, die Gesines Erinnerung (re-)konstruiert, ist daher durch andere – wissenschaftliche Verfahren – ergänzungsbedürftig. In ihrer Akribie, die Summe ihrer Vergangenheit möglichst präzise und vollständig zu erfassen, ähnelt Gesine dem realen Autor, indem sie recherchiert, Daten, Fakten und Quellen (historiographische Werke, Zeitungen, Briefe und Fotos) kompiliert und mit ihrer persönlichen Erinnerung zu Erzählung verwebt. Das Erzählverfahren der ›Jahrestage‹ changiert damit – so Schmidt – »zwischen drei Eckdaten: der Unumgänglichkeit des Erfindens […]; der Verlegung des Wahrheitsanspruches als eines ethischen Impulses in die Erzählhaltung und der Erkenntnis, daß die Konstruktion von Wirklichkeit innerhalb und außerhalb der Literatur den gleichen Regeln folgen kann.«252 Innerhalb der Diegese der ›Jahrestage‹ ist Gesine die (empirische) Arbeit des realen Autors aufgegeben – gemäß der in dem programmatischen Essay ›Berliner Stadtbahn‹ formulierten Maxime, der Erzähler müsse »die schwierige Suche nach der Wahrheit ausdrücklich vorführen«.253 Marie hingegen leistet intradiegetisch die Rezeptionsarbeit des idealen Lesers, indem sie die Erzählungen ihrer Mutter kritisch aufnimmt, das Gehörte hinterfragt und sie ggf. unterbricht, sei es, weil ihr der Wahrheitsgehalt allzu fragwürdig erscheint
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Uwe Johnson an Siegfried Unseld (25. März 1971), S. 664. Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 434. Baumgart: Uwe Johnson im Gespräch, S. 226. Thomas Schmidt: Der Kalender und die Folgen. Uwe Johnsons Roman »Jahrestage«. Ein Beitrag zum Problem des kollektiven Gedächtnisses, Göttingen 2000, S. 314. Johnson: Berliner Stadtbahn, S. 20f.
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oder weil sie einen anderen Verlauf der Erzählung wünscht;254 somit sind Produktions- und Rezeptionsebene modellhaft in den Roman eingeschrieben und innerhalb der Diegese verdichtet. Skizzenhaft ließe sich dieser Sachverhalt folgendermaßen darstellen: Produktionsebene Autor →
Diegese Gesine Marie
Rezeptionsebene → Leser
»Johnson führt nicht nur vor, wie eine Erzählerin kombinierend und reflektierend mit dem Material umgeht, das ihr bei der biographischen Sucharbeit begegnet. Er lässt sie darüber hinaus die Herkunft dieses Materials, ihre Quellen und Hilfsmittel selber vorzeigen.«255 Wo Gesines Erinnerung nicht hinreicht bzw. sich als ungenügend erweist, zieht sie Quellen heran oder schreibt Briefe, wie bereits der erste Tageseintrag zeigt: »An die Gemeindeverwaltung von Rande bei Jerichow. Als ehemalige Bürgerin von Jerichow, und als ehemals regelmäßige Besucherin von Rande, bitte ich Sie höflichst um Auskunft, wie viele Sommergäste jüdischen Glaubens vor dem Jahr 1933 in Rande gezählt wurden. Mit Dank für ihre Mühe.« (J, S. 8)256 Die mündliche und schriftliche Befragung von Zeitzeugen und Verwaltern von Wissensbeständen, die Arbeit in Archiven, Bibliotheken, das Hinzuziehen von Statistiken, historischen Quellen und Fachliteratur – diese Beschäftigungen Gesines sind tatsächlich die Rechercheverfahren des realen Autors (s.u., Kap. 4.5.5). Und wenn Gesine bei der Rekonstruktion ihrer eigenen Vergangenheit klagt: »Meine Erzählung kommt mir oft vor wie ein Knochenmann, mit Fleisch kann ich ihn nicht behängen« (J, S. 144), so formuliert sie damit zugleich die Probleme beim Schreiben der Wahrheit. Gesine fährt fort: einen Mantel für ihn habe ich gesucht: im Institut zur Pflege britischen Brauchtums […], und weiblicher Plebs wird auf einer Hintertreppe zum Archiv geschleust. In diesem Institut haben sie auf Mikrofilm die Richmond and Twickenham Times, von der ersten Nummer von 1873 an bis auf den heutigen Tag. Die Zeitung nennt sich ein »Journal für lokale Nachrichten, Gesellschaft, Kunst und Literatur« und ist
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Vgl. J, S. 299: »– Es gefällt mir nicht: sagt Marie. Daß Cresspahl den Tierarzt von Jerichow zu einer Taufe lud? – Wenn er sich mit Jerichow anlegen wollte, mußte er in Jerichow sein. Mußte er in Jerichow bleiben. – Das soll ich ändern? – Du sollst es anders erzählen. – Wir werden es ein wenig anders hinstellen.« Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 440. Um Informationen über das Wetter an der Ostsee im April 1938 in Erfahrung zu bringen, wendet Gesine sich telefonisch Herbert H. Hayes, der im Archiv des New Yorker Wetterbüros arbeitet (vgl. J, S. 631).
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entfernte Verwandtschaft der alten Times von London, in der Titelfraktur und in den Familienanzeigen als Aufmacher, aber eben kleinbürgerliche Verwandtschaft, mit reißerischen, fast ordinären Inseraten auf der ersten Seite, jedenfalls im 59. Jahrgang, 1932. (J, S. 144f.)
4.5.5 Historiographisches Erzählen in den ›Jahrestagen‹ und die Fiktionalisierung von Quellen Im Interview mit W. Bruck erhebt Johnson die sorgfältige Recherche und Dokumentation der ›Geschichte‹ zur unabdingbaren Pflichtübung des Schriftstellers, die dem Schreibprozess vorangehen müsse, um die Wahrhaftigkeit des Imaginierten zu stützen (man beachte den Dreischritt »dokumentieren« → »Erfindung« → »wirklicher«): »Natürlich muß ich die von mir erfundene Geschichte, bevor ich überhaupt zu schreiben beginne, dokumentieren, […]. Das alles stützt aber nur die Erfindung und macht sie dann am Ende um so wirklicher.«257 In den ›Begleitumständen‹ verrät Johnson zwei seiner Hauptquellen dafür, unter welchen Umständen der Vater Gesine Cresspahls gelebt hatte seit 1920, und was er in der Zeit seitdem bis 1945 aufgenommen hatte an Vorfällen in seiner Umgebung. Das liess sich zum Teil erschließen aus der »Richmond and Twickenham Times« bis 1933, aus dem »Lübecker Generalanzeiger« der Jahre 1931 bis 1945, einem abermaligen Absuchen der Literatur zur deutschen Zeitgeschichte bis 1967. (BU, S. 427)
Neben der ›Richmond and Twickenham Times‹ zieht Gesine zur Ermittlung der Familiengeschichte offenbar den ›Lübecker Generalanzeiger‹ heran, den »das Kind in Cresspahls Haus« mit zwei Jahren las (J, S. 454). Epische Konstruktion erfordert die Recherche und Integration historischen Materials, nähert sich somit der Historiographie an und problematisiert diese zugleich, indem die Vorarbeiten zu den ›Jahrestagen‹ als »überprüfbarer Fiktionalisierungsprozeß«258 in den Roman eingeschrieben werden. »Anders als in aller Historiographie geht es bei [Johnson] aber zugleich um persönliche Aneignung von Geschichte, wie Gesine sie paradigmatisch vorführt.«259 Gegenüber dem Frühwerk, dem ›Achim‹-Roman oder den ›Zwei Ansichten‹, nimmt der Zitatcharakter in den ›Jahrestagen‹ beträchtlich zu und dokumentiert den auf Totalität zielenden Anspruch ihres Verfassers, der wie Joyce im ›Ulysses‹ (oder auch Schmidt in seinem Prosawerk) Intertexte nutzt, um an weitere fiktionale oder nicht-fiktionale Welten anzuschließen, deren Panoramen und Personal dem eigenen epischen Weltausschnitt gewissermaßen einzuverlei-
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Bruck: »Ein Bauer weiß, daß es ein Jahr nach dem andern gibt«, S. 269f. Sabine Vischer: Zwischen Ende und Anfang. Zur Funktion der fiktionalen Verträge in der Struktur von Uwe Johnsons Roman »Jahrestage«, in: Internationales Uwe-Johnson-Forum 4 (1996), S. 69–110, hier S. 77. Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 456.
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ben. Aufschlussreich ist allein schon die Tatsache, dass zu den ›Jahrestagen‹ ein anerkennenswerter Kommentar publiziert wurde, der den ›Ulysses‹-Kommentar von Gifford/Seidman im Umfang noch überbietet – vor allem, wenn man noch das ›Kleine Adreßbuch‹ hinzurechnet. Eine Auflistung aller für die ›Jahrestage‹ relevanten Intertexte (ob literarischer oder historischer Art),260 die umfassende Aufschlüsselung von (literarischen, historischen, lokalen) Anspielungen, eine Kenntlichmachung von Quellen, Erläuterungen zu historischen Personen und Ereignissen rückt das enzyklopädische Erzählverfahren Johnsons in unmittelbare Nähe zu Joyce. Beide Kommentare leisten nicht zuletzt ein Aufspüren der zahlreichen Korrespondenzen bzw. Querverweise, die die beiden epischen Kompendien jeweils durchziehen; in den ›Jahrestagen‹ wurden thematische und motivische Verknüpfungen als wesentlicher Stilzug herausgearbeitet, der auch ein Wesensmerkmal des ›Ulysses‹ darstellt. Helbig zufolge ist der Roman »aus mehreren Hunderten von Quellen zusammengesetzt […]. Die Zahl der erwähnten realen Personen übertrifft zum Beispiel die der fiktiven um ein Mehrfaches. […] Die Zahl der verwendeten Zeitungsartikel ist größer als 366; rein statistisch ist in jeden Tageseintrag mehr als einer eingearbeitet worden.«261 Uwe Johnson lehnt den Terminus ›Montage‹ für sein Arbeitsverfahren ab, denn er versteht darunter »ein Mittel, das viel intrikater ist.«262 Intrikater als die Montage i.e.S., die ja gerade die Bruchstellen zwischen den Realitätspartikeln offen hält und Disparates unverbunden aus sich sprechen lässt, werden die dokumentarischen Materialien in den ›Jahrestagen‹ 260
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Eine Auflistung sämtlicher literarischer Anspielungen und Querverweise kann diese Untersuchung nicht leisten; dazu sei auch an dieser Stelle auf den Kommentar verwiesen. Exemplarisch sei jedoch die Unterrichtslektüre des Beginns von Fontanes ›Schach von Wuthenow‹ in der Weserich-Episode genannt (vgl. J, S. 1694–1707) die von der Forschung zu recht als pointiertes Exempel für das von Johnson erwünschte ideale Rezeptionsverhalten – das langsame Lesen – angenommen wird, heißt es doch zuletzt von der Elf A Zwei: »wir hatten bei [Weserich] das Deutsche lesen gelernt« (J, S. 1707). Ein intertextuelles Verfahren, das durchaus mit dem Schlagwort »postmodern« belegt werden kann, stellt der Austausch von fiktivem Romanpersonal zwischen Schriftstellern dar – in den ›Jahrestagen‹ das mehrmalige Auftreten von Martin Walsers Figur Anselm Kristlein, dem u.a. ein ganzes Tageskapitel gewidmet ist (der 3. August 1968, vgl. J, S. 1710–1712, sowie außerdem J, S. 331, 874) – im Austausch gegen Karsch, der wiederum in Walsers ›Einhorn‹ auftaucht – sowie die zwei erstmals von Mecklenburg (Die Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 113) aufgespürten »parodistische[n] Verfremdungen von Novellen Thomas Manns: das eine Mal komisch und witzig (aus ›Tonio Kröger‹) in die Erzählung von Gesines Tanzstunde (1462), das andere Mal makaber und eher geschmacklos (der Anfang von ›Tristan‹) in die Beschreibung des KZ Fünfeichen (1287f.) eingeflochten.« (Vgl. zu den beiden Anspielungen auf Thomas Mann auch die Erläuterungen des Autors in Uwe Johnson: Lübeck habe ich ständig beobachtet, in: Uwe Johnson: »Ich überlege mir eine Geschichte...«, S. 79–85, hier S. 83f.) Helbig: Zitieren und Erzählen in Uwe Johnsons Roman »Jahrestage«, S. 155. Osterle: Todesgedanken, S. 156.
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vermittels einer Engführung durch Gesines Bewusstsein selektiert, synthetisiert und z.T. bereits interpretiert. Zu der Polyphonie, der »Auflösung der berichtenden Romansprache in ein Orgelspiel aus Stimmen«263 und der Einführung weiterer Binnenerzähler,264 die in die ohnedies bereits zweistimmige Erzählposition eingelagert sind, gesellen sich eine Vielzahl von eingebetteten narrativen Formen, kontingenten Realitätsfragmenten, Quellenzitaten und politischen Zeitdokumenten, deren längstes – noch vor Enzensbergers »Offenem Brief« (J, S. 794–803) – Ludvik Vaculiks »Manifest der Zweitausend Worte« (vgl. J, S. 1437–46) darstellt, das am 27. Juni 1968 in der ›Literární Listy‹ des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes erschien. In seinem Vergleich zwischen dem ›dokumentarischen‹ Erzählen Peter Weiss mit Uwe Johnsons ›Jahrestagen‹ erfasst Michael Hofmann prägnant die Funktion dieser Kompositionsverfahren und leistet zugleich eine Rückbindung der Verfahren an die werk- und wirkungsästhetischen Prinzipien der Avantgarde: Einerseits orientieren sich Johnson und Weiss trotz nicht zu verkennender elementarer Unterschiede an dem Montageverfahren der Avantgarde, indem sie Realitätspartikel in ihre Darstellung einbeziehen, die Mythen des autonomen Kunstwerks demontieren und die Künstlichkeit ihrer epischen Gebilde demonstrieren; andererseits wird dem kritischen Rezipienten die Tatsache deutlich, daß die Auswahl der Dokumente den Konstruktionsprinzipien des jeweiligen Projekts entspricht, wodurch sich eine Aufhebung des Dokumentarischen in der epischen Reflexion vollzieht. So verdeutlicht in beiden Fällen die scheinbar auf empiristischen Interessen aufbauende Integration von dokumentarischem Material den konstruktiven Charakter literarischer Geschichtsdarstellung.265
Diese »Aufhebung des Dokumentarischen in der epischen Fiktion« und die literarische Veranschaulichung des »konstruktiven Charakters literarischer Geschichtsdarstellung« leistet ja gerade die Fiktion, dass Gesine innerhalb der Diegese selbst an der Recherche bzw. Rekonstruktion ihrer Vergangenheit mitarbeitet – und sich einen Überblick über die Gegenwart mit Hilfe der ›New York Times‹ zu verschaffen sucht. Wie die übrigen historischen Materialien und Quellen (mit
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Baumgart: Eigensinn, S. 319. Einige davon führt Norbert Mecklenburg auf (Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 252): »Neben der Haupterzählerin treten immer wieder auf beiden Ebenen andere Figuren erzählend auf, doch sind auch ihre Geschichten, wie die Gesines, vom Autor-Erzähler redigiert: D.E. erzählt aus seinem Leben bis 1945 (1143ff.), Gastwirt Peter Wulff ist ein Übermittler von ›Geschichten‹ (163), Klaus Böttcher erzählt vom Krieg und seiner Zeugenschaft bei SS-Verbrechen (917ff.), Erwin Plath über die Briten in Itzehoe (1161f.), und die vierjährige Marie erzählt von der utopischen Kinderinsel ›Cydamonoe‹ (1482ff.), dabei weiterdichtend, was ihre Mutter ihr von Winnie-the-Pooh und seinen Freunden vorgelesen hat. Was der Journalist Karsch über die Mafia zu erzählen hat, übersetzt Gesine für Marie aus dem Italienischen (394ff.).« Hofmann: »Ästhetik des Widerstand« und »Jahrestage«, S. 194.
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Ausnahme der »Zweitausend Worte«) erscheint auch die Zeitung nur selten im direkten Zitat, sondern in der Regel vermittelt durch Gesines Lektüre; bei seinen Vorarbeiten hat Johnson es sich zur Gewohnheit gemacht, »hinkünftig aus der Times statt objektiv subjektiv zu schneiden, mit Mrs. Cresspahls Augen, mit Aufmerksamkeit für Berichte von Ereignissen, die ihr auffielen, die sie aufbrachten, mit denen sie zufrieden war.« (BU, S. 413) Neben der Frage nach der Auswahl der Artikel – die bestimmt wird durch die Konfrontation der Zeitungsinhalte mit der Biographie oder den Erzählungen Gesines, wodurch sich häufig thematische oder motivische Parallelen erkennen lassen – und »der Natur dieser subjektivistischen Modifikationen, denen die New-York-Times-Zitate in aller Regel unterworfen sind«,266 stellt sich auch die ihrer Funktion. Mecklenburgs in einem fiktiven Dialog zu den ›Jahrestagen‹ ironisch zugespitzter Kommentar, dass es »seit Dos Passos’ Manhattan Transfer […] ohne eine ›Zeitungs-Collage‹ ja wohl nicht mehr ab[gehe] bei einem modernen ›Großstadtroman‹«267 hat – bei aller Polemik – einen wahren Kern, sind die Massenmedien doch fester Bestandteil des Informationsflusses einer Metropole und dürfen daher in einer auf Totalität zielenden epischen Bewältigung des urbanen Raums von New York ebenso wenig fehlen wie die Dubliner Zeitungsschlagzeilen im ›Ulysses‹, dessen ›Aeolus‹Kapitel ja ausschließlich vom Stil und Layout der Zeitungen bestimmt wird: Diese fortwährende Präsenz [des Mediendiskurses] entspricht also ebenfalls den Funktionen der Massenmedien in einer Gesellschaft, die ohne sie nicht mehr existenzfähig ist. Die Medien sind in sämtliche Lebensbereiche eingedrungen, wie es auch in »Jahrestage« demonstriert wird.268
Daneben stützt die ›New York Times‹ »mit ihrem Wesensmerkmal der Periodizität«269 auch die zeitliche Struktur und ihre Rückbindung an die weltpolitische Realität, da sich diese »Zutat« zu jedem einzelnen Tageseintrag anhand einer Einsichtnahme in die jeweilige ›New York Times‹-Ausgabe verifizieren lässt. Die ›New York Times‹-Zitate und Paraphrasen in den ›Jahrestagen‹ umfassen nicht nur Berichte über Kriminalität und Armut in New York, die amerikanische Innenpolitik, gelegentlich banale Meldungen über den »talk of the town«, sondern – aufgrund von Gesines Auswahl und Interessenlage – neben den leitmotivartig, z.T. in Listenform wiederkehrenden Todesmeldungen aus dem Vietnamkrieg vor allem Meldungen aus Deutschland und dem europäischen Ausland. Damit wird durch das Medium ein zusätzliches Maß an zeitgeschichtlicher Realität in den Roman hereingeholt, weitet sich die Perspektive der Erzählung räumlich über ihre Pole New York und Jerichow aus und sichert sich damit ihren
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Fries: Uwe Johnsons »Jahrestage«, S. 30. Mecklenburg: Leseerfahrungen mit Johnsons Jahrestagen, S. 304. Plocher: »Wenigstens mit Kenntnis zu leben«, S. 145. Ebd.
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Anspruch auf Totalität sowie ihre Offenheit, alle Arten weltpolitischen Geschehens aufnehmen zu können. Der Weg führt jedoch stets über die Vermittlung durch Gesines Bewusstsein, wodurch sich eine Doppelfunktion der ›New York Times‹-Exzerpte ergibt: Zum einen liefern sie »Informationen über die weltpolitische Lage«,270 zum anderen spiegeln sie den »subjektiven Zustand« Gesines.271 Im Gespräch mit Matthias Prangel erläutert Uwe Johnson die Rückbindung des Zeitungsmaterials an Gesines Bewusstsein: Es ist wahr, daß gelegentlich etwa ein Zitat aus der New York Times wörtlich, ohne Kommentar vorkommt. Dann ist es aber ein Zitat, das für sich selbst spricht, insofern ihm gegenüber nur noch ein sprachloser Zustand des erzählenden Subjekts stehen kann. Es steht dann für ein Ereignis oder für die Konfrontation mit einer Sache, der gegenüber dieses Subjekt zu müde oder zu ermüdet ist, sich überhaupt noch zu artikulieren. Das kommt aber sehr selten vor. In der Regel kommen die Zitate aus der New York Times nicht verbatim vor und auch nicht in Anführungszeichen, sondern sprachlich bearbeitet durch die Ausdrucksweise eben dieses Subjekts Gesine Cresspahl und mit ihrem eingearbeiteten Kommentar, der nicht nur an den darin benutzten Adjektiven oder Injektiven zu erkennen ist, sondern auch schon als Haltung gegenüber der dort mitgeteilten Tatsache.272
Somit lesen sich »[d]ie Ausschnitte aus der Zeitung […] wie Etüden des Zitierens nach Maßgabe der Biographie«273 als Ergebnis einer doppelten Brechung: Wenngleich es die umfangreiche Hereinnahe von Zeitungsmaterial gestattet, die ›Jahrestage‹ mit dem Schlagwort »dokumentarisch« zu belegen,274 so besteht die Funktion der ›New York Times‹-Artikel »nicht [darin], realistisch die Gesellschaft abzubilden oder sie in ihrer Totalität darzustellen«.275 »Gesellschaft« oder »Welt« treten überhaupt erst gebrochen durch die Selektion und Berichterstattung der Zeitung an Gesines Bewusstsein heran und werden – für den Leser der ›Jahrestage‹ – vermittels Gesines Lektüre erneut selektiert, paraphrasiert und/
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Fries: Uwe Johnsons »Jahrestage«, S. 114. Anita Krätzer: Studien zum Amerikabild in der neueren deutschen Literatur. Max Frisch – Uwe Johnson – Hans Magnus Enzensberger und das »Kursbuch«, Bern/ Frankfurt a.M. 1982, S. 142. Prangel: Gespräch mit Uwe Johnson, S. 266. Die direkten und urheberrechtlich markierten Zitate aus der ›New York Times‹ im Tageseintrag für den 17. Februar 1968 (vgl. J, S. 735–738) ergeben sich folgerichtig aus Gesines Bewusstseinszustand; sie liegt im Fieber, »kann wohl noch lesen, nach Interpretation ist ihr aber nicht mehr zumute, und der Genosse Schriftsteller bemüht sich, ihren Zustand mit den obigen Mitteln und durch den Verzicht auf andere Mitteilungen anzudeuten.« (Fries: Uwe Johnsons »Jahrestage«, S. 65) Schulz: Lektüren von Jahrestagen, S. 214. Vgl. Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 263. Plocher: »Wenigstens mit Kenntnis zu leben«, S. 82, vgl. auch Bernd Auerochs: Erzählte Gesellschaft. Theorie und Praxis des Gesellschaftsromans bei Balzac, Brecht und Uwe Johnson, München 1994, S. 218.
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oder kommentiert, mithin verfremdet bzw. fiktionalisiert.276 Als »›Zeitgeschichte‹ vu par un tempérament« ließen sich die Zeitungsexzerpte Gesines beschreiben. »Denn aus ihrem Bewusstsein heraus erfolgen Auswahl und Kommentierung.«277 Die ursprüngliche Funktion der avantgardistischen Montage, Realitätsfragmente authentisch und objektiv aus sich selbst heraus sprechen zu lassen, weicht hier einer zweifachen Subjektivierung des Materials: Nicht nur die NYT entwirft eine spezifische Version der Wirklichkeit, auch Johnson konstruiert eine individuelle Variante der Stadt New York und des Jahres 1967/68. […] Damit kennzeichnet er wiederum eine sehr begrenzte Version der Wirklichkeit. Er konstruiert sozusagen aus der konstruierten Welt seine eigene.278
Der viel besprochene Erzählvertrag als narrative Basisfiktion der ›Jahrestage‹279 ist insofern kein einseitiger, wenn der Genosse Schriftsteller in Gesine Cresspahls »Auftrag für jeden Tag eine Eintragung an ihrer Statt [macht], mit ihrer Erlaubnis« (J, S. 1474), wenn er sich anbietet, »ihr das herauszufinden, wie das damals war…«280 und »in ihrem Auftrag [zu forschen] und es nach Beratung mit ihr so [aufzuschreiben], wie es tatsächlich gewesen ist und nicht, wie die fälschende Erinnerung es will,«281 so erhält er im Gegenzug Gesines Einwilligung, ihre Biographie als Rückgrat für sein Erzählprojekt als eine zugleich individuelle und exemplarische zu verwenden. »Große und kleine Geschichte« überschreibt Mecklenburg das entsprechende Kapitel seiner Studie, womit sich auch das Geschichtsverständnis pointiert erfassen lässt, das Joyce und Johnson verbindet. Große Geschichte spiegelt sich in der Biographie des Einzelnen, der Weltalltag einer Epoche in einem Tag bzw. in einem Jahr. Will man jedoch den historischen Kontext nicht unterschlagen, aus dem die Werke entstanden – mithin die historische Zäsur des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust! – so muss mit Nachdruck betont werden, dass die Figuren des ›Ulysses‹ Historie »mitbringen«, dass Zeitgeschichte durch die einmontierten
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Vgl. Plocher: »Wenigstens mit Kenntnis zu leben«, S. 69f. Fries: Uwe Johnsons »Jahrestage«, S. 139. Plocher: »Wenigstens mit Kenntnis zu leben«, S. 123. »Ein Jahr hab ich Dir gegeben. So unser Vertrag. Nun beschreibe das Jahr. Und was vor dem Jahr war. Keine Ausflüchte! Wie es kam zu dem Jahr!« (J, S. 1426f.) Vgl. dazu den Aufsatz von Margarethe Wegenast: »Wer erzählt hier eigentlich…?« Zur fiktiven Vertragssituation in Uwe Johnsons »Jahrestagen«, in: ZfG 1 (1994), S. 45–64 sowie Fries: Uwe Johnsons »Jahrestage«, S. 52f. Manfred Durzak: Dieser langsame Weg zu einer größeren Genauigkeit. Gespräch mit Uwe Johnson, in: ders.: Gespräche über den Roman. Formbestimmungen und Analysen, Frankfurt a.M. 1976, S. 428–460, hier S. 438. Becker/Michaelis/Vormweg: Gespräch mit Uwe Johnson, S. 305.
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Fragmente der außerliterarischen Realität in den Text (eher unter der Hand) einfließt, während Johnsons Anliegen ein eminent historisches ist, nämlich eine Diskussion mit dem Leser. Es ist ein Denk- und Diskutierangebot, und es ist auf eine nicht nur subjektive Art der Versuch, dem dauernden Vergehen und Verfallen der Zeit einen kleinen Riegel vorzuschieben, die Vergangenheit aufzuheben, sie sicherzustellen, damit das erreicht wird, was wir als Leser heute aus den Romanen vergangener Jahrhunderte lernen, wie man damals gelebt hat. Das kann nur der Roman.282
Eine auffällige Gemeinsamkeit zwischen Johnson und Joyce ist ihre Vorliebe für Listen und Register, mit deren Inkorporation der enzyklopädische Anspruch der beiden erzählerischen Großprojekte (durchaus in selbstironisierender Manier) auf die Spitze getrieben wird – und zugleich auf Homer als den Urvater des Epos zurückverweist, so dass Mecklenburg einen Sprecher in seinem fiktiven Dialog über die ›Jahrestage‹ polemisch fragen lässt: »Überwiegt nicht das Chronikalische, das Enzyklopädische, Statistische, Tabellarische oft das eigentlich Erzählerische?«283 Die Unterscheidung zwischen dem Erzählerischen und dem summarischen Anführen von topographischen, historischen ›Realien‹ und Namen sowie Datenmaterial aller Art ist mit Blick auf die ›Jahrestage‹ m.E. unzulässig, da die »homerischen Listen von Johnson«284 (wie auch die tabellarischen Passagen im ›Ulysses‹) unter funktionalem Aspekt betrachtet werden müssen, da sie »als statistisch-realistisches Unterfutter eingearbeitet und dem Roman als eiserne Korsettstangen eingezogen« sind.285 Wenngleich hier keine stilistische Detailanalyse der ›Jahrestage‹ vorgenommen werden kann und soll, so muss doch mit Norbert Mecklenburg festgehalten werden, dass Sprache und Stil Uwe Johnsons »durch sein ganzes Werk hindurch eine bemerkenswerte Kontinuität« aufweisen,286 die – durchaus mit Recht – in der Forschung die Formel »Johnson-Ton« etabliert hat: »Die Sprache in ›Jahrestage‹ bewegt sich auf zwei Spannungsfeldern: von Stimmenvielfalt und ›Johnson-Ton‹, von Alltagssprache und Artifizialität.«287
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Schmid: Gespräch mit Uwe Johnson, S. 254f. Norbert Mecklenburg: Leseerfahrungen mit »Jahrestage«, in: Text+Kritik 65/66: Uwe Johnson, München 1980, S. 48–62, hier S. 53. Dazu zählen die aus der ›New York Times‹ übernommenen Todesmeldungen im Vietnamkrieg gefallener Soldaten ebenso wie der Index der Lebenshaltungskosten in den USA im April 1968 (J, S. 1239), Gesines Abrechnung ihrer Einkäufe, die ein ganzes Tageskapitel einnehmen (J, S. 528f.), das »Seenregister« (J, S. 1018f.) und die Listen von Justizopfern im Mecklenburg während des »Dritten Reiches« (J, S. 945ff.) und des Stalinismus (J, S. 1790ff.). Sangmeister: Das Flackern zwischen Fakten und Fiktionen, S. 202. Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 269 Ebd., S. 272.
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Die Grundtendenzen sprachlicher Darstellung (der ›Johnson-Ton‹) sind in ihrer »kunstvolle[n] Einfachheit«288 die gleichen wie in Johnsons früheren Erzählungen: Parataxe,289 Mündlichkeit, Aussparungen, das Spiel mit Namen und Benennungen,290 die »Prägnanz der knappen, klaren, gesammelten Sinndichte des Ausdrucks«291 sowie die häufige Verwendung gewisser Stilfiguren wie Anapher, Asyndeton, Anakoluth und Ellipse. Wiederum ist es die bemerkenswerte Suggestion von Mündlichkeit, die die Wirkungsziele Johnsons und Joyce aneinander annähert: »Hier kämpft, wie in allen großen Erzählbüchern des Jahrhunderts, bei Thomas Mann und Grass und erst recht bei den ›Extremisten‹, bei Arno Schmidt, Joyce oder Beckett, eine mündliche Sprache gegen ihren Untergang in pure Schriftlichkeit.292 Johnson nutzt jedoch in den ›Jahrestagen‹ die Möglichkeiten, die ein derartig »monumental« angelegtes Erzählprojekt eröffnet, zumal sein erzählerisches Arrangement grundsätzlich »in der Lage ist, eine Vielzahl von Sub-Sprachen zu integrieren«.293 Wie die Erzählsituation in den ›Jahrestagen‹, so ist auch die Sprache offen für das Enzyklopädische, ist sie imstande, mit den verschiedenen Stimmen auch ihre jeweils stark differierenden Töne aufzunehmen. Die Bandbreite der Dialekte und Soziolekte, an deren vorderster Stelle freilich noch immer das Mecklenburgische steht, erhält nunmehr die Ausmaße eines linguistischen Kompendiums. Waren die inkorporierten Fremdsprachen in den ›Mutmassungen‹ noch auf Englisch, Russisch und Italienisch beschränkt, so treten nun noch Anleihen aus dem Tschechischen und Französischen hinzu. Innerhalb dieser Polyglossie nimmt das Englische insofern einen Sonderstatus ein, als es nun das Mecklenburgische in der Funktion stützt, das (Hoch-)Deutsche zu konterkarieren, zu kommentieren und immer wieder auf seine Aussagekraft zu überprüfen: [Johnsons] poetische Antwort auf die Unzulänglichkeit der menschlichen Sprache ist ein erweiterter deutsch-englischer Sprachbegriff, der die Möglichkeiten der einen kritisch gegen die der anderen setzt: hinter dem deutschen Sprachgebrauch schwebt
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Ebd., S. 270. Vgl. hierzu die bereits zu Paradigmen der Forschung avancierten Sätze: »In der Eröffnungsrede sollte er die Rote Armee als Bringerin wahrer Menschheitskultur begrüßen, seiner Frau waren einundzwanzig Rotarmisten mit Waffengewalt über den Leib gegangen« (J, S. 1333), und »Er traute seiner Abneigung gegen den Kerl nicht, er sagte für ihn gut bei Pontij« (J, S. 1181). Vgl. J, S. 478: »Und Marie hatte sich von Mr. Robinson den Fahrstuhl geliehen und fuhr im Hause auf und nieder und wartete darauf, daß die Kabinentüren einmal aufgingen vor Mrs. Cresspahl, für die ich gelte, Mrs. Cresspahl, die da nicht ihr Kind erwartet hat, Gesine, die ich bin für Marie.« Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 270. Baumgart: Eigensinn, S. 320. Fries: Uwe Johnsons »Jahrestage«, S. 58.
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latent der englische, der explizit herangezogen wird, wo er Nuancen an Bedeutung und Aussagekraft hinzufügen kann.294
Wie auch die ›Montage‹, genauer: Fiktionalisierung von zitierten schriftlichen Quellen nicht auf authentische Dokumentation abzielt, so geht es jedoch auch hier nicht um sprachnaturalistische Wiedergabe von Originaltönen, so genau diese zitierend festgehalten sind, die Hybridform bewirkt vielmehr ihre permanente Verfremdung durch ironische, parodistische, satirische Brechungen. Die Stimme des ›Genossen Schriftsteller‹ klingt in der kontrapunktischen Stimmenführung des Werks, als Grundbaß sozusagen, ständig mit.295
Dieser »Grundbaß« ist m.E. dafür verantwortlich, dass die ›Jahrestage‹ weniger dissonant und in ihrer Instrumentierung harmonischer erscheinen als die ›Mutmassungen über Jakob‹, in denen die Brüche zwischen den Stimmen ungleich weniger kaschiert wurden. Neben dieser hier lediglich listenartig gebotenen Aufzählung struktureller, erzähltechnischer und stilistischer Grundzüge der ›Jahrestage‹ vor dem Hintergrund der literarischen Moderne der zwanziger Jahre sollen zwei grundlegende Gemeinsamkeiten zwischen Johnson und Joyce akzentuiert und etwas ausführlicher skizziert werden, die eine bemerkenswerte Kongenialität beider Autoren bezüglich ihrer Personenkonzeption und ihres Arbeitsprozesses erhellen. 4.5.6 Der Figurenkosmos Uwe Johnson beschreibt in zahlreichen Gesprächen sein episches Werk als eine Suche nach ›Personen‹, eine Beschäftigung mit deren Lebensläufen, Beziehungen und Vorgeschichte. Geradezu magisch mutet sein Beharren darauf an, dass seine Personen keine fiktiven Konstrukte, Träger von Handlung und Sinn seien, sondern vielmehr eine bewußte Suche nach den Personen grundsätzlich von Schaden [sei]. Hier muss jede Absicht fehlen. Sie müssen freiwillig auftreten, in sich stimmig aus eigenem, in ihrem eigenen Recht, dem Urheber ebenbürtig. Dann werden sie ihm helfen und ihn gelten lassen als einen Partner, wenn er umgeht mit ihnen in seinem Bewußtsein und nun zu Papier. (BU, S. 127f.)
Hartnäckig vertritt Johnson seine Überzeugung, dass er mit diesen ›Personen‹ »schreibend lebe«,296 sie ihn wie reale Menschen umgeben und begleiten, deren
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Schulz: Lektüren von Jahrestagen, S. 45. Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 272. Vgl. Uwe Johnson: »Die Rückwendung zum erzählerischen Ich, sie hat mich verfehlt«, in: »Ich überlege mir die Geschichte...«, S. 157: »Auch bin ich dankbar dafür, daß es
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Existenz nicht mit dem Abschluss eines Romanprojekts endet, sondern über die erzählte Zeit der Romane hinausreicht. Heinrich Vormweg weiß um diese Sturheit des Autors und stellt im Gespräch mit ihm fest: »Uwe Johnson weigert sich, aus der Wirklichkeit seiner ›Geschichte‹ hinauszutreten und sich mit Menschen über sie als eine Geschichte zu unterhalten.«297 In seiner Rede anlässlich der Verleihung des Büchnerpreises erklärt Uwe Johnson: Der Verfasser führt beiläufig ins Feld, daß er den Personen eines fortzusetzenden Romans schon über tausend Druckseiten ein Leben in New York eingerichtet hat. Nachdrücklicher verweist er darauf, daß er keine unbedingte Verfügung über seine Personen besitzt. Er hat in ihrer Gesellschaft gelebt, seit er sie erfunden hat, und er hat sie nicht aufgegeben, nachdem ein Buch hinter ihnen geschlossen wurde.298
Bereits während der Arbeit an den ›Mutmassungen‹ seien seine Figuren »lebendig für ihn [gewesen], er arbeite[te] Hand in Hand mit ihnen an einem Plan und seiner Ausführung« (BU, S. 129). Mit Blick auf die ›Jahrestage‹ – und ihrem ungleich längeren Entstehungszeitraum – findet sich die Anschauung radikalisiert: In den ›Begleitumständen‹ berichtet Johnson von seiner Begegnung mit »Mrs. Cresspahl« in New York, die zum Auslöser der ›Jahrestage‹ geworden sei: Kurz vor Ende seines eigenen Aufenthalts in New York erwies sich, wonach, nach wem ich an den Wochentagen New York City, an den Wochenenden deren Umgebung abgesucht hatte. […] Am Dienstag der folgenden Woche [nach dem 13. April 1967] sah ich Mrs. Cresspahl auf der Südseite der 42. Strasse auf die Sechste Avenue zugehen. Sie war zu erkennen an der Kopfhaltung, an der lockeren, acht- und wachsamen Art, in der sie den rechten Arm pendeln liess […]. (BU, S. 406)
Diese (Wieder-)Begegnung habe sich – so Johnson – als durchaus folgenschwer erwiesen, denn sobald die Personen ihre fiktionale Existenz angetreten haben, verpflichten sie ihren Autor auf eine Fortschreibung, begleiten ihn fortan, sprechen mit und zu ihm: Hat er einmal berichtet, sie sei am 28. April 1961 gegenüber der 48. Strasse West in New York City angekommen, wird er leben und arbeiten müssen mit der Wirklichkeit, die sich als Zukunft für solche Vergangenheit ankündigt. Demnach ist sie nach allem, was er tun kann, anwesend. (BU, S. 443)
So exzentrisch eine derartige Figurenkonzeption anmuten mag, zuvorderst dokumentiert sie doch einen hohen Grad an Empathie seitens des Autors, der seine
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das Buch [=›Ingrid Babendererde‹, M.J.] gibt, denn ich habe von daher eine Menge Personen, mit denen ich seit fünfzehn Jahren schreibend lebe.« Becker/Michaelis/Vormweg: Gespräch mit Uwe Johnson, S. 303. Uwe Johnson: [o. T.] [1971], in: Büchner-Preis-Reden 1951–1971, m. e. Vorwort von Ernst Johann, Stuttgart 1972, S. 217–240, hier S. 218f.
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Figuren über lange Zeiträume ständig beobachtet, ihre Psychologie ausdifferenziert, ihre Motivationen auf Wahrscheinlichkeit hinterfragt, um ihre Lebensläufe nachvollziehbar anzureichern und ihre Lebensgeschichten (nicht nur nach vorn, sondern auch – über ihre jeweiligen Erinnerungen – in die Vergangenheit der ›Personen‹ hinein) keinesfalls beliebig fortzuschreiben: Gesine Cresspahl und ihr Vater, die in den ›Mutmaßungen‹ nur in Relation zu Jakob Abs wichtig waren […], werden nun auf dem breit aufgefächerten Hintergrund ihrer biographischen Erfahrungen porträtiert. […] Läßt sich also angesichts der ›Jahrestage‹ auch nicht mehr von einer thematischen Einheit mit Johnsons vorangegangenem Werk sprechen, so ist auf der anderen Seite nach wie vor eine Konstante festzustellen: das Romanpersonal.299
Johnson treibt das metaleptische Spiel im Jahr 1972 auf die Spitze, als er ein Interview mit Marie Cresspahl fingiert, die die biographischen Fragen des Gesprächspartners mit einem schroffen Verweis auf die »Quelle« beantwortet: »M.H.C.: Lesen Sie doch im Buch nach, warum wir nach New York gefahren sind, und warum wir da blieben! Steht alles da. Dritter Band. Brauchen Sie eine Seitenzahl?«300 Hier überlässt es Johnson seiner Figur, ihrerseits die Grenzen von Fiktion und Wahrheit bewusst zu verwischen und den Wahrheitsstatus des realen Autors ins Wanken zu bringen, indem sie den »Genossen Schriftsteller« zum Produkt eigener Imagination erklärt: M.H.C. Wenn der Genosse Schriftsteller sich vorstellt, er soll an unserer Adresse die Tage eines Jahres und aller Jahre in Gesines Leben und Vergangenheit notieren, so will ich darauf antworten: es beruht auf Gegenseitigkeit. Wir haben ihn uns auch vorgestellt. FRAGE Ihr seid im Buch – M.H.C. Und er ist draußen.301
Diese scheinbare Mystifizierung wird jedoch begreifbar, wenn man sich vor Augen führt, mit welcher Intensität Johnson seine Charaktere entwickelte: Mit den Personen verhält es sich so: Wenn sie in meinem Büchern nicht zu Tode kommen, betrachte ich sie als weiterhin Mitlebende und finde es auch recht und billig, daß ich mich hin und wieder um sie kümmere.302
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Durzak: Der deutsche Roman der Gegenwart, S. 229. Uwe Johnson: MARIE H. CRESSPAHL, 2.–3. Januar 1972, in: »Ich überlege mir die Geschichte...«, S. 90–110, hier S. 95. Ebd., S. 108. Armin Halstenberg: »Dichter sollte man nicht stören« [Heute am Telefon: Uwe Johnson (Am 19.7.1969 in West-Berlin)], in: »Ich überlege mir die Geschichte...«, S. 231– 233, hier S. 233.
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1983 erklärt Johnson ergänzend dazu im Gespräch mit Jürgen Becker, Rolf Michaelis und Heinrich Vormweg: Man gibt eine Person ja nicht einfach auf, wenn sich bloß ein Buchdeckel hinter ihr geschlossen hat, sie bleiben ja für mich am Leben, ziehen um und verreisen oder verheiraten sich oder lassen sich scheiden. Ich weiß von den meisten der Leute, die ich, wie man so sagt, erfunden habe, wo sie sich jetzt aufhalten, und ob sie eine Augenkrankheit haben oder Ferien in Spanien vermeiden, deren Lebensgewohnheiten sind mir vertraut.303
Dieses Bestreben dient der Überzeugung, dass die Personen so real und fasslich wie möglich sein müssen, da sie zentral für die erste Kontaktnahme des Lesers mit dem Roman sind. Gesine Cresspahl ist nicht nur das die Erzählsituation prägende Bewusstsein, sondern auch der Dreh- und Angelpunkt für den Roman – wenn der Leser mit ihrer Konstruktion nicht einverstanden ist, ihre Charakterdispositionen und Handlungen nicht in Beziehung setzen kann, so wären die ›Jahrestage‹ eine Totgeburt. Die Personen in Ihrem Roman, wie immer sichtbar, müssen anders auch wahrnehmbar sein, fast bis zur Gänze: kenntlich daran, wie sie sich anstellen in Freundschaften, Liebschaften, politischen Notlagen oder solchen, bei denen ein Nagel in die Wand gehauen werden muß – was immer Sie davon anerkennen. Den Rest werden Sie hinzutun. Nach einer Weile sollten Sie abrutschen in Zensuren, die geben Sie selbst: Das sieht ihr wieder ähnlich, so ein Benehmen hätt ich von dem nicht erwartet. […] Benutzen Sie Ihr eigenes Lackmuspapier, weisen Sie fälschliche Nachahmungen zurück: Wären Sie in Ihrem täglichen Leben zufrieden mit eben so viel Kenntnis von einer Person, wie der Roman Sie Ihnen anbietet? Hätten Sie es lieber etwas ausführlicher, reichhaltiger? […] Hier möchte einer Ihnen einreden, das Personal eines Romans wahrzunehmen in einem Zustand, da ist es lebendig, und strampelt. Nun wünschen Sie mal Bewegung in die Bude. Dass sich da was tut.304
Folgerichtig sieht Johnson sich vor die Aufgabe gestellt, Figuren aus Fleisch und Blut zu schaffen, die so überzeugend in das jeweilige Setting eingepasst werden müssen, dass der Leser die Gewissheit vermittelt bekommt, in New York wie in Mecklenburg auf den Spuren der Cresspahls wandeln zu können. Im Gegensatz zu Johnsons »Personen«, die »eher ›composites‹ als Abbilder von lebenden Menschen« seien,305 haben zahlreiche der Charaktere in Joyce epischem Kosmos durchaus reale Vorbilder, so dass – kurz nach der Publikation des ›Ulysses‹ – Dublin was divided into two camps […]: those who were afraid that they were in the book and those who were afraid that they were not in it. From a superficial knowledge
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Becker/Michaelis/Vormweg: Gespräch mit Uwe Johnson, S. 302. Johnson: Wenn Sie mich fragen, S. 56. Schwarz: Gespräche mit Uwe Johnson, S. 239.
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of Dublin the writer would affirm that Joyce certainly did his best by the first group and tried to make the second as small as possible.306
So fremd und ›novel‹ die Darstellung Blooms ist, so greifbar wird diese Figur – so sehr neigt sie dazu, sich zu verselbständigen, und dies ist auch durchaus intendiert. Joyce selbst fertigte von Leopold Bloom eine Skizze an, als handle es sich um das Portrait eines Bekannten, mit dem er täglichen Umgang pflegte. Für ihn war sein Protagonist zweifellos so real wie die Personen aus dem MecklenburgKosmos für Johnson. Diese gesteigerte Autonomie der Figuren führt zwangsläufig zu ihrer Verselbständigung nicht nur im Bewusstsein ihres Urhebers, sondern – vermittels seiner Stilisierung – möglichst auch seitens des Lesers, was der Bloomsday in Dublin ebenso eindrücklich belegt wie die Pilgerfahrten der ›Johnsonianer‹ nach Mecklenburg oder New York. Hier Gesine Cresspahl, dort Stephen Dedalus, hier Mecklenburg, dort Dublin – Johnson und Joyce verbindet der Rekurs auf feste Koordinaten in einem in epische Breite ausgedehnten Erzählkosmos, in dem »frühere und spätere Erzählwerke nach Figuren, Räumen, Themen aufs engste miteinander verflochten« werden.307 Norbert Mecklenburg skizziert dieses Erzählprojekt Johnsons im einleitenden Kapitel seines Buches zur ›Erzählkunst Uwe Johnsons‹: Schrittweise wird, als Kernbereich der Johnsonschen Imagination, eine epische Welt entworfen und ausgestaltet, der Mikrokosmos Mecklenburg. Er hält verschiedene Werke und ihre Personen miteinander verbunden, wodurch das Gesamtwerk einen zyklischen Charakter annimmt.308
Dabei entsteht der Eindruck, als ›umschrieben‹ die beiden Autoren sich mit einem wachsenden narrativen Gewebe, dessen Expansion gleichsam organisch ist, da neu ›entdeckte‹ Personen stets Anschlussstellen für potentielle weitere Geschichten bieten. Die beständigen Rückgriffe auf einen fest umrissenen Figurenkosmos und damit beinahe zwangsläufig auf eine einheitliche Topographie, die im Verlauf den Romanwerks weiter mit Details angereichert und ausgestaltet, elaborierter und fasslicher wird, stellen eine augenfällige Parallele zwischen Johnson und James Joyce dar, schöpft doch auch dessen ›Ulysses‹ aus dem Figureninventar der ›Dubliners‹. Mit dem ›Ulysses‹ schreibt James Joyce bekanntlich die Geschichte des Protagonisten von ›A Portrait of the Artist as a Young Man‹ fort, wobei
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Gorman: James Joyce. His First Forty Years, S. 124. Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 15. Zu ergänzen wären freilich die Erzählfragmente ›Heute neunzig Jahr‹ und der ›Versuch, einen Vater zu finden‹, die sich beide dem Erzählprojekt der ›Jahrestage‹ anschließen lassen bzw. Leerstellen in dieser Chronik intertextuell und mit einem höheren Grad an Subjektivität ausfüllen, insofern als sie als persönliche Annäherungen Gesines an die Biographie ihres Vaters gestaltet sind. Ebd.
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letztere Erzählung freilich wiederum mit dem Personenbestand der ›Dubliners‹ verknüpft ist. Dass konsequenterweise nicht nur das Figureninventar, sondern auch deren Lebensgeschichten, mithin episches Material von einer Erzählung in eine andere übergreift, wird bei Johnson ebenso deutlich wie an den Figuren der ›Dubliners‹, die mitsamt ihrer Biographie auch den ›Ulysses‹ bevölkern. Neben Gesine und ihrem Vater Heinrich Cresspahl werden etwa Karsch, die Niebuhrs mit ihrem Sohn Klaus und Ingrid Babendererde von Johnson in die ›Jahrestage‹ übernommen, die epischen Fäden ihrer Biographien weitergesponnen oder feiner ausgestaltet. In den Roman hat die ›Ingrid‹-Erzählung Eingang gefunden, daneben wird die »Existenz von Jakob ohne weitere Erklärung als bekannt vorausgesetzt […]. Leser von Uwe Johnsons Buch Mutmaßungen über Jakob sind freilich bei der Lektüre im Vorteil.«309 Auf diese Weise hat sich Johnson, so Dittberner, »mit der Nachbarwelt zu ›Ingrid Babendererde‹ einer das einzelne Werk übergreifenden Erzählwelt versichert und damit den Weg eingeschlagen, der mit den ›Jahrestagen‹ alle seine Romane als Teile eines (!) Erzählkosmos erscheinen läßt.«310 In Johnson epischem Werk werden verschiedene Begebenheiten nicht nur als unterschiedliche Versionen innerhalb eines Textes erzählt, sondern auch in unterschiedlichen Romanen,311 was den Eindruck repetitiven Erzählens in großer Dimension suggeriert – wozu beim Leser freilich eine Kenntnis des Gesamtwerks vorausgesetzt werden muss. Auf diese Weise werden die früheren Romane zu Intertexten für den späteren,312 Johnsons Erzählungen zu einem Netz verwoben, die Figuren gewissermaßen zu Hyperlinks; »[u]nd schließlich wächst sich das Werk ›Jahrestage‹ zu einem so umfassenden, beziehungsreichen und -dichten Erzählgeflecht aus, dass es ältere wie neuere Texte durch partielle Figurenidentität und intertextuelle Bezüge eng an sich anbindet.«313 4.5.7 Das »topographische Erzählverfahren« und die Arbeitsweise Johnsons und Joyce Bereits die ›Mutmassungen über Jakob‹ bestechen besonders in den Passagen, in denen das Eisenbahnwesen und Jakobs Tätigkeit als Dispatcher zur Darstellung 309 310 311
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Hans Mayer: Das erste Buch über Gesine. Trommelwirbel für Jahrestage von Uwe Johnson, in: Über Uwe Johnson, S. 286–292, hier S. 286. Dittberner: Umstände halber versenkt ins Licht des Textes, S. 76. So die Geschichte der im KZ hingerichteten Schleusen-Niebuhrs in ›Ingrid Babendererde‹ (vgl. IB, S. 169), auf die an verschiedenen Stellen in den ›Jahrestagen‹ angespielt wird. Vgl. Fries: Uwe Johnsons »Jahrestage«, S. 22. Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 20. Vgl. zur Personenverknüpfung in Johnsons Prosa das hilfreiche Schema in Mecklenburg: Leseerfahrungen mit Johnsons Jahrestagen, S. 314.
gelangt, durch einen immensen Detailreichtum und eine Akkuratesse, die als Resultat intensiver Recherche gelten müssen, wenngleich Johnson die Vorarbeiten klein zu reden pflegt und seine überzeugende Detailkenntnis auf die Tätigkeit seiner Mutter bei der Reichsbahn zurückführt:314 »Meine Mutter war eine Zeitlang Güterschaffnerin bei der Reichsbahn, sie kannte das Gebiet ein bißchen. Das Buch mußte ich allerdings noch auf eine andere Weise vorbereiten.«315 Reinhard Baumgart prägt in seiner Rezension der ›Jahrestage‹ die Formel von »Johnsons Umständlichkeits- und Genauigkeitswahn«,316 Peter Rühmkorf schildert in einem Gespräch über Uwe Johnson seinen Eindruck von dessen geradezu verbissenem Bemühen um Objektivität und berichtet in diesem Zusammenhang von einer bemerkenswerten Begegnung mit seinem Schriftstellerkollegen: Was er beschrieb, mußte objektiv stichhaltig sein, und zwar vom Sonnenstand bis zur Windstärke hin. Als ich ihn während einer Lesereise mal zufällig auf einem Umsteigebahnhof traf, da stand er wie angenagelt – dreimal dürfen Sie raten – vor den Fahrplananschlägen. Ich kurvte sofort auf ihn zu und sagt: »Mensch Johnson, Hallo! Was machst du?« »Ja, ich studiere hier gerade den Fahrplan.« Darauf ich: »Kannst du deinen Zug nicht finden?« »Nein, es interessiert mich allgemein, welche Züge von da nach da fahren und wie man vor hier nach dorthin oder anderswo kommt.« Das heißt, dass ihn von der ganzen bewegenden Welt zunächst mal die objektiv vorfindbaren Verbindungsraster interessierten. Er besaß so ein katastermäßiges Erfassungssystem; auch Arno Schmidt hätte ich mir in dieser Rolle da vorstellen können; bloß nicht einfach windbewegt sich durch die Welt treiben lassen, erstmal nachprüfen, wo sich das Subjekt objektiv auf der Landkarte befindet.317
Es ist bezeichnend, dass Rühmkorf hier Arno Schmidt ins Spiel bringt, fällt doch auch Johnson in die von Schmidt 1955 (freilich ohne Kenntnis des bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht in der literarischen Öffentlichkeit hervorgetreten Uwe Johnson) beschriebene »Gruppe der großen Topographen«,318 deren Arbeitsweisen und Materialsammlungen einander ebenso ähnlich waren wie ihre strengen Auffassungen von Objektivität und erzählerischer Präzision.319 Johnson postuliert in den ›Vorschlägen zur Prüfung des Romans‹ erbarmungslos:
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Diese war aber bereits 1956 mit Johnsons Schwester aus der DDR geflohen. Schwarz: Der Erzähler Uwe Johnson, S. 96. Schwarz beruft sich auch auf Aussagen von Freunden Johnsons, denen zufolge er selbst eine Weile für die Reichsbahn gearbeitet habe. Baumgart: Eigensinn, S. 316. »un dann hebbt wi op platt snackt.« Ein Gespräch mit Peter Rühmkorf über Uwe Johnson, geführt von Roland Berbig, in: Uwe Johnson: Befreundungen. Gespräche, Dokumente, Essays, hg. v. Roland Berbig u.a. Berlin/Zepernick 2002 (edition kontext), S. 261–299, hier S. 295f. Schmidt: Du bist Orplid, mein Land, S. 239. Johnson verfügte zwar nicht über einen Schmidtschen Zettelkasten, hingegen pflegte er seine Beobachtungen und Aufzeichnungen Eberhard Fahlke zufolge in einem grünen Klemmhefter zu sammeln, so etwa die kurze Notiz, in der Johnson die Arbeit eines
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Jeder sachliche Irrtum, ob er bei einem historischen Datum passiert oder bei der Unschuld eines Staatsmanns am Tode von Millionen Menschen, an dem er schuldig ist; jede Schlamperei in der Arbeit, jede lügenhafte Spekulation gilt als Grund zur Beschwerde, in schlimmeren Fällen als Anlaß zu öffentlichem Protest, in den schwersten Fällen die Verwandlung des Buches in Altpapier.320
Ebenso unerbittlich ist Johnson bei der Anwendung dieses Diktums auf seine eigene Prosa – und auf eigene »Schlampigkeiten«; er geht mit sich hart ins Gericht und ist sich nie zu erhaben, eigene Fehler öffentlich zu korrigieren.321 Der Leser kann nur dann zum Richter über die Verifizierbarkeit des Faktenmaterials werden, das in die Erzählungen Eingang gefunden hat, wenn die Erzählung auf vorgefundene Realien zurückgreift, Orte und Landschaften ebenso wie historische Fakten, Statistiken, Karten, Kalender und schriftliche Quellen aller Art, die der subjektiven Erinnerung und der Eigendynamik des Fiktiven im Erzählprozess das objektive Rückgrat verleihen.
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Klempners, den er in seiner Wohnung bei der Arbeit beobachten konnte, bis ins Detail festgehalten hat: »Ihm geht es allein darum, genau zu begreifen, wie eine Lötlampe funktioniert und wie damit zu arbeiten ist. Möglicherweise ist es einmal im Kontext einer zu erzählenden Geschichte erforderlich, diesen Arbeitsprozeß zu beschreiben.« (Eberhard Fahlke: »Erinnerung umgesetzt in Wissen«. Spurensuche im Uwe JohnsonArchiv, in: Uwe Johnson. »Für wenn ich tot bin«, hg. v. Siegfried Unseld u. Eberhard Fahlke, Frankfurt a.M. 1991 (Schriften des Uwe Johnson-Archivs 1), S. 92–97, hier S. 94.) Johnson: Wenn Sie mich fragen, S. 60. Vgl. hierzu Fahlke: Erinnerung umgesetzt in Wissen, S. 343: »Das New Yorker Postamt Cathedral Station steht nicht, wie in ›Jahrestage‹ zu lesen, in der 105., sondern in der 104. Straße. Aber solche ostentative Pedanterie beruht auf dem dokumentarischen, auf maximale Authentizität gerichteten Zug von Johnsons Erzählen, seiner empiristischen Grundhaltung.« In den ›Begleitumständen‹ hat Johnson zudem auf eine »unverzeihliche Flüchtigkeit« in den ›Mutmassungen‹ ausführlich hingewiesen: »So erinnert [Jöche] Jakobs Dienstalter ungefähr; er spricht von sieben Jahren bis zum November 1956; in Wahrheit ist Jakob angetreten im Februar 1947. […] Allein die Verantwortung und Scham des Aufschreibers bleibt, dass einmal (auf Seite 16) das Alter Jakobs falsch angegeben ist. Wie das übersehen werden konnte, ist unerfindlich. Denn zu ihm gehört das Geburtsjahr 1928 wie eine Eigenschaft […]. Dennoch ist das ›achtzehn‹ da stehen geblieben, statt eines zutreffenden ›einundzwanzig‹, als eine Flüchtigkeit, die wohl zu erklären wäre aus Umständen beim Schreiben, die jedoch nichtsdestotrotz unverzeihlich bleibt, unabbüssbar selbst durch Selbstanzeige und -anklage« (BU, S. 150f.). Tatsächlich gibt es in den ›Mutmassungen‹ Unstimmigkeiten das Geburtsjahr von Jakob betreffend: Folgt man der Aussage des Erzählers: »In diesem Herbst [1956] war Jakob achtundzwanzig Jahre alt« (MüJ, S. 20), so errechnet sich daraus Jakobs Geburtsjahrgang als 1928; 1931 ergäbe sich aber als Geburtsjahr, versuchte man die Aussage des Erzählers – »aber als er achtzehn Jahre alt war, fing er an als Rangierer auf dem Bahnhof von Jerichow« (MüJ, S. 16) mit der wiederholten Aussage Jöches abzugleichen: »Und er war [1956] sieben Jahre bei der Eisenbahn, will ich dir sagen« (MüJ, S. 7, vgl. MüJ, S. 8).
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Hinsichtlich dieser Akkuratesse steht Johnson James Joyce offenbar in nichts nach, der sich »zwischen 1914 und 1922 […] Notizen auf Zetteln, Schreibblöcken, Manschetten, Servietten und anderen Gegenständen [machte], wann und wo er gerade Einfälle hatte«.322 Dabei konnte grundsätzlich Alles Eingang in den ›Ulysses‹ finden: »[A]s, in a sense, the theme of Ulysses is the whole of life there was no end to the variety of material that went to its building.«323 Frank Budgen schildert seine Beobachtungen des Freundes bei der Arbeit in ›The Making of Ulysses‹ mit den folgenden Worten: I have seen him collect in the space of a few hours the oddest assortment of material: a parody of the House that Jack Built, the name and action of a poison, the method of caning boys on training ships, the wobbly cessation of a tired unfinished sentence, the nervous trick of a convive turning his glass in inward-turning circles, a Swiss music-hall joke turning on a pun in Swiss dialect, a description of the Fitzsimmons shift.324
Die ›Jahrestage‹ sind mit ihrer Akribie (Kritiker nennen es »Detailbesessenheit«)325, die bis in die korrekten Angaben von Haus- und Telefonnummern reicht, (weitaus stärker noch als die ›Mutmassungen‹) gegründet auf Johnsons mimetischem Prinzip: »Ich möchte mich eigentlich mehr an das halten, was es gibt, an das Vorhandene.«326 Johnsons exakt kartographierte Landschaften sind niemals nur Handlungskulisse oder Lokalkolorit, poetische Atmosphäre oder symbolisches Spiegelungsmedium, sondern immer zugleich dokumentierte topographische und geschichtlich-gesellschaftliche Realität. Das Poetische und das Topographische, das Erzählerische und das Tabellarische, das Fiktionale und das Statistische bilden in Jahrestage keinen Gegensatz.327
Der Autor ist Historiograph, Topograph, Chronist, Reporter – und doch in erster und letzter Instanz Erzähler. Mag bei Arno Schmidt gelegentlich die ›Liebe zum Statistischen‹ zum Selbstzweck werden – Johnsons Ziel ist kein dokumentarisch-naturalistisches, sondern bleibt das Erzählen der Geschichte. Zweifellos gewinnen die oft bildreichen Detailschilderungen, die naturalistischen Beschreibungen technischer Vorgänge oder auch das auflistende registerartige Erzählen durch ihre faktisch-sinnliche Dichte an poetischem Eigenwert – für Johnson ist
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Philip F. Herring: Zur Textgenese des ›Ulysses‹: Joyces Notizen und seine Arbeitsmethode, in: James Joyces ›Ulysses‹. Neuere deutsche Aufsätze, hg. v. Therese FischerSeidel, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1981 (edition suhrkamp 826), S. 80–104, hier S. 83. Budgen: James Joyce and the Making of ›Ulysses‹ and other writings, S. 176. Ebd. Durzak: Der deutsche Roman der Gegenwart, S. 238. Neusüß: Über die Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit, S. 192. Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 342.
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die »sachlich-faktische Unterfütterung seiner Geschichten«328 immer ein Mittel, die Personen zu begreifen, die sich in diesen Landschaften bewegen, um Erinnerungsprozesse an verifizierbare Räume – mithin an Heimat – rückzubinden: Ich mache meine Recherchen, aber: um meine Geschichte zu erzählen. Während es auf der anderen Seite Versuche gibt, das bei allgemeinen – nicht gezielten – Recherchen gefundene Material zu verwerten. Das ist dann Zitat, Montage. Die bedarf nicht des Vorwandes der Geschichte. Und vielleicht nicht des Erzählens als Zweck.329
Für Johnson gilt also gleichermaßen, was Herring in seinem aufschlussreichen Essay ›Zur Textgenese des ›Ulysses‹: Joyce Notizen und seine Arbeitsmethode‹ dem Iren attestiert: »[E]in enzyklopädisches Gedächtnis schloß nicht die Notwendigkeit einer Enzyklopädie aus, denn dieser irische Autor schrieb Quellenmaterial ab, wo es nur ging.«330 Herring zufolge »finden sich unter den exotischen Spezies und Subspezies okkult-wissenschaftlichen Wissens der ›Circe‹-notesheets« in Joyce Notizbüchern Exzerpte zu solch verschiedenartige[n] Themen wie Handlesekunst, Kartenwahrsagerei, Gestensprache (Fächer, Sonnenschirm, Regenschirm, Taschentuch), Astrologie, Botanik, Pharmakologie (einschließlich Hausmittelkunde), Volksaberglauben, Ägyptologie, Edelsteinsymbolismus, Schwarze Messen, Dämonologie, »Sinistrismus«, Fetischismus und Psychophysik.331
Johnson und sein episches Großprojekt der ›Jahrestage‹ eint ein mit höchster Akribie betriebenes Rechercheverfahren mit Joyce und seiner Arbeit am ›Ulysses‹. In diesem Zusammenhang ist bereits eine Parallelität der Lebensbedingungen beider Autoren und der Entstehungsbedingungen der Romane im jeweils selbst gewählten Exil augenfällig. Joyce verließ 1904, d.h. im Alter von 22 Jahren Dublin endgültig; die Niederschrift des großen Romans über Dublin erfolgte bekanntlich in Paris, Zürich und Triest, was für die topologische Präzision Joyce insofern eine Herausforderung darstellte, als er auf die Hilfe von Freunden und Bekannten sowie auf den Rückgriff auf Nachschlagewerke und Pläne angewiesen war, anstatt die Recherche vor Ort, auf Dubliner Boden selbst betreiben zu können.
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Ebd., S. 259. Gröhler: »Ich fabriziere keinen Text, ich schreibe ihn«, S. 251. Herring: Zur Textgenese des ›Ulysses‹, S. 81; dieser Essay bietet auch einen (freilich selektiven) Überblick über die unterschiedlichsten Quellen, mit denen Joyce seinen ›Ulysses‹ absicherte, sowie einen Einblick in Joyce Notizbücher, die in Buffalo aufbewahrt werden; als »Joyce das Typoskript und die Korrekturbögen für ›Ulysses‹ durchsah, stellte er ein Notizbuch zusammen […]. Einer der faszinierendsten Gesichtspunkte dieses Notizbuches ist der Nachweis, daß Joyce mehr als fünfzig Notizen für ›Ithaca‹ aus Bertrand Russels Introduction to Mathematical Philosophy entnahm« (ebd., S. 100). Ebd., S. 96.
Ähnliches gilt für Johnsons Arbeit an den ›Jahrestagen‹; schließt der ›Ulysses‹ mit der Notiz: »Trieste-Zurich-Paris (1914–1921)« (U18.1610f.), so liest man am Ende des vierten Bandes der ›Jahrestage‹ die Orts- und Zeitangabe: »[29. Januar 1968, New York, N.Y. – 17. April 1983, Sheerness, Kent.]« (J, S. 1892). Zu Beginn der Niederschrift (1966–1968) befand sich Johnson in New York, was eine epische Erfassung der Metropole als der einen topographischen Dimension des Romans erheblich erleichterte und dem Autor einen unmittelbaren Zugriff auf die konkrete Erfahrungswirklichkeit dieser Großstadt in den sechziger Jahren ermöglichte; in den ›Jahrestagen‹ werden die topo- und soziographischen Porträts […] ebenso der Kreisstadt Gneez (1428ff.) gewidmet wie den verschiedenen Teilen und Aspekten der Weltmetropole New York, die in Gesines und Maries Horizont treten: der Straße und dem Park, an denen sie wohnen, Riverside Drive (51ff.) und Riverside Park (1188ff.), der Oberen Westseite von Manhattan und ›unserem Broadway‹ (175f.), der Umstellung der Subway (367ff.), der Friedensparade am Loyalty Day (1069ff.), den Slums (841ff.), den Bettlern (887ff.), den Geräuschen der Stadt (240ff.), der Farbe Gelb in New York (1690ff.), der Kakerlakenplage (823ff.).332
Der zweite topographische ›Pol‹ des Romans, der »Mikrokosmos Mecklenburg und das Modell Jerichow«,333 auf den die Erzählung immer wieder rekurriert, blieb jedoch seinem unmittelbaren Zugriff entzogen und stellt Johnsons »Vorliebe für das Konkrete […], eine geradezu parteiische Aufmerksamkeit für das, was man vorzeigen, nachweisen erzählen kann« (BU, S. 23), auf eine harte Probe, zumal er seine Arbeitsweise mit den Worten umreißt: »Ich dokumentiere die Gegenstände, die ich in meinen Büchern vortrage, indem ich sie aufsuche, damit die Geschichte auch an dieser Stelle einiges an Wahrheit aufweist.«334 Johnsons Aufenthalt in den USA sowie die in der Anfangsphase der Niederschrift von ›Jahrestage‹ erheblich verschärften Einreisebedingungen in die DDR verhinderten ein »Aufsuchen« und Nachprüfen, das Befragen von Zeitzeugen vor Ort.335 In New York konnten ihm Hannah Arendt und ihr Mann Heinrich Blü-
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Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 253. Ebd., S. 115. Halstenberg: »Dichter sollte man nicht stören«, S. 231. Später nutzte Johnson während der Arbeit an den ›Jahrestagen‹ jede Gelegenheit, selbst nach Mecklenburg zu reisen, um Menschen zu befragen und Quellen einzusehen; »Anfang Juli 1973 reist Johnson wiederum für eine Woche nach Rostock, Güstrow, Schwerin und Schwaan, um Orte und Landschaften zu erkunden, die von besonderer Bedeutung waren für Gesine Cresspahls Kindheitstage und Heimatbilder,« (Neumann: Uwe Johnson, S. 675) und im Sommer 1983 (vom 15.–20. Juni) bot sich ihm die letzte Möglichkeit, in einer englischen Reisegruppe gewissermaßen inkognito den mecklenburgischen Schauplatz des Romans aufzusuchen. (Vgl. Eberhard Fahlke: »Ach, Sie sind ein Deutscher?«, in: Ich überlege mir die Geschichte, S. 7–47, hier S. 39.) Doch zunächst waren ihm diese Wege versperrt.
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cher oder auch seine Frau Elisabeth trotz ihres erheblichen Erinnerungsvermögens freilich nur begrenzt behilflich sein, in Berlin standen ihm etwa der Maler Hann Trier oder der Architekt Werner Düttmann zur Verfügung. Johnsons radikaler Realismusbegriff zwang ihn dazu, mit Lokalzeugen Kontakt aufzunehmen, die ihm aus erster Hand Informationen beschaffen, Fragen beantworten oder Quellen einsehen konnten, zu denen er keinen Zugang hatte – folglich mit alten Bekannten aus Mecklenburg. Wilhelm J. Schwarz gegenüber bemerkt Johnson: Sie sind Theoretiker, Sie können wohnen, wo sie wollen. Ich muß mit vielen Leuten zusammenkommen, ich bin auf Menschen angewiesen. Sie brauchen Bücher, die Sie sich schicken lassen können. Ich muß mir meine Kenntnisse selber abholen.336
Walter Kempowski spricht in diesem Zusammenhang von einem »ganzen Netzwerk von Lieferanten«.337 Auf Johnsons Liste seiner Gewährsleute steht dabei an vorderster Stelle sein Lehrer Wilhelm Müller, der damit zum literarischen Rang von Joyce ›Aunt Josephine‹ avancierte (und als Vorlage für Sedenbohm in die ›Ingrid Babendererde‹ und als Kliefoht in die ›Jahrestage‹ Eingang gefunden hat);338 auch Alice Hensan half ihm bereitwillig aus. Norbert Mecklenburg nennt zudem als Johnsons mündliche Hauptquelle für Studien in und über Lübeck den dort ansässigen, jedoch aus Güstrow stammenden Kunsttischler FriedrichErnst (»Lütten«) Schult, übrigens ein Enkel von keinem Geringeren als Ernst Barlach.339 Die Korrespondenz der Jahre nach 1968 legt beredtes Zeugnis ab von Johnsons Bemühen um Zeit- und Lokalzeugenberichte und Detailinformationen; auch entferntere Bekanntschaften wie Manfred Bierwischs frühere Freundin Brigitte Zeibig wurden nicht verschont. Bernd Neumann fasst zusammen: Sie hatte ihm schon einmal mit Ausführungen über das Krankenhauswesen der DDR gedient. Unter dem 13. Dezember 1969 versucht Johnson Brigitte Zeibig für einen stellvertretenden Besuch in »Jerichow« zu gewinnen. Dazu sollte sie nach Klütz, Kröpelin und Neubukow fahren, weiterhin eine beliebige Kleinstadt an der Küste Mecklenburgs aufsuchen und sich dort ungefähr zwei Tage ihre Beobachtungen und Eindrücke notieren. – Ein Raster mit den entsprechenden Fragen lieferte der Bittsteller mit: die Anzahl der Fernsehantennen? Telephonhäuschen und Bedürfnisanstalten? Vorkommen von »Halbstarken«? Denkmäler und evangelische Aktivitäten? Hotels und die Existenz von Werbung für die Kreditaufnahme? Findet sich viel Plastikmaterial in den Geschäften? Erblickt man noch Sägemehlspäne auf dem Boden der Fleischereien? Wie schaut es mit Kriegsgräbern, Transparenten, Pferdefuhrwerken und den Kulturhäusern aus? Zeitungskioske und die Beschaffenheit der Villenviertel durf-
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Schwarz: Gespräche mit Uwe Johnson, S. 242. Walter Kempowski am 27. Oktober 1999 im Gespräch mit Gesine Treptow und Thomas Wild zit. n.: »Ruhe! Walter Kempowski soll weiterschreiben!« Wie zwei Mecklenburger Schriftsteller ein Auge aufeinander haben, sich lesen und lektorieren, von Gesine Treptow, in: Befreundungen, S. 345–391, hier Anm. 14, S. 351. Vgl. hierzu auch Neumann: Uwe Johnson, S. 313. Vgl. Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 386f.
ten ebenfalls nicht vergessen werden – »epischer Materialismus« Johnsonscher Prägung in Reinkultur.340
Sein Verleger war ihm bei Detail-Recherchen zur Beschreibung des Flughafenausbaus »Mariengabe« behilflich:341 Als Johnson jemanden brauchte, der sich mit dem »Betrieb eines Militärflughafens bei Grossdeutschens« auskenne, vermittelt Unseld ihm den Briefkontakt zu Jörg Bahnemann von der Führungsakademie der Luftwaffe in Hamburg: »Punkt für Punkt hat Oberstleutnant Bahnemann die Fragen des Schriftstellers beantwortet, auch detailliert ausgeführt bis zur Frage, wem denn beim Bau eines solchen Flughafens die Handwerker unterstellt gewesen wären.«342 Auch in New York knüpfte Johnson Kontakte zu Experten und Gewährsleuten, zu Angehörigen der jüdischen Gemeinde ebenso wie (durch die Vermittlung Helen Wolffs) zu zwei Zivilbeamten der New Yorker Polizei, die ihn mit auf Streife nahmen, oder zu Insidern im New Yorker Börsen- und Finanzgeschäft:343 Aber die Leute, die ich kannte, wunderten sich inzwischen sehr über mich. Sie hatten mich für einen ganz diskreten Menschen gehalten, und jetzt ging ich in der Stadt umher und fragte nach Preisen, z.B. in einer Bank, was kriegt man denn so.344
1977 bat Johnson den Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich um eine schriftliche Diagnose zu Gesines Schizophrenie-Symptomen und erhielt auch umgehend eine Antwort, die als authentisches Material in die ›Jahrestage‹ einmontiert wurde (vgl. J, S. 1856f.).
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Neumann: Uwe Johnson, S. 639. Vgl. Uwe Johnson an Siegfried Unseld, 27. Mai 1971 und 3. Juni 1971, und Siegfried Unseld an Uwe Johnson, 1. Juni 1971, in: Uwe Johnson – Siegfried Unseld. Der Briefwechsel, S. 684–688 [479] und 690–693 [481]. Neumann: Uwe Johnson, S. 658. Johnson schreibt in einem Brief an Linda Kuehl: »Whenever I needed something out of my way, Helen Wolff knew how to arrange it, and so one night two plainclothes policemen in an unmarked car had an uneasy time with a foreigner who could not even really tell them why he wanted to ride with them and what to show or to tell him. […] Once she [Helen Wolff] had sent me on the way, I could find the things I needed on my own. But she was there and waiting when I needed the acquaintance of real financial personalities who were actually residing on or near Wall Street; three day later I had lunch with a living banker, and was invited by another a week afterwards.« (Uwe Johnson an Linda Kuehl, 12. September 1974, zit. n. Eberhard Fahlke, »This smile: a hidden interest in a project«. Uwe Johnson und seine amerikanische Verlegerin Helen Wolff, in: Johnson-Jahrbuch 2 (1995), S. 50–66, hier S. 58f.) Uwe Johnson: Wie es zu den Jahrestagen gekommen ist, in: »Ich überlege mir die Geschichte...«, S. 65–71, hier S. 68.
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Auch um Mollys Erinnerungen an ihre Kindheit an einem Ort, den er nie gesehen hatte, genau schildern zu können, mußte sich Joyce in Geschichtsbücher und Reiseführer über Gibraltar vertiefen. Dazu las er mehrere Ausgaben des Gibraltar Directory and Guidebook, einer alljährlichen Veröffentlichung der britischen Regierung, Gibraltar and its Sieges (anonym), Henry M. Fields Gibraltar und vermutlich mehrere andere Bücher, die er in seinen Notizen aufführt.345
Wo die eigene Erfahrung und Erinnerung des Autors nicht hinreicht, stellt – so die Überzeugung Joyce und Johnsons – die fabulierende Imagination keinen Ersatz dar; vielmehr mussten Quellen hinzugezogen und Zeugen befragt werden. Neben Berichten von Johnsons Bibliotheksarbeit in Berlin, Lübeck, Hannover oder Richmond346 zeugt der reiche Bestand an Mecklenburgiana (darunter auch Periodika wie die ›Mecklenburgischen Monatshefte‹) in Johnsons Nachlass davon, dass er auch auf einen Handapparat schriftlicher Quellen zurückgreifen konnte, der eines Historikers würdig war.347 Daran schließt sich eine Anekdote an, die Walter Kempowski (ebenfalls an jenen Werken interessiert) mit gespielter Verärgerung zum Besten gibt: »Was mecklenburgische Bücher angeht, so ginge es mir so ähnlich wie dem Hasen mit dem Swinegel. In verschiedenen Buchhandlungen wurde mir gesagt: ›Mecklenburg? Das hat Herr Johnson gerade alles weggekauft.‹«348 Als schriftliche Quelle über Lübeck, die er im Februar 1969 eine Woche lang im Lübecker Stadtarchiv studierte, dienten Johnson die Jahrgänge 1931 bis 1942 des ›Lübecker General-Anzeigers‹.349 Im Jahr 1971 erhielt er von Aug345 346 347
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Herring: Zur Textgenese des ›Ulysses‹, S. 101. Vgl. ebd., S. 256. Fahlke präsentiert einen Überblick über Johnsons Bibliothek und die Mecklenburgiana in seinen Artikeln: Bücher: gesammelt und geschrieben, um die Geschichte aufzuheben. Uwe Johnsons Bibliothek, in: Poetik. Essays über Ingeborg Bachmann, Peter Bichsel, Heinrich Böll, Hans Magnus Enzensberger, Wolfgang Hildesheimer, Ernst Jandl, Uwe Johnson, Marie Luise Kaschnitz, Hermann Lenz, Paul Nizon, Peter Rühmkorf, Martin Walser, Christa Wolf und andere Beiträge zu den Frankfurter Poetik-Vorlesungen, hg. v. Horst Dieter Schlosser u. Hans Dieter Zimmermann, Frankfurt a.M. 1988, S. 110–132; »Erinnerung umgesetzt in Wissen«. Spurensuche im Uwe JohnsonArchiv, in: Uwe Johnson. »Für wenn ich tot bin«, hg. v. Siegfried Unseld u. Eberhard Fahlke, Frankfurt a.M. 1991 (Schriften des Uwe Johnson-Archivs 1), S. 92–97. Walter Kempowski an Uwe Johnson, 16. April 1971, zit. n.: »Ruhe! Walter Kempowski soll weiterschreiben!«, S. 356f. Vgl. Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 386f. Johnson bemerkt dazu: »Ein Mensch von der verständlichen Art unternimmt eine Reise, um seine Verwandten abzuschließen und seine Geschäfte zu besuchen; ein Romanschreiber ist imstande und reist 450 Kilometer, um einen verjährten Band der Lokalzeitung zu untersuchen, wobei denn zwanzig oder zehn Seiten in seinem Buch herausspringen. (Johnson: Wenn Sie mich fragen, S. 52.) Auffällig ist die Parallelität dieser Aussage Johnsons mit Arno Schmidts programmatischer Abgrenzung der »Topographen« (und damit Realisten) von den »Fabulierern« unter den Schriftstellern aus dem Jahr 1955: »Die Einen den-
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stein, dem damaligen Herausgeber des Magazins, ein ›Spiegel‹-Abonnement als Geschenk, da das Periodikum ein entscheidendes zeitgeschichtliches Dokument darstellte, das in die ›Jahrestage‹ Eingang fand350 – neben dem ›Time Magazine‹ und der ungleich wichtigeren Quellensammlung der ›New York Times‹, die er zwischen 1966 und 1968 zu einem gewaltigen Exzerpt kompilierte, das in zahlreichen Ordnern im Johnson-Archiv aufbewahrt wird. 4.5.8 Regionalismus, Realismus und Avantgarde Immer wieder sah Uwe Johnson seine Prosa mit dem Schlagwort »Heimatliteratur« – wenn nicht gar »Blut- und Bodenliteratur«, sich selbst mit dem Vorwurf des »Regionalismus« konfrontiert. Ungeachtet der Tatsache, dass diese Urteile denkbar unscharf sind (und bestenfalls auf gewisse Züge der ›Ingrid Babendererde‹ zutreffen mögen), ist dem entgegenzuhalten, dass diese Form des Regionalismus eine von Joyce aus der literarischen Moderne herreichende Tradition geprägt hat, die, folgt man Mecklenburgs zugespitztem Kommentar, zugleich eine »Emanzipation von einem metaphysischen Schema des abendländischen Romans [bedeutete], dessen Urbild der größte Heimatroman der Weltliteratur sein mag.«351 Angespielt wird hier auf Homers ›Odyssee‹, die als monumentales Epos eines Volkes schon den Hypotext für den ›Ulysses‹ abgab. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, waren Homer, Joyce, Koeppen und Schmidt allesamt Regionalisten; nicht zuletzt besteht eine fundamentale Gemeinsamkeit der genannten Erzähler darin, dass sie immer wieder zu bestimmten topographischen Knotenpunkten zurückkehren. Wie sich bereits gezeigt hat, scheint die präzise temporale und topographische Fixierung des fiktiven Geschehens eine Konstante im Werk der untersuchten Erzähler zu sein, die diese mit dem ›Ulysses‹ verbindet. Was Johnson von Joyce, Koeppen und Schmidt auf den ersten Blick grundlegend unterscheidet, ist die Tatsache, dass Dublin, München oder die Lüneburger Heide freilich real, die mecklenburgischen Orte hingegen fiktiv sind – fiktiv jedoch nur insofern, als es Jerichow und Wendisch Burg nicht gibt. Dies bedeutet nun keineswegs, dass Johnson auf einen über diesen »Mikrokosmos« herausreichenden, universal-weltliterarischen Anspruch verzichten würde, da gerade dem Regionalen eine Tendenz zur Verallgemeinerung innewohnt, sobald ein mikroskopischer Blick auf die Provinz fällt: »Eine kleine Stadt kann für viele kleine Städte stehen, selbst wenn sie erfunden ist; sie könnte möglich sein, so könnte es gewesen ein.«352 Damit ist Johnson für Norbert Mecklenburg
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ken sich ihre Landschaften aus. Die Andern fahren vorher hin, und sehn sie sich an.« (Schmidt: Die Handlungsreisenden, S. 256.) Vgl. Neumann: Uwe Johnson, S. 504. Mecklenburg: Leseerfahrungen mit Johnsons Jahrestagen, S. 314. Schmid: Gespräch mit Uwe Johnson, S. 255f.
