Dokumente zur Theorie der Übersetzung antiker Literatur in Deutschland seit 1800
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Transformationen der Antike
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Dokumente zur Theorie der Übersetzung antiker Literatur in Deutschland seit 1800
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Transformationen der Antike
Herausgegeben von Hartmut Böhme, Horst Bredekamp, Johannes Helmrath, Christoph Markschies, Ernst Osterkamp, Dominik Perler, Ulrich Schmitzer
Wissenschaftlicher Beirat: Frank Fehrenbach, Niklaus Largier, Martin Mulsow, Wolfgang Proß, Ernst A. Schmidt, Jürgen Paul Schwindt
Band 10
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Dokumente zur Theorie der Übersetzung antiker Literatur in Deutschland seit 1800 Ausgewählt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von
Josefine Kitzbichler, Katja Lubitz, Nina Mindt
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Dieser Band ist aus einer Tagung des Berliner Sonderforschungsbereichs 644 „Transformationen der Antike“ hervorgegangen und wurde mit finanzieller Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft erstellt.
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm 앪 über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-021490-1 ISSN 1864-5208 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Martin Zech, Bremen Logo „Transformationen der Antike“: Karsten Asshauer ⫺ SEQUENZ Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH und Co. KG, Göttingen
Vorwort Die Theorie der Übersetzung antiker Literatur wurde im deutschen Sprachraum meist nicht in eigenständigen Schriften, sondern entweder im Zusammenhang konkreter Übersetzungsarbeit oder im Umfeld übergreifender, z. B. sprachphilosophischer Fragestellungen diskutiert. Spätere Rezeption und Auseinandersetzung beschränkte sich in der Regel auf wenige Texte prominenter Autoren wie Schleiermacher, Humboldt, Wilamowitz und Schadewaldt, wobei Schleiermachers Akademierede und Humboldts Vorwort zum Aischyleischen Agamemnon oft auch noch beträchtlich verkürzt wurden. Der vorliegende Band präsentiert neben diesem Kanon nun auch zahlreiche heute mehr oder weniger vergessene Schriften des 19. Jahrhunderts (z. B. von Solger, Seeger, Wilbrandt, Jordan, Keller) sowie Aufsätze und Werkstattberichte bedeutender Literaturwissenschaftler und Übersetzer des 20. Jahrhunderts (z. B. Rüdiger, R. A. Schröder, Staiger). Manche Texte werden überhaupt erst wieder neu zugänglich gemacht. Besonders zu nennen sind Solgers früher Vorschlag, Übersetzen als wissenschaftliche Aufgabe zu etablieren, Wilbrandts Reflexionen zu Übersetzung und bürgerlicher Theaterpraxis oder Jordans Versuch, im 19. Jahrhundert noch einmal rhapsodische Unmittelbarkeit zu erzielen. Die Dokumentation ermöglicht es, die kanonischen Texte, namentlich auch das bislang schwer verständliche ‚Travestie‘Konzept des Philologen Wilamowitz, zu kontextualisieren, die Kontinuität der Debatte bis in die Gegenwart nachvollziehbar zu machen und der Theoriegeschichte eine tragfähige Grundlage zu geben. Naturgemäß fielen bei diesem Band, für den die Originalpublikationen neu digitalisiert werden mussten, besonders aufwendige Korrekturarbeiten an. Die Projektleiter und die Herausgeberinnen danken in diesem Zusammenhang Stephanie Dietzsch, Ulrike Stephan, Christian Syperek und Johann Martin Thesz für die gründliche Lektüre, mit der sie zu verschiedenen Zeiten die Entstehung des Bandes begleitet haben. Dank gilt daneben Enrica Fantino für ihre Hilfe bei der Erstellung des Registers. Wolfgang Rösler Ulrich Schmitzer
Inhalt Einleitung ............................................................................................................................. 1 August Wilhelm Schlegel Rezension zu: Homers Werke, von Johann Heinrich Voss (1796) ............................... 3 Karl Wilhelm Ferdinand Solger Vorrede zur Sophokles-Übersetzung (1808) ................................................................. 39 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813) .................................... 59 Karl Heinrich (?) Pudor Ueber die Farbengebung des Alterthümlichen in Verdeutschung alter klassischer Prosa (1814) ........................................................................................... 83 Wilhelm von Humboldt Vorrede zur Agamemnon-Übersetzung (1816) ............................................................. 95 Friedrich Wilhelm Riemer Einiges zur Geschichte des Uebersetzens (1832) ........................................................ 115 Karl Schäfer Ueber die Aufgabe des Uebersezens (1839) ................................................................. 127 Robert Prutz Zur Geschichte der deutschen Uebersetzungs-Litteratur: Sophokles (1840) ........ 145 Ludwig Seeger Epistel an einen Freund als Vorwort (1845) ................................................................ 163 Tycho Mommsen Die Kunst des deutschen Uebersetzers (1857/58) ..................................................... 179 August Boeckh Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften [1865] ....... 199
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Inhalt
Adolf Wilbrandt Vorwort zu den Übersetzungen des Sophokles und Euripides (1866) ..................... 205 Wilhelm Jordan Einleitung zur Odyssee-Übersetzung (1875) .............................................................. 217 Julius Keller Die Grenzen der Übersetzungskunst (1892) ............................................................... 237 Georg Lejeune Dirichlet die kunst des übersetzens in die muttersprache (1894) .............................................. 287 Rudolf Hunziker Die Kunst des Übersetzens fremdsprachlicher Dichtungen (1898) ........................ 299 Eduard Fraenkel Vom Werte der Übersetzung für den Humanismus (1919) ....................................... 313 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff Was ist übersetzen? (1925) ............................................................................................ 325 Wolfgang Schildknecht Deutscher Sophokles. Beiträge zur Geschichte der Tragödie in Deutschland (1935) ................................................................................................... 351 Richard Newald Von deutscher Übersetzerkunst (1936) ....................................................................... 361 Horst Rüdiger Zur Problematik des Übersetzens (1938) .................................................................... 379 Rudolf Alexander Schröder Nachwort des Übersetzers (1943) ................................................................................ 391 Emil Staiger Das Problem der Übersetzung antiker Dichtung (I) (1960) ..................................... 419 Wolfgang Schadewaldt Das Problem der Übersetzung antiker Dichtung (II) (1960) .................................... 425 Rudolf Schottlaender Zur Aktualisierung antiker Dramatik. Der Grundsatz des wirkungsgetreuen Übersetzens (1967) ......................................................................... 437
Inhalt
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Dietrich Ebener Blick in die Werkstatt. Zu einigen Problemen der Übersetzung griechischer Tragödien (1973/74) ................................................................................ 443 Volker Ebersbach Römische Antiquitäten. Erfahrungen und Anregungen aus der Werkstatt (1979) .. 461 Manfred Fuhrmann Die gute Übersetzung. Was zeichnet sie aus, und gehört sie zum Pensum des altsprachlichen Unterrichts (1992) ........................................................................ 473 Michael von Albrecht Zur vorliegenden Übersetzung (1994) ......................................................................... 493 Raoul Schrott Sieben Prämissen einer neuen Übersetzung der Ilias (2006) ..................................... 499 Fehlerverzeichnis ............................................................................................................. 507 Personenregister .............................................................................................................. 513
Einleitung Die vorliegende Dokumentation ist im Zusammenhang der gleichzeitig erscheinenden Darstellung Theorie der Übersetzung antiker Literatur in Deutschland seit 1800 entstanden, die sie materiell ergänzt und mit der sie in der getroffenen Auswahl korrespondiert. Für eine eingehende Darlegung zu Fragestellung und Methode verweisen wir auf diesen Band, insbesondere auf seine Einleitung. Zugleich soll die Dokumentation aber auch als eigenständige Sammlung von Quellentexten nutzbar sein, die sich von der von Hans Joachim Störig1 vorgelegten Anthologie einerseits durch Erweiterung des Textkorpus um weniger bekannte Schriften, andererseits durch zeitliche und thematische Eingrenzung des Gegenstands unterscheidet: Aufgenommen wurden ausschließlich Beiträge, die sich mit dem Übersetzen antiker Autoren ins Deutsche befassen und die damit deutsche Übersetzungstheorie seit dem Epochenschnitt von 1800 dokumentieren. Die einzelnen Beiträge sind in chronologischer Folge nach dem Datum des Erstdrucks angeordnet. Die einzige Ausnahme bildet der Auszug aus August Boeckhs Encyklopädie, die erst 1877, zehn Jahre nach Boeckhs Tod, gedruckt wurde: Sie ist hier dem Jahr 1865 (in dem Boeckh seine Vorlesung zum letzten Mal hielt) zugeordnet. Die Texte folgen in der Regel in Gestalt, Orthographie und Interpunktion dem jeweiligen Erstdruck, mit zwei Ausnahmen: Die Akademierede Schleiermachers wird nach der verbindlichen Kritischen Gesamtausgabe von 2002 (1. Abt., Bd. 11) wiedergegeben; der Aufsatz von Wilamowitz ist in der letzten, stark erweiterten Bearbeitung von 1925 gedruckt, obwohl bereits die erste Fassung (als Einleitung zu Wilamowitz’ Übersetzung des Euripideischen Hippolytos, 1891) intensiv rezipiert wurde. Die Druckvorlage wird jeweils vor dem Text vermerkt. Die Seitenzahlen der Druckvorlage sind in [ ] angegeben. Kürzungen wurden durch […] markiert. Eindeutige Fehler der Vorlagen wurden im Text korrigiert; ein Fehlerverzeichnis im Anhang dokumentiert die entsprechenden Stellen. Bei den älteren, besonders den in Fraktur gesetzten Vorlagen wurde ſs (im Unterschied zu ss) als ß wiedergegeben. Die tironische Note „v“ wurde als „et“ aufgelöst. Supraskribiertes e als Zeichen für den Umlaut von a, o oder u wurde als ä, ö oder ü vereinheitlicht, adskribiertes e (insbesondere bei Majuskeln: „Uebersetzen“) wurde beibehalten. Hervorhebungen der Autoren sind stets durch Kursivierung kenntlich gemacht. Die _____________ 1
Störigs Sammelband Das Problem des Übersetzens erschien zuerst 1963. Die 2. Auflage (1969) weicht z. T. in den Textfassungen von der Erstauflage ab und wurde für einen Neudruck (1973) noch um ein Literaturverzeichnis ergänzt. Während Störig überwiegend die deutsche Perspektive zeigt, berücksichtigen die Bände von André Lefevere (Translation. History. Culture. A Sourcebook, London 1992) und Douglas Robinson (Western Translation Theory from Herodotos to Nietzsche, Manchester 1997) den gesamten westeuropäischen Horizont.
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Einleitung
verschiedenen Verweiszeichen der Textvorlagen (Ziffern, *, †) wurden durch die Einführung von hochgestellten durchnummerierten Ziffern vereinheitlicht. Erläuterungen der Herausgeberinnen werden ebenfalls in den Fußnoten gegeben, sind aber durch eckige Klammern [ ] gekennzeichnet. Die Kommentierung wurde auf elementare Angaben zu erwähnten Personen oder Sachverhalten, Ergänzung lückenhafter Literaturangaben und, wenn möglich, Nachweis relevanter Anspielungen und Zitate beschränkt. Die Verantwortung für Textgestalt und Kommentar liegt bei Josefine Kitzbichler (Schlegel, Solger, Schleiermacher, Pudor, Humboldt, Riemer, Schäfer, Prutz, Seeger, Boeckh), Katja Lubitz (Mommsen, Wilbrandt, Jordan, Keller, Lejeune Dirichlet, Hunziker, Fraenkel, Wilamowitz) und Nina Mindt (Schildknecht, Newald, Rüdiger, Schröder, Staiger, Schadewaldt, Schottlaender, Ebener, Ebersbach, Fuhrmann, Albrecht, Schrott). Die Herausgeberinnen
August Wilhelm Schlegel August Wilhelm Schlegel (1767–1845) war Kritiker, Sprachwissenschaftler, Ästhetiker, Übersetzer und, zusammen mit seinem Bruder Friedrich Schlegel, bedeutender Wegbereiter der deutschen Romantik. Er hatte in Göttingen Theologie und Philologie studiert und erhielt 1798 eine außerordentliche Professur an der Universität Jena. 1801 ging er als Privatgelehrter nach Berlin. Ab 1804 führten ihn Reisen, zum Teil in Begleitung der Madame de Staël, in die Schweiz, nach Italien, Frankreich, Schweden und England. 1809 trat Schlegel in den Dienst der schwedischen Krone. Seit 1818 wirkte er dann als Professor für Indische Philologie in Bonn. Mit seinen Shakespeare-Übersetzungen, zuerst in einer neunbändigen Ausgabe 1797/1810 erschienen, schrieb Schlegel Literaturgeschichte. Daneben legte er eine Reihe von Übersetzungen aus romanischen Sprachen vor (Dante, 1795; Calderon, 1803/1809; Blumensträuße italienischer, spanischer und portugiesischer Lyrik, 1804). Schlegel hat bei verschiedenen Gelegenheiten wichtige Aspekte romantischer Übersetzungstheorie besprochen, so im Dialog Die Sprachen (1798, später unter dem Titel Wettstreit der Sprachen bekannt) und in den Briefen über Poesie, Silbenmaß und Sprache (1795). Die hier abgedruckte Rezension erschien 1796 in der Jenaischen Allgemeinen LiteraturZeitung, dem einflussreichsten Rezensionsorgan der Zeit. Sie beschäftigt sich mit der 1793 erschienenen Homer-Übersetzung des Johann Heinrich Voss, für die dieser seine 1781 veröffentlichte Odyssee-Übersetzung grundlegend überarbeitet und die Ilias neu übersetzt hatte. Schlegel formuliert hier sein Befremden gegenüber der „Vossischen Manier“ des Übersetzens und dokumentiert damit, wie unkonventionell und regelwidrig die Sprache Vossens auf die Zeitgenossen wirkte. Er sieht, dass „Methode in seiner Undeutschheit“ liegt, kann diese Methode zunächst aber nicht anerkennen. Erst 1801, als er die Rezension in die Sammlung Charakteristiken und Kritiken aufnahm, revidierte er in einer beigefügten Anmerkung sein Urteil über Voss.
[Rezension zu] Homers Werke, von Johann Heinrich Voß. 1793 Aus: Allgemeine Literatur-Zeitung, Jena, 22.–26.8.1796, Sp. 473–480, 481–487, 489–496, 497–503, 505–512, 513–519.