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ein moderner realistischer Erzähler, ein deutscher Autor der Epoche der nationalen Teilung […], ein norddeutscher Regionalist […], soweit sein Regionalismus als eine Dimension seines erzählerischen Realismus, als materielle Basis für die Entfaltung des Themenkomplexes Heimat und Erinnerung in seinem Werk erkannt wird.353
Insgesamt erscheinen somit die grundlegenden Charakteristika der ›Jahrestage‹, die auch einen zentralen thematischen Komplex des Werkes bilden, als Fortsetzung der Arbeitsweise ihres Autors, letztlich als Folge von dessen »Heimatverlust«: Johnsons strenges Realismuskonzept, sein Anspruch der Wahrheitssuche erweist sich in dieser Chronik als Konglomerat aus oral history (im Rückgriff auf Zeit- und Lokalzeugen), einer Kompilation von schriftlichem (aktuellem wie historischem, weltgeschichtlichem wie regionalistischem) Quellenmaterial und kleineren »portable scraps of urban life«;354 zitierte Stimmen haben nicht selten ihre Entsprechungen im Arbeitsumfeld des Dichters und lassen sich auf Gespräche und Korrespondenz dieser Jahre zurückführen: Auf diese Weise wurde der epische Teppich, den die Jahrestage darstellen, nicht nur aus dem Leben heraus, sondern auch ins Leben hinein gewoben. Biographische Einflüsse und »Spuren« treten im Prozeß der poetischen Realisation in den Bereich der Fiktion, verändern Status und Qualität.355
Neben ein objektives, unmittelbares Kartographieren der Metropole New York tritt der Rückgriff auf Mnemotopoi aus der (verlorenen) Jugend und Heimat. Johnsons Erzählen in den ›Jahrestagen‹ bewegt sich stets im Spannungsfeld von Erinnerung, Reflexion, Vergegenwärtigung einerseits und Recherche, Rekonstruktion und Historiographie andererseits. Dieser der Entstehungsgeschichte des Romans geschuldete Umstand ist es auch, der den spannungsreichen und reichhaltigsten thematischen Komplex der Erinnerung als einer Suche nach der verlorenen Zeit in den Vordergrund rückt. Indem Erinnern zum Motor und Motiv des Erzählens wird, übernimmt der Roman die Funktionen des Gedenkens und der Wertzuweisung. Produktionsästhetisch tritt die Rekonstruktion aus Quellenmaterial, mithin das Verfahren des Historikers, neben die subjektive Vergegenwärtigung individueller Vergangenheit; beide kommentieren und ergänzen sich wechselseitig und bilden in der Abbildung des »Welt-Alltags einer Epoche« zugleich die komplexe Bipolarität heraus, die die ›Jahrestage‹ und gleichermaßen den ›Ulysses‹ charakterisieren: Dementsprechend ist die traditionelle Hybridform des historischen Romans in Jahrestage auf sehr moderne Weise abgewandelt durch Tuchfühlung mit moderner His-
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Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 38. Joyce zitiert nach Budgen: James Joyce and the Making of Ulysses and Other Writings, S. 86f. Neumann: Uwe Johnson, S. 819.
toriographie, durch Montage dokumentarischen Materials, durch Einbeziehen eigener mikrohistorischer Recherchen und als Regionalgeschichte und oral history.356
Selbst angesichts der Anwendung moderner Verfahren und Techniken verzichtet Johnson nicht auf das Primat der Geschichte, dem er sich als Schriftsteller verpflichtet sieht: »Wenn man es brutal zusammenfaßt, dann möchte ich gern eine Geschichte erzählen.«357 Johnson bezweifelt, »daß es möglich ist, die Neugier der Menschen auf Geschichten auszurotten: auf etwas, das geschehen ist, von dem sie nichts wissen.«358 Paradigmatisch für Johnsons Romane ist das Bestreben nach einer Synthese aus ›Geschichtenerzählen‹ und größtmöglicher ›Wahrheit‹ bzw. Authentizität unter Anwendung modernster Erzählverfahren. Betrachtet man die Kategorisierungsversuche, denen die Literaturkritik und -wissenschaft Johnsons Prosa bisher unterzogen hat, so fallen dabei immer wieder die Kategorien Moderne bzw. Avantgarde359 und Realismus360 ins Auge, vielfach ist sogar von einem »modernen Realismus« die Rede.361 Helmut Koopmann etwa sieht in Uwe Johnson den »konsequenteste[n] Realist[en] der deutschen Nachkriegsliteratur«. Er sei derjenige unter den Schriftstellern nach 1945, der in seinen frühen Romanen die Forderungen des neuen Realismus bedingungslos umgesetzt hat. […] Kein anderer als er hat deutlicher und genauer die Wirklichkeit betrachtet, keiner hat sie akribischer beschrieben. Seine Romane gleichen Wirklichkeitsprotokollen, in die auch noch die Anamnese der Wirklichkeit einbezogen ist. Die Beschreibung der Technik eines Rennrades im Dritten Buch über Achim könnte Konstrukteuren als Vorlage dienen. Das Grab Ingeborg Bachmanns findet man am
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Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 234. Post-Adams: Antworten von Uwe Johnson, S. 278. Halstenberg: »Dichter sollte man nicht stören«, S. 232. Vgl. Hofmann: »Ästhetik des Widerstands« und Jahrestage«, S. 194, Schulz: Lektüren von Jahrestagen, S. 2, Zschachlitz: Zur privaten Erinnerung in Uwe Johnsons Roman »Jahrestage«, S. 149 sieht die ›Jahrestage‹ gar als »Beispiel für eine radikalisiertere Form der literarischen Moderne, wo die Diskrepanz von Ideal und Wirklichkeit erkennbar klafft, indem die literarische, künstliche Form deutlich zutage tritt;« Fries erkennt in ihnen das »kalkulierte Wechselspiel von Tradition und Moderne« (Fries: Uwe Johnsons »Jahrestage«, S. 148). Katharina Hillgruber bezeichnete die ›Jahrestage‹ in der Süddeutschen Zeitung (26./27.2.1994) als »das letzte große realistische Epos überhaupt«; vgl. außerdem Bond: Die Klassengesellschaft und die Dialektik der Gerechtigkeit, S. 227f.; Fries: Uwe Johnsons »Jahrestage«, S. 137; Norbert Mecklenburg: Erzählte Provinz. Regionalismus und Moderne im Roman, Königsstein/Ts. 1986, S. 200ff., und ders.: Die grünen Inseln. Zur Kritik des literarischen Heimatkomplexes, München 1987, S. 131, 136, 142; Neumann: Utopie und Mimesis, S. 295, 306f.; Joachim Scholl: In der Gemeinschaft des Erzählers. Studien zur Restitution des Epischen im deutschen Gegenwartsroman, Heidelberg 1990, S. 139f., S. 181. Vgl. Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 20 u.ö.
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sichersten, wenn man Johnsons Eine Reise nach Klagenfurt liest; die Stadtbeschreibung ist an Genauigkeit kaum zu übertreffen. Stationen der New Yorker Untergrundbahn sind in den Jahrestagen mit einer Präzision dargestellt, die einem Fahrgast verdeutlichen kann, wo er sich gerade befindet. Mag die Realität auch in ihre Elementarteilchen zerfallen: Johnson setzt sie neu zusammen, und mag sein Schreiben auch nur Realitätsannäherung sein: näher kommt kein anderer an sie heran.362
Dass die Begriffe ›Realismus‹ und ›Avantgarde‹ einander nun keineswegs widersprechen, sondern dieser Widerspruch vielmehr seit Joyce ›Ulysses‹ aufgelöst ist, belegt Dirk Sangmeisters luzide Einschätzung der ›Jahrestage‹ im Kontext einer ›realistischen‹ Tradition: Johnson ist bewußt zurückgegangen zu dem Punkt, an dem Joyce und Beckett den allgemeinen Pfad der Literatur verlassen hatten, und hat versucht, von dort aus einen anderen Weg zu finden. Einen Weg, den man bezeichnen könnte als modernen, relativierten, problematisierten oder skeptischen Realismus. Die »Jahrestage« lassen sich, anhand einer fundierten Analyse von Erzählsituation und Schreibstrategien, mühelos und überzeugend gegen den albernen Vorwurf eines altbackenen oder kunstledernen Realismus verteidigen. Sie sind formal, prosatheoretisch ein modernes Buch, in dem sich die Moderne und deren Rezeption spiegeln in den vorgenommenen Modifikationen und Weiterentwicklungen des traditionellen Realismus. Und der Realismus ist – nicht nur kommerziell – allen Anfeindungen zum Trotz langlebiger als alle anderen literarischen Richtungen. Seine Fortdauer verdankt er zu einem großen Teil der Fähigkeit, von anderen und neuen Richtungen zu lernen, die jeweilige Avantgarde zu absorbieren und sich deren Techniken und Themen einzuverleiben.363
Auch auf die Gefahr eines überdimensionalen Realismusbegriffs hin, der hier eher eine Schreibstrategie bzw. -absicht bezeichnet, scheint diese Begriffsbestimmung Joyce wie Johnsons Prosa und ihre Intentionen gleichermaßen zu erhellen. Originär avantgardistisch ist besonders in den ›Jahrestagen‹ das zur Schau Stellen (und damit zugleich die Problematisierung) der Artifizialität der gewählten Form, des Materials, der Konstruktion der erzählten Wirklichkeit. Beatrice Schulz sieht »diese Form der Reflexivität [als] der klassischen Moderne der zwanziger Jahre verpflichtet«: Die Jahrestage sind ein Werk der modernen Kunst, das daran zu erkennen ist, daß es sein Material als solches vorlegt und seine Komposition sichtbar macht. Der Umwandlungsprozeß aller externen oder vorliterarischen Elemente ist selbst Gegenstand der ästhetischen Reflexion. Alles kann Thema sein, die Form ist eine offene. Das Textgeschehen offenbart sich als Kunst, als künstlich und künstlerisch.364
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Helmut Koopmann: Erfolgreich gescheitert. Zu Uwe Johnsons »Mutmassungen über Jakob«, in: Erzählen, Erinnern. Deutsche Prosa der Gegenwart. Interpretationen, hg. v. Herbert Kaiser und Gerhard Köpf, Frankfurt a.M. 1992, S. 391–400, hier S. 393. Sangmeister: Das Flackern zwischen Fakten und Fiktionen, S. 211. Schulz: Lektüren von Jahrestagen, S. 2.
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Das (gewiss nicht unproblematische) Schlagwort »Realismus« – hier ungeachtet aller Periodisierungs- und Kategorisierungsprobleme im elementaren Sinne eines »Ernstnehmens der Wirklichkeit« verstanden – kann bei Johnson auf seine präzise Gestaltung der Topographie seiner Erzählungen ebenso angewandt werden, zudem auf die möglichst exakte literarische Reproduktion bzw. Gestaltung menschlicher Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Erlebnismuster, womit ihm etwa in den Erinnerungsmustern in den ›Jahrestagen‹ gewissermaßen die Umsetzung von Arno Schmidts in den ›Berechnungen‹ dargelegten Erzählprogramms gelingt. Diese Konzeption eines (reflektierten) Bewusstseinsrealismus, der durch die authentische Figurengestaltung getragen wird, lässt es als gerechtfertigt erscheinen, bei Johnson wie bei Joyce von einem ›avantgardistischen Realismus‹ zu sprechen. Im Dienste eines reflektierten Realismusbegriffs verwenden beide die avanciertesten Techniken, die Johnson aus dem Formenarsenal der Moderne schöpft; er adaptiert zugleich aber mit den metafiktionalen Aspekten der ›Jahrestage‹ ›postmoderne‹ Schreibstrategien, mit denen er »den traditionellen Realismus modifiziert und modernisiert.«365 Somit bewegt sich Johnsons Prosa (an vorderster Stelle stehen dabei die ›Jahrestage‹) zwischen der Anwendung modernster Formen und der realistischen Beglaubigung – seiner Landschaften ebenso wie seiner Figuren, ihrer Bewusstseinsvorgänge, der Quellen, ihrer Auffindung und Integration. Johnsons Anliegen ist jedoch kein formales, sondern ein historisches: »Der Gedanke der Wiedervereinigung scheint mir zu verlangen, daß wir uns gründlich und geduldig, d.h. also durch den Versuch eines Verständnisses und der Kenntnisnahme, darauf vorbereiten.«366 Diese Überzeugung und die in allen Romanen mit mehr oder weniger Optimismus anklingende Utopie, die Suche nach einer angemessenen gesellschaftlichen Lebensform, gründen in Johnsons Biographie, seinen persönlichen Erfahrungen mit »den beiden heute angebotenen Arten zu leben« und in dem Bewusstsein »für die Dringlichkeit der Alternative, die die eine eben für die andere darstellt.«367 Uwe Johnson ist ein Aufklärer, der in durchaus Brechtscher Manier dem Roman letztlich didaktisches Potential zuschreibt, wenngleich sich dieses nicht als dogmatische Wahrheit, sondern als Angebot an den Leser präsentiert: Was das letztens sein soll, ist eine Diskussion mit dem Leser. Es ist ein Denk- und Diskutierangebot, und es ist auf eine nicht nur subjektive Art der Versuch, dem dauernden Vergehen und Verfallen der Zeit einen kleinen Riegel vorzuschieben, die Vergangenheit aufzuheben, sie sicherzustellen, damit das erreicht wird, was wir als Leser
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Sangmeister: Das Flackern zwischen Fakten und Fiktionen, S. 210. Bienek: Werkstattgespräch mit Uwe Johnson, S. 207. Neusüß: Über die Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit, S. 189.
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heute aus den Romanen vergangener Jahrhunderte lernen, wie man damals gelebt hat. Das kann nur der Roman.368
Benötigt wird dazu freilich ein »idealer« Leser, der bereit ist, sich auf das Angebot einzulassen und Johnsons polyperspektivische Romane mit ihren komplexen narrativen und strukturellen Verfahren so langsam zu lesen, wie der Autor sie geschrieben hat. Johnson versteht sich als Experimentator und wertet eine »beständige Rücksicht auf vorhandene Lesegewohnheiten als Anpassung«,369 er gesteht dem Leser jedoch einen hohen Grad an Autonomie zu, überlässt ihm »Protest und Mitarbeit«,370 und ist zuversichtlich, dass er sich zu der Geschichte »selbst verhält, sie selbst überdenkt und dann zu seinen eigenen Schlüssen kommt. Denn es ist ja sein Leben, mit dem er das anfängt, fünf Stunden oder noch etwas länger – denn so lange dauert ein Roman beim Lesen.«371 Eine letzte Gelegenheit zu einer öffentlichen Verbeugung vor James Joyce erhielt Uwe Johnson, als die Akademie der Künste zu Berlin im Februar 1982 eine ›Ulysses‹-Lesung zu Ehren des hundertsten Geburtstags von James Joyce veranstaltete, an der sich neben Johnson auch Jürgen Becker, Walter Höllerer und Gabriele Wohmann beteiligten, um jeweils ein Kapitel des Romans zu Gehör zu bringen; Johnson las Auszüge aus der ›Nausicaa‹-Episode in der Wollschläger-Übersetzung des Romans.372
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Schmid: Gespräch mit Uwe Johnson, S. 254f. Johnson: Wenn Sie mich fragen, S. 61. Neusüß: Über die Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit, S. 188. Bienek: Werkstattgespräch mit Uwe Johnson, S. 204. In Johnsons siebenbändiger Suhrkamp-Ausgabe der Werke und Briefe Joyce weist besonders der Band mit der neuen Wollschläger-Übersetzung des ›Ulysses‹ von 1975 [P1160] erhebliche Gebrauchsspuren auf, trägt etwa Kaffeeflecke auf den letzten Seiten, wo sich auch handschriftliche Notizen Johnsons auf S. 481ff. ausmachen lassen; die zahlreichen Bleistift- und Kugelschreiberstriche, Kreuze, Pfeile und Seitenzahlen im 13. Kapitel (›Nausicaa‹) erklären sich als der von Johnson für die Joyce-Lesung 1982 kompilierte Text; vgl. dazu Neumann: Uwe Johnson, S. 790: »Die Metropole [New York; M.J.] scheint einen deutlich gelösten Uwe Johnson wieder entlassen zu haben, der im Februar sich sogar zusammen mit Gabriele Wohmann, Jürgen Becker und Walter Höllerer an einer Lesung in der Akademie der Künste zu Ehren des hundertsten Geburtstages von James Joyce beteiligt, über die man in Berliner Zeitungen dann lesen konnte, daß Uwe Johnson die Figur der Gertie unter Einsatz von Mecklenburger Witz zu neuem Leben erweckt habe.«
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4.6
Wahrheitssuche als Lebenswerk. Uwe Johnsons Prosa im Lichte seiner Joyce-Rezeption
Mit Uwe Johnson eröffnete sich eine breitere Perspektive auf die Rezeption des ›Ulysses‹ in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg; zum einen führt die skizzierte Traditionslinie allein aufgrund des Generationsunterschiedes gegenüber den bisher betrachteten Autoren deutlich weiter in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein, zum zweiten ist der soziokulturelle Kontext der Rezeption und Produktion avantgardistischer Literatur ein anderer, der sich in den Voraussetzungen der Rezeption bemerkbar macht, die von einer Ablehnung des sozialistischen Regimes gegenüber avantgardistischer Kunst gehemmt wurde, wie auch in den Rahmenbedingungen literarischer Produktion (und Publikation) unter den Repressalien einer staatlichen normativen und kontrollierten Kulturpolitik. Uwe Johnsons literarische Sozialisation vollzog sich zunächst im nationalsozialistischen Deutschland, dann in der jungen DDR und unterlag damit den besonderen Bedingungen, Tendenzen und Einschränkungen zweier totalitärer Regimes. Zugleich meldete sich mit Johnson eine neue schriftstellerische Generation zu Wort, für die die Erfahrung des Krieges im Höchstfall zu den Kindheitserinnerungen gehörte und die diese Erinnerungen, unterkühlt und ohne rhetorische Moralität, registrierte, aber bereits mehr an der neuen Wirklichkeit interessiert war, die sich in den beiden politisch verselbständigten Hälften Deutschlands konstituiert hatte.373
Unter diesen veränderten Vorzeichen ist zum einen ein erheblich größerer Aufwand vonnöten, den inkriminierten Text überhaupt zu beschaffen und zu lesen, zum anderen erhält vor dem literarischen Diskurs in der DDR avantgardistische, mithin formalistische Literatur ein per se höheres Provokationspotential. Hinzu kam für einen jungen Autor die Aussicht, dass sich die Verlage derartigen ›westlich-dekadenten‹ Ansätzen verschließen würden – eine bittere Erfahrung, die Johnson mit seinem Erstling machen musste, aus der er dann bei der Publikation der ›Mutmassungen über Jakob‹ seine Konsequenz zog. Gerade jene äußeren Hemmnisse einer produktiven Aneignung Joycescher Erzählverfahren lassen den Fortgang der Rezeption jedoch in einem neuen Licht erscheinen; eine Beschäftigung mit Uwe Johnson, seiner Begegnung mit dem ›Ulysses‹ und der literarischen Schulung an dessen Form und Technik fügt dem bisher skizzierten Bild der Joyce-Rezeption nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue, zentrale Facette hinzu. In stilistischer Hinsicht überrascht, wie weit der originäre Johnson-Ton bereits in seinem Erstling ›Ingrid Babendererde‹ entwickelt ist: die Suggestion von Oralität durch Dialekt, Mündlichkeitsformeln und die parataktische, oft von Inver-
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Durzak: Der deutsche Roman der Gegenwart, S. 12.
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sionen bestimmte Syntax der gesprochenen Sprache sowohl in der Figuren- als auch in der Erzählerrede sowie die eigenwillige Orthographie und Interpunktion. Viele narrative Tendenzen, die zum Grundbestand von Johnsons poetischen Verfahren werden sollen, haben ihren Keim in der komplexen Entstehungsgeschichte von ›Ingrid Babendererde‹, etwa die alineare Versetzungstechnik, die avancierten Formen der Bewusstseinsdarstellung, die fortwährende Selbstreflexion der Narration, das langsame »Erzählen der kunstvollen Aussparung und der assoziativen Verknüpfung«;374 daneben sind Kursivdruck, medias-in-res-Methode und perspektivische Andeutung, Verdrehung der Zeitebenen, Unbestimmtheit der Situation, Unterbrechung und plötzlicher Szenenwechsel […] in Ingrid Babendererde schon wirksame Rezeptionsstrategien, die in zeitlicher Abfolge der Fassungen an Reife hinzugewinnen und den Leser in ein aktives Verhältnis zum Text bringen.375
Zudem ist mit dem ›Ingrid‹-Roman das Fundament für Johnsons weitere Prosa gelegt; die Verankerung des Erzählkosmos in Mecklenburg, der Grundstock an Personen schafft einen Fundus, aus dem Johnson sich zukünftig bedienen kann und den er bis zu seinen letzten Lebensjahren fortschreiben und ausdifferenzieren wird. Auch Joyce ›Dubliners‹ als erste Prosaversuche des Autors nehmen sich in seiner Werkchronologie gemessen an den späteren avantgardistischen Romanen ›Ulysses‹ und ›Finnegans Wake‹ eher bescheiden aus; auch ihnen kommt dessen ungeachtet eine nicht zu unterschätzende Rolle als situativem und personellem Grundstock des ›Ulysses‹ zu. Ob diese auffälligen Tendenzen auf eine mögliche, bereits zu einem frühen Zeitpunkt (etwa 1954/55) erfolgte ›Ulysses‹-Lektüre – oder auf die erste Begegnung mit Faulkners Erzähltechniken – zurückzuführen sind, muss (ebenso wie die Frage, ob Johnson den ›Ulysses‹ nicht bereits um 1952 in Alice Hensans Bibliothek vorfand) offen bleiben; sicher ist jedoch, dass »die verstärkte Konzentration, mit der Johnson auf die Sprach- und Kompositionsform seiner Bücher einging, […] eine neue Relevanz von Formproblemen« in seinem Schaffen beleuchtet, deren Anregungen vermutlich vom Studium in Leipzig ausgingen und die auch für die weitere Prosa Johnsons maßgeblich wurde.376 Das Studium der Germanistik grenzt Johnson von Koeppen und besonders vom Autodidakten Schmidt ab und ist charakteristisch für Johnsons akademische Gründlichkeit und Zielstrebigkeit. Johnsons erzählerisches Werk bezeugt eine intensive Kenntnis von Techniken und Verfahrensweisen, die nicht nur Resultat intensiver Lektüre sein muss, sondern darüber hinaus auf deren theoretische Reflexion und Durchdringung verweist, wie sie vermutlich nur anhand langjähriger wissenschaftlicher
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Strehlow: Ästhetik des Widerspruchs, S. 92. Ebd., S. 97. Durzak: Der deutsche Roman der Gegenwart, S. 12.
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Auseinandersetzung mit Literatur verschiedener Epochen und Nationalliteraturen erreicht werden kann. Von ebenso zentraler Bedeutung wie das Studium in Leipzig ist der Freundeskreis als avantgardistisches Soziotop, in dem moderne Kunst, Musik und Literatur rezipiert und diskutiert wurden, woraus Johnson produktionsästhetische Anregungen und Rückmeldung bezog. Über die prosapraktische Vorbereitung des Materials zu den ›Mutmassungen über Jakob‹ ist nicht viel bekannt, da die von Johnson erwähnte Vorstufe nicht überliefert ist; dass dem Text immense theoretische Vorüberlegungen vorangehen, bezeugt der Briefwechsel mit Bierwisch besonders aus dem Sommer 1957. Zu diesem Zeitpunkt kann es als gesichert gelten, dass Johnson den ›Ulysses‹ rezipiert und die von Joyce ausgehenden Impulse – den »Wechsel der erzählenden Optik«, der »Methode«377 – seinem Erzählverfahren produktiv anverwandelt hat. Die Zerstörung der Fabel zugunsten einer analytischen Progression, die akribische (Re-)Konstruktion eines dichten und durchweg verifizierbaren Zeitgefüges, die sorgsam recherchierten technischen Detailstudien haben ihr Muster in der alinearen und intensiven Erzählanlage des ›Ulysses‹. Die Verabschiedung des auktorialen »Schiedsrichters« zugunsten der unterschiedlichen Erzählmodi der ›Mutmassungen‹, die (in Monologen und Dialogen) die Stimmen und Meinungen der Figuren polyphon für sich sprechen und auch in den Erzählpassagen ein narratives Mosaik entstehen lassen, das aus heterogenen sprachlichen Rohstoffen montiert wird – all diese Tendenzen weisen zurück auf die Innovationen, die Joyce in den Diskurs der Moderne eingebracht hat. Faulkner, der stets (vom Autor selbst) als Vorbild angeführt wird, wie auch etwa Dos Passos, Döblin und andere sind wichtige, aber sekundäre Mittlerfiguren, da sie selbst am Experiment des ›Ulysses‹ partizipieren. Insofern ist in Johnsons Fall davon auszugehen, dass er sowohl aus eigener Lektüre direkt, als auch indirekt durch die Vermittlung Faulkners vom Prosaschaffen Joyce entscheidende Anregungen bezog. Symptomatisch für die fortwährende Provokation, die von avantgardistischen Verfahrensweisen ausging, ist die Aufnahme der ›Mutmassungen‹ in den beiden Deutschland: Während Johnson in der BRD als großer und würdiger Erbe der literarischen Moderne gefeiert wurde, schmähte ihn die DDR-Kritik als westlichreaktionäre persona non grata.378 Mit der »Rückgabe einer Staatsangehörigkeit an die DDR nach nur zehnjähriger Benutzung und Umzug nach West-Berlin mit
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Uwe Johnson-Archiv: JJ 39 (UJ an MB), 7.7.57, S. 1. Greg Bond bemerkt dazu – zwar mit klarem Blick auf die antithetische Rezeptionslage, jedoch mit einem unreflektierten Pauschalurteil über die Traditionslinie, in der Johnson steht: »So entstand die groteske Situation, daß ein Vergleich von Johnsons Werk mit dem von James Joyce (ein ohnehin weit hergeholter Vergleich) im Westen höchstes Lob, im Osten dagegen scharfe Kritik meinte. Noch grotesker ist es freilich, daß damit fast gar nichts über Johnsons Roman gesagt war.« (Bond: Die Klassengesellschaft und die Dialektik der Gerechtigkeit, S. 235.)
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Genehmigung der dortigen Behörden« war 1959 Johnson härteren Repressalien entkommen.379 Die Reaktionen des DDR-Regimes und die weit reichende Irritation der westdeutschen Kritik sind untrügliche Signale dafür, dass das sprachund ideologiekritische Potential unübersehbar war und funktionierte. Die ›Mutmassungen über Jakob‹ können auch insofern als ein produktiver Anschluss an die literarische Avantgarde verstanden werden, als hier deren Maxime befolgt wird, durch Normabweichungen und Regelverstöße Rezeptionsgewohnheiten zu brüskieren, indem das provokatorische Moment normwidriger, verfremdender und kreativer Sprachverwendung ausgeschöpft wird. Joyce legte mit seinem ›Ulysses‹ nun keineswegs ein politisches Pamphlet vor; die Tagespolitik ist im ›Ulysses‹ zwar latent anwesend, spielt jedoch im Leben der Protagonisten eine weitaus geringere Rolle als für die Personen Johnsons, der mit den ›Mutmassungen‹ die – eminent politische! – »Geschichte der Verstörung eines positiven, scheinbar mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Wirklichkeit stehenden Charakters« erzählt,380 der durch den historischen Verlauf gezwungen ist, sich zu den Direktiven des politischen Systems zu verhalten. »Politisch« ist der ›Ulysses‹ – und das hat er mit vielen Produkten der Avantgarde gemein – durch sein genuin künstlerisches, fortmal-experimentelles und sprachschöpferisches Provokationspotential; dass dies nicht von schlechten Eltern war, belegt die Erschütterung des Literaturbetriebs ebenso wie die Ächtung des Textes durch die Vertreter eines totalitären Regimes. Man darf sich allerdings fragen, ob es die politische Dimension war, die die westdeutsche Kritik angesichts der ›Mutmassungen‹ erregt hat, denn – wie Durzak scharfsinnig ausführt – »das eigentliche Thema ist nicht die Spaltung Deutschlands, und schon damals war es das nicht. Die Frage, die Johnson sich seinerzeit gestellt hat, ist eben die, die auch heute noch das Buch so bedeutsam macht, wie es zu seiner Zeit schon gewesen ist. Es ist die nach der Wirklichkeit und ihrer Darstellbarkeit«381 – die Frage also, auf die Joyce knapp vierzig Jahre zuvor mit dem ›Ulysses‹ geantwortet hatte. Die Anfeindungen der ›Mutmassungen‹ durch brüskierte Rezensenten lesen sich oftmals wie ein Echo der entrüsteten ›Ulysses‹-Kritik: Deschner etwa attestiert Johnson »das häßlichste Deutsch unserer Zeit« und diagnostiziert den »Ein-
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Uwe Johnson: Ich wurde geboren in Deutschland 1934, in: Sprache im technischen Zeitalter 23 (1985), S. 170–182, hier S. 168 [aus: Neue Romane. Ein Spektrumsbericht. / Gespräche mit J. Becker, H. Heissenbüttel, U. Johnson. / Regie: Michael Kluth / Produktion des WDR. Gesendet: 21.11.1970]. Scheffel: »Ausländer des Gefühls«, S. 16. Helmut Koopmann: Erfolgreich gescheitert. Zu Uwe Johnsons »Mutmassungen über Jakob«, in: Erzählen, Erinnern. Deutsche Prosa der Gegenwart. Interpretationen, hg. v. Herbert Kaiser u. Gerhard Köpf, Frankfurt a.M. 1992, S. 391–400, hier S. 394.
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bruch des Proletentums in die Literatur«.382 Die Ursachen dieser Irritation in der westdeutschen Kritik liegen auf der Hand: Johnsons sprachliche Verfahren, die mit geläufigen Sprachmechanismen zugleich gesellschaftliche Routinen hinterfragen und demontieren, »erscheinen auf dem Hintergrund einer traditionellen normativen Stilistik und Syntax als Defekte, sind aber konsequent in Literatur umgesetzte umgangssprachliche Eigentümlichkeit des Deutschen.«383 Neben der Suggestion von Oralität in seiner Prosa, die Johnson wiederum mit Joyce Romanen verbindet, »wird seine Sprache zum Ausdruck der Schwierigkeiten, die Wirklichkeit genau zu beschreiben. […] Sprache ist also bei ihm primär Element der Wirklichkeit und nicht in erster Linie Medium für die Umsetzung von Wirklichkeit in Literatur.«384 Das avantgardistisch-aufklärerische Moment der Sprachkritik wird in den ›Mutmassungen‹ von Johnson gegenüber ›Ingrid Babendererde‹ noch verschärft, indem er versucht, »eine Sprachform zu finden, die die beiderseitigen ideologischen Sprachformeln auflöst und die Möglichkeit einer neuen gemeinsamen Sprache in seinen Romanen utopisch vorwegnimmt.«385 Auf sprachlicher wie struktureller Ebene erweisen sich die ›Mutmassungen über Jakob‹ als ein Paradebeispiel für den polyphonen Roman, dessen Grundzüge Michail Bachtin erstmals 1929 an der Epik Dostojevskis exemplifiziert hat. Es ist ungewiss, ob Johnson im Laufe seines Studiums mit den Schriften Bachtins in Berührung kam, waren doch die maßgeblichen Theoretiker der DDR-Germanistik zu jener Zeit andere. Immerhin scheinen Bachtins Ausführungen auf erstaunliche Weise die Poetik für Johnsons Texte zu liefern – und zugleich eine Klammer, die diese wiederum mit dem ›Ulysses‹ verbindet: Durch die internationale Rezeption Bachtins zieht sich die Irritation angesichts der Tatsache, dass Joyce an keiner Stelle in seinen Abhandlungen Erwähnung findet, gibt es doch – so Viktor Žmegač – »kaum einen anderen Text, dem Bachtins Terminologie und Auffassung von der ›Polyphonie‹ im Roman so auf den Leib geschnitten ist wie gerade dem ›Ulysses‹ – wenn auch Joyce Roman in Bachtins Untersuchungen keine Rolle spielt,«386 wohingegen er in den Schriften von Bachtins französischen
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Karlheinz Deschner: Uwe Johnson: Das Dritte Buch über Achim, in: ders.: Talente – Dichter – Dilettanten. Überschätzte und unterschätzte Werke in der deutschen Literatur der Gegenwart, Wiesbaden 1964 (Limes Nova 5), S. 187–230, hier S. 207 und 216. Ebd., S. 246. Ebd., S. 246f. Ebd., S. 241. Viktor Žmegač: Der europäische Roman. Geschichte seiner Poetik, Tübingen 1990, S. 314. Vgl. hierzu auch den Hinweis bei Matthias Bauer: Romantheorie und Erzählforschung. Eine Einführung, Stuttgart/Weimar 2005, S. 125. Christian Schärf vertritt dieselbe Ansicht, stellt jedoch fest, »dass Joyce weit über den Rahmen der der von Bachtin postulierten Dialogfelder hinausgeht.« Er führt daher den Begriff »multihy-
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Erben wie Julia Kristeva und dem Tel Quel-Kreis höchst präsent ist.387 R. B. Kershner konstatiert in der Einleitung zu seiner Studie über ›Joyce, Bachtin, and Popular Literature‹: »Joyce is the striking absence in Bakhtin’s work; a number of critics have puzzled over his omission, since all of Bakhtin’s major concepts seem best and most obviously illustrated by Ulysses and Finnegans Wake.«388 Kershner erkennt in den beiden Romanen »outstanding illustrations of heteroglossia and of carnivalization«,389 erweist sich doch der ›Ulysses‹ als ein heterogenes, sorgfältig transkribiertes Gemisch aus lebendiger Sprache und Sprachen, speist sich die Existenz von Joyce Charakteren – in ›Finnegans Wake‹ freilich mehr noch als im ›Ulysses‹ – zuallererst aus ihren Äußerungen wie auch aus ihren unausgesprochenen Gedanken: »More than those of other novelists Joyce’s characters speak themselves into existence, are seduced, appeased, threatened, annoyed, and shaped by the languages around them.«390 Ganz im Sinne Bachtins gestaltet Joyce im ›Ulysses‹ einen vielstimmigen Dialog der Einwohner Dublins im Sommer 1904 und trägt dabei auf einzigartige Weise auch den Suprasegmentalia, den subtilen akustischen Nuancen der lebendigen gesprochenen Sprache Rechnung: »[T]hroughout his work, he gives the most scrupulous attention to intonation, accent, gesture, all of the exactitudes of language interaction in the social dynamics of speech.«391 In seinem Aufsatz über ›Das Wort im Roman‹ hebt Bachtin mit der Umsetzung von Polyphonie das Wesensmerkmal und die zentrale Aufgabe des Genres hervor: Bilder der Sprache zu schaffen, ist die entscheidende stilistische Aufgabe der Gattung des Romans. […] Der Roman suspendiert nicht nur nicht von gründlicher und subtiler Kenntnis der Hochsprache, sondern er verlangt zusätzlich die Kenntnis der
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brid« ins Feld, da bei Joyce »– anders als in der Theorie Bachtins – nicht nur der Text des Romans und sein extratextueller Kontext in ein Dialogverhältnis miteinander treten, sondern die pluralen Formen und Stilmomente selbst eine jeweils eigene Kontextualität gegeneinander aufbieten.« (Christian Schärf: Der Roman im 20. Jahrhundert, Stuttgart/Weimar 2001 (Sammlung Metzler 331), S. 78 u. 81.) Auch Katerina Clark und Michael Holquist, die Verfasser einer einführenden Monographie (Michail Bakhtin, Cambridge 1984), wundern sich und offerieren zugleich eine mögliche Begründung für die auffällige ›Leerstelle‹: »One of the many enigmas about Bakhtin is that he makes no mention in Rabelais of James Joyce’s Ulysses, a book that might be described as a celebration of heteroglossia and of the body as well. This is especially surprising since Joyce was known to several of Bakhtin’s associates. […] [But as] of at least the First Writer’s Congress in 1934, Ulysses could no longer be praised in print, and this was still true in 1965 when the dissertation was published as a book. Thus, Bakhtin effectively had two choices as regard Joyce, to attack him or not to mention him.« Vgl. Kershner: Joyce, Bachtin, and Popular Literature, S. 17. Ebd., S. 17. Ebd., S. 18. Ebd., S. 20. Ebd.
Sprachen der Redevielfalt. Der Roman gebietet die Erweiterung und Vertiefung des sprachlichen Horizontes, die Verfeinerung unserer Wahrnehmung sozial-sprachlicher Differenzierungen.392
James Joyce hat mit seinem ›Ulysses‹ diese Aufgabe so stilbildend wie kein zweiter in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfüllt. Die »Vielfalt selbständiger und unvermischter Stimmen und Bewußtseine, die echte Polyphonie vollwertiger Stimmen ist tatsächlich« nicht nur »die Haupteigenart der Romane Dostoevskijs«,393 den Bachtin als den Schöpfer eines »völlig neuen Typ[s] künstlerischen Denkens«, eines »neue[n] künstlerische[n] Weltmodell[s]«, mithin des »polyphonen Romans« verstanden wissen will,394 sondern trifft umso mehr auf Joyce Spätwerk zu. Auch im ›Ulysses‹ wird »nicht eine Vielzahl von Charakteren und Schicksalen in einer einheitlichen, objektiven Welt im Lichte eines einheitlichen Autorenbewußtseins entfaltet, sondern eine Vielfalt gleichberechtigter Bewußtseine mit ihren Welten wird in der Einheit eines Ereignisses miteinander verbunden, ohne daß sie ineinander aufgehen.«395 Hätte nun Uwe Johnson sein literarisches Debüt ein halbes Jahrhundert zuvor gefeiert, so unser Gedankenexperiment, müsste man die ›Mutmassungen‹ als eine weitere »striking absence« in Bachtins Schriften identifizieren, ist es doch zuvorderst ein »Roman, in dem die Leute reden«.396 Nicht nur in den Dialogen und Monologen, sondern auch in den Erzählpassagen artikulieren sich die Protagonisten; ihre Stimmen werden gegeneinander- und ineinander geschnitten, ohne dass diese hierarchisiert, synthetisiert oder auch nur kommentiert würden. Uwe Johnsons erstveröffentlichter Roman orchestriert seine Themen, seine gesamte abzubildende und auszudrückende Welt der Gegenstände und Bedeutungen mit der sozialen Redevielfalt und der auf ihrem Boden entstehenden individuellen Stimmenvielfalt. Die Rede des Autors und die Rede des Erzählers, die eingebetteten Gattungen, die Rede der Helden sind nur jene grundlegenden kompositorischen Einheiten, mit deren Hilfe die Redevielfalt in den Roman eingeführt wird. Jede von ihnen begründet eine Vielfalt von sozialen Stimmen und eine Vielfalt von (immer mehr oder weniger dialogisierten) Verbindungen und Korrelationen zwischen den Aussagen und den Sprachen. Diese Bewegung des Themas zwischen Sprachen und Reden, deren Aufspaltung in Elemente der sozialen Redevielfalt, ihre Dialogisierung: dies macht die grundsätzliche Besonderheit der Stilistik des Romans aus.397
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Michail Bachtin: Das Wort im Roman, in: ders.: Die Ästhetik des Wortes, hg. u. eingel. v. Rainer Grübel, aus dem Russischen übers. v. Rainer Grübel u. Sabine Reese, Frankfurt a.M. 1979 (edition suhrkamp 967), S. 154–300, hier S. 251. Michail Bachtin: Probleme der Poetik Dostojewskijs, München 1971, S. 9f. Kursivierung im Original. Ebd., S. 7. Ebd., S. 9f.. Bond: Die Klassengesellschaft und die Dialektik der Gerechtigkeit, S. 237. Bachtin: Das Wort im Roman, S. 157.
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Bachtins Theorie erscheint Johnsons Prosa von den ›Mutmassungen‹ an wie auf den Leib geschrieben. Auch auf die charakteristischen Momente der stilistischen Mikrostruktur in Johnsons Prosa – wie die Verwendung des mecklenburgischen Platt – lassen sich Bachtins Überlegungen zu einer wechselseitigen Deformation von Hochsprache und Dialekt erhellend anwenden: Indem die Dialekte Bestandteile der Literatur werden und sich in die Hochsprache eingliedern, verlieren sie auf deren Terrain ihre Eigenschaft, abgeschlossene sozialsprachliche Systeme zu sein; sie werden deformiert und sind nicht mehr das, was sie als Dialekte waren. Andererseits deformieren diese Dialekte ihrerseits die Hochsprache, und zwar dadurch, daß sie in sie eingehen und in ihr ihre sprachliche, dialektologische Elastizität und ihre Anderssprachlichkeit bewahren; die Hochsprache ist gleichfalls nicht mehr das, was sie einmal war: ein abgeschlossenes sozial-sprachliches System.398
Norbert Mecklenburg empfiehlt daher zu Recht, die ›Mutmassungen‹ »von der Romantheorie Bachtins aus« zu betrachten, »die das antidogmatische, subversive Potential des ›polyphonen‹ Romans darin sieht, wie er mit der gesellschaftlichen ›Redevielfalt‹, mit den ideologischen Debatten zitierend, parodierend, verfremdend umgeht.«399 Die politischen Implikationen von Polyphonie und Dialogizität im Roman hat Bachtin scharfsinnig begriffen und damit für uns zugleich das ideologiekritische Potential der ›Mutmassungen über Jakob‹ auf den Punkt gebracht: »Der Roman setzt die verbal-semantische Dezentralisierung der ideologischen Welt voraus, die sprachliche Obdachlosigkeit eines literarischen Bewußtseins, das das unanfechtbare und einheitliche sprachliche Medium des ideologischen Denkens verloren hat […].«400 Sein erster veröffentlichter Roman brachte Johnson das Etikett »Dichter der beiden Deutschland«401 ein. Wiewohl er sich stets vehement gegen diese Bezeichnung gewehrt hat,402 erzählt vermutlich kein Nachkriegsschriftsteller mit ähnlicher Präzision von der »Teilung, [der] Grenze, [der] Entfernung«:403 die Wirklichkeit der DDR im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens und das Engagement für das Projekt Sozialismus haben Johnsons Leben, Denken und Schreiben nachhaltig geprägt. Seine Sozialisation und Bildung, seine persönlichen Beziehungen und
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Ebd., S. 186. Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 63. Bachtin: Das Wort im Roman, S. 252. Diese geht zurück auf Günter Blöckers Rezension der ›Mutmassungen‹: Roman der beiden Deutschland [zuerst in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (15.10.1967)]. In einem (fiktiven) Interview zu dem Roman ›Zwei Ansichten‹ erklärt Johnson: »[M]it dem Etikett ›Dichter beider Deutschland‹ können Sie mich jagen, freilich auch wegen der Berufsbezeichnung.« (Uwe Johnson: Auskünfte und Abreden zu Zwei Ansichten [Interview], in: »Ich überlege mir die Geschichte...«, S. 86–89, hier S. 87). Neusüß: Über die Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit, S. 189.
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regionalen Zugehörigkeiten, sein politisches Bewußtsein und die Stoffquellen seiner Werke, auch seine Entwicklung zum Schriftsteller […] schufen ein dichtes, unauflösliches Netz von Verbindungen mit dem Land, das er 1959 verließ […].404
Johnsons literarischer Kosmos, auf den die Texte rekurrieren und dem seine Personen entstammen, ist ein vornehmlich ostdeutscher, wenngleich Gesine Cresspahl in den ›Mutmassungen‹ bereits in den Westen, in den ›Jahrestagen‹ gar nach New York übergesiedelt ist. In den ›Mutmassungen über Jakob‹ setzt sich Johnson mit den politischen Konsequenzen des Dritten Reiches auseinander, ohne wie Böll und Grass die vorangegangene Entwicklung extensiv zu gestalten. Die Wirklichkeit des zweigeteilten Deutschland stellt bis zu den ›Zwei Ansichten‹ das politische Realitätsspektrum dar, das er in allen seinen Konsequenzen in seinen Romanen zu zeigen versucht.405
Fritz Raddatz wagte 1962 die provokante These, dass der (mittlerweile dem BRD-Literaturbetrieb einverleibte) Schriftsteller Uwe Johnson einer der wenigen sei, die »den Marxismus verstanden und literarisch verarbeitet« hätten.406 Und Wolfgang Strehlow gründet seine scharfsinnige Analyse der Prosa Johnsons auf die Hypothese, dass Johnsons Schreibstrategien das reflektierte »Hinüberretten dialektischer Ästhetik aus den hölzernen Vorstellungen des sozialistischen Realismus«407 leisten. In der Tat sind – wenngleich meist in höchst reflektierter Brechung und aufgeladen mit einigem (system)kritischen Potential – bei Johnson nicht nur thematische Spuren des sozialistischen Realismus auszumachen, etwa das Romanpersonal der ›Mutmassungen‹, zu dem Durzak ironisch anmerkt, dass es »auf den ersten Blick zumindest aus der Programmschublade des sozialistischen Realismus zu stammen« scheine.408 Was Johnson tatsächlich zu einer »Schlüsselfigur« der deutsch-deutschen Literatur nach 1945 macht, ist neben der »thematische[n] Koexistenz« von Ost und West in seinen Romanen die Tatsache, dass er den poetologischen Diskurs der jungen DDR absorbiert hat und »in seinem kunsttheoretischen Standort Positionen zum Tragen zu bringen [versucht], die auf den ostdeutschen Roman zurückdeuten.«409 Die in Johnsons Romanen nie aufgegebene Utopie eines ›Sozialismus mit menschlichem Antlitz‹, das beständige Ringen der Figuren um (Selbst-)Vergewisserung innerhalb des Systems und um die
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Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons Johnsons, S. 35f. Durzak: Der deutsche Roman der Gegenwart, S. 9. Fritz Raddatz: Die ausgehaltene Realität, in: Almanach der Gruppe 47 (1947–1962), hg. v. Hans Werner Richter, Hamburg 1962, S. 52–64, hier S. 58. Strehlow: Ästhetik des Widerspruchs, S. 22. Durzak: Der deutsche Roman der Gegenwart, S. 177. Ebd., S. 12.
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Aufrechterhaltung moralischer Werte sowie ihr individuelles Streben nach Selbstverwirklichung spiegeln eine reflektierte Verarbeitung des sozialistischen Realismus, die der linientreuen Literaturkritik jedoch – da sie das System gerade von innen kenntnisreich prüft und kritisiert – zwangsläufig missfallen musste. Johnson war mit drei politischen Systemen vertraut und schöpft aus diesem Wissen das sprachkritische Potential seiner Prosa, »da er auf Grund des konkret erlebten Unterschiedes die Möglichkeit hat, ideologische Verhärtung der Sprache sehr viel eher zu diagnostizieren als jemand, der ständig mit einer der beiden Sprachen konform geht, stets aus ein und demselben Sprachfundus schöpft.«410 In seiner ›Kleine[n] Literaturgeschichte der DDR 1945–1988‹ hebt Wolfgang Emmerich Uwe Johnson als Autor hervor, dessen Erstling ›Ingrid Babendererde‹ und dessen ›Mutmassungen über Jakob‹ »einsam und unüberhörbar den Beginn der Moderne in der Erzählliteratur der DDR«411 markieren; selbst nach seinem Umzug in den Westen kommuniziere Johnson in seiner Prosa noch immer »über vielfältige verborgene Röhren weiter mit den Problemen seines Herkunftslandes«.412 Mit Johnsons ›Jahrestagen‹ weitet sich gegenüber dem Frühwerk ebenso wie gegenüber den Romanen Koeppens und Schmidts das epische Blickfeld zeitlich über Adenauerdeutschland und die junge DDR hinaus bis in die Jahre 1967/68; räumlich über den Atlantik in die USA wie auch nach Osteuropa. Individualgeschichte und deutsch-deutsche Geschichte erscheinen vor dem Hintergrund der Weltgeschichte. Johnsons monumentaler letzter Roman präsentiert sich vor diesem Hintergrund als Werksynthese. Alle früheren Konzeptionen fließen ein, die poetologischen Fäden laufen in diesem universalen Romanentwurf zusammen: Ein aufklärerisches Konvolut, das am subjektiven Entwurf die Erkenntnismöglichkeiten und Handlungsmöglichkeiten in der modernen, kapitalistisch organisierten Welt reflektiert. Die Geschichte einer Person und eines Zeitalters:413
Wiewohl sich der Autor Uwe Johnson im Verlauf der hochproblematischen Entstehungsgeschichte der ›Jahrestage‹ als ausgereifte Schriftstellerpersönlichkeit mit einem genuin eigenen Stil über das von Einflüssen der Avantgarde zehrende Frühwerk erhebt, so weist doch sein magnum opus bemerkenswerte Parallelen zu Joyce Werk auf, die über stilistische Kongruenzen hinausreichen. Beide eint ein ›episch-totaler‹ Ansatz zur Bewältigung einer Metropole wie des »Welt-Alltags der Epoche«.
410 411 412 413
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Ebd., S. 240. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR 1945–1988, 5., erweiterte und bearbeitete Auflage, Frankfurt a.M. 1989 (Sammlung Luchterhand 801), S. 129. Ebd., S. 202 Strehlow: Ästhetik des Widerspruchs, S. 235.
Nicht nur der scheinbar unzeitgemäße Umfang der ›Jahrestage‹, sondern auch der Zugriff auf eine Vielzahl von Quellen, große historische Verläufe und eine schier unüberschaubare Zahl von Haupt- und Nebenfiguren bezeugen Johnsons »monumentale[s] Vertrauen in die Monumentalität von Literatur.«414 Johnson und Joyce schaffen epische Welten, insofern sie ihre Fiktionen in weitgehend identischen und exakt kartographierten geographischen Räumen situieren, die (in akribischen Rechercheverfahren) von Werk zu Werk aufs Neue präzisiert, veranschaulicht und fortgeschrieben werden; die Räume Mecklenburg und Dublin sind bevölkert von einem Figurenensemble, das mit jedem neuen Text wieder aufgegriffen, ausdifferenziert und erweitert wird. Auf diese Weise kontinuierlich angereichert um Anschaulichkeit, Tiefenschärfe und Konkretion gewinnen die fiktiven Welten der Schöpfer Joyce und Johnson eine Eigendynamik, die in der Literatur des 20. Jahrhunderts ihresgleichen sucht. Die Tageskapitel der ›Jahrestage‹ eröffnen, wie die nach Stunden gegliederten Erzähleinheiten des ›Ulysses‹, innerhalb eines scheinbar rigiden Strukturmusters Räume für eine unbegrenzte Formenvielfalt und für experimentelle Prosaminiaturen unterschiedlichster Couleur. Die »eingebetteten Gattungen« sind – so Bachtin – Funktionselemente im polyphonen und dialogischen Gefüge des Romans: Grundsätzlich kann jede beliebige Gattung in die Konstruktion des Romans eingefügt werden, und in der Tat ist es sehr schwer, eine Gattung ausfindig zu machen, die nicht irgendwann einmal in einen Roman eingebaut worden ist. Die eingebetteten Gattungen bewahren im Roman gewöhnlich ihre konstruktive Elastizität und Selbständigkeit sowie ihre sprachliche und stilistische Eigenart.415
Johnsons Zugriff auf die Zeitgeschichte, sein »intensiv-totale[r] Geschichtsentwurf«416 fällt verglichen mit Joyce ungleich ehrgeiziger aus: Nicht ein Tag (in dem sich Zeit- und Individualgeschichte verdichten) wird hier narrativ entfaltet, sondern in bipolarer Engführung – auf der New York-Ebene – die Ereignisse des Jahres 1967/68 sowie – auf der Mecklenburg-Ebene – das halbe Jahrhundert davor. Historie erscheint in den ›Jahrestagen‹ selten als bloßes Quellenzitat oder Zeitungsmeldung, sondern vielmehr gebrochen durch die individuelle Perspektive Gesine Cresspahls – und zwar in einer fluktuierenden, unzuverlässigen und hochkomplexen Erzählposition, die sich wiederum mit den Worten Bachtins – freilich über Dostojewski – am präzisesten fassen lässt: In den ›Jahrestagen‹ tritt mit Gesine Cresspahl eine Protagonistin/Erzählerin auf, deren Stimme so angelegt ist, wie im Roman des üblichen Typs die Stimme des Autors. Das Wort des Helden [respektive der Heldin] über sich selbst und die Welt hat genau so viel Gewicht wie das gewöhnliche Autorenwort; es wird weder der objektivierten
414 415 416
Baumgart: Eigensinn, S. 315. Bachtin: Das Wort im Roman, S. 210. Strehlow: Ästhetik des Widerspruchs, S. 235.
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Gestalt des Helden [respektive der Heldin] als ein ihn [respektive sie] charakterisierendes Moment untergeordnet, noch dient es als Sprachrohr der Autorenstimme. Ihm kommt völlige Selbständigkeit in der Struktur des Werkes zu, es erklingt neben dem Autorenwort und wird auf eine besondere Weise mit ihm und den vollwertigen Stimmen anderer Helden verbunden.417
Auf den Erzählvertrag der ›Jahrestage‹ lassen sich – wie Mecklenburg luzide vorführt – die Darlegungen des russischen Theoretikers erhellend anwenden, denn [n]icht etwa zwei Erzähler reden da, zur gleichen Zeit oder abwechselnd, vielmehr ist der Text als Erzähldiskurs ›zweistimmig‹ (im Sinne Bachtins), d.h. eine Hybridform: Das vom Autor-Erzähler Geschriebene und Geformte und als solches allein von ihm Verantwortete, soll zugleich als durchlässig erscheinen für die Stimme Gesines, denn allein deren Bewußtsein ist es, auf das es in Jahrestage ankommt.418
Diese Problematik hat die meisten narratologischen Ansätze immerhin vor ein erhebliches Dilemma gestellt, da das erzähltheoretische Handwerkszeug vor den ›Jahrestagen‹ zu versagen scheint. Irritationen bewirken auch die metaleptischen Brüche im Erzählverfahren, die den zentralen Motivkomplex der Erinnerung ebenso wie die im Text vorgeführten und (zumindest partiell) zugleich dekonstruierten Verfahren der Historiographie konturieren und Narration als Mittel der Wahrheitsfindung grundsätzlich problematisieren. In derartigen Illusionsbrüchen manifestiert sich für Jürgen H. Petersen die Darbietung »reiner Möglichkeit«, mithin ein Grundmoment modernen Erzählens: Versucht man, erzählerische Verfahrensweisen, welche reine Möglichkeit präsentieren, zu durchdenken und damit eine Poetik des Romans der Moderne zu entwerfen, so gelangt man gerade hier an einen Punkt, an dem sich der Roman der Moderne von dem der Vor-Moderne radikal trennen könnte. Denn die Aufgabe aller Beglaubigungsversuche, ja die Aufgabe des das Erzählte als (scheinbar wirklich) vorgefallen sichernden Rahmen der Fiktionalität würde das Berichtete als bloß Mögliches preisgeben. Der Roman der Möglichkeit könnte also mit Hilfe einer Durchbrechung der Fiktionalität realisiert werden. Ein den Rahmen der Fiktionalität durchbrechendes Erzählen vermag dem Erzählten nämlich den Anstrich des So-und-nicht-anders zu nehmen und ihm den des So-oder-auch-anders zu verleihen: Es gäbe das Erzählte als eine bloß ausgedachte Variante unter anderen denkbaren Varianten eines Geschehens preis.419
Trotz der Integration unterschiedlicher Stimmen und Materialien (als deren wichtigste die ›New York Times‹ hervorzuheben ist) kann von einer quasi-naturalistischen Montage mit Blick auf die ›Jahrestage‹ kaum die Rede sein, wiewohl die Brüche zwischen den Materialien oft unvermittelt belassen werden und die Wurzeln des avantgardistischen Verfahrens zur Integration von Realien und Rea-
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Bachtin: Probleme der Poetik Dostojewskijs, S. 10f. Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 223. Petersen: Der deutsche Roman der Moderne, S. 49.
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lität noch deutlich erkennbar sind. Die arrangierende und formende Hand des Autors und das »Primat von Gesines Bewußtsein« dominieren Selektion und Präsentation. Letzteres rückt Johnson jedoch wiederum in größere Nähe zu Joyce, in dessen ›Ulysses‹ (bes. im Gegensatz zu Dos Passos Prosa) die einmontierten Realitätsfragmente durch ihre Rückbindung an die Wahrnehmung und Bewusstseinswelten der Protagonisten als narrative Werkstoffe legitimiert werden. In die vielschichtige Form der ›Jahrestage‹ finden – wie in Joyce ›Ulysses‹ – die »Grundtypen kompositorisch-stilistischer Einheiten« gleichberechtigt Eingang, die Bachtin als für das Genre des Romans konstitutiv herausgestellt hat: 1. das direkte literarisch-künstlerische Erzählen des Autors (in allen seinen vielfältigen Varianten); 2. die Stilisierung verschiedener Formen des mündlichen, alltäglichen Erzählens (skaz); 3. die Stilisierung verschiedener Formen des halbliterarischen (schriftlichen) alltäglichen Erzählens (Briefe, Tagebücher etc.); 4. verschiedene Formen der literarischen, nicht-künstlerischen Autorrede (moralische, philosophische, wissenschaftliche Erörterungen, rhetorische Deklamationen, ethnographische Beschreibungen, protokollarische Informationen etc.); 5. stilistisch individualisierte Reden der Helden.420
Gerade aufgrund der zunehmenden zeitlichen Distanz zur historischen Avantgarde stellt Uwe Johnson ein bemerkenswertes Fallbeispiel für eine nachhaltige Aneignung ihrer künstlerischen Grundprinzipien dar, wenngleich diese nicht mehr die deutliche Signatur ihrer Autoren tragen, sondern in der produktiven Anverwandlung aufgegangen und vielfältigen Modifikationen unterworfen sind. Mit Johnsons Generation sind die avantgardistischen Repräsentationsverfahren wie Montage, Multiperspektivik, Innerer Monolog sowie die beständige Reflexion der eigenen Medien und ihrer Ausdrucksmöglichkeiten ins Handwerkszeug der Nachkriegsdichter übergegangen. Johnson sieht sich und seine Zeitgenossen – im Jahr 1975 wie bereits im Briefwechsel mit Bierwisch 1957 – der Avantgarde und ihren kreativen Impulsen verpflichtet: »Im Interesse der Geschichte in einem Roman muß das schreibende Gewerbe alle vorrätigen und erfindlichen Techniken, Reserven, Auskünfte anwenden. Anders wird die Arbeit nicht haltbar.«421 Obwohl diese vehemente Distanzierung von möglichen Vorbildern und Einflüssen (wie wir bei A. Schmidt gesehen haben) mit Vorsicht zu genießen ist, muss man Johnson durchaus in der Sache zustimmen, dass mit zunehmender zeitlicher Distanz von der sogenannten Klassischen Moderne der zwanziger Jahre die individuellen Innovationen der herausragenden Avantgardisten in ihren Konturen unscharf werden. Fest steht, dass die unterschiedlichen Impulse sich im
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Bachtin: Das Wort im Roman, S. 156. Johnson: Wenn Sie mich fragen, S. 61.
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internationalen und interdisziplinären Austausch der Avantgarde(n) verzweigen, von anderen aufgenommen, gebrochen und modifiziert werden, mithin in einem Konglomerat von avantgardistischen Techniken (Montage, Innerer Monolog, Simultaneität, Polyperspektivik etc.) aufgehen, in dem die einzelnen Kontributionen kaum mehr zu isolieren sind. Nichtsdestoweniger belegt die kontroverse Aufnahme der ›Mutmassungen‹ in der literarischen Öffentlichkeit, dass diese überlieferten Techniken auch 1959 noch keineswegs zum »Standard« gehörten und ihr Potential zur Provokation bis heute, auch in einer historisch grundlegend veränderten literarischen Situation, kaum eingebüßt haben. Daher bestätigt das Erzählwerk Uwe Johnsons den fortdauernden Impetus avantgardistischer Verfahrensweisen, der nicht nur durch die Zäsur des Nationalsozialismus, sondern auch durch die Restriktionen der DDR-Kulturpolitik in seinem Fortwirken gehindert wurde, der aber für Autoren der Generation Johnsons, die im Osten Deutschlands aufgewachsen sind, keineswegs an Faszination verloren hat – und sich auch hier mit einer Verspätung von einem halben Jahrhundert seinen Weg bahnt.
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5.
Wolfgang Hildesheimer
5.1
Wolfgang Hildesheimer – ein »deutscher« »Schriftsteller«? Die literarische Sozialisation im Exil und die Rückkehr in die »Heimat«
Obwohl er beinahe zwanzig Jahre älter ist als Johnson, erreicht Wolfgang Hildesheimers Auseinandersetzung mit Joyce noch einen Höhepunkt, nachdem mit dem 1983 wider Erwarten erschienenen vierten Band der ›Jahrestage‹ Uwe Johnsons magnum opus und damit sein Lebenswerk abgeschlossen war. Wolfgang Hildesheimer, der neben Aufsätzen und Rezensionen zu Joyce auch einen Übersetzungsversuch des ›Anna Livia Plurabelle‹-Kapitels aus ›Finnegans Wake‹ vorlegte, hatte zwar bereits 1975 mit dem Vortrag ›The End of Fiction‹ »Abschied vom Bücherschreiben« genommen und 1984 in einem Aufsehen erregenden Interview ›Der Mensch wird die Erde verlassen‹ seinen Rückzug aus der Literatur überhaupt erklärt, hielt aber dennoch im selben Jahr die Bloomsday Dinner Speech auf dem Joyce-Symposion in Frankfurt. Hildesheimers essayistische Beschäftigung mit Joyce war dem Schriftsteller augenscheinlich wichtig genug, um von dem mit großer Geste angekündigten »Verstummen« ausgenommen zu sein. Mit Wolfgang Hildesheimer ist ein neues Kapitel in der deutschen JoyceRezeption nach dem Zweiten Weltkrieg aufgeschlagen, das sich von den vorangegangenen in erheblichem Maße unterscheidet. Wolfgang Hildesheimer ist – obwohl seine literarische Entwicklung charakteristische Züge der deutschen Nachkriegsliteratur trägt – eine Ausnahmeerscheinung in der literarischen Landschaft der 50er und 60er Jahre. Hildesheimer ist jüdischer Abstammung und hat lediglich »zwei Fünftel« seines Lebens in Deutschland verbracht1 – freilich mit nachhaltigen Konsequenzen für seine literarische Sozialisation, die nicht von den Repressalien der nationalsozialistischen Kulturpolitik gehemmt war und sich in weitaus stärkerem Maße durch die ungehinderte Aufnahme internationaler 1
Manfred Durzak: Ich kann über nichts anderes schreiben als über ein potentielles Ich. Gespräch mit Wolfgang Hildesheimer, in: ders.: Gespräche über den Roman. Mit Joseph Breitbach, Elias Canetti, Heinrich Böll, Siegfried Lenz, Hermann Lenz, Wolfgang Hildesheimer, Peter Handke, Hans Erich Nossack, Uwe Johnson, Walter Höllerer. Formbestimmungen und Analysen, Frankfurt a.M. 1976 (suhrkamp taschenbuch 318), S. 271–295, hier S. 271.
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Tendenzen (etwa des Surrealismus und der Literatur des Absurden) in ihrem Facettenreichtum vollzog. Wolfgang Hildesheimer (geboren 1916) ist als junger Mann seinen Eltern 1933 aus dem Nazideutschland nach England und noch im selben Jahr nach Palästina (1933–46) gefolgt, wo er neben einer Tischlerlehre mit den Fächern Zeichnen, Möbeldesign und Innenarchitektur ein Studium begann, das er von 1937–39 in London mit den Schwerpunkten Zeichnen und Bühnenbild an der Central School of Arts and Crafts fortsetzte. Hildesheimer empfand sich nicht als Exilant oder Vertriebener und litt – etwa im Gegensatz zu Wolfgang Koeppen – nie unter einem Gefühl der ›Entwurzelung‹: Ich habe in England nie das Gefühl gehabt, ein Emigrant zu sein. Ich habe Deutschland vor den Nazis verlassen und bin persönlich niemals in Kontakt mit den Nazis gekommen. […] Das Exilbewußtsein oder Exilgefühl habe ich niemals verspürt. […] Meine diversen Psychosen haben bestimmt nichts mit einer Entwurzelungspsychose zu tun.2
Nach einer kurzen Beschäftigung als Bühnenbildner und dem ersten Aufenthalt in Cornwall kehrte Hildesheimer 1939 über Frankreich und die Schweiz nach Palästina zurück, wo er in den folgenden Jahren von seinen hervorragenden Englischkenntnissen Gebrauch machen konnte und eine Anstellung zunächst als Englischlehrer am British Council des British Institute Tel Aviv fand (1940–42), bevor er bis kurz nach Kriegende als Information Officer der britischen Regierung in Jerusalem tätig war. Hier beginnt zeitgleich mit Hildesheimers (zaghaft einsetzender) literarischer Produktion eine erste Phase der intensiven Auseinandersetzung mit Joyce Werken: Das Public Information Office […] gab[en] auch drei Zeitungen mit einem großen kulturellen Teil heraus: eine arabische, englische und eine hebräische, und ich war der Redakteur der englischen Nummer, habe also damals zum erstenmal auch Kritiken – zum Beispiel über »Finnegans Wake« – und einige Gedichte geschrieben. Meine ersten Gedichte waren in Englisch […], und im allgemeinen, muß ich sagen, war es eine interessante Zeit. Ich habe einen interessanten Krieg verbracht.3
Am 3. Mai 1946 erscheint in der Zeitschrift ›Radio Week‹ (Jerusalem) in englischer Sprache Hildesheimers erster publizistischer Beitrag überhaupt: eine Würdigung von Joyce Werk, in der der Dreißigjährige zum ersten Mal seiner intensiven Durchdringung und Bewunderung der Prosaleistungen des Iren Ausdruck verleiht. Im Gespräch mit Manfred Durzak bestätigt Hildesheimer diese Datierung: »Ich habe mich eigentlich niemals aktiv für Literatur interessiert, nur eben 2 3
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Ebd., S. 272. Wolfgang Hildesheimer: Ich werde nun schweigen. Gespräch mit Hans Helmut Hillrichs in der Reihe »Zeugen des Jahrhunderts« [aufgezeichnet am 20. und 21. September 1989], hg. v. Ingo Hermann, Redaktion: Jürgen Voigt, Göttingen 1993, S. 24.
für Bücher. Mit Joyce habe ich mich damals [zu jener Zeit in Jerusalem, d.h. zwischen 1943 und 1946] auseinandergesetzt.«4 Hildesheimers erste nachhaltige Beschäftigung mit Joyce Prosa ist während der Kriegsjahre und seines Aufenthalts in Jerusalem, also um das Jahr 1943 zu datieren und setzte mithin zu einer Zeit ein, da sie in Deutschland undenkbar gewesen wäre.5 Hildesheimers Auskunft bestätigt neben der Initialzündung seiner Verehrung für James Joyce auch sein Verhältnis zur englischen Sprache, das zeitweilig intensiver war als sein Umgang mit der deutschen Muttersprache. Als aus seiner eigentlichen sprachlichen ›Heimat‹ (und späteren Wahlheimat) Entwurzelter war Hildesheimer somit – besser noch als Arno Schmidt oder der anglophile Uwe Johnson – imstande, den ›Ulysses‹ ebenso wie die komplexe Sprachgewalt von ›Finnegans Wake‹ im Original zu bewältigen.6 Nach einem weiteren kurzen Aufenthalt in London entschied sich Hildesheimer für eine Rückkehr nach Deutschland, als er 1946 die Anfrage erhielt, bei den Nürnberger Prozessen als Simultandolmetscher zu wirken; 1948–49 war er daneben Redakteur eines Teils der Prozessprotokolle. Hildesheimer stand nun nicht wie das Gros der Deutschen auf der Seite der Schuldigen und Angeklagten, sondern verfolgte die Prozessverläufe mitsamt ihren erschütternden Einsichten und Zeugnissen als Besatzungsangehöriger, aus der Perspektive der Kläger und 4 5
6
Durzak: Ich kann über nichts anderes schreiben als über ein potentielles Ich, S. 273. In Hildesheimers Radiobeitrag aus dem Jahr 1967 zu ›Finnegans Wake‹ heißt es, dass seine erste Lektüre »vor etwa 25 Jahren [d.h. 1942]« stattgefunden habe, was eine Beschäftigung mit Joyce bereits während der ersten Kriegsjahre nahe legt – zumal man mit einiger Gewissheit davon ausgehen kann, dass Hildesheimer zuerst den ›Ulysses‹ und danach Joyce letzten Roman rezipiert hat. (Wolfgang Hildesheimer: Übersetzung und Interpretation einer Passage aus »Finnegans Wake« von James Joyce [1969], in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. VII, S. 338–351, hier S. 347.) Vgl. auch Weninger: The Institutionalization of ›Joyce‹, S. 56: »On account of his exile in the English-speaking world, he acquainted himself earlier with Joyce than other Germans of his generation and after the war he was the first German to publish on Joyce.« Weninger schließt an diese treffende Feststellung einen kursorischen Überblick über Werke Hildesheimers an, die ›potentielle Affinitäten‹ zu Joyce aufweisen, wobei jedoch (neben der Datierung) bes. die Auswahl der genannten Werke Zweifel an der Urteilsfähigkeit Weningers bezüglich Hildesheimer (nicht hingegen an Wert und Qualität seines Aufsatzes) aufkommen lässt: »Of course, his own fiction did not remain unaffected by this prolonged and intense preoccupation with Joyce. Nachtstück (Nightpiece) (1963), Masante (1973), Tynset (1975) [sic] and Mozart (1977) [?] all display potential affinities with Joycean techniques, but again, such influences may derive equally well from other modernist and postmodernist writers like Barnes or Beckett.« (Ebd., S. 57.) In dem Radiobeitrag erklärt Hildesheimer, seine Einstellung zu ›Finnegans Wake‹ sei »streng unwissenschaftlich, sie ist die des bewundernden Lesers, eines Lesers allerdings, der zur Zeit der ersten Lektüre, […] im Englischen besser zuhause war als im Deutschen.« (Hildesheimer: Übersetzung und Interpretation einer Passage aus »Finnegans Wake« von James Joyce, S. 347.)
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Richter, lernte »beim ehemaligen Feind, den Deutschen, zwischen gut, halbgut und böse zu unterscheiden.«7 Während Hildesheimer im Exil den Krieg noch für sich persönlich als »interessante Zeit« erleben konnte und von den Schrecken der Naziherrschaft nur mittelbar erfuhr, entdeckten sich ihm in Nürnberg durch die Konfrontation mit den Kriegsverbrechern und ihren Zeugnissen die Ausmaße des Grauens für das Volk, dem er zugehörte: Mit Judentum in seiner grausamsten Bedeutung, mit Rassenzugehörigkeit, Artfremdheit und all den Worten dieses Vokabulars, wurde ich erst konfrontiert, als ich Simultandolmetscher bei den Nürnberger Prozessen wurde; als sich hier, systematisch und schematisch, eine Geschichte aufrollte, die ich in den Jahren ihres Geschehens nur aus Berichten und Gerüchten gekannt hatte. Die Geschichte war entsetzlich, aber sie gehörte einer Vergangenheit an, deren Bewältigung schließlich nicht meine Aufgabe war. Die Frage der Schuld oder der Kollektivschuld überließ ich meinem Unbewußten und wartete auf den Entscheid von innen.8
Diese ambivalente Position bestimmt Hildesheimer Werk thematisch und hebt es von Koeppens, Schmidts und Johnsons Auseinandersetzungen mit Holocaust, Kollektivschuld und Nachkriegszeit ab. Von der Aufgabe der Vergangenheitsbewältigung ebenso wie von der Verpflichtung auf die Übernahme der Kollektivschuld befreit, vielmehr als Opfer, nimmt Hildesheimer zwangsläufig eine gegenläufige Perspektive auf die Historie ein. Dies impliziert nun keineswegs, dass das Grauen von Nazidiktatur und Holocaust nicht auch in seinen Texten Niederschlag gefunden hätte oder dass das Werk Wolfgang Hildesheimers frei von Trauerarbeit und Gedenken sei. Fester Bestandteil des Figureninventars, wenn nicht gar allgegenwärtig sind die Häscherfiguren, die als existentiell bedrohliche Relikte des Dritten Reichs in seinen Werken stets bei der Arbeit sind, »sie horchen, planen, handeln, fahnden, spuren, orten« (M, S. 357), bedrohen und verfolgen die Erzähler Hildesheimers bis in ihre (Tag-)Träume und bis in die Wüste: Die vielen Nazi-Gestalten kommen natürlich immer wieder durch. Wenn ich an mein Buch »Masante« denke, dann sind es tatsächlich die sogenannten Häscher, die ja wirklich nur ganz geringfügig verändert sind gegenüber Figuren, die ich kannte als Angeklagte oder Zeugen in Nürnberg.9
Während etwa Wolfgang Koeppens Protagonisten oder Johnsons Gesine Cresspahl mit dem Trauma individueller Verstrickung in die Kriegsverbrechen und den Genozid an den Juden ringen, wiederholen die Ich-Erzähler in Hildesheimers Monologen die Beteuerungen ihrer Unschuld. Das Ich des Prosamonologs ›Tynset‹
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Wolfgang Hildesheimer: Mein Judentum [1978], in: ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden, hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle, Bd. VII: Vermischte Schriften, Frankfurt a.M. 1991, S. 159–169, hier S. 164. Ebd., S. 163. Hildesheimer: Ich werde nun schweigen, S. 30.
sagt von sich, es »trage selbst wenig eigene Schuld, sehr wenig«,10 es habe »[k]eine Gespräche zu führen, keine Aufträge auszuführen, kein Urteil zu fällen, keine Schuld zu tragen, kein Handwerk zu meistern außer meinem winzigen Beitrag zur Gastronomie, zu keinem Gott zu beten« (T, S. 33). Diese Unschuldsbeteuerungen klingen wie Echos der Äußerungen Hildesheimers, der sich von Schuldgefühlen mit dem Hinweis darauf freispricht, dass diese Empfindung integraler Bestandteil der christlichen Mentalität sei, ihn mithin nicht betrifft: [M]an muß bedenken, daß dieses Schuldgefühl etwas ist, was mir persönlich völlig fremd ist. Ich bin als Nichtchrist auch nicht mit dem Gefühl der Schuld und der Sünde geboren worden, und wenn mich heute jemand fragen würde, ob ich nicht selbst auch daran schuldig sei in gewisser Weise, würde ich sagen: Nein, höchstens indem ich lebe und Luft verbrauche, und das ist natürlich die wirkliche Ursache, die Überbevölkerung der Welt. […] Ich fühle mich nicht schuldig, und ich fühle mich auch nicht sündig; diese Gefühle, die vielleicht doch christliche Gefühle sind, kenne ich nicht. Ich fühle mich an der allgemeinen Misere, an dem Verfall der Natur und an all dem, was jetzt geschieht, nicht schuldig.11
Als Dolmetscher in Nürnberg war Hildesheimer so nah an den entsetzlichen Entdeckungen und Berichten, die in den Nachkriegsjahren ans Licht kamen, wie kein anderer der hier besprochenen Autoren: »Ich habe tatsächlich Seife, aus menschlichem Fett gemacht, in der Hand gehabt, habe die Lampenschirme aus menschlicher Haut gesehen, an denen man Brustwarzen erkennen konnte.«12 Die Eindrücke der Nürnberger Prozesse werden zwar in keinem Werk intensiv literarisch gestaltet, dennoch bilden sie einen biographischen Subtext zu Hildesheimers Prosa, der, motivisch verarbeitet, immer wieder durchscheint. 1949 bezog Hildesheimer seinen Wohnsitz in Ambach am Starnberger See. Bereits während der Prozesse hatte er sich künstlerischen Arbeiten gewidmet und war seit 1953 als freier Maler und Grafiker tätig; er begann »sich aus dieser Position heraus in jenem Land als Künstler einzurichten, dessen Richter und Opfer er
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Wolfgang Hildesheimer: Tynset, in: ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden, hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle, Bd. II: Monologische Prosa. Tynset. Masante, Frankfurt a.M. 1991, S. 7–153, hier S. 18. Im Folgenden innerhalb des fortlaufenden Textes zitiert mit der Sigle T. Ebd., S. 94 und 104. Ebd., S. 29. Wie tief sich die Aussagen und Eindrücke in Hildesheimers Bewusstsein eingegraben haben, zeigt sich allein darin, dass keiner der Prosamonologe frei von dieser Erinnerung ist: »[W]o war es, daß ich Lampenschirme sah, aus heller menschlicher Haut, verfertigt in Deutschland von einem deutschen Bastler, der heute als Pensionär in Schleswig-Holstein lebt?« (T, S. 81), fragt sich der Ich-Erzähler in ›Tynset‹, und in ›Masante‹ erinnert er sich, dass man »vor ein paar Dekaden in Deutschland Schirme herstellte, aus Menschenhaut, was übrigens auch nicht in den Schulbüchern steht.« (M, S. 269)
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hätte sein können: Er wurde ein deutscher Schriftsteller.«13 Hildesheimers Werk ist facettenreicher, heterogener als das eines Wolfgang Koeppen, eines Arno Schmidt oder Uwe Johnson, die – wie James Joyce, sieht man von den frühen ›Pomes‹ und dem Drama ›Exiles‹ ab – mit tiefster Überzeugung wie auch in ihrer literarhistorischen Wirkung durch und durch Romanciers waren. Seine literarische Produktion ist nun keineswegs auf den Roman beschränkt, sein geringes Vertrauen in die Überzeugungskraft des Genres spiegelt sich in seiner fortwährenden Abneigung gegenüber dem Etikett »Roman«, wie auch in seinem Verstummen, dem Rückzug aus der Fiktion, auf den noch zurückzukommen sein wird. Hildesheimer ist – nach der satirischen Kurzprosasammlung ›Lieblose Legenden‹ (1952) – vor allem als Hörspiel- und Bühnenautor hervorgetreten, bevor er mit ›Tynset‹ (1965) und ›Masante‹ (1973) die großen Prosamonologe vorlegte, die jedoch starke thematische und formale Vernetzungen mit seinen Bühnen- und Hörspielarbeiten aufweisen und in ihrer formalen Gestalt auch über die Grenzen der Literatur (in das Feld der Musik wie auch der bildenden Kunst) hinausweisen. Hildesheimers fortwährende künstlerische Produktion steht – produktionsästhetisch wie werkästhetisch – in charakteristischer Wechselbeziehung mit seinem literarischen Werk. Er selbst betont in diesem Zusammenhang nicht nur seine »Assoziationsbereitschaft mit Bildern, tatsächlich mit Bildern, die mir bei solchen Sichten in den Sinn kommen. Ich habe ein gutes Gedächtnis für Bilder, Bilder bedeuten mir viel, weitaus mehr als Literatur.«14 Auch dem Bühnenbildner Hildesheimer kommt in seinem literarischen Arbeitsprozess eine erhebliche Bedeutung zu, wenn es um die Figurenkonstellation nicht nur auf der Bühne, sondern auch um die Bevölkerung seiner Prosaräume geht: Manchmal ist tatsächlich nur der Ort, das Haus, das Zimmer da, und ich frage mich: mit welchen Figuren bevölkere ich das Zimmer? Als ich auf der Akademie Bühnenbild studierte, habe ich folgendes System gehabt: ich konstruierte mir mit wenigen Scherenschnitten ein Modell der Bühne. Die Bühne war leer, hatte nur einen Horizont. Dann fing ich an, die Kulissen draufzusetzen, zu probieren. Ich ging vom leeren Raum aus.15
Dieses Verfahren verweist in letzter Instanz wiederum zurück auf den Collagisten, der Konstellationen und Formen auf dem leeren Blatt durchspielt. Die vielfältigen künstlerischen Begabungen Hildesheimers (nicht zuletzt auch seine Affinität zur Musik) durchdringen einander, sind isoliert kaum denkbar und haben einen nachhaltigen Einfluss auf die Erscheinungsform seiner literarischen 13 14
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Peter Hanenberg: Geschichte im Werk Wolfgang Hildesheimers, Frankfurt a.M./Bern/ New York/Paris 1989 (Helicon. Beiträge zur deutschen Literatur 9), S. 217. Wolfgang Hildesheimer: Wolfgang Hildesheimer im Gespräch mit Dierk Rodewald [1971], in: Über Wolfgang Hildesheimer, hg. v. Dierk Rodewald, Frankfurt a.M. 1971 (edition suhrkamp 488), S. 141–161, hier S. 152. Ebd.
Arbeiten, ist doch beispielsweise in ›Masante‹ ein collagistisches Kompositionsprinzip an der Textstruktur ablesbar. Wolfgang Hildesheimer wollte sich Zeit seines Lebens vor allem als bildender Künstler verstanden wissen; er »habe kein Schriftsteller werden wollen und betrachte [sich] auch heute [1971] noch nicht als Schriftsteller.«16 Immer wieder bekräftigt er in Reden und Interviews sein Unbehagen angesichts seiner ›Profession‹: »The point in question seems to me: is being a writer really a profession? I myself have never regarded it as such, but rather as a way of saying something which I thought worth saying and becoming silent when it is said.«17 Im Gegensatz zum Schreiben sei ihm die bildende Kunst »lebenswichtig«;18 er betrachte die »Malerei [als] ein Gebiet, auf dem [er] mehr zu Hause [sei] als auf dem der Literatur.«19 Hildesheimer beginnt als bildender Künstler und bleibt es auch nach seinem literarischen »Verstummen«; er sei zuletzt zwar kein Schriftsteller mehr, der Wunsch zu schreiben ließ sich erstaunlicherweise schließlich doch verdrängen, dafür wieder ›bildender Künstler‹. […] und lasse den Dingen ihren Lauf, nachdem ich eingesehen habe, daß ich den Lauf der Welt (genauer: der Erde) nicht verändern kann.20
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»Joyce bleibt immer aktuell.«21 Wolfgang Hildesheimer über den »bedeutendsten Schriftsteller unseres Jahrhunderts«22 – Eckdaten seiner Joyce-Rezeption
Hildesheimers literarischer Werdegang führt immer wieder auf Joyce zurück; eine einzigartig intensive wie nachhaltige Beschäftigung mit Joyce, geprägt von einer Hochachtung vor den künstlerischen Leistungen des seiner »Meinung nach bedeutendsten Schriftsteller unseres Jahrhunderts«,23 zieht sich wie ein roter Faden durch Hildesheimers Publikationen und interpunktiert diese mit essayis-
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Hildesheimer: Wolfgang Hildesheimer im Gespräch mit Dierk Rodewald, S. 143. Wolfgang Hildesheimer: The End of Fiction [1975], in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. VII, S. 125–140, hier S. 134; die deutsche Fassung des Vortrags findet sich im selben Band auf den Seiten 141–158. Wolfgang Hildesheimer: Zu meinen Collagen. ›Vorwort zu »Endlich Allein«‹ [1984], in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. VII, S. 748–751, hier S. 751. Wolfgang Hildesheimer: Arbeitsprotokolle des Verfahrens »Marbot« [1982], in: ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden, hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle, Bd. IV: Biographische Prosa, Frankfurt a.M. 1991, S. 255–264, hier S. 257. Wolfgang Hildesheimer: Vita II [1988], in: Wolfgang Hildesheimer, S. 22. Wolfgang Hildesheimer: Joyce-Symposion ‘84. Ein Gespräch mit Wolfgang Hildesheimer, in: taz (19.6.84), S. 9. Ebd. Ebd.
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tischen und übersetzerischen Auseinandersetzungen mit Joyce und seinen Werken. Hildesheimer war Mitglied des Stiftungsrates der Züricher James Joyce-Stiftung; zahlreiche Äußerungen in Gesprächen und Interviews zeugen von einer Begeisterung für die Prosa des Iren, die sich über Jahrzehnte erstreckte und bis zu Hildesheimers Tod nicht nachließ. Seine Joyce-Verehrung ist insofern ›absoluter‹ als etwa die Uwe Johnsons, als er einen tiefen persönlichen Respekt für James Joyce empfand. Seine Äußerungen über Joyce sind Ausdruck individueller Betroffenheit durch das Werk des Iren mitsamt der existentiellen Fragen, die er darin beantwortet fand – so die Gestaltung des Judentums in der Figur Leopold Blooms. Hildesheimers Verbundenheit mit Joyce gründet sich möglicherweise auch auf eine Geistesverwandtschaft hinsichtlich der »Exilsituation« Hildesheimers und Joyce, die sich beide im eigenen Heimatland fremd fühlten, dieses aber immer wieder zum topographischen Ausgangspunkt ihrer Fiktionen machten. Die philologischen Stellungnahmen Hildesheimers zum Verfasser des ›Ulysses‹ sind untrennbar verbunden mit der höchsten Würdigung durch einen Leser und Schriftsteller: »Joyce bleibt immer aktuell: Das Humane in Joyce wird ewig aktuell sein, solange es überhaupt Menschen gibt.«24 Seinen viel besprochenen Vortrag an irischen Universitäten mit dem Titel ›The End of Fiction‹ eröffnet er mit einem emphatischen Bekenntnis zu James Joyce: I wanted to stand here where James Joyce, the greatest prose writer of them all, has sat, listening to, let us hope, someone better and certainly someone less unacademic than myself. […] Ireland and Joyce then have induced me to come here and talk to you, not my occupation with literature.25
Auch Hildesheimers Briefwechsel vermittelt einen lebhaften Einblick in seine fortwährende Joyce-Lektüre, etwa wenn er 1983 an Urs Widmer schreibt: »Ich lese fast nur Joyce oder üb er Joyce […].«26 Ein Jahr später fügt er einem Brief an Patricia Crampton entschuldigend hinzu: »– excuse this stream of consciousness prose but I am still deep in ULYSSES –«.27 In einem Aufsatz in der ›Zeit‹ zitiert Hildesheimer das berühmte Diktum von E. R. Curtius und zieht sein Fazit daraus: »Erst in Jahrzehnten wird man abmessen können, was Joyce in unserer Epoche bedeutet«, sagte Ernst Robert Curtius. Diese Jahrzehnte sind nunmehr vorbei, und wir mes-
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Ebd. Hildesheimer: The End of Fiction, S. 127. Wolfgang Hildesheimer: An Urs Widmer [198]. [Poschiavo,] 2.12.83, in: ders.: Briefe, hg. v. Silvia Hildesheimer u. Dietmar Pleyer, Frankfurt a.M. 1999, S. 288f., hier S. 288. Wolfgang Hildesheimer: An Patricia Crampton [208]. [Poschiavo,] 21. or 22.2.84, in: ders.: Briefe, S. 304.
sen es ab. Eine Nebenfigur im Ulysses sagt: »Nach Gott hat Shakespeare am meisten geschaffen.« Joyce-Kenner haben hinzugefügt: »Nach Shakespeare hat Joyce am meisten geschaffen.« So ist es.28
In seiner Bloomsday Dinner Speech – in der er übrigens auch zugibt, alle vier oder fünf Jahre einmal das ›Calypso‹-Kapitel des ›Ulysses‹ zu lesen und wieder zu lesen29 – verneigt Hildesheimer sich abschließend vor James Joyce als einem Revolutionär literarischer Sprache und Form: The formal perfection of »Ulysses« and »Finnegans Wake« can hardly be measured, as Joyce had created their structure as well as in »Ulysses«, the diction and, in »Finnegans Wake«, the language. Joyce strove for a new kind of formal freedom, he despised the traditional narrative – I seem to be saying this in case there is someone in the audience who has never heard of him.30
Er spricht vom ›Ulysses‹ mit den Worten T. S. Eliots als einem »Meisterwerk, ›eines der größten nicht nur unserer Zeit, sondern aller europäischen Literaturen‹.«31 Vor allem in Hildesheimers Essays und Reden über Joyce (vgl. Kap. 5.3) wird sein zentrales Anliegen offenkundig, die Berührungsängste mit Joyce zu zerstreuen. Er räumt ein, dass Joyce Prosa einen erheblichen Arbeitsaufwand erfordere, der jedoch keine Entschuldigung für eine Kapitulation vor ›Ulysses‹ und ›Finnegans Wake‹ sei, denn – so heißt es in einer Rede zur Musik, »[e]in Kunstwerk, dessen Verständnis wir uns nicht erarbeiten müssen, ist keines.«32 Die Dechiffrierung seines Werkes tue Joyce literarischer Größe keineswegs Abbruch, im Gegenteil sei sie die unabdingbare Voraussetzung für das Verständnis: »Joyce fordert zum Dechiffrieren heraus! Er ist hermetisch, er bleibt hermetisch und man muß ihn eben doch ›Verstehen‹ […]. Sie können eine große Figur nicht durch Interpretation vom Sockel stürzen.«33 Hermetik ist – so Hildesheimer – jedoch nicht identisch mit Unverständlichkeit. Zugeständnisse an das Lesepublikum wären bei Joyce gleichbedeutend mit einer Aufgabe seiner produktionsästhetischen und formalen Prämissen, letztlich seiner literarischen Größe gewesen: Was eben sehr wesentlich bei Joyce ist, daß der Anwurf, daß es sich um allzu Hermetisches handle, um Unverständliches, nicht stimmt. Nur muß man sich bei ihm Mühe
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Wolfgang Hildesheimer: James Joyce: »Ulysses« [1979], in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. VII, S. 421–424, hier S. 424 [zuerst in: Die Zeit 7 (9. Februar 1979), S. 40]. »Whenever I begin reading the Calypso-chapter of ›Ulysses‹, which happens about every four or five years […].« (Wolfgang Hildesheimer: The Jewishness of Mr. Bloom [1984], in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. VII, S. 183–195, hier S. 183; die deutsche Fassung des Vortrags findet sich im selben Band auf den Seiten 196–210.) Ebd., S. 195. Hildesheimer: James Joyce. Ulysses, S. 424. Wolfgang Hildesheimer: Was sagt Musik aus? ›Zur Eröffnung der Salzburger Festspiele‹ [1980], in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. VII, S. 170–182, hier S. 173. Hildesheimer: Joyce-Symposion ‘84, S. 9.