Altona, b. Hammerich: Homers Werke, von Johann Heinrich Voß. 1793. Homers Ilias. Erster Band. 318 S. Zweyter Band. 339 S. Homers Odyssee. Erster Band. 272 S. Zweyter Band. 263 S. gr. 8. Mit einem Titelkupfer und drey Karten. (6 Rthlr.) Unter allen Sprachen, worein man Homers Gedichte in Prosa und in Versen zu übertragen sich bemüht hat, von der syrischen bis zur englischen, kann sich vielleicht keine der Urschrift mit einer so glücklichen Treue nähern, als die deutsche. Schon das giebt
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August Wilhelm Schlegel
ihr hiebey einen entschiednen Vorzug vor andern, zum Theil höher, aber einseitig ausgebildeten neuern Sprachen, daß in ihr allein die metrische Kunst der Alten, in so fern wir sie kennen, und auf uns anzuwenden vermögen, festen Fuß gefaßt hat, da hingegen bey den Italienern, Spaniern, Franzosen, Engländern, der Versuch sie einzuführen zwar frühe gemacht worden, aber ganz ohne Folge geblieben ist, und nur noch unter den literarischen Seltenheiten erwähnt wird. Ein andrer, unübersehlich großer, Vortheil liegt in der Freyheit, mehrere Hauptbegriffe zu Einem Worte zu vereinigen, welche die neulateinischen Sprachen, wie die römische selbst, beynah gänzlich entbehren. Indessen giebt es noch andre Gründe, warum dieser letzten weder ihr klassisches Ansehen noch ihre griechische Erziehung für eine Uebersetzung Homers sonderlich zu Statten kömmt. Wie ihre Einfalt roh und ungeschlacht gewesen war, so wurde ihre Bildung durchaus gelehrt: ein Werk der Schule, nicht eine Blüthe der begünstigenden Natur. Die Formen ihres poetischen, besonders ihres epischen Ausdrucks trugen ganz das Gepräge des alexandrinischen Kunstfleißes. Ihr heroischer Vers war zu stolz, um zu der schmucklosen, aber goldnen Bescheidenheit, zu der Vertraulichkeit und Unschuld des alten Sängers zurückkehren zu können. Von phraseologischen Uebungen der neuern ist hier nicht die Rede; aber wären die altrömischen Arbeiten in diesem Fach nicht verloren gegangen, so möchten wir leicht die Odyssee des Livius Andronicus in ihrer harten Treue homerischer finden, als die abgeründetste Nachbildung aus dem Zeitalter des Augustus. Diese Betrachtungen führen auf einen Umstand, der tiefer in das Wesen der Sache greift, ja worauf alles ankommt. Im Geiste unsrer Sprache liegt nämlich, wie im Charakter unsrer Nation, wenn anders beide nicht völlig eins sind, eine sehr vielseitige Bildsamkeit. Der Eifer des Deutschen, alles Ausländische [474] gründlich zu kennen, seine Willigkeit, sich in die entlegensten Denkarten und in die abstechendsten Sitten zu versetzen, die Wärme, womit er ächtem Gehalte, auch in der ungewohntesten Tracht, huldigt, sind oft in Nachahmungssucht und thörichte Vorliebe für das Fremde ausgeartet; aber sie erheben sich allmählich immer mehr zu freyer Aneignung des Besten. Bestimmte, ausschließende Nationalrichtungen machen unsre europäischen Mitbürger großentheils unfähig, in eine fremde Eigenthümlichkeit einzudringen, und beschränken sie daher ganz allein auf einheimischen Reichthum oder einheimische Armuth. So viele angebliche Liebhaber des klassischen Alterthums unter ihnen dürfen uns nicht irren: wie viele giebt es wohl, die einen Römer oder Griechen nicht erst in ihrem Kopfe travestiren müßten, um ihn genießbar zu finden? Unstreitig ist unter uns die Anlage, die Alten in ihrem Sinne zu lesen, am wenigsten selten, und da die Muttersprache doch immer die Vermittlerin jedes neuen Erwerbes an Vorstellungen und Gefühlen seyn muß, so hängt damit eine vorzügliche Anlage der unsrigen, sie in ihrem wahren Geiste zu übersetzen, nothwendig zusammen, ja sie ist nur eine verschiedne Ansicht derselben Eigenschaft. Es können daher auch an eine deutsche Uebersetzung Homers Foderungen gemacht werden, an die es lächerlich wäre, bey einer französischen und selbst bey einer englischen nur zu denken: aber eben dies macht das Unternehmen um so schwieriger, und eine gelungene Ausführung um so verdienstlicher. Die Sprache ist an sich ein todtes Werkzeug, und wartet auf den Künstler, der durch einen geschickten Gebrauch
Rezension zu Homers Werke von Voss
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darthut, was sie in irgend einer Gattung zu leisten vermag. Daß dieser sich oft nicht so leicht findet, beweisen die verunglückten Versuche poetischer Uebersetzungen des Homer, die zum Theil von berühmten Verfassern, von Bodmer1, Stolberg2 und Bürger (nämlich die Proben seiner Ilias in Jamben)3 kurz vor oder zugleich mit der Erscheinung der ältern Vossischen Odyssee4 gemacht worden sind. Sie trug zuerst den ungetheilten Beyfall der Kenner verdienter Weise davon. Allein der Kenner sind wenig, und für ein Werk dieser Art war unter uns weder enthusiastische Aufnahme bey der Menge, noch angemessene Belohnung zu erwarten. Dieser vorauszusehende Kaltsinn hat indessen Hn. V’s. edlen Eifer für die Sache nicht gedämpft, und nach zwölf Jahren bereichert er unsre Literatur zum zweytenmale mit einer völlig umgearbeiteten Odyssee, und einer neu verdeutschten Ilias. Der in unserm Zeitalter so seltne männliche Ernst, die gewissenhafte Strenge, womit dieser Schriftsteller das zu [475] erreichen strebt, was er als Vollendung erkennt; die noch vertrautere Bekanntschaft mit den Alten und der weitere Umfang gelehrter Kenntnisse, wovon er unterdessen so manchen Beweis gegeben; die reifere Selbstständigkeit eines Dichtergeistes, der in der Louise5 den Stil des jonischen Sängers auf einfache, natürliche, dem häuslichen Leben abgelauschte, aber durchaus reine, zarte und schöne Darstellungen anzuwenden gewußt; die sorgfältige Bearbeitung des deutschen Hexameters, in dessen Bau er von Seiten der Schönheit, wenn gleich nicht des Ausdrucks, selbst Klopstock, den Lehrer dieser Kunst,6 übertroffen hat; dies alles berechtigte zu der Erwartung, die jetzt aufgestellte Uebersetzung werde kaum noch etwas zu wünschen übrig lassen, da jene erste schon so _____________ 1
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[Homers Werke. Aus dem Griechischen übersetzt von dem Dichter der Noachide, 2 Bde., Zürich 1778. – Der Schweizer Johann Jakob Bodmer (1698–1783) zählte zu denen, die der Homer-Renaissance im deutschen Sprachraum den Weg bereiteten, u. a. in der Critischen Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie (1740).] [Homers Ilias verdeutscht durch Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, 2 Bde., Flensburg/Leipzig 1778. Auszüge aus Stolbergs Übersetzung waren bereits im November 1776 im Deutschen Museum erschienen.] [Teile aus einer Übersetzung der Ilias in deutsche Iamben erschienen in der Deutschen Bibliothek der schönen Wissenschaften (1771), im Deutschen Museum (1776) und im Teutschen Merkur (1776). Später begann Bürger, an einer Übersetzung in deutsche Hexameter zu arbeiten; Teile daraus erschienen im Journal von und für Deutschland (1784).] [Homers Odüßee übersezt von Johann Heinrich Voß, Hamburg 1781. – Dass erst Voss’ HomerÜbersetzung in der Ausgabe von 1793 einen epochalen Einschnitt in der deutschen Übersetzungsgeschichte darstellte, wird auch in Schlegels Besprechung deutlich. Außerdem übersetzte Voss zahlreiche andere antike Schriftsteller: Vergils Georgica (Publii Virgilii Maronis Georgicon libri quatuor. Des Publius Virgilius Maro Landbau, vier Gesänge, Eutin/Hamburg 1789), Ovids Metamorphosen (Verwandlungen nach Ovidius, Berlin 1798), den ganzen Horaz (Des Quintus Horatius Flaccus Werke, Heidelberg 1806), die Idyllen von Theokrit, Bion und Moschos (Theokritus, Bion und Moschus, Tübingen 1808), die Elegien Tibulls (Albius Tibullus und Lygdamus, Tübingen 1810) und die Komödien des Aristophanes (Aristofanes von Johann Heinrich Voss, Braunschweig 1821).] [Luise. Ein laendliches Gedicht in drei Idyllen, Königsberg 1795.] [Die enorme Bedeutung Friedrich Gottlieb Klopstocks für das Übersetzen antiker Dichtung im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert wurde von zeitgenössischen Übersetzern und Kritikern – von Voss bis Humboldt – immer herausgestellt. Klopstock hatte in seinem christlichen Versepos Der Messias (1748–1773) den Hexameter in die deutsche Literatur eingeführt.]
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August Wilhelm Schlegel
viel geleistet hatte. Sollte sie nicht ganz befriedigt worden seyn, so liegt die Schuld vermuthlich mehr an den Grundsätzen, welche Hn. V. bey seiner Arbeit leiteten, als an ihrer mangelhaften Befolgung. Jene fodern also eine gründliche Prüfung, und die Kritik kann sich nicht anders als mit Achtung gegen Abweichungen auflehnen, vor denen so viele Schriftsteller schon durch ihre sorglose Eilfertigkeit gesichert sind. Wieland hat sehr richtig bemerkt (im T. Merkur 1795. 12 St.),7 daß für eine Uebersetzung des Homer Treue, oder um den Begriff von buchstäblicher Genauigkeit zu entfernen, der sich so leicht an diesen Ausdruck hängt, Wahrheit das höchste, ja fast das einzige, Gesetz seyn muß. Es giebt Werke, bey deren Nachbildung künstlerische Willkühr immerhin ihr freyes Spiel treiben mag, wie sie es bey ihrer ersten Hervorbringung trieb. Eine Copie derselben, sey sie noch so unähnlich, hat ihren Werth, wenn sie für sich betrachtet gefällt. Die Sache wird schon bedenklicher, wenn das Anziehende des Werks zum Theil auf persönlicher Eigenthümlichkeit beruht, wenn der Urheber neben dem, was er hatte darstellen wollen, auch einen unwillkührlichen Abdruck seines innern Selbst gegeben hat. In einem einzelnen Wesen ist nichts abgesondert vorhanden: alle seine Charakterzüge stehen in durchgängigem Zusammenhange, und wenn ihre innerliche Bestandheit sich auch nicht immer nach Begriffen erklären läßt, so kann sie doch gefühlt, fast möchte man sagen, angeschaut werden. Scheinbar geringe Veränderungen sind daher oft hinreichend, ein falsches Licht auf das Ganze zu werfen. Mit Einem Worte: Individualität läßt sich nicht in Stücke zerlegen; sie wird ganz getroffen oder ganz verfehlt. Was wir in der Ilias und Odyssee bewundern und lieben, ist zwar nicht die Person des Dichters: ihn allein suchen wir vergebens in einer Götter- und Menschenwelt, die sonst alles zu umfassen scheint. Eben daraus sind so viele verkehrte Urtheile über die Homerische Poësie entstanden, daß man sie als den glücklichen Erguß einer ungewöhnlich reichen Organisation, oder gar als die absichtliche Erfindung eines überlegenen Kopfes betrachtet hat; als nothwendiges Resultat einer durch große Naturgesetze bestimmten Form der Menschheit, und zwar einer reinen und vollständigen Form, die in ihrer Art [476] ein Höchstes war, wird sie ihre Ansprüche auf die Ehrerbietung des gesammten Menschengeschlechtes ewig behaupten. Homer ist Organ seines Zeitalters, und dies giebt ihm ein höheres Ansehen, als seiner besondern Persönlichkeit zukommen könnte. Wer ihn in eine fremde Gestalt kleidet, verletzt nicht einen einzelnen, sondern einen allgemeinen Charakter. Unrichtige Vorstellungen von dem Aeltesten unter den Alten, von dem ersten Griechen, wenn wir so sagen dürfen, müssen unfehlbar in Irrthümer über den ganzen Gang der griechischen Bildung verstricken, weil man in seiner kindlichen Dichtung schon die Keime von Allem, selbst dem Edelsten und Schönsten, wozu dieses Volk sich von irgend einer Seite erhoben hat, sich regen und entfalten sieht. Auch darf man nicht glauben, der ergötzende Dichter lasse sich von dem belehrenden Zeugen der Vorwelt trennen; wer diesen nicht verstehen lernen will, kann jenen nicht genießen. Man hat es ja genug erlebt, wie sich die schönen Geister, welche den Homer für einen ihres Gleichen hielten, haben martern müssen, armselige Schönheiten in ihm zu entdecken, die _____________ 7
[Christoph Martin Wieland, Briefe über die Vossische Uebersetzung Homers, in: Neuer Teutscher Merkur (1795), Bd. 2, 105–111 und Bd. 3, 400–436.]
Rezension zu Homers Werke von Voss
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nicht da sind. Nur einem seichten Geschmacke kann z. B. in Popens Uebersetzung oder vielmehr Parodie,8 die widerwärtige Mishelligkeit zwischen Form und Inhalt entgehen. Allein wer erkennt den Homer ganz wie er ist? Die grammatische und antiquarische Auslegung ist hiebey noch das geringste, ob sie gleich Schwierigkeiten genug hat, so daß selbst die unzähligen Schriften, welche gelehrte Griechen ihr gewidmet, noch manches unerklärliche übrig lassen würden, wenn wir sie auch alle hätten. Aber bey der doppelten Beziehung der Wörter nach außen auf Gegenstände, von denen wir gar keine sinnliche Anschauung haben, und die wir erst durch sie kennen lernen müssen, und nach innen auf einen Kreis von Vorstellungen, auf eine Ansicht der Dinge, die von der unsrigen unendlich weit absteht, sind wir den mannichfaltigsten Täuschungen ausgesetzt. Wie leicht trägt man etwas aus der spätern wissenschaftlichen Ausbildung in eine Sprache, der es gänzlich an abgezognen, und, für alles, was Erscheinung oder Wirkung des innern Menschen ist, auch an genau bestimmten Begriffen fehlt; eine Sprache, die nur nach schwankenden sinnlichen Wahrnehmungen sondert und zusammenfaßt. Das Medium ist um so trügender, weil oft bey den Fortschritten der Cultur das Bezeichnete durch eine lange Stufenfolge von Veränderungen hindurch gegangen, während das Zeichen immer dasselbe geblieben ist. Der Eindruck, den eine dichterische Darstellung machen soll, hängt endlich nur dem kleinsten Theile nach von dem Sinne der Wörter und Redesätze ab, in so fern der Verstand ihn ausmachen kann: durch den lebendigen Hauch der Rede, durch eine Fülle beseelter Töne nimmt die Poësie, besonders die Naturpoësie welche der eigentlich schönen Kunst und der Wissenschaft vorangeht, die ganze Empfänglichkeit des Menschen in Anspruch. Für diese vielfach gemischten, starken und zarten Anregungen hat man eigentlich nur in der Muttersprache einen sichern und unmittelbaren Takt. Bis auf einen gewissen Grad läßt er sich in einer frem-[477]den, selbst in einer todten, Sprache erwerben; aber nur durch Vergleichung ihres verschiednen Gebrauchs im gemeinen Leben, im vertrauten oder edeln prosaischen Stil, und in den verschiednen Gattungen der Dichtkunst. Für Homers Gedichte fehlt es uns an allen solchen Vergleichungspunkten, weil sie, die Ueberbleibsel des Hesiodus etwa ausgenommen, in ihrem Zeitalter ganz einzeln da stehn. Wir sind völlig darüber im Dunkeln, wie zu der Zeit und in den Gegenden, wo sie entstanden sind, die Sprache des gemeinen Lebens beschaffen gewesen; und aus dem Verhältniß des Homerischen Ausdrucks zu dieser ließe sich doch allein seine poëtische Höhe mit Sicherheit bestimmen, weil es noch keine schriftlich aufgezeichnete Prosa, und auch, so viel wir wissen, nur einen einzigen Stil der Poësie gab. Zwar läßt sich im Ganzen vermuthen, daß die Sprache der olympischen Musen oder ihrer Sänger, und der übrigen Menschen, sich nicht so gar weit von einander entfernt habe, wie überhaupt damals die mythische Welt, die älteste Quelle der Dichtung, der wirklichen noch sehr nahe lag; aber in einzelnen Fällen würde es oft schwer zu sagen seyn, _____________ 8
[Alexander Pope (1688–1744) hatte sowohl die Ilias (6 Bde., 1715–1720) als auch die Odyssee (2 Bde., 1725 f.) in englische gereimte fünfhebige Iamben übersetzt. Seine Arbeit war zunächst auch im deutschen Sprachraum einflussreich, bis sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend in die Kritik geriet.]
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August Wilhelm Schlegel
was Schmuck oder Bedürfniß, was erhöhender Schwung der Einbildungskraft, oder bloß sinnliche Kraft und Wahrheit ist. Durchgängige genaue Richtigkeit in Ansehung des Wortverstandes ist ein Verdienst, das bey der Arbeit eines so gründlichen Sprachgelehrten, wie Hr. V. ist, keiner ausdrücklichen Erwähnung bedarf. Nur dunkle oder zweydeutige Stellen der Urschrift möchten etwa Stoff zu Einwürfen oder abweichenden Auslegungen darbieten, die wir aber nicht entscheiden können, bis Hr. V. in dem Commentar zum Homer, wozu den Freunden des Alterthums Hoffnung gemacht worden ist, die Gründe für die seinigen vorgelegt haben wird. Also nur einige Zweifel dieser Art. Sollte Il. II. 176. Κὰδ δέ κεν ἐυχωλὴν Πριάμῳ καὶ Τρωσὶ λίποιτε, Ἀργείην Ἑλένην, welches hier übersetzt wird: Ließet ihr so dem Priamos Ruhm, und den Troischen Männern Helena, Argos Kind,
nicht bequemer so zu construiren seyn, daß ἐυχωλὴν als Apposition von Ἑλένην betrachtet, und die Dative nur auf jenes, nicht auf καταλίποιτε bezogen würden? Es klingt ein wenig seltsam, daß Helena den Troischen Männern zurückgelassen wird. Sollte Il. II, 291.: Ἦ μὴν καὶ πόνος ἐστὶν ἀνιηθέντα νέεσθαι, bedeuten können: Freylich ringt wohl jeder, wer Trübsal duldet, nach Heimkehr,
was allerdings der Zusammenhang zu fodern scheint? Kann es, wie der Vers jetzt steht, etwas anders heißen, als: Freylich ist es auch schlimm, mit Verdruß nach Hause zu kehren?
Aber alsdann wird im 298. V. fast dasselbe wiederholt, und die Partikeln, die das folgende einleiten: καὶ γάρ, [478] passen durchaus nicht. Da überdies das doppelte νέεσθαι unmittelbar nach einander, V. 290, 291. das Ohr beleidigt, so wird eine Corruption wahrscheinlich. Die vortreffliche, dem Rec. von der Güte eines gelehrten Freundes mitgetheilte Conjectur, daß sich statt ἀνιηθέντα καθῆσθαι, aus dem vorhergehenden Verse νέεσθαι eingeschlichen, rückt alles in die beste Ordnung. Was im Griechischen für einen der Sprache kundigen Leser dunkel ist, hat Hr. V. mit Recht eben so ausgedrückt. An ein paar Stellen ist vielleicht das Deutsche dunkler; z. B. Il. IV. 306.: Ὃς δέ κ’ἀνὴρ ἀπὸ ὧν ὀχέων ἕτερ’ ἅρμαθ’ ἵκηται, Ἔγχει ὀρεξάσθω. Welcher Mann vom Geschirr hinkommt auf des Andern Wagen, Strecke die Lanze daher
Geschirr für Wagen, wie es Hr. V. häufig gebraucht, sollte nie stehen, wo es zweydeutig seyn kann, da es auch, und zwar gewöhnlicher, das zum Anspannen der Pferde gehörige Zeug bezeichnet: ferner ist das wesentliche Fürwort ausgelassen: von seinem Geschirr; und strecke die Lanze daher legt zu viel Nachdruck auf den buchstäblichen Sinn des ὀρεξάσθω, welches hier nichts anders sagt, als: er führe die Lanze, weil er nämlich fremde Pferde nicht so gut regieren kann. Der schwierige Vers Il. XVI, 507. heißt im Deutschen: Sehnsuchtsvoll zu entfliehn, da der Eigner Geschirr sie verlassen
Rezension zu Homers Werke von Voss
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wo man eher Geschirr als sie für den Nominativ halten sollte, obgleich das letzte vermuthlich die Meynung des Uebersetzers war. Das sonderbare Eigner für ἀνάκτων, und Geschirr wiederum für Wagen vermehrt die Dunkelheit noch. Wie dieses Hemistich bisher in allen Ausgaben gelesen ward, konnte es freylich einem Uebersetzer zu schaffen machen. Unstreitig ist die Lesart λίπεν vorzuziehn, die Hr. Wolf nach Vorgang des venetianischen Codex und der Scholien in seine neueste Ausgabe aufgenommen hat,9 da λίπον bloß eine Veränderung des Zenodotus ist, und zwar eine sehr ungeschickte. Der Scholiast erklärt die Stelle selbst folgendermaßen: ἐπειδὴ τὰ ἅρματα τῶν ἀνάκτων ἐλείφθησαν, ἠρημώθησαν. In der Wahl der treffendsten Ausdrücke für die natürlichen Gegenstände sowohl, als für die Werkzeuge des Ackerbaues, der Gewerbe, des Krieges und der Küche, für allerley menschliche Erfindungen und Anstalten, zeigt sich Hr. V. wie in seinen Gedichten als einen Beobachter des wirklichen Lebens. Zuweilen hat er auch alte deutsche Wörter glücklich benutzt, um an das einfache und altväterliche der Homerischen Sitten zu erinnern. Aus seiner ersten Odyssee kennt man schon die ehrbare Schaffnerin, und freut sich jedesmal, wenn sie erscheint. Für σκῆπτρον wird einigemale (Il. II. 46. 101.) sehr schicklich Herrscherstab gebraucht: warum nicht immer, oder wo man schon weiß, wovon die Rede ist, bloß Stab? Bey Zepter denkt man sich so leicht den heutigen Pomp der Königswürde. Jenes σκῆπτρον war freylich auch Symbol derselben, [479] aber zugleich nicht zu vornehm, um als körperliche Gewalt auf den Rücken der Unterthanen zu wirken. Man könnte zweifeln, ob der Ausdruck Palast auch für die geräumigsten und bequemsten Häuser, die Homer beschreibt, selbst für die Wohnungen der Götter, nicht eine zu hohe Vorstellung von Pracht erweckt. Indessen läßt es sich wohl vertheidigen, weil doch in den Bauerhöfen der Könige Homers alles beysammen war, was die damalige Welt von Glanz und Zierrath kannte. Allein Hr. V. gebraucht es auch zuweilen, wo das einfache οἶκος steht, (Il. I, 30.) und die Gemächer für die Familie des Priamus sind bey ihm aus schöngeglättetem Marmor (ξεστοῖο λίθοιο) erbaut. Burg für das Haus eines Fürsten, welches Bürger in den Proben seiner hexametrischen Uebersetzung öfter gebraucht, und Hr. V. sich auch Il. II, 513. entschlüpfen läßt, giebt die dem Homer ganz fremde Vorstellung von einem einzelnen befestigten Wohnhause der barbarischen Sitte des Mittelalters. Der Ausdruck Meerschiff (Il. XVI, 1 u. öfters) legt wohl, außerdem, daß er ganz ungewöhnlich ist, ein zu bedeutendes Gewicht auf die Größe der Fahrzeuge, die nicht viel besser als große Canots waren. Warum doch wohl φόρμιγξ in beiden Uebersetzungen der Odyssee durchgängig Harfe heißt? An die Saiteninstrumente der alten nordischen Barden kann es nicht erinnern, da wir sie durchaus nicht kennen, und eine heutige Harfe hat mit der φόρμιγξ (wenigstens wie sie im Hymnus auf den Hermes beschrieben wird; Homer selbst läßt sich über ihre Einrichtung nirgends genauer aus, außer etwa Od. XXI, 506 bis 508.) nicht die geringste Aehnlichkeit. Ein Beywort, das auf den bauchförmigen Resonanzboden der φόρμιγξ geht, Il. IX, 340: die schön gewölbete Harfe, wird dadurch ganz unverständlich. Warum nicht überall die Leyer, die Hr. V. selbst ein paarmal nennt, (Il. I, 603, _____________ 9
[Die neue Ilias-Edition von Friedrich August Wolf (1759–1824) war 1794 in 2 Bänden in Halle erschienen.]
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IX 186.) oder die Laute? Man hat viel darüber hin- und hergestritten, ob Homer φόρμιγξ und κίθαρις unterscheidet, oder nicht. Die erste Meynung gründet sich hauptsächlich auf Il. III, 54, und Hr. V. scheint sich dafür zu erklären, da er hier Laute übersetzt. Die Stelle Od. I, 153–155. macht es wenigstens sehr zweifelhaft. Nach Wolfs scharfsinniger Beleuchtung der berühmten Stelle vom Bellerophon hätte der Uebers. schwerlich durch seinen Ausdruck für θυμοφθόρα πολλά: Aber er sandt’ ihn gen Lykia hin, und traurige Zeichen Gab er ihm, Todesworte geritzt auf gefalteten Täflein,
den vortrojanischen Helden die Schreibekunst beygelegt; besonders da er das γράψας ἐν πίνακι πτυκτῷ schon so richtig nach dem alten Sinne gegeben hat. Wäre es indessen leichter, als es wirklich ist, die uns so geläufigen Erfindungen und Einrichtungen, welche Homers Zeitalter noch nicht kannte, zu vergessen, so bliebe es doch eben schwierig, was ihnen vorherging, treffend zu benennen. So übersetzt Hr. V. z. B. Θέμιστες, Gesetze, wobey man doch nicht einmal [480] an eine mündlich überlieferte eigentliche Gesetzgebung, sondern nur an Herkommen und natürliche Billigkeit denken darf. Gebräuche erschöpfen diesen Begriff nicht ganz; doch heißt Θέμις in folgender Verbindung offenbar nichts weiter. Il. XIX, 177., nach Hn. V.: Wie in der Menschen Geschlecht der Mann dem Weibe sich nahet,
wörtlicher: Wie es im Menschengeschlecht der Männer und Weiber Gebrauch ist.
Die Ausdrücke Homers, die sich auf sittliche Gefühle beziehen, können den Uebers. in große Verlegenheit bringen. Die derben Aeußerungen gesunder, roher Kraft, die durch mancherley gesellige Einverständnisse noch nicht gefesselt, aber für die edelste sittliche Bildung empfänglich ist, sind wesentlich von festgesetzter Barbarey und davon unzertrennlichem Unadel der Sitten verschieden; allein wenn man jene in eine verfeinerte Sprache, worinn der Wohlstand seine despotische Gewalt weit ausgedehnt hat, ungeschwächt übertragen will, so veranlaßt man leicht eine Verwechselung mit diesem. Hierinn war Bürger, (auf dessen hexametrische Uebersetzung10 wir noch zurückkommen werden,) der Gefahr zu übertreiben ausgesetzt; Hr. V. hingegen scheint von Seiten der Milderung und Schonung zu weit zu gehen. Er kann es nicht über sich gewinnen, Achilleus den Agamemnon Hundsauge (Il. I, 159.) und Helena sich selbst eine Hündin (Il. VI, 344, 356.) nennen zu lassen; auch deutet er nur an, was Homer ausdrücklich sagt, daß Juno zuweilen von ihrem Gemahl Schläge bekommt, in der Rede Vulkans Il. I, 586: Duld’, o theuerste Mutter, und fasse dich, herzlich betrübt zwar! Daß ich nicht, du Geliebte, mit eigenen Augen es sehe. Wann er dich straft (θεινομένην).
Freylich ist es auch allzudemüthigend für die hoheitblickende Göttin (βοῶπις πότνια Ἥρη). Man sieht hieraus, wie eine Abweichung vom Original eine andre nach sich _____________ 10
[S. o. S. 5 Anm. 3.]
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zieht. Hielt Hr. V. die farrenäugige Here, wie sie bey Bürger heißt, für zu gewagt? Das von ihm gewählte Beywort ist an sich schön, es würde vortrefflich passen, wenn man annehmen dürfte, der Sänger habe eine Gestalt, wie etwa die der Juno Ludovisi, im Sinne gehabt; aber es sagt vielmehr als die beiden griechischen: sogar eine Sklavin heißt einmal βοῶπις, (Il. III, 144.), und mit πότνια ist Homer auch nicht karg. Die von Thieren hergenommenen Benennungen sowohl schlechter als guter menschlicher Eigenschaften sind sehr bedeutend: sie bezeugen die enge Nachbarschaft, womit jene Heroen auf der einen Seite mit thierischen, wie auf der andern mit göttlichen Naturen zusammenlebten. [Fortsetzung in Sp. 481] Sollte dem Dichter nicht etwas fremdes geliehen werden, wenn man γυναικῶν θηλυτεράων durch zartgebildete Weiber, zartgeschaffene Weiber giebt? Homer sagt so vieles, was sich von selbst versteht, daß man dies Beywort so gut wie νεκύων κατατεθνειώτων für tautologisch halten könnte. Zu der letzten Uebersetzung geben die beiden Stellen, wo sie vorkommt, Od. XI, 434. und XV, 421. noch einigermaßen Veranlassung; bey den zartgebildeten Weibern aber Od. XI, 385. fehlt sie ganz. Zartheit in der körperlichen Bildung hätte der Grieche eher auf jede andre Art bezeichnet, und wird geistige Bildung darunter verstanden, so ist Gedanke und Ausdruck noch unhomerischer. Warum nicht wörtlich weibliche Frauen oder Weiber, welches auch dem Leser, der die Tautologie nicht zugeben will, immer noch Genüge leisten könnte? Es wäre nicht das erstemal, daß es in unsrer Sprache gesagt wird. Die Minnesinger begrüßen ihre Geliebten häufig so, als mit einem schmeichelnden Beyworte. Bey der nach unsern Sitten nicht anständigen, aber an sich züchtigen, Weise, wie Homer von der Liebe beider Geschlechter redet, hat sich der Uebersetzer meistens geschickt durchgeholfen, ohne doch schonende Schleyer zu werfen, welche die Sache verschlimmern. Nur in der Stelle von der Astyoche Il. II, 513–515. in der Burg des Azeidischen Aktors Stieg sie einst in den Söller empor, die schüchterne Jungfrau, Hin zum gewaltigen Ares, und sank in geheimer Umarmung.
giebt das letzte Hemistich, eben weil es weniger sagt, der Einbildungskraft mehr zu thun, als das Homerische: er lagerte heimlich sich zu ihr. Zur Ehre der schüchternen Jungfrau sollte auch wohl Ἄρηϊ κρατερῷ mit τέκεν verbunden, und ὑπερώϊον ἐισαναβᾶσα auf die Zeit der Niederkunft bezogen werden, so daß der Aorist παρελέξατο die Bedeutung des Plusquamperfectum bekäme; παρθένος steht dieser Auslegung nicht im Wege, es heißt mehrmals nichts weiter als ein unvermähltes Mädchen. Die Redensart: durchbebt von süßem Verlangen, für: καί με γλυκὺς ἵμερος αἱρεῖ, Il. III, 446. möchte selbst für den Weiberheld Paris zu zart seyn. [482] Nirgends sieht man auffallender, wie fest Homer oder vielmehr sein Zeitalter noch am Sinnlichen hing, als in seinen Kinderbegriffen von der menschlichen Seele. Der philosophische Scherz, nach welchem sie im einzelnen Menschen mit dem Fortgange des Alters allmählig von den Füßen bis zum Kopfe hinaufsteigen soll, ließe sich auch auf ganze Völker anwenden. Bey jenen guten Insulanern der Südsee, denen Gedanken Worte im Bauche heißen, wohnt sie noch tief unten. Auch aus der Homerischen Sprache sieht man nirgends, daß sie sich schon im Kopfe hätte spüren lassen; ihr eigentli-
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cher Sitz ist die Brust. Die Gränzen der verschiednen Seelenvermögen fließen in einander: die Verrichtungen des Verstandes werden der begehrenden und wollenden Kraft, die sich am entschiedensten kund thut, zugleich mit zugeschrieben, und diese ist wiederum eigentlich nichts als das physische Leben, ein so handgreifliches Ding, daß es mit dem Speere zugleich aus einer Wunde in der Brust gezogen werden konnte (Il. XVI, 386.). Beym Uebersetzen solcher Stellen unsre unsinnliche Seelenlehre zu entfernen, verursacht oft große Schwierigkeiten: doch sind sie nicht unübersteiglich, weil jene einfältigen Vorstellungsarten auch bey uns unter dem Volke nicht ausgestorben sind, und in der Sprache des gemeinen Lebens aufbewahrt werden. Es wäre zu wünschen, Hr. V. hätte statt der so häufig bey ihm vorkommenden Wörter Herz und Geist öfter für jenes Brust, für dieses Muth, Sinn, Gemüth, Seele, gebraucht. Das Herz, bloß körperlich genommen, kann zwar völlig nach Homers Weise für den ganzen innern Menschen gesetzt werden: aber die Stellung muß verhindern, es metaphorisch zu verstehn, was uns eigentlich weit geläufiger ist, und besonders muß man nicht an den Unfug erinnert werden, der in unsern empfindsamen Romanen mit dem Herzen getrieben wird. Sollte diese Klippe vermieden seyn, wenn Juno (Il. I, 569. ἐπιγνάμψασα φίλον κῆρ) die Stürme des Herzens bezwingt? Der Geist wird bey uns immer allem Körperlichen entgegengesetzt, und entspricht daher Homers für die Sinne faßlichen Bildern von der Seele am wenigsten. Der alte Sänger mag immerhin den Thieren eben solch einen θυμός als den Menschen zugeschrieben haben: allein es hat eine komische Emphase, wenn Hr. V. die beiden Lämmer (Il. III, 294. θυμοῦ δευομένους) den Geist aushauchen läßt. Da θυμός an andern Stellen, Il. V, 689. XVI, 469. schicklich Leben übersetzt wird, so lag hier eine Auskunft nicht sehr weit aus dem Wege. Auch wo der verwundete Sarpedon in Ohnmacht fällt, wäre der Geist wohl besser weggeblieben. Il. V, 696. τὸν δ’ἔλιπε ψυχή, und ihn verließ sein Geist; ψυχή [483] ist ja an mehrern Stellen offenbar nichts weiter als der Odem, die sichtbare Lebenskraft. Merkwürdig ist es zu sehen, wie Homer sich hilft, wo er von der Einbildungskraft spricht, Od. I, 115.: ὀσσόμενος πατέρ’ ἐσθλὸν ἐνὶ φρεσίν, welches nicht zum treuesten übersetzt wird: denkend des Vatersbild. Man könnte zweifeln, ob Homer sich das Gedächtniß, so wichtige Dienste es ihm bey seinen Dichtungen leisten mußte, und obgleich seine Wirksamkeit schon zur Person erhoben war, als eine für sich bestehende Seelenkraft dachte; es wäre also sicherer gewesen, Il. II, 33. μηδέ σε λήθη αἱρείτω anders zu geben als: daß dem Gedächtniß nichts entfällt. Wenn es aber Od. XVIII, 216. heißt: Schon als Knab’ im Herzen bewegtest du mehr des Verstandes,
für: παῖς ἔτ’ ἐών, καὶ μᾶλλον ἐνὶ φρεσὶ κέρδε’ ἐνώμας,