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geben, man muß sich mit seinen Werken, vor allem den letzten beiden großen Werken, dem ›Ulysses‹ und ›Finnegans Wake‹ jahrelang befassen und beschäftigt haben, bis man darauf kommt. Es ließe sich fragen, ob das der Zweck der Literatur ist, aber wenn man sich in einen großen Schriftsteller hineinversetzt, dessen Ausdrucksmodus dieser ist, kann man schlecht von ihm verlangen, daß er seine Arbeitsweise vereinfacht, bloß, damit mehr Leute es lesen können.34
Zahlreicher noch als Hildesheimers Würdigungen des ›Ulysses‹ sind die Elogen auf ›Finnegans Wake‹, »das Glanzstück ausgenutzter dichterischer Freiheit, […] in dem Wirklichkeit nicht dargestellt, sondern onomatopoetisch suggeriert wird.«35 In ›The End of Fiction‹ erklärt Hildesheimer, to my mind Joyce’s masterpiece ›Finnegans Wake‹ is unequalled in ›passionate imagination‹, in beauty and – excuse my pathos – eternal truth […], and it speculates upon life in a more profound, a more intense and more sovereign manner than any work by any writer writing about himself. But this is by the way.36
Bei einer Betrachtung der Schriften Hildesheimers fällt es zugegebenermaßen schwerer, eine Rezeption von Joyce ›Finnegans Wake‹ (das Hildesheimer nach eigener Aussage noch höher schätzte als ›Ulysses‹)37 restlos auszuklammern, da besonders letzteres Werk einen erheblichen Einfluss auf seine Sprachkonzeption hatte und seine Auseinandersetzung mit Joyce zudem oft beide Prosawerke verbindet. Nichtsdestoweniger soll im Folgenden aufgrund der thematischen Ausrichtung der Arbeit die Fokussierung auf den ›Ulysses‹ so weit als möglich beibehalten werden. Wie alle Literaten, die ihre künstlerische Eigenständigkeit betonen, reagiert Hildesheimer sensibel auf die Unterstellung von Einflüssen welcher Art auch
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Ebd. Wolfgang Hildesheimer: Frankfurter Poetik-Vorlesungen [1967], in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. VII, S. 43–99, hier S. 44. Hildesheimers Bewunderung für Joyce dehnt sich über dessen Hauptwerke ›Ulysses‹ und ›Finnegans Wake‹ auf sein ganzes Leben aus. Joyce langwierige und seine körperlichen und geistigen Kräfte beinahe erschöpfende Arbeit an ›Finnegans Wake‹ sieht er als mustergültig für die schriftstellerische Existenz überhaupt an: »Eleven years of virtually ruinous writing, of complete and unique abandon to this ›work in progress‹ were dedicated, if not, indeed, sacrificed to the tremendous risk of being able to say everything or nothing, always the anxiety in the back of mind whether this great score of many voices caught in a one-line-system would come across or not. […] His was an exemplary writer’s life.« (Hildesheimer: The End of Fiction, S. 128.) Ebd., S. 127. Vgl. Hildesheimer: An Patricia Crampton [208], S. 305: »Occupation with Joyce – especially Finnegans Wake is my favourite occupation, apart from making things (drawing collages etc., eating drinking sleeping – sorry to be such a materialist!) Yes, I have given up writing, ›there’s no future in it‹.«
immer, denn »Einfluß fließt unbewußt und wird ja nicht vom Bewußtsein verarbeitet, sonst wäre das Resultat Imitation, wenn nicht gar Plagiat.«38 Joyce literarisches Werk ist für Hildesheimer »die höchste Stufe der Weltliteratur, und das bleibt immer wesentlich, daß man sich selbst nicht vorstellbar ist, ohne Joyce gelesen zu haben und ohne, daß es in das Unbewußte übergegangen ist.«39 Diese Aussage, dass die emphatische Beschäftigung mit Joyce und die Lektüre seiner Werke »in das Unbewußte übergegangen« sei, gibt zu denken, denn auch Hildesheimer weist einen direkten »Einfluß« Joyce auf seine eigene schriftstellerische Produktion vehement zurück: Die Beschäftigung mit Joyce liegt schon sehr weit zurück, das war schon während der Kriegsjahre. […] Ich glaube, die Beeinflussung durch Joyce – soweit ich das selbst feststellen kann – ist nicht stark. Ein großes Leseerlebnis und eine Erweiterung des Horizontes, eine Bewußtmachung – aber ich glaube nicht, daß »Tynset« und »Masante« irgendwie Einflüsse aufweisen, auch nicht in der Struktur.40
Wenngleich Hildesheimer immer wieder betont, dass kaum ein Schriftsteller des 20. Jahrhunderts vorstellbar ist, in den Joyce, den er als einen »der großen Abweicher«41 bezeichnet, nicht ›eingegangen‹ sei, so bezweifelt er das Epoche machende Potential nicht nur von ›Finnegans Wake‹: Was ›Finnegans Wake‹ betrifft – das kann keine Schule machen, das kann man vielleicht nachzumachen versuchen. Aber man kann nicht auf ähnlicher Basis ein solch ungeheures Gebäude aufbauen, das geht nicht. Diese Erzählung, die zyklisch ein Menschenleben gleichzeitig mit einem Tag – oder in ›Finnegans Wake‹ einer Nacht – und gleichzeitig mit einer ganzen Ära und gleichzeitig der ganzen Weltgeschichte behandelt. Das müßte schon ein Genie des gleichen Kalibers sein; das wäre unvorstellbar! 42
Die literarische Entwicklung im Allgemeinen und literarische ›Mammutprojekte‹ wie ›Zettels Traum‹ haben jedoch nachhaltig erwiesen, dass die Größe und Einzigartigkeit des formalen Experiments zwar uneinholbar bleiben musste, dies jedoch keineswegs Nachahmer von vornherein abgeschreckt hätte. Die fruchtbare Rezeption eines Schriftstellers dokumentiert sich schließlich nicht in der Wiederholung
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Wolfgang Hildesheimer: Antworten über Tynset [1965], in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. II, S. 384–387, hier S. 386. Hildesheimer: Joyce-Symposion ‘84, S. 9. Durzak: Ich kann über nichts anderes schreiben als über ein potentielles Ich, S. 275. Im Gespräch mit Hillrichs erklärt Hildesheimer: »Strindberg und Djuna Barnes [seien] die wenigen Einflüsse und vielleicht Kafka, […] obwohl es wahrscheinlich viel mehr gibt.« Auf Hillreichs Rückfrage »Joyce würden Sie nicht nennen, obwohl Sie ihn auch übersetzt haben?« entgegnet Hildesheimer kategorisch: »Nein, James Joyce würde ich nicht nennen.« (Hildesheimer: Ich werde nun schweigen, S. 83f.) Wolfgang Hildesheimer: ›Nachwort zu Djuna Barnes: »Nachtgewächs«‹ [1971], in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. VII, S. 355–358, hier S. 357. Hildesheimer: Joyce-Symposion ‘84, S. 9.
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oder Neuauflage seines Vorstoßes (und seines ›Erfolgs‹), sondern in der Faszination und dem Anreiz zur Nachahmung einerseits sowie in der Verwertung seiner Innovationen und ihrer Integration in neue, eigene Konzepte andererseits. So ist es kaum verwunderlich, dass Hildesheimer mit Blick auf den ›Ulysses‹ Arno Schmidt erwähnt und sein kategorisches Urteil revidieren muss: Schule machen kann das nicht. ›Ulysses‹ hat in gewisser Weise Schule gemacht – aber ohne wirklichen Erfolg. Die Auflösung des Romans oder des ›Anti-Romans‹, der im ›Ulysses‹ enthalten ist, indem es nicht mehr aufgeteilt ist in Wichtiges, Handlungsförderndes und Handlungs-Nichtförderndes, sondern daß alles, das ganze Leben von drei Figuren bis ins Kleinste beschrieben wird, bis ins tiefste Unbewußte und gleichzeitig Aktion daneben, das kann es geben, das hat ja auch Arno Schmidt versucht.43
Anstatt ihm – wie Arno Schmidt – eine »Anxiety of Influence« zu attestieren, muss bei Wolfgang Hildesheimer davon ausgegangen werden, dass er mit dem ›Ulysses‹ (auch durch die mehrfache, in regelmäßigen Abständen wiederholte Lektüre) so intensiv vertraut war, dass der Roman nahtlos in seinem eigenen literarischen Handwerkszeug aufgegangen ist: »Also, ich meine, die Beeinflussung durch Joyce muß über so viele Ecken und durch so viele unbewußte Stationen gegangen sein, daß ich selbst eine Beeinflussung meines Schreibens nicht feststellen kann.«44 Auf der Basis dieser Arbeitshypothese können wir davon ausgehen, dass Hildesheimer Joyce formale und sprachschöpferische Verfahren in einer Weise »verinnerlicht« hatte, dass er selbst kaum imstande gewesen wäre, die entsprechenden Spuren zu Joyce zurückzuverfolgen. Dies bleibt somit Aufgabe der literaturwissenschaftlichen Analyse, die auch die fundamentalen Differenzen nicht übersehen darf, die auf eine individuelle Fortentwicklung, möglicherweise eine Zurücknahme des avantgardistischen Instrumentariums hindeuten. Im Folgenden sollen – neben einem kurzen Exkurs über die Einflüsse des absurden Theaters, die Hildesheimer in seinem Werk verarbeitet – die wichtigsten Eckdaten von Hildesheimers Joyce-Rezeption und der Publikation der Werke, die am eindeutigsten in einen Zusammenhang mit dieser Rezeption zu rücken sind, skizziert werden, um die für die anschließende Analyse relevanten Texte in einem kurzen Überblick zu präsentieren und zugleich die bemerkenswerte Kontinuität dieser Auseinandersetzung zu erhellen. Angesichts des frühen Zeitpunkts der ersten Begegnung mit Joyce und ihrem Niederschlag in dem kleinen Zeitungsartikel in ›Radio Week‹ (1946) vergeht eine lange Zeit, bevor sich Hildesheimer wieder explizit zu Joyce äußert. Nach den erwähnten Gedichten, die in den Jahren in Jerusalem entstanden, veröffentlicht Hildesheimer 1950 erste Erzählungen in Zeitungen und Zeitschriften. Sein lite-
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Hildesheimer: Joyce-Symposion ‘84, S. 9. Durzak: Ich kann über nichts anderes schreiben als über ein potentielles Ich, S. 275f.
rarisches Debüt erfolgt 1952 mit den kurzen satirischen Erzählungen ›Lieblose Legenden‹; noch im selben Jahr entsteht das erste Hörspiel. Im folgenden Jahr erscheint mit dem ›Paradies der falschen Vögel‹ Hildesheimers einziger »Roman«, dem er diese Gattungsbezeichnung nicht abspricht. Es folgt eine Phase, in der sich Hildesheimer dialogischen Gattungen zuwendet, aus der das Hörspiel ›Prinzessin Turandot‹ und die ›Spiele, in denen es dunkel wird‹ hervorgehen. An dieser Stelle ist nachdrücklich auf den Einfluss des absurden Theaters (besonders Ionescos und Becketts) auf Hildesheimers Bühnenarbeiten hinzuweisen. In den Frankfurter Vorlesungen bemüht er sich – bei allem für Hildesheimer typischen koketten Beharren auf Subjektivität, Unsystematik und Unwissenschaftlichkeit – um eine eigenständige Erläuterung einer Literatur des Absurden, ausgehend von Camus bekannter Definition: »Das Absurde entsteht aus der Gegenüberstellung des Menschen, der fragt, und der Welt, die vernunftwidrig schweigt.« Ich habe selbst, ehrlich gesagt, niemals recht verstanden, warum das Schweigen der Welt vernunftwidrig sein sollte, oder um wessen Vernunft es sich handle, um die des Menschen oder die der Welt. Ich denke, daß hier wohl die Welt der Vernunftwidrigkeit angeklagt ist. Da mir aber gerade die Vernunftwidrigkeit selbst als das Absurde erscheint, würde ich den Satz so abwandeln: »Das Absurde bedeutet die Vernunftwidrigkeit der Welt, indem sie dem Menschen die Antwort auf seine Frage verweigert.«45
Hildesheimer erklärt, er fühle sich »im sogenannten ›Absurden‹ heimisch«46 und begreife es als seine Realität: Meine Realität ist das sogenannte Absurde, und was für mich absurd ist, ist für die Mehrzahl der Menschen reale Gegebenheit. Wenn ich die Zeitung lese, dann grinst mich das Absurde an, und wenn ich an die Zukunft denke, dann erfüllt mich das Bild ihrer Absurdität entweder mit Angst oder mit Grauen. Die Zukunft ist für mich die ad absurdum geführte Gegenwart. Ich bin ein Anachronist, indem mir die kollektive Gegenwart nichts bedeutet, und ein Pessimist, indem ich mir von der Zukunft, gelinde gesagt, nichts erhoffe.
Hildesheimer fährt fort: »Der Surrealismus hat mich geprägt.«47 Er sieht im Surrealismus – der ihm »als Lebensgefühl und als Ausdruck in Fleisch und Blut über-
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Hildesheimer: Frankfurter Poetik-Vorlesungen, S. 50. Vgl. auch ebd.: »Der Mensch fragt, die Welt schweigt.« Ein ähnlicher Wortlaut findet sich auch in Über das absurde Theater [1960], in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. VII, Frankfurt a.M. 1991, S. 13–26, hier S. 17f. Ebd., S. 13. Beide Zitate aus Wolfgang Hildesheimer: Empirische Betrachtungen zu meinem Theater [1959], in: ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden, hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle, Bd. VI: Theaterstücke, Frankfurt a.M. 1991, S. 820– 823, hier S. 820.
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gegangen und daher als Begriff, Schule oder Ziel […] mausetot«48 sei – eine Vorstufe der Literatur des Absurden.49 Eines der wichtigsten Publikationsorgane des Surrealismus war bekanntlich die Zeitschrift ›Transition‹, in der neben Becketts ersten Versuchen auch Joyce ›Finnegans Wake‹ (noch unter dem früheren Arbeitstitel ›Work in Progress‹) in Fortsetzungen erschien.50 Folglich nennt Hildesheimer seine maßgeblichen Einflussquellen häufig auch in einem Atemzug: Der Surrealismus ist mir seit meiner Akademiezeit geläufig und hat mich von je als Ausdrucksmittel überzeugt. Meine Einflüsse sind nicht von Audiberti, den ich nicht kenne, oder Ionesco, von dem ich nur die ›Stühle‹ kenne und sehr schätze. Sondern Beckett, der mir gezeigt hat, wie weit man gehen kann, Ilse Aichinger, von der ich gelernt habe, wie man Dialoge schreiben kann, und Joyce, bei dem ich die sprachliche Assoziation gelernt habe, und last but not least, die Psychoanalyse.51
Die Auseinandersetzung mit dem absurden Theater erreicht ihren Höhepunkt in der Rede »Über das absurde Theater«, die Hildesheimer am 4.8.1960 auf der 10. Internationalen Theaterwoche der Studentenbühnen in Erlangen hielt, und wird fortgeführt und auf die Prosa ausgedehnt in den zwei Frankfurter Vorlesungen aus dem Jahr 1967, in denen Hildesheimer seine Überlegungen ›Über die Wirklichkeit des Absurden‹ und ›Über das absurde Ich‹ systematisch darlegt.52 Hildesheimers tiefe Verwurzelung in der Weltanschauung des Absurden hat entscheidende Konsequenzen für sein Verhältnis zur Wirklichkeit, wie es sich in ›Tynset‹ und ›Masante‹ manifestiert. Die fundamentale Differenz zwischen Hildesheimer und den bisher betrachteten Autoren sowie gegenüber Joyce besteht in Hildesheimers strikter Verweigerung, seine Romane auf einem in der außerliterarischen Realität verifizierbaren System von Koordinaten zu errichten. Tynset mag zwar (ebenso wie Masante oder Meona) im Atlas zu finden sein – die Straßen der Wilhelmstadtepisode größtenteils auf einem Stadtplan Hannovers – dennoch bleibt der Raum in ›Tynset‹ und ›Masante‹ unbestimmt, letzterer ist bezeichnenderweise schlicht ein Ort »am Rand einer Wüste« (M, S. 157). Ohne ihre enge Verflechtung mit dem Absurden – weniger als Modus literarischer Gestaltung denn als Ausdruck einer grundsätzlichen persönlichen Lebenshaltung – ist Hildesheimers Prosa kaum denkbar, in die auch der Einfluss von 48 49 50 51 52
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Ebd., S. 27f. Vgl. Hildesheimer: Ich werde nun schweigen, S. 34: »[M]ir schien das Absurde oder das Walten des Absurden eine Fortsetzung des Surrealismus zu sein.« Vgl. hierzu Hildesheimer: Empirische Betrachtungen zu meinem Theater, S. 27. Wolfgang Hildesheimer: An Gerhard Szczesny, Bayerischer Rundfunk [39]. [Poschiavo,] 5. Dezember [1957], in: ders.: Briefe, S. 73f. In der dritten Frankfurter Vorlesung über ›Das absurde Ich‹ entwickelt Hildesheimer seine Skizze einer Theorie der absurden Prosa an deutschsprachigen zeitgenössischen Autoren, die er allesamt sehr schätzt, nämlich Günter Eich, Ilse Aichinger, Peter Weiss und Reinhard Lettau. (Vgl. Hildesheimer: Frankfurter Poetik-Vorlesungen, S. 82–99.)
Becketts ›Romanen‹ maßgeblich hineinwirkt und mit Hildesheimers produktiver Joyce-Rezeption eine bemerkenswerte Symbiose eingeht. Ist Joyce für Hildesheimer der »bedeutendste Schriftsteller unseres Jahrhunderts«,53 so betrachtet er Beckett als den wahrscheinlich größten zeitgenössischen Dichter [Kursivierung von mir, M. J.], den die Strömungen und Tendenzen nicht berühren, sondern der sie, unwillentlich, schafft, indem er in die Bereiche des kaum noch Artikulierbaren vorstößt, in eine ganz und gar ihm vorbehaltene Region, von der aus er der Literatur unserer Tage Glanz und Würde verleiht.54
Hildesheimers Ich-Erzähler transportiert das Engagement des Autors für den Beweis der Wirklichkeit des Absurden. Als Schriftsteller-Erzähler ist er das Medium der Imaginationen und Reflexionen des Autors. Er erlebt nicht, er verarbeitet Geschichten: die ›eigene‹, die sich auf Hildesheimers lebens- und zeitgeschichtliche Erfahrungen stützt, und die Geschichte historischer, literarischer, mythologischer oder auch fiktiver Identifikationsfiguren.55
Die Funktionalisierung des Ich-Erzählers als Medium der absurden Weltsicht hat zur Folge, dass dieses Ich, ungeachtet der äußersten Subjektivität seiner Erinnerungen und Reflexionen, nicht als komplexe Figur mit individuellen Zügen greifbar wird: »Da das absurde Ich sich als exemplarisch, als allgemein erfährt, kann es in Hildesheimers Werken keine individuell gezeichnete Figur geben«.56 Vielmehr müssen seine Ich-Erzähler, die ja das Schweigen der Welt erleiden und die absurden Ersatzantworten registrieren bzw. durchspielen, exemplarisch und überindividuell sein, um vom Leser als Identifikationsangebot angenommen zu werden. Hildesheimer hat es sich – stärker noch als Arno Schmidt – Zeit seines Lebens leisten können, allein die Prosa zu übersetzen, die seiner Neigung entsprach, und die Übersetzertätigkeit nie als beschwerliche Brotarbeit betrachten müssen: »Empathie und Affinität sollten entscheiden, ob ich ein Buch übersetzte oder nicht, nicht aber Routine. So habe ich denn ›Nightwood‹ von Djuna Barnes und ein Kapitel ›Finnegans Wake‹ übersetzt, und als ich jung, sorglos und vermessen war, Kafkas ›Elf Söhne‹ ins Englische.«57 In den späten fünfziger Jahren wird
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Hildesheimer: Joyce-Symposion ‘84, S. 9. Wolfgang Hildesheimer: ›Samuel Beckett: »Auswahl in einem Band«‹ [1967], in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. VII, S. 317–320, hier S. 320. Ebd. Dücker: Wolfgang Hildesheimer und die deutsche Literatur des Absurden, S. 41. Wolfgang Hildesheimer: Der Autor als Übersetzer. Der übersetzte Autor [1985], in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. VII, S. 211–217, hier S. 215.
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Hildesheimer die Übersetzung von Djuna Barnes Roman ›Nightwood‹ aufgetragen, die 1959 bei Suhrkamp publiziert wird.58 Mit Djuna Barnes, zu der Hildesheimer in engem Briefkontakt steht, gerät Hildesheimer an eine amerikanische Schriftstellerin aus dem unmittelbaren Dunstkreis Joyce; als Barnes 1921 als Berichterstatterin für das Magazin ›McCall’s‹ nach Europa fuhr, lernte sie in Paris Joyce kennen und führte eines der wenigen Interviews mit Joyce, das in ›Vanity Fair‹ erschien. Diese Bekanntschaft beeinflusste sie nachhaltig; ›Nightwood‹ ist in seiner experimentellen, polyphonen sprachlichen Gestalt, in dem Bemühen um erzählerische Simultaneität eng an ›Finnegans Wake‹ angelehnt, so dass es kaum verwundert, dass die Arbeit an diesem Roman Hildesheimer immer wieder auch auf Joyce letztes großes Prosawerk zurückverwies: Es war auch eine ungeheuerliche Arbeit [›Nightwood‹ zu übersetzen]. Djuna Barnes ist schwierig zu übersetzen, sicher so schwer wie James Joyce in »Ulysses«, natürlich nicht wie in »Finnegan’s Wake« [sic], und es hat lange gedauert. Ich habe mir sehr große Mühe gegeben, habe eine lange Korrespondenz mit der damals noch lebenden Djuna Barnes gehabt; ich habe 53 Briefe von ihr, und das war insofern eine sehr ergiebige Arbeit, weil es nicht nur interessant war, mit Djuna Barnes zu korrespondieren und sie zu übersetzen, sondern weil mich dieses Buch doch sehr stark beeinflußt hat. Meine Maxine in »Masante« wäre nicht denkbar gewesen ohne den Doktor in »Nightwood«. Also, sie gehört zu den wenigen Einflüssen, die ich nennen kann.59
Hildesheimer schätzte die Sprachgewalt des Romans, die er mit einem Hinweis auf den »geschulten« Leser in eine Traditionslinie einzuordnen weiß: »Die Sprache, ihre Metaphorik und Metonymie, diese von Gleichnissen trächtige Suada, […] bereiten dem fortgeschrittenen, etwa an Joyce oder auch nur an Arno Schmidt geschulten Leser keinerlei Schwierigkeiten.«60 Wäre Hildesheimer zu diesem Zeitpunkt nicht ohnedies bereits ein exzellenter Kenner von ›Finnegans Wake‹ gewesen, wäre die intensive Übersetzerarbeit an Barnes Roman Anlass genug, einen nachhaltigen vermittelten Einfluss Joyce auf Hildesheimer zu konstatieren.
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1960 lobt Wolfgang Koeppen in der ›Zeit‹ Hildesheimers Übersetzungsleistung und dessen eigene Sprachgewalt: »Die Nachschöpfung von Wolfgang Hildesheimer ist meisterlich. Alles Schillernde, das Phosphoreszierende, der brüchige und berauschende Klang des Urtextes, das bewundernswerte Kunstwerk der Sprache ist erhalten geblieben.« (Wolfgang Koeppen: Kaum gelesen, gepriesen und verdammt, in: GW, Bd. VI, S. 335–338, hier S. 335.) Hildesheimer: Ich werde nun schweigen, S. 83. Hans Dieter Zimmermann nennt treffend das Triumvirat der maßgeblichen Einflüsse Hildesheimers in einem Atemzug: »Djuna Barnes’ Nightwood von 1936 hat er übersetzt, es hat ihn beeinflußt wie wenig anderes. (James Joyce, natürlich, und dessen Sekretär Samuel Beckett, der ein Endspiel schrieb.)« (Das Ende der Literatur und das Ende der Welt. Zu Wolfgang Hildesheimers Absage an die Literatur, in: Poetik, S. 67–80, hier S. 71.) Hildesheimer: ›Nachwort zu Djuna Barnes: »Nachtgewächs«‹, S. 356.
Hildesheimers Romane ›Tynset‹ (1965) und ›Masante‹ (1973), die im Zentrum der folgenden Analyse stehen sollen, sind dem ›Ulysses‹ eng verbunden. Die monologische Vermittlung des Romans ›Tynset‹ durch ein assoziativ reflektierendes Ich, die Lyrisierung der Gedanken, die Verdichtung von Zeit im Erzählstrom des schlaflos im Bett liegenden Ich in einer einzigen Nacht schöpfen in formaler Hinsicht besonders aus der ›Penelope‹-Episode, sind jedoch auch anderen strukturellen und motivischen Elementen des ›Ulysses‹ verpflichtet. Bezeichnenderweise setzt nun gerade zwischen den großen Prosamonologen ›Tynset‹ und ›Masante‹ eine erneute intensive Hinwendung Hildesheimers zu James Joyce ein, die ihren Niederschlag in einer Radiosendung im 3. Programm des NDR/SFB im Rahmen einer Reihe zu ›Finnegans Wake‹ findet und den Titel trägt: ›Übersetzung & Interpretation einer Passage aus ›Finnegans Wake‹ von James Joyce‹ (1967). Mit ›Masante‹, das nach über siebenjähriger Arbeit erschien und durch die Übernahme der Erzählerfigur von ›Tynset‹ sowie zahlreicher Motive (trotz einiger formaler und situativer Differenzen, auf die noch einzugehen sein wird) als »Fortsetzung« von ›Tynset‹ gelesen werden kann, erreicht die »monologische Phase« Hildesheimers einen Abschluss, der endgültiger kaum sein könnte: Das zentrale Ich, Quelle und Medium der Assoziationen, geht am Ende von ›Masante‹ in der Wüste verloren. Der Vortrag ›The End of Fiction‹, den Hildesheimer 1975 in drei Universitäten Irlands hielt, dokumentiert eindrücklich, dass Hildesheimer nicht nur seinen IchErzähler, sondern zugleich auch den Roman aufgegeben hat. Sein Rückzug aus der Literatur ist dabei keineswegs so drastisch, wie es der apodiktische Ton von ›The End of Fiction‹ suggerieren mag, sondern vollzieht sich eher schrittweise – über die biographische bzw. pseudobiographische Prosa (›Mozart‹ und ›Marbot‹), vereinzelte letzte Theaterstücke und Hörspiele, bis hin zu einigen Reden und Essays. Hildesheimers Rückzug führt ihn also auf die erklärtermaßen »lebenswichtigen« Dinge zurück, zur bildenden Kunst und zu Joyce: Ausgerechnet nach seinem »Verstummen« als Schriftsteller schließt sich eine erneute Phase intensiver essayistischer Auseinandersetzung mit James Joyce ›Ulysses‹ und ›Finnegans Wake‹ an. Im Jahr 1984 wird Hildesheimer schließlich die ehrenvolle Aufgabe übertragen, die Bloomsday Dinner Speech zu halten. Als Thema seines Vortrags, in dem er die jüdische Identität einer der drei Hauptfiguren des ›Ulysses‹ sorgfältig und kenntnisreich herausarbeitet, wählt Hildesheimer ›The Jewishness of Mr. Bloom‹. In einem ›taz‹-Interview anlässlich des Symposions äußert sich Hildesheimer zum letzten Mal öffentlich zu James Joyce – im selben Jahr, in dem er in dem Aufsehen erregenden Interview ›Der Mensch wird die Erde verlassen‹ seinen Rückzug aus der Literatur bekräftigt.
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Hildesheimers publizistische Auseinandersetzung mit James Joyce
Hildesheimers publizistische Beschäftigung mit Joyce verdichtet sich in insgesamt vier Prosatexten: ›Über James Joyce‹, einem kürzeren Zeitungsartikel, der 1946 in der englischsprachigen Zeitung ›Radio Week‹ des Public Information Office in Jerusalem erschien;61 dem Vortrag ›Übersetzung und Interpretation einer Passage aus »Finnegans Wake« von James Joyce‹, dem Manuskript einer Radiosendung von NDR/SFB, 1967, der hier als Exkurs in das Analysekorpus aufgenommen werden soll;62 dem Aufsatz über ›James Joyce: ›Ulysses‹‹, der – parallel zum Erscheinen der Frankfurter Joyce-Werkausgabe – am 9. Februar 1979 in der ›Zeit‹-Reihe ›100 Bücher‹ veröffentlicht wurde, sowie zuletzt der Bloomsday Dinner Speech, die Hildesheimer 1984 auf dem Joyce-Symposion in Frankfurt vortrug: ›The Jewishness of Mr. Bloom. Das Jüdische an Mr. Bloom‹. 5.3.1
›Über James Joyce‹ (1946)
Der dem Aufsatz zugrunde liegende Impuls ist eine Annäherung an Joyce Gesamtwerk und eine Vermittlung des schwer zugänglichen ›Finnegans Wake‹. Dennoch liegt der inhaltliche Schwerpunkt dieses Aufsatzes eindeutig auf dem ›Ulysses‹, wenngleich Hildesheimer den Roman als weniger komplex und als »lighter reading« einschätzt. Hildesheimer beweist in diesem pointierten Aufsatz, der bei aller Kürze von einer intensiven gedanklichen Durchdringung des Joyceschen Œuvre zeugt, dass er bereits zu diesem frühen Zeitpunkt (1946) mit dem gesamten Werk des Iren hinlänglich vertraut war. Hildesheimer versucht, die Berührungsängste mit Joyce abzubauen und geläufige Vorurteile zu zerstreuen: Until this day he [Joyce] is regarded by the general public as an eccentric outsider who defied all tradition by inventing his own vocabulary and dispensing with the declarative sentence, in short: by constructing his own language. Even the less lazy-minded, the readers of intelligent fiction shy away from the mental effort of deciphering his last and most difficult book: »Finnegans Wake«.63
Schon früh würdigt Hildesheimer Joyce als einzigartiges Phänomen der modernen Literatur und führt dies auf Joyce Genius sowie auf die Konsequenz seiner schriftstellerischen Entwicklung zurück: »His position in twentieth century lite-
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Wolfgang Hildesheimer: ›Über James Joyce‹, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. VII, S. 273–275. Hildesheimer: Übersetzung und Interpretation einer Passage aus »Finnegans Wake« von James Joyce, S. 5–29. Ebd., S. 273.
rature is unique. […] The constant progress of Joyce’s strong individuality and the gradual and logical development of his personal genius are without example in the history of fiction.«64 Hildesheimers Lob schließt Joyce Frühwerk jedoch nicht mit ein; die Gedichtbände (›Chamber Music‹, ›Pomes Penyeach‹) und das Drama ›Exiles‹ finden in seinen Augen keine Gnade, werden von ihm als konventionell, naiv und epigonal gebrandmarkt: »His two early collections of poetry, naïve and conventional, have nothing of the richness of language, which is one of the outstanding factors in his novels. His early play ›Exiles‹ is a weak effort in the Ibsen manner.«65 Der Joyce, den er schätzt, ist der Erzähler, dessen richtungweisendes Werk mit den ›Dubliners‹ beginnt: In his collection of short stories »Dubliners« he develops his style as a creator of atmosphere. […] They are glimpses into the life of Dublin middleclass characters, outstanding through their psychological insight and their unfailing analysis of their characters’ emotional experiences.66
Hildesheimer erkennt die Verflechtung der Werke Joyce untereinander, die Metamorphose Stephen Dedalus, der aus ›A Portrait of the Artist as a Young Man‹ in den ›Ulysses‹ übernommen wird und später in der Stimmenvielfalt von ›Finnegans Wake‹ aufgeht; der Verfasser leitet daraus rezeptionsästhetische Folgerungen ab: »Portrait of the Artist as a Young Man« deals with much the same milieu out of which grows the hero, Stephen Dedalus (Joyce himself), whom we meet again in »Ulysses« and – under many different names and pretexts – in »Finnegans Wake«. (It is therefore important that we should read these books in their chronological order. Also we will find that once having mastered »Finnegans Wake« we can turn to »Ulysses«, for lighter reading.)67
Auch der Leser der monologischen Werke Hildesheimers (in dessen Fall übrigens ebenfalls zu einer chronologischen Lektüre zu raten ist!) findet einen Ich-Erzähler vor, der – wenngleich nicht in der präzisen psychologischen und biographischen Ausgestaltung eines Stephen Dedalus – in unterschiedlichen aufeinander folgenden Werken als identisch angenommen werden kann, zwar nicht »Hildesheimer himself« ist, aber doch deutlich autobiographische Züge trägt. Eine längere Passage widmet Hildesheimer allein dem stream of consciousness-Verfahren im ›Ulysses‹, das er als Fortschreibung einer Methode des Surrealismus verstanden wissen will; Joyce gehe nun darüber hinaus, indem er sich nicht in seine eigene Psyche versenke, sondern vermittels Identifikation die sei64 65 66 67
Ebd. Ebd. Ebd., S. 273f. Ebd.
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ner Charaktere auslote – und zwar in einer Tiefe und Intensität, die die Sinnlichkeit des Werkes prägt: It is in »Ulysses« that Joyce introduces his »stream of consciousness« method, i. e. the exact and automatic recording of the working and reaction of the mind. This has been called Surrealism and so it is if we use our own subconscious and put it down without moral or aesthetic censorship. But if it is – as in Joyce’s case – used for the workings of the minds of others an intellectual effort is needed by far more complex than in the writing of an ordinary descriptive novel. In »Ulysses« it is therefore no longer the author describing and analysing events but the characters experiencing them end reacting. Joyce identifies himself with these characters and sees the world through their eyes. More than that. He smells the world with their noses and the smell is sometimes more true than pleasant. Yet, nothing which has ever been written could be more moving than Molly’s daydream at the end of the book or more ingenious and superbly fantastic than the scene in the brothel, one long dramatised nightmare.68
Bezeichnenderweise ist es neben der ›Sirens‹-Episode auch das ›Penelope‹-Kapitel, das Hildesheimer als besonders bewegend heraushebt. Inwiefern der Innere Monolog der Molly Bloom Hildesheimers monologische Prosa formal beeinflusst haben könnte, soll in Kap. 5.4.1 diskutiert werden. Hildesheimers Überprüfung der Gegenwartsliteratur hinsichtlich des Erbes von James Joyce fällt negativ aus, da kein Schriftsteller es bisher unternommen habe, die formalen Experimente des Iren fortzuschreiben oder sie auch nur zu adaptieren. Vielmehr stelle sich die Nachkriegsliteratur im Vergleich als konventionell, wenn nicht gar anachronistisch dar. Hildesheimers Fazit scheint durchdrungen vom Zweifel, dass Joyce überhaupt »Schule machend« gewirkt haben könnte, da sein Genius ein zutiefst individueller sei69 – wobei selbstverständlich höchst fraglich ist, inwiefern eine derart auf das ›Enigmatische‹ zielende Erläuterung nicht der Frage nach der Wirkung Joyce ausweicht und die literarische Nachkriegssituation verschleiert, anstatt sie zu durchleuchten: The war has created a new romanticism and a new vocabulary. The few good contemporary writers have only slightly deviated from the path of convention. We judge them in relation to each other. Joyce has not created a new school. His achievement is the result of personal greatness and has – as far as we know now – died with him. But his work will be remembered for a long time to come.70 68 69
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Ebd., S. 274. Die Überzeugung, dass der wahre künstlerische Genius jeder Nachahmung spotte, ist ein Gedanke, der sich später bes. auch in Hildesheimers biographischen Arbeiten zu Mozart – in denen er versucht, »dem Geheimnis des Kreativen, vor allem des Überbegabten auf die Spur zu kommen« – in vielfacher Wiederholung und Variation finden lässt. (Wolfgang Hildesheimer: Die Subjektivität des Biographen [1981], in: ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden, hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle, Bd. III: Biographische Prosa. Mozart, Frankfurt a.M. 1991, S. 463–475, hier S. 466.) Hildesheimer: ›Über James Joyce‹, S. 275.
5.3.2 ›Übersetzung und Interpretation einer Passage aus »Finnegans Wake« von James Joyce‹ (1967) und Anmerkungen zu Hildesheimers Kritik an Arno Schmidts ›Wake‹-Interpretation Hildesheimers Radiobeitrag ›Übersetzung und Interpretation einer Passage aus »Finnegans Wake« von James Joyce‹, der 1967 im 3. Programm des Norddeutschen Rundfunks und des Senders Freies Berlin im Rahmen einer Reihe über ›Finnegans Wake‹ gesendet, für die Druckfassung 1969 überarbeitet und geringfügig erweitert wurde, ist vom Verfasser in vier Kapitel unterteilt. Zunächst lässt Hildesheimer den »Originaltext«, den Beginn des ›Anna Livia Plurabelle‹-Kapitels selbst sprechen; auf diesen folgen »Allgemeine Erläuterungen« zum Stellenwert des ›Anna Livia‹-Kapitels, zur Publikation, zu den formalen und sprachlichen Besonderheiten des Gesamttextes, zur vielgestaltigen ›Hauptfigur‹ HCE; daran schließt sich zunächst ein Interpretationsversuch, an diesen zuletzt die Übersetzung an. Diese Progression ist bezeichnend und lässt in ihrer Systematik Rückschlüsse auf Hildesheimers Annäherung an den Text sowie auf seine Übersetzertätigkeit zu. Wenn er zu Beginn die Frage stellt, »Wie sind die sechsundfünfzig Zeilen (der Originalausgabe) zu lesen, und was muß man wissen, um ihren Sinn zu verstehen und – was hier mit dem Verständnis identisch ist – den Klang des Wort-Lautes zu genießen?«,71 so fordert er vom Publikum den Nachvollzug seiner Arbeit als Übersetzer, der sich zunächst ein tief greifendes Verständnis des Gesamttextes erarbeiten muss, bevor er den Stellenwert der zu übersetzenden Episode ermessen und diese im Gesamtkontext angemessen interpretieren kann – zunächst in abstrakter Evaluation, dann in sprachlicher Nachschöpfung. Die Parenthese birgt eine Mahnung des Übersetzers an sein Publikum, der Besonderheit des Textes Rechnung zu tragen, indem die lautlichen Ausdrucksqualitäten, Euphonie und Rhythmus, oberste Priorität erhalten. Hildesheimer eröffnet seinen Vortrag mit der für ihn charakteristischen captatio benevolentiae: einem Hinweis auf seine Subjektivität und Unwissenschaftlichkeit. Dieser Verzicht auf die Autorität des Übersetzers oder Schriftstellers, gleichbedeutend mit dem Rückzug auf die Position des Lesers, dienen ihm als Legitimation seiner unverhohlenen Bewunderung für das besprochene Werk. »Finnegans Wake« ist heute Gegenstand vielfacher wissenschaftlicher Interpretation. Aber meine Einstellung zu dem Werk ist streng unwissenschaftlich, sie ist die des bewundernden Lesers, eines Lesers allerdings, der zur Zeit der ersten Lektüre, vor etwa 25 Jahren, im Englischen besser zuhause war als im Deutschen.72
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Hildesheimer: Übersetzung und Interpretation einer Passage aus »Finnegans Wake« von James Joyce, S. 340. Ebd., S. 347.
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›Finnegans Wake‹ gleiche ›Ulysses‹ darin, dass es aufgrund seiner stilistischen Vielfalt eine andere Einstellung des Lesers erfordere, reiche jedoch in seinem Anspruch weit über den vorangegangenen Roman hinaus, indem es – unbescheiden – »d e [n] Kosmos« zum Gegenstand der Darstellung wähle, was der immensen Dichte und der enzyklopädischen Fülle des Werkes keine stofflichen Grenzen setzt: Vielschichtigkeit anstatt einer Fabel, ein Born an Sagen und Märchen, ein mythologisches Kompendium, eine historische Allegorie auf Giambattista Vicos Geschichtsphilosophie – und gleichzeitig ein Beispiel ihrer Anwendung – und, darüber hinaus, eine polyglotte Enzyklopädie an Wortspielen, die auch den Kalauer nicht verschmäht.73
Wiederum nähert sich Hildesheimer dem Text von der Warte des Lesers, der den Roman zunächst als unverständlich und unzugänglich empfindet, da er sich mit einem völligen novum konfrontiert sieht, einer »unübertroffene[n] Erfindung literarischer Kommunikation«,74 die insofern mit traditionellen Maximen literarischer Kommunikation bricht, als hier Stoff und Form nicht nur einander bedingen, sondern untrennbar sind. Gleiches gilt für Bezeichnendes und Bezeichnetes, für semantischen Gehalt und lautliche Gestalt auf der sprachliche Ebene: Gewiß kann man nicht behaupten, daß dieser Text unmittelbar einleuchte. Die Form ist obskur und enthüllt daher den Stoff zunächst nicht, so scheint es. In Wirklichkeit sind aber in diesem Werk Stoff und Form gleichbedeutend. Das eine ist ohne das andere unverständlich und unerklärbar, Laut und Inhalt sind nicht voneinander zu trennen. In anderen Worten: was dieses Buch zu sagen hat, sagt es in der einzig möglichen Form, nämlich indem das Wort seinen Gegenstand nicht bezeichnet, sondern indem es ihn – selbst erst entstehend – schafft. Sprache und Gegenstand, der Laut und sein Sinn sind identisch, gleichzeitig abstrakte Inventionen der Sprache und Bezeichnung konkreter Elemente des Lebens oder der Vorstellung; außerhalb der Sprache ist hier kein Inhalt.75
Hildesheimer findet hier seine eigene Maxime, dass Kunst Wirklichkeit schaffen müsse, insofern radikalisiert vor, als Joyce die Wirklichkeit von ›Finnegans Wake‹ (wobei es sich freilich nicht um »Geschehen« im hergebrachten Sinne handelt) allein aus seinem Sprachmaterial suggestiv entstehen lässt. Zudem ist ›Finnegans Wake‹ ein Affront gegen die Lesegewohnheiten, da hier keine individuellen Sprecher erkennbar werden, selbst unbelebte Dinge, Orte und Flüsse zur Sprache finden, Stimmen und Identitäten ineinander fließen, was auch die Frage nach einem Erzähler hinfällig macht. Es erhebt sich also die Frage, wer hier eigentlich spricht, eine Frage, die sich am Ende des Buches erschöpfend beantwortet haben wird: niemand spricht. Ein Mythos artiku-
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Ebd., S. 340. Ebd. Ebd.
liert sich selbst, in der für ihn einzig möglichen Lautsprache, er läßt sich selbst entstehen und wischt sich, unaufhörlich sprechend, tönend, singend, fließend, niemals aber erzählend, wieder weg. Zum Schluß bleibt er als ein vergangenes, nicht mehr wegzudenkendes Erlebnis im Bewußtsein des Lesers oder Hörers, Traum und Alpdruck eines zyklischen Ablaufs, und bereit, sofort wieder von vorn zu beginnen.76
›Finnegans Wake‹ ist die Herausforderung schlechthin für einen Übersetzer. Dies erhellt bereits die Tatsache, dass der Suhrkamp-Band ›Finnegans Wake. Deutsch‹ 20 verschiedene Passagen von unterschiedlichen Übersetzern und Übersetzerkollektiven, mithin eine beachtliche Riege prominentester Joyce-Kenner und Übersetzer versammelt.77 Der Untertitel ›Gesammelte Annäherungen‹ reflektiert jedoch die Einsicht, die auch Wolfgang Hildesheimer in seinem Essay mit Nachdruck ausspricht: »Trotz wagemutiger Experimente in vielen Sprachen, ist und bleibt ›Finnegans Wake‹ unübersetzbar.«78 Hildesheimer empfand nun gerade diese ›Unübersetzbarkeit‹ des Textes als besonderen Reiz, wie er im Gespräch mit Dierk Rodewald zugibt: Daß Nightwood an der Grenze des Übersetzbaren schien, das hat mich gereizt, und bei Joyce war es ähnlich: es war mein Ehrgeiz angestachelt, etwas zu vermitteln, von dem alle behaupten, daß es nicht zu vermitteln ist. Ich kann nicht sagen, daß ich es allein vermittelt habe, möchte aber sagen, daß Wollschlägers und mein Text zusammen sehr viel von der Art des Anna Livia-Kapitels vermitteln.79
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Ebd., S. 341f. James Joyce: Finnegans Wake. Deutsch. Gesammelte Annäherungen, hg. v. Klaus Reichert und Fritz Senn, Frankfurt a.M. 1989 (edition suhrkamp 1524, NF 524). Vermutlich geht dieser Sammelband auf eine Anregung Wolfgang Hildesheimers zurück, denn dieser erinnert sich in einem Interview 1984: »Ich – oder war es Klaus Reichert – habe mal vorgeschlagen, ›Deutsche Schriftsteller übersetzen ›Finnegans Wake‹‹ und dann verschiedene Versuche in einem Buch zusammenzufassen und ich bin sicher, daß K. R., der es auf jeden Fall herausgeben würde, auch so etwas vorhat; ich selbst habe mich mal mit dem Gedanken getragen, das nächste Kapitel, ›Shem the penmen‹ zu übersetzen, aber es scheiterte an einigen unübersetzbaren, auch als Äquivalent nicht wiedergebbaren Passagen.« (Hildesheimer: Joyce-Symposion ‘84, S. 9.) 1969 beauftragte der Suhrkamp-Verlag Wolfgang Hildesheimer und Hans Wollschläger unabhängig voneinander mit einer Übertragung der ›Anna Livia Plurabelle‹-Episode. Die vollständige Übersetzung des Kapitels erschien 1970 in James Joyce: Anna Livia Plurabelle, Frankfurt a.M. 1970 (Bibliothek Suhrkamp 253), S. 65–97 sowie als Band 4.2 der Werkausgabe in James Joyce: Werke. Frankfurter Ausgabe, Redaktion Klaus Reichert unter Mitwirkung von Fritz Senn, Bd. 4.2: Gesammelte Gedichte, Englisch und deutsch. Übersetzt von Hans Wollschläger. Anna Livia Plurabelle. Englisch und deutsch. Übersetzt von Wolfgang Hildesheimer und Hans Wollschläger, Frankfurt a.M. 1981. Hildesheimer: Übersetzung und Interpretation einer Passage aus »Finnegans Wake« von James Joyce, S. 345f. Hildesheimer: Wolfgang Hildesheimer im Gespräch mit Dierk Rodewald, S. 160.
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Hildesheimers Anmerkung zu seinen eigenen ›Annäherungen‹ kann daher nicht bloß als ›understatement‹ oder Bescheidenheitspose im Sinne einer Verneigung vor der Unnachahmlichkeit des Originals aufgefasst, sondern muss durchaus wörtlich genommen werden: Was hier also als deutsche Version angeboten wird, ist demnach nicht mehr als eine Paraphrase. Bestenfalls kommt sie dem Originaltext streckenweise nah, vielleicht beleuchtet sie auch Methode, Technik und Konstruktion. Niemals kann sie aber das originale Idiom wiedergeben, seine verblüffende und zwingende Genauigkeit, seine Schönheit. In gewissem Sinne handelt es sich also um eine Demonstration der Unübersetzbarkeit. Als solche sollte sie überzeugen.80
Immer wieder bemüht Hildesheimer die Analogie der Musik (mit Begriffen wie »Partitur«, »Stimmen«, »Konsonanz«, »Continuo«, »Rhythmus« etc.), um die kompositorischen Besonderheiten von ›Finnegans Wake‹ schärfer zu beleuchten. »Finnegans Wake« ist […] das Gegenteil einer Partitur, etwas, was zwar in der Sprache, nicht aber in der Musik zu verwirklichen ist. Eine Partitur bezeichnet eine Vielzahl verschieden getönter Stimmen, die dem Hörer, zwar mehr oder minder homogen, auf jeden Fall aber in einer bestimmten Konsonanz zu erklingen haben. Hier ist es umgekehrt: die Vielzahl der parallel laufenden Stimmen – Sagen und Aussagen, Mythen und Märchen, darunter, als Continuo, das Rauschen, das Plappern, Summen – all dies ist einzeilig in einer einzigen Stimme eingefangen, die unaufhörlich Mehrschichtiges zu artikulieren und Mehrdeutiges zu formulieren hat. Daraus ergibt sich, daß der Leser oder Hörer nicht wie bei landläufiger und immer noch gängiger deskriptiver – und dementsprechend auch übersetzbarer Literatur einem Vorgang folgt, sondern der Suggestion mehrerer verschieden gearteter aber simultan ablaufender Systeme erliegt und somit – gewissermaßen als bezauberter Mitvollziehender – an dem Geschehen beteiligt ist, das der Gegenstand des Buches ist.81
In seinem Interpretationsversuch der Passage aus dem ›Anna Livia Plurabelle‹Kapitel wendet Hildesheimer diese musikalischen Analogien auf den gewählten Ausschnitt an: »Betrachten wir ihn so, als entfächere hier die einzige Stimme eine vielstimmige Partitur, deren zuunterstliegendes System der Generalbaß ist.«82 Hildesheimer ›seziert‹ die Textpassage zunächst in eine »tragende Stimme«,83 eine »zweite Stimme«84 sowie eine »weitere Simultanstimme, die aber, musikalisch gesehen, keine durchgehende Parallel-Linie darstellt, sondern wie der Körper der Schlaginstrumente im Orchester, in plötzlichem crescendo ertönt und nur sporadisch das Schema erweitert«,85 sowie eine vierte Stimme, die »Alltags80 81 82 83 84 85
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Hildesheimer: Übersetzung und Interpretation einer Passage aus »Finnegans Wake« von James Joyce, S. 347. Ebd., S. 342. Ebd., S. 347. Ebd., S. 348. Ebd. Ebd., S. 349.
sprache« parodiert und »sie ins Komische, Pathetische, ins Vulgäre und Obszöne« abwandelt.86 Sein Verfahren ist also ein zweischrittiges: Zunächst wird die Polyphonie in ihre Bestandteile aufgelöst, werden die Aussagen der einzelnen Stimmen (wobei natürlich fraglich ist, inwiefern es diese Einzelstimmen tatsächlich gibt) isoliert, bevor Hildesheimer sie gegeneinander stellt, wertet und eine eigene (Stimmen-)Hierarchie festlegt, um sie erneut zu einem linearen System, einer deutschsprachigen Partitur, zu synthetisieren. Gerade in der Anlehnung an die musikwissenschaftliche Analyse liegt der Reiz, der Wolfgang Hildesheimers ›Finnegans Wake‹-Interpretation innewohnt und sein tiefes Verständnis des Textes eindrucksvoll beweist. Zugleich macht er das musiktheoretische Instrumentarium für die Arbeit des Übersetzers fruchtbar, der seine Entscheidungen von rhythmischen und euphonischen Prinzipien abhängig machen muss: »Die Partitur-Systeme, die sich in dieser Stimme vereinen, sind gleichwertig, aber in der Übersetzung nicht alle vereinbar. Es hängt vom Übersetzer ab, welchem Sinn er jeweils den Vorzug geben [will] und welcher Klang in seinen Rhythmus paßt.«87 Das Handwerkszeug der Musik ist insofern angemessen, als ›Finnegans Wake‹ auf einem Grenzgebiet zwischen Musik und Literatur anzusiedeln ist. Mit dieser Einsicht wird Hildesheimer dem Text in sehr viel höherem Maße gerecht, als Arno Schmidt, der den Text als Artikulation des Unterbewussten des Verfassers sieht, ihn mit seiner Etymtheorie zugleich auf das Feld der Literatur zurückdrängt und seine komplexen Kommunikationsmechanismen durch ihre Rückführung auf unbewusste psychologische Vorgänge eher verschleiert als erklärt. 1970 bedankt sich Hildesheimer bei Alfred Andersch für eine Rezension von Arno Schmidts Essay-Band ›Der Triton mit dem Sonnenschirm‹,88 über die er eine andere Meinung hat als Schmidts Freund, die er diesem gegenüber auch unverblümt zum Ausdruck bringt: »Ich konnte [die Rezension] aber beim besten Willen nicht so positiv lesen, wie Du sie gelesen hast. Die Bilanz, daß ›trotzdem‹ Arno Schmidt eine außerordentliche Figur in der deutschen Literatur ist – wer wollte es leugnen? Aber als Literaturkritiker bleibt da doch nicht allzuviel von ihm übrig.«89 Hildesheimer, der hier, entgegen der gewöhnlichen Besonnenheit in seiner Korrespondenz, unvermittelt heftig und polemisch auftritt, bemüht sich zunächst um Differenziertheit, indem er eingesteht, Schmidts Kompetenz hinsichtlich Cooper und Poe nicht einschätzen zu können. Schmidts
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Ebd. Ebd., S. 344. Die englischsprachige Rezension (aus der Hildesheimer in dem Brief zitiert) erschien am 18. Dezember 1969 in ›The Times Literary Supplement‹. Wolfgang Hildesheimer: An Alfred Andersch [109]. [Poschiavo, Anfang 1970], in: ders.: Briefe, S. 165–168, hier S. 165.
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»Achilles Heel« – und darauf versteht sich Hildesheimer – sei jedoch »die Kritik an Finnegans Wake«: Gorman, Campbell und Robinson abzukanzeln [d.h. Gormans ›James Joyce‹ und Campbell/Robinsons ›A Skeleton Key to Finnegans Wake‹], dazu gehört heute wahrhaftig nicht mehr viel, damit rennt man offene Türen ein. Aber daß er, Schmidt, uns nicht den geringsten Begriff ›of perceiving the Lyricism, the music, in fact, the very art‹ geben kann – hier wird es ausgesprochen. Immerhin, hier steht es schwarz auf weiß, was Dir jeder Joyceleser – ich sage: L e s e r – bestätigen wird: ›our suspicion that Schmidt has no real feeling for Joyce hardens into a certainty.‹ Und dieses Gefühl ist bei den wenigen deutschen Joycekennern schon längst erhärtet. Aber in Wirklichkeit geht es natürlich um mehr: er hat Joyce überhaupt nicht verstanden.90
Hildesheimers hartes Urteil gründet sich nun gerade auf seiner Einsicht, dass Form und Inhalt in ›Finnegans Wake‹ niemals getrennt betrachtet werden dürfen – ein Fehler, dem Schmidt mit seiner biographischen (ebenso wie der alternativen ›mystischen‹) Lesart aufgesessen ist, mit der er das vielstimmige Werk auf eine eindimensionale ›Bedeutung‹ reduziert: Schmidt meint, man müsse sich für eine der beiden Lesarten entscheiden, das ›mystische‹ Modell, (wobei Schmidts Begriff des Mystischen, gelinde gesagt, völlig unwissenschaftlich ist) oder das ›biographische‹. Daß es mindestens drei, maximal aber sechs Stimmen in dieser Partitur gibt, und daß es eben das Wesen und die Größe des Buches ausmacht, daß diese ›Stimmen‹ übereinanderkopiert sind, das scheint Schmidt nicht begreifen zu wollen: (›his (Schmidts) dualism, his strange dissociation (!) of form from content, leads him to see Joyce entirely in terms of meaning…‹)91
Hildesheimer kennt offensichtlich Schmidts Übersetzungsversuch des ›Anna Livia Plurabelle‹-Kapitels noch nicht, in dem dieser ungeachtet seiner drastischen Fehlinterpretation des Romans unter Beweis stellt, dass er das sprachschöpferische Potential des Textes durchaus erfasst – und Hildesheimers Mutmaßung als haltlos erweist: Kann er eigentlich englisch? Ich meine natürlich, genug Englisch. / Wie Du weißt, erscheint die Anna Livia im Sommer auf Deutsch, nicht nur in meiner ›vertikalen‹ Nachdichtung (Nachdichtung meine ich nicht pathetisch, aber man muß manchmal anstatt wörtlich zu übersetzen, Äquivalente finden) sondern dazu in einer Übersetzung von Wollschläger, wobei ich sehr hoffe, daß er ›horizontal‹, also ›entzerrend‹ übersetzt 90
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Ebd., S. 165f. Aus diesem Brief geht auch hervor, dass Hildesheimer ursprünglich für die Übersetzung von Stanislaus Joyce ›My Brother’s Keeper‹ vorgeschlagen war, bevor die Aufgabe (auf Betreiben Hildesheimers) an Schmidt weitergereicht wurde. Hildesheimer nimmt dies zum Anlass für ein ironisches Eingeständnis seiner ›Mitschuld‹ an Schmidts Fehlleistung: »Ich fühle mich natürlich auch ein wenig schuldig. Ich sollte damals ›Meines Bruders Hüter‹ übersetzen, hatte aber keine Lust und habe Schmidt, von dessen Irrungen ich nichts wußte, vorgeschlagen. Da hat er es vielleicht zu ausführlich gelesen« (ebd., S. 166). Ebd.
hat; er ist ja Schmidtschüler, hat sich aber von Schmidts FW-Auffassung völlig distanziert. Ich weiß nicht, ob diese Kombination diesen Text völlig vermitteln kann, halte es aber nicht für ausgeschlossen. Jedenfalls aber verhält sich der Originaltext zu Schmidts Vulgärsynopsis wie der Tristan zu einer Inhaltsangabe des Troubadour.92
Schmidts Englischkenntnisse waren vermutlich nicht so erschöpfend wie die Wolfgang Hildesheimers, der ja annähernd muttersprachliche Kompetenzen des Englischen besaß, dennoch beweist Arno Schmidts Übersetzung dessen Sprachgefühl gepaart mit einem akribischen Arbeitsaufwand und wiegt sein Missverständnis des Textes ebenso wie die von Hildesheimer mit bitterem Spott bedachte ›Finnegans Wake‹-›Zusammenfassung‹ durch seine Übersetzungsleistung auf. (Wie so oft entschuldigt Schmidts beachtliche praktische Leistung auch hier die gewagte Theorie.) Hildesheimers Vorbehalte gegen Schmidts ›Wake‹Interpretation bleiben für lange Jahre bestehen und werden durch die Lektüre von ›Zettels Traum‹ noch bestärkt. Wiewohl er den schriftstellerischen Leistungen von Arno Schmidt im ›taz‹-Interview 1984 Respekt zollt und ihn selbst in die ›Ulysses‹-Nachfolge rückt, attestiert er auch Schmidts magnum opus ein tiefes Missverständnis. Die analytische formale Gestalt von ›Zettels Traum‹, das dreispaltige System, bilde geradezu eine Antithese gegenüber der synthetisierenden Tendenz von ›Finnegans Wake‹, die Mehrstimmigkeit quasi-simultan in einer ›Partitur‹ zusammenzuführen: Die Auflösung des Romans oder des ›Anti-Romans‹, der im ›Ulysses‹ enthalten ist, indem es nicht mehr aufgeteilt ist in Wichtiges, Handlungsförderndes und Handlungs-Nichtförderndes, sondern daß alles, das ganze Leben von drei Figuren bis ins Kleinste beschrieben wird, bis ins tiefste Unbewußte und gleichzeitig Aktion daneben, das kann es geben, das hat ja auch Arno Schmidt versucht. Nur, Arno Schmidt hat das Gegenteil getan: Arno Schmidt hat in seinem Buch ›Zettels Traum‹ nicht etwa die verschiedenen Stimmen von Menschen in ein einzeiliges Partitursystem hineingezwängt, sondern im Gegenteil, er hat entfieselt – und ›Zettels Traum‹ muß man in drei verschiedenen Spalten lesen, wobei in der Rezeption keine Simultaneität zu erzielen ist. Meiner Meinung nach handelt es sich dabei um ein Mißverständnis. Ich will nichts gegen Arno Schmidt sagen, aber das halte ich für ein völliges Mißverständnis. Arno Schmidt ist ein interessanter Autor, aber… einem Joyce kann er natürlich nicht das Wasser reichen.93
5.3.3
›James Joyce: ›Ulysses‹‹ (1979)
Nicht von ungefähr eröffnet Hildesheimer seinen Beitrag zur Reihe ›100 Bücher‹ in der ›Zeit‹, in dem er den ›Ulysses‹ dem breiten Lesepublikum vorstellt, mit
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Ebd. (Unterstreichungen im Original.) Hildesheimer: Joyce-Symposion ‘84, S. 9. Hildesheimer unterläuft hier allerdings der Fehler, nicht zwischen ›Ulysses‹ und ›Finnegans Wake‹ zu trennen, zumal seine Kritik auf letzteren Roman zielt.
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einem Zitat Joyce aus dessen Gespräch mit Djuna Barnes: »›Ein Schriftsteller‹, so hat Joyce einmal zu Djuna Barnes gesagt, ›sollte niemals über das Außergewöhnliche schreiben. Das ist recht für einen Journalisten.‹«94 Die Stichhaltigkeit dieses Ausspruchs überprüft und verwirft Hildesheimer an zahlreichen großen Romanen und Protagonisten der Literaturgeschichte von Don Quixote, über Gulliver, Ottilie und Heathcliff, bis hin zu Djuna Barnes Figuren in ›Nightwood‹ oder Oskar Matzerath, die allesamt »das Außergewöhnliche« erleiden. Allein die Anwendung dieses Diktums auf den ›Ulysses‹ selbst erbringt das Ergebnis, Joyce habe es sein Leben lang beherzigt. Keines seiner Werke behandelt das Außergewöhnliche. Sein Oeuvre besteht aus konsequent gesteigerten Variationen des Themas Leben, wie alltägliche Menschen es bei Tag und Nacht erfahren. Aber seine Alltage und Allnächte sind All-umfassende Abläufe, und die Gestalten, die sie durchwandeln und durchschlafen, sind in ihrer Alltäglichkeit exemplarisch. Sie sind nicht zuletzt wie wir selbst, und zwar nicht nur in den Verkörperungen unserer eigenen Tag- und Nachtträume, sondern auch in der einfühlenden und nachfühlenden Imagination eines großen Dichters.95
Wiederum skizziert Hildesheimer – zu diesem Zeitpunkt bereits mit der Übersetzung des ›Anna Livia Plurabelle‹-Kapitels beschäftigt, die drei Jahre später erscheinen sollte – die Eigentümlichkeiten des ›Ulysses‹ vor der Folie von ›Finnegans Wake‹ und gelangt wiederum zu der Einschätzung, Joyce ›Ulysses‹ sei »schmalschichtiger«, »leichter überblickbar« und gleichsam eine »Vorstufe« des »intrikate[n] Inkarnationsschema[s], das in ›Finnegans Wake‹ aus Stunden Zeitalter, aus Orten Erdteile und aus Menschen Archetypen macht.«96 Gewissermaßen als Handreichung an potentielle Leser präsentiert Hildesheimer Kurzcharakteristika der drei Protagonisten sowie einen pointierten Handlungsabriss und erläutert die Zeitstruktur, auf welche die Episoden der ›Odyssee‹ projiziert werden (»im realen Zeitlauf waltet höchste Klarheit: die an Glockenschlägen gezählten etwa achtzehn Stunden des Geschehens, die achtzehn Aktionsfelder des Protagonisten Leopold Bloom haben, in verschobener Sequenz, ihr Beispiel in den achtzehn Stationen des Odysseus«).97 Auch Hildesheimers Prosa weist diese temporale Verdichtung und Präzision auf, die sich – in ›Tynset‹ im wahrsten Sinne des Wortes – an Glockenschlägen nachvollziehen lässt. Die prinzipielle Offenheit der Bewusstseinsstenogramme für alle Arten von Gemütsregungen und Wahrnehmungen der Außenwelt stelle zwar eine Herausforderung für den Leser dar, leiste jedoch eine Charaktergestaltung, die in ihrer Unmittelbarkeit und Lebensfülle einzigartig sei. Die zeitliche Verdichtung bedeute nun nicht, 94 95 96 97
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Hildesheimer: James Joyce: »Ulysses«, S. 421. Ebd. Ebd. Ebd., S. 421f.
daß die Lektüre leicht sei. Sie ist es nicht. Denn die Seelen dieser drei Figuren reagieren ja nicht, wie im landläufigen Roman, gezielt auf eine fabelbedingte Verstrickung; sie spannen sich nicht einer immanenten Katharsis oder Katastrophe entgegen, sondern sind, trotz ihrer individuellen Probleme und Präokkupationen, immer offen, um alle positiven wie negativen Reize der Außenwelt aufzunehmen und zu verarbeiten. Ihre bewußten und unbewußten Reaktionen sind durchgehend voll »auskomponiert«. Dadurch gewinnen sie eine überwirkliche Präsenz. (Ulysses-Gegner nannten es Penetranz.) Kein noch so peripherer Gedanke, keine noch so flüchtige Erregung bleibt uns verborgen. (Gegner sagten: erspart.) […] wir hören die Stimmen, die sie selbst nicht hören, die ihres Unbewußten. In scheinbarer Inkohärenz enthüllt sich uns ihr subjektives Erleben, mosaikartig, bis ins Versteckteste. Eines erklärenden Kommentars bedarf es nicht. In der Tat, in diesem Buch wird nichts erklärt. Alle Gestalten, Haupt- und Nebenfiguren, die wechselnden Besatzungen der odysseischen Stationen definieren sich selbst: Während sie sprechen, spricht es aus ihnen, beredt und üppig. Es handelt sich weniger um Archetypen – denn ihre Mythenträchtigkeit ist angesichts dieser lebensvollen Präsenz von sekundärer Bedeutung – als um Prototypen und Phänotypen. Ihr Menschliches (in der apologetischen Sprache der Verdränger auch »AllzuMenschliches« genannt) steigert sich niemals zu Größe. Denn das wäre das Außergewöhnliche, etwas »für einen Journalisten«.98
›Showing‹, mithin das zentrale narrative Prinzip des ›Ulysses‹, dass Joyce seine Figuren selbst sprechen bzw. sich selbst darstellen lässt, ohne die Vermittlung durch eine konstante Erzählerfigur, fordert »den aktiven Leser«, wie Hildesheimer richtig erkennt. Denn ihm wird die Aufgabe gestellt, aus diesem Reichtum der Instrumentation die tragenden Stimmen herauszuhören. Er muß die realen, die mythischen und die assoziativen, ja, wenn möglich sogar an Hand einer alten Karte von Dublin, die topographischen Bezüge herstellen, die Diagonalverbindungen freilegen. Er muß das Buch – wie alle großen Bücher – mehrmals lesen und sich dabei jene Routine erarbeiten, die ihm zunehmend erlaubt, mit dem Geschehen Schritt zu halten. […] Tatsächlich müssen wir uns das Buch »erlesen«. Erst die Akkumulation der Teilerfahrungen, darüber die überflutende Gleichzeitigkeit bewegender, wenn nicht erschütternder Einfühlung und distanzierter, sublimer Ironie offenbart uns das Meisterwerk, »eines der größten nicht nur unserer Zeit, sondern aller europäischen Literaturen« (T. S. Eliot).99
Charakteristisch auch für Hildesheimers Würdigungen des ›Ulysses‹ ist sein Rückzug auf die Position des Lesers, für den die Lektüre ein »großes Leseerlebnis und eine Erweiterung des Horizontes, eine Bewußtmachung«100 gewesen sei. Sein Blick auf den Text fällt nun nicht aus der Perspektive der Schriftstellers, etwa indem er Joyce produktionsästhetische Grundsätze neben eigene stellen und bewerten würde; immer geht Hildesheimer vom Lektüreeindruck aus,
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Ebd., S. 422. Ebd., S. 424. Durzak: Ich kann über nichts anderes schreiben als über ein potentielles Ich, S. 275.
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den er erst in einem zweiten Schritt an konzeptionelle Prinzipien rückbindet. Aus Hildesheimer spricht hier der Leser, der sich das Buch erarbeitet, bis er die Polyphonie sowie die temporale und spatiale Komplexität des Romans erfasst hat – und zugleich der Schriftsteller, der die formalen Grundsätze, die sich im Lektüreerlebnis vermitteln, auf die wirkungsästhetischen Ziele des Autors zurückführen kann: Was hier für den Leser als Stilprinzip zum Leseerlebnis wird, war für den Autor konzeptionelle Notwendigkeit. Er wollte keinen »Erzähler«, sondern eine variable Partitur mannigfacher Stimmen des Subjektiven, die in der Übersetzung des Lesers zu objektivem Geschehen werde: ein Angebot der Identifikation.101
Indem Hildesheimer Joyce ein Identifikationsangebot unterstellt, projiziert er auf den ›Ulysses‹ seine eigenen Wirkungsintentionen. Wie bereits in dem frühen Joyce-Aufsatz richtet Hildesheimer auch hier sein Augenmerk auf die ›Penelope‹Episode, die er in ihrer vollkommenen Durchdringung der Psyche Molly Blooms und als kompositorischen Höhepunkt des Buches würdigt: »Molly lernen wir nur im Bett kennen, […] schließlich, erschöpft, in Erwartung des Schlafes vor sich hin assoziierend. (Dieser Monolog, kompositorisch eine Engführung, ist eines der vollkommensten Seelengemälde der erzählenden Literatur.)«102 Der Leser Hildesheimer kann sich, wie schon viele vor ihm, die die ›Ulysses‹-Lektüre zur Empathie – und damit zur Sorge um die Zukunft der Charaktere angeregt hat, der Versuchung nicht entziehen, Spekulationen über den 17. Juni 1904 anzustellen, über einen Tag, der sich wahrscheinlich für keinen der Drei vom vorherigen unterscheiden wird. Stephen bleibt auf der Suche nach sich selbst, Leopold und Molly, nicht wunschlos, doch letztlich sorgenlos, lassen sich von ihrem Schicksal weitertreiben, treulos bleiben sie sich selber treu. Ihre geheimen Träume werden sich nicht erfüllen, doch zu Schwermut oder Aufbegehren sind sie nicht geschaffen. Das wissen wir Leser besser als sie selbst […].103
5.3.4 ›The Jewishness of Mr. Bloom.‹ Bloomsday Dinner Speech (1984) Anlässlich der 80. Wiederkehr des Bloomsday am 16.6.1984 hielt Wolfgang Hildesheimer die Festrede beim Joyce-Symposium in Frankfurt, die er den JoyceExegeten und -Herausgebern Klaus Reichert und Fritz Senn widmete. Hildesheimer ist sich der Ehre dieser Aufgabe durchaus bewusst und unterstreicht den hohen Stellenwert, den die Auseinandersetzung mit James Joyce Werk zeit seines Lebens für ihn hatte:
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Hildesheimer: James Joyce: »Ulysses«, S. 423f. Ebd., S. 422f. Ebd., S. 423.
[D]as fand ich einen würdigen Abschluß, weil ich einmal ein großer Joyce-Verehrer bin und auch weil die ›Bloomsday Dinner Speech‹ der Abschluß und die Krönung der Tagung ist. […] [I]ch nehme mit großem Vergnügen daran teil, weil ich das Gefühl habe, daß hier letzte Reste von Humanität, humanen Interessen und Geisteswissenschaft in eine Zeit hinübergerettet werden, die sehr bald damit gar nichts mehr anfangen kann. Die Beschäftigung mit Joyce ist für mich ungeheuer beruhigend und schön und ich kann mir so vorstellen, daß auch Jüngere immer wieder in Joyce’sche Bahnen gleiten.104
Dennoch wäre dieses Ereignis beinahe Hildesheimers zunehmenden Aversionen gegen die Schriftstellerei, vermutlich auch einer persönlichen Schreibhemmung zum Opfer gefallen; dies dokumentiert ein Brief vom Januar desselben Jahres, der von einem Ton der Resignation geprägt ist: »Die Joyce-Rede schaffe ich wohl nicht. Ich kann nicht mehr schreiben. Vielleicht will ich auch nicht genug.«105 Bereits einen Monat später klingt Hildesheimer weitaus zuversichtlicher darin, dass seine Beschäftigung mit Joyce (wie auch die Malerei) als Quell der Inspiration und Freude den Rückzug aus dem Literaturbetrieb überdauern wird – was jedoch seiner Entscheidung, der Schriftstellerei endgültig den Rücken zu kehren, keinen Abbruch tut: The biennial Joyce-Symposion (I hate the word symposium, which is mostly used) takes place in June in Frankfurt – for the first time in Germany (not in Dublin, Trieste, Zurich or Paris). And for the first time the dinner speech is not given after dinner but in the Kaisersaal of the Paulskirche where generally emperors are being crowned, although there hasn’t been one crowned lately, as far as I know. It is in English of course and will be coming out as a book in both languages. I shall send it to you. Occupation with Joyce – especially Finnegans Wake is my favourite occupation, apart from making things (drawing collages etc., eating drinking sleeping – sorry to be such a materialist!) Yes, I have given up writing, ›there’s no future in it‹.106
Hildesheimers Rede zeugt von einer intensiven persönlichen Auseinandersetzung mit dem ›Ulysses‹ und seiner Identifikation mit Leopold Bloom. Mit der Reflexion über die jüdische Identität Blooms geht für Hildesheimer eine zutiefst persönliche Reflexion seiner eigenen jüdischen Identität einher. Er präsentiert Bloom als »the paragon of innocent Jewishness as seen by a Jew, the Jew being in this case myself.«107 Im ›taz‹-Interview, das im Umfeld des Joyce-Symposions in Frankfurt geführt wurde,108 legt Hildesheimer sein zentrales Anliegen und Redeziel offen:
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Hildesheimer: Joyce-Symposion ‘84, S. 9. Wolfgang Hildesheimer: An Melanie Kuster und Christiaan L. Hart Nibbrig [204]. [Poschiavo,] 14.1.84, in: ders.: Briefe, S. 300f., hier S. 301. Hildesheimer: An Patricia Crampton [208], S. 305. Hildesheimer: The Jewishness of Mr. Bloom, S. 192. Hildesheimer: Joyce-Symposion ‘84, S. 9.
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Ich versuche, zu demonstrieren, mit welch unglaublicher Einfühlung, mit welcher Empathie Joyce diesen Mr. Bloom und das Jüdische bei ihm hineingelebt hat [sic] wobei er vielleicht auch einige Fehler gemacht hat, vielleicht war ihm die Psyche nicht in allem geläufig, aber ich versuche doch an Beispielen, das Großartige an diesem Dokument herauszustellen.109
Hildesheimer zeigt sich zunächst irritiert durch Blooms Vorliebe für Innereien, die er bei einem jüdischen Schweinemetzger kauft: Whenever I begin reading the Calypso-chapter of »Ulysses«, which happens about every four or five years, I cannot help at first being slightly put off by what Mr. Leopold Bloom likes to eat. The pork kidney he buys at Mr. Dlugacz’s – a Jewish pork butcher is rare, and I would say, one by the name of Dlugacz even more so – seems to spoil my appetite for Bloom’s physical presence much more than the procedure on the subsequent visit to the jakes.110
In der augenzwinkernden Eröffnung bekennt sich Hildesheimer nicht nur zu einem regelmäßigen Lesen und Wiederlesen des ›Ulysses‹, sondern legt auch das Verfahren dar, mit dem er die Zuhörer an der Seite Leopold Blooms durch den Roman führen wird. Realismus und Präzision sind die Kriterien, anhand derer er den ›Ulysses‹ einer eingehenden Prüfung unterzieht, denn es ist ein Charakteristikum des Romans, dass selbst dem kleinsten physischen Detail eine erhebliche Bedeutung beigemessen wird – was von Joyce als Autor beispielsweise verlangt, stets darüber Bescheid zu wissen, wo sich die Hüte seiner Charaktere befinden.111 »[T]he function of even the most unexpected and trifling detail, mind or matter, never used in literature before, serves the purpose of building up a complete framework of physical reality.«112 Demgemäß prüft Hildesheimer auch die Handlungen Leopold Blooms, die seine jüdische Identität offenbaren, auf ihre Stichhaltigkeit. Die Vita von Blooms Vater, die Stationen seiner nomadischen Existenz halten dieser Prüfung stand: »The itinerary is very plausible, even typical of the eastern Jew, the Ashkenazi,«113 die Namenswahl des Sohnes hingegen erscheint ihm ungewöhnlich: Das ungarische Wort für Blume, ›Virag‹, hätte eher den Namen ›Flower‹ nahe gelegt, den Bloom lediglich als Pseudonym in seiner Korrespondenz mit Martha Gifford verwendet; dennoch scheint Bloom nicht an einer Verschleierung seiner Identität gelegen zu sein: »[H]e chooses the name of Bloom which is very typically Jewish. The choice therefore seems somewhat unlikely and inadvertent, as it may just cover up the foreign but not the
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Ebd. Hildesheimer: The Jewishness of Mr. Bloom, S. 183. Vgl. ebd., S. 198. Hildesheimer verrät hier auch seine Kenntnis der unerlässlichen Forschungsliteratur zum ›Ulysses‹: »Hugh Kenner, in his indispensable book on Ulysses, points out that normally novelists don’t know where their characters’ hats are.« Ebd. Ebd., S. 187.
racial descent.«114 Hildesheimers Analysekorpus bilden vor allem die Passagen des ›Ulysses‹, in den sich das »Judentum des Mr. Bloom« direkt oder indirekt manifestiert; doch auch »Joyce’s own caricature of Bloom«115 findet Berücksichtigung. Hildesheimer skizziert eine der wohl pointiertesten Kurzcharakteristiken des ein wenig spießbürgerlichen Antihelden unter Berücksichtigung von Blooms unbewusster Prägung durch seine jüdische Identität: He is a man of thirty-eight, average height, a Jew and, although baptized twice, very conscious of being one. Conscious with this guilty conscience of the convert, who knows deep down in his heart that through his conversion there may be one Christian more, but not a Jew less. […] [T]he Jew will always be distinguishable to those who are out to distinguish.116
Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass der ›Ulysses‹ nicht frei von antisemitischen Konfrontationen sein kann – »Bloom cannot be mistaken for anything but a Jew and consequently falls victim to anti-Semitism« – dazu verweist Hildesheimer auf Buck Mulligans Kränkung in der ›Scylla and Charybdis‹-Episode sowie auf den »Citizen« in ›Cyclops‹ – und erklärt die Eskalation aus Blooms Unvermögen, derartige Situationen zu erfassen und adäquat und gelassen zu reagieren. Dennoch ist Hildesheimers Einschätzung Blooms durchweg von Empathie und Identifikation mit der liebenswürdigen und bodenständigen Figur durchdrungen: The reader of »Ulysses« is, I think, constantly aware of Bloom’s failure to be and to experience life like his fellow men. […] Yet he is endowed with a peculiar gift for active empathy, being gentle and kind without being conscious of it. He has a wide range of interests, mostly humanitarian or in the technical service of humanity. Apart from his Jewishness he does not conform to a type, let alone to an arche-type.117
Auch in der Rede über den Protagonisten des ›Ulysses‹ wird der Roman dem Vergleich mit ›Finnegans Wake‹ unterzogen: ›Ulysses‹ »never transcends the borderline towards the metaphysical. This Joyce has saved up for ›Finnegans Wake‹.«118 Diese Gegenüberstellung der beiden großen Romane lässt auch die technischen Probleme des Bewusstseinsstroms im ›Ulysses‹ umso deutlicher hervortreten: Finnegans Wake is dominated throughout by the method of reducing a score of voices to one singular linear system within which words and word combinations become augmented chords of audible meaning. It is thus the intensification and enhancement of the inner monologue exercised in »Ulysses«.119
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Ebd. Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.
S. S. S. S.
184. 185. 191. 183.
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Das Klangsystem von ›Finnegans Wake‹ funktioniert synthetisch und – bei aller Polyphonie – linear, insofern als mehrere Stimmen in einer zusammengeführt werden, während im ›Ulysses‹ stets nur eine Stimme hörbar wird – auf Kosten anderer Stimmen wie auf Kosten der Wiedergabe des Romangeschehens; diese Separierung von (inneren) Stimmen und äußerer Handlung verursachen beim Leser »various feelings of uneasiness« – z.B. wenn sich dem Leser die profane Frage stellt, ob sich Bloom nach dem Stuhlgang auch die Hände gewaschen hat. Diese Frage muss offen bleiben, »[b]ecause if the stream of consciousness always gains the upper hand, indication of action is of necessity subject to frequent interruption.«120 Nichtsdestoweniger sieht Hildesheimer im stream of consciousness, wie er im ›Ulysses‹ gestaltet wird, diese literarische Technik in höchster formaler Vollendung – etwa gegenüber Schnitzlers ›Leutnant Gustl‹, als der Innere Monolog gewissermaßen noch in den Kinderschuhen steckte: Never having read Dujardin, my first experiences with inner monologue were Arthur Schnitzler’s »Leutnant Gustl«, written as early as 1900, and »Fräulein Else«, written in 1924. Less accomplished and altogether less convincing than Joyce’s method of selective meticulosity, as the characters constantly comment their action and define their positions and whereabouts, these stories had to master a much easier task. The hero and the heroine respectively move towards an existential climax, therefore the language calls for an unrelaxing intensity of expression, which the action of just walking the streets of Dublin does not permit. Remaining on earth is more difficult to describe than suicide […].121
Mit dem Hinweis nicht nur auf die universale Menschlichkeit Leopold Blooms, sondern auch auf das enorme innovatorische Potential der Prosa Joyce – in einer Parallelführung von ›Ulysses‹ und ›Finnegans Wake‹ – schließt Hildesheimer seinen Vortrag, mit einer Würdigung des Experiments, das alle Vorgänger in den Schatten stellt und gerade in der Abgrenzung gegenüber dem traditionellen Roman, dessen bisher geläufige Formen gesprengt werden, in aller Radikalität und formalen Perfektion hervortritt: The formal perfection of »Ulysses« and »Finnegans Wake« can hardly be measured, as Joyce had created their structure as well as in »Ulysses«, the diction and, in »Finnegans Wake«, the language. Joyce strove for a new kind of formal freedom, he despised the traditional narrative – I seem to be saying this in case there is someone in the audience who has never heard of him. What he set out to capture – and here one must emphasize the total difference between »Ulysses« and »Finnegans Wake« – would hardly have fitted into a shape borrowed from a predecessor, if, indeed, there had been one. There had been no language for gigantic archetypal HCE, living through microcycles as a character and through macrocycles as a phenotype. And there had been no diction for the exhaustive revealing stream of consciousness of the small outsider Leopold Bloom, not great enough for tragedy, Bloom, the exception by nature and by
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Ebd., S. 184. Ebd., S. 186.
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force which to the Jew of his disposition would amount to the same. The man who does not laugh, at least not on Bloomsday. The modest sufferer from and of and for mankind, whose most tender thoughts aim at his adulterous wife Molly.122
5.4
Die großen Prosamonologe: ›Tynset‹ (1964) und ›Masante‹ (1974)
»Ich weiß nicht mehr genau, wie viele Jahre ich an Tynset geschrieben habe«, erklärt Hildesheimer in den ›Antworten über Tynset‹: »Nachträglich erscheint es mir manchmal, als habe ich daran geschrieben, seit ich schreibe, und manchmal, als hätte ich es nie geschrieben.«123 Im Gespräch mit Walter Jens sagt Hildesheimer über ›Masante‹ (das damals noch den Arbeitstitel »Meona« trug), er habe »das Gefühl«, es schreibe sich ohne sein »Zutun irgendwann von alleine«.124 Obwohl zwischen dem Erscheinen von ›Tynset‹ und ›Masante‹ zehn Jahre vergehen, stehen beide in einem engen formalen und stofflichen Zusammenhang, weshalb sie hier auch nicht getrennt voneinander betrachtet werden sollen. Hildesheimer mag zwar beteuern, dass es nicht sein Ziel gewesen sei, das »Gerüst Tynset mit neuem Material zu füllen«,125 dennoch sind stoffliche Reste von ›Tynset‹ in ›Masante‹ eingearbeitet worden.126 Allerdings wurde die Stoffsammlung zu ›Masante‹ bald so gewaltig, dass die Publikation daran zu scheitern drohte, weil Hildesheimer der immensen Materialfülle nicht mehr Herr wurde. Mit Hilfe unterschiedlicher Lektoren (Dierk Rodewald, Peter Horst Neumann, Walter Jens) wurde ›Masante‹ radikal komprimiert, die ›Zeiten in Cornwall‹ entstanden daraus gewissermaßen als biographisches Nebenprodukt. »Dann habe ich also das Buch geordnet, es nochmals ganz geschrieben. […] Ich habe es noch mal geändert, und ich habe noch drei Monate daran gearbeitet und dann erschien es. […] Nur die Unsicherheit mit dem Material hat mich dazu gezwungen, einen Lektor einzuspannen. Ich war diesem Konvolut einfach nicht mehr gewachsen.«127 Die Gestaltung der Erzählinstanz mit ihren stilistischen Eigenarten, ihrer fortwährenden »Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle«,128 ihrer bis ins Pathologische gesteigerten Sensibilität, sowie die starke autobiographische Kom-
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Ebd., S. 195. Hildesheimer: Antworten über Tynset, S. 387. Wolfgang Hildesheimer und Walter Jens: Selbstanzeige, in: Wolfgang Hildesheimer, S. 228–239, hier S. 232. Ebd., S. 229. Vgl. ebd., S. 234: »Ja, es sind aber noch einige Konvolute übriggeblieben von Dingen, die ich eigentlich in Tynset hineinnehmen wollte, und die gaben noch zusammen mit einer neuen Idee ein neues Buch…« Durzak: Ich kann über nichts anderes schreiben als über ein potentielles Ich, S. 282. Hoffmann: Prosa des Absurden, S. 233.