so tritt offenbar Verworrenheit an die Stelle jener Unbestimmtheit der Vorstellungen, welche die Seelenkräfte noch nicht unterscheidet, und die gesonderten und nunmehr entgegengesetzten Begriffe werden wieder durch einander geworfen. Man könnte eben so gut das Herz im Verstande bewegen, als den Verstand im Herzen. Noch mehr mißlungen, wo möglich, ist die Uebersetzung des Hemistichs: κατὰ φρένα καὶ κατὰ θυμόν, in des Herzens Geist und Empfindung, welches um so schlimmer ist, da es zu den wiederkommenden gehört. Nach welcher Psychologie hat das Herz im bildlichen Sinne,
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wozu hier die folgende Empfindung nöthigt, einen Geist? Dem Worte Empfindung für innre Empfindniß möchte schwerlich etwas in der ganzen Homerischen Sprache nur von fern ähneln. Welche Anatomie der Seele, die innre Empfindung noch vom Herzen, d. h. dem Vermögen derselben zu trennen? Doch dies ist noch nicht alles; denn nun soll nebst dem Geiste des Herzens auch in der Empfindung des Herzens etwas erwogen (Il. I, 193.) oder gar erkannt werden (Il. IV, 163.). Wie schlicht und einfältig lautet dagegen das Griechische! Tautologischer Ueberfluß ist überhaupt im Tone der kindlichen Urwelt; aber bey der Beschreibung dessen, was in der Seele vorgeht, ganz vorzüglich an seinem Platze: denn hier glaubte man sich nicht deutlich genug verständigen zu können. Wen es beleidigt zu hören: in seinem Sinn und Gemüthe, in der Brust und in dem Gemüthe, in der Seel’ und in dem Gemüthe u. s. w., der ist noch nicht im Stande den Homer zu genießen. Dies sey genug über die Wahrheit der Voßischen Uebersetzung von Seiten des Inhalts. Wir müssen nun betrachten, in wiefern sie die poëtische Form, den Stil, den Ton, die Farbe der Darstellung der Homerischen Gesänge getroffen oder verfehlt hat, was eigentlich das Wichtigste ist, weil es sich über das Ganze erstreckt, und weil auch aller Inhalt eines Gedichts doch nur durch das Medium der Form erkannt wird. Es ist schon oben bemerkt worden, daß sich hiebey [484] nicht alles durch Gründe entscheiden läßt: die feineren Unterschiede der Eindrücke sowohl dem Grade als der Art nach hängen von der Empfänglichkeit und Stimmung des Einzelnen ab; niemand kann sein besondres Gefühl zum allgemeinen Maaßstabe erheben, weil jeder sich mit gleichem Rechte auf die Leitung des seinigen beruft. Viele Leser könnten erklären, Hn. Voss’ens Homer sey nicht der ihrige, und es bliebe immer noch zweifelhaft, ob er ihn nicht richtiger gefühlt als sie, da ihn unstreitig wenige so tief und anhaltend wie er studirt haben. Indessen würde es mißlich um die ganze Poësie aussehen, wenn es gar keine zuverläßig erkennbaren, im Wesen der Sache selbst gegründeten Beschaffenheiten des Ausdrucks gäbe, wobey eine allgemeine Uebereinkunft angenommen werden darf. Wenn nicht eine zweyte Sprachverwirrung einreißt, so wird man mit Sicherheit angeben können, wo das Gewöhnliche mit dem Seltsamen, das Bescheidne mit dem Kühnen, das Einfache mit dem Ueberladenen, das Natürliche mit dem Gekünstelten und Steifen vertauscht wird. Der nüchternen, aber kräftigen, Einfalt Homers kann nichts schlimmers widerfahren, als wenn ihr fremder Schmuck geliehen wird: in der gemeinsten Prosa wird man sie immer noch eher wieder erkennen. Wie also Hr. V. übersetzen konnte: ὃ δ’ ἤϊε νυκτὶ ἐοικώς, er wandelte düster wie Nachtgraun; τοῦ γὰρ κράτος ἐστὶ μέγιστον, denn sein ist siegende Allmacht; ὀρινομένη τε θάλασσα, des Meeres Empörung; τὸν δὲ ἰδὼν ῥίγησε, ihn erblickt’ aufschauernd; βρότον αἱματόεντα, blutigen Mord; πολέμου ἐπιδημίου, ὀκρυόεντος, des heimischen Kriegs, des entsetzlichen Scheusals; κονίη, wölkender Staub; πυρὸς ὁρμῇ, von des Feuerorkans Wuth; μεγάλῳ ἀλαλητῷ mit wild aufhallendem Feldruf; ὑπερφιάλοισι μετελθών, umlermt’ ihn der trotzigen Schwelger Getümmel; νέκταρ ἐρυθρόν, rothfunkelnder Nektar; μέγας σῦς, ein Borstenumstarrt Schwein; θύελλα, der Ungestüm des Orkanes; πολὺ μεῖζόν τε καὶ ἀργαλεώτερον ἄλλο, ein größeres noch und viel graunvolleres Unheil; ὕλη τηλεθόωσα, des grünenden Haines Umschattung; ὀϊζύος ἥ μιν ἱκάνει, des Elendes, das ihn umdränget; ἐπισπέρχουσι δ’ἄελλαι παντοίων ἀνέμων, wie sausen gedrängt die Orkane, rings mit Orkanen im Kampf; wie Hr. V. so übersetzen konnte, wenn er
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nicht selbst in dem alten Sänger den Pomp der spätern kunstgerechten Epopöe suchte und fand, scheint in der That unbegreiflich. Am auffallendsten werden diese Abweichungen, wenn von Gegenständen des gemeinen Lebens die Rede ist. In einem Schranke oder Behälter, wo in der griechischen und ältern deutschen Odyssee viele Speere standen, müssen sie jetzt gedrängt aufstreben (Od. I, 129.). Den fichtenen Mast (Od. II, 425.) stellten sie hoch aufrichtend στῆσαν ἀείραντες. Wenn Agamemnon, wie er sein Heer in Ordnung stellt, mit einem Stiere unter der Heerde verglichen wird (Il. II, 481.), so heißt es: So wie der Stier in der Heerd’ ein Herrlicher wandelt vor allen, Männlich stolz; denn er ragt aus den Rindern hervor auf der Weide. [485]
Das männlichstolz ist ein Zug, wovon man im Griechischen keine Spur findet, und der obendrein die ganze Vergleichung verdirbt. Denn das Ergötzen an einem treffenden Gleichnisse beruht auf der übrigen Ungleichartigkeit der verglichnen Gegenstände. Wenn der Stier wie ein Mann einhergeht, so muß auch der Mann einhergehn wie ein Stier: das versteht sich von selbst. Nach dergleichen Beyspielen möchte man doch wohl genöthigt seyn, von Klopstocks Ausspruche, „Homer könne nun, wenn er unterginge, aus dem Verdeutscher wieder vergriecht werden,“ (grammat. Gespräche, S. 349.)11 etwas abzurechnen. Wir müssen jedoch erinnern, daß man beträchtliche Stücke in einem fortlesen kann, ohne auf so starke Störungen zu treffen. Es sey uns erlaubt, einige Stellen im Zusammenhange auszuheben, und das Urtheil darüber durch Vergleichung, theils mit Bürgers Weise zu übersetzen, theils mit Hn. V’s. eigner früherer Arbeit zu schärfen. Die Rede der Thetis Il. I, 413. lautet in der neuesten Uebersetzung so: Aber Thetis darauf antwortete, Thränen vergießend: Wehe mir! daß ich, mein Kind, dich erzog, unselig Geborner! Möchtest du hier bey den Schiffen doch frey von Thränen und Kränkung Sitzen; dieweil dein Verhängniß so kurz nur währet, so gar kurz! Aber zugleich frühwelkend und unglückselig vor allen Wurdest du! Ja, dich gebahr ich dem Jammergeschick im Palaste! Dies dem Donnerer Zeus zu verkündigen, ob er mich höre, Geh’ ich selber hinauf zum schneebedeckten Olympos. Du indeß an des Meers schnellwandelnden Schiffen dich setzend, Zürne dem Danaervolk, und des Kriegs enthalte dich gänzlich. Zeus ging gestern zum Mahl der unsträflichen Aethiopen An des Okeanos Flut; und die Himmlischen folgten ihm alle. Aber am zwölften Tag, dann kehret er heim zum Olympos. Hierauf steig ich empor zum ehernen Hause Kronions, Und umfass’ ihm die Knie, und ich traue mir, ihn zu bewegen.
Bey Bürger (im Journal von und für Deutschland. 84. 1. St.): Ihm antwortete darauf die Göttin Thränen vergießend: Ach! was mußt’ ich dich, Kind, gebähren zum Unglück und aufziehn? Daß du doch thränenlos und ungekränket hier säßest,
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[Friedrich Gottlieb Klopstock, Grammatische Gespräche, Altona 1794.]
Rezension zu Homers Werke von Voss Da dir ein Kurzes nur, ganz Kurzes! zu leben bestimmt ist! Sterblich bist du so früh und über alles doch elend! Drum gebahr ich gewiß dich heim zur Stunde des Unglücks. [486] Doch bald fahr’ ich hinan zum hochbeschneyten Olympos, Meld’ es dem donnerfrohen Kronion, ob es ihn rühret. Du bleib sitzen indeß bey den schnell hingleitenden Schiffen, Zürne den Griechen fort, und enthalte des Krieges dich gänzlich. Zeus ging gestern zum Mahl an den Ozean hin zu den frommen Aethiopen, und ihn begleiteten sämmtliche Götter. Nach zwölf Tagen kehrt er wieder zurück zum Olympos. Alsdann will ich hinauf in sein erzbegründetes Haus gehn, Und sein Knie umschlingen. So hoff’ ich ihn zu bewegen.
Das Ende des Gesanges: Sprachs; da lächelte sanft die lilienarmige Here; Lächelnd darauf entnahm sie der Hand des Sohnes den Becher, Jener schenkte nunmehr auch der übrigen Götterversammlung Rechts herum, dem Kruge den süßen Nektar entschöpfend. Doch unermeßliches Lachen erscholl den seligen Göttern, Als sie sahn, wie Hefästos in emsiger Eil umherging. Also den ganzen Tag bis spät zur sinkenden Sonne Schmausten sie, und nicht mangelt’ ihr Herz des gemeinsamen Mahles, Nicht des Saitengetöns von der lieblichen Leyer Apollons, Noch des Gesangs der Musen mit hold antwortender Stimme. Aber nachdem sich gesenkt des Helios leuchtende Fackel, Gingen sie auszuruhn, zur eignen Wohnung ein jeder, Dort wo jedem vordem der hinkende Künstler Hefästos Bauete seinen Pallast mit erfindungsreichem Verstande. Zeus auch ging zum Lager, der Donnergott des Olympos, Wo er zuvor ausruhte, wann süßer Schlaf ihm genaht war. Dorthin stieg er zu ruhn mit der goldenthronenden Here.
Bey Bürger: Sprach’s ihm lächelte drob die lilienarmige Here, Und nahm lächelnd hin von der Hand des Sohnes den Becher. Dieser reichte nun auch, rechts anbeginnend, des süßen Nektars, aus dem Kumpe geschöpft, den übrigen Göttern. Unauslöschliche Lache befiel die seligen Götter, Als sie sahn, wie Hefaistos die Halle so flink durchdiente. Nun durchschmauseten sie den Tag, bis die Sonne hinabsank. Keines Herzen gebrachs an voller Gnüge des Mahles. Foibos Apollon schlug die schöne Laute. Die Musen Sangen Wechselgesänge dazu, mit lieblichen Stimmen. Als sie gesunken war, die leuchtende Fackel der Sonne, Da ging jeder zu ruhn hinweg nach seinem Gemache. Jeglichem hatte der zwiergelähmte berühmte Hefästos Sein besonders Gemach mit künstlichem Sinne gezimmert. Auch zu Bett ging Zeus, der olympische Schwinger des Blitzes,
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Man sieht, daß Bürger schon sehr viel geleistet hat. Zeile vor Zeile neben der Voßischen Uebersetzung mit dem Original zusammengehalten, verliert die seinige, weil sie sich besonders in der Stellung der Redetheile viel weiter von jenem entfernt. Hingegen im Zusammenhange gelesen, giebt sie den Eindruck vielleicht vollkommner wieder, und ein gewisses Etwas darinn spricht einem [sic] bekannter und herzlicher an. Die Wortfolge ist oft von der Homerischen verschieden, aber im Deutschen eben so leicht und kunstlos, wie jene im Griechischen. Hn. Voßens Ueberlegenheit im Versbau fällt in die Augen: allein Bürgers Hexameter ist bis auf einige Versehen gegen die Prosodie keinesweges verwerflich, und man entdeckt an ihm weit weniger Spuren einer mühsamen Entstehung. In Ansehung der Sprachkunde und gelehrten Auslegung würde er selbst sich nicht neben Hn. V. haben stellen wollen. Sonst hatte dieser wackre Dichter gewiß einen vorzüglichen Beruf, Uebersetzer Homers zu werden. Alles, was die deutsche, auch die alte deutsche Sprache, an naiven, kräftigen, zutraulichen Wörtern und Wendungen hat, stand ihm zu Gebote; gerade, offen und ohne Aengstlichkeit sagte seine Muse alles, wie sie es fühlte; er war selbst Volksdichter und vergaß nie, daß Homer es im höchsten Sinne des Wortes gewesen. Schwerlich so treu als Hr. V. aber vielleicht wahrer hätte er ihn verdeutscht. Da seine Ilias leider unvollendet geblieben ist, so wäre wenigstens zu wünschen, daß die im Journal von und für Deutschland zerstreuten Gesänge sowohl, als was sich noch unter den Papieren des Verstorbnen finden möchte (Rec. müßte sich sehr irren, wenn er nicht selbst fertige noch ungedruckte Stücke von Bürger hätte vorlesen hören) gesammelt herausgegeben würden.12 [Fortsetzung in Sp. 489] Bey der Vergleichung einiger Stellen aus der älteren und neueren Vossischen Odyssee wird sich vielleicht ein ähnliches Verhältniß offenbaren, wie zwischen den eben zusammengehaltenen Proben aus der Ilias. Jene erste Uebersetzung ist so durchaus umgearbeitet worden, daß es keiner sorgfältigen Wahl der Stellen bedarf, um ihren Unterschied auffallend zu zeigen. Fast jedes andre Bruchstück könnte denselben Dienst verrichten, wie die folgenden, die wir aus verschiednen Gesängen ausheben wollen. Pallas erscheint der Nausikaa und redet sie an, Od. VI, 25–40. In der ältern Uebersetzung: 25. Liebes Kind, was bist du mir doch ein läßiges Mädchen? Deine kostbaren Kleider, wie alles im Wuste herumliegt! Und die Hochzeit steht dir bevor! Da muß doch was schönes Seyn für dich selber, und die, so dich zum Bräutigam führen! Denn durch schöne Kleider erlangt man ein gutes Gerüchte 30. Bey den Leuten; auch freun sich dessen Vater und Mutter. Laß uns denn eilen und waschen, sobald der Morgen sich röthet! Ich will deine Gehülfin seyn, damit du geschwinder Fertig werdest; denn Mädchen, du bleibst nicht lange mehr Jungfrau.
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[Bürgers Übersetzungsproben aus der Ilias wurden kurz darauf in seinen Sämmtlichen Schriften gesammelt (Bd. 3 u. 4, hg. v. Karl Reinhard, Göttingen 1797/98).]
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Siehe, es werben ja schon die edelsten Jüngling’ im Volke 35. Aller Fäacken um dich; denn du stammst selber von Edlen. Auf! erinnere noch vor der Morgenröthe den Vater, Daß er mit Mäulern dir den Wagen bespanne, worauf man Lade die schönen Gewande, die Gürtel und prächtigen Decken. Auch für dich ist es so bequemer, als wenn du zu Fuße 40. Gehen wolltest; denn weit von der Stadt sind die Spülen entlegen.
In der neuern: 25. Welch ein läßiges Mädchen, Nausikaa, bist du der Mutter. Dein Gewand, wie liegt es in Wust, so gepriesener Schönheit! [490] Und dir naht die Vermählung, wo schönes du brauchst, für dich selber Anzuziehn, und zu reichen den Jünglingen, welche dich führen! Denn durch Schmuck erlangt man ein gutes Gerücht bey den Menschen 30. Rings; auch freun der Vater sich deß und die liebende Mutter. Gehen wir denn zu waschen, sobald der Morgen sich röthet. Ich als Helferin auch begleite dich, daß du geschwinder Fertig seyst; denn wahrlich, du bleibst nicht lange noch Jungfrau. Denn schon werben um dich die Edelsten unter dem Volke 35. Aller Fäaken umher; da du selbst von edler Geburt bist. Auf, den gepriesenen Vater ermuntere noch vor dem Morgen, Daß er Mäuler und Wagen beschleunige, welcher dir führe Gürtel und feine Gewand’ und Teppiche, edel an Kunstwerk. Auch ist solches dir selbst anständiger, als da zu Fuße 40. Hinzugehn; denn weit von der Stadt sind die Gruben der Wäsche.
Die erste Zeile folgt in beiden Uebersetzungen dem Original nicht wörtlich genau, in der letzten gewissermaaßen noch weniger als in der ersten. Zwar steht Nausikaa und nicht liebes Kind im Texte; die Mutter ist auch hineingebracht, aber in einem ganz andern Verhältnisse. Der Dativ der Mutter ist hier sehr fremd; mit dem pleonastischen mir hat es eine verschiedene Bewandniß: es ist im vertraulichsten Tone gebräuchlich, da jenes höchstens nur als eine gelehrte Redensart gelten dürfte. Sollen die Worte: du bist der Mutter ein läßiges Mädchen, bedeuten: die Mutter leidet unter deiner Nachläßigkeit, (und was könnte sonst ihr Sinn seyn?) so ist es noch überdieß unrichtig. Die folgende Rede zeigt, daß Nausikaa sich selbst ein läßiges Mädchen war, weil sie für ihren eignen Putz nicht sorgte. Die Griechische Wendung: τί νύ σ’ ὧδε μεθήμονα γείνατο μήτηρ, soll wohl nichts mehr sagen als: wie nachläßig bist du von Natur; es möchte also durch wörtliche Uebertragung leicht ein zu starker Nachdruck darauf gelegt werden. V. 26 wird Gewand als Collectivum gebraucht, welches dem Ursprunge des Wortes gemäß seyn mag, aber gewiß gar nicht üblich, und deswegen unverständlich ist. So gepriesener Schönheit für σιγαλόεντα ist zu geschmückt und gesucht. Die mit dem Griechischen übereinkommende, aber dort leichte und gewöhnliche, im Deutschen gekünstelte, wo nicht ganz [491] unerlaubte Stellung verstärkt noch diesen Eindruck. Wer, mit den alten Sprachen unbekannt, sich nicht über die einheimische Art zu construiren erheben kann, wird mit einem Wuste von gepriesener Schönheit zu schaffen bekommen. Wie viel natürlicher ist: deine kostbaren Kleider! Vielleicht ist im Wuste für ἀκηδέα in beiden Uebersetzungen ein zu harter Ausdruck. Und dir naht die
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Vermählung ist viel vornehmer aber auch steifer als: Und die Hochzeit steht dir bevor. Durch welches von beiden sollte wohl das Homerische σοὶ δὲ γάμος σχεδόν ἐστιν, besser getroffen seyn? Eben so verhält es sich mit: wo schönes du brauchst statt: da muß doch was schönes seyn. Ohne Beziehung auf ein vorhergehendes Substantivum möchte schönes schwerlich die Begleitung des Pronomen etwas oder des vertraulicheren was entbehren können, und wenn es mit Gewand zusammenhängen soll, wie das Griechische καλὰ mit εἵματα, so mußte der ungelehrte Leser erst besonders davon unterrichtet werden. Die Versetzung wo schönes du brauchst statt wo du schönes brauchst ist hart. V. 29, 30 klingt viel naiver in der älteren Uebersetzung; in der neueren sind die Leute zu Menschen erhoben, und mit einem nachschleppenden rings verziert worden, wozu Homer nicht den geringsten Anlaß giebt. In den folgenden Zeilen sind die Veränderungen weniger bedeutend und meistens zum Vortheil der neueren Uebersetzung. V. 35 scheint Hr. V. beide Male ὅτι und nicht ὅθι gelesen zu haben. Sollte γένος ohne allen Zusatz edle Geburt bezeichnen können? Nach der Lesart ὅθι sagt Homer freylich etwas, das sich von selbst versteht: allein wie oft begegnet ihm das? Im höchsten Grade mislungen ist die Veränderung des 37. und 38. Verses. Wie kann man sagen: Mäuler und Wagen beschleunigen? Dieses Zeitwort heißt: machen, daß etwas geschwinder geschieht, und läßt sich daher durchaus nicht auf Gegenstände, sondern nur auf Handlungen anwenden. Niemals beschleunigt man ein Haus, aber wohl einen Bau. Wenn man von Beschleunigung einer Sache redet, so meynt man damit immer ein Geschäft, eine Verrichtung. Ueberdieß liegt dabey immer ein Vergleich des Schnelleren und Langsameren zum Grunde, die hier gar nicht Statt finden kann. Wie seltsam würde Nausikaa ihren Vater bitten, ihr den Wagen geschwinder zu schaffen, da sie ihm vorher noch nichts davon gesagt hatte! Der Ausdruck des Textes ἐφοπλίσαι läßt keine Spur von dieser unschicklichen Eile wahrnehmen. Wagen konnte im Deutschen die Bestimmung des Artikels einen oder den nicht entbehren, wenn das Pronomen relativum darauf zurück weisen sollte. Welcher dir führe ist in der That sehr wörtlich nach dem Griechischen: ἥ κεν ἄγῃσι; doch steht das unnütze dir nicht da, und führen sagt man in unsrer Sprache wohl von der Ladung eines Schiffes, eines Frachtwagens, aber in andrer Beziehung als wie es hier steht. Die griechische Wortfolge: Welcher dir führe Gürtel und feine Gewand’ u. s. w. möchte bey uns durch hohen lyrischen Schwung gerechtfertigt werden; in einer nüchternen Rede von Gegenständen des gemeinen Lebens angebracht, ist sie ganz an der unrechten Stelle. Aus ῥήγεα σιγαλόεντα ist hier wieder et-[492]was sehr prächtiges geworden, nämlich Teppiche, edel an Kunstwerk. Schwerlich läßt sich die Präposition An in dieser Verbindung gebrauchen: man sagt edel von Abkunft statt von edler Abkunft, aber nicht edel an Abkunft. Doch was soll man bey edel an oder von Kunstwerk denken? Ein Kunstwerk ist ein selbständiges, durch Kunst hervorgebrachtes Ding, und keinesweges eine Beschaffenheit, wornach eine Sache edel oder unedel genannt werden könnte. Die Teppiche waren ein Kunstwerk; wenn man sie anders mit diesem Namen beehren will: da hätten wir also ein an Kunstwerk edles Kunstwerk. Der Vf. hat sagen wollen: edel an Kunstarbeit, allein diese Bedeutung hat das Wort Werk nur in den niederdeutschen Zweigen der germanischen Sprache, dem Englischen und Holländischen, niemals im Hochdeutschen. Im 39ten V. entspricht anständiger dem κάλλιον besser als bequemer; dagegen ist solches hineinge-
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kommen, gegen dessen häufigen Gebrauch sich schon der Beurtheiler im T. Merkur13 erklärt hat. Gruben der Wäsche erklären die Sache bestimmter als das provinzielle Spülen. Die darauf folgenden Verse lauten in der frühern Odyssee: Also redete Zeus blauäugichte Tochter, und kehrte Wieder zum hohen Olympos, der Götter ewigen Wohnsitz, Nie von Orkanen erschüttert, vom Regen nimmer beflutet, Nimmer bestöbert vom Schnee; die wolkenloseste Heitre Wallet ruhig umher, und deckt ihn mit schimmernden Glanze: Dort erfreut sich ewig die Schaar der seligen Götter. Dorthin kehrte die Göttin, nachdem sie das Mädchen ermahnet.
In der späteren: Also sprach und enteilte die Herscherin Pallas Athene Schnell zum Olympos empor, dem ewigen Size der Götter, Sagen sie: den kein Sturm noch erschütterte, nie auch der Regen Feuchtete, oder der Schnee umstöberte; Heitre beständig Breitet sich wolkenlos, und hell umfließt ihn der Schimmer. Dort erfreun sich täglich die seligen Uranionen; Dorthin kehrt’ Athene, nachdem sie das Mädchen ermahnet.
In beiden Uebersetzungen gehört die Stelle sowohl durch den Inhalt als durch die Schönheit der Nachbildung zu den ausgezeichnetsten. Durch die beträchtlichen Veränderungen, die sie erlitten, hat sie theils verloren, theils gewonnen. Beym Homer geht Athene weg, in der neuen Uebersetzung enteilt sie schnell; und obgleich man mit jenem Worte immer den Begriff verbindet: von einem Orte wegeilen, so enteilt sie hier zum Olympus empor. In dem ὅθι φασί verräth sich die aufrichtige Einfalt des Sängers, der bey seinem Glauben an den Olymp doch bezeugen zu müssen meynt, er habe seine Nachrichten darüber nur vom Hörensagen. Dieser merkwürdige Zug war vorhin übersehen worden; jetzt ist er durch Sagen sie gegeben, welches jedoch an der Stelle etwas nachschleppt und nicht frey von Undeutlichkeit ist. Die Orkane, ein Prachtwort, das Hr. V. sonst vorzüglich liebt, sind dießmahl zum [493] Sturme gemildert; im Texte findet man nur Winde. Warum hat bestöbern in das künstlichere umstöbern verändert werden müssen, da doch jenes genauer mit ἐπιπίλναται übereinkömmt? Die Stellung des beständig zwischen dem Nominativ und dem Verbum ist den Gesetzen unsrer Sprache zuwider. Geht der Nominativ voran, so muß das Umstandswort dem Zeitworte folgen; folgt jener dem Zeitworte, so muß es diesem vorangehn. Man hat nur die Wahl, ob man sagen will: Heitre breitet sich beständig, oder: beständig breitet sich Heitre. Wenn unsre Sprachkundigen breiten für ausbreiten oder verbreiten gelten lassen wollen, so ist das Hemistich: Breitet sich wolkenlos schöner und treuer als das ältere. Eben das gilt von der zweyten Hälfte des Verses: und hell umfließt ihn der Schimmer. Im 46. V. ist täglich dem sinnlichen Ausdruck ἤματα πάντα gemäßer als das zuvor gesetzte ewig. Tag für Tag käme vielleicht noch näher. Für die Vertauschung der Götter mit Uranionen möchte es schwer seyn, einen Grund ausfindig zu machen. _____________ 13
[Gemeint ist Wieland, s. o. S. 6 Anm. 7.]
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Die folgenden Verse würden zu ähnlichen Bemerkungen Stoff darbieten, wenn der Raum sie alle hier zu entwickeln erlaubte. Unter andern ist die buchstäbliche Uebertragung des πάππα φίλ’ durch lieber Papa in der Rede der Nausikaa, von dem häßlichen und übelklingenden Diminutiv Väterchen verdrängt worden. Sollte man bey solchen Gelegenheiten nicht denken, der Deutsche, sonst so naive Dichter habe sich der ehemahls empfundenen Naivität im Namen des Griechischen Sängers und in seinem eignen geschämt? Allein hier geht noch etwas weit Bedeutenderes verloren als das Gefällige des kindlichen Tones. Daß die Homerische Poesie in einer ernsthaften Darstellung jenes Kinderwort aus der allgemeinen Natursprache nicht verschmähte, ist äußerst charakteristisch, und könnte allein hinreichen, manchem falschen Begriff von ihr ein Ende zu machen. Die erste Anrede des Kyklopen Od. IX, 252–255 hieß ehedem: Fremdlinge, sagt, wer seyd ihr? Von wannen trägt euch die Woge? Habt ihr wo ein Gewerb’, oder schweift ihr ohne Bestimmung Hin und her auf der See: wie Küsten umirrende Räuber, Die ihr Leben verachten, um fremden Völkern zu schaden?
Jetzt: Fremdlinge, sagt, wer seyd ihr? Woher durchschifft ihr die Woge? Ist es vielleicht um Gewerb’, ists ohne Wahl, daß ihr umirrt, Gleich wie ein Raubgeschwader im Salzmeer, welches umherschweift, Selbst darbietend das Leben, den Fremdlingen Schaden bereitend.
Die letzte Hälfte des ersten Verses ist wörtlicher geworden. Das altdeutsche von wannen hätte indessen beybehalten werden können, das Sylbenmaaß gestattete es wenigstens. Ohne Bestimmung war ein zu ge-[494]lehrter Ausdruck, aber das dafür gesetzte ohne Wahl ist nicht ganz passend. Eine Wahl, wenn auch eine bloß willkührliche, gehört doch immer dazu, um auf der See hier oder dorthin zu fahren. Aufs Gerathewohl wäre das eigentliche Wort für μαψιδίως. Räuber (ληϊστῆρες) war weit treuer und einfacher als Raubgeschwader. Unter einem Raubgeschwader im Meere wird man sich etwa Hayfische vorstellen: menschliche Seeräuber fahren auf dem Meere. Und welche ängstliche Genauigkeit, die doppelte Bedeutung des Worts ἅλς, an die der Grieche vermuthlich selbst nicht mehr dachte, wenn er es für Meer gebrauchte, durch Salzmeer geben zu wollen! Der deutsche Leser wird unfehlbar glauben, es sey nicht von der See überhaupt, sondern von einem bestimmten, vorzüglich salzigen Meere die Rede. Der lächerliche Mißverstand, der entsteht, wenn man gewöhnlicher Maaßen welches auf das zunächst vorhergehende Substantivum bezieht, wo dann ein umherschweifendes Salzmeer zum Vorschein kömmt, hätte auch billig vermieden werden sollen. Räuber, die ihr Leben selbst darbieten, sind in der That sehr höflich und großmüthig; beym Homer setzen sie es nur aufs Spiel (ψυχὰς παρθέμενοι). Die ältere Uebersetzung: die ihr Leben verachten erreichte den Sinn des Originals nicht ganz, aber sie verunstaltete ihn doch wenigstens nicht. Die darauf folgende Antwort des Ulysses überlassen wir, um nicht zu weitläuftig zu werden, dem Leser zu eigner Vergleichung, und heben nur die Schlußzeilen aus. In der ältern Uebersetzung:
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Scheue doch, Bester, die Götter! Wir Armen flehn dir um Hülfe! Und ein Rächer ist Zeus dem hülfeflehenden Fremden, Zeus der Gastliche, welcher die heiligen Gäste geleitet.
In der neuern: Scheue doch, Bester, die Götter! Wir nahen dir jetzo in Demuth; Aber Zeus ist Rächer dem nahenden Mann, und dem Fremdling, Gastbar, welcher den Gang ehrwürdigen Fremdlingen leitet.
Durch das nahn und den nahenden Mann scheint Hr. V. die Ableitung des ἱκέτης haben andeuten zu wollen. Jener Ausdruck wird durch den Zusatz in Demuth zwar vor Mißverstand gesichert, doch war die letzte Hälfte des ersten Verses vorhin kräftiger und herzlicher übersetzt. Der nahende Mann hingegen ohne weiteres könnte eben so gut ein Bandit seyn als ein Hülfe bittender. Ueberhaupt ist es seltsam, eine vorübergehende Handlung auf diese Weise als fortdauernde Eigenschaft vorzustellen. Der nahende Mann nimmt sich um nichts besser aus als der gehende Mann, der laufende Mann. Der zweyte Vers hob mit Und weit schicklicher an, als jetzt mit Aber, obgleich im Griechischen δέ steht. Dieses muß so manche unmerkliche Lücken zwischen den Redesätzen ausfüllen, daß es längst nicht den Nachdruck des Aber hat, und auch in drey bis vier [495] Versen nach einander wiederholt wird, was im Deutschen unerträglich seyn würde. Hier soll ja kein Einwurf gemacht, sondern vielmehr etwas zur Bestätigung des Vorhergehenden angeführt werden. Gastbar, allerdings ein altes deutsches, aber auch ein veraltetes Wort ist dem wohlklingenderen gastlich vorgezogen worden. Daß gastbar für der Gastbare steht, wird wohl kein Leser errathen, der nicht das Griechische zugleich vor Augen hat. Es könnte nicht so verstanden werden, wenn es gleich auf das Hauptwort folgte: Aber Zeus, gastbar, ist Rächer u. s. w.; wie viel weniger, da es durch einen ganzen Vers davon getrennt ist! Ein Beschaffenheitswort wird erst durch die Concretionssylbe zum Adjectivum, und kann ohne dieselbe nur mit dem Zeitworte in unmittelbare Verbindung gesetzt werden. Man wird also unfehlbar, trotz der Interpunction construiren: und (ist) dem Fremdling gastbar. Hieraus folgt weiter, daß das Relativum welcher, da es mit einem Beschaffenheitsworte nichts zu thun haben kann, und Zeus durch zwey andre Hauptwörter viel zu weit davon getrennt ist, auf Fremdling bezogen werden wird. Der Dativ ehrwürdigen Fremdlingen statt des Genitivs ist fremd und gelehrt; um nicht zu sagen undeutsch. Das Beywort heiligen für αἰδοίοισιν war angemessener als das jetzt gewählte, das nur wörtlicher scheint. Ehrwürdig ist man durch persönliche Eigenschaften, vorzüglich durch sittliche; heilig kann sogar eine leblose Sache ohne ihr Verdienst seyn, wenn ihre Verletzung für ein Verbrechen gilt. Die Römischen Tribunen waren oft sehr wenig ehrwürdig, aber dennoch personae sacrae; so auch ein Gast nach Homers Begriffen. Doch dieß ist noch nicht das wichtigste; wir müßten uns sehr irren, wenn die neuere Uebersetzung den Sinn der letzten Zeile nicht völlig verfehlte. Nicht von einer lenkenden, sondern von einer beschützenden Begleitung ist die Rede. Zeus bestimmt die Fremdlinge nicht, sich hierhin oder dorthin zu begeben, er [496] leitet ihnen den Gang nicht; sondern er ist ihnen nahe, damit sie nicht verletzt werden, er geleitet sie.