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ponente, die in beide Reflekteure eingegangen ist, suggerieren, dass der Erzähler von ›Tynset‹ mit dem von ›Masante‹ identisch ist – eine Annahme, die Hildesheimer nachdrücklich bekräftigt: [S]o setzt sich der Ich-Erzähler, also die Figur, meine Identifikation, in Meona fort. Es ist nicht unbedingt wichtig, daß der Leser es weiß, er wird es aber erfahren – setzt er sich fort in einer anderen, in einer späteren Zeit. Er macht sich noch einmal aus dem Versteck von Tynset auf, um sich an ein sicheres Versteck zu begeben, wo er seiner Meinung nach Sicherheit hat. […] [E]r setzt sich noch einmal den Gefahren aus, die in Tynset bereits erwähnt werden, die, also in übertragener Weise natürlich, Deutschland darstellen, um dann ein neues Versteck zu suchen, das er auch findet. Und von diesem Versteck aus rückblickend meditiert er noch mal erstens über die Reise selbst und zweitens, auch wieder anhand der Requisiten, die sich ihm bilden, über die Vergangenheit der Requisiten, fächert also wieder ins Breite.129
Der Ich-Erzähler, das Bindeglied beider Prosamonologe, ist – wie bereits in den Einaktern und dem Hörspiel – autobiographisch angelegt; Hildesheimer bezeichnet beide Texte als »eine Art Geständnis, als Bekennungsliteratur«,130 denn: In diesen beiden Büchern war die Identifikation des Helden mit mir selbst ausgeprägt und wohl auch evident. Nicht daß ich selbst erlebt hätte, was der Ich-Erzähler erlebt und erzählt und verschweigt – dazu enthalten diese Bücher zu viele unwahrscheinliche äußere Umstände und Begebenheiten –, aber ich habe seine Erfahrungen im Geist vorerlebt oder nacherlebt.131
Auch Joyce konnte nie auf ein »potentielles Ich« verzichten, die Figur des Stephen Hero bzw. Stephen Dedalus, die als alter ego des Autors auftritt, erscheint von den ›Dubliners‹ bis hin zu ›Finnegans Wake‹ (hier freilich stark verfremdet als HCE) in sämtlichen Werken des Iren. In einer kurzen Passage in ›Masante‹ wird explizit ein Kausalzusammenhang zwischen beiden Texten hergestellt, indem der Erzähler gewissermaßen den PräText lakonisch rekapituliert: »Tynset, das Ypsilon hatte es mir angetan, dann war auch das vorbei, und ich wählte Masante. Dort schlief ich immer schlechter, die Flucht in den Schlaf mißlang, der Schrecken hatte die Gewalt über mich eingebüßt, ich war schon frei oder beinah frei« (M, S. 335).132 Ob im Winterbett oder am Rande der Wüste, die Themen, die den IchErzähler beschäftigen und die sich in seinen Assoziationen zu ›Knotenpunkten‹ verdichten, bleiben weitgehend die gleichen und werden, wie die Reflexionen über den Tod, variiert oder, wie das Häscher-Thema, weiter ausgestaltet. Die Tatsache jedoch, dass sich der ›Tynset‹-Erzähler wider Erwarten noch einmal
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Hildesheimer/Jens: Selbstanzeige, S. 230. Hildesheimer: Ich werde nun schweigen, S. 79. Hildesheimer: Die Subjektivität des Biographen, S. 463. Tynset wird ein weiteres Mal in ›Masante‹ auf S. 258 erwähnt.
aufgerafft hat (was am Ende von ›Tynset‹ höchst unwahrscheinlich ist),133 und die sich daraus ergebende veränderte räumliche Situation in ›Masante‹ bringen eine grundsätzliche Öffnung des Textes mit sich: »Der Monolog von ›Masante‹ ist ›welthaltiger‹ als der von ›Tynset‹.«134 Die klaustrophobische Reduktion des äußeren Geschehens kann in ›Masante‹ nicht in ähnlicher Stringenz realisiert werden, zumal die Wüstenstation mit drei Nebenfiguren bevölkert ist. »Maxine, die Sünderin, in der eigentlich ein Celestina-Element steckt, das nur mehr durchgeführt ist,«135 ist eine zu dominante und schillernde Antagonistin, die dem Erzähler im Erfinden ihrer Biographie mindestens ebenbürtig ist. Zwar führt der Erzähler mit ihr keine funktionierenden Dialoge, aber das erzählerische Kräftemessen zeigt deutlich mehr Interaktion als das fatale Missverständnis des ›Tynset‹Erzählers bei seinem kurzen Zusammentreffen mit Celestina. Grundsätzlich ist die monologische Situation in ›Tynset‹ »reiner«136 und lässt weder Hintergrund noch Bruchstücke einer konventionellen Fabel zu, wohingegen ›Masante‹ – unter Beibehaltung der formalen und strukturellen Eigenarten ›Tynsets‹ im Verlauf der Assoziation – durchaus (etwa mit der rätselhaften Figur des Iren) Spannungsund Handlungselemente aufweist. In der Bar, wo der Erzähler meist auf andere Figuren trifft, findet gegenüber ›Tynset‹ wieder Interaktion statt. Hildesheimer gibt zu, zugunsten der Handlungsmomente in ›Masante‹ Zugeständnisse hinsichtlich der Form gemacht haben zu müssen: »Daß natürlich durch eine direktere Handlung ein romanhaftes Element entstanden ist, das mußte ich in Kauf nehmen. Es stört mich nicht, aber ich mußte es in Kauf nehmen.«137 Ironisch-überspitzt ließe sich von ›Masante‹ sagen, dass sich der formale Rückschritt textimmanent selbst eine Buße auferlegt (die zugleich ein finaler Befreiungsschlag von tradierten Strukturen sein soll), indem der Erzähler zuletzt in die Wüste geschickt wird. ›Tynset‹ kann durchaus ohne die Kenntnis ›Masantes‹ angemessen gewürdigt werden, die Lektüre von ›Masante‹ allein ist jedoch ohne vorausgegangene Rezeption ›Tynsets‹ ›unvollständig‹. In der folgenden Analyse wird der Fokus auf ›Tynset‹ gerichtet – zumal hier die Parallelität der situativen Voraussetzungen mit dem ›Penelope‹-Monolog evident ist; Textelemente aus ›Masante‹ sollen allerdings zur Ergänzung und Konturierung der formalen Spezifika der Prosamonologe hinzugezogen werden. 133
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Vgl. Hildesheimer: Die Subjektivität des Biographen, S. 464: »Im ersten der beiden Bücher, Tynset, liegt der Ich-Erzähler im Bett und monologisiert vor sich hin, unterbrochen von einem nächtlichen Gang durch sein Haus. Am Morgen verspürt er keinerlei Lust aufzustehen, und in dieser Verfassung verläßt ihn der Leser. Im zweiten Buch, Masante, hat er sich doch wieder aufgemacht, und zwar zweimal […].« Heinz Puknus: Wolfgang Hildesheimer, in: KLG. Loseblattausgabe, hg. v. HeinzLudwig Arnold, München 1978ff., S. 4f. Durzak: Ich kann über nichts anderes schreiben als über ein potentielles Ich, S. 287. Ebd., S. 286f. Ebd., S. 287.
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5.4.1
Die Monologform in ›Tynset‹ und ›Penelope‹ – Parallelen und Divergenzen
›Tynset‹ gliedert sich auf 145 Seiten in insgesamt 198 Abschnitte, die im Druckbild durch Leerzeilen voneinander getrennt sind. Die kürzesten Abschnitte bestehen aus weniger als einer Zeile und stellen eher kurze intermittierende Assoziationen dar, die den Textfluss skandieren (vgl. T, S. 117: »/Und was hält mich auf dieser Erde?/«),138 die längsten – vor allem die narrativ auskomponierten, in sich geschlossenen Episoden – umfassen vier bis zu knapp sechs Seiten (etwa das Hahnenkonzert, vgl. T, S. 40–43, oder die Sommerbettfuge, vgl. T, S. 109–114). Wenngleich besonders die episodischen Erzähleinheiten weitgehend in sich geschlossen sind, bestehen doch zahlreiche Formen der Verknüpfung der Abschnitte untereinander, auf die noch einzugehen sein wird. ›Masante‹ ist mit insgesamt 211 Textseiten deutlich umfangreicher; wiederum sind einige der 349 Abschnitte kürzer als eine Zeile,139 den mit knapp fünf Seiten längsten Abschnitt bildet eine Begegnung des Ich-Erzählers mit dem Wirt in der Bar (vgl. M, S. 292–296). Bei einer Betrachtung der monologischen Prosa Hildesheimers drängt sich unweigerlich der Vergleich mit dem Monolog der Molly Bloom in der ›Penelope‹Episode des ›Ulysses‹ auf. Auch Manfred Durzak vermutet im Gespräch mit Hildesheimer, »daß die strukturelle Anlage von ›Tynset‹ und ›Masante‹ von der Beschäftigung mit diesen beiden Autoren«, nämlich mit Joyce und Barnes, herrühre. Hildesheimer hingegen bezweifelt, daß das Monologische in »Masante« und in »Tynset« irgend etwas mit dem Monologischen bei Joyce zu tun hat, was ja im »Ulysses« eigentlich nur im letzten Kapitel, in Molly’s Soliloquy, vorkommt. Bei dieser Riesenpartitur von »Ulysses« kann man ja auch nicht sagen, daß das monologisch ist.140
In der Tat ist der ›Ulysses‹ als Ganzes in seiner Stilvielfalt und Polyphonie alles andere als monologisch, sondern polyphon und polyperspektivisch – ›Tynset‹ und ›Masante‹ indessen sind monologisch und monoperspektivisch; in bewusster Abgrenzung etwa von ›Finnegans Wake‹, wo »mehrere Partitur-Systeme in ein System gebracht« sind, ging es Hildesheimer in den Monologen gerade nicht darum, »mehrere Systeme […] oder mehrere Zeit-Zyklen« einzufangen, »[h]ier erzählt der Ich-Erzähler, er rekapituliert sich selbst. Das ist ja bei Joyce nicht der Fall. […] Es ist nur ein System, eine Linie. Mir kam es darauf an, diese Linie völlig klar zu machen.« Die Assoziationen in ›Tynset‹ und ›Masante‹ sind konsequent an den Erzähler gebunden und undurchlässig für alles,
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Zur visuellen Verdeutlichung werden die Abschnittsgrenzen hier und im Folgenden zusätzlich durch »/« markiert. Etwa M, S. 190: »/Kein Anfang, alles nur Vorwand!/«. Durzak: Ich kann über nichts anderes schreiben als über ein potentielles Ich, S. 275.
was außerhalb des Erfahrungsbereiches des Ich-Erzählers liegt. Wer erzählt eigentlich in »Finnegans Wake«? Es erzählt eigentlich immer ein anderer, typisch dafür ist dieses Anna-Livia-Kapitel, wo man nie genau weiß, wer ist es jetzt? Die eine Waschfrau, welches ist die andere? Bei mir weiß man immer: es ist der Ich-Erzähler. Die subjektiven, oft allzu subjektiven Erlebnisse, Wiedergaben, Erzählungen des Ich-Erzählers sind ganz bewußt so konzipiert, irgendein anderes Ich ins Spiel zu bringen.141
Folglich wäre der formale Vergleich weitgehend auf die ›Penelope‹-Episode zu beschränken, denn diese ist der einzige erschöpfend ausgeführte Innere Monolog des Romans, in dem nur eine ›Stimme‹ – die der weiblichen Protagonistin – vernehmbar ist; die zahlreichen kürzeren streams of consciousness von Stephen oder Leopold Bloom kommen nur über kurze Sequenzen ohne eine rudimentäre Erzählerstimme aus. Die Skepsis Hildesheimers hinsichtlich einer bewussten Beeinflussung durch Joyce sollte jedoch kein Hemmnis sein, die evidenten Parallelen zwischen den Texten zu skizzieren, dabei jedoch auch die kategorialen Unterschiede nicht außer Acht zu lassen. Vergleich man allein das Druckbild der Monologe von Hildesheimers Ich und Joyce Molly, so wirken ›Tynset‹ und ›Masante‹ gegenüber dem blockartigen und interpunktionslosen Textfluss von ›Penelope‹ auf den ersten Eindruck fragmentarisch und zerrissen – und erinnern eher an Arno Schmidts Prosa. Während Joyce im 18. Kapitel des ›Ulysses‹ vollständig auf Interpunktion verzichtet, setzt Hildesheimer eine Vielzahl von Satzzeichen ein, um den Rhythmus der Gedankenbewegungen des Erzählers zu instrumentieren, wobei in ›Tynset‹ vor allem dem Gedankenstrich eine wichtige Rolle zukommt; dieser erscheint oft zwei- oder auch mehrfach hintereinander, insbesondere dort, wo der Erzähler stockt, ermüdet oder kurzzeitig einschläft: /Fortnum & Mason, Piccadilly 111–119, London W. 1. Mischungen eins, zwei und drei – […] Wehrgenus & Flatow, Delikatessen, Hannover 3, Bismarckstraße 45–47, Mischungen zwei und drei – – Mischung eins, in Deutschland nicht abzusetzen, ja, »absetzen« ist das Wort. Rosmarin scheint nicht Sache der Deutschen zu sein – auch Knoblauch nicht, deutsche Esser legen Wert auf reinen Atem. Wer war das noch, der mir das gesagt hat? Ein Mann mit festem Nacken, dem ich mich gegenüber fand, irgendwo in einem Speisewagen. Später sah ich sein Bild in der Zeitung, er hieß Jerka oder Jörka und hat, wenn ich mich recht erinnere, im Krieg ein paar Dänen die Hüftknochen herausgenommen, um sie ein paar Deutschen einzusetzen, eine große Kapazität auf seinem Gebiet – aber los von diesem Gebiet, ich wollte schlafen, war schon nah daran: Traitteur Schwendimann, Zürich, Seilergraben 7, Mischungen eins, zwei und drei – […] Gianfrancesco Ravagnan, Zattere 1044 – – – –/ /– und ich erwache wieder, an den Rand der Nacht geschwemmt […]. (T, S. 140) 141
Alle Zitate in diesem Absatz aus Durzak: Ich kann über nichts anderes schreiben als über ein potentielles Ich, S. 278f.
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Die Aufzählung der Gewürzmischungen mitsamt den entsprechenden Lieferadressen scheint eine der Routinen zu sein, mit denen der ›Tynset‹-Erzähler versucht, sich selbst in den Schlaf zu wiegen.142 Wiederum drängt sich eine der schauervollen Erinnerungen an Naziverbrechen dazwischen, doch diesmal gelingt es ihm tatsächlich den Schlaf zu überlisten. Wie oben beschließen oder eröffnen Gedankenstriche vielfach Abschnitte – nämlich immer dort, wo die Syntax über die Leerzeilen fortläuft. In den seltensten Fällen setzt Hildesheimer in ›Tynset‹ für diesen Fall ein Komma ein, was jedoch in ›Masante‹ (wo der Verfasser Gedankenstriche grundsätzlich sparsamer verwendet) häufiger der Fall ist, etwa wenn – wie im folgenden Beispiel – ein Satz über drei Abschnitte hinweg fortgeführt wird: /Rosalia – tue ich hier, wie vielleicht oft, dem Träger oder der Trägerin eines Namens unrecht? Eine zärtliche Sünderin,/ /zaghafter als Maxine, die, zur Sünde entschlossen, zu ihrer guten Zeit, gewiß manchen Partner glücklich gemacht hat,/ /während doch Augustinus in den Ausschweifungen seiner Jugend – es waren Orgien – immer nur sich selbst erlebt hat. (M, S. 231)
Das Bestreben Hildesheimers um eine Lyrisierung seiner Prosa lässt sich drucktechnisch daran beobachten, dass innerhalb der einzelnen Abschnitte gelegentlich nach einem Komma bzw. einem Gedankenstrich Zeilenwechsel durchgeführt werden.143 Wie Joyce inkorporiert Hildesheimer in seine Prosa Textelemente, die durch eine visuelle Kennzeichnung als Fremdkörper markiert werden und den Textfluss unterbrechen. In ›Tynset‹ und ›Masante‹ werden Textsegmente entweder durch Kursivierung144 oder Kapitälchen145 typographisch exponiert; optisch vom Druckbild des übrigen Textes abgesetzt erscheinen auch Listen, zum Beispiel die Bestandaufnahme der Bibliothek in ›Tynset‹: Mieses/van der Raalte: »Die hundert schönsten Schachpartien der Welt« Vangatesha Narayana Sharma: »Das Buch der sieben Wahrheiten«, mit einem Vorwort von Carl Gustav Jung. Uhlands Opern- und Operettenführer. Pönsgen-Bscherer: »Abriß der Sozialhygiene«
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Molly Bloom, die ja am Ende von ›Penelope‹ einschläft und keineswegs an Schlaflosigkeit zu leiden scheint, benötigt keine derart subtilen Tricks; sie zählt schlicht von eins aufwärts: »[L]et me see if I can doze off 1 2 3 4 5 […]« (U 18.1544f.). Vgl. etwa die Gesualdo-Episode, T, S. 135–137. So die Telefonansagen in ›Tynset‹: Wetterbericht (vgl. T, S. 31f.), Kochrezepte (vgl. T, S. 72), Straßenzustandsbericht (vgl. T, S. 144f.) oder das längere Zitat aus Alains Brief in ›Masante‹ (vgl. M, S. 362). Beispielsweise das vom Erzähler auf seinem Schreibblock notierte Wort »TYNSET« (vgl. T, S. 36) oder der Briefbeschwerer mit der Aufschrift »CHI TOCCA MUORE« in ›Masante‹ (vgl. M, S. 163, 270, 271, 364, 366).
Nochmals Buch der sieben Wahrheiten. Mir fällt ein, daß ich davon mehrere Exemplare besaß. […] Weiter: […] Odoard Smyrrka: »Hylosved Amsjeda Hamleta gorevle?« (T, S. 53f.)
Hildesheimer teilt Joyce Vorliebe für katalogartige Aufzählungen, und die Bibliotheksinventur des ›Tynset‹-Erzählers erinnert auffallend an die Liste der Bücher in Blooms Bibliothek im ›Ulysses‹ (vgl. U 17.1361–1407); außerdem wird in ›Masante‹ die Ausbeute einer Jagd des Markgrafen Wilhelm Friedrich von Ansbach zentriert und in Listenform angeführt: Der Markgraf Wilhelm Friedrich von Ansbach beizte mit Falken, Habichten oder Sperbern in zwei Revieren zwischen 1730 und 1755: 1763 Milane, 4174 Reiher, 1647 Elstern, 10084 Rebhühner, 985 Fasane, 939 Hasen, 1 Halbbruder, über den jedoch die Geschichte der Jagd schweigt. (M, S. 236f.)
An den Übergängen zwischen den (Kleinst-)Abschnitten lässt sich besonders anschaulich nachvollziehen, wie der Mechanismus der Assoziation funktioniert: Bestimmte Reiz- oder Signalwörter lassen die darauf folgenden Gedanken gewissermaßen verbal einrasten und ziehen in thematischer Verkettung den Anschluss nach sich. So beschließt der ›Tynset‹-Erzähler gegen Ende des Textes, die Beerdigung des unbekannten Kindes als Trauergast zu besuchen: /Jedenfalls findet die Beerdigung um elf Uhr statt, Ich werde um elf Uhr zur Beerdigung gehen, […]. Alle werden sie Regenschirme tragen Ich werde zur Beerdigung gehen – vielleicht zur Beerdigung gehen, nicht wegen des Todes, sondern wegen des Toten, und sei es auch nur ein Kind, um sein Gefolge, Gefolge eines Kindes, um einen Gänger zu vermehren, einen, der sich die Dinge überlegt hat, der weiß, um was es sich handelt, nämlich um nichts, buchstäblich nichts. Ich werde mitgehen, geduckt, armselig, in dem Häufchen Gefolge – – wenn ich bedenke – als Mozart starb –/ /Bei Mozarts Begräbnis ging kein Mensch mit, […] man stopfte ihn in ein Loch irgendwo, half mit den Stiefeln nach, und das Loch schneite zu. So war es, so und nicht anders. Gab es damals schon Regenschirme?/ /Wann wurde der Regenschirm erfunden? Ich sollte mir diese Frage notieren, denn das ist wirklich einmal eine Frage, die beantwortbar ist – beantwortbar sein sollte – –/ /Regenschirme –: in London sah ich eine Aufführung von »Hamlet« in modernem Gewand, wie es hieß. Zu Ophelias Leichenbegängnis trugen alle, König Claudius, Königin Gertrud und die ganze Schar von Schurken, aufgespannte Regenschirme. (T, S. 149–151)146
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Unterstreichungen von mir, M.J.
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Die Bewegung der Assoziation lässt sich in folgenden Schritten nachvollziehen: ›Beerdigung‹ → ›armselig‹/›Häufchen Gefolge‹ → Mozarts Beerdigung → Mozart → Schnee → Regenschirme → ›Wann wurde der Regenschirm erfunden?‹ → Regenschirme in der modernen Hamlet-Inszenierung. Indem ein Abschnitt mit einem Wort oder einer Wortgruppe endet und der darauf folgende Abschnitt in der Art einer Anadiplose bzw. eines verbalen Echos daran anschließt, wird ein Absatz zum Stichwortgeber für den nächsten, meist wird dabei (wie im folgenden Beispiel) die Syntax über die Abschnittgrenzen fortgeführt, hier durch drei Punkte angedeutet: Es ist sinnlos, sich anders zu nennen als man heißt, so sinnlos wie eine kosmetische Operation. zum Beispiel…/ /…zum Beispiel Doris Wiener, die sich ihre Nase verkleinern und ebnen ließ. (T, S. 39)
Die inhaltliche und formale Grundsituation in ›Tynset‹ (die Hildesheimer in ›Masante‹ relativieren wird) ist durch äußerste Reduktion bestimmt, die mit den ersten Sätzen des Romans quasi-programmatisch festgeschrieben wird: »Ich liege in meinem Bett. In meinem Winterbett« Hier treten zugleich die evidenten Parallelen wie auch die Unterschiede gegenüber dem Monolog der Molly Bloom in ›Penelope‹ hervor: Indem der Reflekteur im Bett vorgestellt wird, ist – hier wie dort – der größtmögliche Verzicht auf äußere Handlung signalisiert; in diesem Versuchsaufbau, dem das assoziierende Bewusstsein unterworfen ist, sind wenige äußere »Störungen« möglich, die Flut der Sinnesreize, denen das Subjekt in der Konfrontation mit seiner Umwelt normalerweise ausgesetzt ist, wird bis auf ein Rinnsal reduziert (die auditive Wahrnehmung von Glockenschlägen, Hähnen etc.). In seiner unheroischen Passivität ist der ›Tynset‹/›Masante‹-Erzähler (wie Leopold Bloom) als Antiheld gestaltet, was ihm selbst durchaus bewusst ist, wie eine Passage aus der Lüdig-Episode in ›Masante‹ beweist: »Das hätte ich denn doch nicht gewagt: eine Geschichte, in der ich Herrn Lüdig verfolgt hätte, wäre eine andere Geschichte, nicht von mir: der Unheld wird zum Helden – vorausgesetzt, daß mit dem Wort ›Held‹ kein Werturteil verknüpft ist./« (M, S. 195) ›Tynset‹ ist (mit Ausnahme des kurzen und entsetzlich scheiternden Dialogs mit Celestina) frei von menschlicher Interaktion; der Text kommt ohne jede Verwicklung aus und bleibt auf die Perspektive einer einzelnen Figur beschränkt, die ihren eigentlichen Gegenspieler in der Außenwelt in all ihren Erscheinungen sieht und deren wenige wirkliche Handlungen im wesentlichen in der Reduktion und schließlich der Verweigerung von Handlung bestehen. Kein fortlaufendes Geschehen, sondern die besondere, unveränderliche Situation eines sich als ohnmächtig empfindenden Subjekts steht hier im Mittelpunkt […].147
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Michael Scheffel: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen, Tübingen 1997 (Studien zur deutschen Literatur 145), S. 212.
Bezeichnenderweise ist der Protagonist – mit Ausnahme der Anwesenheit Celestinas im Haus – allein, während Molly das Bett mit ihrem schlafenden Ehemann teilt, von dessen (zumindest physischer) Präsenz ihre Assoziation immer wieder angestoßen wird, etwa wenn er zu viel Platz beansprucht und im Schlaf seufzt: »O move over your big carcass […] he may sleep and sigh the great Suggester Don Poldo de la Flora if he knew how he came out on the cards this morning hed have something to sigh for« (U 18.1426–1429). ›Aktion‹ in ›Tynset‹ entsteht allein durch den Rekurs eines einsam schweifenden Bewusstseins auf sich selbst, die Körperlichkeit des Erzählers wird völlig ausgeblendet. Zugleich wird mit einer so gestalteten Grundsituation das freie Spiel der Assoziation den Mechanismen unterworfen, die das Bewusstsein vor dem Einschlafen äußerst beweglich und autonom hervortreten lassen. Dieser Vergleich legt zugleich die weitaus größere Radikalität des ›Penelope‹-Monologs offen: Das Schlafzimmer der Blooms ist dunkel, die visuelle Wahrnehmung Mollys somit ausgeschaltet; zudem verlässt diese nur für einen kurzen Moment das Bett, während das ›Tynset‹-Ich Spaziergänge durchs Haus unternimmt, auf denen es nicht nur durch die es umgebenden Gegenstände angeregt wird, die immer neue Reflexionen nach sich ziehen,148 sondern auch einer weiteren Figur, namentlich Celestina begegnet. Hildesheimer kommt nicht ohne eine Konturierung seines Ich-Erzählers durch andere Stimmen aus (sei es durch die Ansagen aus dem Telefon oder durch Celestina). Während das formale Grundmuster von ›Tynset‹ durch die Steigerung eines Zustands bestimmt ist, ist das von ›Penelope‹ eher ein Ausklingen (›fade out‹), was Joyce mit dem Wort ›yes‹ suggeriert, das in immer kürzeren Abständen wiederholt wird: The episode begins and ends with the female word yes […]. The last word (human, all too human) is left to Penelope. […] I had sought to end with the least forceful word I could possibly find. I had found the word ›yes‹, which is barely pronounced, which denotes acquiescence, self-abandon, relaxation, the end of all resistance.149
Konfrontiert man Hildesheimers ›Tynset‹ mit der literarhistorischen Entwicklung des Inneren Monologs, so gelangt man schnell zu dem (oberflächlichen) Urteil, dass Hildesheimer an einem allzu frühen Entwicklungsstadium dieser Technik
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In ›Tynset‹ neben den zwei Betten, dem Telefonbuch und dem Kursbuch etwa das Fernrohr (vgl. T, S. 85ff., S. 93, S. 102–107), das Gesangbuch, das Prosniczer zurückgelassen hat (vgl. T, S. 85f., S. 101f.), das schwarze Bild von Jean Gaspard Muller (vgl. T, S. 52f.), ein Harmonium, ein Kinderstall, eine eisenbeschlagene Truhe (vgl. T, S. 85), in ›Masante‹ außer dem Kalender und dem Briefbeschwerer ein Kompass (vgl. M, S. 163), die Einrichtungsgegenstände der Bar, die »zweite Remington« (vgl. M, S. 171f.), ein Schirmständer (M, S. 178), der Damenhut von Aage Tharup (M, S. 181f.) etc. James Joyce: Letter to Frank Budgen [End February 1921], in: ders.: Letters of James Joyce, Vol. 1, S. 159f., hier S. 159.
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ansetzt, als diese gewissermaßen noch in den Kinderschuhen steckte. Dujardin und Schnitzler sahen sich mit dem Problem konfrontiert, dass der Innere Monolog – radikal durchgeführt – ein Ausschalten der Wiedergabe äußerer Handlung erfordert. Ein völliger Verzicht auf ›Geschehen‹, dem der Leser folgen können sollte, war noch undenkbar, daher mussten die essentiellen Informationen in die innere Handlung verlagert werden. Dies führte freilich zu erheblichen Störungen im Inneren Monolog. An derartige Unbeholfenheiten erinnert ›Tynset‹ streckenweise, etwa wenn der Ich-Erzähler mitteilt: »Ich stehe auf und schlüpfe in meine Hausschuhe. Es ist mir kalt, ich trage nämlich ein Nachthemd […]« (T, S. 50). Der Vorwurf, dass Hildesheimer damit hinter den technischen Möglichkeiten, die Joyce für den Inneren Monolog erschlossen hat, zurückbleibe und dem Leser erhebliche Zugeständnisse einräume, zielt jedoch an Hildesheimers Intentionen vorbei: DURZAK: Die Form der realistischen, deskriptiven Reportage des Unbewußten – das ist jetzt eine vage Formulierung für das, was Joyce versucht hat – findet man eigentlich nicht in »Tynset« und »Masante«. Dort ist der Monolog eigentlich artifiziell, arrangiert. Das macht den Monolog, das macht die Romane – unter diesem Aspekt – als Lektüre konsumierbarer. Aber ist das nicht auch eine künstlerische Einschränkung, die Sie sich auferlegen? HILDESHEIMER: Künstlerische Einschränkung will ich nicht sagen. Die Absicht war eine andere, und naturgemäß war das Resultat ein anderes. […] Das ist doch bei Joyce, mit dem ich mich natürlich nicht messen kann, etwas ganz anderes. Das kosmische Element in »Finnegans Wake«, dieses ungeheuerliche Vorhaben, das konnte einmal realisiert werden und bezeichnenderweise nicht mehr danach. Auf diese Ansprüche mußte ich natürlich notwendigerweise sowieso verzichten. Es war allerdings auch nicht meine Absicht.
Selbstredend kann es Hildesheimer nicht um eine Wiederholung bzw. eine Ausdehnung des ›Penelope‹-Experiments in einem ungleich weiteren Rahmen von 300 Seiten gegangen sein. Allein die Dimensionen von Hildesheimers erzählerischem Projekt lassen eine analoge formale Gestaltung absurd erscheinen. Die Radikalität der Reduktion von ›Penelope‹ müsste – übertragen auf einen ganzen Roman – zwangsläufig monoton und künstlich wirken. Zudem eröffnete die Abweichung von dem strengen Muster zugunsten eines zwar artifiziellen, aber flexiblen Konstrukts eine Reihe narrativer Möglichkeiten, die eine Bewusstseinsreportage von vornherein ausgeschlossen hätte. Die wichtigsten Differenzen zwischen der ›Ulysses‹-Episode und ›Tynset‹ sind formaler Art: Bei den Assoziationen des ›Tynset‹-Ich handelt es sich nicht um einen Inneren Monolog, sondern vielmehr um einen veritablen, d.h. erzählten Monolog, der auch Elemente eines Adressatenbezugs aufweist. Zahlreiche Signale im Text deuten darauf hin, dass es sich bei ›Tynset‹ und ›Masante‹ nicht um die Transkription unausgesprochener Gedanken handelt, sondern um gesprochene Sprache. Für Scheffel ist daher die 350
Annahme einer Reflektorfigur und – damit verbunden – eines Inneren Monologs […] wenig überzeugend. Zumindest wird durchaus nicht – das unterscheidet Tynset deutlich z.B. von den Monologerzählungen Dujardins und Schnitzlers oder auch dem Monolog der Molly Bloom in Joyces Ulysses – die Illusion erweckt, unmittelbar am Gedankenstrom des nach Außen eigentlich abgeschlossenen Bewußtseins eines Individuums teilzunehmen.150
Anders als Joyce, der die scheinbare Formlosigkeit zum Formprinzip der ›Penelope‹Episode erhebt, kann von einer Partizipation des Lesers an einem frei einher strömenden Bewusstsein in ›Tynset‹ und ›Masante‹ keine Rede sein, obwohl Hildesheimer insistiert: »Es ist ja keine Geschichte, es sind tatsächlich nur Erinnerungsfetzen, und als Fetzen sind sie auch verwertet.«151 Hier artikuliert sich der Collagist Hildesheimer, der zwar von Realitätspartikeln bzw. Papierfetzen ausgeht, diese jedoch sorgfältig selektiert und in seiner Komposition auf dem Blatt neu arrangiert. ›Tynset‹ – weit davon entfernt, ein Bewusstseinsstenogramm zu sein – ist nach allen Regeln epischer Kunst gestaltet und weist einen hohen Grad an strukturell-thematischer Durchformung auf; dies gilt in besonderem Maße für die Episoden, die bereits vorab veröffentlicht wurden (etwa die ›Bettfuge‹, die ›Hähne Attikas-Toccata‹ oder die ›Gesualdo-Kadenz‹), und als weitgehend selbstständige narrative Kompositionen in den Assoziationsfluss eingewoben sind. In der Forschung ist mit Blick auf ›Tynset‹ und ›Masante‹ zunächst weitgehend unreflektiert von »Bewußtseinsstromromanen« die Rede,152 gelegentlich wird 150 151 152
Scheffel: Formen selbstreflexiven Erzählens, S. 213f. Durzak: Ich kann über nichts anderes schreiben als über ein potentielles Ich, S. 282. Vgl. etwa Thomas Koebner: Entfremdung und Melancholie. Zu Hildesheimers intellektuellen Helden, in: Über Wolfgang Hildesheimer, hg. v. Dierk Rodewald, Frankfurt a.M. 1971 (edition suhrkamp 488), S. 32–59, hier S. 54f.: »Der Bewußtseinsstrom wird den Icherzählern Hildesheimers – zumal in Tynset – zum Medium, das die subjektive und objektive Erfahrung ihrer Entfremdung vermittelt. […] Im Bewußtseinsstrom herrscht die Leideform vor: Der schlaflose Erzähler sieht sich der Welt ausgeliefert selbst im Exil, fühlt sich passiv […]. Außerdem lösen sich im Bewußtseinsstrom die Konturen des Ich, des Charakters auf«; Kähler: »›Tynset‹ gehört zu den Bewußtseinsstrom-Romanen« (Hermann Kähler: Hildesheimers Flucht nach Tynset, in: Sinn und Form 17 (1965), S. 792–797, hier S. 793); Dücker: »Tynset ist daher kein Handlungsroman, sondern ein Bewußtseinsstrom-Roman […]. Die Passivität des Erzählers entspricht der Romantechnik des Bewußtseinsstroms als Existenzweise. […] In der Beobachtung seines Bewußtseinsstromes sucht der melancholische Tynset-Erzähler die Kompensation für seinen äußeren Handlungsverzicht. Äußere Entsprechung dieser Bewußtseins-Situation bildet der Aufenthalt im isolierten Innenraum« (Dücker: Wolfgang Hildesheimer und die deutsche Literatur des Absurden, S. 83–87) sowie GollBickmann: »Dennoch bricht aus dem Bewußtseinsstrom immer wieder in besonderer Schärfe die Erinnerung an den Faschismus hervor, namentlich das Entsetzen über die Taten einzelner« (Dieter Goll-Bickmann: Aspekte der Melancholie in der frühen und mittleren Prosa Wolfgang Hildesheimers, Münster 1989 (Germanistik 3), S. 198) und Hoffmann: »Dass es sich bei Masante in der Tat – wie schon im Falle von Tynset – im wesentlichen um das ›Vor-sich-hin-Erzählen eines Ich-Erzählers‹ (GW II: 426)
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einer narratologischen Festlegung vorsichtshalber ausgewichen; nur selten findet im Hinblick auf ›Tynset‹ und/oder ›Masante‹ eine differenziertere Auseinandersetzung mit den Begriffen ›Bewusstseinsstrom(roman)‹, ›stream of consciousness‹ oder ›Innerer Monolog‹ statt.153 Scheffel bringt das Dilemma, vor dem die Forschung weitgehend kapituliert hat, auf den Punkt, indem er feststellt, dass sich das ›Tynset‹-Ich »in einer Art Niemandsland zwischen Reflektor- und Erzählerfigur bewegt«.154 Wiegenstein kommt das Verdienst zu, erstmals dieser unbedacht durch die Kritik weitergereichten Annahme widersprochen und damit auch die kompositorischen Spezifika, die ›Tynset‹ und ›Masante‹ prägen, schärfer in den Blick gefasst zu haben: Freilich ist der innere Monolog, seit Schnitzler ihn erfand und Joyce ihn konsequent benutzte, etwas abgenutzt, zu viele Jünger des boshaften und grandiosen Iren haben ihn leichtsinnig verwendet, er ist zur Masche geworden. Hildesheimer weiß das natürlich alles, er kennt sich aus, ist gebildet und belesen. Und so ist er darauf verfallen, ohne es übrigens irgendwo ausdrücklich anzumerken, eine andere Form des Monologs zu wählen, die Niederschrift, die nicht mehr so tut, als sei sie gerade eben laut geworden. […] Er verzichtet auf die Atemlosigkeiten des inneren Monologs, auf die wütende Intensität des Hinredens an den imaginären Gast: er erzählt so seren, so genau kalkuliert, so beiläufig, so unterschiedlich übrigens auch in der Tonlage, die der jeweiligen Sache eher angemessen ist als dem erzählenden Subjekt, daß er seine neue Form des Monologs überzeugend macht. Indem er so auf eine Illusion verzichtete, gewann er Raum für Einschübe, für Meditationen […].155
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handelt, wird insbesondere durch die assoziative Aneinanderreihung der einzelnen Episoden und Gedankensplitter deutlich. Das Erzählen erscheint so in noch stärkerem Maße als in Tynset als Wiedergabe des in sich kreisenden ›stream of consciousness‹ des Erzählers, der gewissermaßen nur das Medium der andrängenden Gedanken ist.« (Hoffmann: Prosa des Absurden, S. 248.) So etwa Helmut Heißenbüttel, der die von ihm selbst an ›Tynset‹ herangetragene Frage »[W]er erzählt da eigentlich?« mit der Berufung auf den »Geist der Erzählung von Thomas Mann« beantwortet: Der ›Tynset‹-Erzähler sei »von sozusagen höherer Art, eine erzählerische Verkörperung des grammatischen Ich und doch zugleich etwas konkret Umfassenderes. Das Ego selbst, so könnte man, vergröbernd sagen, ist schlaflos geworden.« (Nur Erfindung, nur Täuschung?, in: Wolfgang Hildesheimer, S. 212– 215, hier S. 213f.) Bei Puknus deutet sich eine sorgfältigere Auseinandersetzung mit dieser Kategorie an: Während in seinem Beitrag ›Das Scheitern der Welt‹ noch von »Elemente[n] des Bewußtseinsstroms« die Rede ist (Heinz Puknus: Das Scheitern der Welt. Hildesheimers Hörspiele der siebziger Jahre, in: Text + Kritik 89/90 (Januar 1986): Wolfgang Hildesheimer, S. 108–116, hier S. 108), heißt es im KLG-Artikel, die komplexe »formale ›Architektur‹«, das »hochsensible Formbewußtsein« unterscheide »Hildesheimers Verfahren von den ›inneren Monologen‹ eines psychologischen Naturalismus, der sich der bloßen Automatik der Vorstellungen und Gefühle überläßt.« (Puknus: Wolfgang Hildesheimer, S. 6f.) Scheffel: Formen selbstreflexiven Erzählens, S. 214. Roland H. Wiegenstein: Nacht ohne Schlaf, in: Über Wolfgang Hildesheimer, S. 127– 132, hier S. 129. Patricia Haas Stanley erklärt kategorisch (und mit Recht): »Hildes-
Hildesheimer nutzt die prinzipielle Offenheit der assoziativen Struktur für epische ›Etüden‹ und Digressionen, die sich nicht selten zu mehr oder minder geschlossenen Geschichten verdichten. Deutlich verweist diese offene, mosaikartige Textstruktur auf das Arbeitsverfahren des bildenden Künstlers Hildesheimer; der Text folgt keiner herkömmlichen narrativen (d.h. kausalen) Sukzession, zahlreiche Abschnitte bzw. Abschnittkomplexe, die oft nur der Eigendynamik der Sprache zu folgen scheinen, sind so eigenständig, dass sie im Text verschoben und an anderen Stellen eingefügt werden könnten. Interessanterweise finden sich unter diesen ›Stilübungen‹ in ›Tynset‹ und ›Masante‹ zwei der stilistischen Grundmuster des ›Ulysses‹: Die Bettfuge versucht, wie Joyce ›Sirens‹-Episode, eine musikalische Form in sprachlich-narrative Strukturen zu überführen (vgl. Kap. 5.4.5.), in einem Abschnitt in ›Masante‹ führt der Erzähler ein brüskes Zwiegespräch mit Gott, das stark an den Kreuzverhörstil der ›Ithaka‹-Episode erinnert – und zugleich an Hildesheimers Definition des Absurden (»Der Mensch fragt, die Welt schweigt«):156 Wen hätte [Augustinus] glücklich gemacht? Antwort? Etwa eine Frau? Nein. Was hat er damit angerichtet? Antwort? Bis zu welchem Alter – Antwort bitte, ich wüßte es gern genau! –, bis zu welchem Alter darf man sündigen, um schließlich doch noch »Seiner Gnade teilhaftig« zu werden […]? Hält Er es mit Hofmannsthals Jedermann, der in den Himmel kommt, weil er in allerletzter Minute bereut, sein Leben lang ein Lump gewesen zu sein? Ist Kardinal Stepinac bei Ihm im Himmel? Der Mörder? Keine Antwort. Nun, Er gibt sie auch anderen nicht, sie deuten unsichtbare Zeichen und behaupten, Seine Stimme gehört zu haben. Sie lügen./ (M, S. 231f.)
Die Erzählsituation in ›Tynset‹ und ›Masante‹ wirkt gerade aufgrund ihrer kompositorischen Durchformung ausgesprochen artifiziell, ist es doch äußerst unwahrscheinlich, dass sich ein assoziierendes Bewusstsein derartig ›druckreif‹ und adressatenbezogen artikuliert bzw. aus dem Stehgreif erzählt. Das Tempus der Gegenwart soll die Unmittelbarkeit und die Gleichzeitigkeit von Erleben und Erzählen stützen, erzählendes und erlebendes Ich fallen weitgehend in eins. Nur in wenigen Episoden blicken die Reflekteure mit einer Erzähldistanz zurück auf ein früheres Ich, das jedoch vom Erzählzeitpunkt nur zeitlich – und nicht etwa durch eine Entwicklung – getrennt ist. Scheffel kritisiert in seiner luziden Analyse der Erzählsituation in ›Tynset‹ aus diesem Grund die Verwendung des Begriffs ›Erzähler‹,
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heimers Schreibstil ist kein Strom-des-Bewusstseins, obgleich er assoziational ist.« (Wolfgang Hildesheimers »Tynset«, Meisenheim 1978 (Hochschulschriften: Literaturwissenschaft 38), S. 160.) Haas Stanley: Wolfgang Hildesheimers »Tynset«, S. 160.
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[d]enn obwohl die Interpreten von Tynset nahezu durchgängig das Ich als »Erzähler« der Rahmengeschichte bezeichnen, ist diese Zuordnung doch problematisch. Tatsächlich entspricht die Ausgangssituation des schlaflosen, die Nacht hindurch monologisierenden Ich nicht der eines Erzählers, sondern eher der eines Chronisten, der seine Situation und seine wenigen Handlungen im Präsens notiert […] und sich im Verlauf der Nacht zeitweise in einen Erzähler von erlebten und erfundenen Geschichten verwandelt. Der Fiktion eines Chronisten widerspricht jedoch, daß das Ich seinen Monolog weder schreibt […] noch spricht […].157
Sofern man die für die homodiegetische Erzählsituation charakteristische Aufsplittung der Vermittlungsinstanz in ein erzählendes und ein erlebendes Ich und das Präteritum als conditio sine qua non für »Erzählung« annimmt, ist der Begriff gewiss problematisch. Hier wird er jedoch (ergänzt durch Loquais Vorschlag »Reflekteur«158) gerade in bewusster Abgrenzung von Stanzels Begriff »Reflektorfigur« und in Ermangelung eines besseren Terminus‹ verwendet – ist er doch m.E. durch den Adressatenbezug der Monologe und die kontinuierliche Selbstthematisierung des Erzählvorgangs nicht unbegründet. Gegen die »Chronistenfiktion« spricht ferner das inhaltliche Argument, dass dem ›Tynset‹-Ich weniger an einer schriftlichen Fixierung als an der Kommunikation seiner Gedanken gelegen und, Scheffels Behauptung zum Trotz, ›Tynset‹ durchaus als ein gesprochener Monolog vorstellbar ist. Ein Spezifikum des ›Tynset‹-Monologs, das diesen von dem ungehindert und unreflektiert einher strömenden stream of consciousness der Molly Bloom deutlich absetzt, sind die zahlreichen Kommentare, mit denen der Erzähler seine Assoziationen ankündigt, steuert und strukturiert, z.B.: »/Mir fällt ein:« (T, S. 62), »– Und jetzt fällt mir ein,« (T, S. 62), »– ja, ich erinnere mich –,« (T, S. 39). Die metareflexiven Kommentare zeigen, daß das Ich – anders als z.B. Molly Bloom oder Leutnant Gustl – bei vollem Bewußtsein seines Denkens reflektiert und sich um dessen präzisen sprachlichen Ausdruck bemüht. Die in korrektem Schriftdeutsch formulierten, zahlreichen beschreibenden Sätze des oben zitierten Typs weisen überdies darauf hin, daß der »Sprecher« dieser Sätze seine Situation über den Augenblick hinaus festhalten und offensichtlich einer anderen Person mitteilen und begreiflich machen will.159
Dabei handelt es sich um Markierungen, die den Eindruck eines freien mündlichen Vortrags erwecken. Diese können als Gliederungssignale an einen imagi157 158
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Scheffel: Formen selbstreflexiven Erzählens, S. 212f. Loquai schlägt für die Erzählinstanz in ›Tynset‹ und ›Masante‹ die Bezeichnung »Reflekteur« vor (Franz Loquai: Hildesheimer, Hamlet und die Häscher. Von der Suche nach Wahrheit zum Ende des Exils, in: Wolfgang Hildesheimer, S. 121–138, hier S. 129), und Volker Jehle übernimmt diese durchaus treffende Bezeichnung (vgl. Volker Jehle: Wolfgang Hildesheimer. Werkgeschichte, Frankfurt a.M. 1990 (suhrkamp taschenbuch materialien 2109), S. 91, 93 u.ö.). Scheffel: Formen selbstreflexiven Erzählens, S. 214.
nierten Leser bzw. Zuhörer adressiert sein; daneben finden sich auch Kommentare, mit denen der Reflekteur in einer Art Selbstgespräch seine Assoziationen zu lenken versucht; meist zielt er darauf ab, unangenehmen, grauenvollen oder auch sinnlosen Themen auszuweichen oder seiner eigenen Konfusion Herr zu werden: »Denke ich jetzt nicht daran –/« (T, S. 35), »Aber was ist es denn, das ich mir unter Tynset vorstelle? Was? – Nichts, sei still, nichts.« (T, S. 138) Häufig werden falsche Erzählansätze, Sachverhalte oder Begriffe nachträglich korrigiert, revidiert und ersetzt: »– nein, das auch nicht: eher […], auch nicht,« (T, S. 86) oder »/Diese Schwaden von Luft, die man nur – nein, falsch: – die man noch nicht einmal anzuzünden braucht,« (M, S. 162). Ein Eindruck von Unmittelbarkeit des Erzählprozesses entsteht durch die Unsicherheiten des Reflekteurs, etwa wenn er Lücken in seiner Kenntnis der antiken Mythologie eingesteht, ohne ein Nachschlagewerk konsultiert zu haben: »diesen griechischen Jüngling, wie hieß er noch? […] – wie hieß der? –, er suchte vor der entgegenziehenden Dämmerung zu fliehen,« (M, S. 174) – oder mit der Digressivität seines Erzählstils zugleich die mangelhafte Bewältigung seiner eigenen Existenz thematisiert: »/Wann komme ich zur Sache? Niemals natürlich, das sollte ich inzwischen gelernt haben. Niemals. Jedenfalls nicht in diesem Leben./« (M, S. 276) Ein besonderes Ungenügen scheint der Erzähler an dem Sprachmaterial zu empfinden, das ihm zur Verfügung steht: »Ich dagegen brauche nur abzuschöpfen und mich an Abgeschöpftem zu bereichern, bevor ich nach Masante zurückkehre. ›Auswerten‹ wäre wohl das richtige Wort, ein scheußliches Wort./« (M, S. 166) Immer wieder werden derartige Überlegungen zur richtigen Wortwahl eingeflochten, in denen sich offenbar eine déformation professionelle dokumentiert (»– ein geglücktes Wort: ›Windspiel‹ –« (M, S. 240)), ist doch der ›Masante‹Erzähler (deutlicher noch als in ›Tynset‹) als Schriftsteller ausgewiesen, der gelegentlich seinem imaginierten Adressaten Einblicke in seinen Zettelkasten (bzw. unter seinen Briefbeschwerer) und in sein Arbeitsverfahren gestattet: »/Es sind da unsichtbare Zettel im Zettelkasten. Ich sollte sie ordnen wie ein Lotto, aber das Thema variiert nicht genug,« (M, S. 220).160 In diesem Sinne können ›Tynset‹ wie auch ›Masante‹ als works in progress verstanden werden, in denen Hildesheimer »vorm Leser die Arbeit des Schriftstellers« verrichtet: Er erlaubt ihm, an sämtlichen persönlichen Abschweifungen und den Ausflügen seiner Phantasie teilzunehmen, der Leser ist dabei, bevor für die letzte Fassung gestrichen
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Auch mit diesem Detail wird ein integraler Bestandteil des schriftstellerischen Handwerkszeugs Wolfgang Hildesheimers in die Fiktion übernommen: »Als ich noch Schriftsteller war, hatte ich, wie wohl die meisten, einen Zettelkasten. Gegen Abschluß eines Buches leerte er sich, um dann dem nächsten Buch entgegenzuwachsen.« (Wolfgang Hildesheimer: Die letzten Zettel, in: Text + Kritik 89/90 (Januar 1986): Wolfgang Hildesheimer, S. 8–18, hier S. 8.)
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wird. Vor ihm sammelt der Autor sein Material, breitet es aus, sortiert es noch nicht, reduziert es noch viel weniger, sondern füllt es gerade aus, vermehrt es mit allem, was im Bewußtsein gerade eintrifft: er macht es mit Ausdauer und Gründlichkeit sichtbar. Einzelstücke, abgeschlossene Prosa-Miniaturen, fallen bei diesem Prozeß ab […] – konzise Mikro-Meisterstücke […]. Hildesheimer macht uns zum Zuschauer seiner Denk- und Gedächtnisfunktionen […].161
Der Schriftsteller-Protagonist von ›Tynset‹ und besonders in ›Masante‹, wo das Erzählverhalten »zunehmend selbstreferentiell« wird,162 kommentiert und bewertet häufig sein eigenes narratives Potential und die unmittelbaren Resultate seiner Arbeit: »/wer hat ihn eigentlich erfunden, den Regenschirm? […] Nichts leichter als das, diese Geschichte meistere ich spielend.« (M, S. 268) Ferner werden dispositionelle Probleme zur Sprache gebracht: In ›Masante‹ wird eine fortlaufende romanimmanente Diskussion über eine Poetik des Anfangs geführt; schon zu Beginn des Textes scheint der Erzähler unzufrieden mit der Erzähleröffnung: »/Kein Anfang, alles nur Vorwand!/« (M, S. 190) und befiehlt sich selbst: »So what? Anders anfangen, mit anderem!/« (M, S. 198) Der anschließende Neueinsatz scheint seinem Anspruch zu genügen: »/Schließlich, eines Tages, erwacht man und fühlt sich nicht mehr bedroht – ja, so ist es besser –,« (M, S. 198f.); wenig später heißt es jedoch wiederum: »Wo also beginnen?« (M, S. 215). Im Verlauf des Monologs werden immer neue Anfänge ausprobiert, alte verworfen oder zuletzt gleichwertig nebeneinander belassen: /Was rede ich da vor mir her, was schwingt da mit, was verschweige ich? Was sollen die herausgegriffenen Beispiele, was versuche ich anhand ihrer zu retten? Eine Niederschrift anfertigen, die Nachkommen an mich erinnert? Ich habe keine. Und wozu erinnert bleiben? […] Schließlich ist eine wahre Geschichte immer die Geschichte neuer Anfänge, nur die falschen Geschichten gehen weiter und entwickeln sich nach einem Gesetz oder Regeln der Kunst. Immer neue Anfänge. (M, S. 232)
Doch während der Erzähler zunächst noch angesichts des grundsätzlichen Zweifels am Sinn seines Erzählens aus der Not eine Tugend machen konnte, erscheint ihm zuletzt sein eigenes Bemühen um einen viel versprechenden, aber konventionellen Anfang absurd: /Alle diese Anfänge – das heißt, vielleicht sind sie auch alle ein Ende. Ich entschuldige sie nicht, verteidige sie nicht, sage nicht, daß sie einen anderen Wert hätten, und nun, da sie, zunehmend, einer nach dem anderen, verworfen werden, verlieren sie ihre Bedeutung auch für mich, sie erlischt im Versuch des Weiterspinnens, verliert sich wie ein Pfad im wehenden Sand. (M, S. 341)
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Gabriele Wohmann: Nachtmonolog, in: Wolfgang Hildesheimer, S. 202–204, hier S. 204. Hoffmann: Prosa des Absurden, S. 252.
Selbst seine monomanische Fixierung auf den Fluchtpunkt Tynset wird als solche hinterfragt und einer radikalen Kritik unterzogen: Und wahrscheinlich – natürlich bin ich nicht sicher –, wahrscheinlich gibt es schönere Orte als dieses Tynset in Norwegen […]. Und doch haben meine Gedanken diesen Ort gewählt, sie umkreisen ihn immer noch. Sie sind viel geschweift, früher, jetzt freilich schon lange nicht mehr, […] aber hier – ausgerechnet sind sie auf ein Hindernis gestoßen. (T, S. 35)
Die hier anklingende Antithetik »früher« – »schon lange nicht mehr«, die Kluft zwischen Gegenwart und Vergangenheit ist konstitutiv für den gesamten Text:163 »Das Leben des Erzählenden ist äußerlich zu einem Stillstand gekommen.«164 Diese Dichotomie, mit der sich das ›Tynset‹-Ich seinen totalen Rückzug in die Isolation immer wieder vor Augen führt, legt eine Entwicklung des Subjekts nahe. Das iterative Erzählen jedoch ist ein deutliches Signal dafür, dass es sich bei den Verrichtungen des ›Tynset‹-Erzählers nicht (oder nur partiell) um die einmaligen Ereignisse einer Nacht handelt, sondern um immer wieder erprobte Routinen, die nicht nur in dieser Nacht, sondern in vielen (wenn nicht allen) zurückliegenden Nächten aufs Neue durchexerziert worden sind: »Ich stehe nachts mehrmals auf und gehe mindestens einmal durch das Haus, […] betrete das steinerne Treppenhaus, wo ich, wenn es nicht zu dunkel ist, Hamlets Vater begegne –/« (T, S. 15f.). Anstelle einer Entwicklung präsentiert ›Tynset‹ also einen Ausschnitt aus der endlosen Wiederholung des Immergleichen, die traditionell vorwärts und in die Weite strebende Dynamik etwa des Bildungsromans wird ersetzt durch einen mit letzter Konsequenz vorangetriebenen Verzicht auf Kontakt und Kommunikation.165 Das Telefon – die letzte Verbindung des IchErzählers zur Außenwelt – ist symptomatisch für diese Weltflucht:
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Vgl. T, S. 101: »früher, jetzt nicht mehr«, »Früher, aber schon seit langem nicht mehr« (T, S. 123), »/Früher, als ich noch in der Stadt wohnte, und in Deutschland, früher habe ich nachts hin und wieder gern im Telefonbuch gelesen.« (T, S. 20f.), »Ich bin kein guter Schläfer, ich war es nie, und jetzt bin ich es noch weniger. Früher, ja, da habe ich den Schlaf nicht vermißt.« (T, S. 73), »Ich bin schon oft gestorben, jetzt allerdings sterbe ich seltener, aber einmal muß es das letzte Mal sein« (T, S. 48). Goll-Bickmann: Aspekte der Melancholie in der frühen und mittleren Prosa Wolfgang Hildesheimers, S. 174. Auch in ›Masante‹ wird die früher-nun-Antithetik aufgegriffen; hier richtet sich der Rückblick von Meona aus stets auf die Zeit in Masante wie auf einen überwundenen Zustand: »/Jetzt sollten die Dinge ihren Schrecken verlieren, ich bin unterwegs, Erwartung gewinnt an Gewicht, ein Anspruch an mich selbst; gelöst und bereit, Früheres abzustreifen, aus der Hülle geschlüpft, tauche ich hervor in dünne Atmosphäre einer unbekannten Zukunft, der meinen, nicht der Meonas. In Masante war ich voll Altern, […]« (M, S. 174, vgl. auch M, S. 187).
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Es gibt nicht viele – nicht mehr viele –, denen es einfällt, mich anzurufen, […] und ich selbst rufe niemanden mehr an, ich wüßte kaum, mit wem ich sprechen, was ich sagen sollte, und was der andere sagt, das weiß ich schon oder will es nicht wissen. Fremde rufe ich nicht mehr an, ich spüre keine Schuldigen mehr auf, ich bin kein Verfolger, ich bin gewarnt. (T, S. 30f.)166
Zwar hat der Erzähler die Interaktion mit der Umwelt eingestellt, der Angst hat er sich jedoch nicht zu entziehen vermocht; er straft sich selbst Lügen, wenn er behauptet: »Heute hat sich diese Angst gelegt, seit ich mich ihr entzogen habe […]« (T, S. 26) oder: »jetzt, da ich keine Flucht mehr plane und das Schreckliche seinen Schrecken verliert./« (T, S. 35) Falsche Selbsteinschätzungen wie diese weisen ihn als einen unzuverlässigen Erzähler aus, der seine Ängste ebenso unterschätzt, wie er die Wirksamkeit seiner Selbsttäuschungsmanöver überschätzt. Die Vereinzelung des Ich-Erzählers bringt es zwangsläufig mit sich, dass sein Erinnerungsvermögen nachzulassen und die Neigung zur Erfindung zu dominieren beginnt: Schon damals begannen Namen mir zu entschwinden, begannen die Namen ihre Träger von fernher zu rufen, es entschwanden mir die Träger, die Züge verwischten, vermischten sich mit Zügen anderer, ich hielt drei Personen für eine und eine für zwei. Heute sind mir Gesichter und Gestalten und Namen entschwunden. (T, S. 87)
Die Problematik von Erinnern und Vergessen, die eines der zentralen Themen etwa Uwe Johnsons ist, stellt sich hier in umgekehrter Weise dar. Während Gesine mit den Unzulänglichkeiten ihrer eigenen löchrigen Erinnerung hadert, bedauert der ›Tynset‹-Erzähler sein Erinnerungsvermögen: »Mein Erinnerungsvermögen ist zwar groß, aber ich würde es gern beschränken,/« (T, S. 249); das an die »Vergangenheit gekettete[s…] Bewußtsein« des Opfers kann »nicht aufhören, sich zu erinnern«,167 während die Täter imstande sind zu vergessen: »/ja, manchmal wäre ich gern einer dieser grausamen Meister im Vergessen, radikal und unbestechlich« (M, S. 250). Bedauernd hingegen stellt der Erzähler fest, dass mit dem Verblassen von Erinnerungen seine Gedanken den Bezug zur Realität verlieren.
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Das Telefon dient nicht mehr zur Interaktion mit anderen Menschen, allein Tonbandansagen ruft der Erzähler an, die sich ebenso monologisch und mechanisch abwickeln wie sein Erzählstrom. Seine mediale Überlegenheit dokumentiert er in den Kommentaren zu den Ansagen, den Reflexionen über Wörter wie ›Nebelgrenze‹ oder ›Mehlschwitze‹. Ähnlich verhält es sich in ›Masante‹ mit Maxine, mit der der Erzähler ein fabulierendes Kräftemessen beginnt. Wirkliche Interaktion findet hier jedoch nur insofern statt, als beständig Überbietungsgesten gegeneinander gestellt werden. Der jeweilige ›Adressat‹ wird bestenfalls als Stichwortgeber in die Erzählungen miteingebunden. Peter Horst Neumann: Hamlet will schlafen, in: Wolfgang Hildesheimer, S. 205–211, hier S. 207.
Das immer wieder aufs neue ansetzende Entwerfen und Verwerfen von Fiktionen gründet in der Einsicht des Reflekteurs, dass ein Menschenleben als Stoff nichts hergibt. Die Fiktion scheint attraktiver als seine Biographie, ein »ganzes Leben, [diese] eng verwobene Kette nichtiger Dinge, aus der mein Leben besteht« (T, S. 49) – ein poetologisches Urteil, das nicht nur die eingeflochtenen Episoden zu beleuchten vermag, die meist keinen Bezug zu realen Erlebnissen und Erfahrungen des Ich-Erzählers aufweisen und bei denen das Verhältnis von Fakt und Fiktion im Unklaren belassen, ja, irrelevant wird. Maxine ist es, die ihre Konsequenz aus der (bei ihr vielleicht nur unbewussten) Einsicht zieht, indem sie sich in zahllosen, einander ablösenden Geschichten immer wieder neu erfindet. Ihre Biographie, ihre Heimat, ihre Eltern, ihre Namen – all dies sind für sie nur offene Parameter, die beliebig ausgefüllt und zu wechselnden Identitäten kombiniert werden können. Die Distanz bzw. Erlebnisunmittelbarkeit ist in ›Tynset‹ und ›Masante‹ jedoch sehr variabel; gerade bei Visionen oder intensiv erlebten Erinnerungen nähert sich der ›Erzählstrom‹ passagenweise einem veritablen Inneren Monolog an, etwa im folgenden ›stream of memory‹, in dem der Erzähler die Erinnerung an die Nabtäerstadt heraufbeschwört, kurz bevor die Bewegung seines Bewusstseins mit einer kurzen Phase des Schlafes (im Text angezeigt durch eine Ellipse) abreißt: /Da – da ist er wieder, der Punkt, […] Da ist er wieder, schreitet durch den Wüstennachmittag über den weiten gelben Platz auf mich zu, ohne Geräusch, schwarz – es erinnert mich – an was nur? –, es erinnert mich an nichts, das ist es, ich habe derartiges noch nie gesehen – Aber er schreitet nicht mehr, er schwebt über dem Boden, schwebt auf mich zu, nein, er schwankt, nein, noch nicht einmal das, er flattert wie eine Fledermaus, er torkelt in der Luft wie ein großes schwarzes Flugblatt, das den Tod des Kaisers aller Reiche meldet, der Wind hat es hierhergetragen, obgleich hier niemand ist, den diese Meldung interessiert. Das ist lächerlich, ja – lächerlich – und ich lache – lache –/ (T, S. 50)
Der tastende, durchweg emotional gefärbte Stil, die rhythmischen Wiederholungsstrukturen und die zunehmend in Auflösung begriffene Syntax – all dies sind Merkmale, die auf eine gegen null gehende Erzähldistanz und eine Bewusstseinsreportage hindeuten – eines Bewusstseins allerdings, das selbst bei hoher emotionaler Involvierung in fortwährender metasprachlicher Reflexion auf die adäquate poetische Bewältigung seiner Assoziationen bedacht ist. »Formale Bewältigung ist das Vehikel, auf dem das automatisch ins Werk fließende Bewußtsein des Ich-Erzählers sich bewegt.«168 Obwohl die Assoziation streckenweise willkürlich voranschreitet, ist das Erzählen kein Selbstzweck. Der Ich-Erzähler verfolgt mit dem bewussten Heraufbeschwören von Erinnerungen das Ziel, die mémoire involontaire auszuschalten, 168
Durzak: Ich kann über nichts anderes schreiben als über ein potentielles Ich, S. 292.
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die ihn immer wieder auf den Schrecken zurückverweist. Er zwingt sich zum Erzählen, das ihm (als Alternative zum Schlaf) dazu dient, seine bewussten und unbewussten Ängste – zumindest zeitweilig – zu verdrängen: Es ist immer überall ein bewußt in Erinnerung gerufenes Erlebnis oder eine Kette von Erlebnissen, die bewußt zum Zwecke des Festhaltens – nicht unbedingt des literarischen Festhaltens, nicht der Niederschrift wegen –, aber als bewußtes In-Erinnerung-Rufen gezeigt werden, so daß die automatischen Gedankengänge eines Inneren Monologes gar nicht beabsichtigt sind. Der Ich-Erzähler zwingt sich ja in beiden Büchern, einer gewissen Linie zu folgen. In beiden Büchern ist er ja immer auf der Suche entweder nach einer Geschichte oder nach einer Ablenkung von furchtbaren Gedanken, also so wie man versucht, wenn man nicht schlafen kann, sich Geschichten zu erzählen, an dieses oder jenes zu denken. Niemals gleitet es in eine tiefere Stufe des Unbewußten ab, so wie es bei Joyce nachvollzogen ist, und auch noch nicht einmal hier: er ist ja hier, er zählt auf, dieses, jenes, das nächste. So arbeitet das Unterbewußtsein ja nicht.169
Hildesheimers Ausführungen zum Trotz ist das unbewusste Moment der mémoire involontaire als Motor des Monologs nicht zu übersehen; oft sind es Sinnesreize, die Assoziationen in Gang setzen. In dieser Hinsicht ähnelt der Text stark dem Inneren Monolog der Molly Bloom, deren Gedankenstrom durch olfaktorische, visuelle oder auditive Erinnerungen angestoßen wird – etwa durch den Körpergeruch ihres Mannes, der sie misstrauisch macht und sie zu Spekulationen über den Verlauf seines späten Abends anregt (»bad enough to get the smell of those painted women off him« (U 18.57)), durch das Muster der Tapete (»what kind of flowers are those they invented like the stars the wallpaper in Lombard street was much nicer« (U 18.1544–1546)) oder das Geräusch eines vorbeifahrenden Zuges, das sie lautlich an ›Loves Old Sweet Song‹ erinnert: »frseeeeeeeefronnnng train somewhere whistling the strength those engines have in them like big giants and the water rolling all over and out of them all sides like the end of Loves old sweeeetsonnnng« (U 18.596–598). Das ›Tynset‹-Ich ist passionierter Koch und züchtet in seinem Garten Kräuter; man erfährt außerdem, dass er früher damit gehandelt hat.170 Obwohl der ›Tynset‹-Monolog grundsätzlich weniger sensuell aufgeladen ist als ›Penelope‹ und sich vornehmlich an optischen Eindrücken entzündet, d.h. an den Gegenständen, mit denen Hildesheimer seinen Protagonisten umgibt, ist der Erzähler ähnlich wie Molly sehr sensibel für olfaktorische Erinnerungen: Meist aber weht unter all den flüchtigen Gerüchen ein Hauch von Weihrauch. […] Der Geruch ist mir nicht unangenehm, er erinnert mich an Vorfreuden auf reiche
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Ebd., S. 276f. Vgl. T, S. 139f. Dies ist aber neben der Tatsache, dass er vor elf Jahren aus der Stadt in Deutschland in das entlegene Haus gezogen ist, das er nun bewohnt (vgl. T, S. 30 und 82), das einzige biographische Faktum, das wir über ihn erfahren.
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Hochzeitsdiners – noch ist man in der Kirche, aber bald wird man beim Essen sitzen –, er erinnert mich an Gänge durch ferne östliche Basare, auch an barbarische Gerichte in der Wüste […]. Er hat aber auch etwas vom Rosmarin oder, mehr noch, vom Origano, ja, das ist es, der sanfteren, aber wildwachsenden Variante des Majoran, den ich zu züchten versucht habe […]. Am Tag wird er meist von anderen Gerüchen übertönt, es zieht allerlei durch meine Räume, kurze sommerliche Stöße von einem Kräuterwind, einem Gewürzwind, zwischen langen Brisen ländlicher Aromata […]. (T, S. 9f.)
Bei den nächtlichen Gängen durch sein Haus versetzt der Erzähler sich oft in künstliche Blindheit, indem er die Räume im Dunkeln belässt, um das Inventar seines Hauses nur zu ertasten; auch die haptische Wahrnehmung stößt Erinnerungen an, die – wie meist – entsetzlich sind: [Ich] betrete andere Räume, in denen ich kein Licht mache, ich will weiter raten, betaste Gegenstände und werde von anderen erschaudernd betastet wie der nächtliche Wanderer von Erlenzweigen am Weg, ziehe aus, das Gruseln zu erlernen, aber ich habe es schon gelernt und verlernt. Ich wandle, der Stachel einer Lanze kratzt meine Haut, ich gehe weiter, eine Hand faßt mich an, aber ich lasse mich nicht fassen, ich gehe vorbei, streiche über Oberflächen, rauh oder weich oder straff – –/ /Wo war es, daß ich eine Trommel sah, bezogen mit dunkler menschlicher Haut, in Sansibar verfertigt? – und wo war es, daß ich Lampenschirme sah, aus heller menschlicher Haut, verfertigt in Deutschland von einem deutschen Bastler, der heute als Pensionär in SchleswigHolstein lebt?/ (T, S. 81)
Diese Gedankenfolge erweckt nun keineswegs den Eindruck eines bewussten »InErinnerung-Rufens«, sondern markiert vielmehr den Punkt, an dem diese Versuche wiederholt scheitern. Die willkürliche Erinnerung generiert Erzählungen und Geschichten, die unwillkürliche führt immer wieder auf die Angst des Erzählers zurück. Verbale bzw. thematische ›Knoten‹ stellen gewissermaßen Dreh- und Angelpunkte des Monologs dar, auf die der Verlauf der unwillkürlichen Assoziation den Ich-Erzähler in regelmäßigen Abständen immer wieder hindrängt. 5.4.2 Hamlet und das Labyrinth – Themen und Anspielungen in ›Tynset‹ und ›Ulysses‹ Diese »bewegliche[n] Isotopien oder Leitmotive, die den Text skandieren«171 lassen sich zugleich als die Hauptthemen des Textes ausmachen: Angst und Tod,
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Christine Chiadò Rana: Das Weite suchen. Unterwegs in Wolfgang Hildesheimers Prosa, Würzburg 2003 (Literatura. Wissenschaftliche Beiträge zur Moderne und ihrer Geschichte 14), S. 188. Auch ›Penelope‹ weist derartige ›Isotopien‹ bzw. verbale Knotenpunkte auf, die Joyce wie folgt beschreibt: »Penelope begins and ends with the female word yes. Her monologue turns slowly, evenly, though with variations, capriciously, but surely like the huge earth ball slowly, surely and evenly round and round spinning,
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daneben Labyrinthe oder die Figur Hamlets. Mollys Innerer Monolog streift vornehmlich Banalitäten wie Kleidung oder Lebensmitteleinkäufe, jedoch auch ihre vergangenen und gegenwärtigen Liebhaber, den Tod ihres Sohnes Rudy, ihre Ehe mit Bloom und die Erinnerungen an dessen Werben um sie. Die Angst des Erzählers, die ihn immer wieder einholt, ist eines jener Themen, die in ›Tynset‹ und ›Masante‹ als ostinato latent vorhanden sind und immer wieder aufscheinen: Der gesamte Monolog des ›Tynset‹-Ich, das ständig neue Hervorbringen von Geschichten, ob Erinnerung oder Fiktion, verfolgt letztlich keinen anderen Zweck als ein Gesang, mit dem man auf einsamen Wegen in der Dunkelheit seine Furcht zu bekämpfen sucht: die Betäubung der Angst. Indem Hildesheimer die Angst des Reflekteurs als implizite Erzählmotivation fingiert, erscheint der Text selbst als eine narrative tour de force eines Einzelnen, der im Erzählen seine Angst zu verdrängen sucht – und ist zugleich ein psychologisches Protokoll des Scheiterns jenes Versuches, denn »das Thema variiert nicht genug, weicht nicht von seinem Grundmotiv ab, dem Schrecken.« (M, S. 220) Noch in den »harmlosesten Überlegungen [drängt] konkretes Grauen an die Oberfläche.«172 In ›Masante‹ wird die existenzielle Angst des ›Tynset‹-Erzählers an die »Häscher« gebunden, der »namenlose Schrecken« konkretisiert und in einen ganzen Katalog von Namen aufgefächert: Kabasta kehrt aus ›Tynset‹ wieder, zu ihm gesellen sich Motschmann und Kranzmeier, Globotschnik und Fricke, Perchtl, SchmittLindach, Buttjes, Stollfuß und Fötterle. Die verschiedenen Namen, die trotz der Lebensläufe, die der Erzähler in seinen Assoziationsstrom einflicht, austauschbar bleiben, personalisieren für Goll-Bickmann die »Ubiquität des Unrechts«: Aus einem unmittelbar frei scheinenden Spiel mit Namen und Verfolgern und Verfolgten konstituiert sich im Laufe der Verarbeitungsversuche schreckensbeladener Stoffe aus der Vergangenheit ein festes System von typisierbaren Gestalten. […] Felber, Lüning, Bloch – dies sind die Namen der Verfolgten. In der Austauschbarkeit dieser Namen wird die Austauschbarkeit ihrer Schicksale sinnfällig. […] Von ihnen geht vielmehr eine Signalwirkung aus, die die Grundsituation des Verfolgten vor dem Auge des Lesers entstehen läßt und damit dessen Verzweiflung, dessen nutzlose Abwehr und Angst.173
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its four cardinal points being the female breasts, arse, womb and cunt expressed by the words because, bottom (in all senses bottom, button, bottom of the class, bottom of the sea, bottom of his heart), woman, yes.« (James Joyce: Letter to Frank Budgen [16 August 1921], in: ders.: Letters of James Joyce, Vol. 1, S. 169f., hier S. 170.) Hanenberg: Geschichte im Werk Wolfgang Hildesheimers, S. 121. Vgl. auch GollBickmann: Aspekte der Melancholie in der frühen und mittleren Prosa Wolfgang Hildesheimers, S. 199: »Die Erfahrungen mit der Geschichte, speziell der jüngsten, deutschen Geschichte, haben sich zu einem Trauma verdichtet; die Erinnerung an den Terror zwingt sich ins Bewußtsein, sobald die Spur einer Assoziation möglich ist.« Goll-Bickmann: Aspekte der Melancholie in der frühen und mittleren Prosa Wolfgang Hildesheimers, S. 341.
Ebenso allgegenwärtig wie die Angst ist der Tod in ›Tynset‹ und ›Masante‹. Er mag verschiedene Erscheinungsformen annehmen, immer lauert er dem Erzähler auf und manifestiert sich in unterschiedlichsten Todesvisionen, die bereits in ›Tynset‹ anklingen und in ›Masante‹ das Ende der Erzählung, den Tod des Erzählers in der Wüste, antizipieren. Weitere Themen, die die Phantasie des Ich-Erzählers in ›Tynset‹ wie auch in ›Masante‹ beschäftigen, sind Labyrinthe (in ›Tynset‹ etwa das Labyrinth in der Villa Barbarigo in Valsanzibio (vgl. T, S. 58f., 143) oder das urbane StraßenLabyrinth der Landeshauptstadt (vgl. T, S. 66–72), in ›Masante‹ – neben der Wüste selbst, in die sich der Erzähler auf seiner »methodische[n] Irrfahrt« (vgl. M, S. 163) begibt – werden die Blutgasse in Wien (vgl. M, S. 222) und das versinkende Venedig als solches bezeichnet (vgl. M, S. 245)) – und immer wieder Hamlet. Über den Stellenwert des Labyrinths im ›Ulysses‹ ist keine Spekulation vonnöten, sind doch allein schon der Nachname Stephens, den sein Verfasser durch das »huge labyrinth which is Ulysses« schickt,174 sowie Joyce Anmerkungen zu seiner Gestaltung des urbanen Labyrinths in der ›Wandering Rocks‹-Episode (vgl. Kap. 2.2 dieser Arbeit) deutliche Signale für diesen Motivkomplex. Ein – besonders für das ›Penelope‹-Kapitel, jedoch auch in anderen Episoden des ›Ulysses‹ – zentraler Themenbereich, der bei Hildesheimer restlos ausgespart bleibt, ist der Bereich des Körperlichen und Sexuellen. Joyce wurde von seinen Gegnern neben Obszönität auch Koprophilie unterstellt, und er selbst gibt unumwunden zu, ›Penelope‹ sei »probably more obscene than any preceding episode.«175 In der Tat ist die ›Penelope‹-Episode Wasser auf den Mühlen dieser feindseligen Kritik, etwa wenn Molly feststellt, dass ihre Menstruation einsetzt; zugleich kehren ihre Gedanken zurück zu dem Stelldichein mit Boylan, und sie betrachtet ihre Schenkel, während sie vom Nachttopf Gebrauch macht – stets besorgt, Bloom könnte aufwachen: I want to get up a minute if Im let wait O Jesus wait yes that thing has come on me yes now wouldnt that afflict you of course all the poking and rooting and ploughing he had up in me now what am I to do Friday Saturday Sunday wouldnt that pester the soul out of a body unless he likes it some men do God knows theres always something wrong with us 5 days every 3 or 4 weeks usual monthly auction isnt it simply sickening […] have we too much blood up in us or what O patience above its pouring out of me like the sea anyhow he didnt make me pregnant as big as he is I dont want to ruin the clean sheets I just put on I suppose the clean linen I wore brought it on too damn it damn it […] O Jamesy let me up out of this pooh sweets of sin whoever suggested that business for women what between clothes and cooking and children this damned old bed too jingling like the dickens I suppose they could hear us away over the other side of the park […] easy God I remember one time I could scout it
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Burgess: Joysprick, S. 82. James Joyce: Letter to Frank Budgen [16 August 1921], in: ders.: Letters of James Joyce, Vol. 1, S. 169f., hier S. 170.
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out straight whistling like a man almost easy O Lord how noisy I hope theyre bubbles on it for a wad of money from some fellow Ill have to perfume it in the morning dont forget I bet he never saw a better pair of thighs than that look how white they are the smoothest place is right there between this bit here how soft like a peach easy God […] easy easy O how the waters come down at Lahore (U 18.1104–1148)
Obwohl der ›Tynset‹-Erzähler sich dem Leser in Hausschuhen und Nachthemd vorstellt (vgl. T, S. 50), stellt auch Durzak in seinem Gespräch mit Hildesheimer fest, das das Körperliche ein Bereich ist, der in »Tynset« und »Masante« großenteils fehlt. Gemeint ist: daß also die Sprache sich auf einer Ebene entfaltet, die sich der Kontrolle des Erzählers, der arrangiert, entzieht. Ich könnte als Beispiel bei Joyce auf das hinweisen, was Sie selbst in bezug auf »Finnegans Wake« erwähnen: der ganze Bereich des Obszönen, des Sexuellen, der mit einfließt in diese Episode, die Doppeldeutigkeit der Sprache, die dazu führt, daß die Wörter verzerrt werden, daß also bestimmte Witzaspekte hineinkommen. Die Fortführung wäre vielleicht die Theorie der Etyme bei Arno Schmidt, also der Bereich des Unterbewußten in der Sprache. Wird nicht diese hier in der Sprache hineingeholte neue Dimension bei Ihnen ausgeklammert?176
Hildesheimer entgegnet darauf, dass diese Totalität etwa der Darstellung von ›Finnegans Wake‹ oder der Inkorporation des Unbewussten, wie Schmidt sie in der Etymtheorie bzw. in der Praxis in ›Zettels Traum‹ unternimmt, nicht seiner Absicht entsprochen habe, außerdem mag diese Differenz auch den völlig gegensätzlichen Charakterdispositionen des hoch reflektierten ›Tynset‹-Erzählers und Molly Blooms geschuldet sein. Joyce pointierte Kurzcharakteristik der Molly Bloom – »It seems to me to be perfectly sane full amoral fertilisable untrustworthy engaging shrewd limited prudent indifferent Weib. […] Ich bin der Fleisch der stets bejaht.«177 – lässt den Gegensatz zu dem auffallend körperlosen und intellektuell-melancholischen ›Tynset‹-Erzähler in aller Deutlichkeit hervortreten. Das Unbewusste artikuliert sich in dem Erzählstrom des Reflekteurs bestenfalls indirekt, wenn seine existenzielle Angst durchbricht, Sexualität hingegen wird völlig ausgeblendet. »Hamlets Vater und Tynset sind die einzigen Motive, die in Tynset Symbole werden.«178 Hamlets Vater (vgl. T, S. 16, 88, 90f., 107, 143, u.ö.) ist als Phantasmagorie der Antagonist des ›Tynset‹-Ich, der es in stummem Vorwurf fortwährend auf die Fragen nach Schuld, Rache und Handeln bzw. Zaudern zurückwirft. So ist es
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Durzak: Ich kann über nichts anderes schreiben als über ein potentielles Ich, S. 278f. James Joyce: Letter to Frank Budgen [16 August 1921], in: Letters of James Joyce, Vol. 1, S. 169f., hier S. 170 (Kursivierung im Original). Joyce spielt hier ex negativo auf den Ausspruch des Mephisto in der Studierzimmerszene des ›Faust‹ an: »Ich bin der Geist, der stets verneint« (V.1338). Haas Stanley: Wolfgang Hildesheimers »Tynset«, S. 102.
kaum verwunderlich, dass es für den ›Tynset‹-Erzähler aufgrund der klanglichen Entsprechung von »Tynset« zu »Hamlet« nicht weit ist: »/Tynset – klingt das nicht wie Hamlet? Ja, es klingt wie Hamlet, seltsam, daß mir dies jetzt erst einfällt. Wie Hamlet, ja, das ist es, ›da liegt’s‹ – ›ay, there’s the rub!‹ – There it is, indeed – ay – ay –‹/« (T, S. 90). In seiner Tatenlosigkeit angesichts der NS-Verbrechen identifiziert sich der Protagonist mit dem notorischen Zauderer, der den Mord an seinem Vater ungesühnt lässt: »[I]ch bin Hamlet, ich sehe meinen Onkel Claudius, kauernd oder rutschend vor dem Stuhl, im Versuch, sein Verbrechen betend abzuwälzen, aber ich töte ihn nicht, ich verzichte, ich handle nicht, andere handeln, ich nicht« (T, S. 64). Auch der ›Masante‹ Erzähler sieht sich als einen Helden »des Wetters, nicht der Tat.« (M, S. 206). Hier wird der Vergleich mit Hamlet weiter ausgeführt: /Hamlet, jung und dicklich, immer in Handschuhen, denn er scheut die Berührung, ein beträchtlicher Esser wie ich, ein virtuoser Schläfer, ein dürftiger Wacher. […] Redend und überredend vereinsamt er. […] Wehleidig, ein Hypochonder. Hatte er einen Blick hinter die Dinge? Was waren seine Dinge? The time is out of joint: mehr eine vage Ahnung als der Ausdruck einer bestimmten Sicht […]; zwar nicht schön, aber doch wohl – im Zusammenhang mit der bösen Zeit und dem Lauf der Welt – durchaus normal. Die Zeit ist niemals in den Fugen gewesen, Hamlet neigte zu Pathos. (M, S. 277f.)
In dieser kontrastierenden Gegenüberstellung zieht der Erzähler die Konsequenz aus der Einsicht in die Absurdität: Das Unrecht, das für Hamlet die Welt aus den Fugen brachte, ist nun »durchaus normal«. Hildesheimer war – wie Joyce – ein exzellenter Kenner der Werke Shakespeares, und die größte Faszination übte auf ihn – wie auf Joyce – die Figur des Hamlet aus: Was ich lese, begleitet mich, ich reise in minimal aber ständig zunehmender Begleitung. Ich muß mich zum Klischee bekennen. Zum Beispiel Shakespeare… Ja, Sie haben recht: Hamlet vor allem, mein ständiger Begleiter, ein guter Gesell. Ich kenne ihn fast auswendig, in Englisch, und in Deutsch, bis in die zartesten Übersetzungsfehler hinein.179
Franz Loquai sind erhellende Analysen der »das ganze Werk Hildesheimers durchziehenden Hamlet-Paraphrase« zu verdanken, »die in der deutschen Literatur unseres Jahrhunderts – das ist nicht zu hoch gegriffen – einzigartig dasteht.«180
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Hildesheimer: Antworten über Tynset, S. 386. Loquai: Hildesheimer, Hamlet und die Häscher, S. 126. Vgl. auch Franz Loquai: Hamlet und Deutschland. Zur literarischen Shakespeare-Rezeption im 20. Jahrhundert, Stuttgart/Weimar 1992 (Metzler Studienausgabe), darin bes. im Fünften Teil: Hamlets Ende Kap. 2: Flucht aus der Geschichte in die Geheimnisse der Kunst. Wolfgang Hildesheimer und Hamlet, S. 192–213.
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In der englischsprachigen Literatur findet sich ihre Entsprechung bei Joyce, und zwar von ›Stephen Hero‹ bis hin zum ›Ulysses‹. Angesichts der Identifikation von Hildesheimers Reflekteur (und seines Verfassers)181 mit Hamlet drängt sich die Parallele zu Stephen Dedalus (und letztlich gewiss auch zu Joyce selbst) auf, in dessen Imagination Shakespeares Vorlage eine gleichermaßen herausragende Rolle spielt, die in leitmotivartigen Strukturen in Stephens Bewusstseinsfragmenten aufscheint und am dichten Geflecht von Anspielungen im ›Ulysses‹ erheblichen Anteil hat.182 Stephen Dedalus und Wolfgang Hildesheimer tragen sich mit dem Gedanken, Hamlets Geschichte neu zu erfinden, zu korrigieren,183 ihr neue Dimensionen abzugewinnen, oder sie selbst noch einmal zu erzählen (vgl. hierzu die Bibliothekszene in der ›Scylla and Charybdis‹-Episode, U 9). Hildesheimer, der selbst ein unvollendetes ›Hamlet‹-Romanprojekt zurückgelassen hat,184 lässt seinen Protagonisten zuletzt resignieren: »Wie dem auch sei, die Geschichte, mit
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Das Netz der Anspielungen reicht von der einfachen Erwähnung (vgl. M, S. 365, 263) bis hin zum direkten Zitat (inklusive Übersetzung): »Oder ist es schon nicht mehr gestern, sondern heute? ›Tis now the very witching time of night.‹ – Nicht auf Hamlet ausweichen! Seine ›wahre Spükezeit der Nacht‹ macht mich zwar wach – doch wach wozu? Zum Diktat der Tatsache, daß ich wach bin. Was weiter? Nichts« (M, S. 277). Auch ›Macbeth‹ (V.v) und ›A Midsummer Night’s Dream‹ (IV.i) sind eine Quelle von Zitaten in ›Masante‹: »/›this petty pace from day to day…‹, das ist gut gesagt, petty pace. Kleinliches Zeitmaß.« (M, S. 366); »/›Methought I had…‹ – mir war, als hätte die Klinke sich bewegt, bin aber so unsicher wie Zettel in Erinnerung seines Traumes. ›Bottom’s dream, because it hath no bottom…‹ – Ein Faß ohne Boden, […]« (M, S. 356). Vgl. Hildesheimer: Ich werde nun schweigen, S. 47–49: »An Hamlet fasziniert mich vor allen Dingen sein Verhältnis zur Realität, sein sehr stark gebrochenes Verhältnis zur Realität, und sein Zögern, das Zaudern – Hamlet ist eben doch für mich der Prototyp des Cunctators, der Dinge sich ausmalt und sie dann nicht tut, und so ist es in mir auch. […] Bei Hamlet sind Phantasie, Einbildungskraft und Realität weit getrennt, und das ist bei mir auch so. Ich lebe auch zum großen Teil in meiner Phantasie – ein Leben an dem wahrscheinlich keiner teilhat.« Vgl. hierzu bes. die Monographie von William M. Schutte: Joyce and Shakespeare. A Study in the Meaning of Ulysses, Yale 1971 [unveränderter Reprint der Ausgabe von 1957 (Hamden)] (Yale Studies in English 134). Vgl. M, S. 279: »Ein Hindernis unter vielen: die Namen. Schon der Name Hamlet ist falsch.« Bereits nach dem Abschluss von ›Tynset‹ spricht Hildesheimer mit Rodewald über seine andauernde Faszination für die Figur Hamlets und ist sich dessen ganz sicher, dass diese auch Eingang in ›Masante‹ finden wird: »[N]ächstesmal bringe ich Hamlet ganz gewiß wieder unter, nicht weil ich will, sondern er ist schon in den Notizen drin. Das beruht natürlich darauf, daß ich ja mal ein Hamlet-Buch habe schreiben wollen – was eine absurde Idee ist – und daß einiges Material sich dazu drängt, geschrieben zu werden […].« (Hildesheimer: Wolfgang Hildesheimer im Gespräch mit Dierk Rodewald, S. 156.) Elemente aus diesem Hamlet-Fragment sind in ›Masante‹ übernommen worden, »vor allem dieses doch sehr reizvolle Moment einer Euphorie, in dem sich also die Sprache auflöst, weil sich das Denken auflöst, darauf wollte ich
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all ihren Unstimmigkeiten, ist besser erzählt, als ich es könnte. Ihr Unheld betritt mein Zimmer nicht mehr, ich nehme mit mir selbst vorlieb./« (M, S. 280) Gegenüber dem einfachen, teilweise sehr sinnlichen, gelegentlich unflätigen Stil Molly Blooms nehmen sich die Assoziationen von Hildesheimers Protagonisten eloquent und elaboriert aus; Mollys stream of consciousness schließt zahlreiche Verse aus Liedern ein, dies ist jedoch der Tatsache geschuldet, dass sie Opernsängerin ist; die Monologe von Hildesheimers Reflekteuren muten streckenweise wie Kataloge der Bildungsbeflissenheit und Belesenheit an, da sie einen reichen Schatz an Zitaten und Anspielungen bergen, aus denen Hamlet nur einen (wenngleich den umfangreichsten) Komplex bildet;185 Augustinus (vgl. M, S. 215, 229–231), Mary Stuart (vgl. M, S. 182f.), Kardinal Vespucci (vgl. M, S. 188), Büchner und Blake (vgl. T, S. 144, M, S. 334) treten neben abseitige historische und kirchengeschichtliche Details, etwa den Herzog von Wellington, der »die nächtliche Schlacht von Bar-le-Duc« durchschlief (T, S. 43), oder Bildmaterial wie die Zeitungsphotographie von Minister Franz Josef Strauss und Kardinal Wendel aus dem Jahr 1961 (vgl. T, S. 60f. und 74f.).186 Die eng-
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nicht verzichten. Und das ist jetzt das Ende von Meona.« (Hildesheimer/Jens: Selbstanzeige, S. 231.) Aus ›Hamlet‹ (III, iv) stammt auch das Zitat in ›Masante‹ »– a rat! dead for a ducat! –,« (M, S. 331); mit diesen Worten tötet Hamlet Polonius in seinem Versteck, aus dem Beginn (I, i) von ›Twelfth Night‹ Duke Orsinos Ausspruch »That strain again! It had a dying fall, – –«/ (M, S. 340). Bei dieser Hereinnahme von dokumentarischem Material handelt es sich jedoch um einen singulären Fall in ›Tynset‹; außerdem zieht bezeichnenderweise vorrangig die visuelle Komposition der Szene das Interesse des Ich-Erzählers auf sich: »Landschaft mit zwei Figuren« (T, S. 60), während ihre historische Dimension weitgehend unspezifisch bleibt. In ›Masante‹ ist das Netz der Verweise und Zitate noch facettenreicher und dichter; es inkorporiert Vico und seine Geschichtsphilosophie (vgl. M, S. 157), die bekanntlich auch Joyce (besonders ›Finnegans Wake‹) stark beeinflusst hat, wie auch Sueton (vgl. M, S. 205), die kirchengeschichtlichen Anspielungen reichen über Calvin und Luther (vgl. auch M, S. 263), Papst Callixtus IX., John Knox (vgl. M, S. 201), Augustinus und die ›Confessiones‹ (vgl. M, S. 229), Franz von Assisi (vgl. M, S. 234) bis zu Kardinal Stepinac (M, S. 232) und umfassen auch ein Bibelzitat: »und siehe, die Saat seines Zornes ging auf« (Off. Joh. 33,12; vgl. M, S. 232). Die bildende Kunst ist repräsentiert durch Rubens (M, S. 168), Breughel (vgl. M, S. 273), Manet (M, S. 293), die Philosophiegeschichte durch Anaximander (vgl. M, S. 341f.), Nietzsche (M, S. 230), die Poetik durch Horaz (vgl. M, S. 232 und 292) und Vergil (vgl. M, S. 262). Den größten Anteil haben literarische Anspielungen und Zitate, die die Literaturgeschichte von ihren Anfängen bis in die literarische Moderne durchmessen (wenngleich nicht so systematisch wie in der ›Oxen of the Sun‹-Episode im ›Ulysses‹), von den Merseburger Zaubersprüchen (M, S. 190) über Dante (vgl. M, S. 260), Chaucers ›Canterbury Tales‹ (vgl. M, S. 285), die Theateraufführungen des Marquis de Sade (M, S. 185), Rabelais, den »Rhapsoden des Stuhlgangs und der blühenden Darmflora« (vgl. M, S. 284), Lessings ›Minna von Barnhelm‹ (vgl. M, S. 296), Schillers ›Räuber‹ (vgl. M, S. 203:
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lischen, italienischen und lateinischen Textelemente sind eine weitere Facette in ›Tynset‹ und ›Masante‹, die die Bildungsbeflissenheit des Erzählers zur Schau stellen: »Es werden nicht nur unterschiedliche Erzählstücke in den Text eingebracht, sondern auch Fremdwörter aus anderen Sprachen aufgenommen und in den Text integriert.«187 Die literarischen Anspielungen in ›Penelope‹ hingegen beziehen sich (mit Ausnahme von Defoes ›Moll Flanders‹ (vgl. U 18.653–660) und »Master Francois Somebody« Rabelais ›Gargantua und Pantagruel‹ (vgl. U 18.488–493)) auf ein buntes Potpourri aus zeitgenössischer, vor allem trivialer Literatur,188 wobei Molly überdies ihre mangelnde Bildung zur Schau stellt, indem sie Aristoteles »some old Aristocrat« nennt,189 oder sich noch immer über Poldys Erklärung des Wortes »metempsychosis« entrüstet: »and that word met something with hoses in it and he came out with some jawbreakers about the
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»/Schufterle: »Sein Verstand geht im Ring herum. Ich glaub, er macht Verse« und M, S. 366, wo das Zitat ironisch verkehrt wird: »Meine Zeit läuft aus, und, wahrhaftig, nicht nur die meine. Alain, der Arme! Dem Manne Gottes kann nicht geholfen werden.«), Hemingways ›For whom the bell tolls‹ (vgl. M, S. 366: »wenn ihm die Stunde schlägt«) bis hin zu Edgar Allan Poes Gedicht ›The Raven‹ (vgl. M, S. 260: »nevermore«), Hugo von Hofmannsthal (vgl. M, S. 232 und 290), Büchner (vgl. M, S. 334), Kafka (vgl. M, S. 299 und 349), T. S. Eliot (vgl. die Anspielung auf den Beginn von ›The Waste Land‹, M, S. 286: »April is not the cruellest month, Mr. Eliot: March is.«) und Samuel Greenberg (vgl. M, S. 351). Die Vielfalt der Anspielungen, die oft abenteuerliche Verbindungen eingehen, findet prägnant in der Wendung Ausdruck »Neville Chamberlain oder Charlie Chaplin oder der pechkolhrabenschwarze Mohr« (M, S. 267). (Zu den musikalischen Anspielungen vgl. Kap. 5.4.5.) Chiadò Rana: Das Weite suchen, S. 165. Vgl. beispielsweise T, S. 76: »– sorprendente bellezza –«, T, S. 159: »this richly coloured dreariness –/«, M, S. 205: »but, alas, there it is«, M, S. 230: »When all passion was spent./« Vgl. U 18.488–493: »Ruby [Amye Reade: ›Ruby. A Novel. Founded on the Life of a Circus Girl‹ (1889)] and Fair Tyrants [wird in ›Ulysses‹ James Lovebirch zugeschrieben; der Autor existiert, der Roman hingegen nicht; vgl. auch U 18.1396] he brought me that twice«; U 18.650: »he was like Thomas in the shadow of Ashlydyat [Henry (Ellen Prince) Wood: ›The Shadow of Ashlydat‹ (1863)]«; U 18.653–660: »she gave me the Moonstone to read that was the first I read of Wilkie Collins East Lynne [Henry Wood: ›East Lynne – Or the Earl’s Daughter‹ (1861)] I read and the shadow of Ashlydat Mrs Henry Wood [s.o.] Henry Dunbar by that other woman [Mary Elizabeth Braddon: ›Henry Dunbar‹ (1864)] I lent him afterwards with Mulveys photo in it so as he see I wasnt without and Lord Lytton Eugene Aram [Edward Bulwer-Lytton: ›The Trial and Life of Eugene Aram‹ (1864)] Molly bawn she gave me by Mrs Hungerford [Margaret Wolfe Hungerford: ›Molly Bawn‹ (1878)] on account of the name I dont like books with a Molly in them« (U 18.653–660); U 18.968 (siehe auch U.10.606): »Sweets of Sin [nicht nachweisbar]« sowie U 18.1474f.: »pity I never tried to read that novel cantankerous Mrs Rubio lent me by Valera [Juan Valera Y Alcalá Galiano] with the questions in it all upside down the two ways«. (Vgl. Don Gifford/Robert J. Seidman: Notes for James Joyce’s Ulysses. Revised and expanded edition, London 1988, bes. S. 610–634.) Vgl. U 18.1238–1240: »the Aristocrats Masterpiece he brought me another time as if we hadnt enough of that in real life without some old Aristocrat or whatever his name is«.
incarnation he never can explain a thing simply the way a body can understand« (U 18.565–568, vgl. auch U 4.339). Insofern erinnern Hildesheimers Monologe weniger an den ›bodenständigen‹ bis vulgären Monolog Molly Blooms, sondern vielmehr an die stream of consciousness-Passagen, in denen Stephens Bewusstsein vor dem Leser ausgebreitet wird: Ineluctable modality of the visible [1]: at least that if no more, thought through my eyes. Signature of all things I am here to read [2], seaspawn and seawrack, the nearing tide, that rusty boot. Snotgreen, bluesilver, rust: coloured signs [3]. Limits of the diaphane. But he adds: in bodies [1]. Then he was aware of them bodies before of them coloured. How? By knocking his sconce against them, sure. Go easy. Bald he was and a millionaire, maestro di color che sanno [4]. Limit of the diaphane in. Why in? Diaphane, adiaphane. If you can put your five fingers through it it is a gate, if not a door. Shut your eyes and see. […] You are walking through it howsomever. I am, a stride at a time. A very short space of time through very short times of space. Five, six: the Nacheinander [5]. Exactly: and that is the ineluctable modality of the audible. Open your eyes. No. Jesus! If I fell over a cliff that beetles o’er his base [6], fell through the Nebeneinander ineluctably! I am getting on nicely in the dark. My ash sword hangs at my side. Tap with it: they do. My two feet in his boots at the end of his legs, nebeneinander [5]. Sounds solid: made by the mallet of Los demiurgos [7]. Am I walking into eternity along Sandymount Strand? Crush, crack, crick, crick. Wild sea money. (U 3.1–19)
Stephen Dedalus Innere Monologe – wie diese Passage aus dem Beginn von ›Proteus‹ – haben gewiss nicht unwesentlich zu der Verwirrung der ›Ulysses‹Leser beigetragen, da sie komplexe Konglomerate verschiedenster literarischer und philosophischer Reflexionen sind, die auf unterschiedlichste Intertexte Bezug nehmen – hier etwa auf Aristoteles‹ (des ›kahlköpfigen Millionärs‹) ›De Sensu et Sensibili‹ [1], Jakob Boehmes (1575–1624) ›De signatura rerum oder Von der Geburt und Bezeichnung aller Wesen‹ (1622) [2], Cloyne George Berkeleys (1685–1753) ›An Essay Towards a New Theory of Vision‹ (1709) [3], Dantes Beschreibung des Aristoteles im ›Inferno‹ [4], Lessings ›Laokoon‹ [5], Shakespeares ›Hamlet‹ I.iv [6] und William Blakes ›The Book of Los‹ (1795) [7]. Aufgrund der prinzipiellen Offenheit des ›Tynset‹-Textes, der nicht zwischen wichtigen und unwichtigen Details trennt, da es keinen plot gibt, der eine derartige Selektion und Hierarchisierung nahe legen würde, und der Beschaffenheit seines Ich-Erzählers, seiner Bildung, Belesenheit, seines historischen Detailwissens, dringt gerade durch die totale Beschränkung auf dessen Bewusstsein (und damit in zweifacher Hinsicht auf einen der Welt abgewandten Innenraum), seine Erinnerungen, seine Welterfahrung eine Fülle an Wissen in den Text ein. ›Tynset‹ ist für Walter Jens der »Erfahrungsbericht eines Menschen, der in einer einzigen Nacht alle Räume und Zeiten durchmißt.«190 Paradoxerweise gewinnt
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Walter Jens: Ein Ausgelieferter übertönt die Nacht, in: Über Wolfgang Hildesheimer, S. 121–127, hier S. 125.
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›Tynset‹ gerade in der Reduktion und im Verzicht auf Interaktion des Protagonisten mit der Welt und mit anderen Figuren ein enzyklopädisches Moment, wird »poetische Enzyklopädie« – freilich allein durch Reflexion anstatt durch Inkorporation greifbarer Realitätspartikel.191 Wie Stephen sich in seinem Monolog während des Spaziergangs entlang Sandymount Strand selbst zum Objekt der Beobachtung wird, sieht sich auch das ›Tynset‹-Ich in seinen Visionen von außen und erlebt in diesen epiphanieartigen Erinnerungsmomenten eine Auflösung bzw. Entgrenzung des Ich: Die Täler sind Hunderte Kilometer lang, und in diesen langen Tälern höre ich von weitem den Zug […] oder – besser noch: stehe ich selbst im Zug, […] und ich sehe mich, mein Bild, meine dunkle Fläche und meine Umrisse, wie sie, weit dort hinten, an den Hängen entlang getragen oder gezogen oder geschoben werden […], und ich sehe mich weit von mir entfernt, sehe mich fern und klein und sehe mich wieder nah und riesig groß und wieder winzig klein, ich bin hier, und ich bin nicht hier, ich bin dort hinten und wieder hier und wieder weit von mir weg./ (T, S. 12)
5.4.3 »Am Rand einer Wüste, einem Punkt des Zufalls…« – Das Verblassen von Raum und Zeit in Hildesheimers Prosa ›Tynset‹ wie ›Masante‹ sind Studien in zeitlicher Verdichtung, die die traditionell extensive Zeitgestaltung zugunsten einer intensiven verabschieden: Die erzählte Zeit beträgt wie im ›Ulysses‹ unter 24 Stunden, in ›Tynset‹ umfasst sie zehn Stunden einer Nacht (von etwa elf Uhr bis zum darauf folgenden Morgen um neun), in ›Masante‹ einen Nachmittag und eine Nacht (von etwa 3 Uhr nachmittags bis 5 Uhr morgens, also etwa 14 Stunden). In ›Tynset‹ wird die Uhrzeit durch Blicke des Erzählers auf die Uhr oder durch Glockenschläge markiert, die Übergänge zwischen Nacht und Tag werden häufig thematisiert;192 in ›Masante‹ dagegen ist die Zeitmessung ungenauer, die Wüste scheint keine Stunden und auch die Tageszeiten nur vage zu kennen, allein Tag und Nacht sind unterscheidbar. Im Gegensatz zu sämtlichen bisher analysierten Texten wird weder in ›Tynset‹ noch in ›Masante‹ ein Jahr zur Datierung der Handlung genannt; wir erfahren allerdings, dass ›Tynset‹ im November angesetzt ist,193 während sich ›Masante‹
191 192
193
Puknus: Wolfgang Hildesheimer, S. 7. »Elf Uhr« (T, S. 44); »es ist zwischen elf und zwölf Uhr nachts« (T, S. 46); »Es nähert sich auch zwölf Uhr« (T, S. 73); »Zwölf Uhr. Die Stunde des Alterns vorbei« (T, S. 75); »Der Morgen kann es noch nicht sein, es ist zwei Uhr nachts im November« (T, S. 132); »Ich sehe auf die Uhr. Es ist zwanzig Minuten vor vier« (T, S. 140); »Vom Kirchturm schlägt es neun« (T, S. 147). Vgl. T, S. 132: »es ist zwei Uhr nachts im November.«
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auf Montag, den 1. und Dienstag, den 2. Juli datieren lässt.194 Der Erzähleingang von ›Masante‹ scheint ein narratives Programm vorzugeben, das vom Text jedoch nur bedingt eingelöst wird: Am Rand einer Wüste, einem Punkt des Zufalls, fern von Masante – nein, so nicht. Zuviel vorgegeben, zu wenig Distanz. Zuerst den Zeitpunkt, dann den Ort. Dann erst die Orte, an denen ich nicht bin, und ihre Zeiträume. Wenn alles bestimmt ist: die Auftritte. Her mit dem Wandkalender! Wenn man ihn regelmäßig bedient, ist er unfehlbar. Die Namen sind zwar lächerlich, doch die Daten unerbittlich./ […] Heute ist das Fest des kostbaren Blutes. Morgen der Namenstag aller jener, die Helmut heißen […] Es ist also – Kenner von Namenstagen hätten es erraten – der erste Juli. (M, S. 157– 159)
Eine ähnliche Verpflichtung auf verifizierbares Datenmaterial wird in ›Tynset‹ durch das Kursbuch und das Telefonbuch suggeriert, die der Reflekteur auf dem Nachttisch aufbewahrt – zumal man an die Arbeitsverfahren Joyce, Johnsons oder Arno Schmidts erinnert wird, für die eine Lektüre derartiger ›Datenbanken‹ bei der Gestaltung ihres jeweiligen epischen Kosmos unerlässlich war, da sie jenen durch nicht-fiktive Elemente absichern und objektivieren wollten. Zu Beginn des Monologs wird denn auch das Telefonbuch vom ›Tynset‹-Ich zum epischen Ideal erklärt, es berichtet, es habe früher »nachts hin und wieder gern im Telefonbuch gelesen. […] Es ist, im ganzen, ein Buch, das keine Zeit verliert, ein Buch voller gedrängter Wiedergabe von Tatsachen« (T, S. 20f.). Früher hatte das Telefonbuch eine derartige Vorbildfunktion, dass ihm der IchErzähler nacheifern wollte: /Es gab übrigens eine Zeit, in der ich versucht habe, selbst ein Telefonbuch zu schreiben, als Übung. Ich begann bei A, aber dazu fiel mir nichts ein, der Zwang des Anfangsbuchstabens hemmte mich bei dem Versuch, eine Einheit von Angaben aus sich heraus entstehen zu lassen. Es war schon zuviel vorgegeben. Ich legte daher eine Kartothek an, um meine Einfälle nicht vom Buchstaben abhängig machen zu müssen und mit einem Register stetig wachsender Möglichkeiten spielen zu können. Aber ich gab es bald wieder auf, es war ein müßiger Versuch: nirgends ist man der Spur eines Lebens weiter entrückt als dort, wo man diese Spur zu imitieren sucht. Es war, als wollte ich mit meiner Hand den Abdruck einer Fußsohle in den Sand prägen. […] Was einer sagt oder liest oder schreibt oder denkt oder druckt oder predigt, ist nicht entweder gut oder schlecht. Es ist entweder falsch oder richtig, und das galt auch für mein Telefonbuch: es war falsch./ (T, S. 36f.)
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Zu Beginn heißt es: »/Es ist also – Kenner von Namenstagen hätten es erraten – der erste Juli« (M, S. 158) und: »die Wand weiß, bis auf die große Eins darauf. Montag.« (M, S. 199); gegen Ende des Romans ist es »Morgen […]. Der Morgen des 2. Juli« (M, S. 358).
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Nachdrücklicher wäre dem topographischen Realismus eines James Joyce oder Uwe Johnson vermutlich keine Absage zu erklären. Mit dieser poetologischen Aussage seines Ich-Erzählers distanziert sich zugleich der Autor Hildesheimer von einem peniblen Bemühen um Faktizität, das immer ungenügend sein müsse, da die literarische Figuration zwangläufig hinter dem realen Vorbild zurückbleibe. Zudem werden durch die äußeren Vorgaben dem Erzähler als Erfinder zu viele Restriktionen auferlegt, die die Entstehung von Fiktionen hemmen. Dagegen ist zu halten, dass es ja jenen Schriftstellern nicht um die ›Erfindung‹ von Daten (in der Begrifflichkeit des Erzählers: um die künstliche Imitation einer Spur) geht, sondern um eine Integration verifizierbarer Daten in die Fiktion (also gewissermaßen um ein Faksimile der konkreten Spur in der Prosa), die der Reflekteur vermutlich als gleichermaßen beengendes Korsett empfinden würde. In ›Tynset‹ wie ›Masante‹ lautet der Einspruch: »zu viel vorgegeben« (T, S. 36 und M, S. 157). Als ein Schriftsteller, der durch die Schule des Absurden gegangen ist, lehnt Hildesheimer die Wiedergabe äußerer Realität durch präzise Beschreibung ab. Entsprechend zweifelt sein Schriftsteller-Erzähler grundsätzlich an den Möglichkeiten sprachlicher Mimesis: »Was läßt sich von einem Ding oder einem Ort durch Beschreibung überhaupt mitteilen? Nichts« (T, S. 55). Der Wandkalender in ›Masante‹ liefert mit seinen Namen eine Fülle von Anreizen für die Imagination des Erzählers; wie das Kursbuch in ›Tynset‹ bedeutet er jedoch keine Verpflichtung auf (kalendarische) Präzision, sondern gibt lediglich einen äußeren Rahmen vor, der am Ende mit dem sich auflösenden Zeitgefühl des Erzählers implodiert, wenn es heißt: Tage ziehen vorbei – »this petty pace from day to day…«, das ist gut gesagt, petty pace. Kleinliches Zeitmaß. Vielleicht zieht bald ein Tag vorbei, der mir gefällt, ein Tag ohne Wind, ein Tag in Masante, so ein grauer trüber nichtsversprechender Donnerstag, ohne Anrufe, ohne Post, ein Tag zum Vertun, dann springe ich mitten hinein mit meinem Regenschirm und lasse mich treiben, über meine böse Stunde hinweg und weiter./ (M, S. 366)
Beide Texte nähern sich dem zeitdeckenden Erzählen an und verpflichten damit sich und den Leser auf das Bewusstsein ihrer Reflekteure; gelingt es ihnen, kurzzeitig Schlaf zu finden, so wird dies durch eine Ellipse markiert. In dieser Hinsicht ist Hildesheimers Bewusstseinsrealismus konsequenter als Joyce, der die formale Struktur des ›Ulysses‹ dem Stundenrhythmus unterordnet, indem jede Episode einer Stunde des Tages entspricht. In Hildesheimers Monologen gibt die individuelle Zeitwahrnehmung der Protagonisten (also die durée) den Rhythmus der Erzählung vor; Glockenschläge und Zeitangaben dienen allein dem Leser zur Orientierung – gewissermaßen als letzte Erinnerung an eine objektive temps, die der ›Masante‹-Erzähler zu Beginn seines Monologs vorgeblich anerkennt: »Die Zahlen gelten überall und binden auch mich an ihre Zeitrechnung, somit in Praxis und Routine, an verschiedene Mitwelten« (M, S. 157f.). Diesen Mitwelten, 372
so scheint es das Verlangen des ›Tynset‹-Erzählers nach Schlaf ebenso wie seine Sehnsucht nach dem kosmischen Nichts nahe zu legen, sucht er sich gerade zu entziehen: »Um den Schrecken zu entfliehen, versucht das monologisierende Ich und mit ihm der Text, das Koordinatensystem von Zeit und Raum zu durchstoßen, um sich aus ihm hinauszubewegen.«195 Zwar ist dieser Versuch, die raumzeitlichen Begrenzungen zu überwinden, zum Scheitern verurteilt; die in Erinnerung und fernere Zeiten und Räume schweifende Gedankenbewegung des Reflekteurs leistet jedoch diese Entgrenzung, die ihm de facto verwehrt ist; wie in der ›Penelope‹-Episode, die über die (von Joyce im ›Linati-Schema‹ als einzige bezeichnenderweise auf keine genaue Stunde des Tages festgelegte) erzählte Zeit durch Rückgriffe in die Vergangenheit hinausgreift, werden auch in ›Tynset‹ zwischen die »lineare und objektive Zeit der Uhren […] zahlreiche andere, mehr oder weniger ferne Zeiten eingefädelt, die von der Subjektivität des monologisierenden Ich stärker abhängig sind.«196 Angesichts der völligen Vereinzelung der Ich-Erzähler in Hildesheimers Monologen ist auch die Frage nach Regionalismus oder ›Welthaltigkeit‹ hinfällig geworden.197 »Der Erzähler verweigert sich der Welt, wie sich diese seinem fragenden Erkenntniswillen entzieht.«198 Diese Programmatik des Rückzugs wird vom ›Tynset‹-Erzähler am deutlichsten formuliert: »Aber seit ich nun hier bin, bin ich nur noch hier, immer ausschließlicher, der Kreis, in dem ich mich bewege, wird immer kleiner, und meine Bewegungen innerhalb des Kreises werden immer sparsamer, kaum berühre ich noch seine schrumpfenden Grenzen./« (T, S. 82) Der Lebensraum des ›Tynset‹-Subjekts beschränkt sich auf das Haus, in dem es lebt, von hier aus verlieren außerhalb liegende geographische Orte ihre Bedeutung; da sie von der Raumwahrnehmung des Erzählers nicht erfasst werden, wird ihnen sogar ihre Realität abgesprochen: »nicht Sizilien, auch nicht Lissabon, diese Orte gibt es, von dem Punkt in der Nacht aus gesehen, an dem ich jetzt bin, nicht. Ich bin jetzt außerhalb allem, in einer anderen Dimension« (T, S. 141). Im Gegensatz zu allen bisher berücksichtigten Romanen fehlen topographische Koordinaten in Hildesheimers Prosamonologen fast völlig. Das Kursbuch wird wie der Wandkalender in der Hand der Erzähler von seiner eigentlichen
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Chiadò Rana: Das Weite suchen, S. 39. Ebd., S. 45. Wolfgang Hildesheimer verzichtet in allen seinen Werken auf ein urbanes setting und führt diesen Umstand auf seine eigene Lebenssituation zurück: »Ich lebe in Poschiavo (Graubünden) und in Urbino (Marche), also in der Provinz, und bin überzeugter Provinzler, es ist beinah schon eine Weltanschauung.« (Wolfgang Hildesheimer: Vita [1966], in: Wolfgang Hildesheimer, S. 17f, hier S. 18.) Loquai: Auf der Suche nach Weite, S. 50.
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Funktion als Präzisionsinstrument entbunden, leistet keine Festlegung, Präzisierung oder Begrenzung, sondern wird in den Dienst der Imagination gestellt. »Das monologisierende Ich benutzt die Angaben des Kursbuches als Sprungbrett für die Phantasie und überwindet so die Entfernungen und zeitlichen Begrenzungen,«199 wiewohl auch hier zu Beginn seine objektive Gültigkeit und die »wohltuende Beschränkung auf das Wesentliche« (T, S. 11) noch anerkannt und gelobt wird: Es ist mir auch weniger um die Zeiten zu tun als um die Orte und ihre Entfernungen untereinander und von mir, der ich jetzt im Bett liege, weit von Norwegen, und im Kursbuch lese. Die Entfernungen bleiben immer dieselben, darauf wenigstens kann man sich verlassen./ /Das norwegische Kursbuch ist ein gutes Kursbuch. Es enthält kein Wort, keine Zahl und kein Zeichen zuviel. […] Und mit jeder Zeile wechselt die Zeit, wechseln Zeit und Schauplatz des Geschehens. Und umgekehrt: jede Reise ist eine Bestätigung der relativen Verläßlichkeit des Buches […] – aber im norwegischen Kursbuch steht mehr, wenn man es recht zu lesen versteht. (T, S. 11)
Das Kursbuch wird nur zu Beginn des Romans erwähnt und tritt dann – wie der Kalender in ›Masante‹ – zunehmend in den Hintergrund. Zwar liefert es »mit seinen Abfahrts-, Ankunftszeiten und Ortsangaben […] ein mehr oder weniger zuverlässiges, scheinbar objektives Koordinatensystem von Zeit und Raum.«200 Dieses Koordinatensystem ist jedoch weit weniger elaboriert als der Stadtplan von Dublin, der für den ›Ulysses‹ maßgeblich ist – und es ist nur der Ausgangspunkt für die Reisen, die sich als Projektionen des Ich-Erzählers in dessen Imagination abzeichnen. Kursbücher, Straßenkarten und Atlanten haben für Hildesheimer bei weitem nicht den Status als Datenbanken und reale Quellen wie etwa für Joyce, Schmidt oder Johnson, sondern sind vielmehr »ein Element der Fiktion. Für mich existieren diese Orte ja eigentlich gar nicht, nur in meiner Phantasie […].«201 Die anfangs getroffene chronotopologische Fixierung wird in ›Masante‹ nachträglich als Akt der Willkür entlarvt, wenn der Erzähler den Zufall als seiner »Ordnung« entsprechend bezeichnet: Die Zeit ist bestimmt, die Kalenderzahl steht. Bestimme ich den Ort: ein Punkt am Rand der Wüste, an den einer wie ich nur zufällig gelangt, das entspricht genau meiner Ordnung, so hatte ich es mir vorgestellt, so weit so gut. Ein blinder Stich mit dem Bleistift auf die Landkarte: Meona. Meona, beinah verlassen, Siedlung eines Volkes der Vorzeit, genannt Karumäer, das klingt wie eine Erfindung, ist es vielleicht auch. (M, S. 164)
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Chiadò Rana: Das Weite suchen, S. 64. Ebd., S. 61. Hildesheimer: Ich werde nun schweigen, S. 45.
Der textimmanente Freispruch von Faktizität und Verifizierbarkeit (es tut letztlich nichts zur Sache, ob die Vorgeschichte von Meona eine Erfindung ist oder nicht) bedeutet nun allerdings nicht, dass vollends auf eine topographische Unterfütterung der Szenerie verzichtet und stattdessen – etwa wie in der Legende ›Schläferung‹202 – der Sprung in die Phantastik vorgegeben sei. Orte und Landschaften dienen zwar nicht als Basis der Fixierung des Geschehens, sind hingegen für den Bühnenbildner Hildesheimer als atmosphärischer Hintergrund unverzichtbar: [N]atürlich möchte ich gern, daß der genaue atmosphärische Ort nachvollziehbar wäre, und wie schaffe ich das mit unkonventionellen – d.h. in diesem Fall: mit sprachlichen – Mitteln? Ich schaffe es eben mit unkonventionellen Mitteln nicht, und ich bin nicht ganz sicher, ob mich nicht das verleitet hat, auch für die Bühne zu schreiben. Da kann ich es konstituieren, da kann ich es genau kontrollieren.203
›Tynset‹ und ›Masante‹ sind keineswegs frei von Ortsnamen – sie sind immerhin titelgebend! –, und Tynset lässt sich nicht nur im Kursbuch der norwegischen Eisenbahn, sondern auch in einem Atlas nachschlagen. In der Tat liegt dieser Ort auf dem Weg nach »nach Stören« zwischen Elverum und Röros (vgl. T, S. 12). Alle genannten Orte haben reale Vorlagen im Erfahrungsraum des Verfassers.204 Der Ich-Erzähler in ›Tynset‹ lebt – das geht aus diversen räumlichen Details hervor, wenngleich der Standort nie explizit benannt wird – in Hildesheimers Haus in Poschiavo (Graubünden),205 das ›Masante‹-Ich hat mit Cal Masante Hildesheimers Bauernhaus bei Urbino (Marche) bewohnt, das ebenfalls ›Cal Masante‹ hieß.206 Die Wüstenstation in ›Masante‹ mit dem Namen ›Meona‹ hingegen ist von Hildesheimer erfunden bzw. aus verstreuten Realitätsfragmenten zusammengesetzt worden:
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Wolfgang Hildesheimer: Schläferung, in: ders., Gesammelte Werke in sieben Bänden, hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle, Bd. I: Erzählende Prosa, Frankfurt a.M. 1991, S. 140–153. Hildesheimer: Wolfgang Hildesheimer im Gespräch mit Dierk Rodewald, S. 153. In seinen ›Antworten über Tynset‹ gibt Hildesheimer Auskunft über die realen geographischen Vorlagen der Orte in ›Tynset‹, der Nabtäerstadt (T, S. 47–50), Somerset (T, S. 142) und dem Labyrinth der Villa Barbarigo (T, S. 59, 143f.): »Ja, ich war in der Nabtäerstadt, sie heißt Avde. Die Wüste ist der Negev. Ich kenne Somerset, die Landschaft ist tatsächlich von Architekten entworfen, man sieht es ihr an. Auch das Labyrinth der Villa Barbarigo existiert, noch vor wenigen Wochen war ich dort, die Hecken wurden soeben für den Sommergebrauch gestutzt, die Gärtner orientieren sich an Wollfäden.« (Hildesheimer: Antworten über Tynset, S. 384.) Vgl. Jehle: Wolfgang Hildesheimer. Werkgeschichte, S. 108. Vgl. Hildesheimer: Die Subjektivität des Biographen, S. 464: »Aus seinem früheren Wohnsitz, der eine große Ähnlichkeit mit dem meinigen hat, ist er [der Ich-Erzähler in ›Masante‹] nach Italien gezogen und hat dort einen Bauernhof, der Masante heißt. So hieß der Bauernhof, der zehn Jahre lang mir gehörte.«
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Den Namen habe ich gewählt, weil er mir gut klang, wie der eines irischen Mädchens. Es gibt eine Siedlung in Israel, die »Meoná« heißt. Aber hier ist das Geschehen nicht angesiedelt, sondern in der Nähe eines Kibuzzes, der »Yòtvata« heißt. Dazu ist zu sagen, daß alle von mir dargestellten Geschehnisse, wirklich oder fiktiv, sofort atmosphärisch oder topographisch an bestimmten Orten angesiedelt sein müssen. Das heißt, diese Festlegung vollzieht sich automatisch, und oft schon war ein Ort oder eine Atmosphäre Ausgangspunkt einer Erzählung oder Fixpunkt einer Fiktion.207
Dabei verwendet Hildesheimer auf die Ausstaffierung seines epischen Raumes nicht weniger Akribie: Ich bin zwar in dieser Welt, wenn man so will, nicht ganz zu Hause, aber natürlich habe ich mich in ihr doch eingerichtet, und topographisch und atmosphärisch stimmt bei mir immer alles ganz genau. Es gibt keinen einzigen Ort, der nicht erlebt ist […] in meinen Büchern, den ich nicht kenne, den ich allerdings dann neu einrichte und mit Dingen ausstatte, die ich für meine Fiktion brauche. Da bin ich ganz dezidiert.208
Die räumliche Topographie ist bei Hildesheimer also kein Selbstzweck, sondern öffnet einen Gestaltungsspielraum, den der Verfasser funktionalisiert und neu einrichtet. Gerade in der Wilhelmstadt-Episode entsteht der Eindruck, dass es Hildesheimer bei der enumeratio von Straßennamen nicht um die präzise topographische Verankerung der Fiktion geht, sondern um eine weitere Variante des Spiels mit (Orts- und Personen-)Namen, das in ›Tynset‹ (später auch in ›Masante‹) als Motor der Assoziation höchst bedeutsam ist. Bei der Beschreibung der Autofahrt des Ich-Erzählers durch die Landeshauptstadt (T, S. 66–72) finden zahlreiche topographische Details Erwähnung, die unmissverständlich auf Hannover schließen lassen. »Es muß Hannover gewesen sein« (T, S. 72), bestätigt auch der Erzähler. Peter Hanenberg hat den Straßennamen in dieser ›Tynset‹-Episode nachgespürt und kommt zu bezeichnenden Ergebnissen: Von den wahrgenommenen Straßen existieren auch heute die meisten noch in Hannover, jedoch mit einigen charakteristischen Ausnahmen. Die »Hermann-Riedel-Straße«, von der es heißt, daß »jede deutsche Stadt« [T, S. 68] eine Straßen [sic] dieses Namens hat, existiert im Stadtplan nicht, und doch klingt dieser Name gerade typisch […]. Die »Marschnerstraße« hingegen klingt wie eine billige Erfindung und Anspielung auf Marschmusik, signalisiert sie doch, daß »an Peripherien […] das Musische auf seiner Flucht angehalten und beim Namen genannt« [T, S. 68] wird. Eine Marschnerstraße, benannt nach dem 1861 dort verstorbenen deutschen Komponisten Heinrich Marschner (geb. 1795), gibt es in Hannover aber. Allerdings sucht man die »Judengasse« [T, S. 69f.] wiederum vergebens, die sich in der Beschreibung im Gedenken an die Geschichte der »Oberen Schießschanze« anschließt. Ihre Erfindung dient der Situierung des Erzählers: »die Judengasse, wo ich hingehöre«.209
207 208 209
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Ebd. Hildesheimer: Ich werde nun schweigen, S. 50. Hanenberg: Geschichte im Werk Wolfgang Hildesheimers, S. 124f.
Das Auffinden der geographischen Vorbilder für die in den Monologen erwähnten Orte ist die eine Seite – die Bedeutung der Namen lässt sich jedoch nicht an ihrer topographischen Nachprüfbarkeit, sondern an ihrem Stellenwert in der Erinnerung und Imagination des Ich-Erzählers ermessen. Und gerade das Ineinandergreifen von Realität und Fiktion bzw. das Abweichen von der Realität ist bezeichnend für den Spiel-Raum, in dem sich die Assoziation des Ich-Erzählers entfaltet. [D]iese Erzählung befindet sich in einem vollkommenen Gleichgewicht zwischen dem, was sie aus sich, aus ihren Wörtern und Sätzen heraus sein kann, und dem, was sich allenfalls, dem Gegenstand nach, auf eine reale, sinnlich wahrnehmbare, vorhandene Welt beziehen läßt. Das Inventar ihrer Szenerien, Reminiszenzen, Anekdoten, Berichtpassagen ist denkbar, realistisch angelegt. Das Haus, in dem der Schlaflose sich zur Ruhe legt oder in dem er herumwandert, wird fast halluzinativ deutlich. […] Zugleich aber ist alles, was erzählt wird, nicht auf einen realistischen identifizierbaren Erfahrungsraum bezogen, sondern immer wieder nur auf sich selbst.210
In ihrem beständigen Rückgriff auf bestimmte Räume nähern sich die Monologe der Molly Bloom und des ›Tynset‹-Erzählers einander an; Molly kehrt allerdings in ihrer Erinnerung an ihre Jugend nach Gibraltar zurück, während die Reminiszenzen der Ich-Erzähler in ›Tynset‹ wie ›Masante‹ kein derartiges verlorenes Paradies hergeben – die Erinnerung verweist sie zwangsläufig zuletzt auf erlebtes oder imaginiertes Unrecht. Hildesheimers Protagonisten bedürfen daher eines imaginierten Ziels für ihre Wunschprojektionen. Mit ›Tynset‹ im Titel des ersten großen Prosamonologs ist jene in die Zukunft gerichtete Projektion benannt, ›Masante‹ indes weist in die Vergangenheit zurück, als ein Ort, den der Erzähler zugunsten der Station am Rande der Wüste aufgegeben hat; »Tynset wurde zuletzt, Masante wird bereits zu Beginn verworfen, von dort ist der Reflekteur zur Wüstenstation Meona aufgebrochen, die Gedanken an Masante gelten Vergangenem.«211 Tynset »ist so wenig ein realer Ort, wie pure Fiktion«;212 der »abstrakte[n] Nirgendwo-Ort«213 wird für den Ich-Erzähler zum Fluchtpunkt, zur einzigen und letzten Motivation, seine selbst gewählte Isolation zu verlassen. »Obwohl ›Tynset‹ einen realen Bezugsort in Norwegen hat, erscheint dieser Ort meist nur als Wort, Klang-Sprache oder Name, der die Assoziationen des monologisierenden Ichs anregt.«214 Etwa achtzig Mal scheint der Name »Tyn210 211 212 213
214
Heißenbüttel: Nur Erfindung, nur Täuschung?, S. 213. Jehle: Wolfgang Hildesheimer. Werkgeschichte, S. 108. Hanenberg: Geschichte im Werk Wolfgang Hildesheimers, S. 124f. Manfred Durzak: Die Exekution des Erzählers. Wolfgang Hildesheimers »Tynset« und »Masante«, in: ders.: Gespräche über den Roman. Mit Joseph Breitbach, Elias Canetti, Heinrich Böll, Siegfried Lenz, Hermann Lenz, Wolfgang Hildesheimer, Peter Handke, Hans Erich Nossack, Uwe Johnson, Walter Höllerer. Formbestimmungen und Analysen, Frankfurt a.M. 1976 (suhrkamp taschenbuch 318), S. 296–313, hier S. 304. Chiadò Rana: Das Weite suchen, S. 102.
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set« im Text auf; tatsächlich ist es vornehmlich das Schriftbild und die Klangeinheit, das visuelle wie lautliche Material des Wortes, das den Reiz »Tynsets« für den Erzähler ausmacht; seine Faszination fokussiert sich auf das »Ypsilon. Wo ein Ypsilon ist, da steckt nicht selten ein Geheimnis, oft aber auch nur Mythologie« (T, S. 13): Tynset. Das klingt nach. Es klingt hell, gläsern – nein, das nicht, es klingt metallen. Die Buchstaben sind gut gewählt, sie passen zueinander. Oder scheint es mir nur so? […] Tynset, daran bin ich im Vorbeigehen haftengeblieben, dieses Wort umkreisen meine Gedanken, sie kreisen es ein. Dieses Ypsilon! Indem es schräg nach links unter die Zeile ragt und daher zwischen den Zeilen steht, hat es einen Fang ausgestreckt, an dem die Fetzen der Gedanken, müde und in wachsendem Maße bereit, ein Hindernis wahrzunehmen, ja, es sogar willkommen zu heißen, sich weit aufgerissen haben und hängengeblieben sind. Dabei ist dieses Ypsilon noch nicht einmal recht aussprechbar. Oder zumindest: es ist Sache des Zufalls, ob dem Mund die Stellung gelingt, um der Stimme den Laut zu erlauben. Das, neben seiner Schräge, hebt das Ypsilon von allen anderen Buchstaben ab, macht es zu einer trügerischen Komponente inmitten lapidarer Tatsachen. Da liegt es denn, auf dem Weg zwischen I und Ü, liegt genau auf der Mitte, aber das Ü selbst liegt auf der Mitte eines Weges, es liegt auf der Hälfte des doppelt so langen Weges von I zu U. Die zweite Hälfte dieses Weges, die Strecke von Ü zu U, hat keine Mitte, hat kein Zeichen, das sie markiert. (T, S. 19f.)215
Die phonetischen Digressionen, zu denen das Y den Reflekteur animiert, deuten darauf hin, dass er gar nicht ernsthaft hinter die bloße Wortgestalt vorzudringen gedenkt und an dem realen Ort in Norwegen selbst – wenngleich er immer wieder wiederholt, dorthin aufbrechen zu wollen – kaum interessiert ist. Zudem würde der tatsächliche Augenschein Tynsets dem Ort das »Rätsel« nehmen, das allein durch die räumliche Distanz und die Tatsache, dass Tynset für den Erzähler ein unbeschriebenes Blatt ist, gewahrt bleibt. Daher verbietet er sich jegliche Spekulation, die den Ort fasslicher erscheinen lassen könnte: Tynset ist ein guter Name für das Rätsel. Indem man dem Unbekannten einen Namen gibt, wird es zwar nicht bekannter, das Rätsel enthüllt sich nicht mit dem Namen, aber es ist benannt, es hat eine Bezeichnung erhalten, die das Rätselhafte, das es in sich birgt, zusammenfaßt, chiffriert, die Summe aller Rätsel und gleichzeitig die Wurzel aus ihnen. Das Wort TYNSET wird der Summe und der Wurzel einigermaßen gerecht, jedenfalls wüßte ich kein besseres. Aber was ist es denn, das ich mir unter Tynset vorstelle? Was? – Nicht, sei still, nichts. Ein Geheimnis verbirgt sich dahinter. Um es zu erforschen, wäre vielleicht eine Reise noch nicht einmal der rechte Weg. […] Ich sollte froh sein,
215
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Vgl. auch die längeren Reflexionen über »Tynset« T, S. 20, 59, 133–135, 138f., 146, 152f.
diesen Namen gefunden zu haben, ohne nach dem Ding oder dem Ort zu forschen, der diesen Namen trägt. (T, S. 138)
Nach diesen Vorzeichen erscheint es nur folgerichtig – wenn die Logik des Absurden als maßgeblich angenommen wird – dass das »einzig mögliche Ziel« sich bald als das bloße gedankliche Spielzeug einer schlaflosen Nacht entpuppt und bei Anbruch des nächsten Tages wieder verworfen wird. »Die Möglichkeiten des Rätsels ›Tynset‹ werden fortgelegt, nachdem sie durchgespielt worden sind.«216 Was in der Nacht noch als fester Entschluss des Ich-Erzählers erschien, rückt nun zunehmend in die Ferne. Sei es der Schnee (vgl. T, S. 146, 152), sei es die Tatsache, dass der Ich-Erzähler – ein Oblomov217 – ungern sein Winterbett verlassen will (vgl. T, S. 135) oder dass er seine eigene Verklärung Tynsets durchschaut, jedes Argument wiegt nun schwer genug, den Plan, nach Tynset zu fahren, ein für allemal ad acta zu legen, ohne dass dabei der Eindruck eines schwerwiegenden Verlusts entstünde: Und Tynset? Wie ist es jetzt mit Tynset? Vorbei, erledigt. Es ist zu spät. Nichts mehr davon. […] Ich habe mir ohnehin zuviel davon versprochen, obgleich ich mich jetzt nicht erinnere, was es eigentlich war, das ich mir davon versprochen habe. Irgend etwas muß es wohl gewesen sein. Was es auch sei, viel kann es ja nicht sein, ich habe mich gewiß Trugbildern hingegeben, falschen Erwartungen. (T, S. 146)
Bei Tagesanbruch (und am Ende des Textes) ist Tynset schließlich »entschwunden, der Name vergessen, verweht wie Schall und Rauch, wie ein letzter Atemzug –« (T, S. 153). Mit dem Klang des Wortes ist auch der Fluchtpunkt des Textes verloren, denn ›Tynset‹ ist, wie im folgenden Kapitel gezeigt werden soll, »als Klangwerk komponiert. Daher existiert es nur im Hier und Jetzt. In dem Moment, in dem Tynset ›hinfällig‹ und der Name fort ist, endet auch der Text.«218 5.4.4 Die Häscher – Historie und Gesellschaftskritik in ›Tynset‹ und ›Masante‹ Zwar sind ›Tynset‹ und (mit Einschränkungen) ›Masante‹ in einem isolierten, von Raum und Zeit weitgehend unabhängigen, jedoch nicht geschichtslosen Raum situiert. Der weitgehende Verzicht auf eine chronotopologische Ausformung bedeutet keineswegs, dass ›Tynset‹ und ›Masante‹ jeglichen Bezug zur außerfiktionalen Wirklichkeit – und dies bedeutet vor allem zur deutschen Geschichte – vermissen ließen. »Hildesheimer mag sein Buch als allerpersönlichsten Ausdruck verteidigen, die reale Substanz – die in ihm enthaltenen wesentlichen Züge der 216 217 218
Loquai: Auf der Suche nach Weite, S. 50. Vgl. Hildesheimer: Ich werde nun schweigen, S. 48. Chiadò Rana: Das Weite suchen, S. 103.
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westdeutschen Gesellschaft und der konkret-historischen Form der Passivität vieler zu ihr im Widerspruch stehenden Intellektuellen – diese reale Substanz ist unübersehbar.«219 Die Erzähler sind zwar in ihrer Vereinzelung der Welt entzogen, jedoch nicht befreit von Trauer und Erinnerung, von der Furcht vor den Rückständen und Auswüchsen unbewältigter Vergangenheit und den potentiellen Schrecknissen der Zukunft. ›Tynset‹ ist zwar – dem Autor zufolge nicht direkt ein politisches Buch. Das politische Bewußtsein kommt natürlich stärker zum Ausdruck als in den in der Tat schon etwas veralteten Lieblosen Legenden. Das Politische wird an sich in einer Rondoform immer als Hauptthema benützt, an dem sich der Ich-Erzähler – an den Schrecknissen der unmittelbaren Vergangenheit stößt sich der Ich-Erzähler ab, um in eine Unwirklichkeit zu fliehen. Es wäre mir nicht gegeben, ein politisches Buch zu schreiben, in dem das Politische vordergründig vorhanden ist.220
Geschichte ist latent gegenwärtig, wiewohl die Ich-Erzähler sie mit immer neuen Fiktionen zu verdrängen suchen. Der Eindruck des Holocaust bildet eine tiefere Bewusstseinsebene des Ich-Erzählers, ein Trauma, das »er erzählend gerade zu verdrängen sucht.«221 Die Verdrängung der Erinnerung ist jene vergebliche Intention, die die Reflexionen des Erzählers in Bewegung hält.«222 Das ›Tynset‹Ich weiß sehr wohl, was ihn um den Schlaf bringt: es sind nicht die Geräusche, die mich wach halten, es ist etwas anderes – was ist es? […] Erinnerungen zum Beispiel, die ziehen mir scheinheilig entgegen, ich nehme sie auf, und plötzlich enthüllen sie einen entsetzlichen Kern, angesichts dessen Grinsen der Schlaf entflieht, endgültig./ (T, S. 73f.)
Der nationalsozialistische Terror erhält damit die Funktion eines Subtextes, der wie beiläufig immer wieder aufscheint: »/Soweit Hamar. Ist dazu noch etwas zu sagen? Ich glaube nicht. Doch. Im letzten Krieg hat der deutsche Kommandant dreizehn Einwohner an Laternenpfählen aufhängen lassen.« (T, S. 15) Mit den Häschern hat Wolfgang Hildesheimer ›Tynset‹ und ›Masante‹ zahlreich bevölkert; sie sind als allgegenwärtige Antagonisten seiner Reflekteure die Personifikationen der »Erfahrungen aus [s]einer Tätigkeit als Dolmetscher bei den Nürnberger Prozessen […] – das sind alles imaginierte Schreckenssituationen, die wohl auch ein paar Jahre brauchten, um dann klar und stilistisch richtig zum Ausdruck gebracht zu werden. Vielleicht war es dann zu spät.«223 Die »Mörder, […] Ordnungsbewahrer, […] Hautabzieher und Pensionäre in Schleswig-Hol-
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Kähler: Hildesheimers Flucht nach Tynset, S. 796. Hildesheimer/Jens: Selbstanzeige, S. 228. Matthias Burri: Das Ende des Erzählens bei Wolfgang Hildesheimer, Lizentiatsarbeit masch., Zürich 1983, S. 67. Hanenberg: Geschichte im Werk Wolfgang Hildesheimers, S. 121. Durzak: Ich kann über nichts anderes schreiben als über ein potentielles Ich, S. 293.
stein«, die »knochenbrechenden Familienväter aus Wien, Aufknüpfer, Menschenschützen« (T, S. 152), die er bei den Nürnberger Prozessen erlebte, die Mörder von einst bilden das epische Personal, das hervorging aus seiner »Konfrontation mit den Kriegsverbrechern und mit den potentiellen Kriegsverbrechern.«224 Hildesheimers Geschichtsauffassung – »Geschichte ist das ewig Scheiternde, oder Geschichtsschreibung ist die Dokumentation des ewig Scheiternden, denn wenn sie positiv ausgelaufen wäre, hätten wir den Idealzustand«225 – erscheint in ›Tynset‹ und ›Masante‹ durch die Häscher personifiziert als eine »saubere Reihe von Kämpfern, Raufbolden, Säufern und Mördern, die dafür sorgt, daß Geschichte entsteht« (M, S. 237). Hatte Hildesheimer in den ›Lieblosen Legenden‹, den Theaterstücken und Hörspielen noch auf eine Gestaltung der »unbewältigte[n], bedrückendste[n] Gegenwart« verzichtet,226 da sie sich weder »in Satire […] ausdrücken« ließ, die hier auf die »Auswüchse[n] der Kultur, des Kulturlebens« zielt, noch überzeugend »auf die Bühne gebracht werden« konnte,227 wird auch er – wie seine Protagonisten – im Lauf seines literarischen Schaffens, bzw. genauer: mit dem Beginn der monologischen Phase – von den Exponenten der unbewältigten deutschen Geschichte eingeholt: Die Eindrücke der Kriegsverbrecherprozesse haben »sich fortgezeugt, und die Figuren von damals kommen noch in allen [s]einen Büchern, also in allen [s]einen quasi autobiographischen Büchern vor.«228 Bei einer Gegenüberstellung von ›Tynset‹ und ›Masante‹ weist Hildesheimer darauf hin, daß sich die Gewichtung der Historie von Schrecken der Vergangenheit zu den »Gefahren und […] potentiellen Schrecknisse[n] der Jetztzeit«229 verlagere. In der Tat werden die Häscher gegen Ende von ›Masante‹ verabschiedet, erscheinen jedoch nicht – wie Hildesheimers autobiographische Andeutung es nahe legen will – als psychologisch »abgearbeitet«; der Roman ist allerdings noch frei von der Endzeitstimmung und der Antizipation von Naturkatastrophen, die beispielsweise Hildesheimers späteres Hörspiel ›Biosphärenklänge‹ (1977) in den Mittelpunkt rückt.
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Hildesheimer: Ich werde nun schweigen, S. 108f. Ebd., S. 98. Wolfgang Hildesheimer: Folgerungen. ›Rolf Hochhuth: »Der Stellvertreter«‹ [1963], in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. VII, S. 298–302, hier S. 298. Vgl. hierzu die kritische Auseinandersetzung Hildesheimers mit Hochhuths ›Stellvertreter‹, der gerade dies versucht: »Unbewältigte, bedrückendste Gegenwart kann nur gleichnishaft oder in Verfremdung auf die Bühne gebracht werden, als fiktives Parallelgeschehen oder Parodie. Niemals aber können die Exponenten dieser Gegenwart als Figuren des Theaters überzeugen« (ebd.). Hildesheimer: Ich werde nun schweigen, S. 31f. Hildesheimer/Jens: Selbstanzeige, S. 229.
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5.4.5 Sprache und Musik bei Hildesheimer und Joyce – Die ›Hähne Attikas-Toccata‹, die ›Gesualdo-Kadenz‹ und die ›Bettfuge‹ Über die Frage nach der Gattungszugehörigkeit des ›Ulysses‹ ist viel gestritten worden. Auch Hildesheimer besteht darauf, dass die Gattungsbezeichnung ›Roman‹ dem epischen Experiment ›Tynsets‹, den er als »Nichtroman« bezeichnet,230 unangemessen ist: »Ja, darin ist Tynset gelungen: es ist kein Roman geworden. Was es geworden ist, weiß ich nicht, mir scheint, Sie wüßten es besser, aber vielleicht wollen Sie es mir nicht sagen. Nein, bitte, bemühen Sie sich nicht!«231 Hildesheimer bevorzugt für ›Tynset‹ und ›Masante‹ die Bezeichnung »Monologe […], aber, wie gesagt, der Monolog ist keine literarische Gattung.«232 Grundsätzlich gesteht Hildesheimer ein, dass ihm »die Anwendung großer Prosaformen wenig geläufig« sei. Bei aller Offenheit, die die assoziative Form des Monologs gestattet, wird diese in ›Tynset‹ dennoch durch ein artifizielles Formprinzip eingeschränkt, das Hildesheimer dem künstlerischen Medium entnimmt, dessen Formen ihm »geläufiger [sind]. Sie sind auch wesentlich strenger, weniger dehnbar«:233 »Tynset ist […] ein virtuoses Musikstück, eine perfekt gelungene verbale Umsetzung einer musikalischen Kompositionsform: Rondo mit Variationen, in den Episoden eine Fuge, eine Toccata und ein Madrigal. Zum ersten- und letztenmal hat er seinen Assoziationsfluß artifiziell so streng gebunden […].«234 Hildesheimer unterwirft die Assoziationen des Reflekteurs einem musikalischen Formprinzip, verzichtet auf die schier unendliche Flexibilität und Aufnahmefähigkeit des stream of consciousness zugunsten eines strengen Musters; die Selektion und das Arrangement des Materials erfolgen nicht durch die Rückbindung an einen plot, sondern anhand außerliterarischer Kriterien: Der Vergleich mit Musik kommt nicht von ungefähr: Tynset ist ein musikalisch komponiertes Werk, Themen werden angedeutet, verlieren sich wieder, treten dann voll ins Licht, werden variiert, verklingen langsam und kehren als Anspielungen, leichte Zitate wieder. Auch diese sichtbar strenge Komposition unterscheidet Hildesheimers Nachdenken von dem ganz anders konstruierten, scheinbar auf den assoziativen Zufall gebauten »inneren Monolog«. Assoziationen führen bei Hildesheimer nur weiter, wenn sie sich in Themen, in Melodien verwandeln, sonst existieren sie kaum einen Satz lang […].235
Zwar betont Hildesheimer in seinen Reden und Essays zur Musik nachdrücklich die prinzipielle Undurchlässigkeit der Grenzen zwischen Sprache und Musik,236 230 231 232 233 234 235 236
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Hildesheimer: Der Autor als Übersetzer, S. 212. Hildesheimer: Antworten über Tynset, S. 386. Hildesheimer: Die Subjektivität des Biographen, S. 463. Hildesheimer: Antworten über Tynset, S. 385. Jehle: Wolfgang Hildesheimer. Werkgeschichte, S. 99. Wiegenstein: Nacht ohne Schlaf, S. 130. Vgl. hierzu – mit Blick auf Mozart – Hildesheimer: Was sagt Musik aus?, S. 180: »Wie ich die Musik von Mozart höre, ist sie immer Musik aus Musik. Das heißt, sie ist
jedoch nimmt er in seiner schriftstellerischen Praxis – und dies stellt eine grundlegende Gemeinsamkeit mit Joyce dar – die Herausforderung einer Annäherung des Erzählens an die Ausdrucksformen der Musik an, was ihm schließlich mit ›Tynset‹ (laut Volker Jehle) den Ruf eines »Mozart unter den deutschen Schriftstellern« eingetragen hat.237 In seiner Prosa werde »die Struktur der Sprache selbst aufs Äußerste beansprucht, beweglich und durchlässig gemacht. Das nähert sie der Musik [an].«238 Wie der ›Ulysses‹ (darin besonders die ›Penelope‹-Episode) und in sehr viel stärkerem Maße ›Finnegans Wake‹ stellen die Erzählströme der ›Tynset‹- und ›Masante‹-Monologe eine Partitur dar, die ihre sprachliche Dynamik erst durch das laute Lesen entfaltet. Schon seine Theaterstücke unterzog Hildesheimer bereits während der Niederschrift der beständigen Kontrolle durch den Vortrag: »Es empfiehlt sich für den Autor, sich seine Dialoge mehrmals laut vorzusprechen. Denn es gilt, während der Arbeit die existierende Sprache einer ständigen und eingehenden Prüfung zu unterziehen.«239 Auf der sprachlichen Ebene gilt, was bereits mit Blick auf die strukturelle Gestaltung ›Tynsets‹ festgestellt wurde: Die Prosa ist das Resultat einer ebenso spannungs- wie wirkungsvollen Synthese aus Unmittelbarkeit und stilistischer Durchformung. Der dialogische, adressatenbezogene Konversationston des Monologs, der das Erzählen als Prozess in den Vordergrund rückt und die assoziative Unmittelbarkeit des Sprachduktus lassen es als sinnvoll erscheinen, den ›Tynset‹-Stil mit Northrop Frye als »free prose« zu bezeichnen.240 Emotionalität fließt in Hildesheimers free prose nicht, wie Baumgart verächtlich konstatiert, plakativ durch »Weltschmerz-Rhetorik«241 in den Text ein, sondern suggestiv durch den syntaktischen Rhythmus, durch syntaktische Nuancierungen in der »atmenden Parataxe«, die »den Tenor und die Dynamik« einer Szene vermitteln: »[D]er Sprecher übermittelt seine Haltungen, indem er den Rhythmus seiner Sprache ändert.«242
237 238 239
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immer von einer Intensität des Erlebens diktiert und geprägt, das unerklärlich bleibt, und dessen Quellen sich dem verbalen Ausdruck entziehen. Den Inhalt einer künstlerischen Disziplin können wir nicht in eine andere übersetzen, und in die Sprache außerkünstlerischer Erfahrung schon gar nicht.« Vgl. Jehle: Wolfgang Hildesheimer. Werkgeschichte, S. 99. Chiadò Rana: Das Weite suchen, S. 15. Wolfgang Hildesheimer: Die Kunst dient der Erfindung der Wahrheit. ›Zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden‹ [1955], in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. VII, S. 9–12, hier S. 11. Northrop Frye: The Well-Tempered Critic, Bloomington 1963, S. 81. Reinhard Baumgart: Vor der Klagemauer, in: Über Wolfgang Hildesheimer, S. 115– 118, hier S. 116. Haas Stanley: Wolfgang Hildesheimers »Tynset«, S. 163.
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Indem die Syntax zur Erzeugung von Dynamik und zur Suggestion von Subjektivität subtil moduliert wird, macht Hildesheimer von lyrischen, mithin rhythmischen Verfahren Gebrauch, die auf der Mikroebene in verschiedenen Formen nachgewiesen werden können. Refrainartige Wiederholungsmuster werden häufig zur Strukturierung von Episoden und Reflexionen genutzt, zwischen ihnen entfalten sich visuelle surrealistische Bilder: /Nach Tynset also? Eine lange Bahnfahrt, auf der ich mich nicht recht sehe. Der letzte Teil ja, […] aber eben erst der letzte Teil – der erste Teil nein, ich sehe mich nicht mehr auf den Hauptsrecken des großen Eisenbahnnetzes, sehe mich nicht im Gedärm einer mikroskopisch kleinen Raupe über die Kruste einer mittelgroßen Kugel kriechen, die selbst in rasender Bewegung ist – ich sehe mich nicht bei sinkendem Abend im Raucher- oder Nichtraucherabteil sitzen, in einer wachsenden Schicht von klebrigem Ruß oder Staub, angelehnt an einen Fetzen gebißfarbener Spitze, die den Kopf vom Plüsch trennt, sehe mich weder allein noch gegenüber Mitreisenden […] oder im Schlafwagen, unter der Nacht hindurch, […] die Wolldecke so straff unter die Matratze gespannt, daß ich die Füße entweder beide nach rechts oder beide nach links oder einen nach rechts und den anderen nach links halten muß, niemals aber, wie dann erst im Sarg, beide Füße nach oben, so daß die großen Zehen einander berühren, nein, das sehe ich nicht, ich sehe mich nicht mehr über die Schienen getragen, höre mich nicht auf die Fugen fallen, höre mich nicht über die Brücken rauschen, oder im zugigen Echo der Föhrenwälder – und spüre mich nicht in diese Einfahrt der Großstädte getragen, der Hauptstädte, in diesen Schnitt in die Anatomie, in den Darm des Kopfbahnhofes, der sich dauernd füllt und entleert, […] erstickte Rufe, steckengebliebenes Schluchzen und verkrusteter Ruß, der nach oben steigt und mit Wasser vermischt herabtropft, auf Bahnsteig und Zug, in dem ich mich nicht sehe –/ (T, S. 57f.)243
Die Phrase »[ich] sehe mich nicht« wird wie ein »basso ostinato«244 siebenmal mit geringfügigen Variationen in der Wortstellung wiederholt, dann abgewandelt zu »höre mich nicht« (in zweifacher Wiederholung) bzw. »spüre mich nicht«, und bildet damit gewissermaßen einen Refrain, der die Verkettung der surrealistischen, teilweise expressionistischen Bilder in diesem langen Satz leistet, der den ganzen Abschnitt ausfüllt und sich über eineinhalb Seiten erstreckt. Selbst in derartigen assoziativen Reihungen, die an ihre grammatischen Grenzen getrieben werden, bleibt die Syntax korrekt und zeigt sich – im Gegensatz zur ›Penelope‹-Episode – nicht im Zustand der Auflösung. In diesem Sinne verteidigt Hildesheimer im Durzak-Interview die an sich konventionelle Sprache, von der viele bösere Kritiker gesagt haben, sie sei zu schön. Das ist meiner Meinung nach ein absoluter Fehler: sie ist richtig. Sie hat –
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Unterstreichungen von mir, M.J. Haas Stanley: Wolfgang Hildesheimers »Tynset«, S. 112.
meistens jedenfalls – Subjekt, Objekt, Prädikat, weil es mir darauf ankam, möglichst das genaue sprachliche Äquivalent zu den Gedanken des Ich-Erzählers zu finden. […] Deshalb hat es auch immer wieder neue Versionen gegeben, deshalb habe ich so lange daran gearbeitet. Dann hat es für mich die maximale Form gefunden.245
Auch hier erfährt der Prozess der Niederschrift des ›Tynset‹-Monologs eine Spiegelung im Text selbst: Die Bemühungen um einen größtmöglichen Grad an sprachlicher Suggestivität wirkt bis in die Wahl des Einzelwortes hinein; eine besondere Facette der metasprachlichen Kommentare in ›Tynset‹ und ›Masante‹ stellen die Reflexionen des Erzählers über den Wohl- oder Missklang einzelner Wörter dar; während ihm das Wort »Speisefett« missfällt (»das klingt nicht gut –« (T, S. 72)), stellt das »schöne Wort: Nebellichter« automatisch den Konnex zu dem ›schönsten Wort‹ dieser Nacht »– Tynset –« her (T, S. 73). Neben seinen Reflexionen über den Wortklang bemüht sich der Erzähler um eine onomatopoetische Nachahmung von akustischen Eindrücken, die er im Verlauf der Nacht und des frühen Morgens aufnimmt, etwa die Glocken der Kirche »Stella Mariä« beim Tod eines Kindes: »Das klingt etwa so: Bim – Sekunde des Schweigens und Verklingens – Bim – Sekunde – Bim – Sekunde – und so weiter.« (T, S. 148) Häufig werden in ›Tynset‹ und ›Masante‹ Fachtermini aus der Musik verwendet, die die akustische Wahrnehmung des Erzählers für den Leser instrumentieren sollen, aber auch gewissermaßen als Vortragsanweisungen und zur Unterstreichung narrativer Dynamik dienen oder das kompositorische Arrangement verschiedener Stimmen verdeutlichen sollen. In ›Masante‹ heißt es: »Jetzt bin ich dabei, die Stimmen des Quartetts sind verteilt. Maxine dominiert, aber sie wird bald verstummen. Wir werden als Trio weitermachen, vielleicht ein anderes Thema, einen anderen Satz üben, unsere Stimmen aneinander messen, mit diesen beiden Randfiguren nehme ich es auf./« (M, S. 351) Auch seine akustische Wahrnehmung ordnet der Erzähler nach musikalischen Gesichtspunkten ein, wie die Verwendung unterschiedlicher Tempo- und Lautstärkeanweisungen bei der Wiedergabe einer Eisenbahnfahrt: »[I]ch erkannte die Landschaft an Geräusch und Tempo, presto auf gerader Strecke und zwischen den Wällen, im Andante über die Viadukte, aus Rücksicht auf ihre Zerbrechlichkeit, ein Crescendo bis zum Forte, wenn es draußen über die vorbahnhöflichen Weichen ging.« (M, S. 258) Selbst seinen eigenen Lebenslauf betrachtet der Erzähler als von musikalischen Tempi strukturiert und einem musikalischen Rhythmus unterworfen, der bei meiner Geburt begann, mich seitdem in wechselnden Tempi skandiert, bis er unregelmäßig wird, Ritardando, unterbrochen von plötzlichen Accelerandi, nachlassend, leiser werdend, und schließlich wird er aussetzen, in der Mitte eines Atemzugs,
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Durzak: Ich kann über nichts anderes schreiben als über ein potentielles Ich, S. 278f.
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das Leben wird noch nicht einmal ausgehaucht, ein Teil der Atemluft bleibt drinnen und verfault mit dem Körper. (M, S. 168)
Musik wird auch als thematischer Komplex in die Werke eingeschrieben, denn wie sein Verfasser scheint der Protagonist auf diesem Feld ein begeisterter Laie zu sein, der sich mit den Biographien und Werken verschiedener Komponisten befasst hat. Augenscheinlich ist er ein Verehrer Mozarts, über dessen Begräbnis er in ›Tynset‹ reflektiert; auch mit Anekdoten aus dem Leben Wagners und Bachs »Kunst der Fuge« ist er vertraut.246 Hildesheimer verzichtet nun nicht radikal wie Joyce in ›Finnegans Wake‹ auf die Semantik zugunsten von onomatopoetischer Suggestion, sondern bemüht – hierin einzelnen Passagen des ›Ulysses‹ ähnlich – formale Analogien. Häufig beschreibt Hildesheimer seine formalen und stilistischen Prinzipien mit musikalischen Termini: So habe ›Tynset‹ etwa »eine ausgesprochene Rondo-Form. Immer da, wo es an den Schrecken führt, wird es abgestoßen, und es beginnt wie bei den ›Hähnen von Attika‹ ein völlig neues Thema, was dann immer wieder auf den Schrecken führt und wieder abgestoßen wird.«247 Der musikwissenschaftlichen Definition zufolge ist das instrumentale Rondo »eine Reihungsform mit einem mehrfach wiederkehrenden Hauptteil, der Refrain, (Grande) Reprise, Grand Couplet oder selbst Rondeau genannt wird, und einem oder mehreren Zwischenteilen, die ursprünglich als Couplet oder Reprise, später auch als Zwischensätze oder Episoden bezeichnet werden.«248 Ohne Zweifel sind derartige transmediale Analogiebildungen problematisch, denn einen wirklichen verbalen Refrain weist ›Tynset‹ nicht auf, sehr wohl aber – mit dem Komplex Schrecken, Angst und Tod – ein dominantes Thema, das den gesamten Text durchzieht; auch die episodische Struktur ›Tynsets‹ entspricht dem musikalischen Modell, das den Reprisen eine große Bandbreite an Variationen
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Vgl. T, S. 150, außerdem zu Mozart M, S. 191; Anspielungen auf Bach finden sich in M, S. 198, auf Wagner – der Ich-Erzähler wäre »nicht so weit gegangen wie König Ludwig der Zweite von Bayern, der um ein Uhr nachts Richard Wagner und die gesamte Münchener Hofoper wecken ließ, um ›Lohengrin‹ auf sich niedergehen zu lassen« – in M, S. 336, 188 und 350, wo mit dem Vers /»Wann wird es Nacht im Haus?«/ aus III.1 des Libretto von ›Tristan und Isolde‹ zitiert wird; Lupatti, der dem ›Masante‹Erzähler zufolge »Bach gespielt [habe] wie kein anderer, […] um eine kostbare Frau immer wieder neu zu umhüllen« (M, S. 197); ist nicht als Bach-Spieler nachweisbar; einen Pianisten dieses Namens gab es allerdings. Durzak: Ich kann über nichts anderes schreiben als über ein potentielles Ich, S. 285. Ulrich Leisinger: »Rondeau – Rondo«, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart [MGG]. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, 2., völlig neu bearbeitete Ausgabe, hg. v. Ludwig Finscher, 18 Bde., Kassel, Stuttgart, Weimar 1994ff. [im Folgenden abgekürzt mit der Sigle MGG], Bd. 8: Quer-Swi, 1998, Sp. 538–559, hier Sp., 549.
hinsichtlich ihrer Länge, Dynamik, Tonart und Melodieführung gestattet.249 Der dynamische Wechsel zwischen Thema und Reprisen erhält in ›Tynset‹ eine psychologische Begründung in den verzweifelten (und letztlich immer wieder scheiternden) Versuchen des Erzählers, mittels immer neuer Erzählansätze dem Schrecken auszuweichen und grauenvolle Erinnerungen zu verdrängen: Ja, »Tynset« hat wirklich eine Rondo-Form, das heißt, das Rondo, das Grundthema des Rondos ist das Schreckliche, das Furchtbare, das der Ich-Erzähler vergessen will und das, wenn man so will, ich als Wolfgang Hildesheimer vergessen will. Und immer wenn dieses Thema, wenn die furchtbare Gegenwart oder die furchtbare Vergangenheit näher heranrücken, transportiert durch das erzählende Element, werden sie wieder abgestoßen, und er erzählt sich eine neue Geschichte.250
In seinen ›Antworten über Tynset‹ erläutert Hildesheimer seine eigene freie Durchführung der Rondo-Struktur in dem ersten großen Prosamonolog: [D]as Hauptthema – das Entsetzliche, verkörpert durch die Straßenlaternen, Kabasta, den Lampenschirm, die Mörder »aus Wien oder dem Weserland«, das Gegenüber im Speisewagen – leuchtet nur auf, es wird nicht ausgeführt, ist nur kurzer Anlaß der Nebenthemen. Diese Nebenthemen – die verschiedenen Geschichten, Reminiszenzen, Rückblenden – stoßen sich daran ab. Ihre Länge ist – anders als in der Musik – willkürlich, aber die dynamischen Kontraste sind – wie in der Musik – wechselnd. Ganz recht: eines der Nebenthemen ist eine vielstimmige Fuge. Und eines ist eine Toccata.251
Innerhalb der Gesamtstruktur des Rondos sind auch einige der Episoden nach einer musikalischen Vorlage gebaut: die Hähne-Attikas-Toccata (vgl. T, S. 40–43), die Bettfuge (vgl. T, S. 108–122), und die Gesualdo-Kadenz (vgl. T, S. 76–78 und 136f.). Die von Hildesheimer als Toccata bezeichnete Episode (T, S. 40–43), in der der Protagonist ein Hahnenkonzert entfacht, ist angesichts des ehrgeizigen formalen Musters in sprachlicher Hinsicht zwar sehr dynamisch und virtuos, strukturell hingegen recht konventionell und linear erzählt. Eine strukturelle Analogie ist schwer auszumachen, zumal es sich bei einer Toccata um ein sehr frei gestaltetes (freie Tempi, Pausen, unterschiedliche Teile), aus Akkorden und Läufen, strengen fugenartigem Satz und virtuosen Passagen gemischtes Stück für Tasteninstrumente handelt, wobei die Nähe zur Improvisation sich noch darin zeigt, dass ein Ziel der Toccata darin liegt, den Anschlag (»toccare«) und die Tech249
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Vgl. Haas Stanley: Wolfgang Hildesheimers »Tynset«, S. 5. Haas Stanley glaubt sogar, für ›Tynset‹ die entsprechende Köchelnummer ermittelt zu haben: KV 271, das Rondo aus Mozarts Klavierkonzert in es-Moll habe für die Großform des Monologs Pate gestanden. Hildesheimer: Ich werde nun schweigen, S. 42. Hildesheimer: Antworten über Tynset, S. 385.
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nik des Spielers unter Beweis zu stellen.252 Will man auf eine Applikation musikalischer Terminologie nicht verzichten, so kann man in dem »immer schneller werdenden Austausch […], diesem heraldischen Turnier von Rufen« ein Crescendo innerhalb einer Wiederholung gleichartiger Tonfolgen bzw. Figuren erkennen, eine Bewegung von Einstimmigkeit hin zu Polyphonie, da sich dem auslösenden Ruf des Protagonisten bald unzählige Hähne hinzugesellen, deren »verschieden gestimmte[n] Rufe« (T, S. 41f.) als Besetzung eines Chores beschrieben werden; ein Hahn etwa verfügt über eine »tenorale[n] Stimme«, er wird bald verstärkt durch »andere Stimmen, alle Tonlagen waren besetzt und alle männlichen Stimmfächer bis zum Falsett. Und so zog sich das große attische Konzert durch das Land«. Dieser Eindruck wird von Hildesheimer bestätigt, dem es bei der Gestaltung der Episode »als einem Bestandteil des musikalischen Aufbaus [s]eines Buches – auf das Crescendo und Decrescendo einer Toccata an[kam], auf Onomatopoesie, und – nicht zuletzt: auch auf eine Demonstration der Einsamkeit.«253 Abgesehen von dem dreifach wiederholten »Kikeriki« (T, S. 40f.) und der hypotaktisch reihenden, dabei Wiederholungen zur Verkettung bemühenden Syntax, tritt die onomatopoetische Dimension in dieser Episode, wenngleich tatsächlich ein »Konzert« (vgl. T, S. 41, 42, 43), also ein akustisches Erlebnis beschrieben wird, verglichen mit anderen Passagen in ›Tynset‹ jedoch eher in den Hintergrund. Zur eindrucksvollen Vergegenwärtigung und Plastizität des Klangeindrucks wird vielmehr (paradoxerweise) eine visuelle Bildlichkeit bemüht, etwa wenn der Wirkungsradius der Hähne nachgezeichnet wird – oder in den Vergleichen des Konzerts mit einem Flächenbrand, einem Netz oder einem (Klang-)Teppich: »das Konzert breitete sich aus wie ein Brand« (T, S. 42), »so zog sich das große attische Konzert durch das Land, überkreuz und in die Quere, ein Netz, das sich vergrößert, während seine Maschen enger werden« oder T, S. 42: »Aus dem Netz von Hahnenruf wurde ein Teppich, dessen Fransen am Rande sich stetig zu weiterem Teppich verdichteten, der also ständig wuchs, in allen Richtungen, nur dort, wo er ans Meer gelangte, dort hörte er jäh auf […].« Hier scheint die visuell dominierte Einbildungskraft des bildenden Künstlers Hildesheimer die akustisch-onomatopoetischen Darstellungsabsichten des Autors zu vereiteln. Diese werden in der so genannten GesualdoKadenz wirkungsvoll umgesetzt. Eine Kadenz bezeichnet in der Musik eine Akkordfolge, mit der ein Musikstück, ein Abschnitt oder eine Phrase abgeschlossen wird; indem Hildesheimer die
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Dies hat Patricia Haas Stanley jedoch nicht davon abgehalten, aus der Episode eine fünfteilige Struktur herauszulesen, bestehend aus Einführung, Allegretto, Fugato, Andante und einer Coda. (Vgl. Haas Stanley: Wolfgang Hildesheimers »Tynset«, S. 51.) Hildesheimer: ›Über das Konzert der Hähne‹, S. 389.
Gesualdo-Episode (T, S. 76–78 und T, S. 135–137) als ›Kadenz‹ charakterisiert, beruft er sich vermutlich nicht auf die komplexe Formgeschichte dieser Schlussfügung, sondern begreift sie vielmehr im landläufigen Sinne einer improvisierten oder komponierten, virtuos ausgestalteten Schlusswendung in Solokonzerten, mit der ein Solist (früher oft der Komponist des Werkes) seine technische Virtuosität zur Schau stellt. Tatsächlich ist die zweiteilige Episode ein Meisterstück der kleinen Form, in der Hildesheimer seinen Erzähler in dichter, rhythmisierter Prosa die Geschichte seines Winterbetts vortragen lässt, die aber zugleich an das Hauptthema des Rondo, den Komplex von Entsetzen, Gewalt und Tod anschließt. Die Gesualdo-Thematik wird an zwei um über fünfzig Seiten voneinander getrennten Textstellen (T, S. 76–78 und T, S. 135–137) angeschlagen, wobei sie in beiden Fällen eine hohe Dichte verschiedener euphonischer bzw. lyrischer Gestaltungsmittel aufweist. Der ›Clou‹ der insgesamt etwa fünf Seiten umfassenden Passage ist die narrative Engführung der Erzählgegenwart in Masante und ferner Zeiten in Neapel, als der Fürst Gesualdo im selben Bett, das als Bindeglied fungiert, seine Frau und deren Liebhaber ermordete. In rascher Schnittfolge und stilistischer Verkettungstechnik verknüpft der Erzähler die blutige Mordtat mit seiner eigenen ruhenden Gestalt. In beiden Fällen ist die Bezeichnung ›Kadenz‹ im Sinne einer Schlussformel durch die Platzierung der Episode im Gesamttext durchaus gerechtfertigt; im ersten Fall hat der Erzähler die Abfrage der Telefonansagen beendet; es ist Mitternacht und damit Die Stunde des Alterns vorbei – Augen geschlossen, Hinterkopf tief in das Kissen gesenkt, Hände, Handflächen unten, Daumen innen, über der Decke beiderseits neben den Körper gelegt, so fahre ich mit der Zeit, so liege ich im Raum, liege in diesem Bett […]. (T, S. 75)
Auch die zweite Gesualdo-Kadenz wird durch eine derartige Selbstbeschreibung des Erzählers in seinem Winterbett eingeleitet (»/Hier liege ich, in einer kalten Novembernacht, in diesem Bett, in dem, in einer anderen Novembernacht, ein Mord geschah –« (T, S. 135)); nach seiner Begegnung mit Celestina ist der Protagonist nun von seinen nächtlichen Wanderungen durch das Haus zurückgekehrt und wartet erneut auf den Schlaf. Der erste Teil der Kadenz besteht nur aus drei Sätzen, deren letzter sich in einer langen rhythmischen Reihung von Nominalphrasen, echoartig anschließenden Angaben und Relativsätzen über anderthalb Seiten hinzieht. In dieser Kadenz setzt der Musiker sein Instrument nicht ab, Hildesheimers sprachliches ›Legato‹ verwendet allein das Komma oder den Gedankenstrich, setzt immer wieder neu an, reiht, präzisiert oder moduliert. Die rhetorischen Charakteristika, die den fließenden Duktus der GesualdoEpisode bestimmen, sind die correctio, mit der der Erzähler ein Bild schärfer sprachlich zu fassen versucht (vgl. T, S. 76: »nach rechts geneigt, nein, nicht 389
geneigt, vielmehr nach rechts gefallen, geschlagen«), und die enumeratio (»diesem Bett des Todes und der Liebe, der Ausschweifung, der Untreue, des Betruges, des Ehebruchs, dem Mordbett und Reuebett –/« (T, S. 76)), die hier wie eine chromatische Figur klingt, welche die Bestandteile der blutigen Szene nacheinander beleuchtet, dabei oft – wie in obigem Beispiel – pleonastische Züge annimmt, wobei die nur minimal semantisch voneinander abweichenden Nomen häufig in klimaktischer Folge angeordnet werden: vier Hände verschmiert, zwanzig Finger in einer letzten schrecklichen Verkrampfung erstarrt, vier Augen weit geöffnet, als stehe der allerletzte Schrecken noch bevor, zwei offene Münder, vier Lippen von Blut verkrustet, in einem verhaltenen entsetzlichen zweistimmigen ersterbenden Schrei, aufgelöst in einem Röcheln, erstarrt und erstickt in einem blutigen Gurgeln, und nun ohne Laut in der Dunkelheit, und ohne Laut in der Dunkelheit neben diesem Bett, meinem Bett, die stummen Zeugen […]. (T, S. 77)
Im zweiten Teil der Kadenz erscheint Gesualdo selbst als der Musik verbunden, sein Instrument ist die Laute, »Spielbrett seiner erregten, gefährlichen Finger, der Seismographen seiner Grausamkeit, der Diener seines unberechenbaren Willens, seiner Launen« (T, S. 136). Im Moment seines Todes jedoch horcht er nicht mehr auf Modulationen, Harmonie und Enharmonik, die kühnen unbefangenen verbotenen Schritte von as-Moll zu C-Dur, er tut keine Schritte mehr, und gleitet auch nicht mehr entlang über seine chromatischen Stufen f-e-es-do morire – f-e-d-e-es-d-c-h-co mori-i-i-re– morire, ja, jetzt ist es an dem – aber darauf horcht er nicht […]. (T, S. 136f.)
Hildesheimer geht nun zwar nicht so weit wie Joyce, der in die ›Scylla and Charybdis‹-Episode in Mensuralnotation den Beginn eines ›Gloria in excelsis Deo‹ (vgl. U 9.500) und in ›Ithaca‹ (vgl. U 17.802–828) das Faksimile seines Manuskripts von der Ballade ›Sir Hugh; or, the Jew’s Daughter‹ einfügt, dennoch fallen seine Transkription der chromatischen Verläufe (»f-e-es-d- […] – f-e-d-e-es-d-c-h-c-«) und die imitatorische Wiedergabe des »o mori-i-i-re« als Fremdkörper aus dem Druckbild und als musikalisches Element aus der Narration heraus. Diese Transkription, die sich am Vokalvortrag orientiert, findet ihr Pendant in Mollys stream of consciousness in ihrer Interpretation von ›Love’s Old Sweet Song‹ – mitsamt Reflexionen zur Artikulation (»I hate that istsbeg«) sowie Vortragsanweisungen hinsichtlich Lautstärke (»piano«) und Mimik (»chin back«), die sie in einem vorteilhaften Licht erscheinen lassen und ihre körperlichen Makel verbergen sollen: weeping tone once in the dear deaead days beyondre call close my eyes breath my lips forward kiss sad look eyes open piano ere oer the world the mists began I hate that
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istsbeg comes loves sweet sooooooooooong Ill let that out full when I get in front of the footlights again […] comes looooves old deep down chin back not too much make it double […] (U 18.874–897)
In der Gesualdo-Kadenz leistet das syntaktische Arrangement eine gelungene Umsetzung des Sujets: »Durch den immer wieder abgebrochenen und wieder aufgenommenen Satz, der sich über mehrere Abschnitte dehnt, wird der Grenzübergang und das Ausklingen erfahrbar. Dieselbe Bewegung findet sich bis ins Detail wieder: ›O morire –‹ fällt auseinander und breitet sich aus: ›o mori-i-ire‹.«254 Das syntaktische Gefüge, das durch komplexe Syllepsen miteinander verzahnt ist, tritt im zweiten Teil der Gesualdo-Kadenz besonders deutlich hervor, wenn man die anaphorisch verketteten Abschnittsanfänge betrachtet, die Raum für stilistische Variationen eröffnen: /dem Bett, in dem der Mörder liegt, […] in diesem Bett, in dem der Mörder liegt, […] in dem der Mörder liegt, […] in diesem Bett, in dem der göttliche Gesualdo liegt, in seiner letzten Stunde, […] liegt, in seiner letzten Stunde, […] liegt und horcht und hinter ihm liegt, […] seine Laute, und in einem anderen Raum, seit Jahren nicht mehr betreten, liegt, […] seine Armbrust, unter der Erde bei Gesù Nuovo liegen, […] seine nymphomanische erste Gemahlin und ihr letzter Liebhaber, […] und irgendwo, auf dem Fluchtweg nach Osten, liegt, rostend, das Stilett, […] liegt er, in seinen letzten Minuten, und starrt auf diesen Schädel […], liegt und lacht plötzlich […], und horcht, aber nicht mehr auf seine eigene Schöpfung, seine eigenen Stimmen, […] nicht mehr auf den ersterbenden Hauch […], und nicht mehr auf Akkorde, […] liegt er und horcht auf anderes, […] er liegt, sein Kopf hier, wo mein Kopf liegt, […] hier, in diesem Bett, dem Winterbett, in dem ich hier jetzt liege, in einer kalten Novembernacht./ (T, S. 137)
Die Worte »Bett«, »Mörder« und »liegt« stellen die Grundfiguren der etüdenartigen Bewegung dar, um die die Kadenz ihre stilistischen Variationen arrangiert, während das Grundmuster nur minimal, aber gerade dadurch sehr wirkungsvoll und suggestiv moduliert wird, bevor sie symmetrisch und in vollendeter Kreisstruktur zur Eröffnung der Kadenz zurückkehrt: /Hier liege ich, in einer kalten Novembernacht, in diesem Bett, in dem, in einer anderen Novembernacht, ein Mord geschah – […] (T, S. 135) […] liegt er und horcht auf anderes, […] er liegt, sein Kopf hier, wo mein Kopf liegt, […] hier, in diesem Bett, dem Winterbett, in dem ich hier jetzt liege, in einer kalten Novembernacht./ (T, S. 137) 254
Chiadò Rana: Das Weite suchen, S. 98.