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Diese umständliche Zergliederung einzelner Stellen, welche die Gründlichkeit des verdienstvollen Uebersetzers dem Beurtheiler zur Pflicht macht, hat uns auf einen Punkt geführt, von dem wir vorher absichtlich geschwiegen, um die verschiednen Gesichtspunkte nicht zu verwirren. Wir haben das vorliegende Werk immer nur als eine Dollmetschung des Griechischen, nicht als eine Uebertragung ins Deutsche betrachtet. Dieses doppelte Verhältniß liegt schon im Begriffe einer Uebersetzung: eine Sprache muß dabey völlig an die Stelle der andern treten, so daß außer ihren Regeln auch dasjenige Uebliche, was sich durch keine allgemeinen Vorschriften bestimmen läßt, beobachtet wird. Eben wegen der vielfachen, nie auszugleichenden Verschiedenheit der Sprachen bleibt alles poëtische Uebersetzen, wo es nicht bloß auf den Sinn im Ganzen, sondern auf die feinsten Nebenzüge ankommt, eine unvollkommne Annäherung. Es bedarf keines Beweises, daß alle Freyheiten, die einem Originaldichter gestattet werden, einem übersetzenden Dichter, dessen Lage weit ungünstiger ist, im vollsten Maaße zu Gunsten kommen müssen. Aber eben so ausgemacht ist es, daß es für jede Sprache gewisse durch ursprüngliche noch fortdauernde Beschaffenheit, oder durch eine Verjährung von undenklichen Zeiten her festgesetzte Gränzen giebt, die man nicht überschreiten darf, ohne sich den gerechten Vorwurf zuzuziehen, daß man eigentlich keine gültige, als solche anerkannte Sprache, sondern ein selbsterfundnes Rothwelsch rede. Keine Nothwendigkeit kann als Rechtfertigung dagegen angeführt werden. Wäre eine Ilias in reinem Deutsch, unentstellt von Graecismen, unmöglich, so würde es besser seyn, ganz Verzicht darauf zu thun. [Fortsetzung in Sp. 497] Noch neulich ist darüber gestritten worden, wie weit sich das Recht des Einzelnen, zu Ausbildung der Sprache mitzuwirken, erstrecke. Daß einzelne Schriftsteller, besonders Dichter, durch ihr Beyspiel einen unübersehlich großen Einfluß darauf haben können, beweist die Geschichte der Sprachen. Auch hat man vieles anfangs als Sprachverderb verschrieen, was nachher Eingang gefunden und sich als wahre Veredlung bewährt hat. Vorschläge, etwas in die Sprache einzuführen, was noch nicht vorhanden war, müssen daher nicht ohne gründliche Erwägung abgewiesen werden. Wie alle menschlichen Einrichtungen, so strebt auch die Rede, diese schöne Urkunde unsrer höheren Bestimmung, unaufhörlich nach dem Besseren, und es ist ein wahres Verdienst, wenn der Einzelne durch seine bestimmten Bestrebungen das Organ dieses allgemeinen Wunsches wird. Nur ist es dabey eine unerlaßliche Bedingung, daß er nicht einreißen muß, indem er baut: das vorgeschlagne Neue darf nicht im Widerspruche mit dem entschieden festgesetzten stehn. Wäre die Sprache eine bloße Zusammenhäufung, gleichviel ob von gleichartigen oder ungleichartigen Bestandtheilen, eine formlose Masse; so dürfte man nach Willkühr ändern oder hinzufügen, und jede Bereicherung ohne Ausnahme wäre Gewinn. Allein sie ist ein geordnetes Ganzes, oder macht doch Anspruch darauf, es mehr und mehr zu werden; nach Gesetzen der Aehnlichkeit und Verwandschaft zieht alles in ihr sich an oder stößt sich ab; allgemeine Formen gehen durch sie hin, beleben den Stoff, und üben dagegen eine bindende Gewalt an ihm aus. Je einfacher, umfassender und zusammenhängender ihre Gesetze sind, desto vollkommner ist sie organisirt; je größere Freyheit neben diesen Gesetzen, nicht wider sie, Statt findet, desto geschickter ist sie zum poetischen Gebrauch. Das Uebermaaß positiver Gesetzgebung, das wenig oder gar keinen Spielraum für die Entwicke-
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lung origineller Anlagen übrig läßt, ist, wie im Staate, so auch in der Sprache, ein großes Uebel. Hat es mit der gepriesenen Bildsamkeit der unsrigen seine Richtigkeit, so leiden wir nicht davon, wenigstens nicht in Vergleich mit manchen andern neueren Sprachen. Um so viel leichter läßt sich die Verbindlichkeit beobachten, ihr nichts mit ihrer Natur streitendes aufzu-[498]dringen, was sich nie bis zur Gleichartigkeit mit ihr verschmelzen kann. Sich einem fremden Charakter nachbildend anschmiegen können, ist nur dann ein wahres Lob, wenn man Selbstständigkeit dabey zu behaupten hat und behauptet. Bildsamkeit ohne eignen Geist, was wäre sie anders als erklärte Nullität? Das eigentliche Gebiet des sprachbildenden Künstlers hebt also da an, wo die Gerichtsbarkeit des Grammatikers aufhört. Nur wenige Fälle giebt es, wo er sich in das Geschäfte des letztern mischen darf, indem er nämlich einen offenbar verkehrten, launenhaften Sprachgebrauch, welcher der allgemeineren Analogie zuwider nur in einzelnen Redensarten herrscht, zurecht zu weisen sucht. Er thut es indessen immer auf seine Gefahr. Uebrigens ist jedes positive Gesetz der Sprache, wie sie selbst überhaupt, wo nicht in ihrem Ursprunge, doch in ihrer entwickelten Gestalt, eine Sache der allgemeinen Uebereinkunft, und nur dieselbe Macht, die es gegeben hat, kann es wieder aufheben. Daß sich oft keine innre Nothwendigkeit dabey erkennen läßt, thut seinem Ansehen nicht den geringsten Eintrag. Bloß nach den Grundsätzen der philosophischen Grammatik, ohne das Individuelle und selbst das Willkührliche zu Hülfe zu nehmen, ließe sich wohl eine Art logischer Zifferschrift, aber keine lebendige Sprache erfinden; und was durchgängig und unwiderruflich entschieden ist, bleibt es eben so sehr, wenn man auch zeigen könnte, der Zufall habe dabey sein Spiel getrieben. Indessen hüte man sich, charakteristische Eigenthümlichkeiten mit dem Zufälligen zu verwechseln. Oft wird ein Gesetz, das man, abgesondert betrachtet, geneigt wäre, für einen von den tyrannischen Streichen des so oft verklagten Sprachgebrauchs zu halten, im Zusammenhange der Bestandtheile und des ganzen Baues der Sprache, die es vorschreibt, einen hohen Grad von Schicklichkeit und selbst eine Art individueller Nothwendigkeit gewinnen, die sich eher fühlen als darthun läßt. Es schien das Kürzeste diese Betrachtungen vorauszuschicken, um bey dem Urtheile über die Freyheiten, die Hr. V. sich mit der deutschen Sprache genommen, immer stillschweigend darauf zurückweisen zu können. Sie bestehn entweder in neu abgeleiteten und zusammengesetzten Wörtern, oder in Wortfügungen und Wortstellungen. Bey der Leichtigkeit der Zusammensetzungen, die unsre Sprache mit der Griechischen gemein hat, entstehen häufig, selbst in der ungelehrten Sprache des Umgangs neue Wörter dieser Art, und der Uebersetzer Homers durfte daher ohne Bedenken die tönende Fülle seiner Beywörter nachzuahmen suchen. Rec. kann in [499] Ansehung ihrer weder Bürgern beytreten, der sie zum Theil für bloße Titulaturen hielt, noch dem Beurtheiler im T. Merkur,14 wenn er behauptet, Homer würde bey dem Deutschen Leser gewinnen, wenn man zuweilen mit Wahl und Urtheil andre an ihre Stelle setzte, oder sie auch manchmal gar wegließe. Es ist schon gezeigt worden, daß dem modernen Geschmack schlechterdings durch keine Abweichung von der Wahrheit des _____________ 14
[Wieland, s. o. S. 6 Anm. 7.]
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Originals geschmeichelt werden darf, und die Leser, bey denen Homer durch eine solche Veränderung gewönne, möchten wohl überhaupt unfähig seyn, ihn zu fühlen. Die Beywörter gehören wesentlich zum Charakter seiner Poësie: es liegt in der freundlichen Ansicht der Dinge, die uns in ihr erquickt, daß sie jedem Gegenstande, sey er noch so gering und unscheinbar, irgend etwas wohllautend nachzurühmen weiß, und das Verweilen bey der sinnlichen Gegenwart bezeichnet, so wie die unermüdliche Stetigkeit der sanften Rhythmen, das ruhige, einfache Fortschreiten der Handlung, worin nichts übereilt wird, und alles bis auf das Kochen und Braten, Essen und Trinken, seinen bequemen Raum findet. Es bedarf keines großen Scharfsinns, um zu bemerken, daß die Beywörter im Munde der redenden Personen oft sehr undramatisch sind: aber es leuchtet auch ein, daß die Wahrheit des Dialogs der Harmonie des epischen Tons untergeordnet seyn mußte, da der Vortrag durch Gesang, wozu das Gedicht ursprünglich bestimmt war, doch keine eigentlich theatralische Täuschung zuließ. Wenn die Homerischen Beywörter nicht immer eine hervorstechende Eigenschaft benennen, wenn sie keinen Nachdruck haben sollen, der die Aufmerksamkeit von der Hauptsache ablenken würde, noch auch wegen ihrer beharrlichen Wiederkehr haben können; so ist doch die poëtische Sitte, die sie vertheilt und festgesetzt hat, noch weit von der gesellschaftlichen Convenienz, der Schöpferin der Titulaturen, entfernt; und was hat die steife Leerheit in diesen mit dem schönen Ueberflusse gemein, wodurch jene dem Ohre und der Einbildungskraft schmeicheln? Mit Recht hat indessen der Uebersetzer, da wo Homer offenbar nach der Bequemlichkeit des Versbaues mit verschiednen Beywörtern wechselt, sich eben dieser Freyheit bedient. Auch dadurch ist nichts verloren gegangen, daß er solche, deren buchstäbliche Uebersetzung schwierig oder unangenehm gewesen wäre, durch einfachere, die ein ähnliches Bild geben, ersetzt hat: z. B. ἐΰθρονον Ἠῶ, die goldene Frühe, καλλιπάρῃος, die rosige oder die anmuthvolle, Κρόνου ἀγκυλομήτεω, des verborgenen Kronos u. s. w. Wären die saumnachschleppenden Weiber, (τανύπεπλοι) die man für nachläßig in ihrem Anzuge halten möchte, nur auch in diese Klasse gerechnet worden! Ob man nicht bloß das Haar selbst, sondern auch die Person, der es angehört, lockig nennen darf: die lockige Leto, bezweifeln wir. Immer ist es noch besser als Bürgers lockenliebliche Leto. Verschiedene Beywörter dieser Art, die sich bey ihm finden, und sich auf die einzige Analogie des unedlen lendenlahm stützen: die wangenschöne, der schenkelrasche, u. s. w. hat Hr. V. mit gutem Grunde verworfen. Dagegen [500] liebt er überhaupt die Zusammensetzungen so sehr, daß er sie nicht selten auch da gebraucht, wo Homer ganz einfache, bescheiden schmückende Beywörter hat. Aus dem gestirnten Himmel Il. IV, 44 wird ein sternumleuchteter, aus langen Spießen Il. IV, 533 werden langschaftige; ein borstenumstarrt Schwein (μέγας σῦς) und den wild aufhallenden Feldruf (μεγάλῳ ἀλαλητῷ) erwähnten wir schon. Ja man findet ziemlich häufig dreyfach zusammengesetzte Wörter, die nach dem Muster des zuletzt angeführten gebildet sind: das weitaufrauschende Meer, die hellaustönende Stimme, die holdanlächelnde Kypris, der harthinstreckende Kampf, wild androhend, die weithinschattende, oder auch weitherschattende Lanze, der schönhinwallende Xanthos, die gradanstürmende Lanze, der tiefhinströmende Herrscher, die gernaustheilende Mutter, das schwerhinwandelnde Hornvieh, und andre mehr. Zum Glücke ist die Zusammensetzung nicht ächt, und zerfällt von selbst wieder in ihre Bestandtheile. Die erste
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Sylbe bleibt, trotz der Weglassung des Zwischenraumes beym Schreiben, ein eignes bestimmendes Nebenwort, da es durch nichts von dem, was die wahre Wortvereinung erfodert, mit dem darauf folgenden Participium in Eins verknüpft wird. Hr. V. trennt selbst einmal Il. XXI, 324 in trüb’ aufstürmender Brandung. Was ihm diese Wörter empfohlen hat, ist vermuthlich ihre prosodische Beschaffenheit. Doch ließe sich gegen ihren Wohlklang erinnern, daß, wenn sie wirklich wie Ein Wort betrachtet werden, ein gewisser Zwist der Accente entsteht, indem man sie nicht hóldanla΅chelnde, héllausto΅nende, sondern hóld-ánlächelnde, héll-áustönende, grád-ánstürmende aussprechen muß. Ueberhaupt sollten wir beym Prägen neuer Wörter immer die sorgfältigste Rücksicht auf den Wohlklang nehmen, und sie würde unsre Freyheit darin gar sehr beschränken. Der Grieche fand mit seinen schönen Vokalen und biegsamen Endsylben der Wörter hiebey selten Anstoß; sie flossen von selbst in einander. Bey uns müssen sie wegen des Gedränges anfangender und schließender Konsonanten, oft zusammengezwungen werden. Wir haben schon zu viel solcher furchtbaren Wörter wie Kopfschmerzen15, Kopfwerkzeug u. s. w. als daß wir noch neue erfinden sollten, wie Hn. V. einige entschlüpft sind: Siegsstärke, schwarzschauernd, erzstarrend, starkrädrig mit einem dreyfachen R in drey Sylben, und hochhauptig mit einem dreyfachen Hauche. Nur wenig neue Zusammensetzungen sind uns aufgefallen, in denen ein wahrer Sprachfehler liegt: z. B. die unnahbaren Hände, der wohl anlandbare Hafen: die Ableitungssylbe bar, wenn sie die Möglichkeit etwas zu thun anzeigt, (die einzige Bedeutung, worinn es noch erlaubt ist, neue Wörter durch sie zu bilden) setzt ein Zeitwort voraus, das ein vollständiges, persönliches Passivum hat, und als Aktivum die vierte Endung regiert; beides ist mit nahen und anlanden nicht der Fall. Ein vielgerudertes Schiff möchte man eher für ein Schiff halten, worin schon viel gerudert worden, als für ein mit vielen Rudern versehenes Schiff. Die mit um zusammengesetzten Beywörter, die Hr. V. vorzüglich liebt, bekommen leicht ein allzukünstliches Ansehen: der sternumleuchtete Himmel, die [501] erzumschirmten Achaier, der schwarzumwölkte Kronion, der helmumflatterte Hektor. Das letzte enthält überdieß eine Unrichtigkeit: nicht der Helm flattert, sondern der Helmbusch. Schollig und quellig sind zwar richtig nach der Analogie abgeleitet, aber doch vielleicht zu fremd, als daß sie gefallen könnten. Rothschnäblicht ist nur falsch geschrieben; es sollte rothschnäblig heißen, denn das Schiff ist nicht einem rothen Schnabel ähnlich, sondern es hat einen rothen Schnabel. Eben das gilt von mähnicht, wenn die Kentauren mähnichte Ungeheuer genannt werden. Ein ganz unschickliches Beywort erhält das Meer: am Strand des verödeten Meeres; (ἁλὸς ἀτρυγέτοιο) verödet ist nur dasjenige, was einmal nicht öde war. Ob man gleich ganz richtig bemerkt hat, daß es nicht Homerischer Ton sey, die Beywörter in Umschreibungen aufzulösen, so läßt es sich doch in manchen Fällen gar nicht vermeiden, und es kömmt dabey nur auf die geschickteste Art an. Für ἀργυρότοξε hatte Bürger versucht: Silberbogner; allein dieß würde nach der Analogie von Wagen _____________ 15
[Das Beispiel „Kopfschmerz“ hatte Schlegel schon in dem 1798 erschienenen Dialog Die Sprachen. Ein Gespräch über Klopstocks grammatische Gespräche verwendet, vgl. Athenaeum, 1. Bandes 1. Stück, Berlin 1798, 31.]
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und Wagner jemanden bedeuten, der silberne Bogen verfertigt. Besser hat es Hr. V. mit dem folgenden verflochten: Höre mich, Gott, der du Chrysa mit silbernem Bogen umwandelst.
Für ῥοδοδάκτυλος Ἠώς setzt er Eos mit Rosenfingern. Es ist die Frage, ob es nicht heißen müßte mit den Rosenfingern, damit man es als fortdauernde Beschaffenheit auf das Substantivum, nicht als Zustand auf das Verbum beziehe, wie z. B. in der Redensart: ich erwachte mit Zahnweh, geschieht. Die Stadt voll prächtiger Gassen für πόλιν εὐρυάγυιαν, Il. II, 329, hätte Hr. V., da er an andern Stellen die weitdurchwanderte Stadt übersetzt, entbehrlich finden müssen. Freylich weiß Rec. in dem letzten Beyworte weder den Sinn des Textes, noch irgend einen andern bequemen Sinn zu erkennen. Die Häuser in einer Stadt können weit aus einander liegen, und man kann sie durchwandern: aber wie soll man sie weit durchwandern? Gegen Artemis, die Lenkerin goldener Zügel, χρυσήνιος, Il. VI, 205, und Apollon mit goldenen (mit dem goldnen) Schwerte, χρυσαόρου, Il. V, 509 ist nichts erhebliches einzuwenden; auch den Sporner der Gäul’, Aidoneus, Il. V, 654: κλυτοπώλῳ ließe man sich gefallen, wenn er nicht die Vorstellung der Reitkunst erregte, welche dem Kostüm der Homerischen Helden fremd ist. Mehrmals hat sich Hr. V. durch einen absoluten Genitiv zu helfen gesucht, der aber, außer in den einmal eingeführten Redensarten, nur da stehen sollte, wo von einer gegenwärtigen Handlung, nicht, wo von einer bestehenden Eigenschaft gesprochen wird. Helena, die herrliche, langes Gewandes ist schon von andern gerügt worden. Eben so fehlerhaft steht Il. III, 326. 327: Rings um setzten sich all’ in Ordnungen, dort wo sich jeder Rosse gehobenes Hufs, und gebildete Waffen gereihet.