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Als Konsequenz der Gegenüberstellung der Erzählgegenwart und der Nacht, in der der blutige Mord verübt wurde, ergeben sich oft antithetische Fügungen, die meist in chiastischer Verschränkung erscheinen, wobei die Chiasmen häufig jedoch durch syntaktische Sperrungen bzw. Einschübe fast unkenntlich sind: /hier, in diesem Bett, in einer Nacht wie dieser, einer Novembernacht, lag, hier, wo jetzt mein Kopf liegt, genau hier, nach rechts geneigt, nein, nicht geneigt, vielmehr nach rechts gefallen, geschlagen, ein Kopf, der Kopf der Fürstin Gesualdo, die Maria hieß, verbunden mit dem Rumpf nur noch durch die Wirbelsäule, die Kehle durchschnitten mit einem Stilett, das immer noch irgendwo östlich von Neapel unter der Erde liegt und rostet. Hier, wo mein Körper liegt, lag ihr Körper, hier, bedeckt von einem Spitzennachthemd, getränkt mit ihrem Blut und mit dem Blut dessen, der schräg über ihr lag, den Kopf in schwerem leblosem Fall an ihren Oberarm geprellt, hier, wo mein Oberarm liegt, den Bauch an ihren Bauch gepreßt, den Rücken gekrümmt und durchstoßen von einer Hellebarde. Hier, wo meine Beine liegen, lagen seine Beine, die Beine des Herzogs von Andria, […] (T, S. 76).
Durch das Grundschema der Antithesen (›hier, wo X liegt, lag(en) Y‹) werden zwei Momentaufnahmen übereinander geschoben, die zwar durch das »hier« und die Gliedmaßen räumlich verbunden, aber immerhin durch einige Jahrhunderte voneinander getrennt sind. Im Verlauf des ersten Teils der Kadenz werden die zahlreichen Verben und Nomen, die akustische Sinnesreize beschreiben, zugunsten von Farbadjektiven aufgegeben; die Wendung »nun sehe ich« signalisiert die Schwerpunktverlagerung von der Akustik hin zur optischen Ausgestaltung: ein Wehen, das zwischen den klaffenden Türen die Vorhänge sacht zum Flattern bringt und im Hof ein Klappern schafft, und ein durchlässiges feuchtes Grau, das in den Zimmerfluchten leise Schatten zu legen beginnt und Farbtöne entstehen läßt, nun sehe ich: der Samt des Stuhles ist dunkelrot wie das trocknende Blut an den beiden Toten, das Wams ist gelb, der Handschuh silberblank, ein Stilleben entsteht aus dem Schrecken, ein Stilleben aus unbeteiligten toten Körpern, aus trocknendem Blut, das nicht weiß, wem es gehört, aus Möbeln, die plötzlich zu Erbstücken geworden sind, ein Stilleben, noch unentdeckt, erkaltend, erstarrend […]. (T, S. 77f.)
Das Verhältnis von Bildlichkeit und sinnlicher Wirkung auf den Leser ist hier gegenüber der Hähne-Attikas-Episode umgekehrt: Während das Hähnekonzert durch die Verwendung visueller Metaphorik dem Leser in seiner akustischen Form suggeriert wird, entsteht hier entsteht durch die lautliche Gestaltung ein blutiges Gemälde. Etwa ein halbes Dutzend Monographien und unzählige Aufsätze befassen sich mit dem Thema des Verhältnisses vom ›Ulysses‹ zur Musik. Besonders die ›Sirens‹-Episode des ›Ulysses‹, hat – genährt durch Joyce Hinweis, er habe für dieses Kapitel die Form einer Fuge bzw. einer fuga per canonem255 gewählt – zu 255
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Freilich liegt ein Problem – das mangelhafte musikwissenschaftliche Kenntnisse Joyce
wissenschaftlicher Beschäftigung angeregt.256 Umberto Eco erkennt in ›Opera aperta‹ das ›Sirens‹-Kapitel »in seinem Sichstrukturieren nach musikalischen Analogien, mit dem Wiederkehren der Erzählthemen und Klangtönungen, [als] ein komprimiertes Abbild der umfassenden musikalischen Disposition, die das Buch beherrscht.«257 Diese umfassende musikalische Disposition wiederum sei mit der Sonatenform vergleichbar: Dieses Werk, das in drei Teile gegliedert ist, von denen der erste und der dritte aus drei Kapiteln besteht, der erste das Thema Stephen einführt und entfaltet, der zweite das Thema Bloom einführt und es auf dem polyphonen Hintergrund sich mit dem Thema Stephen überschneiden läßt, der dritte die beiden Themen völlig unabhängig ausarbeitet und sie schließlich in den symphonischen Epilog des Molly-Monologes führt, legt in seiner Struktur den Vergleich mit der Sonatenform nahe.258
Auch Hildesheimer inkorporiert eine Episode als »Nebenthema« in das »Rondo« ›Tynset‹, die eine erzählerische Nachbildung einer »vielstimmigen Fuge« darstellen soll (vgl. T, S. 109–121): die Beschreibung der Geschichte seines Winterbetts – angelehnt an eine historische Begebenheit, deren Legende sich um das ›Great Bed of Ware‹ rankt, das Hildesheimer (wie sein Erzähler) tatsächlich im Victoria-and-Albert-Museum in London gesehen haben will.259
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immerhin annehmen lässt – bereits darin, dass »Fuge« und »fuga per canonem« keinesfalls das gleiche bezeichnen, wobei auch unklar bleibt, ob Joyce mit fuga per canonem einen Kanon oder eine fuga canonica meint. Zudem basiert der satztechnisch strengere Kanon, der der Fuge musikgeschichtlich vorangeht, auf dem zeitlich verschobenen Verlauf gleich gestalteter Melodielinien – und steht m.E. mit der ›Ulysses‹-Episode in keinem erkennbaren Zusammenhang. Vgl. etwa Brad Bucknell: Literary Modernism and Musical Aesthetics. Pater, Pound, Joyce, and Stein, Cambridge 2001; Lawrence Levin: The Sirens Episode as Music: Joyce’s Experiment in Prose Polyphony, in: James Joyce Quarterly 3.1 (Fall 1965), S. 12; David Herman: »Sirens« after Schönberg, in: James Joyce Quarterly 31.4 (Summer 1994), S. 475f.; Zack Bowen: Musical Allusions in the Works of James Joyce, Albany, N.Y. 1974, Horst Koegler: James Joyce oder die literarische Metamorphose der Musik, in: Schweizerische Musikzeitung 12 (1953), S. 257–260 – oder bereits die ›Ulysses‹-Rezension von Curtius, wo es kritisch heißt, die ›Ouvertüre‹ von ›Circe‹ sei »eine bis ins letzte berechnete Komposition – die man freilich nur verstehen kann, wenn man das ganze Kapitel gelesen hat, und sehr gründlich gelesen hat. Diese literarische Technik ist eine genaue Transposition musikalischer Motivarbeit, genauer: Wagnersche Leitmotivtechnik. […] Diesen tiefen Wesensunterschied von Klang und Wort hat Joyce absichtlich ignoriert. Darum bleibt sein Experiment fragwürdig.« (Ernst Robert Curtius: James Joyce und sein ›Ulysses‹, in: Neue Schweizer Rundschau 22 (1929), S. 47–68, hier S. 54f.). Eco: Das offene Kunstwerk, S. 368. Ebd. Vgl. Durzak: Ich kann über nichts anderes schreiben als über ein potentielles Ich, S. 278.
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Durchweg setzt sich der Erzähler als Arrangeur der Fuge in Szene und betont den Status dieser Prosaminiatur als einer seiner Fiktionen, indem er sie vor den Augen der Leser auktorial manipuliert und sie nach seinem Belieben an Orte und in Zeiten seiner Wahl versetzt – »seit jener Nacht im späten Frühling oder sagen wir frühen Sommer des Jahres 1522« – und seine Figuren benennt: »eine Courtisane, nenne ich sie Anne« (T, S. 110). Er beherrscht den Himmel über seiner Erzählung (»Schien der Mond? Ja – oder sagen wir, er schien noch nicht, aber er war im Aufgehen, ein Dreiviertelmond vielleicht,« (T, S. 110)) ebenso wie die Kochtöpfe seiner Wirtin: »Was mag es da geben? Nun, sagen wir: gesottene Schweinskeule in Pfeffer und Hirse, mit Rhabarber, Safran und Thymian, das klingt nach fetter und schwerer Völlerei« (T, S. 116). Auf diese Weise entsteht wiederum der Eindruck, als fände die Niederschrift des Textes im Augenblick des Erzählens, die Komposition der Fuge im Moment ihrer Aufführung statt; der Leser wird zum Zeugen des Entstehungsprozesses und scheint durch die dialogische Gesprächsführung des Erzählers ein Mitspracherecht eingeräumt zu bekommen. Dies wird noch verstärkt durch das in ›Tynset‹ häufig beobachtbare Verfahren eines raschen, oft fast unmerklichen Wechsels zwischen den Erzähltempora Präteritum und Präsens. Wenngleich die Komposition der Fuge vor dem Leser als ein dynamischer Prozess vorgeführt wird, dessen Verlauf noch nicht bis ins Detail ausgearbeitet ist, kennt der Erzähler den Verlauf und den Schluss, auf den hin er seine Fuge in Finalstruktur arrangiert; er weiß, dass seine sämtlichen Figuren »später auch hier enden – ich sage enden – werden, ich habe das Ende parat.« (T, S. 113) Die ›Bett-Fuge‹ ist auch insofern als ein Musterstück avantgardistischer Prosa von Interesse, als hier gleichzeitiges Geschehen narrativ dargestellt werden soll; auch dies legt die Analogiebildung zu einer polyphonen musikalischen Form nahe: »Die ›Fugen‹ in Tynset sind ein Beitrag zur Lösung dieses vielleicht unlösbaren Problems.«260 Bei einer Fuge handelt es sich um einen selbständige[n] Typus kontrapunktischer Satztechnik, eine geschlossene Form, der als Grundprinzip die imitatorische Durchführung eines zentralen musikalischen Gedankens (Sogetto, Subjekt, Thema) zugrunde liegt. Wenn auch diese Satztechnik im Grunde auf die Vokalpolyphonie des 16. Jhs. zurückgeht, ist das eigentliche Medium der Fuge doch die Instrumentalmusik, insbesondere die Musik für Tasteninstrumente.261
In der musikwissenschaftlichen Forschung wird gemeinhin »von einem Prototypus« ausgegangen, »der sich im wesentlichen am Fugenschaffen J. S. Bachs ori-
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Elizabeth Petuchowski: »Nightwood« und »Nachtgewächs«: Ein außergewöhnlicher Roman in Hildesheimers Übersetzung, in: Wolfgang Hildesheimer, S. 72–88, hier S. 75. Petuchowski stellt Hildesheimer in eine Reihe mit Joyce und Djuna Barnes, die ebenfalls »mit dem Problem narrativer Gleichzeitigkeit experimentiert haben« (ebd.). Emil Platen: Fuge, in: MGG, Bd. 3: Eng-Hamb, 1995, Sp. 930–957, hier Sp. 931.
entiert, über dessen Vorbildcharakter ein allgemeiner Konsens besteht.«262 Die Fuge ist definiert als eine monothematische, formal geschlossene Komposition mit festgesetzter Stimmenzahl in imitatorischer Setzweise, für die hinsichtlich einzelner Verlaufsphasen bestimmte Regeln gelten. Aus der Monothematik ergibt sich ein einheitlicher Satzcharakter, das Fugenthema prägt die Grundstimmung der Form. Das Prinzip der Einthemigkeit wird auch bei einer Fuge mit mehreren Nebengedanken nicht aufgehoben, da diese dazu bestimmt sind, simultan mit dem Hauptgedanken kombiniert zu werden und somit auf diesen hin erfunden sind. Das Satzgefüge der Fuge besteht aus realen oder fiktiven Einzelstimmen, deren Anzahl […] nur in Ausnahmefällen vermehrt werden darf. […] Als Grundregel gilt, das Thema nachahmend, d.h. in seiner Grundstruktur unverändert, durch alle Stimmen zu führen.263
Das Thema der Fuge in ›Tynset‹ ist wie das des Rondo, dem sie zugeordnet wird, »das Entsetzliche«, »das Schreckliche«, hier in Gestalt des schwarzen Todes, der mit dem pestkranken Soldaten auf tragische Weise in die Figurenkonstellation hineingebracht wird. Sieben Personen finden im Bett Platz, diese sieben Stimmen gilt es zu besetzen: Das Ensemble umfasst einen Mönch, einen Soldaten, eine Courtisane namens Anne, ein Müllerehepaar, einen Ehrenmann und seinen Diener; neben den Schläfern treten auch die Wirtin und ein Bader in Erscheinung. Die neun Stimmen der Bettfuge werden also auf die Personen verteilt, deren sukzessives Eintreffen im Gasthaus vom Erzähler registriert wird, bis mit dem Auftritt des vollständigen Figureninventars das Thema einmal in allen Stimmen erklungen und die Exposition abgeschlossen ist: Ein besonderes Merkmal der Fuge ist der satztechnische Aufbau der Formeröffnung (Exposition): Das Thema wird nacheinander von jeder Stimme vorgetragen, so daß sich der Tonsatz sukzessiv vom einstimmigen Beginn bis zum Erreichen der vollen Stimmenzahl entfaltet. […] Die Fugenlehre bezeichnet die beiden Erscheinungsformen des Themas als Dux und Comes. […] Die erste Durchführung, auch als Exposition bezeichnet, muß ›vollständig‹ sein in dem Sinne, daß im Wechsel von Dux und Comes jede der Stimmen das Thema einmal übernimmt.264
Die einzelnen Stimmen werden vom Erzähler ausdrücklich als solche markiert, etwa mit den Worten: »jetzt wird es Zeit für die dritte Stimme der Fuge – einen jungen Soldaten« (T, S. 111); zwischendurch bilanziert er, um den Überblick über die Partitur zu behalten: »– wie steht die Fuge? Anne oben, der Soldat vor der Gasthaustür, das Müllerpaar schon nahe, ein anderer Wanderer noch weit, ein weiteres Paar noch weiter, Traum im Mönch, Mönch im Bett, Mond am Himmel […]« (T, S. 112).
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Ebd. Ebd. Ebd., Sp. 931f.
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Auch die Kombination von Thema und Kontrapunkt bzw. Dux und Comes beschäftigt den Erzähler: »dafür beleuchtet dieser Mond den Traum des keuschen Schläfers, der vielleicht einen kontrapunktisch genauen Gegensatz zu dem enthält, was ihm bevorsteht, vielleicht aber auch nicht.« (T, S. 113) Unklar bleibt jedoch die Funktion des Mondes – es scheint, als ob dieser in der Funktion des Themas eingeführt wird, jedenfalls ist er das Verbindungsglied, das die Simultaneität in der Polyphonie gewährleistet: /Weiter: der Mond steht hoch, beleuchtet aber nur einen kleinen Teil dieses Bettes, auf das ich mich jetzt setze, […] – und Licht liegt auf Teilen des Mönches, […] bescheint Annes versiertes Fingerspiel, nicht dagegen den Soldaten im Dunkel des Hauses, […] er scheint auch nicht mehr auf das Müllerpaar, das aus seinem Licht ins Gasthaus getreten ist, […] er scheint nicht auf die Wirtin, […] der Mond scheint beinah senkrecht nun auf diesen Bader, der jetzt nah ist, […] – auch scheint er auf das andere Paar […]«. (T, S. 114)
Der Erzähler hat die Schicksale seiner Figuren und damit den strukturellen Verlauf seiner Fuge unter Kontrolle, den er selbst beharrlich erläutert, etwa wenn er die Exposition mit den Worten beschließt: »/Gut so, die Stimmen sind angeschlagen, die Exposition vollzogen. Weiter jetzt« (T, S. 116). Das Grundmuster der Fuge, ein Wandern des Themas durch alle Stimmen, bietet nach der formstrengen Exposition einige Möglichkeiten der Variation: Im Anschluß an die in satztechnischem Aufbau und harmonischer Anlage streng regulierte Exposition gelten für die Gestaltung des weiteren Verlaufs der Fuge keine verbindlichen Regeln mehr. Das zentrale Thema wird, ohne in seiner Gestalt wesentlich verändert zu werden, weiter durch die Stimmen geführt. Zur Vermeidung von Einförmigkeit kennt die Fugenlehre jedoch eine Anzahl von Verfahren, die als Mittel der Abwechslung und Steigerung angewendet werden können. […] Ein charakteristisches und relativ häufig verwendetes Mittel der Steigerung ist die Engführung (stretto), bei der die Themeneinsätze sich nicht mehr ablösen, sondern in verkürztem Abstand, teleskopartig zusammengeschoben sind […].265
Der Erzähler kündigt ein derartiges stretto an, mahnt sich selbst zur Engführung und Verdichtung: »/Weiter, weiter, Transposition, neues Thema: die Kurve des Schreckens wird jetzt steil, der Mond ist schon im Untergehen […]« (T, S. 117). Wie alle Fugenkompositionen weist auch Hildesheimers Bett-Fuge eine »Tendenz zur Steigerung gegen Schluß hin« auf, die in der Musik »durch satztechnische Mittel (Engführung, Vergrößerung, vorübergehende Ausdünnung und anschließende Verdichtung eines Satzes) sowie durch klangliche Wirkungen (Themeneinsätze über einem Orgelpunkt) erzielt wird.«266 Während oben im Bett das
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Ebd., Sp. 933. Ebd., Sp. 934.
pikante Ränkespiel in vollem Gange ist, sorgen Wirtin und Bader unten kontrapunktisch für den Comes: /Wo ist der Bader? Der Bader, der Elende, ist unten bei der Wirtin geblieben. Ob er ihr Schönheitssalben bereitet oder verkauft oder ihre Sünden für Ablaß ankauft oder sie zur Ader läßt oder mit ihr im Bett liegt, das habe ich mir nicht überlegt, aber wahrscheinlich tut er alles zugleich, es entsteht ein Kreislauf, ein böser Zirkel zwischen Ablaß und Sünde, lasse ich diese Szene dunkel, kehre ich zum Thema zurück, zur Haupttonart, zur möglichen Vergangenheit dieses Bettes, in dem der untergehende Mond das Fortschreiten des Entsetzlichen beleuchtet. (T, S. 118f.)
Begleitet von derartigen metanarrativen Kommentaren schließt die Fuge mit dem Verklingen – bzw. sprichwörtlich: dem ›Ersterben‹ – der Stimmen in der Fermate des ›rigor mortis‹: »Auf den letzten Schmerz schwindet das Bewußtsein und folgt sofort die Kälte, der rigor mortis, sie erlaubt weder Beichte noch Einsicht. Fermate. Ende der Fuge./« (T, S. 120f.) Mit der Fuge ist jedoch, so kündigt der Erzähler an, seine »Geschichte […] noch nicht zu Ende« (T, S. 121), denn auch die Wirtin und der Bader – dies verrät die Coda – entgehen dem schwarzen Tod nicht und die Pest breitet sich weiter aus, »nach Süden, von Sussex, dorther, wo der Soldat wenige Abende zuvor gelandet war, in der ersten Nacht der Landung ein Mädchen angesteckt hatte, die ihre Familie angesteckt hatte, die das Dorf angesteckt hatte, und so weiter. Ende meiner Geschichte. Ich stehe auf./« (T, S. 122) Seine Anleihen aus der Domäne der Musik nähern Hildesheimers Monologe der Lyrik an,267 denn beide Texte weisen (wie Joyce ›Ulysses‹ und Becketts Romane, die Hildesheimer mit Günter Eich zu den Gedichten zählt268) lyrische Elemente auf, sowohl in ihrer Rückbindung an subjektive Erlebniswelten als auch in ihrem spatialen Charakter und in ihrem Bestreben um eine Adaption der Formensprache der Musik. Dieser Umstand räumt der von Freedman vorgeschlagenen Genrebezeichnung der »lyrical novel« einige Berechtigung ein:
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Hildesheimer selbst betrachtet sich – wiewohl mit Bedauern – nicht als Lyriker: »Aber im allgemeinen bin ich kein Lyriker, wäre es gerne, bin’s aber nicht.« (Hildesheimer: Ich werde nun schweigen, S. 84.) Grundsätzlich hält er die Lyrik für das ›zeitgemäßere‹ Genre und wandelt den »Adorno-Satz, daß man nach Auschwitz keine Gedichte mehr schreiben kann,« entsprechend ab: »Ich würde sagen: Nach Auschwitz kann man nur noch Gedichte schreiben« (ebd., S. 37). Hildesheimer: Frankfurter Poetik-Vorlesungen, S. 57: »Das Gedicht aber und jene Romane, die Eich zu den Gedichten zählt, also Beckett, stellen Wirklichkeit her, schaffen sie also nicht aus jenem präfabrizierten Material, in dem Auschwitz vielleicht nicht enthalten ist, sondern aus Elementen des Bewußtseins, in dem die Dimension von Auschwitz enthalten ist, oder vielmehr, enthalten sein sollte: ich spreche nicht von allen Gedichten.« Der Rückgriff auf präfabriziertes Material ist die unvermeidliche Schwäche des zeitgenössischen Romans, aufgrund derer Hildesheimer (zumindest in seinen theoretischen Äußerungen) dem Gedicht den Vorzug gibt.
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The concept of the lyrical novel is a paradox. Novels are usually associated with story telling […]. Lyrical poetry, on the other hand, suggests the expression of feelings or themes in musical or pictorial patterns. Combining the features of both, the lyrical novel shifts the reader’s attention from men and events to a formal design.269
Hildesheimer bekennt, er müsse sich, »wohl oder übel, als Formalisten bezeichnen«, denn es gehe ihm »um die Form. Um das visuelle Bild und seine Choreographie, um das sprachliche Bild in Optisches umgewandelt, um die Auflösung des ganzen Lebens in Metapher und Metonymie.«270 Wie Joyce und viele andere Modernisten vor ihm bedient sich Hildesheimer für ›Tynset‹ einer gattungsfremden Formanleihe, was die Genrebezeichnung ›Roman‹ für ›Tynset‹ zumindest unzureichend erscheinen lässt; Hildesheimers Ansatz, der in seiner vielseitigen künstlerischen Biographie fest begründet ist und die verschiedenen Künste und ihre respektiven Medien überschreitet, schlägt sich in ›Tynset‹ und ›Masante‹ in formalen Mustern nieder, die nicht den epischen Konventionen entstammen und den traditionellen Schemata des Narrativen zuwiderlaufen; der Verzicht auf einen plot bzw. auf Handlung und auf die Interaktion von Figuren zugunsten eines musikalischen Kompositionsprinzips weisen ihn in Intention und Werkästhetik als einen Erben der künstlerischen Avantgarde der zwanziger Jahre aus. Hinsichtlich des Einflusses collagistischer Kompositionsverfahren auf Hildesheimers schriftstellerischen Arbeitsprozess besteht kein Zweifel, dennoch zeigt sich in seinen Texten eine starke auditive Komponente, die in seiner Leidenschaft für die Musik ebenso wie in einem Ungenügen am traditionellen sprachlichen Ausdruck ihre Wurzeln haben mag: »Die Sprache nutzt sich ab; was gestern noch echt und richtig geklungen haben mag, das klingt heute nach Gebrauch – meist Mißbrauch – abgenutzt und hohl.«271 Seine Hochachtung vor Joyce ›Finnegans Wake‹ zeigt jedoch, dass – ungeachtet seines schwindenden Vertrauens in Fiktionen, insbesondere in das Genre des Romans – Hildesheimers Glaube an die wirklichkeitsschaffende Kraft der Sprache ungebrochen ist. Wenn keine kollektive Realität zur Abbildung vorhanden ist, kann Sprache Realität(en) schaffen: »Für den Philosophen mag die Sprache Grenzen haben, für den Dichter hat sie keine. Worte sind für ihn nicht unzulänglich sondern, im Gegenteil, seine einzige Realität. Sprache schafft Wirklichkeit, indem sie ihren Gegenstand erstehen läßt.«272 Hildesheimer rückt die ideale, »unabgenutzte« Sprache in die Nähe der Musik, deren Qualität für ihn gerade darin besteht, »daß sie als solche kein Thema hat, daß man sie, wie in der Oper, einem Thema anpassen und dann menschliche 269 270 271 272
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Ralph Freedman: The Lyrical Novel. Studies in Hermann Hesse, André Gide, and Virginia Woolf, Princeton 1963, S. 1. Hildesheimer: Empirische Betrachtungen zu meinem Theater, S. 822. Hildesheimer: Die Kunst dient der Erfindung der Wahrheit, S. 11. Hildesheimer: Frankfurter Poetik-Vorlesungen, S. 70.
Empfindungen in Musik ausdrücken kann. Aber Musik ist natürlich die abstrakteste, die am meisten vom Menschen losgelöste und daher wohl auch am schwersten verständliche Sprache in den Disziplinen der Kunst.«273 Es steht hier nicht zur Diskussion, ob Hildesheimer nicht einen verallgemeinernden, ahistorischen, subjektiven (und schlicht falschen) Musikbegriff kolportiert; fest steht, dass er – wie Joyce – ein begeisterter Laie war, der Musik stets rezeptiv und als »Erholung« erlebte,274 sie jedoch als ideale Ausdrucksform empfand und sie immer wieder zum Gegenstand seiner Reden und Essays machte, denn es ist das Herz, oder besser, die Seele, die den Ablauf von Musik aufnimmt, ihn linear mitvollzieht und emotional darauf reagiert. Das Denken dagegen läßt sich zwischendurch auf die Geleise der äußeren Umstände, also der Entstehung des Gehörten, umleiten. Es mischt sich kontrapunktisch ein und begibt sich auf außermusikalisches Gebiet, wo es unter dem Zuhören unsere Vorstellungskraft in Bewegung setzt. Es läßt uns erkennen, daß die Rezeption der Musik und aller Künste darin liegt, den kreativen Akt mit höchster Konzentration und Intensität nachzuerleben.275
5.5
»Wer sagt, daß ich aus der Realität ausgestiegen bin, hat recht.« – Hildesheimers Absage an Realismus und Realität
Während sich im ›Ulysses‹ Realismus und Bewusstseinsrealismus wechselseitig ergänzen, scheinen sich für Hildesheimer diese Prinzipien gegenseitig auszuschließen. Mit der Entscheidung, den Fokus der Texte in ein reflektierendes Bewusstsein zu verlagern, geht in ›Tynset‹ und ›Masante‹ ein Verzicht auf eine realistische Situierung einher, womit zugleich auch der zentrale Unterschied der Prosa Hildesheimers gegenüber der von Koeppen, Schmidt und Johnson benannt wäre. Raum und Zeit werden radikal subjektiviert und nur in ihrer Wahrnehmung durch das Ich für den Leser erfahrbar. Diese Erzählstrategie entspringt auch Hildesheimers Überzeugung (die später als Begründung für das »Ende der Fiktionen« angeführt wird), dass den Menschen ein universaler Erfahrungskonsens abhanden gekommen sei, der doch den Ausgangspunkt für alle schriftstellerische Aktivität darstelle: But the writer’s survival depends on thinking, he therefore should be free to think coherently about what keeps the world together and what breaks it apart, taking collective reality as his point of departure. And what is there to think about but misery,
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Hildesheimer: Ich werde nun schweigen, S. 55. Vgl. Wolfgang Hildesheimer: Die Musik und das Musische [1967], in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. VII, S. 100–108, hier S. 100. Wolfgang Hildesheimer: Der ferne Bach [1985], in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. VII, S. 218–235, hier S. 219.
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madness and crime? But can he write about it? He cannot. All he can do is to construct a subjective fictitious model of a singular case which he may regard as typical of our condition.276
›Tynset‹ und ›Masante‹ können dementsprechend als ein vorläufiger – subjektiver – Versuch zur Auflösung dieses Dilemmas verstanden werden, »daß ein Schriftsteller unsere Gegenwart gar nicht mehr in den Griff bekommt.«277 Die Reflekteure bauen, anstatt auf intersubjektiv nachvollziehbare Koordinatensysteme zurückzugreifen, im Erzählprozess aus ihren Erinnerungen und Erfindungen eine eigene, als subjektiv markierte Welt auf. Diese weist immerhin Berührungspunkte mit der topographischen Realität auf, die jedoch durch ihre »Registrierbarkeit in einer Welt der Tatsachen […] um so losgelöster von dieser erscheinen. Die Sätze selber bilden eine Welt, die nur ihnen eigen ist, die ein erzählendes Ich sich erfindet, weil der Schlaf dieses Ich flieht.«278 Hildesheimers versucht in seiner Prosa – ebenso wie Koeppen, Schmidt und Johnson – Antworten auf die Frage nach der Darstellbarkeit von Wirklichkeit zu geben; als Kern des Problems werden nun aber nicht die Mittel der Darstellung erkannt – vielmehr ist die Wirklichkeit abhanden gekommen, [e]s fehlt die eine kollektive Realität. Zu viele Wirklichkeiten konkurrieren hier miteinander, an zu vielen nehmen wir gleichzeitig teil. Mit einigem Recht darf man sagen, daß sie sich gegenseitig f ik tio n al is ie r e n , ganz zu schweigen von der latenten Entwirklichung faktischer Vorgänge durch die visuellen Informations-Medien. Wo wäre der Realitätsbegriff, der sich noch auf einen allgemeinen Erfahrungskonsens stützen könnte?279
Eine Annäherung an die Wirklichkeit, die sich ihrer Begrenztheiten bewusst ist, kann nur durch die radikale Subjektivierung der Prosa geleistet werden; der universale, monumentale Anspruch auf die Vermittlung kollektiver Erfahrung wird bei Hildesheimer verabschiedet zugunsten einer Selbstinszenierung des Erzählens durch die Reflekteure in ›Tynset‹ und ›Masante‹. Auf sie trifft gleichermaßen zu, was Hildesheimer in seiner ersten publizistischen Arbeit zu Joyce ›Ulysses‹ von den Bewusstseinswelten der Protagonisten sagt: Kein noch so peripherer Gedanke, keine noch so flüchtige Erregung bleibt uns verborgen […], wir hören die Stimmen, die sie selbst nicht hören, die ihres Unbewußten. In scheinbarer Inkohärenz enthüllt sich uns ihr subjektives Erleben, mosaikartig, bis ins Versteckteste. Eines erklärenden Kommentars bedarf es nicht. […] Während sie sprechen, spricht es aus ihnen, beredt und üppig.280
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Hildesheimer: The End of Fiction, S. 130. Hildesheimer: Joyce-Symposion ‘84, S. 9. Heißenbüttel: Nur Erfindung, nur Täuschung?, S. 212. Über »Marbot« und die Folgerichtigkeit des Gesamtkunstwerks, in: Text+Kritik 89/90 (Januar 1986): Wolfgang Hildesheimer, S. 20–32, hier S. 24f. Hildesheimer: James Joyce »Ulysses«, S. 422f.
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Im evidenten Gegensatz zu Joyce bemüht sich Hildesheimer nicht um die Ingredienzien eines nachprüfbaren settings, ein solches Vorgehen ist ihm nicht geläufig. Sogar gleichgültig. Der Roman hat für mich nun einmal keine Wirklichkeit, Fiktion steht für nichts als Fiktion, ich kann an einer Fabel keinen Anteil nehmen. Schreiben bedeutet doch: Umsetzen eines persönlichen »engagements« in Stil. Wozu dann der Aufbau einer Scheinrealität mit ihren Helden und Chargen?281
Hinter Hildesheimers Verzicht auf »die präfabrizierte Realität, aus der der Roman ihm genehme Konstellationen greift, um aus ihnen eine lesbare Fabel zu machen«,282 steht seine Überzeugung, dass Wirklichkeit nicht Ausgangspunkt oder Voraussetzung, sondern das Ziel des Erzählens ist. Diese hat ihre Wurzeln in den Einflüssen der Literatur des Absurden. Die Realität wird insofern als defizitär – schließlich als absurd – empfunden, als in ihr »Wort und Ding« nicht zusammenfallen und sie keinen »Urtext« hergibt, der das Rätsel der Schöpfung enthüllen und Antworten auf die Fragen des Menschen geben könnte: Die Welt schweigt, sie gibt keinen Urtext her. Pathetisch gesagt: der Sinn der Schöpfung enthüllt sich nicht, im Gegenteil: er wird immer rätselhafter, – wir können hinzufügen: seit Auschwitz. Hier denn ist der Ansatzpunkt der absurden Prosa: nicht das Auffinden des Urtextes, sondern das Sich-Abfinden damit, daß er nicht gefunden wird […].283
Noch nie hat Hildesheimer als Erzähler »fiktive Modelle errichtet und ausgebaut, sondern sich von den fingierten Kulturreportagen seiner Frühzeit bis zur fingierten Biographie Marbots als ein Erfinder von Realität, als ein Dokumentarphantast sozusagen versucht, auch in Tynset und Masante, in denen sich eher Redewelten als Erzählwirklichkeiten entfalten.«284 Hildesheimer reagiert auf der Krise der Fiktionalität tatsächlich nur insofern, als er sie als Realismus-Krise begreift.285 Das Ungenügen, das er an den überlieferten und gemeinhin gebräuchlichen Verfahren zur ›realistischen Abbildung der Welt‹ empfindet, artikuliert sich in einer rüden Absage an den zeitgenössischen Literaturbetrieb: Er übt harsche Kritik an der Gruppe 47, deren Treffen er 1951 oder 1952 zum ersten Mal beigewohnt hatte.286 In den ›Frankfurter Poetik-Vorlesungen‹ gibt er unumwunden zu, dass ihm »der größte Teil der zeitgenössischen Literatur unbekannt« sei;287 1979 erklärt er, »die deutsche
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Hildesheimer: Antworten über Tynset, S. 385. Hildesheimer: Frankfurter Poetik-Vorlesungen, S. 59. Ebd., S. 60. Reinhard Baumgart: Heimisch im Absurden, in: Wolfgang Hildesheimer, S. 339–343, hier S. 342. Vgl. Neumann: Hildesheimer Ziel und Ende, S. 25. Vgl. Hildesheimer: Ich werde nun schweigen, S. 31. Hildesheimer: Frankfurter Poetik-Vorlesungen, S. 44.
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Nachkriegsliteratur als Phänomen, interessierte [ihn] halbwegs, eher weniger,«288 und die 1973 noch vorsichtig klingende distanzierende Stellungnahme, er sei »an Literatur […] ausschließlich als Leser interessiert, nicht an ihrer Theorie, nicht an ihrer Geschichte oder ihrem Betrieb«,289 mündet knappe zehn Jahre später in dem vernichtenden Verdikt: »Für mich ist der zeitgenössische Roman gleich Trivialroman.«290 Hildesheimer wehrt sich gegen den allgemein üblichen »Aufbau einer Scheinrealität mit ihren Helden und Chargen«, den er zudem für überflüssig hält, da der »Roman […] für [ihn] nun einmal keine Wirklichkeit« habe.291 Fiktion dagegen, die nichts anderes sein will als Fiktion,292 scheint zunächst unangreifbar (diese Auffassung bestätigt auch Hildesheimers biographischer ›Essay‹ ›Marbot‹). »[T]he function of literature is not to turn truth into fiction but to turn fiction into truth: to condense truth out of fiction.«293 Das Diktum – »die Kunst dient der Erfindung der Wahrheit« –, das Hildesheimer aus Max Frischs ›Don Juan‹ geborgt und zu einer zentralen Aussage seines ästhetischen ›Programms‹ erhoben hat, erscheint ihm »richtunggebend für die Aufgabe der Kunst«294 und wird in einem (in die ›Gesammelten Werke‹ bedauerlicherweise nicht aufgenommenen) Vortrag weiter ausgeführt, den Hildesheimer 1956 im Studio des Mainzer Stadttheaters hielt: Jedes Kunstwerk ist ein in Ehren mißlungener Versuch, die Welt zu verbessern. […] Es ist die Aufgabe des Kunstwerks, eine eigene Wirklichkeit zu schaffen. Die Wirklichkeit – die des Kunstwerks – ist der erlebten Wirklichkeit analog, das heißt: der Künstler schafft, mit welchen Mitteln auch immer, Situationen, die für den Betrachter oder den Leser klar umrissene Aspekte der erlebten Wirklichkeit vor Augen führen sollen, ohne sie selbst darzustellen. Wird diese Analogie nicht deutlich, so hat das Kunstwerk seinen Zweck verfehlt.295
Das Verhältnis zwischen ›Wirklichkeit‹ und ›Kunstwerk‹ ist komplexer als das einer mimetischen 1:1-Imitation; es gründet sich vielmehr auf das Prinzip einer Analogiebildung, die von ›Situationen‹ ausgeht; eine derartige ›Situation‹ wird
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Wolfgang Hildesheimer: Waren meine Freunde Nazis? [1979], in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. VII, S. 633f., hier S. 633. Wolfgang Hildesheimer: Es gelingt mir längst nicht alles [1973], in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. VII, S. 474. Hildesheimer: Die Subjektivität des Biographen, S. 465. Hildesheimer: Antworten über Tynset [1965], S. 385. Vgl. ebd.: »Fiktion steht für nichts als Fiktion, ich kann an einer Fabel keinen Anteil nehmen. Schreiben bedeutet doch: Umsetzen eines persönlichen ›engagements‹ in Stil.« Hildesheimer: The End of Fiction, S. 131. Ebd., S. 10. Wolfgang Hildesheimer: Dichtung ohne Spontanität. Aus einem Vortrag von Wolfgang Hildesheimer, in: Das neue Mainz 1 (1957) H. 1, unpag.
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ein Jahrzehnt nach dem zitierten Vortrag in ›Tynset‹ zum Ausgangspunkt der schriftstellerischen Gestaltung: Ein Mann liegt schlaflos im Bett; von diesem Punkt aus nehmen die Fiktionen ihren Lauf, Historisches, Biographisches und Fiktives werden bis zur Ununterscheidbarkeit miteinander verwoben. Das »Ende der Fiktionen« ist in erster Instanz eine Absage an die geläufigen Realismus-Konzeptionen, die Realität »als objektiv anbieten«,296 obwohl die Schriftsteller, »von einem kollektiven Empfinden hilfloser Erwartung beherrscht«,297 den Zugriff auf die Wirklichkeit an die Naturwissenschaften verloren haben:298 Es gibt keine Geschichten mehr zu erzählen. Es hat mir die Sprache verschlagen. Ich müßte wieder in die Vergangenheit tauchen, und da habe ich keine Figur, die mich heute noch so fasziniert oder über die ich in der Lage bin zu schreiben; und über die Gegenwart zu schreiben wäre mir völlig unmöglich, denn die Gegenwart, die wir erleben, ist ja nicht die wirkliche Gegenwart. Wenn Sie einen Gentechniker oder einen Astrophysiker fragen, wie seine Gegenwart aussieht, ist das eine ganz andere als die, über die wir schreiben. Wir schreiben über die Liebe, und in Wirklichkeit geht die Welt unter, verändert sich, entwickelt sich alles zum Verhängnis, zum Verderben.299
Das Konstruieren von Fiktionen erscheint lächerlich angesichts der realen Bedrohung der Welt durch Umweltkatastrophen: »Ich gehöre noch nicht einmal zu den modifizierenden Optimisten, die da sagen, es sei fünf vor zwölf. In der Tat frage ich mich, wie lange wohl der Uhrzeiger auf diesem globalen Gemeinplatz stehengeblieben sei. Es ist inzwischen halb fünf […].«300 Man mag zu Hildesheimers Endzeitprognosen stehen wie man will, dennoch muss man seiner bemerkenswerten Konsequenz Respekt zollen, mit der er schrittweise von der Fiktion Abschied nimmt, da er sie als überholt und – in einer zunehmend der (Selbst-)Zerstörung anheim gegebenen Gegenwart – unhaltbar erkennt; selbst die Modelle ›reiner‹ Fiktion, als die Hildesheimer ›Tynset‹ und ›Masante‹ verstanden wissen will, being invented and therefore artificial, will never even reflect that part of reality it is meant to represent, and to those who have actually experienced it, the sufferers, it must appear as a terrible simplification of a terrible subject. The attempts of literature, including the littérature engagée, to master our situation by setting fictitious models, have failed, which does not necessarily mean that they will not figure in the history of literature. But they are a matter of the past. No form of novel will do to express our situation […].301
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Hildesheimer: Das Ende der Fiktionen, S. 155. Ebd., S. 156. Hanenberg: Geschichte im Werk Wolfgang Hildesheimers, S. 171. Hildesheimer: Ich werde nun schweigen, S. 86f. Hildesheimer: Notat eines Verlierers, S. 721. Hildesheimer: The End of Fiction, S. 130f.
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Im Gegensatz zu Joyce, Koeppen, Schmidt und Johnson glaubt Hildesheimer nicht mehr an das Fortleben des Romans. In seinen Augen scheint das Genre – wenn nicht die (fiktionale) Literatur überhaupt – zur Abbildung von Realität überholt, in seiner Formensprache erschöpft und entbehrlich geworden zu sein: All possible thematic positions and combinations of the novel have been exercised ad nauseam, its possibilities of reproducing reality are exhausted, the more so as we know less and less about what we have to understand by reality, the scientist’s reality being an entirely different one from ours.302
Ein Roman kann in den Augen Hildesheimers immer nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit repräsentieren, den er notgedrungen im fiktiven Modell bagatellisiert, da sich die Gegenwart mitsamt dem historischen Erbe des Holocaust als zu komplex darstellt. Über derartigen Ausschnitten verliert »der Leser die Wirklichkeit aus dem Auge«.303 Für seine eigene erzählerische Praxis weist er einen derartigen partikularen Ansatz vehement zurück: Ich trete nicht für den Konzentrationslagerroman ein, nicht für den Roman über Kollektivschuld und Sühne, auch das wären Teilaspekte, sondern für das weite Panorama eines an allen Schrecken und Grauen, an aller Tragik und Komik des Lebens geschulten Bewußtseins, und dafür kann der Roman nicht der Ort sein, denn er konstruiert den Einzelfall und bietet ihn dem Leser zur Identifikation an.304
Das »weite Panorama eines an allen Schrecken und Grauen, an aller Tragik und Komik des Lebens geschulten Bewußtseins« wird in ›Tynset‹ und ›Masante‹ in das Innere eines exemplarisch konstruierten Bewusstseins einer Opferfigur verlagert, wobei Hildesheimer jedoch nicht auf die Konstruktion eines Einzelfalles verzichten kann – aber durch die Akzentuierung von Subjektivität auch nicht der Anspruch auf Allgemeingültigkeit bzw. Universalität erhoben wird, höchstens auf die »Universalität des Mikrokosmos«.305 Auf dem Weg, der Hildesheimer ins Verstummen führt, ergänzen und verstärken sich mehrere Faktoren: seine Endzeitgewissheit, die Einsicht in den »historische[n] Tauglichkeitsverlust künstlerischer Fiktionen«,306 die absurde Geschichtsauffassung und werkimmanente Entwicklung, die Hildesheimer konsequent zu ihrem Ende führt: Mit dem Schluss von ›Masante‹ ist ein Punkt erreicht, hinter den Wolfgang Hildesheimer nicht mehr zurückkehren kann. Nachdem
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Ebd., S. 132. Hildesheimer: Frankfurter Poetik-Vorlesungen, S. 53–110, hier S. 58. Ebd. Vgl. ebd., S. 82: »Die Form des langen Gedichtes, des Epos, verpflichtet zu Universalität, und sei es auch die Universalität des Mikrokosmos.« Neumann: Hildesheimer Ziel und Ende, S. 21.
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er seinen Reflekteur sprichwörtlich »in die Wüste geschickt« hat,307 ist ihm die Erzählinstanz, durch die eine Vermittlung der als absurd empfundenen Welt – die hier schon gegenüber einer fiktional ausgestalteten Innenwelt ins Hintertreffen geriet – noch möglich war, abhanden gekommen: Am Ende von »Tynset« hatte ich diesen Ich-Erzähler noch. Am Ende von »Masante« ist er wahrscheinlich in der Wüste verloren gegangen. Jetzt habe ich niemand mehr. Ich kann nicht einen Roman spinnen mit fiktiven Figuren, mit einer Konstruktion, wie andere es machen: der liebt die usw. Ich kann mir nicht Skizzen machen, im dritten Kapitel muß der wieder auftauchen, das kann ich nicht.308
Die konsequente Rückbindung der erzählten Welt(en) an ein Subjekt macht es unwiderrufbar, dass mit dem Verschwinden des Erzählers auch das (fiktionale) Erzählen beendet ist. Die unbedingte Konsequenz innerhalb seines literarischen Werkes führt Hildesheimer unweigerlich ins Verstummen (›Mozart‹ und ›Marbot‹ bezeichnet Hildesheimer rückblickend als »Flucht«),309 das vom Reflekteur in ›Masante‹ antizipiert wird, indem dieser den Sinn und die Stichhaltigkeit literarischer Konstruktionen von Geschichten in Frage stellt: Wo also lag der Sinn einer Spekulation, die niemanden erreicht? Was sollte sie festhalten, und für wen? Gelingen konnte mir nichts mehr, die Zeit des Gelingens ist vorbei, so wie auch die Zeit derer, die Gelungenes wollen. Nur noch Fragmente, Dinge, die immer im Entstehen bleiben, doch das ist meine Sache nicht, ich habe immer Fertiges, Vollkommenes haben wollen –: mein Fehler. Damit bringt man es nicht weit. Wozu erzähle ich mir Geschichten, als sei ich nicht der, dem sie gesche307
308 309
Hildesheimer: Ich werde nun schweigen, S. 53: »Der Stoff ist mir ausgegangen, und dann war diese Wüste, die ja nun tatsächlich in dem Buch existiert, genau der richtige Ort, topographisch gesehen, wo ich aus einem Standpunkt die Wahrheit machen konnte: jemanden in die Wüste schicken.« Hildesheimer gestaltet dieses Motiv in ›Masante‹ zum zweiten Mal – mit einem Abstand von über zwanzig Jahren: Bereits in einer der frühen ›Lieblosen Legenden‹, ›Die Suche nach der Wahrheit‹ (1951), verschwindet die Hauptfigur in der Wüste. Der in der frühen Prosa noch durchweg heterodiegetische Erzähler schließt mit den Worten: »Und die Moral? Und dies Aussage? höre ich den befremdeten Leser rufen, die Aussage? die Wahrheit? Ja, die Wahrheit… sie kommt, wie so oft, zu kurz. Aber es ist nicht die meine, sondern meines Helden Schuld, der auf der Suche nach ihr zuerst auf Abwege geraten und schließlich verlorengegangen ist. Ich schlage dem Leser vor, diese Geschichte als Unterhaltung zu betrachten und über die Wahrheit die Werke derjenigen zu lesen, die auf diesem Gebiet wirkliche Autorität haben.« (Wolfgang Hildesheimer: Die Suche nach der Wahrheit, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. I, S. 26f., hier S. 27.) Bereits dieser frühe Wüstengänger entzieht sich (was in ›Masante‹ nicht expliziert wird – und aufgrund der homodiegetischen Erzählsituation wohl auch nicht expliziert werden kann) der traditionellen Aufgabe der Wahrheitsfindung, indem er auf einem Kamel »durch die Wüste davon« reitet und den Leser enttäuscht, ohne eine Moral, lediglich mit einem wenig tröstlichen Verweis auf Autoritäten in Sachen Wahrheit (welche auch immer) zurücklässt. Durzak: Ich kann über nichts anderes schreiben als über ein potentielles Ich, S. 286. Hildesheimer: Joyce-Symposion ‘84, S. 9.
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hen sind? Weil ich es nicht mehr bin? Weshalb will ich sie hören, als sei die Vergangenheit, aus der sie kommen, jemals wirklich gewesen, als hätte sie jene Geborgenheit geboten oder auch nur versprochen, in der ein erfundenes Geschehen, bis zu seinem erfundenen Ende weiterentwickelt, irgendeiner Wirklichkeit entspricht? Weshalb wollte ich mich selbst bezwingen, da mir doch die Frage warum immer im Gehirn stand? Nur weil der Zwang nicht nachließ? So blieb ich immer mein eigener Zuhörer, allerdings habe ich mir immer aufs Wort geglaubt. Niederschreiben um abzustreifen, das war das Experiment, ist es schon gemacht? Verstrickt, verknotet im Netz der Identifikationen. (M, S. 348)
Hildesheimer weist eine Verpflichtung des Dichters, als Zeuge für sein Jahrhundert einzutreten, vehement zurück. Als »Zeuge des Jahrhunderts«310 habe er sich nie gefühlt – allein gegen das Jahrhundert vermöge er Zeugnis abzulegen; entsprechend fragt sich das ›Masante‹-Ich: »Zeugenschaft geben? Für wen? Wovon? Von Gleichgültigkeit, Dulden, Versagen, Ohnmacht? […] Die falschen Ordnungen sind eingesessen, eingesengt; wer sagt, daß sie ausrottbar seien, der irrt.« (M, S. 332f.) Als Schriftsteller empfindet sich Wolfgang Hildesheimer wie »dieser zum Wachsein Verurteilte in Tynset«311 in ständigem, ernüchterndem und zunehmend beängstigendem Dialog mit der Wirklichkeit. Während zuletzt allerdings die Auseinandersetzung mit der Literatur immer auch eine Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Realität bedeutet und »die Fiktion der Wirklichkeit nicht entkommt, auch dort nicht, wo sie sie nicht meint,«312 stellt sich für Hildesheimer die bildende Kunst als Möglichkeit einer Flucht vor der Lebenswirklichkeit dar: Das heißt, das Arbeiten mit Mitteln der Bildenden Kunst ist für mich befriedigend, weil es von der Realität viel stärker ablenkt. Die Gedanken sind auf eine andere Art eingeschaltet. Ich brauche nicht nachzudenken über unsere Zeit und die Menschen. […] Ich tauche weg und muß über die Materialien nachdenken. Ich muß über das Handwerkliche nachdenken. Die vordergründige Beschäftigung ist im Handwerklichen, und dadurch entrückt man der Zeit völlig.313
»Die Kunst der Collage allein hält hier die künstliche, längst aus den Fugen geratene Welt noch zusammen«,314 mit den Mitteln der Literatur hingegen – so Hildesheimer – ist dieser Realität nicht mehr beizukommen, geschweige denn verändernd auf sie einzuwirken: Hildesheimers Reden und Essays der späten siebziger sowie der achtziger Jahre sind durchdrungen von einem Gefühl der Ohnmacht des Dichters gegenüber einer von den Naturwissenschaften übernommenen und von ihren Errungenschaften zunehmend zerstörten Wirklichkeit: »Die
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Hildesheimer: Ich werde nun schweigen, S. 17. Wohmann: Nachtmonolog, S. 202. Hanenberg: Geschichte im Werk Wolfgang Hildesheimers, S. 124. Hildesheimer: Ich werde nun schweigen, S. 101. Loquai: Auf der Suche nach Weite, S. 52.
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Literatur ist machtlos. Kein Buch, kein Bild, die ganze Kultur, richtet nichts aus.«315 Dies gilt für den Roman gleichermaßen wie für das Theater, dem er die Möglichkeit irgendeiner Form von Katharsis oder brechtscher Lehre rundweg und für alle Zeiten abspricht: »Kein Kampf der Welt ist jemals auf dem Theater ausgefochten worden, das Theater hat noch keinen Menschen geläutert, keinen Zustand verbessert.«316 Die Literatur – so lautet Hildesheimers vernichtendes Urteil – hat bei der Bewältigung des Nationalsozialismus ebenso versagt wie die Dichter als Mahner vor der herannahenden Naturkatastrophe. Hatte Hildesheimer 1969 in den ›Frankfurter Poetik-Vorlesungen‹ noch erklärt, dass der Literatur mit der Schärfung der rezeptiven Kompetenzen der Menschen eine (wiewohl recht allgemeine) Funktion zukomme und sie – im Sinne seiner absurden Literaturkonzeption – das »Schweigen der Welt hörbar« zu machen vermag,317 so werden diese letzten Hoffnungen spätestens nach dem Abschluss ›Masantes‹ als Utopie verabschiedet. 1989 ist Hildesheimer zu der bedrückenden Einsicht gelangt, »daß die Literatur nicht ausreicht, um das Furchtbare der Vergangenheit zu bewältigen. […] Die Literatur hat versagt. Sie hat den Menschen nicht so darstellen können, wie er wirklich ist, und so müssen wir uns in der Kunst auf Phantasieprodukte werfen.«318 Engagierte Literatur, so Hildesheimer, kann es nicht geben; seine pessimistische Einschätzung lautet: »Ich fürchte, daß Literatur eben keine Funktion erfüllt.« Der einzige Wirkungsmechanismus, den Hildesheimer der Literatur zugesteht, nähert sie dem reinen Spiel als Entlastungsfunktion: Die Funktion der Literatur […] ist, den Leser oder das Publikum oder die Menschen bewußter zu machen, hinzuhören und Worte nicht nur als Worte, sondern tatsächlich als Aktionen zu betrachten […]. Die Kunst als Erziehungsfaktor hat immer versagt, obwohl ein Leben ohne sie undenkbar wäre. Vielleicht wäre alles noch wesentlich schlimmer, wenn es keine Kunst gäbe.319
Engagement erhofft Hildesheimer sich allein von der Person des Dichters, nicht von seinen Werken:
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Wolfgang Hildesheimer/Marco Guetg: »Nein, es ist zu Ende, und das Ende ist absehbar«, in: Wolfgang Hildesheimer, S. 363–370, hier S. 365. Hildesheimer: Empirische Betrachtungen zu meinem Theater, S. 822. Dort heißt es, »[d]ie Frage, wie Dichtung zu wirken habe,« könne er nicht »beantworten. Wenn sie aber dazu da ist, das Rezeptionsvermögen zu erweitern und das Bewußtsein so zu schärfen, […] dann wäre sie zumindest nicht vergeblich. Man könnte sich an der Qualität der Fragen aufrichten, wie sie das Schweigen der Welt hörbar machen, wenn nicht gar zum Dröhnen bringen.« (Hildesheimer: Frankfurter Poetik-Vorlesungen, S. 61.) Hildesheimer: Ich werde nun schweigen, S. 36f. Ebd., S. 35f.
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The writer should make use of his name and his prominence to support a good cause, although we generally find him overestimating the value of his appeal. To despots and dictators he is just a tiresome grumbler. […] All the writer can do is to justify the moral credit given to him by those who still believe in the ethics of his art and mission and do good in every sphere offering itself […]. But I doubt that the writer of fiction will ever be able to extend his professional activity to serve a great human cause; in fact, I doubt whether he has ever been able to. He has to rely on his personal hope that his message as an essential constituent of his inner microcosm, which is or should be his individual gift as well as his professional heritage expresses itself automatically, unconsciously in his work. But he cannot choose this message. The message has to choose him.320
Auf seinen Arbeitsprozess hin befragt, betont Hildesheimer stets, daß man niemals ein Erlebnis oder Ereignis oder auch nur eine angestrebte Atmosphäre heranholen oder forcieren kann, um anschließend darüber zu schreiben. Jedes Schreiben muß der inneren Notwendigkeit entspringen, und damit ein Zurückgreifen auf im Unbewußten gespeichertes Material bedingen. Alles andere ist Journalismus.321
Ein Thema – so Hildesheimer – könne sich ein Schriftsteller nicht beliebig wählen, erarbeiten und narrativ ausgestalten: »Ein Thema muß sich erst in den Labyrinthen des Unbewußten verloren haben, bevor es geläutert und sublimiert wieder ins Bewußtsein dringt und damit der Weg zur Verarbeitung frei ist.«322 Wie am Ende des Auszugs aus ›The End of Fiction‹ spricht Hildesheimer immer wieder von seiner Hoffnung, dass aufgrund dieses z.T. unbewussten Arbeitprozesses die Moral, das persönliche Engagement, das »ideologische Ich« des Schriftstellers mitsamt der »Dimension Auschwitz«323 automatisch in seine Werke Eingang finde und sich in ihnen artikuliere: »Ich muß mich darauf verlassen, daß meine Moral, als Bestandteil meines persönlichen Mikrokosmos, auch in meiner Arbeit transparent wird.«324 Was zunächst als Hoffnung formuliert wird, erklärt Hildesheimer später zu seiner »Theorie«325 – worin sich zweifellos auch eine gewisse Verlegenheit bzw. Erklärungsnot zeigt, sich nicht an der Aufarbeitungs- und Bewältigungsliteratur zu beteiligen. Tatsächlich dokumentiert aber gerade diese Auffassung Hildesheimers auch einen Wunsch nach einem direkteren Anschluss an die unpolitischen Tendenzen in der Avantgarde der zwanziger Jahre, wie sie auch durch Joyce repräsentiert sind. Was Hildesheimer, dessen persönliche Bewunderung 320 321 322 323 324 325
Hildesheimer: The End of Fiction, S. 129f. Wolfgang Hildesheimer: Schopenhauer und Marbot [1982], in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. IV: Biographische Prosa. Marbot, S. 268–284, hier S. 272. Wolfgang Hildesheimer: Arbeitsprotokolle des Verfahrens »Marbot« [1982], in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. IV: Biographische Prosa. Marbot, S. 255–264, hier S. 257f. Hildesheimer: Frankfurter Poetik-Vorlesungen, S. 57. Hildesheimer: Empirische Betrachtungen zu meinem Theater, S. 822. Hildesheimer: Wolfgang Hildesheimer im Gespräch mit Dierk Rodewald, S. 158.
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für den Iren ebenso wie seine essayistischen Würdigungen von Joyce Werk in der deutschen Literatur beispiellos geblieben sind, von einer direkteren Applikation der formalen Experimente von ›Ulysses‹ und ›Finnegans Wake‹ auf die eigene Prosapraxis abhielt, war – neben seiner schriftstellerischen Eigenständigkeit – die Einsicht in die Unvergleichbarkeit der historischen Situation, aus der heraus Joyce große Prosawerke entstanden, mit der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Mit zunehmender zeitlicher, auch biographischer Distanz vom historischen Epizentrum, von der Zäsur des Nationalsozialismus, lässt zwar die unmittelbare Verpflichtung auf die Historie und zur Aufarbeitung nach; noch bedarf allerdings – so scheint es – das formale Experiment, das in erster Linie Experiment sein will, ohne eine Moral, eine Lehre, ein gesellschaftskritisches oder didaktisches Anliegen zu vermitteln, in den Jahrzehnten nach dem Holocaust einer Rechtfertigung, die Hildesheimer eben auf diese Weise formuliert: »Formalismus, richtig angewandt, demonstriert das Engagement des Schriftstellers automatisch – falls er es überhaupt in sich hat.«326 Was Hildesheimer von Koeppen und Johnson (mehr noch als von Arno Schmidt) abhebt, ist eine Schwerpunktverlagerung zugunsten der Form; die kategorialen Unterschiede hat die Analyse nachhaltig erwiesen, an erster Stelle steht dabei wohl der Verzicht auf eine in allen Details realistisch ausgestaltete, verifizierbare Topographie, auf eine »Beschreibung und Durchleuchtung der Welt durch das Wort«327 und anhand einer immensen Fülle von Daten und Personen sowie auf eine ›enzyklopädische‹, totale Hereinnahme von Alltag, wie sie im ›Ulysses‹ mit seiner einzigartigen ›Welthaltigkeit‹ vorgeführt wird; das enzyklopädische Moment entsteht in Hildesheimers Prosamonologen durch die Weite des Bewusstseins der Reflekteure, die fundamentale Gemeinsamkeit mit dem ›Ulysses‹ durch das formale Experiment, das Bewusstseinsprozesse zum Angelpunkt macht, außerliterarische Schemata zur Gestaltung der Narration nutzt und die Sprache über die Grenzen ihrer kommunikativen Dimension hinausdrängt. Indem der Roman seiner Gedächtnisfunktion zwar nicht völlig enthoben, doch vorsichtig von ihr gelöst wird, kann Hildesheimer beim Schreiben als einem »bewußte[n] Vorgang« – zumindest in den Jahren, in denen ›Tynset‹ und die Materialsammlung zu ›Masante‹ entstand – wieder »auf das Kompositorische, das Stilistische achten […] und nicht auf irgendwelche persönlichen Dinge.«328 Gegen Ende seines literarischen Schaffens allerdings erscheint Hildesheimer angesichts der überbordenden Komplexität und Fragilität der Welt dieser ›formalistische‹ Ansatz als naiv, wenn nicht als vermessen, das Verstummen als die einzig mögliche Alternative:
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Ebd. Schmidt: Berechnungen I, S. 163. Durzak: Ich kann über nichts anderes schreiben als über ein potentielles Ich, S. 291.
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[T]he days of the »great novelists« are gone. Our time will never bring forth nor nurse a writer who in the midst of growing and unpredictable chaos can sit down and dedicate himself to the realization of a timeless concept. For someone whom his sensibilities have made a writer it is less a matter of conscious decision then a challenge to take position, but I doubt whether he can do so as a man of letters. He can by taking action or by exercising silence. But turning our present time into fiction is delayed action. It will not allow him the leisure for reflecting it, making it the object of his imaginary power and his art.329
Joyce berühmter Ausspruch »For God’s sake don’t talk politics. I’m not interested in politics. The only thing that interests me is style«330 datiert aus den 1920er Jahren, aus einer Epoche die, ungeachtet der Eindrücke des Ersten Weltkriegs, von der ungleich größeren Zerstörungsmaschinerie des Zweiten und des Holocaust noch unbelastet war. Hildesheimer formuliert pointiert das Dilemma, das die produktive Auseinandersetzung mit Joyce und seinem ›Ulysses‹ nach dem Zweiten Weltkrieg hemmt und die Anknüpfungen in formaler Hinsicht als Rückschritte hinter Joyce radikale Innovationen und den avantgardistischen Impetus der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts erscheinen lässt: Nur entstammt »Finnegans Wake« einer Epoche, zu der Stil und Weltgeschehen zweierlei waren; zu der das Furchtbare nicht unaufhaltbar schien und der Literatur jene Objektivität gestattet war, die Gegenwart von Vergangenheit streng trennen durfte und Zukunft nicht zu enthalten brauchte. Wer heute von der Literatur abgeklärte Objektivität verlangt, verkennt ihre Funktion.331
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Hildesheimer: The End of Fiction, S. 135. Zit. n. Ellmann: James Joyce, S. 710. Wolfgang Hildesheimer: Butt und die Welt. Geburtstagsbrief an Günter Grass [1976], in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. VII, S. 397–405, hier S. 401f.
6.
Rückblick & Abblende
6.1
Rückblick
Der Kontinuitätsbruch, den die deutsche Literatur durch die nationalsozialistische Diktatur erfahren hat, prägt ihr Erscheinungsbild nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich; die Nachwirkungen sind noch bis ins 21. Jahrhundert hinein spürbar. Die Zäsur ließ ein kulturelles Vakuum entstehen, das sich in der Nachkriegszeit erst schleppend, dann eruptionsartig mit neuen und alten, nationalen und internationalen Tendenzen füllte – und vermutlich auch dem diffusen Erscheinungsbild des gegenwärtigen Literaturbetriebs sein Gepräge verliehen hat. In den Nachkriegsjahrzehnten entstand eine komplexe Gemengelage experimenteller wie konservativer Tendenzen – oft bei ein und demselben Autor, wie das Beispiel Arno Schmidt eindrucksvoll belegt –, durch die »jede Idee einer nach aufeinander folgenden Epochen und Modernitätsschüben gegliederten Literaturgeschichte nachhaltig erschüttert wird.«1 Die deutsche Nachkriegsliteratur erscheint als ein diffuses Konglomerat, und die »Stunde Null«-Parolen (1946–52) vermögen nicht darüber hinwegzutäuschen, dass sich – weit entfernt von einem totalen Neubeginn – »recht sonderbare Ungleichzeitigkeiten« abzeichnen: »Im Vergleich zur internationalen Moderne der westlichen Kulturen hat die deutsche Literatur nicht nur nach 1933, sondern auch noch nach 1945 zweifellos einen ›Sonderweg‹ eingeschlagen.«2 6.1.1
Im Wartesaal der Geschichte
Die mit den Parolen »Stunde Null« und »tabula rasa«3 verbundene Aufbruchsstimmung der unmittelbaren Nachkriegsjahre4 – die gewiss dem zentralen 1
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Walter Erhart: Koeppen & Döblin. Topographien der Literarischen Moderne, in: Wolfgang Koeppen & Alfred Döblin. Topographien der literarischen Moderne, hg. v. Walter Erhart, München 2005 (Treibhaus 1), S. 9–31, hier S. 11f. Klaus R. Scherpe: Einleitung, in: ders.: Die rekonstruierte Moderne. Studien zur deutschen Literatur nach 1945, Köln/Weimar/Wien 1992 (Literatur – Kultur – Geschlecht 3), S. VII–XX, hier S. XV. Die Formel »tabula rasa« ist die Überschrift eines Gedichtes von Hans Egon Holthusen (1913–1997), das im ersten Jahrgang der Zeitschrift ›Die Wandlung‹ von 1946/47 veröffentlicht wurde. Ihre programmatische Grundlage haben diese Parolen in Gustav René Hockes Essay
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Bedürfnis der Zeit nach einem Neuanfang entsprach – blieb weitgehend folgenlos, ebenso Alfred Anderschs Überzeugung, »der dichterische Wille der jungen Generation« richte sich »auf einen neuen Sturm und Drang«.5 Brenner bemerkt pointiert, »daß die Rede vom Nullpunkt eine bewußte Mystifikation darstellt.«6 Der ›Nullpunkt‹-Mythos ist nur »eines der Verarbeitungsmuster in der realgeschichtlichen Umbruchssituation«,7 wenn nicht gar »die konsequente Umkehrung des Mythos vom totalitären Staat des ›Dritten Reiches‹.«8 Auch Karl Esselborn bewertet die Rede vom »›Neubeginn‹ als ungeschichtliches, utopisches, letztlich mythisch-theologisches Konzept«,9 zumal der »›Nullpunkt‹ am nachdrücklichsten 1947/48 beschworen [wurde], als die allgemeine Restauration schon abzusehen, bzw. dann in den resignierten Rückblicken Anfang der sechziger Jahre, als sie bereits abgeschlossen war.«10 Weyrauchs Forderung nach einer »Literatur des Kahlschlags« (1949 in seiner Prosa-Anthologie ›Tausend Gramm‹), »mit der man ebenso die faschistische Deformation der Sprache beheben wie einer die Wirklichkeit verzerrenden und idealisierenden Dichtungssprache entgegenwirken wollte,«11 verhallte weitgehend folgenlos: »Insbesondere in sprachlicher Hinsicht hat sich das Kahlschlagprogramm als wenig fruchtbar erwiesen. Die radikale Minimalisierung der Sprache erwies sich nicht als der geeignete Weg zur Überwindung der nationalsozialistischen Sprachverwüstung.«12 Der wirklich radikale Neubeginn blieb aus. Das Fortschreiben der gewaltsam unterbrochenen Traditionen wurde nicht nur durch die Proklamierung eines Neubeginns gehemmt, der so recht kei-
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›Deutsche Kalligraphie‹, der im November 1946 in der Zeitschrift ›Der Ruf‹ publiziert wurde, und Heinrich Bölls ›Bekenntnis zur Trümmerliteratur‹ (in ›Die Literatur‹ vom 15.5.1952). Alfred Andersch: Die Literatur im Vorraum der Freiheit, in: Die deutsche Literatur 1945–1960, Bd. 1: »Draußen vor der Tür« 1945–1948, ges. u. hg. v. Heinz Ludwig Arnold, München 1995, S. 506–512, hier S. 507 [zuerst in: Deutsche Literatur in der Entscheidung. Ein Beitrag zur Analyse der literarischen Situation, Karlsruhe 1948, S. 24]. Peter J. Brenner: Nachkriegsliteratur, in: Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995. Eine Sozialgeschichte, hg. v. Horst A. Glaser, Bern/Stuttgart/Wien 1997 (UTB 1981), S. 33–58, hier S. 45. Ludwig Fischer: Die Zeit von 1945 bis 1967 als Phase der Literatur- und Gesellschaftsentwicklung, in: Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967, hg. v. Ludwig Fischer, München 1986 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart 10), S. 29–96, hier S. 37. Brenner: Nachkriegsliteratur, S. 45. Karl Esselborn: Neubeginn als Programm, in: Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967, S. 230–243, hier S. 230. Ebd. Friedhelm Kröll: Die konzeptbildende Funktion der Gruppe 47, in: Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967, S. 368–378, hier S. 371f. Brenner: Nachkriegsliteratur, S. 43.
ner war – vor allem der Übermacht des »Realitätsdrucks« mussten die Literaten Tribut zollen. Dabei galt es die materiellen Nöte ebenso zu überwinden wie die seelisch-moralischen Entbehrungen des von den Kriegsereignissen und dem Holocaust erschütterten deutschen Volkes. Die deutsche Nachkriegsliteratur befand sich wie nie zuvor in einer Situation der Inanspruchnahme durch die Bevölkerung (die doch zu weiten Teilen in trivialer Unterhaltung Ablenkung von den alltäglichen Nöten suchte); die Schriftsteller sahen sich mit der Erwartung konfrontiert, Sinn, Antworten und Orientierung zu geben, Hoffnung zu verbreiten, Trost zu spenden oder Schuld zuzuweisen, Aufarbeitung zu leisten und Perspektiven zu schaffen: »Literatur wurde in der Nachkriegszeit noch einmal als ›Lebenshilfe‹ in Gebrauch genommen, das Lebenswerte in der Literatur eingeklagt.«13 Bedrängt von der Flucht des Lesepublikums zu seichter Massenunterhaltung einerseits, der eigenen Funktionalisierung als »Gewissen der Nation« andererseits verharrten manche in der inneren Emigration, andere schrieben ostentativ an der historischen Erfahrung vorbei und zogen damit den Eskapismusvorwurf auf sich. Die Literatur der späten vierziger und fünfziger Jahre »ist überwiegend politikfremd und politikfern, so wie ihr nach Meinung der Autorenmehrheit eine geistferne Politik gegenübersteht.«14 Die bereits im Dritten Reich in der Inneren Emigration niedergeschriebene ›verspätete Literatur‹ – etwa von Werner Krauss, Elisabeth Langgässer, Hermann Kasack sowie die Anthologien von Werner Bergengruen, Rudolf Hagelstange, Albrecht Haushofer oder Reinhold Schneider – zeigt eine »Neigung zur metaphysischen oder religiösen Weltdeutung« sowie, in formaler Hinsicht, »eine deutliche Affinität zu den klassischen Traditionen der abendländischen Literatur. […] Sie ist geprägt von der Schreibsituation, den Arbeitsbedingungen und den Lebensformen unter einer Diktatur.«15 Tatsächlich dominierten, auch hinsichtlich der Werkvielfalt und der Auflagehöhe, in der Nachkriegsdiskussion gerade jene Autoren, die an ästhetische Traditionen der Zeit vor 1933 anknüpften, um dem raschen Wandel der Zeit die Dauerhaftigkeit einer vermeintlich überzeitlichen Dichtung entgegenzuhalten: Hans Carossa, Georg Britting, Stefan Andres, Ernst Penzoldt, Josef Weinheber, Werner Bergengruen, Ernst Wiechert, Reinhold Schneider und andere.16
Alfred Andersch erkennt hellsichtig die fatale Tendenz dieses allgegenwärtigen »Mixtum compositum aus Innerlichkeit und Religiosität, Geistesaristokratie und Naturinnigkeit, das, fern der kruden Alltagsrealität, dieser den Prozeß macht, um 13 14 15 16
Scherpe: Einleitung, S. VII. Hans Gerd Winter: Das ›Ende der Literatur‹ und die Ansätze zu operativer Literatur, in: Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967, S. 299–317, hier S. 299. Brenner: Nachkriegsliteratur, S. 37. Ralf Schnell: Traditionalistische Konzepte, in: Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967, S. 214–229, hier S. 215.
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die eigene Rückzugsposition zu verklären«,17 und fordert früh eine Dispensation der Literatur von einem derartigen Übermaß an Werten, Verantwortung und Deutungsmustern: »Nun, ein temporärer Nihilismus wäre nicht das Schlechteste; die permanente Langweiligkeit unserer ›werthaltigen‹ Literatur könnte ein solches reinigendes Gewitter schon gebrauchen.«18 Dessen ungeachtet konnte die »Weltund Daseinsgefährdung in der Moderne nicht umgangen, nicht verdrängt, nicht geleugnet«,19 am Holocaust nicht vorbei geschrieben werden: Aufarbeitung oder – wie es bezeichnenderweise heißt – ›Bewältigung‹ der unmittelbaren Nazi-Vergangenheit und Neuorientierung für eine zukünftige Geschichte mußte ein zentrales Thema der Nachkriegsliteratur sein. Faschismus und Stalinismus, dazu die ungeheuerlichen Ereignisse von Hiroshima und Nagasaki, in denen die Menschen ihre Avanciertheit zu »Herren der Apokalypse« offenbart hatten – angesichts der katastrophalen Dimensionierung war das alles pragmatisch nicht zu erledigen.20
Die direkte Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, die »politischmoralische, geistig-kulturelle und literarische Revolutionierung der deutschen Verhältnisse, von Publizisten, Wissenschaftlern und Literaten in den ersten beiden Nachkriegsjahren proklamiert, bleibt unscharfer und illusionsbesetzter Entwurf einer intellektuellen Elite«21 und wird »zunächst weniger in der Literatur gesucht als vielmehr in essayistischen, philosophischen und geschichtswissenschaftlichen Arbeiten«,22 namentlich von Franz Neumann, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Adorno artikuliert 1950 in seinem – mit einem Fragezeichen versehenen – Essay über die ›Auferstehung der Kultur in Deutschland?‹23 seine Enttäuschung angesichts des Ausbleibens einer experimentellen, kulturrevolutionären Literatur in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Übermacht des Unbewältigten und die Erwartungshaltung, die einherging mit der schier unlösbaren Aufgabe, die Stimme erheben zu müssen für Werte wie Humanität, Freiheit und Demokratie, führte das gros der deutschen Nachkriegsliteratur zunächst – und geradezu zwangsläufig – in einen Zustand lähmender Erstarrung. So erhält Scherpe zufolge »die zeitgenössische Rede vom
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Ebd., S. 223f. Andersch: Die Literatur im Vorraum der Freiheit, S. 510. Petersen: Der deutsche Roman der Moderne, S. 407. Wilhelm Heinrich Pott: Die Philosophien der Nachkriegsliteratur, in: Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967, S. 263–278, hier S. 263. Das Zitat im Zitat stammt aus Günther Anders ›Die Antiquiertheit des Menschen‹. Fischer: Die Zeit von 1945 bis 1967 als Phase der Literatur- und Gesellschaftsentwicklung, S. 33. Brenner: Nachkriegsliteratur, S. 38. Theodor W. Adorno: Auferstehung der Kultur in Deutschland?, in: Frankfurter Hefte 5 (1950), S. 469–477.
›Vakuum‹ und ›Wartesaal‹ durchaus ihren historischen Sinn für die Zeit zwischen Kapitulation und Währungsreform.«24 Keiner hat vermutlich seiner persönlichen und der gesamtgesellschaftlichen Erschütterung angesichts dieser Stagnation so emphatisch Ausdruck verliehen wie Hans Werner Richter, dessen Aufsatz ›Warum schweigt die junge Generation?‹ 1946 im zweiten Jahrgang des ›Ruf‹ erschien: Der Krieg stelle eine unüberbrückbare Zäsur dar, die die menschliche Existenz zutiefst bedroht und »in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts alle geistigen Bindungen des Abendlandes erneut in Fluß zu bringen scheint.«25 Die junge Generation schweige, so Richter, aus dem sicheren Gefühl heraus, daß die Diskrepanz zwischen der bedrohten menschlichen Existenz und der geruhsamen Problematik jener älteren Generation, die aus ihrem olympischen Schweigen nach zwölf Jahren heraustrat, zu groß ist, um überbrückbar zu sein. […] Der moralische, geistige und sittliche Trümmerhaufen, den ihr eine wahrhaft »verlorene« Generation zurückgelassen hat, wächst ins Unermeßliche und erscheint größer als jener real sichtbare. Vor dem rauchgeschwärzten Bild dieser abendländischen Ruinenlandschaft, in der der Mensch taumelnd und gelöst aus allen überkommenen Bindungen irrt, verblassen alle Wertmaßstäbe der Vergangenheit. Jede Anknüpfungsmöglichkeit nach hinten, jeder Versuch, dort wieder zu beginnen, wo 1933 eine ältere Generation ihre kontinuierliche Entwicklungslaufbahn verließ, um vor einem irrationalen Abenteuer zu kapitulieren, wirkt angesichts dieses Bildes wie eine Paradoxie.26
Die Aufbruchsparolen häufen sich in den Jahren nach Kriegsende27 und gehen, wie sich in der manifestartigen Emphase von Richters Aufsatz zeigt, oft einher mit einer radikalen Absage an Tradition und Kontinuität bzw. der Kon-
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Klaus R. Scherpe: Die Moderne sollte vermieden werden. Westdeutsche Literaturwissenschaft 1945–1950, in: ders.: Die rekonstruierte Moderne, S. 1–22, hier S. 2. Hans Werner Richter: Warum schweigt die junge Generation, in: Der Ruf 2 (2. September 1946); ND in: Der Ruf. Unabhängige Blätter für die junge Generation. Eine Auswahl, Vorwort von Hans Werner Richter, hg. u. m. einer Einleitung v. Hans A. Neunzig, München 1976, S. 60–64, hier S. 61. Ebd., S. 63. Stephan Hermlin entgegnet auf die – in seinen Augen durchaus berechtigte – »Klage, die junge Dichtung sei unfähig, die erlebte Epoche auch nur annähernd zu bewältigen«: »Außerordentliche Möglichkeiten liegen vor uns. Wir müssen Geduld haben. […] Es ist an der Zeit, gehen zu lernen.« (Stephan Hermlin: Wo bleibt die junge Dichtung? Rede auf dem I. Deutschen Schriftstellerkongreß 1947, in: Die deutsche Literatur 1945–1960, S. 316–321, hier S. 316–318 [zuerst in: Aufbau (1947) H. 11].) Elisabeth Langgässer mahnt 1947: »Nun gilt es ja, bescheiden zu werden, wachsam, demütig und einfach – ja, allererst einfach. Ich meine damit jene Einfachheit, die ohne Tiefe nichts wert ist – und eine Tiefe, die nicht Gefühlsschwämme, Trieb und Gedankenarmut in sich schließt, sondern höchste, unerbittliche Klarheit, Redlichkeit und Moralität. Fangen wir an!« (Elisabeth Langgässer: Schriftsteller unter der Hitler-Diktatur, in: Die deutsche Literatur 1945–1960, S. 258–264, hier S. 264 [zuerst in: Ost und West (1947), H. 4, S. 36–41].)
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statierung der Unmöglichkeit, an das Projekt anzuschließen, das 1933 aufgegeben werden musste: Die Verachtung aller überkommenen formalen Gesetze ist jedenfalls groß. Man spürt, daß die alten Formen den geistigen Inhalt der neuen Zeit nicht tragen können. Wenn es dieser jungen Literatur gelingt, sich formal überzeugend zu prägen, wird ihr die Zukunft gehören, unbeschadet des breiten Stroms der Kalligraphie, der noch immer den Vordergrund beherrscht.28
Andersch beruft sich hier auf Gustav René Hockes und Horst Langes Kritik an ›Kalligraphie‹, mithin an Weltflucht und Esoterik.29 Hocke fordert 1947 eine »Klarheit der Form und Unmittelbarkeit der Aussage«30 und sieht »geistige Freiheit« in einer reinen »Übereinstimmung von Aussage und Wirklichkeit«.31 Zwar tendieren einige Nachkriegsschriftsteller – Theodor Plievier, Walter Kolbenhoff, Wolfgang Borchert, Wolfgang Weyrauch und Günter Eich – Andersch zufolge »instinktiv zum reinen Realismus« hin,32 »der Anspruch von Vertretern der ›jungen Generation‹, mit ihrer Schreibweise des nüchternen Benennens, der illusionslosen Bestandaufnahme dem Gebot der historischen Stunde nachzukommen,« findet sich jedoch »in einem bemerkenswerten Widerspruch sowohl zur verschwindend kleinen Zahl entsprechender Texte als auch zur oft metaphorisch aufgeladenen, begrifflich diffusen und keineswegs ›gereinigten‹ Sprache.«33 Johannes Bechers Verdikt aus dem Jahre 1945 – »unser Volk ist noch nicht zum Bewußtsein der Größe seiner Niederlage gekommen. Wir haben uns noch nicht zum klaren Bewußtsein unserer Mitverantwortlichkeit, der Größe unserer Schuld durchgerungen«34 – findet sein Echo noch 1952 in Bölls ebenso trotzigem wie verspäteten ›Bekenntnis zur Trümmerliteratur‹.35 Nicht bedeutend aussichtsreicher, wenngleich unter anderen Prämissen stellte sich die Situation in der sowjetischen Zone bzw. in der jungen DDR dar, die
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Andersch: Die Literatur im Vorraum der Freiheit, S. 507. Esselborn: Neubeginn als Programm, S. 234. Gustav René Hocke: Deutsche Kalligraphie oder Glanz und Elend der modernen Literatur, in: Die deutsche Literatur 1945–1960, S. 201–206, hier S. 201 [zuerst in: Der Ruf 1 (15.11.1947), Nr. 7, S. 9–10]. Ebd., S. 206. Andersch: Die Literatur im Vorraum der Freiheit, S. 507. Fischer: Die Zeit von 1945 bis 1967 als Phase der Literatur- und Gesellschaftsentwicklung, S. 31. Johannes R. Becher: Deutsches Bekenntnis [1945], in: Die deutsche Literatur 1945– 1960, S. 49–55, hier S. 49 [zuerst in: Aufbau (1945) H. 9; ders.: Gesammelte Werke, Bd. 16: Publizistik 2. 1939–1945, Berlin/Weimar 1978, S. 475–480, 490–492]. Auch Bölls erste Nachkriegsromane bewegten sich mit ihrer streckenweise überzogenen Symbolik, ihrem ›Milieurealismus‹ durchaus noch im Rahmen der traditionellen Romanliteratur und wiesen »kein progressives Schreibkonzept« auf (Esselborn: Neubeginn als Programm, S. 243).
doch – nicht nur von einigen der zurückkehrenden Exilanten – als Gegenentwurf zu Restauration und Wiederaufrüstung im Adenauerdeutschland empfunden wurde. Scheinbar erlaubte der »kleinste gemeinsame Nenner des Humanismus und Antifaschismus […] ein sehr weites Literaturkonzept, das vielen Strömungen Platz [bot]. Tatsächlich stellt[e] sich die Kulturpolitik der ersten Jahre in der SBZ liberaler dar als die re-education-Politik in den Westzonen.«36 Hier wurde schon in den ersten Nachkriegsjahren ein Sonderweg eingeschlagen. Die Etablierung kultureller Institutionen war nicht den Besatzungsmächten unterstellt, sondern in deutscher Hand – so der ›Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands‹, der 1947 unter der Federführung Johannes R. Bechers ins Leben gerufen wurde, und der 1945 gegründete Aufbau-Verlag mitsamt der gleichnamigen Zeitschrift, die von Stund an zu den führenden Institutionen des Kulturbetriebs in der SBZ wurden. Und in der Tat leisteten Theodor Plieviers Roman ›Stalingrad‹ (1945) und Anna Seghers ›Die Toten bleiben jung‹ (1949), »was in diesen Jahren im Westen nicht unternommen wurde: die literarische Vergegenwärtigung und Aufarbeitung der katastrophalen jüngsten deutschen Vergangenheit.«37 In der Prosa der SBZ zeichneten sich in den Nachkriegsjahren zwei dominante Tendenzen ab: zum einen die Bewahrung des kulturellen Erbes der Weimarer Klassik und der unangefochtenen ›Höhenkammliteratur‹, zum anderen die Fortschreibung der proletarisch-revolutionären Literatur der Weimarer Republik (so bei Willi Bredel, Adam Scharrer, Hans Fallada, Johannes R. Becher und Stephan Hermlin), die für die Kunstkonzeption des sozialistischen Realismus wegweisend wurde. 6.1.2 Im Vorraum der Freiheit Ein Befreiungsschlag – Der Rückgriff auf Joyce Zu Beginn der fünfziger Jahre war unübersehbar, dass Ost und West divergente Wege gesucht hatten. Während im Westen die junge Generation unter dem »maßgeblichen Einfluß der ›Gruppe 47‹ eine Literatur [entwickelt], die sich zusehends deutlicher entpolitisiert und experimentelle Züge zeigt«, vollzieht sich im Osten »eine gegenläufige Entwicklung unter dem fast zwanzig Jahre währenden Diktat des ›sozialistischen Realismus‹.«38 Mit der Republiksgründung erbt die DDR von der Besatzungsmacht die literaturtheoretische Leitlinie, die in der Sowjetunion bereits 1934 auf dem 1. Allunionskongress der Sowjetschriftsteller
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Brenner: Nachkriegsliteratur, S. 51. Ebd., S. 54. Ebd., S. 57.
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zur offiziellen Kunst- und Literaturdoktrin erhoben wurde.39 Uwe Johnson formulierte die Konsequenz des ›Sozialistischen Realismus‹ für den DDR-Schriftsteller daher polemisch als normative Poetik der Realitätsferne: »Du sollst als Schriftsteller die Welt nicht beschreiben, wie sie ist, sondern Du sollst die Welt zeigen, wie sie einmal sein wird, und dazu sollst Du Leute zeigen, die es heute noch gar nicht gibt […].«40 Während sich die Westliteratur von der Lenkung durch die re-education-Politik der Besatzungsmächte emanzipierte, wurde die Literatur der DDR unter den Direktiven der Partei zur ›Planungsliteratur‹ (Robert Darnton) par excellence. D.h., daß ausnahmslos alle Etappen im Leben eines Literaturwerks gelenkt und kontrolliert wurden (oder doch werden sollten): Entstehung, Drucklegung und Veröffentlichung, Vertrieb, Literaturkritik, endlich Lektüre und also Wirkung. Für diesen Zweck wurde eine lückenlose Kette von Institutionen geschaffen, deren Kernstück zweifellos das sog. ›Druckgenehmigungsverfahren‹ war.41
Schwerer noch als die Subsumierung der Literatur unter das Primat der Parteipolitik wog die Abschirmung der Autoren gegen die Weltliteratur der Gegenwart und die internationale Avantgarde der Vorkriegszeit. Die Formalismusdebatte zu Beginn der fünfziger Jahre belegte alle avantgardistischen Tendenzen mit den (als Stigmata aufgefassten) Parolen von »Modernismus«, »Formalismus« und »Dekadenz« und legte damit den Grundstein für eine Unterdrückung formal avancierter und experimenteller Literatur, die in Lukács ihren Cheftheoretiker fand, für die folgenden Jahrzehnte stilbindend und selbst in der sog. Tauwetterperiode nach dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 nur temporär abgeschwächt wurde: Die Kritik richtete sich vor allem gegen die sogenannte Avantgarde in Literatur, Kunst und Musik, die Vertreter des Expressionismus, Dadaismus, Futurismus, Kubismus, Konstruktivismus, gegen die abstrakte Kunst ganz allgemein, den Bauhaus-Stil und die Zwölf-Ton-Musik. Sie stand in ihrer Radikalität und Rigorosität der Kritik der Nationalsozialisten an der sogenannten entarteten Kunst in nichts nach.42
Noch im Jahr 1968 zieht Sigfrid Hoefort in seinem – bezeichnenderweise recht kurzen – Aufsatz über ›James Joyce in East Germany‹ eine resignative Bilanz: It is an undeniable fact that James Joyce has exercised a pervasive influence on the development of modern German prose. His novel Ulysses, particularly the systema-
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Vgl. Horst Domdey: Theorien – Ideologien – Programme: DDR, in: Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995, S. 201–214. Durzak: »Dieser langsame Weg zu einer größeren Genauigkeit«, S. 435. Wolfgang Emmerich: Literarische Öffentlichkeit und Zensur in der DDR, in: Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995, S. 113–140, hier S. 122. Günter Rüther: Vom Stalinismus zum ›Bitterfelder Weg‹, in: Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995, S. 215–234, hier S. 218.
tic use of the stream-of-consciousness technique in this work, became for many German writers a model worth imitating. But, whereas in the Western part of Germany Joyce was proclaimed as one of the major forces that was shaping modern literature, in the East he was largely ignored and even rejected. His manner of writing and his concept of man did not fit into the frame of Socialist realism, the officially accepted literary doctrine. […] The rejection of Joyce and Kafka is still upheld, and there are no signs that the Party’s standpoint on this matter will change in the near future. Except for a translation of an article about Joyce by D. Urnow, which appeared in October 1965 in Kunst und Literatur, nothing important has appeared since that date about Joyce in East Germany.43
Man muss Hoefort jedoch entgegenhalten, dass er nur die allgemeine kulturpolitische Tendenz berücksichtigt, nicht hingegen die individuellen Auseinandersetzungen junger DDR-Schriftsteller mit Joyce, die sich nun gerade nicht »linientreu«, sondern allen Hemmnissen trotzend vollzogen – wofür Uwe Johnson (dessen Name von Hoefort an keiner Stelle erwähnt wird) doch ein eindrucksvolles Beispiel darstellt.44 Mitten ins Mark traf 1956 Hans Mayers im ›Sonntag‹ publizierte Fundamentalkritik und sein ebenso emphatisches wie provokantes Plädoyer für eine moderne und die Moderne aufnehmende DDR-Literatur: Will man immer noch nicht zur Kenntnis nehmen, daß sich seit Georg Trakl und Georg Heym, also seit dem Vorabend des Ersten Weltkriegs, in den modernen Vorstellungen vom Gedicht einiges geändert hat? Will man immer noch so tun, als habe Franz Kafka nie gelebt, als sei der ›Ulysses‹ von James Joyce nie geschrieben worden […]?
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Sigfrid Hoefort: James Joyce in East Germany, in: James Joyce Quarterly 5 (1968), S. 132–136, hier S. 132 und 136. Der von Hoefort erwähnte Aufsatz erschien unter dem Titel ›James Joyce. Schriftsteller und ›Prophet‹‹ in: Kunst und Literatur XIII (1965), Nr. 10. Differenziert zeichnet Wolfgang Wicht die markantesten Tendenzen und Verschiebungen in der Wertung Joyce durch die offizielle DDR-Literaturtheorie von den Dreißiger Jahren bis zur Wiedervereinigung nach: »The undermining of the dominance of Lukács and the Party doctrinaires becomes obvious by the end of the seventies. […] By the eighties the Party’s stance was softening. […] Around 1980, cultural authoritarianism had lost its impact.« (The Disintegration of Stalinist Cultural Dogmatism, S. 78–80.) Die graduelle Anerkennung und Würdigung Joyce in Literaturkritik, -theorie und Forschung, die mit einer Veröffentlichung seiner Werke im Verlag ›Volk und Welt‹ in den Jahren 1977 bis 1982 einherging, vollzog sich jedoch mit erheblicher Verspätung – mithin zu einer Zeit, als Hoeforts Artikel bereits seit einem Jahrzehnt vorlag und Johnson der DDR bereits seit beinahe zwei Jahrzehnten den Rücken gekehrt hatte. Erst 1980 bis 1982, so Wicht, »Joycean relations changed. In essence, the reception of Joyce in East Germany went through a paradigm shift: Joyce, who had been dismissed as an agent of modernist decadence, became a driving force that helped to subvert the terrorism of realism and to establish a liberal discussion of modernism as well as a general, increasingly undogmatic, theoretical debate. By 1982, a new canon of modernist writing, exemplified by Joyce, Woolf, Eliot, Yeats, Proust, Dos Passos, Faulkner, Kafka and others, challenged the realist canon« (ebd., S. 88).
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Wohlgemerkt: Es ist keine Rede davon, daß von mir nun eine Kafka-Renaissance oder gar eine Joyce-Imitation für unsere Literatur gefordert würde. Aber moderne Literatur ist nicht möglich ohne Kenntnis der modernen Literatur.45
Bereits in den Jahren 1954/55 hatte ein (weithin als unpolitisch bzw. apolitisch geltender) Westautor seinen Protagonisten »breitbeinig zwischen Ost und West« auf die Zonengrenze gestellt und ihn der DDR einen »guten Rat« geben lassen, der die Anklage Mayers vorwegnimmt und sie hinsichtlich Schärfe und Pointiertheit weit in den Schatten stellt: Rede auf der Zonengrenze : Ich, breitbeinig zwischen Ost und West; Guter Rat an die DDR : ich möchte ihr gern helfen, weil die Leute drüben so rührend ehrlich arbeiten; weil sie tapfer gottlos sind; und gegen den Rüstungsalp Adenauer. Lebensmittelkarten gewiß; aber die gewährleisten oft auch billige Butter : die Meisten bei uns können sich keine kaufen ! (Wenn die Leute in Kastel ›Butter‹ verlangen, legt Merz ihnen stumm Sanella hin; fragt höchstens einmal : ›Overstolz ?‹.) Aber : in einem neuen Staat müßte Alles neu sein ! Auch in den Künsten : statt dessen hängt Ihr bürgerlichste Schinken in Eure Galerieen ; Eure Schriftsteller wissen scheinbar nicht (oder dürfens nicht wissen), daß seit Gustav Freytag einiges in der Dichtung geschehen ist : formal, mein Fürst, formal ! ! ; die Musiker (obwohl durch ihr Ausdrucksmittel doch beneidenswert getarnt) wagen wenig. Mit Eurem albernen Schlagwort vom ›Formalismus‹ diffamiert Ihr jede Pioniertat : anstatt den Tapferen jubelnd zu Euch zu holen, ihn zu fördern : zur größeren Ehre des Marxismus ! Zeigen müßtet Ihr Allen neue Ausdruckskünste, gefährlich=bewegte, tapfer=eckige : daß sich die Großen im Volk schlummernden Einzelnen daran entzünden könnten, und herausarbeiten : jawohl : aus dem Volk heraus! – Was aber tut Ihr?! ; Ihr setzt das Volk mit seiner plumpen Zunge, seinem Dickohr, seinem Guckkastenauge, zum Richter über Kunstwerke : hat doch jeder in der Schule Lesen & Schreiben gelernt, versteht also auch was von Dichtung, gelt ja ? ? : So seht Ihr aus ! ! (Und das mit den Wahlen : ändert Ihr auch besser !). – Dann, nach dem Westen gewandt, : »In einem neuen Staat …..« (usw., genau wie oben : bloß statt DDR eben Bundesdiktatur : wer eine Volksabstimmung über die Wiederaufrüstung derart brutal verhindert, verdient keinen anderen Namen ! Also Ihr : raus mit dem Kruzifix aus der linken, der Maschinenpistole aus der Rechten !) (DSH, S. 105f.)
Die zitierte Gardinenpredigt stammt von keinem Geringern als von Walter Eggers, dem Protagonisten aus Arno Schmidts ›Historischem Roman aus dem Jahre 1954‹, der in Tuchfühlung mit der jüngsten Geschichte beider Teilstaaten (die Niederschrift des Romans war bereits 1955 abgeschlossen) mit klarem Blick und klaren Worten die Defizite von Ost und West erkennt und benennt: Res45
Hans Mayer: Zur Gegenwartslage unserer Literatur, in: ders.: Zur deutschen Literatur der Zeit. Zusammenhänge, Schriftsteller, Bücher, Reinbek b. Hamburg 1967, S. 365– 373, hier S. 371.
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tauration und Wiederaufrüstung auf der einen Seite, Lebensmittelzuteilung und sozialistischer Realismus auf der anderen. Schmidt erweist sich hier keineswegs als weltabgewandter Einsiedler, sondern stellt seine scharfsichtige Analyse der ›programmatischen Rückständigkeit‹ der DDR-Kunst unter Beweis: Ihr Volksregierungen begeht den Fehler aller Fehler : Ihr treibt die Oberen Geister aus ! : und dabei sind sie so ungefährlich ! Deren unverständliche Bücher kauft doch Niemand; deren ›experimentelle‹ Bilder besieht Keiner; deren ›Neue Musik‹ ist dem Volke ja Ohrengraus. (Und im Ausland würde eine, wenn auch noch so schwache, Förderung Euch solchen neidischen Kredit bringen !). Aber : wenn Ihr der geistigen Avantgarde (die ja grundsätzlich, weltfremd und ärmlich=fanatisch, unter 200 Mark im Monat verdient !) deshalb die ›Intelligenzkarte‹ versagt : dann wundert Euch nicht über Eure unleugbare kulturelle Wüste ! Denn in künstlerischer Hinsicht ist im Osten tatsächlich noch weniger ›los‹, als im doch auch lächerlich dürftigen Westen. (DSH, S. 89)
Gewiss unterschätzt Schmidt – im Gegensatz zu den DDR-Kulturfunktionären – das revolutionäre Potential avantgardistischer Kunst, indem er deren Vertreter als »ungefährlich« klassifiziert; gewiss mutet die Pose Walter Eggers überheblich und pauschalisierend an – seine Diagnose hingegen ist weithin zutreffend. In der Literaturgeschichtsschreibung herrscht weitgehend Konsens darüber, dass gerade Arno Schmidt eine Ausnahmeerscheinung in der »kulturellen Wüste« darstellte.46 In der Gestalt von Arno Schmidt bricht das »reinigende nihilistische Gewitter« über den deutschen Literaturbetrieb herein, das Alfred Andersch 1948 so nachdrücklich gefordert hatte.47 Derartige Literatur mit gesellschaftskritischem Gehalt in avancierter Form war ja Mangelware in den Nachkriegsjahren, wie Scherpe mit deutlichen Worten beschreibt: Die unmittelbare Nachkriegszeit hätte die historischen Erkenntnismöglichkeiten einer experimentellen Literatur – einer Mangelware im Vergleich zur Hochkonjunktur der Sinnstiftungs- und die wunde Seele heilenden Illusionsliteratur – bitter nötig gehabt. […] Wie hätte eine andere Literatur denn aussehen können? Was vermißt eine kritisch gewordene Literaturwissenschaft im Rückblick: Gewiß doch dies: eine Literatur, die das im gesellschaftlichen Prozeß der Modernisierung, insbesondere im Faschismus und Krieg Verlorene, Entzogene und Verdrängte zum Thema macht: die historische Erfahrung der sozialen und persönlichen Lebenszusammenhänge, die Reflexion sub-
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Peter Brenner urteilt: »Ein wirklich radikaler Neuansatz findet sich kaum einmal. Eine der wenigen Ausnahmen stellt Arno (Otto) Schmidt (1914–1979) dar, der auf eigene und verquere Weise den Anschluss an die Literatur der Moderne, insbesondere des Expressionismus, sucht.« (Brenner: Nachkriegsliteratur, S. 46.) Bei Ralf Schnell heißt es ganz ähnlich: »Vielleicht gelang es nur einem einzigen Erzähler der frühen Nachkriegszeit, den Schock des Kriegserlebnisses ästhetisch produktiv zu machen, mithin eine neue Form literarischer Wirklichkeitsverarbeitung zu begründen: Arno Schmidt.« (Ralf Schnell: Die Literatur in der Bundesrepublik. Autoren, Geschichte, Literaturbetrieb, Stuttgart 1986, S. 90.) Andersch: Die Literatur im Vorraum der Freiheit, S. 510.
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jektiver Geltungsansprüche unter dem unwiderruflichen Vorzeichen des Identitätsverlusts.48
Das Bedürfnis nach einer »andere[n]«, einer modernen Nachkriegsliteratur bedienen nun drei der vier in dieser Arbeit behandelten Autoren, nämlich Koeppen, Schmidt und Johnson, in besonderem Maße – und zwar noch vor dem ›Romanjahr‹ 1959, das den Stellenwert eines Schlüsseldatums in der Literaturgeschichtsschreibung erlangt hat. »Was sind das«, fragt Scheffel zu Beginn seines Aufsatzes über Koeppen, Schmidt und Johnson, »für literarische Zeitbilder, die auf eine so spektakuläre Weise zum Politikum wurden, und wieso haben sie die Zeitgenossen derart provoziert?«49 Arno Schmidts ›Leviathan‹ erscheint bereits 1946, 1951 folgen ›Brand’s Haide‹ und Koeppens ›Tauben im Gras‹, in den Jahren 1952 und 1953 veröffentlicht Schmidt in rascher Folge die Erzählungen ›Die Umsiedler‹, ›Aus dem Leben eines Fauns‹ und ›Seelandschaft mit Pocahontas‹. Während Johnson seine ›Ingrid Babendererde‹ »zu Tode schreibt«, veröffentlicht Schmidt ›Das Steinerne Herz‹ (1954/55). Die ›Mutmassungen über Jakob‹ (1959) sind folglich schon der Schlusspunkt einer frühen Phase ›moderner Nachkriegsprosa‹, wenngleich sie – durch das zeitgleiche Erscheinen mit Grass ›Blechtrommel‹ und Bölls ›Billard um halbzehn‹ – als ›Startschuss‹ erscheinen, mit dem endlich eine kritische Hinwendung zur Geschichte, zur Vergangenheit und zur bundesrepublikanischen Gegenwart eingeleitet und zugleich auch der Anschluß an die Weltliteratur gefunden wurde – und dies vor allem mit den Mitteln der internationalen klassischen Moderne. Erstmals unternahmen nun deutsche Autoren der ›Jungen Generation‹ nach einer längeren Phase der Sprachlosigkeit den Versuch einer ›Aufarbeitung‹ der nationalsozialistischen Vergangenheit.50
Jene Mittel der internationalen klassischen Moderne haben sich jedoch offenkundig schon früher als Katalysator erwiesen; was Koeppen, Schmidt und Johnson gleichermaßen eint, ist der Umstand, dass sie alle zuvor die Literatur der Avantgarde der zwanziger Jahre rezipiert haben und ihr in hohem Maße verpflichtet sind. Koeppen hatte Joyce ›Ulysses‹ noch vor dem Krieg (1927), Schmidt vermutlich noch während der Kriegsjahre gelesen, Johnson kannte den Roman spätestens 1956. Alle drei werden von der Forschung einstimmig gelobt, in ihrer formal avancierten wie zeitkritischen Darstellung der Epoche und hinsichtlich der 48
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Klaus R. Scherpe: Die Realität eines nicht-realistischen Romans. Wolfgang Koeppens Imaginationen des Nachkriegsalltags in »Tauben im Gras«, in: ders.: Die rekonstruierte Moderne, S. 159–188, hier S. 160. Michael Scheffel: »Ausländer des Gefühls« – Das geteilte Deutschland im Spiegel der Literatur. Ein Rückblick auf drei Romane von Wolfgang Koeppen, Arno Schmidt und Uwe Johnson, in: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 31 (1998), S. 3–20, hier S. 6. Müller: William Faulkner und die Deutsche Nachkriegsliteratur, S. 22.
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Irritation und Provokation ihrer Zeitgenossen etwas Spektakuläres wie Singuläres unternommen zu haben. Scherpe leitet mit seinen oben zitierten Anmerkungen einen Aufsatz über Wolfgang Koeppen ein, der mit den Worten schließt: »Koeppens Schreibexperiment setzt damit den avantgardistischen Impuls der Literatur der Moderne fort.«51 Ludwig Fischer erkennt das Unzeitgemäße in Koeppens »aggressive[r] Romankunst«, den Schriftsteller »isoliert« in seinem »Bemühen, an die avancierte Romankunst der Zwanziger Jahre (Joyce, Dos Passos, Döblin) anzuschließen, der kalkulierte Rückgriff auf Errungenschaften der ›klassischen Moderne‹ widersetzt sich den zu Beginn der fünfziger Jahre noch proklamierten Konzepten eines voraussetzungslosen Neubeginns der Schreibweisen.«52 Und in seiner Einleitung des Sammelbands zur Tagung über ›Topographien der Moderne. Stettin, Greifswald, Berlin. Alfred Döblin und Wolfgang Koeppen‹, die in Zusammenarbeit mit der Wolfgang-Koeppen-Stiftung vom 26. bis 29. November 2003 an der Universität Greifswald stattfand, resümiert Walter Erhart einen (darin bedauerlicherweise nicht veröffentlichten) Vortrag von Günter Grass: »Neben den wenigen und zum Teil schon in Vergessenheit geratenen Emigranten gab es – so Grass – nur zwei ›Leuchttürme‹ und Orientierungsmarken‹: Arno Schmidt und Wolfgang Koeppen. Dabei hätten vor allem Koeppens berühmte Romane in höchstem Maße ›stilbildend‹ und ›stilbindend‹ gewirkt.«53 Wehdeking sieht in Arno Schmidt einen Vertreter einer Art Nachkriegsavantgarde, denn »Arno Schmidt gehörte zu den wenigen Autoren der frühen Nachkriegszeit, die sich in längeren Erzähltexten um ein aktuelles Epochenbild bemühten.«54 Jan Philipp Reemtsma empfiehlt 1984 anlässlich der Verleihung des Arno Schmidt-Preises an Wolfgang Koeppen neben Koeppens Romantrilogie Schmidts Erzählungen ›Leviathan‹, ›Brand’s Haide‹, ›Die Umsiedler‹ und ›Das steinerne Herz‹ als Ausgangspunkt eines literarischen Zugangs zur Nachkriegsgeschichte Deutschlands: Wer später einmal die Geschichte der BRD zu schreiben unternimmt, er benütze mitnichten die Meßtischblätter der Historiker – auf denen kann er allenfalls exakt Namen und Daten abgreifen – sondern er nehme für, sagen wir 1948 bis Mitte der fünfziger Jahre Arno Schmidts Leviathan, Brand’s Haide, Die Umsiedler, Das steinerne Herz – er nehme für die Sphäre der ›Großhauswelten‹ Wolfgang Koeppens Tauben im Gras, Das Treibhaus […], Der Tod in Rom – auch Anderes, von Anderen, gewiß, auch aus anderen Gründen – aus einem Dutzend Zweispitzsegmente klebt man bekanntlich die komplette Kugelwelt eines Globus – : und dann weiß er Bescheid!55
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Scherpe: Die Realität eines nicht-realistischen Romans, S. 183. Ludwig Fischer: Dominante Muster des Literaturverständnisses, in: Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967, S. 179–213, hier S. 210. Erhart: Koeppen & Döblin, S. 9. Wehdeking: Arno Schmidt und die deutsche Nachkriegsliteratur, S. 277. Jan Philipp Reemtsma: Ansprache über die nichtöffentliche Verleihung des Arno Schmidt Preises, in: Arno Schmidt Preis für Wolfgang Koeppen, Bargfeld 1984, S. 11–14, hier S. 11.
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Michael Scheffel rückt Koeppen, Schmidt und Johnson (›Das Treibhaus‹, ›Das Steinerne Herz‹ und ›Mutmassungen über Jakob‹) in den Fokus seines Aufsatzes über ››Ausländer der Gefühls‹ – Das geteilte Deutschland im Spiegel der Literatur‹ und betont nach sorgfältiger, historisch fundierter und klarsichtiger Analyse, mit welch – von heutiger Warte aus gesehen – erstaunlich schnellem Griff die Schriftsteller Koeppen, Schmidt und Johnson die »Nessel Wirklichkeit« angefaßt und wie hellsichtig und präzise sie die zentralen gesellschaftspolitischen Ereignisse und Themen der mittfünfziger Jahre literarisch aufgearbeitet haben. Ihre Romane ermöglichen es heute, aus west- und ostdeutscher Sicht zu verfolgen, wie auch in den beiden neu entstehenden deutschen Staaten nicht verwirklicht werden konnte, was sich sowohl die Protagonisten der drei vorgestellten Texte als auch deren Autoren nach einer vielbeschworenen »Stunde Null« erhofften: ein Leben jenseits von Gewalt und Krieg; einen aufklärerischen, basisdemokratischen Staat; eine Gemeinschaft solidarisch am Wohl arbeitender Menschen.56
Es drängt sich die Frage auf, warum gerade die intensive Auseinandersetzung der Autoren mit der Avantgarde im Allgemeinen und Joyce ›Ulysses‹ im Besonderen offenkundig einen derartigen Befreiungsschlag darstellte, warum sich gerade die avantgardistischen Erzählverfahren und die experimentelle Sprachverwendung, die man im ›Ulysses‹ vorfand, dazu eigneten, die »Nessel Wirklichkeit« anzufassen und in aller Schärfe ein narratives Zeitbild zu skizzieren. Zwar war Joyce Genius zweifelsohne epochen- und grenzübergreifend – sonst hätte sich die Wirkung des ›Ulysses‹ auch auf nachfolgende Schriftstellergenerationen aller Nationalliteraturen kaum als derart nachhaltig erwiesen –, dennoch ist der ›Ulysses‹ nicht außerhalb des Feldes der internationalen künstlerischen Avantgarde der zwanziger Jahre denkbar. Der Roman speist sich im Sinne von Teilhabe und »Nutzbarmachung« [aus] Dadaismus, Futurismus, Imagismus, Impressionismus, Neuer Sachlichkeit, Surrealismus, Symbolismus und Verismus, besonders aber [aus] Expressionismus und Kubismus, die insgesamt als Epochenkennzeichen nicht auf den Bereich des Literarischen beschränkt sind, [sowie aus] den Nachbarkünsten Architektur, Malerei, Musik und Skulptur.57
Die Leistung des Romans, so hat Hermann Broch in seinem Aufsatz über ›James Joyce und die Gegenwart‹ richtig erkannt, liegt gerade in seiner Verquickung mit dem Epochenkontext, dessen Kondensat Joyce mit technischer Perfektion in seinen Roman eingeschrieben hat: Die epochale Bedeutung Joyceschen »Erzählens«, besteht für Broch darin, dass dieser Roman den »Geist seiner Epoche« mit literarischen Mitteln zum Ausdruck bringt.58 Was den ›Ulysses‹ in
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Scheffel: »Ausländer des Gefühls«, S. 17f. Franke: Die Rezeption des Ulysses im deutschen Sprachbereich, S. 140. Hermann Broch: James Joyce und die Gegenwart, S. 63.
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den Rang eines ›epochemachenden‹ Werkes (und letztlich vielleicht gar eines ›zwei Epochen machenden‹ Werkes) erhebt, sind seine Antworten auf die drängenden poetologischen Fragen seiner deutschen Zeitgenossen: »The interest in German intellectual circles, however, centered upon the possibility of a revolution or a renewal of the form of the novel, and an extension of its subject matter into hitherto untouched areas.«59 Im Grunde ging es den deutschen Romanciers in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts um ein Grundproblem der literarischen Moderne schlechthin, um die Frage nach der Abbildbarkeit einer als zunehmend komplex und feindlich erfahrenen Realität, »nach einer neuen Kunstform des Romans unter dem Aspekt einer gewandelten Wirklichkeitsauffassung.«60 Joyce brachte seinen deutschen Schriftstellerkollegen vor allem »eine Erweiterung des Sehens und Empfindens. Man kann James Joyce bekämpfen: aber man kann ihn nicht widerlegen. Auch Galilei wurde bekämpft.«61 Als die erste deutsche Übersetzung des ›Ulysses‹ 1927 erschien, war »die Zeit […] von einem überreizten Krisenbewusstsein erfüllt. […] Es war eine Zeit der fieberhaften Experimente, des gründlichen Mißbehagens an den alten Formen und einer versteckten Sehnsucht nach einem neuen, verpflichtenden Sinn.«62 Im Deutschland der späten zwanziger Jahre fand der Roman einen günstigen Nährboden für seine bahnbrechenden Prosaexperimente; er traf auf ein intellektuelles Klima, in dem Fragen aufgeworfen worden waren, auf die der ›Ulysses‹ eine Fülle möglicher Antworten präsentierte: Ulysses is not merely an English novel; it has taken its place within that realm of literature which ignores national boundaries. It is one of the great paradoxes of literary creation that a work of art so strictly localized in time and place can speak in so many tongues. In Germany, too, Ulysses struck a chord of sympathy with the age, and no other twentieth-century English novel has meant more to German writers. Yet few tasks are more arduous than showing just how a particular work affected the development of the whole range of its art.63
Die Revolution des Romans, die der ›Ulysses‹ für viele bedeutete, wurde nur deshalb in Deutschland wirksam, weil er für manche (etwa für H. Broch) die Radikalisierung und Überwindung des Naturalismus darstellte und in mutigem und radikalem Vorstoß eine Vielzahl von Problemen in Angriff genom-
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Mitchell: James Joyce and the German Novel 1922–1933, S. 19. Durzak: Herrmann Broch und James Joyce, S. 392. Hans Henny Jahnn: Über den Anlaß [25. Oktober 1952], in: ders.: Werke in Einzelbänden. Hamburger Ausgabe, Schriften zur Kunst, Literatur und Politik. Zweiter Teil: Politik – Kultur – Öffentlichkeit 1946–1959, hg. v. Ulrich Bitz u. Uwe Schweikert, Hamburg 1991, S. 234–266, hier S. 259. Arnim Kesser: James Joyce, in: Neue Schweizer Rundschau (Februar 1941), H. 10, S. 628–635, hier S. 632. Mitchell: James Joyce and the German Novel 1922–1933, S. 175.
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men und Experimente realisiert hatte, die deutsche Romanciers unmittelbar beschäftigten. Tatsächlich werden angesichts des enormen internationalen und intermedialen Austauschs in der künstlerischen Moderne des frühen zwanzigsten Jahrhunderts individuelle Rezeptionsvorgänge verstärkt und überlagert durch »kollektive Einflüsse von seiten der gesamteuropäischen Avantgarde«; tatsächlich lagen »viele Experimente […] schon seit der Jahrhundertwende in der Luft«.64 Das augenfälligste Beispiel dafür ist zweifellos der Innere Monolog. Dieses Verfahren der Bewusstseinsdarstellung war von Édouard Dujardin erstmals in ›Les Lauriers Sont Coupées‹ 1889 erprobt, von Arthur Schnitzler mit ›Leutnant Gustl‹ 1900 in die deutschsprachige Erzählliteratur eingeführt worden. Auch die Entdeckung der Psychoanalyse muss als ein Wegbereiter der »psycho-narration« gelten,65 zumal das Erzählverfahren bei Joyce als gelungene literarische Gestaltung von Bewusstseinsprozessen empfunden wurde. Der Innere Monolog war also gewiss kein absolutes novum in der deutschen Literatur; jedoch hatte Joyce die bis dato holprige und (›Leutnant Gustl‹ und ›Fräulein Else‹ ausgenommen) nur in kurzen Prosaeinheiten erprobte Technik im ›Penelope‹-Kapitel zur Perfektion und in extensiven Dimensionen zur Darstellung zu bringen und ihr damit letztgültig zum Durchbruch zu verhelfen vermocht.66 Ähnliches gilt für die literarische Gestaltung von Simultaneität (etwa in den ›Wandering Rocks‹) oder das filmische Erzählen, das eine logische Konsequenz aus dem Siegeszug des Kinos zu Beginn des Jahrhunderts war – eine mediale Revolution also, die mit veränderten Wahrnehmungsgewohnheiten »zugleich auch eine Veränderung des Schreibens« mit sich brachte: Der Autor mußte sich in der Textverfertigung den von den jeweiligen Medien gestellten spezifischen Anforderungen stellen, er mußte die Wahrnehmungsweisen der Rezipienten beachten. Das Denken in den Vermittlungsstrukturen der technischen beeinflußte umgekehrt auch die literarische Produktion für die ›alten‹ Medien. […] Besonders signifikant ist dieser Einfluß sicherlich in der bewußten Aufnahme filmischer Montageformen in der Literatur der zwanziger Jahre (Dos Passos’ ›Manhattan Transfer‹, James Joyces ›Ulysses‹, Alfred Döblins ›Berlin Alexanderplatz‹) […].67
Auch Alfred Döblin, der für diese Art des Erzählens das Schlagwort »Kinostil« prägte, ging es um die »Erprobung analoger Verfahrensweisen im Bereich lite-
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Duytscheaver: Joyce – Dos Passos – Döblin: Einfluß oder Analogie?, S. 149. Dorrit Cohn: Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction, Princeton, N.J. 1978, S. 21 u.ö. Vgl. ebd., S. 96: »What Joyce did in Ulysses was to employ, for the first time, full-scale inner monologue in a work of epic proportions. In so doing he opened the door to the use of this technique in the novel.« Knut Hickethier: Literatur und Massenmedien, in: Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967, S. 125–141, hier S. 136.
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rarischer Erzähltechnik.«68 Er fand im ›Ulysses‹ die vollkommene literarische Umsetzung des visuellen Erscheinungsbildes der Großstadt und lobte zudem stets die »Wissenschaftlichkeit« des Romans. This feature of Ulysses was to take on a special importance for German writers. Insofar as the novel was scientific and exact it seemed to reflect both the most recent developments of the age, and the particular stylistic tendencies of »neue Sachlichkeit.« Joyce was characterized as the first author (in any language) to follow these tendencies to their logical conclusion.69
Zwar war Döblin zum Zeitpunkt seiner Begegnung mit Joyce als Romancier bereits anerkannt und geachtet, dennoch beförderte diese Begegnung die Radikalität des eigenen Experiments, das Döblin in ›Berlin Alexanderplatz‹ realisierte. Ähnlich verhielt es sich mit Hans Henny Jahnn, dessen Lektüre des ›Ulysses‹ in die Zeit fiel, in der er an ›Perrudja‹ arbeitete. Jahnn begeisterte sich jedoch nicht nur für die Technik des Inneren Monologs, die seinen Überlegungen über die menschliche Psyche entgegenkam,70 vielmehr wurde ihm der ›Ulysses‹ zum Fallbeispiel für seine poetologischen Prämissen von »Formwille[n] und Variantenbedürfnis«.71 Broch wiederum fand in dem Roman des Iren eine vollkommene Umsetzung seines Konzepts des polyhistorischen Romans,72 eine »Gesamtform aller dichterischen Ausdrucksmittel«,73 die imstande ist, das zu leisten, was Broch als das höchste Ziel künstlerischer Arbeit erkennt: »Wie jede Kunst hat auch der Roman eine Welttotalität darzustellen […].«74 Ob Döblins Streben nach Wissenschaftlichkeit, Jahnns Überlegungen zu »Formwille[n] und Variantenbedürfnis« oder
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Žmegač: Der europäische Roman, S. 338. Mitchell: James Joyce and the German Novel 1922–1933, S. 45. Vgl. Mitchell: Hans Henny Jahnn and James Joyce, S. 53: »Jahnn’s own work was a constant struggle to express the complicated and many-levelled reality of the human psyche. He seems to have seen in Ulysses a literary expression of some of his own most personal beliefs about the world.« Hans Henny Jahnn: Der Dichter und die religiöse Lage der Gegenwart, in: ders.: Werke in Einzelbänden. Hamburger Ausgabe, Schriften zur Kunst, Literatur und Politik. Erster Teil: Leib – Baukunst – Musik 1915–1925. Gesellschaft – Kunst – Handwerk 1926–1935, hg. v. Ulrich Bitz u. Uwe Schweikert, Hamburg 1991, S. 755–771, hier S. 755. Dort heißt es weiter, im ›Ulysses‹ werde »das ungeschminkte Schöpfungsprinzip ersehen, errochen, ertastet.« Vgl. Hermann Broch: [79] An Willa Muir (3. August 1931), in: ders.: Kommentierte Werkausgabe, hg. v. Paul Michael Lützeler, Bd. 13/1: Briefe 1 (1945–1951). Dokumente und Kommentare zu Leben und Werk, Frankfurt a.M. 1981 (suhrkamp taschenbuch 710), S. 147–149, hier S. 148. Hermann Broch: [164] An Daniel Brody (13. Juni 1934), in: ders.: Kommentierte Werkausgabe, Bd. 13/1, S. 287f., hier S. 287. Hermann Broch: Entstehungsbericht, in: ders.: Kommentierte Werkausgabe, hg. v. Paul Michael Lützeler, Bd. 5: Die Schuldlosen. Roman in elf Erzählungen, Frankfurt a.M. 1981 (suhrkamp taschenbuch 209), S. 323–328, hier S. 324.
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Brochs prosatheoretische und -praktische Bemühungen um den »polyhistorischen Roman«, den »Intensivroman« oder die Totalität der Weltdarstellung – »[f]or each, Joyce was perhaps primarily a reflection of something they felt very deeply about art. They were united by their common interest in experimentation with narrative prose techniques, and in widening the possibilities of their art.«75 Die Begeisterung für Joyce und seinen ›Ulysses‹ war bzw. blieb jedoch bei den drei großen deutschen Prosaisten nicht uneingeschränkt: Tatsächlich kommt Joyce für Döblin, Jahnn und Broch die Funktion eines Katalysators zu, der die jeweils eigenen poetologischen Prämissen und Intentionen freizusetzen, zu konturieren und zu kanalisieren half. Allerdings hatte er die Maßstäbe gesetzt; und besonders Döblin und Broch, die zum Zeitpunkt ihrer ersten Berührung mit dem ›Ulysses‹ bereits im Literaturbetrieb etabliert waren, legten keinen Wert darauf, als deutsche Epigonen des Iren gehandelt zu werden, und reagierten (nicht unähnlich Arno Schmidt) höchst empfindlich auf das Etikett des »deutschen Joyce«.76
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Mitchell: James Joyce and the German Novel 1922–1933, S. 176. Broch gibt unumwunden zu: »[…] seit ich den Ulysses gelesen habe, stockte ich mit der Arbeit an einem zweiten Roman, den ich bereits angelegt hatte, weil ich eben eine Parallelität der Bestrebungen und einen zu großen Abstand in den Ausführungsmöglichkeiten sehe. […] Vor allem aber muß ich das Phänomen Joyce erst verdauen.« (Hermann Broch: [34] An Frank Thiess (6.4.1930), in: ders.: Kommentierte Werkausgabe, Bd. 13/1, S. 83–86, hier S. 84.) Döblin empört sich: »Was hat man später als Vorbild oder Anregung konstruiert! Ich soll den irischen Joyce imitiert haben. Ich habe nicht nötig, irgend jemanden zu imitieren. Die lebende Sprache, die mich umgibt, ist mir genug, und meine Vergangenheit liefert mir alles erdenkliche Material.« [Zit. n. Duytschaever: Joyce – Dos Passos – Döblin: Einfluß oder Analogie?, S. 142.] Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass sich offenkundig auch ihre Interpreten nicht von einer »Anxiety of Influence« freisprechen können, zeigt sich doch in einigen Aufsätzen eine seltsame Tendenz der Forschung, ›ihren‹ jeweiligen Autor von Einflüssen jeglicher Art ›reinzuwaschen‹ und damit dessen Eigenständigkeit und die Originalität des Werkes zu betonen. Durzak bemüht sich um eine behutsame Relativierung des Einflusses Joyce auf Broch. Er erkennt zwar bei beiden das »Bestreben, die Totalität der Wirklichkeit des zwanzigsten Jahrhunderts im Roman zu gestalten unter Zerschlagung der überlieferten Form des Romans. Die Wege, die beide zur Erreichung dieses Zieles beschreiten, berühren sich manchmal, häufig verlaufen sie in anderer Richtung.« (Durzak: Herrmann Broch und James Joyce, S. 432.) Die ›Schlafwandler‹-Trilogie und besonders ›Der Tod des Vergil‹ seien vielmehr »gegen Joyce geschrieben« worden (ebd., S. 427). Vehementer hingegen wehrt sich Joris Duytschaever gegen die »EinflussLegende« Joyce und Döblin betreffend; ihm zufolge ist Joyce »für Döblin […] bloß ein Katalysator gewesen, der dessen eigene Ausdruckstendenzen kristallisierte, während er auf die beiden anderen [Broch und Jahnn] wohl eine stil- und formbildende Wirkung ausgeübt hat.« (Duytschaever: Joyce – Dos Passos – Döblin: Einfluß oder Analogie?, S. 148.) Er gelangt zu dem »Fazit […], daß es sich bei Döblins Verhältnis zu Joyce und Dos Passos eher um Analogien und Spontanparallelen als um Abhängigkeit und Einfluß handelte. Ein Ergebnis jedenfalls, das hinreichen sollte, um dem
Festzuhalten bleibt für die deutsche Joyce-Rezeption zwischen den Kriegen, dass der ›Ulysses‹ in mancherlei Hinsicht eine Radikalisierung von bereits in statu nascendi angelegten Tendenzen darstellte – sowohl mit Blick auf epochenspezifische Stiltendenzen in der künstlerischen Avantgarde, als auch auf die individuellen prosapraktischen Ansätze Alfred Döblins, Hans Henny Jahnns oder Hermann Brochs: The various literary techniques that Joyce introduced into German with Ulysses – and it is on Ulysses that his German reputation essentially rests – were all present in German in embryonic form before 1927. Arthur Schnitzler, Döblin, Tucholsky, and others, for example, had experimented with various levels of interior monologue and simultaneous narration – but none, and this seems to be the essential factor in Joyce’s impact on German literature, none had the courage to attempt their experiments on anything approaching the formidable scale of Ulysses. Rather than simply illustrating the range of possibility of literary handicraft (which he did brilliantly), Joyce provided the authority that younger writers needed to believe in themselves and their own possibilities. Ulysses gave a whole generation of German novelists the courage to strike out in new directions […].77
Man kann also sagen: Joyce erweist sich in dieser ersten Phase der produktiven ›Ulysses‹-Rezeption als ein Katalysator hinsichtlich formaler Bestrebungen und als Quelle der Ermutigung zum Experiment, aus der Döblin, Broch und Jahnn während der Arbeit an eigenen bahnbrechenden Prosaarbeiten gleichermaßen geschöpft haben, da sie dessen experimentellen Impuls als anschlussfähig erkannten. Ob die Gestaltung der Raum-Zeit-Problematik, die »ständige[n]
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Fortwuchern des platten Einfluß-Klischees entgegenzuwirken« (ebd., S. 149). Dass hier jedoch keineswegs von einem bloßen ›Klischee‹ die Rede sein kann, belegen Mitchells Untersuchungen des Manuskripts von ›Berlin Alexanderplatz‹; das erste Buch und die Hälfte des zweiten seien unter dem Eindruck der Joyce-Lektüre 1927 einer grundlegenden Überabreitung unterzogen worden. Mitchells Fazit lautet: »Döblin, having read Ulysses sometime in the winter of 1927–28, made use of those elements in it which particularly appealed to his own sense of what a novel should be« (Mitchell: James Joyce and the German Novel 1922–1933, S. 143); dies betrifft vor allem den Inneren Monolog, die Montage von Zeitungsschlagzeilen und Werbung. Auch Hans Henny Jahnn, so arbeitet Breon Mitchell heraus, »first wrote the draft of [›Perrudja‹] in a more or less traditional narrative style. This draft he completed in 1927. He then rewrote large portions of the book utilizing inner monologue. […] In the light of the information gleaned from the manuscripts we may assert that such techniques as the use of inner monologue, montage effects of music and poetry, and linguistic experimentation were late additions to the manuscript under the direct influence of Ulysses« (ebd., S. 63 u. 70). Bei Broch schließlich schlägt sich, Mitchells Untersuchungen des Manuskripts zufolge, die Joyce-Rezeption im dritten Teil der ›Schlafwandler‹ nieder, der eine erhebliche Revision und Expansion gegenüber der ursprünglichen Fassung aufweise (vgl. ebd., S. 161). O’Neill: Ireland and Germany, S. 280.
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Wechsel der Darstellungsformen und stilistischen Register«,78 der produktive Austausch mit anderen Künsten, der auch als Versuch erklärbar ist, »die Bergsonsche Utopie des Gesamtkunstwerkes zu realisieren,«79 alle formalen Errungenschaften des ›Ulysses‹ stehen in engem Nexus mit poetologischen Grundproblemen der Zeit. Die Verantwortung der Zeitgenossen, oder: »form follows politics« Die Fragestellungen, die die Romanciers nach 1945 beschäftigten, haben sich freilich verschoben; noch immer ist das Problem einer modernen Mimesis von höchster Brisanz. Die Frage nach der Abbildbarkeit der Welt hat sich unter den Vorzeichen der Vernichtungsmaschinerie des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust dramatisch verschärft. Damit büßt der Literaturbetrieb nach dem Krieg den Status des Experimentierfeldes ein, das avantgardistische freie Spiel mit künstlerischen Formen ist schlechthin nicht mehr möglich. Zwischen den zwei Weltkriegen mochte Joyce rundweg erklären: »Don’t talk politics. I’m not interested in politics. The only thing that interests me is style.«80 – Stellt man die zweite Phase der produktiven Joyce-Rezeption in Relation zur Anverwandlung des ›Ulysses‹ in der ersten Jahrhunderthälfte, so ist nicht zu leugnen, dass die grundlegend veränderte historische Situation, mithin die neuen stofflichen Bedürfnisse sowie der aufklärerische Grundgestus (am augenfälligsten bei Uwe Johnson) Kompromisse zutage förderten, die sich insgesamt als ein formaler bzw. stilistischer Rückschritt gegenüber der Avantgarde darstellen. Andererseits wäre es – dies bedarf keiner näheren Begründung – naiv und schlechthin unmöglich gewesen, ein Experiment zu wiederholen, das in seiner Radikalität hinter die Errungenschaften der literarischen Avantgarde zurückfallen musste. Für Günter Eich ist »die neue Situation des Schriftstellers die eines vorgeschobenen Postens. […] Seine Aufgabe hat sich vom Ästhetischen zum Politischen gewandelt […]. Der Zwang zur Wahrheit, das ist die Situation des Schriftstellers.«81 Unter dem Gebot der Stunde verschob sich der Blick der deutschen Literatur in der Nachkriegszeit zwangsläufig vom Medium zur Mitteilung, von der Form erneut zu einem (wie auch immer fassbaren) Gehalt. Broch wusste sich zwischen zwei Kriegen und antizipierte diese Tendenz bereits 1930, wenn er Joyce, dessen literarische Leistungen er zuvor stets emphatisch gewürdigt hat, mit moralisch-ethischen Maßstäben misst und Literatur wieder mit der Verantwortung des Schriftstellers gegenüber der Gesellschaft rückkoppelt:
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Žmegač: Der europäische Roman, S. 312. Franke: Die Rezeption des Ulysses im deutschen Sprachbereich, S. 140. Joyce zit. n. Ellmann: James Joyce, S. 710. Günter Eich: Der Schriftsteller, in: Die deutsche Literatur 1945–1960, S. 323–325, hier S. 325 [zuerst in: Skorpion, Probenummer 1947, S. 3–4].
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Wenn ich politische Philosophie, oder wenn ich Erkenntnistheorie betreibe, so erfülle ich die mir auferlegten Verantwortungen sowohl mir selber wie meiner Arbeit wie der Welt gegenüber, doch wenn ich Romane schreibe, habe ich das Gefühl der Verantwortungslosigkeit. Und alles kommt auf das Verantwortungsbewußtsein an. Selbst wenn es mir gelänge, die Ausdrucksbreite der Romanform noch um ein Stückchen zu erweitern –, was ist damit schon getan? Das waren noch Probleme eines Joyce, und so sehr ich ihn bewundere, ich weiß, daß dies bestenfalls eine Sache der Literaturgeschichte geworden ist. […] Ganz scharf formuliert: der Roman, c’est de la littérature, ist also Angelegenheit des Literaturerfolges und der Literatureitelkeit, und das hat mit dem Verantwortungsbewußtsein des geistigen Arbeiters – in unserer grauensreichen (grauenhaften und reichen) Zeit! – nichts mehr zu schaffen.82
Brochs Vorwurf, der im Fahrwasser der literarischen Avantgarde seltsam anachronistisch und mit der Verabschiedung »reiner«, experimenteller Kunst zugunsten eines neuen Moralismus in der Tat wie ein Rückschritt »hinter die Maximen der Kantschen Ästhetik«83 anmutet, erhält nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Aktualität. Broch stand, wie Viktor Žmegač ausführt, »mit dieser Ansicht im übrigen nicht allein: Adornos Diktum von der Lyrik im Zeitalter von Auschwitz gehört ebenso hierher wie die Mahnungen in Jean Paul Sartres Essayistik seit den Vierziger Jahren, eine völlig auf sich selbst konzentrierte Kunst erscheine bedeutungslos angesichts des Elends in der Wirklichkeit.«84 Statt auf die bloßen Mechanismen menschlicher Psyche richtet sich nun der Blick vornehmlich auf die inneren menschlichen Triebfedern, die ein Grauen zuvor ungeahnten Ausmaßes hervorgebracht haben; die ›Darstellung von Welttotalität‹ schließt auch immer eine Darstellung des Schreckens, insbesondere der Schreckensherrschaft totalitärer Regime, mit ein. Bei den in den Blick dieser Untersuchung gerückten Autoren ist die mythisch-symbolische Dimension, die in der ersten Phase der Joyce-Rezeption zentral war, weitgehend gelöscht bzw. reduziert auf einige rudimentäre Themen- und Motivkomplexe (Labyrinth, Irr82
83 84
Hermann Broch: [684] An Waldo Frank (12.1.50), in: ders.: Kommentierte Werkausgabe, hg. v. Paul Michael Lützeler, Bd. 13/3: Briefe 3 (1945–1951). Dokumente und Kommentare zu Leben und Werk, Frankfurt a.M. 1981 (suhrkamp taschenbuch 712), S. 411–414, hier S. 412. Andernorts unterstellt Broch Joyce die »Gefahr radikaler Asozialität« (Hermann Broch: [172] An Daniel Brody (19. Oktober 1934), in: ders.: Kommentierte Werkausgabe, Bd. 13/1, S. 298–302, hier S 299), »absolute Esoterik« (Hermann Broch: [100] An Willa Muir (19. März 1932), in: ders.: Kommentierte Werkausgabe, Bd. 13/1, S. 181–184, hier S. 182) sowie eine »merkwürdig ›vergottete‹ Simultaneität des Kunstwerkes [, die] ins Unverständliche führen muß« (Hermann Broch: [230] An Herbert Burgmüller (30. Juli 1936), in: ders.: Kommentierte Werkausgabe, Bd. 13/1, S. 426). Seine Prognose für Joyce Wirkung auf nachfolgende Schriftstellergenerationen ist daher eine düstere: »Joyce wird vor allem den Krampf hinterlassen.« (Hermann Broch: [235] An Egon Vietta (29. Oktober 1936), in: ders.: Kommentierte Werkausgabe, Bd. 13/1, S. 431f., hier S. 432.) Žmegač: Der europäische Roman, S. 358. Ebd., S. 359.
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fahrt/Suche, Shakespeare/Hamlet etc.); an die Stelle von »Überzeitlichkeit« tritt die Gestaltung der Kriegs- und Nachkriegswirklichkeit. Grundsätzlich lässt sich die zweite Phase der Joyce-Rezeption auch nicht bloß in Ansätzen auf »Firmenschilder« wie ›Innerer Monolog‹, ›Montage‹, ›mythologische Vorlage‹ oder ›Kinostil‹ zurückführen; nach 1945 erweist sich der Anschluss an Joyce als komplexer und stärker von den individuellen prosapraktischen Bedürfnissen der Autoren geprägt. Die Bezugnahmen auf Joyce sind höchst verschiedenartig, wie die vorausgegangenen vier Fallstudien erwiesen haben. Koeppen analysiert bedacht die Situation der deutschen Nachkriegsliteratur, indem er sowohl der Zäsur, die die Nazidiktatur darstellte, als auch dem Fortwirken deutscher Traditionen und den internationalen Anregungen Rechnung trägt: Wir lieben es sehr, neu anzufangen. Keine Generation stützt sich auf die vorangegangene. Sie lehnt sie ab. Das ist das Recht der Jugend und muß wohl so sein. Aber ist jede Erfahrung, alles schon Erreichte zu verwerfen? Gewiß, die Weitergabe von Techniken, Erprobtem, von Stoffen, Themen, Stilen, der Handschlag von Handwerker zu Handwerker war nach dem Dritten Reich nicht möglich: da fehlte alles. Soweit sich die jungen Schriftsteller orientieren wollten, blickten sie ins Ausland. […] Und dann entdeckten sie noch Proust und Joyce. Etwas zu spät […]. Das waren Ansprüche.85
Während Adenauerdeutschland zu Beginn der fünfziger Jahre mit einer entschiedenen Westorientierung, -integration und Wiederbewaffnung »den Handlungsspielraum der noch unter dem Besatzungsstatut stehenden Bundesrepublik schrittweise bis zur vollen Souveränität zu erweitern« suchte und 1954 mit der »Einladung zum NATO-Beitritt und dem Beschluß zur ›Beendigung des Besatzungsregimes‹ die letzten Schritte zur endgültigen Westintegration der Bundesrepublik als eines souveränen Staates erfolgten,«86 erhob sich der Literaturbetrieb nur langsam aus der Stagnation. Neben der Rückbesinnung auf deutsche Prosainnovationen der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts begann allmählich wieder der Zustrom ausländischer Literatur, der dankbar angenommen wurde. Mit der (aus den Autoren der ›jungen Generation‹ um die Zeitschrift ›Der Ruf‹ hervorgegangenen) Gruppe 47 prägte sich eine Instanz aus, die einen Diskurs anstieß, der die noch vorhandenen Möglichkeiten von Literatur auslotete, die Richtung vorgab, literarische Erzeugnisse prüfte, bewertete und ihnen ggf. auf dem Markt Starthilfe gab. In ihrem (zumindest oberflächlichen) Anschluss an die programmatische Manifestkultur der Avantgarde zog die Gruppe 47 jedoch auch den Normativitätsvorwurf sicherlich nicht zu Unrecht auf sich. »Am Ausgang der fünfziger Jahre stand der Name der ›Gruppe 47‹ für die poetische Nach-
85 86
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Wolfgang Koeppen: Herrmann Kesten. Im Kampf für ein bürgerliches Vorurteil, in: ders.: GW VI, S. 399–404, hier S. 402. Scheffel: »Ausländer des Gefühls«, hier S. 6f. und S. 10.
kriegsmoderne Westdeutschlands schlechthin«:87 Binnen kurzem etablierte sich die Gruppe als zentrale »Institution für Entdeckung und Auswahl«,88 als »Organ der Entdeckung, Vorsortierung und Legitimierung«.89 Der Genese des ›Ruf‹ Rechnung tragend, unternahmen die Autoren um Andersch und Richter »den Versuch, zunächst in politischer und philosophischer Hinsicht den Anschluß an die westliche Entwicklung zu finden […]. Zunächst [wurde] die amerikanische Literatur der Zwischenkriegszeit […] und die lost generation aufgegriffen.«90 Die im Rahmen der re-education aus dem Ausland importierten Werke etwa von T. S. Eliot, Graham Greene, William Faulkner, Ernest Hemingway, Thomas Wolfe oder Thornton Wilder fielen im Rahmen der literarischen Selbstfindung deutscher Autoren auf fruchtbaren Boden. Alfred Andersch kam dabei eine bedeutende Rolle als Advokat und Importeur der internationalen Moderne zu; so empfiehlt er 1948 in seinem Beitrag ›Die Literatur im Vorraum der Freiheit‹: Der jungen Literatur kann es durchaus nicht schaden, wenn sie sich ihres internationalen Standortes bewußt wird, aus dem Vergleich mit fremden Literaturen Maßstäbe gewinnt und überdies daran ihr eigenes Selbstbewußtsein stärkt. Denn sie wird beim Aneignen ausländischer Einflüsse zu ihrem Nutzen feststellen können, daß die neuen Schriftsteller, etwa Amerikas, Frankreichs, Englands und Italiens, sich auf durchaus ähnlichen Pfaden bewegen, künstlerisch aber dank der freiheitlichen Tradition ihrer Länder eine Form erreicht haben, die verarbeitet werden will, wenn man den Wunsch hat, eine deutsche Literatur zu schaffen, die aus provinzieller Enge heraustritt.91
Zur Rezeption von US-Autoren gesellte sich die der Philosophie des französischen Existenzialismus (Camus und Sartre): »In den ersten Nachkriegsjahren vollzog sich zunächst eine spontane, aus Schreibnot geborene und teilweise hektische Rezeption der internationalen Moderne, von der man durch den Faschismus weitgehend abgeschnitten gewesen war.«92 Wenn Schneider erklärt, »Joyce was by no means the author the German public had been desperately waiting to read,«93 so mag dies zwar angesichts der zeitweiligen Übermacht amerikanischer und französischer Literatur zutreffen, er ignoriert jedoch die Tatsache, dass eine Vielzahl der um 1910 geborenen Autoren bereits in ihrer Jugend die herausragenden Werke der literarischen Moderne 87 88 89 90 91 92
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Kröll: Die konzeptbildende Funktion der Gruppe 47, S. 375. Ebd., S. 374. Ebd., S. 378. Brenner: Nachkriegsliteratur, S. 44. Andersch: Die Literatur im Vorraum der Freiheit, S. 507. Friedhelm Kröll: Anverwandlung der ›Klassischen Moderne‹, in: Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967, hg. v. Ludwig Fischer, München 1986 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart 10), S. 244–262, hier S. 253. Schneider: The Reception of Joyce in a Divided Germany, S. 305.
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rezipiert hatte. Die Publikation des deutschen ›Ulysses‹ fügte sich in das Bild ähnlicher (obwohl weniger revolutionärer) innerdeutscher Ansätze, die bereits von Schnitzler ausgegangen und von Döblin fortgeführt worden waren, so dass sich die Wirkung des ›Ulysses‹ und originär deutscher Prosaexperimente gegenseitig verstärkten, wobei Döblin gerade im Hinblick auf Koeppen, Schmidt und Johnson als Vermittler, wenn nicht gar als Multiplikator Joycescher Prosaverfahren angenommen werden darf. Gerade die »Wissenschaftlichkeit«, die Döblin am ›Ulysses‹ pries, bleibt anschlussfähig und produktiv als entscheidende literarische Qualität, mit der die Nachkriegswirklichkeit überhaupt noch in den Griff zu bekommen war. Koeppen, Schmidt und Johnson sind wie Joyce literarische ›Landvermesser‹, ihr Material sind Katasterkarten, Kalender, Zeitungen, Stadt- und U-Bahnpläne sowie das visuelle und akustische Material ihrer Lebenswirklichkeit. Die Gewissheit, die Joyce mit Koeppen, Schmidt und Johnson eint, besteht darin, dass die Kraft zeittypischen Details, der Alltagsbanalität, für spätere Generationen schärfer und sinnlicher die Physiognomie einer Epoche zu vergegenwärtigen vermag als das Datenmaterial der Historiker. Alle drei deutschen Nachkriegsautoren fassen die »Nessel Wirklichkeit« entschlossen an und greifen dabei auf die formalen Innovationen des ›Ulysses‹ zurück, um die komplexe und fluktuierende Realität Nachkriegsdeutschlands literarisch zu fixieren: ›form follows politics‹. Bei ihnen wird fiktionales Geschehen eingebunden in eine verifizierbare Chronotopologie, gestützt durch präzise Zeit- und Raumkoordinaten sowie einmontierte Realitätsfragmente aller Art. Es ist höchst bezeichnend für den Experimentator Joyce, dass er sich (sieht man von einigen wenigen verstreuten Aussagen in Briefen und Gesprächen ab) nie mit der Ausarbeitung einer Poetik aufgehalten hat. Indes erheben sich in Joyces Werk und zumal in einem Roman wie Ulysses die Strukturprobleme so machtvoll aus dem Kontext, daß sie ein Modell impliziter Poetik repräsentieren, das den inneren Aufbau des Werkes bestimmt. […] Man wird sich darum fragen müssen, ob das ganze Joycesche Opus nicht als die Entwicklung einer Poetik, ja als die dialektische Geschichte verschiedener gegensätzlicher und komplementärer Poetiken aufgefaßt werden kann: und ob hier nicht die Geschichte der zeitgenössischen Poetiken in einem Spiel ständiger Entgegensetzungen und Implizierungen entfaltet wird.94
Sieht man von Arno Schmidt ab, so gaben sich auch Joyce Erben Koeppen, Johnson und Hildesheimer poetik- und theoriefeindlich; ihre Romane hingegen sind das Experimentierfeld, in denen poetologische Probleme immanent ausgelotet werden.
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Eco: Das offene Kunstwerk, S. 296.
Im Gegensatz zu Johnson, der (zumindest erklärtermaßen) an der ›Fabel‹, der ›erzählten Geschichte‹ festhält, vertrauen Koeppen, Schmidt und Hildesheimer nicht mehr auf die Fabel, sondern auf die modernen Erzähltechniken des inneren Monologs, der Assoziation, auf ein simultanes Erzählen, in dem die unbewußte Dynamik des gesellschaftlichen Geschehens erfaßt werden kann. Moderne Literatur in diesem Sinne reproduziert nicht eine ›Wahrheit‹ der Gesellschaftskritik im letztmöglichen Medium der Künste. Stattdessen ist sie darauf aus, mögliche Irritationen der Wahrnehmung, Lücken im Bewußtsein, eine Realität des Unkenntlichen und mit bloßem Auge oder begrifflicher Fixierung gar nicht Greifbaren im kulturellen Kontext zu vergegenwärtigen, auf spezifische Art zu ›kartographieren‹.95
Den ›Ulysses‹ des James Joyce verbindet mit Koeppens ›Tauben im Gras‹, Schmidts Nachkriegsprosa und Hildesheimers Monologen die Tatsache, dass in ihnen – gemessen an den Kriterien des traditionellen historischen Romans – nicht viel geschieht. Die Tragödien im ›Ulysses‹, in ›Tauben im Gras‹, in ›Brand’s Haide‹, in ›Tynset‹ sind private Tragödien, ebenso das Schicksal der Familie Cresspahl, das sich auf der Bühne deutscher Geschichte vollzieht. Ehebruch, Beziehungskrisen, Schlaflosigkeit, der Verlust einer Geliebten oder der eigenen Identität, der rätselhafte Tod eines Individuums treten in den Vordergrund einer gewaltigen Kulisse, während dahinter Weltgeschichte geschrieben wird. Historisch sind die untersuchten Erzählungen und der ›Ulysses‹ von Joyce insofern, als Geschichte nicht als Folge großer historischer Tatsachen, sondern vielmehr im Sinne Döblins verstanden wird: Es steht jetzt so, daß nicht nur wichtig sind und eine Niederschrift verdienen die groben, in die Augen fallenden eigentlich historischen Tatsachen, die Spitzengeschichte, wenn ich so sagen kann, sondern auch die Tiefengeschichte, die der Einzelpersonen und gesellschaftlichen Zustände, die sie umgeben. Im Sinne einer solchen Tiefengeschichte ist jeder einfache gute Roman ein historischer Roman, und er ist unzweifelhaft, wir können es kontrollieren, echt.96
Ausgehend vom menschlichen Bewusstsein wird bei Joyce, Koeppen, Schmidt und Johnson das Bild einer historischen Situation entfaltet, denn durch die Erinnerungen der Figuren verdichtet sich vermittels der Assoziation Zeit; jeder Mensch trägt seine Vergangenheit in sich. Die Figuren der ›Tauben im Gras‹, der Nachkriegserzählungen von Arno Schmidt, Gesine und Heinrich Cresspahl, Jakob Abs wie auch die Reflekteure in Hildesheimers Monologen sind Überlebende des Zweiten Weltkriegs; ihre Erinnerungen fließen ineinander mit intellektuellen Reflexionen über Tagespolitik, Historie und Literatur sowie mit den unmittelbaren sinnlichen Reaktionen auf die äußere Umwelt; Geschichte dringt 95 96
Scherpe: Die Realität eines nicht-realistischen Romans, S. 159f. Alfred Döblin: Der historische Roman und wir [1936], in: ders.: Ausgewählte Werke in Einzelbänden, hg. v. Anthony W. Riley, Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur, hg. v. Erich Kleinschmidt, Olten/Freiburg im Breisgau 1989, S. 291–316, S. 305.
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subjektiv gebrochen durch das menschliche Bewusstsein in die Erzählungen ein. Die Figuren in all ihrer Individualität, selbst der exzentrische Erzähler Arno Schmidts, werden zu Trägern von typischen Schicksalen in einer Zeit, die der Leser durch ihr Bewusstsein wahrnimmt. Er hört ihre Sprache, die populären Songs, sieht die Physiognomie der Epoche bereits in der Textgestalt und folgt den Charakteren durch einen fest umrissenen topographischen Kosmos, der mit Bachtins Konzept des Chronotopos präzise erfasst ist.97 Kaum ein Tag in der irischen Geschichte ist vermutlich so erschöpfend dargestellt wie der 16. Juni 1904 im ›Ulysses‹; in ›Tauben im Gras‹ ergibt das Mosaik der Zeitungsschlagzeilen, Songs, Werbetexte gemeinsam mit den Gedankenwelten der Figuren ein Panorama Deutschlands am 20. Februar 1951, das wiederum über die Erlebnisse einzelner Figuren und weit über München hinausweist; die Nachkriegserzählungen Arno Schmidts sind gleichsam synchrone Querschnitte, die sich wie die Kapitel eines Geschichtsbuches aneinanderfügen lassen, so dass ein lebendiges und informatives Bild der Nachkriegszeit entsteht. Sie erzählen oder dokumentieren nicht, sondern zeigen, indem sie den Erzähler und eine begrenzte Zahl von Figuren über wenige Tage verfolgen, das Schicksal tausender Deutscher, die nach dem Krieg aus der Gefangenschaft zurückkehrten, heimatlos geworden waren und sich in der Restauration auf dem Weg in die Wohlstandgesellschaft einzurichten begannen. Auch für Johnson ist Zeitgeschichte zuvorderst Individualgeschichte, was er auf die Formel bringt: »[I]n der Person ist ihre bisherige Geschichte enthalten […].«98 Mag die erzählerische Vermittlung bei allen vier Autoren radikal subjektiviert, Historie in Einzelschicksale zergliedert sein, sie erhebt doch in allen Fällen den Anspruch auf allgemeine Gültigkeit, denn – so Hildesheimers Überzeugung – »[d]ie Form des langen Gedichtes, des Epos, verpflichtet zu Universalität, und sei es auch die Universalität des Mikrokosmos.«99 Die ›Erbengemeinschaft‹ und das offene Kunstwerk: Schmidt, Koeppen und Johnson Die Knotenpunkte der produktiven ›Ulysses‹-Rezeption in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg lassen sich schlagwortartig sechs Darstellungszielen subsumieren:
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Vgl. Michail Bachtin: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, Frankfurt a.M. 1989, S. 8 u.ö. Martin Meyer/Wolfgang Strehlow: »Das sagt mir auch mein Friseur«. Film- und Fernsehäußerungen von Uwe Johnson, in: Sprache im technischen Zeitalter 99 (1985), S. 170–182, hier S. 175. (IV. Literarisches Colloquium Berlin / Sind Tagebücher zeitgemäß? / Produktion des Literarischen Colloquiums Berlin 1972 / Erstsendung: ZDF, 27.12.1972.) Hildesheimer: Frankfurter Poetik-Vorlesungen, S. 53–110, hier S. 82.
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Regionalismus Subjektivierung Simultaneität Intensität Transgression Exploration.
Eine denkwürdige Kongruenz zwischen Joyce einerseits, Koeppen, Schmidt und Johnson andererseits besteht in ihrer Fixierung auf spezielle Landschaften: Schmidts Lüneburger Heide, Koeppens Bonn (zunächst noch München), Johnsons Mecklenburg und Joyce Dublin – alle vier Autoren sind Vertreter eines bemerkenswerten Regionalismus. Heinrich Böll – ebenfalls ein Regionalist – bezeichnet in einem Interview mit René Winter die »gesamte Weltliteratur« als »provinziell« und führt Dostojewski, Marquez, Joyce und Kafka als Kronzeugen an.100 Hans Mayer hat »höchst merkwürdige, aber fast gesetzmäßige Wechselwirkungen zwischen Regionalliteratur und Weltliteratur« festgestellt.101 Und wenn Günter Grass erklärt, dass sich »gerade in der Provinz all das spiegelt und bricht, was weltweit – mit den verschiedenen Einfärbungen natürlich – sich auch ereignen könnte oder eignet hat«,102 so klingt das wie die Danziger Variation auf Joyce Diktum: »I always write about Dublin, because if I can get to the heart of Dublin I can get to the heart of all cities in the world.«103 Während die Wirklichkeit in den ›Tauben im Gras‹ und den ›Mutmassungen über Jakob‹ mosaikartig aufgesplittert ist, wird sie bei Schmidt und Hildesheimer einer radikalen Subjektivierung unterzogen und an ein zugleich erzählendes und erlebendes Ich rückgebunden, erscheint jedoch auch hier keineswegs ›geschlossen‹, sondern fragmentarisch und lückenhaft. In Arno Schmidts Nachkriegsprosa und Hildesheimers Monologen unterwirft sich die narrative Sukzession monoperspektivisch den Mechanismen der Assoziation (wie etwa im ›Penelope‹-Kapitel), bei Koeppen und Johnson wird der Ausschnitt aus der darzustellenden Realität polyperspektivisch aufgebrochen und polyphon vermittelt – und steht damit der komplexen Stimmenvielfalt näher, die aus dem ›Ulysses‹ dringt, der ja – blickt man über das achtzehnte Kapitel hinaus – neben einer mal mehr, mal weniger dominanten Erzählerstimme eine kaum überschaubare
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Heinrich Böll: Eine deutsche Erinnerung. Interview mit René Winter [Oktober 1976], in: ders.: Werke: Interviews I, hg. v. Bernd Balzer, Köln 1979, S. 504–665, hier S. 609. Hans Mayer: Über die Einheit der deutschen Literatur. Rede zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse, in: Der Tagesspiegel (24. April 1991), S. 19. Günter Grass: Die Ambivalenz der Wahrheit zeigen [Gespräch mit Ekkehart Rudolph, November 1975], in: ders.: Werkausgabe in zehn Bänden, hg. v. Volker Neuhaus, Bd. 10: Gespräche mit Günter Grass, hg. v. Klaus Stallbaum, Darmstadt/Neuwied 1987, S. 180–194, hier S. 180. Joyce zit. n. Ellmann: James Joyce, S. 520.
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Anzahl von Stimmen und ›Bewusstseinen‹ aus sich selbst heraus zu Wort kommen lässt. Zwar ist der Innere Monolog nunmehr Bestandteil des literarischen Handwerkszeugs, ein narrativer Modus unter vielen, doch das war er auch bereits im ›Ulysses‹. Ob uni- oder multiperspektivisch, homo- oder polyphon – alle vier Autoren zielen auf Bewusstseinsunmittelbarkeit, wodurch die Subjektivität des Abbildes zugleich thematisiert und (vor allem bei Johnson und Hildesheimer) auch metafiktional problematisiert wird. Die literarische Gestaltung von Simultaneität, die Joyce vornehmlich in den ›Wandering Rocks‹ experimentell umsetzt, wirkt in den alinearen Erzählverfahren vor allem bei Koeppen und Johnson fort. Die Verschränkung der Episoden in ›Tauben im Gras‹ analog zum zehnten Kapitel des ›Ulysses‹, die komplexen Zeitverhältnisse etwa der ›Mutmassungen‹, die temporale Kontrapunktik der ›Jahrestage‹ und Johnsons Verfahren des allmählichen Vervollständigens stellen höchste Anforderungen an Aufmerksamkeit, Geduld und Kreativität des Lesers. Seine Vertrautheit mit der literarischen Tradition, die auch (im Fall von Arno Schmidt) Werke abseits des tradierten ›Kanons‹ inkorporiert, ist gefragt, wenn er sich als gleichberechtigter Partner auf das intertextuelle Spiel Schmidts, Johnsons oder Hildesheimers einlassen will. Der Begriff ›Spiel‹ mag irreführend sein, da die Verweis- und Anspielungssysteme keinem ›postmodernen‹ Selbstzweck genügen, sondern (so bei Arno Schmidt) als Gegenwelten zur Nachkriegsrealität oder zur Konturierung poetologischer Fragestellungen in die Romane eingezogen sind. Nichtsdestoweniger nimmt die Verweisdichte häufig einen derartig hohen Grad an Komplexität an, dass der ›Durchschnittsleser‹ die Entschlüsselungsarbeit an Dechiffriersyndikate zu delegieren gezwungen oder auf voluminöse Kommentare angewiesen ist. Epochemachend wurde der ›Ulysses‹ aufgrund seiner Reduktion der dargestellten Welt von einer extensiven zugunsten einer intensiven, deren Voraussetzung die Einheit von Raum und Zeit wird. Eine Totalität der Weltdarstellung erwächst paradoxerweise gerade aus dem Ausschnitthaften. Reizvoll erscheint neben der mimetischen Intensität auch die Übernahme eines formalen äußeren Arrangements, das sich schon aufgrund seiner Tektonik jedem Sinn von Geschlossenheit widersetzt; im ›Ulysses‹ (und in den ›Tauben im Gras‹) sind dies die Stunden des Tages, in den ›Jahrestagen‹ die Tage eines Jahres; Hildesheimer erprobt in ›Tynset‹ zu diesem Zweck (wie Joyce in ›Sirens‹) musikalische Strukturen. Bei allen vier Autoren wird die strikte teleologische Fokussierung des traditionellen Romans aufgegeben, sei es, weil das Primat der Assoziation (bei Schmidt und Hildesheimer) zwar eine lineare, jedoch keine finalistische Sukzession verlangt, sei es, weil unterschiedliche Motiv- und Verweissysteme (bei Koeppen, Johnson und wiederum Hildesheimer) dem Roman ein eher räumliches Arrangement geben. Temporalität, die seit Lessings ›Laokoon‹ explizit zum Primat des Romans erhoben wurde, weicht einer eher lyrischen Spatialität. Grundsätzlich scheint auch eine fundamentale Kontinuität vom ›Ulysses‹ zu den deutschen 438
Nachkriegsautoren in ihrer Faszination für Grenzüberschreitungen bzw. Transgressionen zu bestehen – zwischen den Genres wie zwischen den unterschiedlichen Künsten. Das flexible Medium des Romans wird zu diesem Zweck bis zum Äußersten strapaziert, wie es seit jeher in Krisenzeiten des Romans beobachtbar war – die freilich, wie Žmegač pointiert anmerkt, »in der Geschichte des Romans eher ein Dauerphänomen« sind.104 Zugleich werden die Idiosynkrasien und individuellen Präferenzen der vier Autoren offenkundig: Je unterschiedlich gewichtet erscheint bei den vier Autoren die möglichst präzise Wiedergabe der lautlichen bzw. der visuellen Physiognomie ihrer Epoche; allein bei Joyce hält sich beides die Waage, der ›Ulysses‹ ist gleichermaßen ein Klang- wie auch ein (optisches) Zeichenkunstwerk; Joyce Sprachspiele rekurrieren ebenso auf die visuelle wie auf die akustische Dimension des (Sprach-)Materials. Während vor allem Hildesheimer und Johnson ihre Umwelt in besonderem Maße als eine akustische registrierten, ist Arno Schmidts Weltaufnahme (und folgerichtig auch seine Prosa) visuell dominiert. Die Transkription nonverbaler Phänomene erfordert eine Präzisierung der Ausdrucksmittel – was sich aus dem Druckbild des ›Ulysses‹ ebenso leicht ablesen lässt wie aus den Erzählungen Arno Schmidts. Das bedeutet jedoch nicht, dass Arno Schmidt der Klanggestalt der Epoche keine Bedeutung schenkt; die Geräuschkulisse Nachkriegsdeutschlands (Schlager, Werbung, Radio und Fernsehen) wird von ihm ebenso präzise und authentisch transkribiert wie die Stimmen und jeweiligen (sozio- und dialektalen, nationalsprachlichen etc.) Varietäten der Sprecher in Johnsons Prosa, was ebenfalls eine zentrale, wenngleich nicht die einzige Facette der Polyphonie des ›Ulysses‹ darstellt. Das Medium des Films hat freilich seine magische Wirkung auf die Nachkriegsautoren eingebüßt, die es noch zu Zeiten von Joyce innehatte, der vom Kino fasziniert war; der Nachhall dieser Begeisterung ist am deutlichsten noch in Koeppens quasi-filmischen Schnitt- und Blickführungstechniken spürbar; hingegen ist – wie Hickethier klarsichtig herausstellt, [d]ie literarische Produktion im Zeitalter audiovisueller Medien […] nicht allein unter dem Gesichtspunkt wechselseitiger Anregung und Analogiebildungen zu sehen. Schon in den fünfziger und frühen sechziger Jahren sind, gerade was die Schreibweisen betrifft, Abgrenzungen zu beobachten: es werden bewußt Schreibweisen und Darstellungsformen gewählt, die sich nicht adaptieren lassen, die sich gegen eine leichte Verständlichkeit einfacher Handlungsformen sperren. Das erzählerische Werk Uwe Johnsons kann dafür als Beispiel gelten […].105
Die intensive Auseinandersetzung mit Joyce Prosa scheint bei den vier betrachteten Autoren eine Tendenz ausgeprägt zu haben, die im Epochenkontext auf-
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Žmegač: Der europäische Roman, S. 255. Hickethier: Literatur und Massenmedien, S. 136.
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fallend anachronistisch wirkt und für manchen Leser und Kritiker ein Ärgernis darstellte: die Neigung zum Enzyklopädischen. Im deutschen Literaturbetrieb der frühen fünfziger Jahre galt dagegen die Kurzgeschichte als das Genre, das die zeitspezifischen Anforderungen an Literatur geradezu musterhaft erfüllte: ökonomisch hinsichtlich Papierverbrauch, Arbeitsaufwand und Lektüredauer, pointiert in formaler und stofflicher Hinsicht, angelehnt an die amerikanischen Vorbilder der Zwischenkriegszeit (bes. Hemingway, Faulkner, Wolfe) – kurz: ein Genre, das wie kein anderes »der Übermacht des Realen« seinen Tribut zollte. Dem setzen vor allem Uwe Johnson, aber auch Schmidt und Koeppen ein – angesichts dieser Grundsituation überraschendes und scheinbar unzeitgemäßes – Vertrauen in die Monumentalität von Literatur entgegen. Dies ist in letzter Instanz auf das revolutionäre Moment des ›Ulysses‹ zurückzuführen, in dem Eco das »offene Kunstwerk« schlechthin erkennt: »die vollberechtigte Akzeptierung aller sinnlosen Handlungen des Alltagslebens als Material der Erzählung«,106 der Verzicht auf eine Unterscheidung zwischen Wichtigem und Unwichtigem, »auf Auswahl und hierarchische Organisation der Fakten«,107 auf ein Ausblenden von Alltag, Banalitäten und ›Koprophilem‹ und auf Kohärenz – kurz: auf auktoriale Selektivität. Koeppen wie Schmidt, Johnson wie Hildesheimer geht es ebenso wie Joyce »um die Frage der Darstellbarkeit einer Wirklichkeit, die sich der Darstellung immer mehr entzieht.«108 Der Anspruch des epischen Genres auf Totalität weicht einer »fragmentarisch wiederhergestellte[n] literarische[n] Wirklichkeit«109 aus »geschichtlich sich verändernden Konstellationen von Momenten«.110 Die Abbildung von einer vorgefundenen außerliterarischen ›Wahrheit‹ wird aufgegeben zugunsten einer innerliterarischen bzw. werkimmanenten Wahrheitssuche. Viktor Žmegač erkennt die Schlüsselposition des ›Ulysses‹ in einer in dieser extremen Art einmaligen Synthese der beiden Haupttendenzen erzählender bzw. darstellender Prosa im 20. Jahrhundert: der naturalistisch-mimetischen, die erfahrene »Welt« abzubilden versucht, und der spielerisch-autoreferentiellen, in der die Literatur sich selbst zur Schau stellt und kommentiert. In den meisten paradigmatischen Romanen der Epoche sind diese Tendenzen, wie noch zu zeigen sein wird, getrennte Wege gegangen.111
Diese »spielerisch-autorefentielle« Dimension, die sich vor allem im Stilpluralismus des ›Ulysses‹ artikuliert, in den beständigen Neuansätzen, dem experimentellen Ringen um eine Form, die das Erzählte am besten zu fassen vermag, dem 106 107 108 109 110 111
Eco: Das offene Kunstwerk, S. 354 Ebd. Scherpe: Die Realität eines nicht-realistischen Romans, S. 162. Ebd., S. 159. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M. 1970, S. 11. Žmegač: Der europäische Roman, S. 320.
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Offenlegen des Erzählprozesses und seiner Voraussetzungen, wird am augenfälligsten in den ›Jahrestagen‹ vorgeführt; aber auch das eigentliche Thema der ›Mutmassungen über Jakob‹ »ist nicht die Spaltung Deutschlands, und schon damals war es das nicht. Die Frage, die Johnson sich seinerzeit gestellt hat, ist eben die, die auch heute noch das Buch so bedeutsam macht, wie es zu seiner Zeit schon gewesen ist. Es ist die« – und hier zeigt sich die Kontinuität mit der ersten Phase produktiver Joyce-Rezeption und den poetologischen Fragen der Vorkriegsavantgarde – »nach der Wirklichkeit und ihrer Darstellbarkeit.«112 Koeppen, Johnson, Schmidt und Hildesheimer eint mit Joyce nicht zuletzt die Auffassung des modernen Romans als einer »Untersuchung«. Die Suche nach der Wahrheit, die Johnson selbst immer wieder als das Kernproblem des modernen Romans herausstellt, rückt Wolfgang Koeppen ins Zentrum seines ebenso treffenden wie von tiefer persönlicher Sympathie geprägten Nachrufs auf seinen Schriftstellerkollegen: Johnson ist aber ein Gerechter gewesen. Sie sterben aus und sind schwer zu verstehen. Johnson suchte die Wahrheit. Die Wahrheitssuche ist aber ein Prozeß, und erst wenn man ihn beschreibt, nähert man sich vielleicht der Wahrheit. Ihm bleiben Zweifel, aber er war ein innerlich so wahrer, die Lüge ablehnender Mensch, daß er aus Wahrheit, seiner Wahrheit dachte und schrieb. Das verstimmte im Osten und Westen die Leute, die sich im Besitz der guten, allgemeingütigen Wahrheit glaubten, der jeder anständige Mensch sich zu unterwerfen hat, was gerade der anständige nicht kann. Johnson war nicht unparteiisch, er war nur unpathetisch. Er schrieb nicht, er untersuchte.113
In den vorausgegangenen Analysen hat sich erwiesen, dass alle vier Autoren auf sehr individuelle Weise an Joyce anknüpfen, sich unterschiedliche Facetten seines vielschichtigen Erzählwerks als Anregungen oder Muster auswählen, diese nach ihren jeweiligen Vorstellungen modifizieren und ihrem eigenen Werk einverleiben. Koeppen nutzt für die ›Tauben im Gras‹ die strukturellen Muster, Techniken der Materialanordnung und -montage, wie sie der ›Ulysses‹ aufweist, während vor allem der Umgang mit Sprache und das Konzept eines radikalen Realismus Arno Schmidt an Joyce begeistert und angeregt haben. Johnson faszinierte am ›Ulysses‹ die Dezentralisierung und Polyphonie des Erzählens sowie der Wechsel der Darstellungsmodi, die den Roman zur Exploration werden lassen. Hildesheimer schließt an Joyce Experiment an, die allein dem Voranschreiten der Assoziation folgende Sprache an die Grenzen ihrer Ausdrucksmöglichkeiten zu treiben – und darüber hinaus: in das Rayon der Musik. Die vier Fallstudien lassen die fundamentale Eigenart von produktiven Rezeptionsphänomenen im Allgemeinen anschaulich hervortreten: Aus einem (nicht immer widerspruchsfreien) Prozess der literarischen Auseinandersetzung mit dem Werk eines ande112 113
Koopmann: Erfolgreich gescheitert, S. 394. Koeppen: Ein Bruder der Massen war er nicht, S. 426.
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ren, in der Abgrenzung und Aneignung von dessen literarischen Verfahren lassen sich Rückschlüsse auf die prosapraktischen und poetologischen Konzepte, letztlich auf die literarische Individualität der Rezipienten in einem veränderten historischen Kontext gewinnen. Die Rezeption eines Dichters durch Spätere ist immer ein aktiver, selektiver und in höchstem Maße subjektiv gefärbter Prozeß, der nicht zwangläufig auf einem tiefgreifenden Verständnis des Vorgängers gegründet sein muss, ihm oft nicht gerecht wird, sondern vielmehr von den Rezipienten selbst gelenkt wird. Was kritisiert und verworfen, was dagegen als fruchtbar und anschlussfähig erkannt wird, hängt von den jeweiligen Bedürfnissen der Autoren ab. Mit den vier behandelten Romanciers fällt der Blick natürlich auch auf vier höchst individuelle biographische und historische Bewusstseinsstufen: Wolfgang Koeppen, der älteste der vier Autoren (geboren 1905) erlebte den Zweiten Weltkrieg im Exil, nachdem er bereits die literarische Moderne der ersten Jahrhunderthälfte als Publizist und junger Romancier absorbiert hatte; Arno Schmidt (geboren 1914) wurde als Soldat eingezogen, noch bevor seine literarische Laufbahn beginnen konnte, die Nachkriegsjahre verbrachte er mit einem hektischen Auf- und Nachholen; Wolfgang Hildesheimer (geboren 1916) empfand den Zweiten Weltkrieg fernab der Kriegsschauplätze (nach eigener Aussage) als »eine spannende Zeit« – doch als Jude aus der Perspektive des Opfers; Uwe Johnson (geboren 1934) erlebte die Nazidiktatur als Schüler, seine literarische Sozialisation und sein schriftstellerischer Werdegang vollzogen sich unter den Repressalien eines anderen Regimes. Gewiss bricht und spiegelt sich in den Werken der behandelten Autoren auch die literaturtheoretische Diskussion ihrer Zeit und ist ohne diese nicht denkbar; die poetologischen Diskurse, in die die vier Autoren eintreten und die ihre JoyceRezeption konturieren, unterscheiden sich wesentlich: Koeppen zeigt sich dabei noch ganz den Innovation der klassischen Moderne verhaftet, Schmidt steht als radikaler (literarischer) Autodidakt und Einzelgänger weitgehend außerhalb des zeitgenössischen Literaturbetriebs, was in seinem Werk merkwürdige Anachronismen zutage fördert; Johnson erweist sich – neben seiner Begeisterung für die internationale Moderne – durchaus von den literaturtheoretischen Diskussionen und Leitfiguren der DDR (wie Lukács, Benjamin, Blochs Abhandlungen über den Detektivroman, nicht zuletzt auch der unausweichlichen Doktrin des Sozialistischen Realismus) geprägt; Wolfgang Hildesheimers Werk ist nicht ohne die weltanschauliche Dimension des Absurden zu begreifen; sein zunehmendes Misstrauen in Fiktionen wird als Echo der Debatte über den Tod des Autors in den 70er Jahren begreifbar.