Man könnte allenfalls sagen: die Rosse laufen gehobnes Hufes, aber nicht ohne Dazwischenkunft eines Zeitwortes: Rosse gehobenes Hufes für mit gehobenem Hufe. Ueberdies heben die still stehenden Rosse hier die Hufe ja [502] nicht wirklich, sondern sie werden nur von der Gewohnheit es beym Laufen zu thun im allgemeinen ἀερσίποδες genannt. Hätte der Uebersetzer sich genauer an das ἔκειτο gehalten, so würde man glauben müssen, die Pferde haben auf dem Rücken gelegen und die Füße in die Höhe gestreckt. So viel von den Beywörtern. Unter den neu abgeleiteten Wörtern sind die häufigsten und leider auch die mißrathensten die mit Hülfe der vorgesetzten Sylbe ent gemachten. Man könnte in der That ein artiges kleines Wörterbuch davon zusammenbringen: entsenden (welches sehr oft vorkömmt) entschallen, entfunkeln, enttauchen, (für emergere) enttaumeln, enttragen, enthauen, entzittern, entbeben, entlodern, entwandeln, enttrocknen, entschiffen, entwaschen, entnehmen, entschöpfen, entstöbern, entrudern, u. s. w. Nicht alle die eben angeführten sind gleich verwerflich: manche darunter sind auch schon von andern Dichtern gebraucht worden. Es kann kein Streit darüber seyn, daß es erlaubt ist, vermittelst der Sylbe ent neue Zeitwörter zu bilden, die neben dem Hauptbegriffe eine Entfernung von etwas, oder die Aufhebung einer Handlung (wie in entzaubern, entgöttern) bezeichnen. Bey einer geschickten Wahl kann der Ausdruck durch sie sowohl an Kürze als an Adel gewinnen; allein Hr. V. gebraucht sie meistentheils so, daß er beides verfehlt. In manchen Verbindungen hätte
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das Zeitwort ganz denselben Dienst geleistet, z. B. Od. III, 157: „Wir nun betraten die Schiffe und entruderten.“ Od. V, 41: „sie enteilte – schnell zum Olympos empor.“ An andern Stellen werden diese Zeitwörter nicht mit dem Dativ construirt, den sie immer fodern, wo sie eine Entfernung von etwas bedeuten, sondern mit der entbehrlichen Präposition, z. B. Il. V. 353: „enttrug sie aus dem Getümmel“; ja sogar mit einem Nebenworte, das die Richtung der Bewegung auf das ausführlichste nennt. Il. XVII, 275: „daß von der Leiche hinweg sie entzitterten.“ Ebendaselbst, 533: „enteilten von dannen.“ Nicht edel, sondern steif und kostbar wird der Ausdruck, wenn man für Handlungen die täglich im gemeinen Leben vorkommen, für abschicken oder fortschicken, für wegtragen, so seltsame Wörter wie entsenden und enttragen erfindet; wenn sogar „der Braten von den Spießen entzogen wird.“ Man bemerke, daß Hr. V. hier ein in andrer Bedeutung sehr gewöhnliches Wort durch seinen Gebrauch zu einem ganz fremden umzuschaffen gewußt hat. Eben so setzt er Il. III, 325 entspringen für herausspringen. Ganz untauglich für diese Art der Ableitung oder Entleitung sind des entstehenden Uebelklanges wegen diejenigen Zeitwörter, die mit einem T anfangen: enttaumeln, enttauchen, enttrocknen, enttrogen, wird man nur mit einer kleinen Pause und erneuertem Ansatz der Stimme aussprechen können, ent-taumeln u. s. w., oder man wird ein T auslassen: ent-aumeln, wodurch das so schon unbekannte Wort vollends unverständlich werden muß. Von einem ähnlichen Mißbrauche der Ableitungssylbe um sey es genug, zwey auffallende Beyspiele anzuführen. Il. XVI, 548: „Die Troer umschlug schwerlastender Kummer.“ Il. XII, 161: „Die Helme [503] von Mühlsteinen umprallt.“ Das widrige des letzten Wortes fühlt man unmittelbar; auch das Sprachwidrige darinn ließe sich ohne Schwierigkeit aus einander setzen, nur möchte es die Gedult ermüden. [Fortsetzung in Sp. 505] In den Wortfügungen ist Hn. Vossens Sprache ebenfalls gar nicht rein von Verstößen wider die Grammatik, wenigstens wider die bisher gültige. Wir rechnen dahin nicht die bloß ungewöhnlichen, und freylich nicht sonderlich gefälligen Wendungen; z. B. Il. I, 407., deß ihn erinnernd; ereifern und erzürnen ohne sich nach oberdeutscher Weise als Neutra gebraucht; einen hoch an Sitz und an Fleisch ehren; welchen er das Blut vergoß, statt: deren Blut er vergoß, und eine Menge ähnlicher Dative (in vier Versen Il. IV, 497–500. steht ihm dreymal auf diese Weise); das active Participium in vielen harten Verknüpfungen, u. s. w. Wahre Sprachfehler hingegen sind walten und vernehmen mit der zweyten Endung: Il. III, 440. „es walten Götter auch unser.“ Il. VI, 465. Eh ich deines Geschreyes vernehme; Auslassungen, wie gestrengt für angestrengt Il. XVII, 746.; Od. XIX, 105. „Wer? und woher der Männer?“ (Im Griechischen steht das Zeitwort da.) Die unterlassene Wiederholung des Accusativs, der alsdann auf zwey Zeitwörter, wovon das eine als Mittelwort steht, zugleich bezogen werden muß, Il. II, 595: dort, wo die Musen Findend den Thrakier Thamyris einst des Gesanges beraubten;
oder auch die gänzliche Auslassung des Accusativs, den ein transitives Zeitwort nothwendig regiert, Il. VII, 409, 410.:
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August Wilhelm Schlegel Nicht ja gebührt Kargheit bey abgeschiedenen Todten Daß man, nachdem sie gestorben, mit Glut zu besänftigen eile
Pleonasmen, wie Il. I, 98, 99. zurück hingeben, oder Il. XVII, 202, 203. „Du zeuchst die unsterbliche Wehr an, Sein des erhabenen Manns.“ Sein als possessives Pronomen erfodert ohne Concretionssylbe die Dazwischenkunft des Zeitwortes: die Wehr ist sein. Auch mit dieser Sylbe würde hier immer nur die gemeine unedle Redensart des Mannes seine, umgekehrt herauskommen. Auch als persönliches Pronomen der dritten Person in der zweyten Endung statt seiner steht es nicht nur überflüssig, sondern fehlerhaft. Eine ganz falsche Construction entstellt die Zeilen Il. XVII, 601, 602: [506] Hektor sodann durchstach des Leitos Hand an dem Knöchel Ihm des erhabnen Alektryons Sohn;
Sohn soll vermuthlich wie das vorhergehende Pronomen der Dativ seyn, da doch des Leïtos, womit es in Apposition steht, den Genitiv erfodert. Die weggelassene Biegungssylbe des Dativs, Sohn statt Sohne, macht das Uebel noch ärger, denn nun wird man natürlicher Weise construiren: Hektor durchstach des Leïtos Hand; ihm (dem Hektor) durchstach sie der Sohn des erhabnen Alektryons. Das dem letzten Namen angehängte s ist wiederum fehlerhaft: denn bey eignen Namen vertritt der Artikel die Stelle der Biegungssylben. Manchen Wörtern werden Bedeutungen geliehen, die sie gar nicht haben können; so steht raffen und entraffen Il. V, 50 u. 541. für erlegen. (im Texte beide male ἕλε) Diese Beyspiele ließen sich noch durch viele andre häufen; zum Glücke reichen in diesem Fache wenige hin, sonst würde die Kritik ein endloses Geschäft seyn. Wir führen nur noch einen unzählig oft wiederholten Sprachfehler an, nämlich den Gebrauch des jener, jene, jenes, wo nur Ein Subject vorhergeht, oder mit Beziehung auf das nähere, nicht auf das entferntere. Gesetzt auch, es ließe sich irgend eine alte oder neue Autorität dafür auftreiben, woran Rec. zweifelt: was wird dadurch gewonnen? Heißt es nicht die Sprache gerade zu auf den Kopf stellen? Nicht ganz dieselbe Bewandtniß hat es mit dem ebenfalls häufigen solcher, solche, solches, das wirklich ehedem als demonstratives Pronomen ohne den Begriff der Vergleichung, wie Hr. Voß es gebraucht, gegolten hat, und in Luthers Bibelübersetzung öfters so vorkömmt. Freylich ist es veraltet, und sollte daher nicht anders, als mit einem besondern Nachdrucke, in einem feyerlichen Tone der Rede, gesetzt werden. Hier hat es oft etwas vom Stile der Kanzleyen, und nimmt sich nicht besser aus, als das abgedankte sothanes. Was aber das schlimmste Unheil in der ganzen Uebersetzung von einem Ende bis zum andern gestiftet, sind unstreitig Hn. Voßens Grundsätze über die deutsche Wortstellung. Grundsätze nennen wir es, und nicht einzelne Versehen oder in besondern Fällen genommene Freyheiten, weil sie mit Folge und Gleichförmigkeit durch sein Werk hingehen, so daß man sagen kann: es ist Methode in seiner Undeutschheit. Er hat sich überall an die griechische Ordnung anschmiegen wollen, nicht so nah wie möglich, (dies wäre sehr zu loben) sondern so nah, wie es in unsrer Sprache unmöglich ist. Es kann oft eine sehr verschiedne ja entgegengesetzte Wirkung thun, wenn in verschiednen Sprachen dasselbe geschieht, und fast in keinem Punkte unter[507]scheiden sich die beiden alten classischen Sprachen wesentlicher und auffallender von den neuern insgesammt, als in der Wortfolge. Die Freyheiten, die jene hierin ge-
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nossen, waren ohne Zweifel für Poësie und Beredsamkeit unweit günstiger als die moderne Gebundenheit: dürfen wir darum sie uns anmaßen? In den alten Sprachen trugen diejenigen Redetheile, deren Verhältnisse gegen einander veränderlich sind, die Bezeichnung dieser Verhältnisse vollständig und unzweydeutig an sich. Bey uns muß in unzähligen Fällen, um sie mit Sicherheit zu erkennen, die Stellung zu Hülfe kommen. Ferner bestanden dort die Biegungslaute nicht wie bey uns in dumpfen Consonanten und einem tonlosen E, sondern sie waren oft mehrsylbig, und wurden meistens durch tönende Vocale, auch wohl durch die Sylbenzeit und den Accent hervorgehoben. Dadurch wurde es dem Ohre leicht gemacht, das zu einander Gehörige, wie zerstreut es auch stehen mochte, herauszufinden, ja nicht selten wurde es bey Verknüpfung der Wörter, z. B. des Hauptwortes und Beywortes durch gleichlautende Endungen geleitet. In den verwickeltsten Sätzen und Verbindungen schuf also schon die bloß sinnliche Beschaffenheit der Laute Klarheit und Ordnung, ohne daß der Geist dabey mit Nachsinnen sehr bemüht worden wäre. Hiezu kömmt, daß der Verstand bey den Neuern (und dies gilt wiederum mehr von den Nordländern als von den Südländern) weit mehr das herrschende Princip der Sprache ist, als er es bey den Alten war, bey denen die rege, allseitige Empfänglichkeit wie auf die ganze Sprache so auch auf die Wortstellungen den entschiedensten Einfluß hatte. Dem Verstande widerfuhr sein Recht, wenn die Wörter den Verhältnissen gemäß, die er vorschrieb, umgeendet wurden; alles übrige fiel der Empfindung, der Einbildungskraft, selbst dem Gehör anheim und so durfte die Kunst auch bey der Anordnung der kleinsten Bestandtheile eines Gedichts ein freyes und schönes Spiel treiben. Einer leichten und schnellen Fassungskraft ist das zu ängstliche Bestreben nach Deutlichkeit im Vortrage zuwider. An die strengen Regeln der Wortfolge in den neuern Sprachen gebunden, wären die classischen Sprachen bey der bestimmten Vollständigkeit ihrer Biegungen in der That allzu deutlich gewesen. Die reizendste Mannichfaltigkeit, die schönsten Zusammenstellungen konnten dort ohne Unordnung und Verworrenheit Statt finden. Wie ein Kranz aus verschiednen Zweigen am zierlichsten und zugleich am festesten so gewunden wird, daß bald diese, bald jene Blätter und Blumen zum Vorschein kommen, so vereinigen sich in der Poësie der Alten die verflochtenen Redetheile inniger zu stetigen und harmonischen Massen. Der Zwang des Bedürfnisses verschwand, freye Schönheit trat als ein höchstes Gesetz an die Stelle vieler andern, und man konnte von der griechischen Dichtersprache beynahe sagen wie von dem goldnen Zeitalter: erlaubt ist, was gefällt. Dies waren Vorzüge der Alten: wer will es läugnen? ob wir sie gleich mehr durch die Reflexion als durch das unmittelbare Gefühl, und gleichsam wie in einem Nebel wahrnehmen. Allein wie muß es ausfal-[508]len, wenn wir sie uns, ohne Rücksicht auf die ganz entgegengesetzte Natur unsrer Sprache, zueignen wollen? Hat irgend eine neuere Sprache Anlage, dies mit Glück zu thun, so ist es gewiß nicht die deutsche mit ihren stummen Endungen, und der kargen Einsylbigkeit ihrer Biegungen, sondern vielmehr die italiänische, die zwar keine Umendungen für die Verhältnisse (casus) der Hauptwörter und Beywörter, aber dagegen Geschlecht und Zahl derselben, und hauptsächlich die Veränderungen der Zeitwörter reich und tönend, meistens mit offnen Vocalen bezeichnet. Freylich ist bey uns die Wortfolge noch lange nicht so gebun-
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den, wie z. B. in der französischen Sprache, und doch müssen wir sogar diese um die armselige Freyheit beneiden, das Adjectiv wenigstens in vielen Fällen sowohl nach als vor seinem Substantiv setzen zu dürfen. Aufnehmen können wir sie nie, weil sie dem ganzen System unsrer Wortfolge widerspricht, worinn alles, ausgenommen das eigentliche Zeitwort, seine Bestimmungen vor sich nimmt. Der Verstand erstreckt bey uns seine Herrschaft nicht bloß über die gewöhnliche Wortstellung, worinn er die Bestimmungen nach einer gewissen Stufenfolge ordnet, sondern auch über die Abweichungen von ihr, die jedesmal eine veränderte Bedeutung voraussetzen: über die fragende und verbindende Wortfolge und über die eigentlichen Inversionen. Diese lassen sich im Grunde alle auf Eine Hauptart zurückführen: wie leidenschaftlich sie auch scheinen mögen, so ist es doch immer nur die vorzügliche Wichtigkeit eines an die Spitze des Satzes gestellten Begriffs, was sie bezeichnen. Es giebt Sätze, die man im Deutschen gerade so vielmal umkehren kann, als sie Wörter enthalten, allein sie bekommen jedesmal einen etwas veränderten Sinn, und die Stellung der übrigen Redetheile bis auf den vorangeschickten bleibt dabey nach einer beharrlichen Regel bestimmt. Eben so verhält es sich mit der Inversion, die ganze Sätze aus ihrer gewöhnlichen Ordnung in der Periode heraushebt. Hr. Voß hingegen erlaubt sich Umstellungen in der Mitte der Sätze und Perioden, wo sie nichts an der Bedeutung ändern, auch keinen Nachdruck haben sollen und können, und grade so herauskommen, als ob man im Französischen nach der deutschen Ordnung sagen wollte: j’ai à la campagne été, statt: j’ai été à la campagne. Wir fangen mit einem einfachen Beyspiele an, Il. I, 413: Aber Thetis darauf antwortete. Das Umstandswort darauf ist eine Bestimmung des Zeitwortes, und konnte ihm also nur in der verbindenden Wortfolge (z. B. weil Thetis darauf antwortete) vorangehn, oder wenn es vermittelst einer Inversion an die Spitze des Satzes (das aber abgerechnet) gestellt wurde. Es fand hier keine andre Wahl Statt, als: Thetis antwortete darauf, oder: darauf antwortete Thetis. Eben so erlaubt als die von Hn. Voß erwählte Ordnung wäre es, zu sagen: antwortete darauf Thetis. Die Verneinung steht bey allen übrigen Redetheilen, wozu sie gehört, voran; das Zeitwort allein fodert sie hinter sich. Hr. Voß stellt sie häufig vor dasselbe. Il. X, 235.: nicht darfst du. Il. I, 468.: nicht mangelt’ ihr Herz des ge-[509]meinsamen Mahles. Wird dadurch ein besondrer Nachdruck erreicht? Verneint die Verneinung mehr, als wenn sie an ihrer natürlichen Stelle stünde? In dem letzten Falle war es doppelt unerlaubt, sie so voranzusetzen, weil dadurch das bey dieser Inversion dem Zeitworte unentbehrliche es verschlungen wird; es mangelte nicht ihr Herz des gemeinsamen Mahles, wäre eine allenfalls erlaubte, aber immer noch harte, und wegen der Unbestimmtheit des vorangehenden Pronomens schwächende Umstellung. Il. I, 592.: Ganz den Tag (fehlerhaft für den ganzen Tag) hinflog ich. So lange der Unterschied zwischen trennbaren und untrennbaren Partikeln noch nicht aufgehoben ist, muß es heißen: flog ich hin. Ganz den Tag hinflog ich, ist nichts besser, als: ich anredete ihn, ich auskleidete mich. Hr. Voß ordnet’ oft so. Il. XVII, 736: und stets nachtobte des Kriegs Wuth, Il. XVIII, 28. 29.: Mägde zugleich, die Achilleus erbeutete, und Patroklos Laut mit bekümmerter Seel’ aufschrien sie.
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Diese Verse enthalten noch sonst viel sprachwidriges. Mägde kann den Artikel nicht entbehren, da das sie am Ende bestimmt auf sie zurückweist. Dieses hat eine rhetorische Emphase, die gar nicht in Homers Ton ist. Zugleich ist ein Flickwort, wovon der Text keine Spur hat. Es begünstigt die durch die Stellung des Patroklos verursachte Zweydeutigkeit. Womit zugleich schrien die Mädchen? Natürlich mit dem Patroklos. Das Zeitwort sollte unmittelbar nach laut stehn. Das einfache schrien (ἴαχον) hatte auch hingereicht. Da bey uns manche Zusammensetzungen sowohl ächt als unächt seyn können, so ist es nicht zu verwundern, wenn man bey der obigen Behandlung derselben zuweilen nicht unterscheiden kann, welche von beiden gemeynt sey. Od. XII, 325.: Aber den ganzen Mond durchstürmte der Süd. Stürmte der Süd den ganzen Monat hindurch? oder durchstürmte er den ganzen Mond, den Himmelskörper nämlich? – Il. XVI, 247.: Unverletzt mir alsdann in die rüstigen Schiffe gelang’ er.