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Eine Ausnahme: Wolfgang Hildesheimer Hildesheimer wurde in den vorausgegangenen Ausführungen weitgehend ausgespart; er hebt sich von den zuvor behandelten Autoren vor allem insofern ab, als er seine epischen Räume als fiktional ausweist; sie erhalten ihre Situierung und Ausgestaltung durch das Bewusstsein eines Ich, nicht (oder nur geringfügig) durch eine Rückbindung an die reale, d.h. außerliterarische Topographie. Wenngleich seine monologische Prosa gewiss auch auf seine ›Ulysses‹-Lektüre zurückzuführen ist, so erscheinen die formalen Spezifika des ›Ulysses‹ in seinem Werk in mehrfacher Brechung und überlagert von der künstlerischen Eigenständigkeit Hildesheimers. Gegenüber etwa Uwe Johnson, dessen Joyce-Rezeption als eine stark vermittelte angenommen werden muss, sich zudem mehr und mehr von einem Fortschreiben der im ›Ulysses‹ erprobten Techniken löste, ist Hildesheimers Auseinandersetzung mit dem Iren wesentlich direkter. Dies legt auch seine essayistische Beschäftigung mit Joyce Techniken und Themen nahe, die von einer tiefen persönlichen Empathie und Identifikation mit dem Iren getragen ist. Im Gegensatz zu Koeppen, Schmidt und Johnson gehörte Hildesheimer nicht dem Volk der Täter, sondern den Opfern des Holocausts an; aufgrund der Tatsache, dass sein Werk von der Indienstnahme durch Vergangenheitsbewältigung und Kollektivschuld befreit ist, öffnet sich seine Prosa wieder stärker dem formalen Experiment. In diesem Lichte ist vielleicht zu verstehen, dass Hildesheimer auf die Objektivierbarkeit durch eine intersubjektive chronotopologische Fixierung seiner Prosa (weitgehend) verzichtet; die wenigen vorhandenen Raumkoordinaten werden instabil in den sich aus sich selbst heraus speisenden und immer weiter fort spinnenden Monologen des Erzählers. Der Text folgt – so scheint es – allein den Mechanismen der Assoziation und der Eigendynamik der Sprache. Gerade darin liegt die Verwandtschaft von Hildesheimers Prosa mit dem ›Ulysses‹ und ›Finnegans Wake‹ von James Joyce. Ein zentrales Charakteristikum, das Joyce und Hildesheimer eint, ist ihre Faszination für die Musik – freilich in beiden Fällen aus der Perspektive des gebildeten Laien – und ihre Sprachkonzeption, die eine Annäherung an die Gesetzlichkeiten und Wirkungsmechanismen der Musik leisten soll, der Sprache freien Lauf lässt und eher »Sprachwelten als Erzählwirklichkeiten« errichtet. In Hildesheimers Prosa wird die Sprache losgelassen, ohne Rücksicht darauf, ob der Leser diesen verbalassoziativen Verknüpfungen zu folgen vermag – beinahe schon im Geiste von ›Finnegans Wake‹, aber doch an ein radikal sprachspielerisches Experiment anschließend, mit dem Joyce die Leser des ›Ulysses‹ konfrontierte: »Das fundamental Neue bei Joyce«, so Viktor Žmegač, ist der künstlerische Entschluß, eine topographische Vorstellung […] und eine Simultaneitätsvision zur Grundlage für einen Roman zu nehmen, der in einem bisher ungeahnten Maß ein geradezu exzessives Sprachkunstwerk ist. […] Es liegt in der Natur
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der sehr stark sprachspielerischen Literaturauffassung des irischen Autors, daß sein Werk ein Leseabenteuer wahrhaftig exorbitanter Art ist.114
Bei Hildesheimer zeigt sich – stärker noch als bei den anderen behandelten Autoren – die gegenseitige Durchdringung und Überlagerung seiner Joyce-Rezeption mit dem literarischen Diskurs seiner Zeit. 1967 erscheint Peter Handkes polemischer Essay ›Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms‹, in dem sich der Verfasser provokant zur Zwecklosigkeit der Kunst bekennt. 1968 schreibt Enzensberger in einer ›Kursbuch‹-Nummer, die diesen Tendenzen des Literaturbetriebs der späten sechziger und frühen siebziger Jahre programmatisch Ausdruck verleiht: »Wer Literatur als Kunst macht, ist damit nicht widerlegt, er kann aber auch nicht mehr gerechtfertigt werden.«115 Im ›Kursbuch‹-Essay ›Kranz für die Literatur‹ notiert Karl Markus Michel resignativ: »Der Dichter steht hoch im Kurs, aber er hat nichts zu melden.«116 1968 war zudem die Geburtsstunde der Post-Moderne, in der der amerikanische Literaturwissenschaftler Leslie A. Fiedler, den Begriff der Post-Moderne popularisierend, eine ›neue Leichtigkeit‹ postulierte; wenig später werden Michel Foucaults (1926–1984) und Roland Barthes (1915–1980) Verdikte zum »Tod des Autors« laut. Hildesheimers zunehmender Zweifel an Fiktionen, schließlich sein ›Verstummen‹ ist – befördert durch seine ökologische Endzeitgewissheit – durchaus auch als resignativer Reflex auf diese programmatischen Erklärungen, möglicherweise auch auf die Übermacht der Bewusstseinsindustrie bzw. der Medienkonkurrenz zu verstehen. Er ruft mit dem Vortrag ›The End of Fiction‹ »noch einmal Adornos Skepsis über die Legitimität fiktionalen Schreibens wach«.117 Zugleich findet sich in Hildesheimers theoretischen Äußerungen sowie in seiner Prosapraxis auch ein Echo der von Dieter Wellershoff – der (neben Walter Höllerer) zum Vorreiter eines ›neuen Realismus‹ werden sollte118 – aufgestellten Gegenthese, dass
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Žmegač: Der europäische Roman. Geschichte seiner Poetik, S. 319. Hans Magnus Enzensberger: Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend, in: Kursbuch 15 (1968), S. 186–197. Karl Markus Michel: Ein Kranz für die Literatur. Fünf Variationen über eine These, in: Kursbuch 15 (1968), S. 169–186. Michael Kämper-van den Boogaart: Theorien – Ideologien – Programme: BRD, in: Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995, S. 175–200, hier S. 195. Nur thesenartig soll hier angeregt werden, Wellershoffs Neuen Realismus als einen ›nicht mehr ganz so neuen‹ Realismus zu lesen – nämlich im Lichte des durch Joyce ›Ulysses‹ exemplifizierten Realismuskonzepts. Denn an dieses fühlt man sich zwangsläufig erinnert, wenn Wellershoff bei seinen Bemühungen, »für die zeitgenössische Literatur die Kategorie des Realismus zu retten« in ›Wiederherstellung der Fremdheit‹ (1969) schreibt: »An Stelle der universalen Modelle des Daseins, überhaupt aller Allgemeinvorstellungen über den Menschen und die Welt tritt der sinnlich konkrete Erfahrungsausschnitt, das gegenwärtige alltägliche Leben in einem begrenzten Bereich« (Dieter Wellershoff: Literatur und Veränderung. Versuche zu einer Metakritik der
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einzig über die Fiktion »von Raum und Zeit unabhängige Vorstellungswelten erschaffen werden könnten, die die Funktion erfüllten, der Praxis Vorschläge zu machen und den Spielraum möglicher Veränderung offen zu halten.«119 Bezeichnend für Hildesheimers intensive wie individuelle Auseinandersetzung mit Joyce ist allein schon der Umstand, dass er beständig erklärt, Joyce immer wieder und »mit Genuß« zu lesen;120 seine Perspektive auf Joyce ist die des »bewundernden Lesers«,121 für den der ›Ulysses‹ ein »großes Leseerlebnis und eine Erweiterung des Horizontes, eine Bewußtmachung«122 war – keine Herausforderung wie für Schmidt, kein formales Muster wie für Koeppen, kein Fundus an technischen Vorgaben und Maßstäben wie für Johnson. Joyce ist ihm nah, zugleich ist sich Hildesheimer seiner künstlerischen Individualität bewusst; er muss den großen Iren nicht von sich fernhalten oder sich von ihm losschreiben. Folgerichtig ist Hildesheimers intensive Beschäftigung mit Joyce in der Lage, sein ebenso (in der Folgerichtigkeit seines Gesamtwerkes) konsequentes wie sorgfältig inszeniertes literarisches Verstummen zu überdauern. Hildesheimer nimmt nun auch insofern eine Sonderstellung in der Reihe der hier betrachteten Autoren ein, als er als Einziger den Zweifel an der Gattung Roman, das Misstrauen in Fiktionen schlechthin artikuliert – freilich nicht ohne vorher mit ›Tynset‹ und ›Masante‹ zwei umfangreiche Versuche in diesem Genre vorgelegt zu haben. Koeppen hingegen betont seinen Glauben »an das Wort«;123 Johnson erklärt, er habe »kein Vertrauen in den Tod des Romans« und beruft
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Literatur, Köln/Berlin 1969, S. 86) – oder (in ›Literatur und Veränderung‹) Realismus definiert als den »Versuch, etablierte Begriffe und Ordnungsgestalten aufzulösen, um neue, bisher verbannte Erfahrungen zu ermöglichen, das Gegenteil also einer Wiederholung und Bestätigung des Bekannten. Die Modelle, mythische Muster, an die auch ihr ironisches Zitat und die Persiflage gefesselt bleiben, werden in realistischer Schreibweise entweder verlassen oder durch Konkretheit von innen her überwachsen. Neue Aufmerksamkeitsgrade und -richtungen werden entwickelt für das, was bisher unbewußt war oder gesperrt wurde mit Tabuworten wie banal, privat, pathologisch, aber vor allem auch für das nur scheinbar Bekannte, das unter diesem Schein sich verflüchtigt hat. […] Realistisches Schreiben wäre die Gegenbewegung, also der Versuch, der Welt die konventionelle Bekanntheit zu nehmen und etwas von ihrer ursprünglichen Fremdheit und Dichte zurückzugewinnen, den Wirklichkeitseindruck wieder zu verstärken, anstatt von ihm zu entlasten.« (Dieter Wellershoff: Literatur und Veränderung. Versuche zu einer Metakritik der Literatur, Köln/Berlin 1969, S. 88.) Auch Wellershoffs Forderung, den Leser zum »Helden des literarischen Aktes« zu erheben, bedeutet nichts anderes, als dort weiterzumachen, wo Joyce aufgehört hat. (Dieter Wellershoff: Das Verschwinden im Bild. Essays, Köln 1980, S. 183.) Kämper-van den Boogaart: Theorien – Ideologien – Programme: BRD, S. 194. Hildesheimer: Übersetzung und Interpretation einer Passage aus »Finnegans Wake« von James Joyce, S. 340. Ebd., S. 347. Durzak: Ich kann über nichts anderes schreiben als über ein potentielles Ich, S. 275. Koeppen: Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1962, S. 261.
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sich dabei auf die Traditionslinie, die in Joyce ihren Ursprung nimmt – und deren Fortschreibung allein durch die Unkenntnis der Leser und die Kompromissbereitschaft der Schriftsteller gehemmt ist: Solange Fiktion akzeptiert wird von einem Leser als ein Mittel des Erzählens, traue ich dem Roman schlechthin alles zu. Es ist sehr schade, daß die Auffassungsmöglichkeit des Publikums so schlecht gepflegt wird von den öffentlichen Schulen, daß zum Beispiel niemand von uns da weitermachen kann, wo James Joyce aufgehört hat. Aber da machen wir ja alle einen Kompromiß, wir wollen alle doch verstanden werden […].124
Zwischen Erschöpfung und Erneuerung Kompromisse zugunsten der Verständlichkeit und Zumutbarkeit sind in der Nachkriegsprosa unübersehbar, das formale Experiment fällt streckenweise weit hinter die Leistungen der Moderne der ersten Jahrhunderthälfte zurück. Dennoch hat der ›Ulysses‹ gerade in dieser Hinsicht – mit der Emanzipation des Lesers – neue Wege gebahnt: »In mixing his techniques without warning Joyce presented the literary world with a new manifesto – the right of the artist to disregard the comfort of the reader.«125 Auch Viktor Žmegač erkennt das novum, das Joyce Roman als Herausforderung für den Leser – der, so Schärf, zum »Extremleser« wird, sobald er sich »dieser Revolution im Erzählen öffnet«126 – und als Erschütterung der Rezeptionsgewohnheiten des Publikums darstellte: Die entscheidenden Fragen von Joyces Poetik sind nicht so sehr in der Beziehung des Textes zur historischen Wirklichkeit, zur einstigen Empirie zu sehen, sondern in dessen Beziehung zum Leser. […] Die Herausforderung des Lesers beruht in erster Linie auf einer Schreibweise, die im Hinblick auf dessen Erwartungen paradox ist: aggressiv rücksichtslos und werbend zugleich. Rücksichtslos sind die späten Romane darin, daß sie auf weite Strecken hin dem Leser keine Hilfe gewähren: sie konfrontieren in [sic] vielmehr oft mit Sätzen, in denen keine geläufige, empirisch eingeübte und daher wiedererkennbare Sprachrealität entgegentritt, eine hermetisch, grundsätzlich vieldeutige Vokabelwelt, in die es einzudringen gilt. Das Gefühl vieler, manchmal wohl auch aller Leser, hilflos zu sein, d.h. einem System rätselhafter Assoziationen und Anspielungen sich stellen zu müssen, zumeist ohne auktoriale Vorgabe, dieses Gefühl ist in der Geschichte des Romans sicherlich niemals so heftig gewesen wie gerade bei den ersten Lesern des Ulysses. Dichtung gerät in diesem Roman nicht selten zur Abdichtung. Andererseits gibt es wenige Werke, die zugleich so »offen« sind, die ununterbrochen an die Aufmerksamkeit des Lesers appellieren und um den idealen Rezipienten werben. In diesem Roman kreuzen sich auf eigentümliche Weise Romangeschichte und Lesergeschichte. Gerade deswegen, weil der Text den Rezipienten (oder genauer: den Perzipienten) weitgehend im Stich läßt, befördert er ihn zum geheimen Helden der Lektüre. Es gab bis zum Erscheinen des Dublin-Romans kein einziges
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Bruck: »Ein Bauer weiß, daß es ein Jahr nach dem andern gibt«, S. 272. Mitchell: James Joyce and the German Novel 1922–1933, S. 96. Schärf: Der Roman im 20. Jahrhundert, S. 79.
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Erzählwerk, das in dieser Rolle mit ihm vergleichbar gewesen wäre; kein Werk, das so strikt darauf verzichtet, den Leser zu bevormunden, zu erbauen, zu belehren, zu unterhalten – oder was es sonst noch an auktorialen Absichten geben mag; aber auch keines, das in so ausgedehntem Maße mit der wie auch immer beschaffenen Mitarbeit des Lesers rechnet.127
Die »Zweiheit von hermetischer Kommunikationsverweigerung und aktivierender Offenheit gegenüber dem Leser«, 128 das eigentümliche Mixtum aus Faszination und Abschreckung, das jeder ›Ulysses‹-Leser gleich welches Jahrzehnts bei der Lektüre empfunden haben mag, die Emanzipation des (auf sich selbst gestellten, aktiven) Rezipienten birgt Potentiale, die Uwe Johnson am besten erkannt und genutzt hat. Aus rezeptionsästhetischer Sicht bot sich der radikale Bruch mit traditionellen Gattungskonventionen, wie er im ›Ulysses‹ vollzogen wird, an, um den Leser aus einer passiven Rezeptionshaltung aufzuschrecken; insofern kommen die Anregungen des ›Ulysses‹, sein bewusster Verstoß gegen eingeschliffene Rezeptionsgewohnheiten und gegen die Maßgaben der Sprachnorm den Bedürfnissen der nonkonformistischen Wirkungsabsichten der deutschen Nachkriegsliteratur entgegen, die sich radikal von der geglätteten und zunehmend trivialen Sprache der Massenmedien und den pervertierten Worthülsen des Nationalsozialismus ideologiekritisch abzuheben suchte. Koeppen, Schmidt und Johnson waren gewiss nicht die einzigen deutschen Schriftsteller, die nach dem Krieg nach einer adäquaten literarischen Form für die Gestaltung der unmittelbaren Gegenwart forschten und sich dabei auf die Experimente der literarischen Moderne der zwanziger Jahre besannen – aber die Frage nach einer modernen Mimesis prägt die Gestalt ihrer Werke in eklatanter Weise. Joyce ›Ulysses‹ hatte – für seine Zeitgenossen ebenso wie für spätere Generationen – den Stellenwert eines Kompendium bzw. einer Summa der Techniken und Probleme der künstlerischen Moderne; der Roman war gleichsam die »Quintessenz einer Epoche, die man die Moderne nennen kann. Die von Joyce eingesetzten Techniken des Erzählens fassen alle Errungenschaften der literarischen und insgesamt ästhetischen Moderne in sich zusammen.«129 Ob Koeppen oder Johnson, Schmidt oder Hildesheimer, sie alle gestalten die (Nach-)Kriegsrealität mit einem hohen Formbewusstsein. Provokation durch Form, Irritation durch Ausdruck – hier liegt der wirkungsästhetische Nexus zu den technischen Innovationen von Texten, die zum Teil fünfzig Jahre alt sind und aus dem Experimentierfeld der literarischen Moderne stammen. Hierin liegt auch die Faszination der behandelten Autoren für das formale Experiment, das in seiner Wirkung ›unvollendet‹ bzw. unausgereizt blieb und für neue Gehalte als fruchtbar erkannt wurde. Wiewohl eminent un- bzw. apolitisch, war Joyce 127 128 129
Žmegač: Der europäische Roman, S. 319f. Ebd., S. 320. Schärf: Der Roman im 20. Jahrhundert, S. 83.
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dennoch, »an annoying writer to partymen of all political persuasions.«130 Das ideologiekritische Potential formaler Avanciertheit wird von den Nachkriegsschriftstellern erkannt und fruchtbar gemacht. Politisch sind die Zeitbilder, die Johnson, Koeppen und Schmidt in ihrer Prosa skizzieren, zum einen durch ihre stoffliche Dimension (die erzählte ›Geschichte‹, die vermittelte Erfahrung), zum anderen durch die formalen Verfahren, die hier zum Einsatz gelangen und bis zu Joyce zurückzuverfolgen sind. In den ›Tauben im Gras‹ und den ›Mutmassungen über Jakob‹ wurden die von Joyce erprobten Techniken in den Dienst eines didaktischen bzw. aufklärerischen Gestus gestellt, der auf die Aktivierung, Brüskierung des Lesers zielt. In seiner Büchner-Preis-Rede nimmt Koeppen die Literatur in die Pflicht, als »Regulativ aller weltlichen Ordnung« zu wirken.131 Vor allem Uwe Johnson äußert sich immer wieder dezidiert zu den politisch-gesellschaftlichen Wirkungsmöglichkeiten von Literatur und ihren Beschränkungen. Die Grenzen literarischer Wirkung liegen für Johnson auf der Hand – Literatur kann keine unmittelbare politische Aktion hervorbringen: »Agitieren bezieht sich darauf: eine Masse in Bewegung bringen. Ein einzelner Leser ist keine Masse. Die Lektüre eines Buches bringt niemanden auf die Barrikaden.«132 Dieses Eingeständnis ist für Johnson nun keineswegs gleichbedeutend mit einer grundsätzlichen Absage an eine littérature engagée. Im Rahmen einer Diskussionsrunde, die sich mit der Krise der Belletristik auseinandersetzte, äußerte sich Johnson zu der These, dass Literatur in Zukunft nicht mehr eine Bildungsfunktion wie im 19. Jahrhundert erfüllen werde: »Aber wie kommen Sie denn darauf? […] Warum sollte die nicht mehr notwendig sein? Warum sollte das Bedürfnis nach einer gut erzählten Geschichte aussterben?«133 Diese erneuerte Bildungsfunktion der Literatur gründet auf der narrativen Weitergabe von soziohistorischer Erfahrung, denn im Roman ist gesellschaftliche Erfahrung festgehalten, Erfahrung für uns, wenn es um die Literatur des vorigen Jahrhunderts geht, zum Lernen: woher kommen wir mit unserer gesellschaftlichen und persönlichen Entwicklung. In der gegenwärtigen Literatur führt Erfahrung nicht zur sofortigen Anwendung, aber zum Nachdenken darüber. Das ist eine aufklärerische Wirkung. Das ist, solange die Literatur sich auf ihre Verpflich-
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Mitchell: James Joyce and the German Novel 1922–1933, S. 177. Koeppen: Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1962, S. 257. Meyer/Strehlow: »Das sagt mir auch mein Friseur«, S. 181. (VI Literatur in politischem Auftrag? Es diskutieren: Uwe Johnson, Joachim Kaiser, Helmut Lethen, Jean Paul Picaper, Günter Wallraff. Gesprächsleitung: Hans Werner Richter / Gesendet am 10. Mai 1972 im ZDF.) Ebd., S. 172. (III Das Ende der Belletristik. Open End. / Regie: Hans Werner Richter / Redaktion: Alfred Berndt / Produktion des SFB. Gesendet 6.5.1971.)
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tungen gegenüber ihren eigenen Formen und Bedürfnissen besinnt, nicht viel, – aber das kann sie leisten.134
Selbst vor dem Gebrauch des verfemten Wortes »Lernen« schreckt Johnson nicht zurück; dazu gilt es jedoch den Leser zu aktivieren, ihm zwar »eine Geschichte zu erzählen«, diese jedoch nicht auf eine Weise zu erzählen, die den Leser in Illusionen hineinführt, sondern ihm zeigt, wie diese Geschichte ist. Wenn das eine Aufklärung ist, so ist das keine sozialaktivistische, sie fordert von einem Leser dieser Erzählung nicht, daß er sich sofort verändert, sondern daß er die Geschichte aufnimmt, sie überdenkt und daraus seine eigenen Schlüsse zieht.135
Die wirkungsästhetischen Prämissen, die Johnson hier darlegt, weisen zurück auf Brechts Konzept des epischen Theaters; die Verfremdungseffekte in der Prosa Uwe Johnsons weisen hingegen zurück auf den Roman der Avantgarde. »Literatur soll Erkenntnis freisetzen, aber nicht auf ideologisch festgesetzte Weise kanalisieren.«136 Liegt in der Aktivierung und Provokation des Lesers, die Joyce mit seinem ›Ulysses‹ erstmalig gewagt hat, ein erhebliches aufklärerisches Potential, so birgt diese auch eine unverkennbare Gefahr: die der Hermetik, der ›Gigantomanie‹ und der Überforderung des Publikums. Eine »große Weltaufnahme« von enormen Dimensionen hatte Joyce mit seinem ›Ulysses‹ vorgelegt und mit dem kolossalen ›Finnegans Wake‹ noch übertroffen – ohne Rücksicht auf die eigene Erschöpfung (und die des Lesers!). Eco erkennt in der immanenten Poetik des ›Ulysses‹ »den Anspruch, das erfahrbare Universum im Wortraum einer gewaltigen Enzyklopädie zu erschöpfen«.137 ›Riesenepen‹ wie die ›Jahrestage‹ oder ›Zettels Traum‹ brechen zu einer Zeit über den deutschen Literaturbetrieb herein, als die Debatten um den Tod des Autors bzw. den Tod der Literatur ihren Höhepunkt erreichen. Diese literarischen ›Mammutprojekte‹, die folgerichtige Endund Zielpunkte der epischen Lebenswerke Arno Schmidts und Uwe Johnsons darstellen, sind deutliche Symptome eines Überbietungsgestus, der noch aus dem Fundus der literarischen Moderne stammt. Gleiches gilt für den bei Johnson und Hildesheimer beobachteten Auf- und Ausbau eines literarischen Kosmos, für die personale, topographische und stoffliche Vernetzung der Einzelwerke unter-
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Ebd., S. 179f. (VI Literatur in politischem Auftrag? Es diskutieren: Uwe Johnson, Joachim Kaiser, Helmut Lethen, Jean Paul Picaper, Günter Wallraff. Gesprächsleitung: Hans Werner Richter / Gesendet am 10. Mai 1972 im ZDF.) Uwe Johnson: »Mir ist gelegen an Fairness«. Erklärung von Uwe Johnson auf der Pressekonferenz des Suhrkamp Verlages am 5. Dezember 1961, in: Deutsche Zeitung mit Wirtschaftszeitung (Köln), Nr. 283 (7.12.1961), S. 14. Durzak: Der deutsche Roman der Gegenwart, S. 187. Eco: Das offene Kunstwerk, S. 359.
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einander, wie sie auch den ›Ulysses‹ mit den ›Dubliners‹ und ›A Portrait of the Artist as A Young Man‹ verknüpft. Hiermit liegt auf der Hand, dass deutsche Autoren in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts für ihren Anschluss an die Avantgarde einen erheblichen Preis zu zahlen hatten: Was in der ersten Jahrhunderthälfte noch als ein Ausloten der Darstellungsmöglichkeiten des Romans erschien, und auch die erste Phase der Joyce-Rezeption (bei Jahnn, Broch, Döblin) prägte, führt nach dem Krieg zu einer Überstrapazierung, die Schmidt und Johnson an den Rand ihrer Kräfte, Koeppen ins Verstummen und Hildesheimer ins Schweigen drängt. Die extensive Bewältigung von jüngerer Geschichte bei höchster formaler Avanciertheit musste – so scheint es – eine Überforderung bedeuten, unter der sich die Autoren verausgabten und neben der Kritik ihr Lesepublikum verloren, da sie sich zunehmend den Ruf der Hermetik, der Gigantomanie und der Unverdaulichkeit einhandelten und damit Jean Paul Sartres Diktum bestätigen, dass innovative Literatur im zwanzigsten Jahrhundert gegen das Publikum geschrieben sei.138 Positiv formuliert bedeutet dies jedoch zugleich, dass der avantgardistische Impetus, den Joyce ›Ulysses‹ den Autoren vermittelte, dazu beitrug, dass ihr Glaube an Fiktion, an die Möglichkeiten erzählender Prosa unvermindert war. Keine Ausnahme: Günter Grass In Abgrenzung von O’Neills sicherlich pauschalisierender Aussage, »by the late sixties Joyce’s position as the greatest single influence on the post-war German novel was unchallenged,«139 führt Schneider eine Reihe von Autoren an, deren Prosawerk Joyce nicht verpflichtet sei; vor Heinrich Böll,140 Martin Walser und Siegfried Lenz nennt er dabei an erster Stelle Günter Grass: »He has mentioned Döblin as his teacher and emphasised the importance of Camus, but where does he talk about Joyce?«141
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Vgl. Jean Paul Sartre: Was ist Literatur? Ein Essay, dt. v. Hans Georg Brenner, Hamburg 1958, S. 73. O’Neill: Ireland and Germany, S. 278. Robert Weninger widerspricht O’Neill, indem er motivische und strukturelle Bezüge zwischen den ›Dubliners‹ und Bölls ›Irischem Tagebuch‹ nachweist. (Vgl. Robert Weninger: Böll on Joyce. Joyce on Böll. A Gnomonical Reading of Heinrich Böll’s Die schönsten Füße der Welt, in: Deutsch-irische Verbindungen. Geschichte – Literatur – Übersetzung. Irish-German Relations. History – Literature – Translation. Akten der 1. Limericker Konferenz für deutsch-irische Studien 2.–4. September 1998, hg. v. Joachim Fischer, Gisela Hoffter, Eoin Bourke, Trier 1998, S. 133–143.) Auch was Martin Walser anbelangt, darf bezweifelt werden, ob sein Werk tatsächlich keinerlei Berührungspunkte mit Joyce aufweist. Schneider: The Reception of Joyce in a Divided Germany, S. 304.
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Die simple Antwort auf Schneiders Frage findet man im Namensregister der Grass-Werkausgabe. Dieses verweist den Leser auf zentrale Selbstaussagen Grass, in denen der Autor seine eigenen literarischen Techniken und Wirkungsziele im Licht der Tradition reflektiert. In seiner Rede auf dem internationalen PENKongress in Hamburg nennt Grass drei Autoren, denen er sich verbunden weiß und »deren anhaltende Wirkung sich nicht zuletzt aus zeitgenössischen Bezügen speist: Dos Passos, Emilio Gadda, Alfred Döblin.« Weiter heißt es »Alle drei Autoren haben in der Nachfolge von James Joyce geschrieben.«142 Die Wirkung Alfred Döblins auf Grass dürfte seit der Rede ›Über meinen Lehrer Döblin‹143 unumstritten sein; James Joyce ist es jedoch, den Grass als den »Urheber moderner epischer Literatur«144 an den Anfang setzt, um die zentralen epischen Innovationen, an die auch er anknüpft, letztlich auf Joyce zurück zu beziehen: »Die Literatur zehrt ja von den großen Entdeckungen, die Anfang des Jahrhunderts von Joyce gemacht wurden. Literatur kann heute nicht mehr hinter die Einsicht zurückgehen, daß doch sehr viel mehr über den inneren Monolog und Dialog geschieht, als von außen abzulesen ist.«145 Die charakteristischen Merkmale seiner Prosa führt Grass auf Joyce zurück, so das Zeitkonzept der »Vergegenkunft«, mit dem er gegen einen chronologischen Zeitbegriff Stellung bezieht und an dessen Stelle einen subjektiven, die Verdichtung von Erinnerung, Gegenwart und Zukunft im Bewusstsein erfassenden Zeitbegriff setzt: Wir haben uns ganz bestimmten Definitionen gebeugt und sie als Wirklichkeit akzeptiert; z.B. dieses Korsett des chronologischen Zeitbegriffs. […] Jeder kann bei sich selbst überprüfen und nachweisen, daß unsere Gedanken sich nicht an den chronologischen Ablauf halten. Wenn wir denken, wenn wir träumen, schweifen wir ab. Wenn wir irgendeiner Handlung nachgehen, können wir dennoch mit unseren Gedanken in anderen Regionen sein, in anderen Zeiten. Alles ist bunt gemischt, ein Fluten und Strömen. Da laufen mehrere Filme gleichzeitig in unserem Unterbewußtsein ab; das ist alles uralt und bekannt. In der Literatur haben es Autoren wie James Joyce oder Proust, etwas später bei uns von Scheerbart bis Döblin viele bewußt gemacht. Genau so, wie sich mit dem Kubismus unsere Sehgewohnheiten hätten verändern müssen
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Dieses und die vorangehenden drei Zitate aus Günter Grass: Als Schriftsteller immer auch Zeitgenosse. Rede auf dem internationalen PEN-Kongreß in Hamburg [1986], in: ders.: Werkausgabe in zehn Bänden, hg. v. Volker Neuhaus, Bd. 9: Essays, Reden, Briefe, Kommentare, hg. v. Daniela Hermes, Darmstadt/Neuwied 1987, S. 921–931, hier S. 923. Vgl. Günter Grass: Über meinen Lehrer Döblin. Rede zum 10. Todestag Döblins, in: ders.: Werkausgabe, Bd. 9, S. 236–255. Grass: Als Schriftsteller immer auch Zeitgenosse, S. 923. Günter Grass: Ich habe zuviel Respekt vor den Filmemachern [Gespräch mit Armin Halstenberg, 1984], in: ders.: Werkausgabe in zehn Bänden, hg. v. Volker Neuhaus, Bd. 10: Gespräche mit Günter Grass, hg. v. Klaus Stallbaum, Darmstadt/Neuwied 1987, S. 320–322, hier S. 322.
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und bei einigen – selbst, wenn sie es nicht wahrhaben wollen – auch verändert haben. Wir wissen doch von diesen inneren Monologen und Dialogen, von diesen Vorgängen in uns, die sich dem Zwang der Chronologie entzogen haben, die freigesetzt sind und die natürlich auch Wirklichkeit sind.146
Grass Prosa strebt auf eine Darstellung von Simultanem hin, um dem »Fluten und Strömen«, den »gleichzeitig im Unterbewußtsein ablaufenden Filmen« gerecht zu werden; diese mit dem Begriff »Vergegenkunft« bezeichnete Bestrebung durchzieht beispielsweise die ›Blechtrommel‹ wie ein roter Faden, schlägt sich in der Sprache, der narrativen Progression aus der Erinnerung des Ich-Erzählers ebenso wie in der durchscheinenden Geschichtsauffassung des Autors und in seinen Wirkungsabsichten nieder. Auch die Sprachgestalt seiner Erzählungen führt Grass letztlich auf eine »Stilgebärde« zurück, die, von Joyce ausgehend, den Expressionismus, nach dem Krieg Schmidts und Johnsons Prosa geprägt habe: mit diesem Material muß ich als Schriftsteller arbeiten. […] [E]s gibt zum Beispiel Sätze, in denen das Verbum weggelassen wird. Die Satzaussage fehlt, weil ich dem Leser bei einem angefangenen Satz dann und wann überlassen kann, die Satzaussage selber auszufüllen, weil sie auf der Hand liegt. Und vielleicht habe ich nebenbei den kleinen Ehrgeiz, die deutsche Sprache etwas zu verkürzen. Sie ist furchtbar umständlich. Ich glaube, daß innerhalb der deutschen Satzstellung sich einiges – ohne jetzt als Sprachenreformer vordergründig auftreten zu wollen – von dem, was ich sagen und beschreiben will, zur Satzverkürzung anbietet, ein Reduzieren der Sprache auf die Dinglichkeit hin. Und dann entstehen Dinge, die Sie als Unkorrektheiten betrachten. […] Natürlich ist das nichts Neues. Das gibt es schon bei Döblin, also vor allen Dingen in der expressionistischen Prosa, und bei James Joyce, und heute bei Arno Schmidt und eben auch bei Johnson. Es ist also eine Stilgebärde, wenn Sie wollen, die weit verbreitet ist. Da kann natürlich jeder Autor nur einen bestimmten Anteil haben, und zwar den Anteil, der zu seinem Stoff paßt, zu dem, was er sagen will. Aber insgesamt verändert das die deutsche Sprache, und ich glaube nicht zum Schlechten.147
Ein »Reduzieren der Sprache auf die Dinglichkeit hin« wurde bereits bei Arno Schmidt und Uwe Johnson festgestellt und in Beziehung zum Prosastil des ›Ulysses‹ gesetzt. Auch Grass Prosa ist zugleich sprachkritisch und sprachschöpferisch; kommunikative Normen und Konventionen werden missachtet zugunsten einer Erweiterung sprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten. Mit der Überzeugung, dass es der Schriftsteller dem Leser »dann und wann bei einem angefangenen Satz überlassen kann, die Satzaussage selber auszufüllen«, trifft er ins Zentrum der Rezeptionsästhetik, wie sie im ›Ulysses‹ und in Arno Schmidts Erzählungen
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Günter Grass: Phantasie als Existenznotwendigkeit [Gespräch mit Siegfried Lenz, 1981], in: ders.: Werkausgabe, Bd. 10, S. 255–281, hier S. 256. Günter Grass: Ein Reduzieren der Sprache auf die Dinglichkeit hin [Schülergespräch 1963], in: ders.: Werkausgabe, Bd. 10, S. 7–15, hier S. 9.
angelegt ist und auf ein gelenktes ›Ausfüllen‹ des elliptischen Erzählverfahrens durch den Leser abzielt.148
6.2
Abblende
Der Weg zu einer neuen Romanform führte deutsche Schriftsteller sicherlich nicht notgedrungen auf den ›Ulysses‹ zurück. Dennoch erweisen sich vor allem die am Anfang des 20. Jahrhunderts geborenen Autoren der Nachkriegszeit, die ähnlich bewusst und differenziert wie Wolfgang Koeppen, Arno Schmidt, Uwe Johnson, Wolfgang Hildesheimer oder Günter Grass die literarische Tradition zu reflektieren und ihre Position zu bestimmen vermögen, als Joyce Experiment verpflichtet. Wenngleich die Radikalität des Experiments – selbst bei einem Arno Schmidt – gegenüber den Innovationen der zwanziger Jahre als abgeschwächt erscheint, so lässt sich dennoch eine Traditionslinie von James Joyce als einer der zentralen und einflussreichsten Figuren der literarischen Avantgarde über das Nachkriegsdeutschland bis ins 21. Jahrhundert ziehen. Infolgedessen ist eine bemerkenswerte Kontinuität nachweisbar, die die »tabula rasa«- oder »Stunde Null«-Parolen im Umfeld der Gruppe 47 Lügen straft. Mochten die deutschen Lyriker nach 1945 das Problem wälzen, ob nach Auschwitz noch ein Gedicht geschrieben werden konnte, Koeppen, Schmidt und Johnson eint das ungebrochene Vertrauen in die Möglichkeiten erzählender Prosa. Alle drei haben sich (und hier mag auch Hildesheimer uneingeschränkt hinzugezählt werden) nicht zuletzt aufgrund ihrer Fortschreibung avantgardistischer Verfahren eines James Joyce als stimulierende
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Eine Studie, die mit einem für die Anwendung literarischer Verfahrensweisen des ›Ulysses‹ geschärften Blick die ›Blechtrommel‹ betrachtet, würde zweifellos neue Erkenntnisse über die überraschenden Gattungsbrüche in Grass Roman liefern: Im Kapitel ›Beton besichtigen‹ (vgl. Günter Grass: Die Blechtrommel, in: ders.: Werkausgabe in zehn Bänden, hg. v. Volker Neuhaus, Bd. 2: Die Blechtrommel, hg. v. Volker Neuhaus, Darmstadt/Neuwied 1987, S. 409–422) tritt der dominante Ich-Erzähler zurück, das Geschehen in der dialogischen Unmittelbarkeit des Dramas hervor; zusätzlich ist ein Gedicht in die dramatische Form montiert (vgl. ebd., S. 416). Schon der optische Eindruck legt einen Vergleich mit der Dramatisierung der ›Circe‹-Episode nahe. Die absurden Elemente dieser Passage, etwa die Zwischenrufe und Geräusche der Schauspieler, können als Reminiszenzen an die grotesken Sprecherrollen des alptraumartigen ›Ulysses‹-Kapitels begriffen werden. Die Ähnlichkeit der Fugenform des Kapitels ›Glaube Hoffnung Liebe‹ (vgl. ebd., S. 236–247) mit der ›Sirens‹-Episode ist zu auffällig, als dass sie im Rahmen einer vergleichenden Analyse ignoriert werden dürfte. Die »Liebe zum Labyrinthischen« (ebd., S. 50), die Oskars erzählerische Progression leitet, verweist auf das narrative Prinzip, das Joyce zur zentralen Technik der ›Wandering Rocks‹ erhebt.
453
Wegbereiter und Katalysatoren für die im Nachkriegsdeutschland zunächst stagnierende epische Produktion erwiesen. Mit Wolfgang Koeppen, Arno Schmidt, Uwe Johnson und Wolfgang Hildesheimer konnten anhand von vier Fallstudien Grundzüge der Wirkung des ›Ulysses‹ auf die deutsche Nachkriegsliteratur skizziert werden; freilich ist damit das Feld noch lange nicht erschlossen: Suffice it to say that contemporary German literature exhibits a broad range of writerly responses to Joyce and his oeuvre; barring outright rejection, they range from productive albeit anxiety-ridden competition (Arno Schmidt) and a more or less inspired creative appropriation of Joycean techniques (Hans G. Helms, Ernst Jandl, Hans Wollschläger, Peter Fladl-Martinez) to near-dismissal, as for example Heinrich Böll, who cites Joyce occasionally but does not seem to value his richness and complexity.149
Friedrich Achleitner, Alfred Andersch, Marcel Beyer, Jürgen Becker, Peter Bichsel, Rolf Dieter Brinkmann, Hans Christoph Buch, Hubert Fichte, Peter FladlMartinez, Marianne Fritz, Franz Fühmann, Hartmut Geerken, Wilhelm Genazino, Ulrich Goerdten, Rainald Goetz, Walter Grond, Ludwig Harig, Helmut Heissenbüttel, HG Helms, Walter Höllerer, Ernst Jandl150 (und die Sprachexperimente der Wiener Gruppe), Reinhard Jirgl, Ernst Kreuder, Ferdinand Kriwet, Dieter Kühn, Jürg Laederach, Elisabeth Langgässer, Friederike Mayröcker, Franz Mon, Libuše Moníková, Andreas Neumeister, Paul Nizon, Andreas Okopenko, Detlef Opitz, Oskar Pastior, Matthias Politicky, Bernd Rauschenbach, Friederike Roth, Gerhard Rühm, Dieter Paul Rudolph, Wolfgang Schlüter, Wolfram Schütte, Ginka Steinwachs, Peter Weiss, Gabriele Wohmann,151 Paul Wühr
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Weninger: The Institutionalization of ›Joyce‹, S. 58f. Vgl. ebd., S. 58: »Ernst Jandl’s poem ›wien: heldenplatz‹ (vienna: heroes’ square), composed in 1962, is the most obvious example of a concrete poem written under the auspices of F[innegans]W[ake].« Und in der Tat nennt Jandl in seinem Aufsatz ›mein gedicht und sein autor‹ (in: Ernst Jandl für alle, Darmstadt/Neuwied 1974, S. 224– 233, hier S. 225) Joyce als einen seiner wichtigsten Einflüsse bei der Niederschrift von ›wien: heldenplatz‹: »das gedicht gehört zu den spätesten in meinem buch ›laut und luise‹. die meisten schrieb ich zwischen 1956 und 58. damals war meine arbeit, wenn man vereinfacht, an expressionismus, dada und gertrude stein orientiert, joyces ›ulysses‹ hatte ich eben gelesen, gomringers ›konstellationen‹ für mich entdeckt.« Die Joyce-Nachfolge Gabriele Wohmanns erscheint m.E. eher zweifelhaft; allerdings bekennt sich die Autorin emphatisch zu ihrer ersten ›Ulysses‹-Lektüre als einem »Schlüsselerlebnis« und beschreibt in ihrem gleichnamigen Essay die Faszination, die von diesem Roman ihrer »Prosa-Vater-Figur« Joyce (Gabriele Wohmann: Schlüsselerlebnis, in: dies., Auskunft für Leser, hg. v. Klaus Siblewski, Darmstadt/Neuwied 1982, S. 47–51, hier S. 51) auf sie ausging: »Ich war also frei vom Nachahmungswunsch, und doch erkenne ich, ohne mein eigenes erstes Buch aufzuschlagen, daß vor allem der Ulysses eine schlüsselerlebnishafte Lektüre für mich war. […] Keine andere Prosa hat so unmittelbar stimulierend auf mich gewirkt« (ebd., S. 48). Das Spiel Joyce mit überlieferten Gattungskonventionen sei es, das sie in ihrer »eigenen pioniervergnüg-
oder der auch als Schriftsteller tätige ›Ulysses‹-Übersetzer Hans Wollschläger sind nur einige Beispiele einer bis in die Gegenwart reichenden Reihe von Autoren, bei denen eine genauere Untersuchung im Hinblick auf die Adaption der von Joyce entwickelten literarischen Techniken (auch für die Lyrik) ohne Zweifel ergebnisreich wäre.152 Durch die Beleuchtung der produktiven Rezeptionsprozesse träten zugleich die Individualität der literarischen Positionen der Autoren sowie die formalen und sprachlichen Innovationen ihrer Werke schärfer hervor. Zwar mag der unmittelbare Einfluss beinahe ein Jahrhundert nach der Erstveröffentlichung des Romans bei deutschen Autoren jüngerer Generationen – sei es durch ihre eigene Joyce-Lektüre oder durch die Vermittlung durch andere (bes. Arno Schmidt), sei es durch ihre Absorption moderner Erzählverfahren im Allgemeinen, als deren fester Bestandteil Joyce mittlerweile ›kanonisch‹ geworden ist – abgeschwächt, mehrfach gebrochen und durch ähnliche Tendenzen und Techniken überlagert erscheinen, dennoch reichen die Spuren von Joyce Wirkung bis ins 21. Jahrhundert hinein. Reinhard Jirgl schreibt am 12. Juni 1998 in einem Brief an Friedhelm Rathjen: Joyce sei – »jedenfalls bis zum ›Ulysses‹« – einer jener Motoren, die mein Schreibgehirn ordentlich in Fahrt gebracht haben, und er bzw. sein Werk war zu einer Zeit, als ich angefangen habe, mit dem Schreiben ernst zu
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ten Anfängerzeit« (ebd. S. 51) am stärksten beeindruckt habe: »Ich nehme an, mich erfrischte bei Joyce nicht nur nebenbei, sondern ganz wesentlich, daß er mir wie ein Widerstandsschreiber vorkam. Die Rebellion gegen konventionelle Pflichtschuldigkeit, ausgeübt in einem Prosawerk, die mußte bei mir einschlagen. […] Daß James Joyce gute behäbige Erzählsitten zertrümmert hat, das souverän Verhöhnende vom Althergebrachten, seine neuen Spielregeln für den inneren Monolog, die Tabuzerstörung des Ulysses, das alles hat mich gewiß am meisten entzückt« (ebd. S. 48f.). Vgl. auch Weninger: The Institutionalization of ›Joyce‹, S. 52f. Desgleichen mag eine Untersuchung der Mediengrenzen überschreitenden Joyce-Rezeption ein ebenso ertragreiches wie spannendes Unterfangen sein, als deren prominentester englischer Vertreter John Cage (etwa mit seinen fünf ›Writings through Finnegans Wake‹ wie ›Muoyce‹) zu nennen ist; in Deutschland schöpften etwa Bernd Aloys Zimmermann (mit dem ›Requiem für einen jungen Dichter‹ (1967–69)) oder Hans G. Helms (mit der experimentellen Sprach-Musik-Komposition ›Fa:m’ Ahniesgwow‹ (1959/60)) aus dem musikalischen Potential besonders von Joyce letzten Sprachkunstwerk, während der Regisseur Werner Nekes mit seinem Film ›Uliisses‹ (1982) das Motiv der ins 20. Jahrhundert verlegten odysseischen Reise des ›Ulysses‹ aufgreift. An diesen und zahlreichen weiteren Beispielen würde sich herausarbeiten lassen, wie stark und produktiv die Anregung durch die Werke Joyce, die ja per se auf eine Überschreitung von Mediengrenzen hindrängen, auch für Musik und Film war – und auf welche Weise die jeweilige intermediale Transformation geleistet wurde. Aber auch bildkünstlerische Arbeiten zehren von der Inspiration der Prosa des Iren – wie es die 2004 in einer Ausstellung im Wiener Atelier Augarten unter dem Titel ›Die unausweichliche Modalität des Sichtbaren. Der Roman von James Joyce in der zeitgenössischen Kunst‹ versammelten Werke bewiesen.
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machen, ein Mutspender ohnegleichen. Er (und einige andere, darunter Döblin) haben mir=Anfänger beim Lesen gezeigt, was auf einem Blatt Papier alles möglich ist und möglich sein kann!, und daß das Muthaben zu den eigenen Ideen überhaupt das Wichtigste für einen Schriftsteller ist, egal, was der akademische Rest davon halten mag. Das, können Sie sich denken, ist alles andere als eine Kleinigkeit für einen Schreibanfänger, noch dazu für einen, der im Osten lebte.153
Jirgls emphatisches Bekenntnis belegt die ungebrochene Begeisterung junger Romanautoren für ein Experiment, das nun beinahe ein Jahrhundert zurückliegt. Damit tritt die bemerkenswerte Kontinuität gegenüber der Faszination Döblins, Jahnns und Brochs für Joyce »Erweiterung des Sehens und Empfindens« zutage:154 »Joyce’s novel served both as a literary case-book and as a spiritual inspiration. Authors not only learned from Joyce, they also gained courage from his example.«155 Mehr noch als ein Kompendium stilbildender technischer Innovationen ist der Roman »Motor« und »Mutspender« für die Nachgeborenen, ein fortwirkender Ansporn für die »Radikalität der Entscheidung, etwas je Eigenes zu machen«.156 Joyce ›Ulysses‹ scheint auch nach 1945, in einem dramatisch veränderten Epochenkontext, nichts von seiner Rolle als Katalysator und Ermutigung für Prosaisten, den fluktuierenden »Weltalltag« mit avancierten technischen Mitteln abzubilden, eingebüßt zu haben.
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Reinhard Jirgl: Brief an Friedhelm Rathjen vom 12. Juni 1998, zit. n. Friedhelm Rathjen: Weites Feld, dünn besiedelt. Zur Wirkung Arno Schmidts auf Schriftstellerkollegen, in: ders.: Dritte Wege. Kontexte für Arno Schmidt und James Joyce, Scheeßel 2005, S. 153–164, hier S. 162f. Jahnn: Über den Anlaß, S. 259. Mitchell: James Joyce and the German Novel 1922–1933, S. 90. Rathjen: Weites Feld, dünn besiedelt, S. 163.
7.
Literaturverzeichnis
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B
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Die Fremden. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe I: Romane, Erzählungen, Gedichte, Juvenilia. Studienausgabe Bd. 4. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1987. S. 497–576. – Die Gelehrtenrepublik. Kurzroman aus den Roßbreiten. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe I. Romane, Erzählungen, Gedichte, Juvenilia. Studienausgabe Bd. 2. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1987. S. 221–351. – Die Umsiedler. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe I: Romane, Erzählungen, Gedichte, Juvenilia. Studienausgabe Bd. 1. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1987. S. 261–297. – Dr. Mac Intosh: . In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe I: Romane, Erzählungen, Gedichte, Juvenilia. Studienausgabe Bd. 3. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1987. S. 399–421. – Goethe, und einer seiner Bewunderer. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe I: Romane, Erzählungen, Gedichte, Juvenilia. Studienausgabe Bd. 2. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1987. S. 189–220. – Großer Kain. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe I: Romane, Erzählungen, Gedichte, Juvenilia. Studienausgabe Bd. 3. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1987. S. 351–367. – Herbstliche Nacht. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe I. Romane, Erzählungen, Gedichte, Juvenilia. Studienausgabe Bd. 4. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1987. S. 144. – Julia, oder die Gemälde. Scenen aus dem Novecento. Zürich 1992 (Bargfelder Ausgabe IV/4). – Kaff auch Mare Crisium. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe I: Romane, Erzählungen, Gedichte, Juvenilia. Studienausgabe Bd. 3. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1987. S. 7–277. – Leviathan. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe I: Romane, Erzählungen, Gedichte, Juvenilia. Studienausgabe Bd. 1. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1987. S. 33–54. – Schritte in der Nachtstille. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe I: Romane, Erzählungen, Gedichte, Juvenilia. Studienausgabe Bd. 4. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1987. S. 143. – Zettels Traum. Frankfurt a.M. 2002.
UWE JOHNSON Johnson, Uwe: Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt a.M. 1996 (edition suhrkamp 3322). – Mutmassungen über Jakob. Roman. Frankfurt a.M. 1992 (edition suhrkamp 1818, NF 818). – Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Mit einem Nachwort von Siegfried Unseld. Frankfurt a.M. 1992 (edition suhrkamp 1817, NF 817). – Jahrestage 1–4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Frankfurt a.M. 1993 (edition suhrkamp 1822–1825, NF 822–825).
WOLFGANG HILDESHEIMER Hildesheimer, Wolfgang: Die letzten Zettel. In: Text+Kritik 89/90 (Januar 1986): Wolfgang Hildesheimer. S. 8–18. – Die Suche nach der Wahrheit. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hg.
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v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle. Bd. I: Erzählende Prosa. Frankfurt a.M. 1991. S. 26f. – Frankfurter Poetik-Vorlesungen [1967]. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle. Bd. VII: Vermischte Schriften. Frankfurt a.M. 1991. S. 43–99. – Masante. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle. Bd. II: Monologische Prosa. Tynset. Masante. Frankfurt a.M. 1991. S. 155–366. – Monolog. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle. Bd. V: Hörspiele. Frankfurt a.M. 1991. S. 331–364. – Schläferung. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle. Bd. I: Erzählende Prosa. Frankfurt a.M. 1991. S. 140–153. – Tynset. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle. Bd. II: Monologische Prosa. Tynset. Masante. Frankfurt a.M. 1991. S. 7–153. – Über das absurde Theater [1960]. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle. Bd. VII: Vermischte Schriften. Frankfurt a.M. 1991. S. 13–26.
SONSTIGE Andersch, Alfred: Die Kunst ist kein Schulzimmer. In: Ders.: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Kommentierte Ausgabe. Hg. v. Dieter Lamping. Bd. 8: Essayistische Schriften I. Zürich 2004. S. 327–332. Barnes, Djuna: Vagaries Malicieuses. In: Barnes, Paris, Joyce, Paris. Übers. v. Karin Kersten. Berlin 1988. S. 9–46. Carroll, Lewis: Sylvie and Bruno. London/New York 1889. Döblin, Alfred: Berge Meere und Giganten. Olten/Freiburg i. Breisgau 1977 (Alfred Döblin Jubiläums-Sonderausgabe zum hundertsten Geburtstag des Dichters). Dos Passos, John: The 42nd Parallel. In: Ders.: U.S.A. London 1966. S. 119–341. Eliot, T[homas] S[tearns]: Order and Myth. In: The Dial LXXV (November 1923). S. 480–483. – The Waste Land. In: Ders.: Selected Poems. London 1961. S. 49–93. Frisch, Max: Tagebuch 1966–1971. Frankfurt a.M. 1972. Grass, Günter: Die Blechtrommel. In: Ders.: Werkausgabe in zehn Bänden. Hg. v. Volker Neuhaus. Bd. 2: Die Blechtrommel. Hg. v. Volker Neuhaus. Darmstadt/Neuwied 1987. Hemingway, Ernest: The Sun also Rises. In: Ders.: Three Novel of Ernest Hemingway. New York 1962. S. 3–247. Heym, Georg: Der Krieg [1911]. In: Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus. Mit Biographien und Bibliographien neu hg. v. Kurt Pinthus. Reinbek b. Hamburg 1959 (Rowohlts Klassiker der Literatur und der Wissenschaft. Deutsche Literatur 4). S. 79f. Joyce, Stanislaus: Das Dubliner Tagebuch des Stanislaus Joyce. Übers. v. Arno Schmidt. Frankfurt a.M. 1964. – Meines Bruders Hüter. Übers. v. Arno Schmidt. Frankfurt a.M. 1960. Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. Stuttgart 1987. Proust, Marcel: Le temps retrouvé. In: Ders.: À la recherche du temps perdu. 4. Bde. Hg. v. Jean Yves Tadié. Paris 1987–1989. Bd. IV: Albertine disparue, Le Temps retrouvé. Paris 1989. S. 273–625.
460
Rilke, Rainer Maria: Herbsttag. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. I: Gedichte. Erster Teil. Hg. v. Rilke-Archiv i. Verbindung m. Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn. Frankfurt a.M. 1955. S. 398. Stramm, August: Schlachtfeld. In: Ders.: Die Dichtungen. Sämtliche Gedichte, Dramen, Prosa. Hg. u. m. einem Nachwort versehen v. Jeremy Adler. München/Zürich 1990. S. 83. – Traum. In: Ders.: Die Dichtungen. Sämtliche Gedichte, Dramen, Prosa. Hg. u. m. einem Nachwort versehen v. Jeremy Adler. München/Zürich 1990. S. 40. Tucholsky, Kurt: Ankunft. In: Ders.: Gesamtausgabe. Werke und Briefe. Hg. v. Antje Bonitz u.a. Bd. 10: Texte 1928. Hg. v. Ute Maack. Reinbek b. Hamburg 2001. S. 372–374. – Das Stimmengewirr. In: Ders.: Gesamtausgabe. Werke und Briefe. Hg. v. Antje Bonitz u.a. Bd. 13: Texte 1930. Hg. v. Sascha Kiefer. Reinbek b. Hamburg 2003. S. 229–231. – Es reut das Lottchen. In: Ders.: Gesamtausgabe. Werke und Briefe. Hg. v. Antje Bonitz u.a. Bd. 14: Texte 1931. Hg. v. Sabina Becker. Reinbek b. Hamburg 1998. S. 100–102. – Herr Wendriner kann nicht einschlafen. In: Ders.: Gesamtausgabe. Werke und Briefe. Hg. v. Antje Bonitz u.a. Bd. 8: Texte 1926. Hg. v. Gisela Enzmann-Kraiker u. Christa Wetzel. Reinbek b. Hamburg 2004. S. 186–188. – Lottchen beichtet 1 Geliebten. In: Ders.: Gesamtausgabe. Werke und Briefe. Hg. v. Antje Bonitz u.a. Bd. 14: Texte 1931. Hg. v. Sabina Becker. Reinbek b. Hamburg 1998. S. 32–34. – Lottchen besucht einen tragischen Film. In: Ders.: Gesamtausgabe. Werke und Briefe. Hg. v. Antje Bonitz u.a. Bd. 11: Texte 1929. Hg. v. Ute Maack u. Victor Otto. Reinbek b. Hamburg 2005. S. 403–407. – Lottchen wird saniert. In: Ders.: Gesamtausgabe. Werke und Briefe. Hg. v. Antje Bonitz u.a. Bd. 14: Texte 1931. Hg. v. Sabina Becker. Reinbek b. Hamburg 1998. S. 87–91.
7.3
Interviews, Essays, Reden, Briefe, Dialoge
JAMES JOYCE Joyce, James: Letters of James Joyce. Bd. I. Hg. v. Stuart Gilbert. London 1959.
WOLFGANG KOEPPEN Koeppen, Wolfgang: Alfred Döblin oder Die lange Flucht. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Dagmar von Briel, Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt a.M. 1990. Bd. VI: Essays und Rezensionen. S. 231–239. – Bericht aus Bonn. In: Ders.: »Einer der schreibt«. Gespräche und Interviews. Hg. v. Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt a.M. 1995 (suhrkamp taschenbuch 2450). S. 203– 207. – Das Buch ist die erste und die letzte Fassung. In: Ders.: »Einer der schreibt«. Gespräche und Interviews. Hg. v. Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt a.M. 1995 (suhrkamp taschenbuch 2450). S. 229–240. – Das gute Recht, zu schweigen. Gespräch mit dem Schriftsteller Wolfgang Koeppen. In: Literaricum 4 (1984). S. 38–49. – Der geborene Leser, für den ich mich halte... In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Dagmar von Briel, Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt a.M. 1990. Bd. V: Berichte und Skizzen II. S. 322–329.
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Der mehr schwache als starke Mensch. Ein Versuch über Hans Henny Jahnn und seinen Roman ›Perrudja‹. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Dagmar von Briel, Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt a.M. 1990. Bd. VI: Essays und Rezensionen. S. 13–18. Deutsche Expressionisten oder Der ungehorsame Mensch. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Dagmar von Briel, Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt a.M. 1990. Bd. VI: Essays und Rezensionen. S. 263–273. Die elenden Skribenten. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Dagmar von Briel, Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt a.M. 1990. Bd. V: Berichte und Skizzen II. S. 231–235. Die Last der verlorenen Jahre. In: Ders.: »Einer der schreibt«. Gespräche und Interviews. Hg. v. Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt a.M. 1995 (suhrkamp taschenbuch 2450). S. 208–220. Ein Bruder der Massen war er nicht. Über Uwe Johnson (Zum Tod von Uwe Johnson am 24. Februar 1984). In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Dagmar von Briel, Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt a.M. 1990. Bd. VI: Essays und Rezensionen. S. 426–429. Eine schöne Zeit der Not. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Dagmar von Briel, Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt a.M. 1990. Bd. V: Berichte und Skizzen II. S. 310–321. Einsam durch die Jahre. In: Ders.: »Einer der schreibt«. Gespräche und Interviews. Hg. v. Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt a.M. 1995 (suhrkamp taschenbuch 2450). S. 188–193. Eisenstein und Babel. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Dagmar von Briel, Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt a.M. 1990. Bd. VI: Essays und Rezensionen. S. 253–262. Er schreibt über mich, also bin ich. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Dagmar von Briel, Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt a.M. 1990. Bd. V: Berichte und Skizzen II. S. 349–351. Flaubert. Eine Neugeburt. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Dagmar von Briel, Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt a.M. 1990. Bd. VI: Essays und Rezensionen. S. 118–123. Flaubert. November. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Dagmar von Briel, Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt a.M. 1990. Bd. VI: Essays und Rezensionen. S. 123–127. Franz Kafka oder Ein Denken, eine Angst, ein Herzschlag. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Dagmar von Briel, Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt a.M. 1990. Bd. VI: Essays und Rezensionen. S. 240–242. Gedanken und Gedenken. Über Arno Schmidt. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Dagmar von Briel, Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt a.M. 1990. Bd. VI: Essays und Rezensionen. S. 418–425. Gespräch mit Wolfgang Koeppen. In: Heinz Ludwig Arnold: Gespräche mit Schriftstellern. München 1975. S. 109–141. Hermann Kesten. Im Kampf für ein bürgerliches Vorurteil. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Dagmar von Briel, Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt a.M. 1990. Bd. VI: Essays und Rezensionen. S. 399–404. Ich bin ein Mensch ohne Lebensplan. In: Ders.: »Einer der schreibt«. Gespräche und Interviews. Hg. v. Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt a.M. 1995 (suhrkamp taschenbuch 2450). S. 144–154. Ich habe nichts gegen Babylon. In: Ders.: »Einer der schreibt«. Gespräche und Interviews. Hg. v. Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt a.M. 1995 (suhrkamp taschenbuch 2450). S. 116–131.
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Kaum gelesen, gepriesen und verdammt. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Dagmar von Briel, Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt a.M. 1990. Bd. VI: Essays und Rezensionen. S. 335–338. Marcel Proust und die Summe der Sensibilität. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Dagmar von Briel, Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt a.M. 1990. Bd. VI: Essays und Rezensionen. S. 175–180. Mein Freund Alfred Andersch. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Marcel ReichRanicki, Dagmar von Briel, Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt a.M. 1990. Bd. VI: Essays und Rezensionen. S. 391–398. Mein Zuhause waren die großen Städte. In: Ders.: »Einer der schreibt«. Gespräche und Interviews. Hg. v. Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt a.M. 1995 (suhrkamp taschenbuch 2450). S. 262–267. Ohne Absicht. Gespräch mit Marcel Reich-Ranicki in der Reihe »Zeugen des Jahrhunderts«. Hg. v. Ingo Hermann. Göttingen 1994. Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1962. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Dagmar von Briel, Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt a.M. 1990. Bd. V: Berichte und Skizzen II. S. 253–261. Robert Musil oder Ein erschreckendes Gebirge. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Dagmar von Briel, Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt a.M. 1990. Bd. VI: Essays und Rezensionen. S. 204–206. Schreiben als Zustand. Gespräch mit Wolfgang Koeppen. In: Christian Linder: Schreiben & Leben: Gespräche mit Jürgen Becker, Peter Handke, Walter Kempowski, Wolfgang Koeppen, Günter Wallraff, Dieter Wellershoff. Köln 1974. S. 61–79. Sein Leben – lauter Wunder. Max Tau und das Land, das er verlassen mußte. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Dagmar von Briel, HansUlrich Treichel. Frankfurt a.M. 1990. Bd. VI: Essays und Rezensionen. S. 355–357. Selbstanzeige. In: Ders.: »Einer der schreibt«. Gespräche und Interviews. Hg. v. HansUlrich Treichel. Frankfurt a.M. 1995 (suhrkamp taschenbuch 2450). S. 30–40. Umwege zum Ziel. Eine autobiographische Skizze. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Dagmar von Briel, Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt am Main 1990. Bd. V: Berichte und Skizzen II. S. 250–252. Vom Tisch. In: Text+Kritik 34 (April 1972): Wolfgang Koeppen. S. 1–13. Von Myrons Kuh und des Gelehrten Affen. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Dagmar von Briel, Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt a.M. 1990. Bd. VI: Essays und Rezensionen. S. 57–60. Wahn. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Dagmar von Briel, Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt a.M. 1990. Bd. V: Berichte und Skizzen II. S. 244–248. Warum nicht in den Rhein? In: Ders.: »Einer der schreibt«. Gespräche und Interviews. Hg. v. Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt a.M. 1995 (suhrkamp taschenbuch 2450). S. 134–143. Was ist neu am Neuen Roman? In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Marcel ReichRanicki, Dagmar von Briel, Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt a.M. 1990. Bd. VI: Essays und Rezensionen. S. 363–367. Werkstattgespräch. In: Ders.: »Einer der schreibt«. Gespräche und Interviews. Hg. v. Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt a.M. 1995 (suhrkamp taschenbuch 2450). S. 20–29. Zeit des Steppenwolfs. In: Ders.: »Einer der schreibt«. Gespräche und Interviews. Hg. v. Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt am Main 1995 (suhrkamp taschenbuch 2450). S. 167–175. Zola und die Moderne. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Dagmar von Briel, Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt a.M. 1990. Bd. VI: Essays und Rezensionen. S. 128–139.
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Zur Resignation neige ich sehr. In: Ders.: »Einer der schreibt«. Gespräche und Interviews. Hg. v. Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt a.M. 1995 (suhrkamp taschenbuch 2450). S. 41–53.
ARNO SCHMIDT Schmidt, Arno: ›Sind wir noch ein Volk der Dichter & Denker ?‹. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 4: Essays und Aufsätze 2. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 311–321. – »›W a h r h e i t‹ – ?«, seggt Pilatus und grifflacht….. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 4: Essays und Aufsätze 2. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 234–240. – »Wu Hi?« Arno Schmidt in Görlitz Lauban Greiffenberg. Hg. v. Jan Philipp Reemtsma und Bernd Rauschenbach. Frankfurt a.M. 1995. – Alas, poor Yorick ! In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 4: Essays und Aufsätze 2. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 271–278. – An Uffz. Werner Murawski. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 3: Essays und Aufsätze 1. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 49–61. – Arno-Schmidt-Brief-Edition. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Bd. I: Der Briefwechsel mit Alfred Andersch. Hg. v. Bernd Rauschenbach. Zürich 1985. – Arno-Schmidt-Brief-Edition. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Bd. II: Der Briefwechsel mit Wilhelm Michels. Hg. v. Bernd Rauschenbach. Zürich 1987. – Bedeutend; aber... In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 3: Essays und Aufsätze 1. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 495–500. – Begegnung mit Fouqué. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 3: Essays und Aufsätze 1. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 421–428. – Berechnungen I. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 3: Essays und Aufsätze 1. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 163–168. – Berechnungen II. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 3: Essays und Aufsätze 1. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 275–284. – Berechnungen III. In: Ders.: Das essayistische Werk zur deutschen Literatur in 4 Bänden. Sämtliche Nachtprogramme und Aufsätze. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1988. Bd. 4. S. 364–347. – Berechnungen. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 3: Essays und Aufsätze 1. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 101–106. – Brief an Ernst Krawehl vom 26.3.1958. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe I: Romane, Erzählungen, Gedichte, Juvenilia. Studienausgabe Bd. 4. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1987. S. 636. – Dankadresse zum Goethepreis 1973. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 4: Essays und Aufsätze 2. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 462–466. – Das Buch Jedermann. James Joyce zum 25. Todestage. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe II: Dialoge Bd. 3. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1991. S. 448–478.
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Das Buch Jedermann. James Joyce zum 25. Todestage. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 3: Essays und Aufsätze 1. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 231–256. Das Geheimnis von ›Finnegans Wake‹. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 4: Essays und Aufsätze 2. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 32–54. Das Geheimnis von Finnegans Wake. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe II: Dialoge Bd. 2. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1990. S. 433–474. Der Bogen des Odysseus. Notwendige Berichtigung der Behauptung, daß ein Deutscher ihn neulich gespannt hätte. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe II: Dialoge Bd. 2. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1990. S. 7–30. Arno-Schmidt-Brief-Edition. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Bd. III: Der Briefwechsel mit Eberhard Schlotter. Hg. v. Bernd Rauschenbach. Zürich 1991. Der Fall Ascher. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 4: Essays und Aufsätze 2. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 351–360. Der Mimus von Mir, Dir & den Mädies. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 4: Essays und Aufsätze 2. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 369–372. Der Schriftsteller und die Politik. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 3: Essays und Aufsätze 1. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 327–329. Der Triton mit dem Sonnenschirm. (Überlegungen zu einer Lesbarmachung von Finnegans Wake). In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe II: Dialoge Bd. 3. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1991. S. 31–70. Dichter & ihre Gesellen : Jules Verne. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 4: Essays und Aufsätze 2. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 413–425. Dichter und ihre Gesellen. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 3: Essays und Aufsätze 1. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 285–291. Dichtung und Dialekt. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 3: Essays und Aufsätze 1. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 350–352. Die 10 Kammern des Blaubart. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 4: Essays und Aufsätze 2. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 108–114. Die Handlungsreisenden. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 3: Essays und Aufsätze 1. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 254–258. Die Pflicht des Lesers. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 3: Essays und Aufsätze 1. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 190f. Du bist Orplid, mein Land. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 3: Essays und Aufsätze 1. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 238–240. Gesegnete Majuskeln. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 3: Essays und Aufsätze 1. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 107–108. Hat unsere Jugend noch Ideale ? In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III:
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Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 3: Essays und Aufsätze 1. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 475f. Herrn H. J. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 3: Essays und Aufsätze 1. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 42–47. In Sachen Arno Schmidt ./. Prozesse 1 & 2. Hg. v. Jan Philipp Reemtsma u. Georg Eyring. Zürich 1988. Jenseits von Forschung und Textkritik. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 4: Essays und Aufsätze 2. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 78–86. Kaleidoskopische Kollidier=Eskapaden. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 4: Essays und Aufsätze 2. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 115–129. Literatur : Tradition oder Experiment. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 3: Essays und Aufsätze 1. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 338–341. Meine Bibliothek. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 4: Essays und Aufsätze 2. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 361–368. Nachwort zu Coopers »Conanchet«. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 4: Essays und Aufsätze 2. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 130–137. Niemandes Betulichkeit. Eine Betrachtung zur deutschen Übersetzung von Ellmanns Joyce=Biographie. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 4: Essays und Aufsätze 2. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 170–178. Noch einmal ›Ulysses in Deutschland‹. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 3: Essays und Aufsätze 1. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 396f. Schutzrede für ein graues Neutrum. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 4: Essays und Aufsätze 2. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 347–350. Seifenblasen und nordisches Gemähre. (Eindrücke von einer neuen SCHEERBART=Ausgabe). In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 4: Essays und Aufsätze 2. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 241–245. Stigma der Mittelmäßigkeit. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 3: Essays und Aufsätze 1. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 295–297. Sylvie & Bruno. Dem Vater der modernen Literatur ein Gruß ! In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 4: Essays und Aufsätze 2. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 246–264. Über die Arbeitsweise Edgar Allan Poe’s. (1. Abhandlung). In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 4: Essays und Aufsätze 2. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 373–388. Ulysses in Deutschland. (Zum 75. Geburtstage von James Joyce). In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biografisches. Studienausgabe Bd. 3: Essays und Aufsätze 1. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1995. S. 374–380. Wieland oder die Prosaformen. In: Ders.: Das essayistische Werk zur deutschen Literatur in 4 Bänden. Sämtliche Nachtprogramme und Aufsätze. Hg. v. der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1988. Bd. 4. S. 297–308.
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UWE JOHNSON »Die Katze Erinnerung«. Uwe Johnson – Eine Chronik in Briefen und Bildern. Zusammengestellt von Eberhard Fahlke. Frankfurt a.M. 1994. Baumgart, Reinhard: Uwe Johnson im Gespräch [Am 2.8.1967 in München]. In: »Ich überlege mir die Geschichte...«. Uwe Johnson im Gespräch. Hg. v. Eberhard Fahlke. Frankfurt a.M. 1988 (edition suhrkamp 1440). S. 219–230. Becker, Jürgen, Rolf Michaelis u. Heinrich Vormweg: »Gespräch mit Uwe Johnson« [Am 8. Dezember 1983 in Köln]. In: »Ich überlege mir die Geschichte...«. Uwe Johnson im Gespräch. Hg. v. Eberhard Fahlke. Frankfurt a.M. 1988 (edition suhrkamp 1440). S. 300–312. Bienek, Horst: Werkstattgespräch mit Uwe Johnson [Am 3.–5.1.1962 in West-Berlin], In: »Ich überlege mir eine Geschichte...«. Uwe Johnson im Gespräch. Hg. v. Eberhard Fahlke. Frankfurt a.M. 1988 (edition suhrkamp 1440). S. 194–207. Bronnen, Barbara: »Beauftragt, Eindrücke festzustellen« [Ein Gespräch mit dem Schriftsteller und Büchner-Preisträger Uwe Johnson (Am 30.11.1971 in Erlangen)]. In: »Ich überlege mir die Geschichte...«. Uwe Johnson im Gespräch. Hg. v. Eberhard Fahlke. Frankfurt a.M. 1988 (edition suhrkamp 1440). S. 257–262. Bruck, Werner: »Ein Bauer weiß, daß es ein Jahr nach dem andern gibt.« [Interview mit Uwe Johnson (Am 24.4.1975 in Köln)]. In: »Ich überlege mir die Geschichte...«. Uwe Johnson im Gespräch. Hg. v. Eberhard Fahlke. Frankfurt a.M. 1988 (edition suhrkamp 1440). S. 268–272. Durzak, Manfred: Dieser langsame Weg zu einer größeren Genauigkeit. Gespräch mit Uwe Johnson. In: Ders.: Gespräche über den Roman. Formbestimmungen und Analysen. Frankfurt a.M. 1976. S. 428–460. Gröhler, Harald: »Ich fabriziere keinen Text, ich schreibe ihn.« [Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Uwe Johnson (Am 19.11.1970 in Köln)], In: »Ich überlege mir die Geschichte...«. Uwe Johnson im Gespräch. Hg. v. Eberhard Fahlke. Frankfurt a.M. 1988 (edition suhrkamp 1440). S. 250–252. Halstenberg, Armin: »Dichter sollte man nicht stören« [Heute am Telefon: Uwe Johnson (Am 19.7.1969 in West-Berlin)]. In: »Ich überlege mir die Geschichte...«. Uwe Johnson im Gespräch. Hg. v. Eberhard Fahlke. Frankfurt a.M. 1988 (edition suhrkamp 1440). S. 231–233. Johnson, Uwe/Unseld, Siegfried: Uwe Johnson – Siegfried Unseld. Der Briefwechsel, hg. v. Eberhard Fahlke u. Raimund Fellinger. Frankfurt a.M. 1999. Johnson, Uwe: [o.T.] [1971], in: Büchner-Preis-Reden 1951–1971. M. e. Vorwort von Ernst Johann. Stuttgart 1972. S. 217–240. – [o.T.]. In: Erste Lese-Erlebnisse. Hg. v. Siegfried Unseld. Frankfurt a.M. 1975 (suhrkamp taschenbuch 250). S. 107–110. – »...habe aber nie die Absicht gehabt, durch Parteischriften den Tageslärm zu vermehren.« In: »Ich überlege mir die Geschichte...«. Uwe Johnson im Gespräch. Hg. v. Eberhard Fahlke. Frankfurt a.M. 1988 (edition suhrkamp 1440). S. 72–75. – »Die Rückwendung zum erzählerischen Ich, sie hat mich verfehlt«. In: »Ich überlege mir die Geschichte...«. Uwe Johnson im Gespräch. Hg. v. Eberhard Fahlke. Frankfurt a.M. 1988 (edition suhrkamp 1440). S. 157. – »Ein verkannter Humorist«. Gespräch mit A. Leslie Willson [Am 20. April 1982 in Sheerness-on-Sea)]. In: »Ich überlege mir die Geschichte...«. Uwe Johnson im Gespräch. Hg. v. Eberhard Fahlke. Frankfurt a.M. 1988 (edition suhrkamp 1440). S. 281–299. – »Leaving Leipsic next week«. Briefe an Jochen Ziem / Texte von Jochen Ziem. Hg. u. eingel. v. Erdmut Wizisla. Berlin 2002. – »Mir ist gelegen an Fairness«. Erklärung von Uwe Johnson auf der Pressekonferenz
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des Suhrkamp Verlages am 5. Dezember 1961. In: Deutsche Zeitung mit Wirtschaftszeitung (Köln) Nr. 283 (7.12.1961). S. 14. – »Nach dem Lehrplan für die Oberschulen in Mecklenburg«. In: »Ich überlege mir die Geschichte...«. Uwe Johnson im Gespräch. Hg. v. Eberhard Fahlke. Frankfurt a.M. 1988 (edition suhrkamp 1440). S. 166. – »Zur Auslassung von Satzzeichen«. In: »Ich überlege mir die Geschichte...«. Uwe Johnson im Gespräch. Hg. v. Eberhard Fahlke. Frankfurt a.M. 1988 (edition suhrkamp 1440). S. 158f. – Auskünfte und Abreden zu Zwei Ansichten [Interview]. In: »Ich überlege mir die Geschichte...«. Uwe Johnson im Gespräch. Hg. v. Eberhard Fahlke. Frankfurt a.M. 1988 (edition suhrkamp 1440). S. 86–89. – Begegnung mit Thomas Mann. In: »Ich überlege mir die Geschichte...«. Uwe Johnson im Gespräch. Hg. v. Eberhard Fahlke. Frankfurt a.M. 1988 (edition suhrkamp 1440). S. 76. – Berliner Stadtbahn. In: Ders.: Berliner Sachen. Aufsätze. Frankfurt a.M. 1957 (suhrkamp taschenbuch 249). S. 7–21. – Einer meiner Lehrer [1967]. In: Ders.: Porträts und Erinnerungen. Hg. v. Eberhard Fahlke. Frankfurt a.M. 1988 (edition suhrkamp 1499, NF 499). S. 13–22. – Ich über mich. Vorstellung bei der Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. In: Die Zeit (4.11.1977). – Lübeck habe ich ständig beobachtet. In: »Ich überlege mir die Geschichte...«. Uwe Johnson im Gespräch. Hg. v. Eberhard Fahlke. Frankfurt a.M. 1988 (edition suhrkamp 1440). S. 79–85. – MARIE H. CRESSPAHL, 2.–3. Januar 1972. In: »Ich überlege mir die Geschichte...«. Uwe Johnson im Gespräch. Hg. v. Eberhard Fahlke. Frankfurt a.M. 1988 (edition suhrkamp 1440). S. 90–110. – Wenn Sie mich fragen… (Ein Vortrag) [1975]. In: »Ich überlege mir die Geschichte...«. Uwe Johnson im Gespräch. Hg. v. Eberhard Fahlke. Frankfurt a.M. 1988 (edition suhrkamp 1440). S. 51–64 [zuerst unter dem Titel: Vorschläge zur Prüfung eines Romans. In: Romantheorie. Dokumentation ihrer Geschichte in Deutschland seit 1880. Hg. v. Eberhard Lämmert u.a. Würzburg 1975. S. 398–403]. – Wie es zu den Jahrestagen gekommen ist. In: »Ich überlege mir die Geschichte...«. Uwe Johnson im Gespräch. Hg. v. Eberhard Fahlke. Frankfurt a.M. 1988 (edition suhrkamp 1440). S. 65–71. Meyer, Martin/Strehlow, Wolfgang: »Das sagt mir auch mein Friseur«. Film- und Fernsehäußerungen von Uwe Johnson. In: Sprache im technischen Zeitalter 23 (1985). S. 170–182. Neusüß, Anselm: Über die Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit [Gespräch mit Uwe Johnson. Am 10.9.1961 in West-Berlin]. In: »Ich überlege mir die Geschichte...«. Uwe Johnson im Gespräch. Hg. v. Eberhard Fahlke. Frankfurt a.M. 1988 (edition suhrkamp 1440). S. 184–193. Osterle, Heinz D.: Todesgedanken? Gespräch mit Uwe Johnson über die »Jahrestage«. In: Internationales Uwe-Johnson-Forum 1 (1989). S. 137–168. Post-Adams, Ree: Antworten von Uwe Johnson [Ein Gespräch mit dem Autor (Am 26.2.1976 in San Franzisko)]. In: »Ich überlege mir die Geschichte...«. Uwe Johnson im Gespräch. Hg. v. Eberhard Fahlke. Frankfurt a.M. 1988 (edition suhrkamp 1440). S. 273–280. Prangel, Matthias: Gespräch mit Uwe Johnson [Am 6.3.1974 in Rotterdam]. In: »Ich überlege mir die Geschichte...«. Uwe Johnson im Gespräch. Hg. v. Eberhard Fahlke. Frankfurt a.M. 1988 (edition suhrkamp 1440). S. 263–267, hier S. 263.
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Roloff, Michael: Gespräch mit Uwe Johnson [Am 20.8.1961 in New York]. In: »Ich überlege mir die Geschichte...«. Uwe Johnson im Gespräch. Hg. v. Eberhard Fahlke. Frankfurt a.M. 1988 (edition suhrkamp 1440). S. 171–183. Rummel, Alois: Gespräch mit Uwe Johnson [Am 18.6.1964 in West-Berlin]. In: »Ich überlege mir die Geschichte...«. Uwe Johnson im Gespräch. Hg. v. Eberhard Fahlke. Frankfurt a.M. 1988 (edition suhrkamp 1440). S. 208–211. Schmid, Christof: Gespräch mit Uwe Johnson [Am 29.7.1971 in West-Berlin]. In: »Ich überlege mir die Geschichte...«. Uwe Johnson im Gespräch. Hg. v. Eberhard Fahlke. Frankfurt a.M. 1988 (edition suhrkamp 1440). S. 253–256. Schwarz, Wilhelm J.: Gespräche mit Uwe Johnson [Am 10.7.1969 in West-Berlin]. In: »Ich überlege mir die Geschichte...«. Uwe Johnson im Gespräch. Hg. v. Eberhard Fahlke. Frankfurt a.M. 1988 (edition suhrkamp 1440). S. 234–247. Stahlberg, Peter Michael u. Ulrich Schmitz: Begegnung mit Uwe Johnson [Am 26.10.1965 in Essen]. In: »Ich überlege mir die Geschichte...«. Uwe Johnson im Gespräch. Hg. v. Eberhard Fahlke. Frankfurt a.M. 1988 (edition suhrkamp 1440). S. 213–216. Tailleur, Jean: »Uwe Johnson: Deux Ans après le Prix Formentor.« In: Les Lettres Françaises (1.–7. Oktober 1964). S. 7. Wiemers, Adalbert: Keine Mutmaßungen über Johnson mehr [Ein VORWÄRTS-Gespräch. (Am 15.1.1966 in West-Berlin)]. In: »Ich überlege mir die Geschichte...«. Uwe Johnson im Gespräch. Hg. v. Eberhard Fahlke. Frankfurt a.M. 1988 (edition suhrkamp 1440). S. 217f.
WOLFGANG HILDESHEIMER Durzak, Manfred: Ich kann über nichts anderes schreiben als über ein potentielles Ich. Gespräch mit Wolfgang Hildesheimer. In: Ders.: Gespräche über den Roman. Mit Joseph Breitbach, Elias Canetti, Heinrich Böll, Siegfried Lenz, Hermann Lenz, Wolfgang Hildesheimer, Peter Handke, Hans Erich Nossack, Uwe Johnson, Walter Höllerer. Formbestimmungen und Analysen. Frankfurt a.M. 1976 (suhrkamp taschenbuch 318). S. 271–295. Hildesheimer, Wolfgang/Jens, Walter: Selbstanzeige. In: Wolfgang Hildesheimer. Hg. v. Volker Jehle. Frankfurt a.M. 1989 (suhrkamp taschenbuch materialien 2103). S. 228–239. – ›Nachwort zu Djuna Barnes: »Nachtgewächs«‹ [1971]. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle. Bd. VII: Vermischte Schriften. Frankfurt a.M. 1991. S. 355–358. – ›Samuel Beckett: »Auswahl in einem Band«‹ [1967]. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle. Bd. VII: Vermischte Schriften. Frankfurt a.M. 1991. S. 317–320. – ›Über das Konzert der Hähne‹ [1966]. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle. Bd. II: Monologische Prosa. Tynset. Masante. Frankfurt a.M. 1991. S. 388f. – ›Über James Joyce‹ [1946]. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle. Bd. VII: Vermischte Schriften. Frankfurt a.M. 1991. S. 273–275. – Antworten über Tynset [1965]. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle. Bd. II: Monologische Prosa. Tynset. Masante. Frankfurt a.M. 1991. S. 384–387. – Arbeitsprotokolle des Verfahrens »Marbot« [1982]. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle. Bd. IV: Biographische Prosa. Marbot. Frankfurt a.M. 1991. S. 255–264. – Briefe. Hg. v. Silvia Hildesheimer u. Dietmar Pleyer. Frankfurt a.M. 1999.
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Das Ende der Fiktionen [1975]. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle. Bd. VII: Vermischte Schriften. Frankfurt a.M. 1991. S. 141–158. – Das Jüdische an Mr. Bloom [1984]. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle. Bd. VII: Vermischte Schriften. Frankfurt a.M. 1991. S. 196–210. – Der Autor als Übersetzer. Der übersetzte Autor [1985]. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle. Bd. VII: Vermischte Schriften. Frankfurt a.M. 1991. S. 211–217. – Der ferne Bach [1985]. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle. Bd. VII: Vermischte Schriften. Frankfurt a.M. 1991. S. 218–235. – Dichtung ohne Spontanität. Aus einem Vortrag von Wolfgang Hildesheimer. In: Das neue Mainz 1 (1957). H. 1. unpag. – Die Kunst dient der Erfindung der Wahrheit. ›Zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden‹ [1955]. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle. Bd. VII: Vermischte Schriften. Frankfurt a.M. 1991. S. 9–12. – Die Musik und das Musische [1967]. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle. Bd. VII: Vermischte Schriften. Frankfurt a.M. 1991. S. 100–108. – Die Subjektivität des Biographen [1981]. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle. Bd. III: Biographische Prosa. Mozart. Frankfurt a.M. 1991. S. 463–475. – Empirische Betrachtungen zu meinem Theater [1959]. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle. Bd. VI: Theaterstücke. Frankfurt a.M. 1991. S. 820–823. – Es gelingt mir längst nicht alles [1973]. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle. Bd. VII: Vermischte Schriften. Frankfurt a.M. 1991. S. 747 – Ich werde nun schweigen. Gespräch mit Hans Helmut Hillrichs in der Reihe »Zeugen des Jahrhunderts« [aufgezeichnet am 20. und 21. September 1989]. Hg. v. Ingo Hermann. Redaktion: Jürgen Voigt. Göttingen 1993. – James Joyce: »Ulysses« [1979]. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle. Bd. VII: Vermischte Schriften. Frankfurt a.M. 1991. S. 421–424 [zuerst in: Die Zeit 7 (9. Februar 1979). S. 40]. – Joyce-Symposion ‘84. Ein Gespräch mit Wolfgang Hildesheimer. In: taz (19.6.1984). S. 9. – Mein Judentum [1978]. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle. Bd. VII: Vermischte Schriften. Frankfurt a.M. 1991. S. 159–169. – Schopenhauer und Marbot [1982]. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle. Bd. IV: Biographische Prosa. Marbot. Frankfurt a.M. 1991. S. 268–284 – The End of Fiction [1975]. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle. Bd. VII: Vermischte Schriften. Frankfurt a.M. 1991. S. 125–140. – The Jewishness of Mr. Bloom [1984]. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle. Bd. VII: Vermischte Schriften. Frankfurt a.M. 1991. S. 183–195. – The Jewishness of Mr. Bloom. Das Jüdische an Mr. Bloom. Englisch/Deutsch. Frankfurt a.M. 1984.
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Übersetzung und Interpretation einer Passage aus »Finnegans Wake« von James Joyce [1969]. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle. Bd. VII: Vermischte Schriften. Frankfurt a.M. 1991. S. 338– 351. – Vita II [1988]. In: Wolfgang Hildesheimer. Hg. v. Volker Jehle. Frankfurt a.M. 1989 (suhrkamp taschenbuch materialien 2103). S. 22. – Was sagt Musik aus? ›Zur Eröffnung der Salzburger Festspiele‹ [1980]. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle. Bd. VII: Vermischte Schriften. Frankfurt a.M. 1991. S. 170–182. – Wolfgang Hildesheimer im Gespräch mit Dierk Rodewald. In: Über Wolfgang Hildesheimer. Hg. v. Dierk Rodewald. Frankfurt a.M. 1971 (edition suhrkamp 488). S. 141–161. – Zu meinen Collagen. ›Vorwort zu »Endlich Allein«‹ [1984]. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle. Bd. VII: Vermischte Schriften. Frankfurt a.M. 1991. S. 748–751.
SONSTIGE Andersch, Alfred: Die Literatur im Vorraum der Freiheit. In: Die deutsche Literatur 1945– 1960. Bd. 1: »Draußen vor der Tür« 1945–1948. Ges. u. hg. v. Heinz Ludwig Arnold. München 1995. S. 506–512 [zuerst in: Deutsche Literatur in der Entscheidung. Ein Beitrag zur Analyse der literarischen Situation. Karlsruhe 1948. S. 24–31]. Becher, Johannes R.: Deutsches Bekenntnis [1945]. In: Die deutsche Literatur 1945–1960. Bd. 1: »Draußen vor der Tür« 1945–1948. Ges. u. hg. v. Heinz Ludwig Arnold. München 1995. S. 49–55 [zuerst in: Aufbau (1945) H. 9]. Böll, Heinrich: Eine deutsche Erinnerung. Interview mit René Winter [Oktober 1976]. In: Ders.: Werke: Interviews I. Hg. v. Bernd Balzer. Köln 1979. S. 504–665. Broch, Hermann: Entstehungsbericht. In: Ders.: Kommentierte Werkausgabe. Hg. v. Paul Michael Lützeler. Bd. 5: Die Schuldlosen. Roman in elf Erzählungen. Frankfurt a.M. 1981 (suhrkamp taschenbuch 209). S. 323–328. – Hofmannsthal und seine Zeit (1947/48). In: Ders.: Kommentierte Werkausgabe. Hg. v. Paul Michael Lützeler. Bd. 9/1: Schriften zur Literatur I: Kritik. Frankfurt a.M. 1975 (suhrkamp taschenbuch 246). S. 111–284. – Kommentierte Werkausgabe. Hg. v. Paul Michael Lützeler. Bd. 13/1: Briefe 1 (1945– 1951). Dokumente und Kommentare zu Leben und Werk. Frankfurt a.M. 1981 (suhrkamp taschenbuch 710). – Kommentierte Werkausgabe. Hg. v. Paul Michael Lützeler. Bd. 13/3: Briefe 3 (1945– 1951). Dokumente und Kommentare zu Leben und Werk. Frankfurt a.M. 1981 (suhrkamp taschenbuch 712). Döblin, Alfred: Der historische Roman und wir [1936]. In: Ders.: Ausgewählte Werke in Einzelbänden. Begründet v. Walter Muschg. In Verbindung mit den Söhnen des Dichters hg. v. Anthony W. Riley. Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur. Hg. v. Erich Kleinschmidt. Olten/Freiburg im Breisgau 1989. S. 291–316. Eich, Günter: Der Schriftsteller. In: Die deutsche Literatur 1945–1960. Bd. 1: »Draußen vor der Tür« 1945–1948. Ges. u. hg. v. Heinz Ludwig Arnold. München 1995. S. 323– 325 [zuerst in: Skorpion (Probenummer 1947). S. 3–4]. Enzensberger, Hans Magnus: Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend. In: Kursbuch 15 (1968). S. 186–197. Grass, Günter: Als Schriftsteller immer auch Zeitgenosse. Rede auf dem internationalen PEN-Kongreß in Hamburg [1986]. In: Ders.: Werkausgabe in zehn Bänden. Hg. v. Volker Neuhaus. Bd. 9: Essays, Reden, Briefe, Kommentare. Hg. v. Daniela Hermes. Darmstadt/Neuwied 1987. S. 921–931.
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