Daß unverletzt voran steht, ist eine sehr erlaubte Inversion, aber nun mußte auch das Verbum mit dem dahinter geworfnen Nominativ sogleich folgen. Jetzt ist es freylich ganz die Ordnung des griechischen Verses. Doch nein! Etwas fehlt noch: θοὰς ἐπὶ νῆας. Warum ging man, da man sich einmal so viel erlaubte, nicht noch einen Schritt weiter und sagte: „Unverletzt mir alsdann rüstigen in die Schiffe gelang’ er“? Man gebe einmal folgende Stelle einem ungelehrten Leser zu enträthseln: Il. XVI, 212.: Fast wie die Wand sich füget ein Mann aus gedrängeten Steinen, Eines erhabenen Saals.
wird er nicht eine Wand, die sich selbst füget, und die zugleich ein Mann aus gedrängeten Steinen ist, herausbringen? Auch ohne das ungeschickte Flickwort sich wäre die Stellung noch unleidlich, weil die Wand gar kein Zeichen des Accusativs an sich trägt. Füget sollte wenigstens, wie im Griechischen, unmittelbar vor den Worten: aus gedrängeten Steinen stehen. Auch [510] kann der Genitiv eines Saals unmöglich von dem Hauptworte gerissen werden, das ihn regiert. So muß gleichfalls die Apposition unmittelbar folgen, sonst entstehen die seltsamsten Mißverständnisse. Od. IV, 319–321.: Denn feindselige Männer umdrängen mich, welche mir immer Ziegen und Schaf’ abschlachten, und mein schwerwandelndes Hornvieh, Freyer der Mutter umher, voll übermüthiges Trotzes.
Im Griechischen ist freylich dieselbe Ordnung: aber welch ein Unterschied! Wie deutlich bezeichnen die Endungen εἰλίποδας ἕλικας βοῦς und μνηστῆρες – ἔχοντες, den Accusativ und Nominativ! Im Deutschen kann mein schwerwandelndes Hornvieh und Freyer so gut der eine als der andre Casus seyn, und die Stellung könnte hier zu einem lächerlichen Mißverstande führen. Unzähligemale wird das Beywort mit dem wiederholten Artikel nach seinem Hauptworte gesetzt. Il. XVI, 107.: „Stets vom Schilde beschwert, dem Beweglichen.“ Il. XIX, 393.: „Schnell in die Seile des Jochs, die zierlichen.“ Wo ein besondrer Nachdruck darauf ruht, läßt es sich allenfalls vertheidigen, sonst aber thut es grade die Wirkung, als ob man etwas vergessen hätte und umkehren müßte, um es zu holen. Il. XVI, 428. folgen sogar zwey Beywörter, das eine in der dritten Endung wie das Hauptwort, das andre ohne Concretionssylbe als Beschaffenheitswort:
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August Wilhelm Schlegel Beide den Habichten gleich, scharfklauigen, krummgeschnabelt.
Wir schließen diesen Abschnitt unsrer Beurtheilung mit einem Beyspiele eines gleichsam an allen Gliedmaßen verrenkten Satzes: Il. X, 235. Viel alsdann aus dem Haupt mit den Wurzeln rauft’ er sich Haare.
Ungern haben wir uns so lange bey dem traurigen Geschäfte verweilt, zu zeigen, auf welche Irrwege die Verachtung der Sprachgesetze, oder die Einbildung, man könne die Grammatik unterjochen und nach einem fremden Muster ummodeln, einen vortrefflichen Dichter führen konnte, den in seinen Originalwerken oft der Genius unsrer Sprache selbst zu beseelen, und mit harmonischer Fülle auszustatten scheint. Wer wird es nicht mit uns beklagen, daß ein Werk von diesem Umfange, von dieser Schwierigkeit, wozu der Unternehmer mit allen Kräften, Fertigkeiten und Kenntnissen aufs beste gerüstet war, und wovon man nach der ältern Odyssee die schönsten Hoffnungen hegen durfte, durch den unseligen Einfluß einiger irrigen Grundsätze mißrathen ist? Daß eine Uebersetzung dieser schätzbaren Denkmahle des Alterthums, die so nahe daran war, selbst die höchsten Foderungen zu befriedigen, und die, auch in ihrer jetzigen Beschaffenheit so viel einzelnes vortreffliches enthält, nicht durch Vernachlässigung, sondern durch verschwendeten Fleiß, durch überspanntes Bestreben nach buchstäblicher Treue, im Ganzen undeutsch, und dem Leser einen reinen Genuß zu verschaffen unvermögend geworden? Nur der Besitz [511] der ältern Uebersetzung der Odyssee, für welche Deutschland nie aufhören sollte, Hn. V. dankbar zu seyn, kann uns darüber trösten. Wenn sich alles Vorzüglichere, was die zweyte vor ihr voraus hat, nicht bloß in Gedanken, sondern in der Wirklichkeit in sie übertragen ließe, ohne ihrer Einfalt und Popularität, diesen liebenswürdigen Charakteren des homerischen Gesanges, Abbruch zu thun, so hätten wir eine in der ganzen modernen Literatur einzige Nachbildung eines Klassikers aufzuweisen. Noch eine, bisher unberührt gelassene, und zwar eine sehr glänzende Seite des vorliegenden Werkes bleibt uns zu betrachten übrig, nämlich der Versbau. Rec. gesteht, daß er die hier bewiesene Kunst nicht ohne einen geheimen Widerwillen anpreisen kann, weil er überzeugt ist, daß sie, nächst jenen Irrthümern über den Bau der Sprache, am meisten dazu beygetragen hat, uns um den ächten Homer zu bringen. Der scharfsinnige Verfasser der Abhandlung de metris poëtarum Graecorum et Romanorum, Hr. Herrmann, äußert dieselbe Meynung (S. 277).16 Hr. Voß hat sich nicht nur den homerischen Hexameter überhaupt zum Muster vorgestellt, so weit die Verschiedenheit der deutschen und griechischen Metrik es erlaubte, sondern auch den Gang einzelner Verse, die jedesmaligen Verhältnisse der rhythmischen Periode, das Hinübergreifen des Sinnes aus einem Verse in den andern, und die dadurch bestimmte Stellung der Einschnitte, nachzumachen gesucht, und auch in der That erstaunlich genau nachgemacht. Einem Leser, der in der Uebersetzung nichts weiter als den Versbau des Originals studiren wollte, dürfte man sie ohne Einschränkung empfehlen, so gewissenhaft befolgt Hr. V. die Vorschriften, die er hierüber in der Vorrede zur Uebersetzung des virgilischen Landgedichts, und in einer kleinen Schrift über Ton und Auslegung des_____________ 16
[Gottfried Hermann, De metris poetarum Graecorum et Romanorum, Leipzig 1796.]
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selben dargelegt hat.17 Die Einrichtung dieser Blätter gestattet uns keine umständliche Prüfung dieser Grundsätze der metrischen [512] Nachbildung, die übrigens für die besonnene, nicht selten in Künstlichkeit ausartende, Kunst der Alexandriner und der Römer aus ihrer Schule sehr gut passen könnten, ohne auf Homer anwendbar zu seyn. Eben so wenig können wir es hier auf eine Abhandlung über den Versbau des Jonischen Sängers anlegen. Wir müssen uns begnügen, in aller Kürze die hauptsächlichen Gesichtspunkte dieser Untersuchung anzudeuten. Zum Glücke haben diejenigen, die ein trefflicher Alterthumsforscher vor kurzem der gelehrten Welt mitgetheilt hat,18 vieles, was hiebey wichtig ist, über allen Zweifel erhoben. [Fortsetzung in Sp. 513] Homer (oder die Sänger eines gewissen Zeitalters, die man unter diesem collectiven Namen zusammen zu fassen pflegt; doch wir richten uns gern nach dem Sprachgebrauche) Homer schrieb seine Gesänge nicht. Der erste Grund zu einer theoretischen Grammatik wurde erst viele Jahrhunderte nach ihm gelegt, und eine theoretische Prosodie konnte fast weniger als irgend ein andrer Theil derselben vor der Vervollkommnung der Schrift und ihrem geläufigen Gebrauche Statt finden, weil dabey alles auf die Zergliederung der Wörter in Sylben, und dieser in einzelne Laute ankam, die man nur mit Hülfe der Buchstaben festhalten, und nach langer Beobachtung über die verschiednen Bewegungen der Sprachorgane, als für sich bestehend denken konnte, da das ungelehrte, wenn gleich noch so zarte Gehör nur Massen empfängt. Uns will diese Schwierigkeit gar nicht recht einleuchten, weil wir den Unterricht darüber in so früher Kindheit bekommen haben, daß wir geneigt sind es für etwas zu halten, das sich von selbst versteht. Wir müssen es uns wiederholt einprägen, daß der göttliche Homer vermuthlich nicht buchstabiren konnte, um es nicht bey der ersten Anwendung zu vergessen. Das Gehör entschied also damals ganz empirisch, ohne alle Theorie, über die Sylbenzeit, wahrscheinlich nicht mit großer Schärfe, weil die Aussprache selbst, ehe man anfängt, durch schriftliche Aufzeichnung sich Rechenschaft davon zu geben, in allen Sprachen viel schwankendes und unbestimmtes zu haben pflegt. Ueberdies sind wir sehr darüber im Dunkeln, wie beträchtlich sich die Aussprache der griechischen in dem langen Zeitraume vom Homer bis zum Solon und Pisistratus verändert und verfeinert haben mag, welchen Einfluß dies auf die metrische Beschaffenheit jener alten Gesänge gehabt, und durch welche, vielleicht allmählig und unmerklich vorgenommenen, Veränderungen die Homeriden ihnen deswegen haben zu Hülfe kommen müssen. Da der Text späterhin durch die abglättenden Hände so vieler Kritiker ging, die eine Menge orthographischer, und bey der freyen Mannichfaltigkeit der Homerischen Wortformen, auch eine Menge grammatischer Mittel wußten, die Prosodie nach den nunmehr gültig gewordnen Regeln zu stützen, so könnte man sich eher wundern, daß noch so viele bey [514] spätern Dichtern selten oder gar nicht vorkommende Freyheiten, als daß ihrer nicht weit mehrere übrig geblieben sind. Und zu welchen Schlüssen _____________ 17 18
[Über des Virgilischen Landgedichts Ton und Auslegung, Altona 1791. Zu Voss’ Vergil-Übersetzung s. o. S. 5 Anm. 4.] [Schlegel bezieht sich auf Friedrich August Wolfs Prolegomena ad Homerum sive de operum Homericorum prisca et genuina forma variisque mutationibus et probabili ratione emendandi, Halle 1795.]
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über den ursprünglich hiebey aufgewandten Grad von Kunst und Genauigkeit berechtigt uns dies alles? Aus der damaligen Unmöglichkeit, etwas schriftlich aufzubewahren, folgt weiter daß das Sylbenmaaß zu Homers Zeit keineswegs bloß schmückende Einkleidung, sinnliche Form des Schönen war, sondern Hülfsmittel für das Gedächtniß, und also eine Sache des Bedürfnisses. Die Aufmerksamkeit des Sängers mußte daher viel mehr auf die gleichförmige Wiederkehr der Rhythmen gerichtet seyn, welche die Existenz seiner Dichtungen sicherte, als auf die dabey möglichen Abwechselungen, welche ihnen Reiz verliehen. Wenn alle diejenigen, deren der Hexameter, seine Verknüpfungen und Theilungen durch die poëtische Periode mitgerechnet, nur irgend fähig ist, in der Ilias und Odyssee erschöpft sind, so kann das bey Gedichten von diesem Umfange, wo dasselbe Sylbenmaaß unter allen Verschiedenheiten des Inhalts so viele tausendmale wiederholt wird, eben sowohl der Nothwendigkeit als der Wahl zugeschrieben werden. Wir müssen uns also hüten, da raffinirendes Studium zu suchen, wo es dem Sänger vielleicht genügte, dem metrischen Gesetz auf irgend eine Art Genüge geleistet zu haben. Selbst die große Leichtigkeit, womit die damalige Jonische Sprache, wie ihr ganzer Bau beweist, sich in Hexameter und zwar in wohlklingende Hexameter fügte, mußte den Gedanken einer mühselig ins Kleine gehenden Bearbeitung entfernen. Wo die gelungenste Ausführung selten etwas mehr kostet als einen glücklichen ersten Wurf, da übt man die Geduld und Sorgfalt am wenigsten, die ihn ersetzen kann, wo er einmal verfehlt wird. Ist es glaublich, daß der Sänger, wenn Neuheit und Lebendigkeit hinreichte, die ganz sinnlichen, ungebildeten Hörer an sein wunderbares Epos zu fesseln, noch ein übriges gethan, und nach seinen Ausbildungen getrachtet haben werde, für die er keine Empfänglichkeit bey ihnen erwarten durfte? Nicht als ob der Rhythmus keinen Antheil an ihrer Ergötzung gehabt hätte, vielmehr mußte sein mächtiger Strom die Gemüther tragen und heben, nur läßt sich nicht wohl denken, daß jede einzelne Welle ihnen Gegenstand der absondernden Betrachtung geworden sey. Die stete Wiederholung äußerst einfacher Formen ermüdet den kindlichen Geschmack nicht: wozu hätte die auserlesenste Mannichfaltigkeit aufgeboten werden sollen? Sie ist indessen in Homers Gedichten vorhanden, wird man einwenden. Allerdings für den ungebun-[515]denen Vortrag der redenden Stimme, die mit ihren vielfachen, unmerklichen Abstufungen von Schnelligkeit und Langsamkeit, von Stärke und Schwäche, von Hebung und Senkung des Tons, sich nach dem immer wechselnden Inhalte richtet; die nicht an jede Zeile den prosodischen Maaßstab anlegt, sondern durch ununterbrochnes Fortschreiten am Ende, durch Pausen in der Mitte der Verse, wo der Sinn sie fodert, immer andre und andre rhythmische Massen bildet, worinn das Gesetz sich versteckt, ohne aufgehoben worden zu seyn. Aber auch für den Vortrag durch Gesang, wozu jene Rhapsodien ursprünglich bestimmt waren? Wir können uns zwar keine anschauliche Vorstellung davon machen, allein wir wissen doch, daß dieser Gesang von einem Instrumente begleitet wurde, welches sich auf eine sehr enge Tonleiter beschränkte, und daß er syllabisch war, denn dies blieb bey einer weit höhern Ausbildung der Musik griechische Sitte. Dürfen wir von Homers Darstellung solcher Gegenstände auf ihn selbst zurück schließen, so wird es wahrscheinlich, daß er seine Hexameter nicht rezitativisch, sondern taktmäßig und zwar die verschiednen Verse in
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einerley Tempo gesungen habe. Denn es wird nach dem Spiele und epischen Gesange des Demodokus getanzt (Od. VIII, 261 u. f.). Auch das Beyspiel andrer Völker und die allgemeine Geschichte der Musik spricht für diese Vermuthung. Die genaue Beobachtung des Taktes machte eine gewisse Stätigkeit im Vortrage jedes Verses unvermeidlich, und dadurch mußte denn die Beschaffenheit der Wortfüße und die Stellung der Abschnitte, wenn sie auch nicht ganz verschwanden, weit weniger bedeutend werden. Nun denke man sich einen musikalischen Satz von sechs Takten, wo der Aufschlag immer eine lange Note hat, der Niederschlag (ausgenommen im letzten Takte) eine lange oder zwey gleichgeltende kurze haben kann, tausendmale wiederholt: wird an die Stelle der gepriesenen Mannichfaltigkeit nicht vielmehr Einförmigkeit treten, die unser verwöhntes Ohr nicht lange aushalten möchte? Das bisher gesagte soll die Zweckmäßigkeit und Schönheit des Homerischen Versbaues im geringsten nicht herabsetzen, obgleich das bonus dormitat Homerus auch in diesem Stücke zuweilen gilt, wenn wir uns anders ein Urtheil über Wohlklang im griechischen, dessen Aussprache wir so unvollkommen kennen, anmaßen dürfen. Als freywillige Blüthe der Natur betrachtet, verdient diese Harmonie fast mehr Bewunderung, als wenn man sie für einen schwer errungnen Gipfel der Kunst hält. In Hn. Voßens Uebersetzung ist sie dieses wirklich, und man sieht ihr an, daß sie es ist. Bey aller Aehnlichkeit seines Versbaues mit dem Homerischen im Einzelnen, die besonders in Absicht auf die Glieder der rhythmischen Periode bewundernswürdig groß ist, verbreitet dies einen Zug von Unähnlichkeit über das Ganze. Man vermißt den natürlichen, ungezwungenen Gang, die kunstlose Leichtigkeit der Ionischen Muse. Man fühlt bey dem Genusse, daß vieles aufgeopfert, daß große Schwierigkeiten überwunden werden mußten, um ihn uns zu verschaffen. Der Versbau in seiner ältern Odyssee ist [516] zwar lange nicht so schön, so reich und mannichfaltig, aber doch fließend und angenehm, und bey den weit größern Abweichungen im Einzelnen, giebt ihm das täuschende Gepräge einer kunstlosen Entstehung, das er meistens trägt, im Ganzen einen mehr Homerischen Charakter. Man sieht aus Hn. Voßens Art zu übersetzen, daß er an vielen Stellen einen nachahmenden Ausdruck im Gange des griechischen Verses, und im Klange der Sylben zu finden geglaubt: er hat ihn, und zwar nicht selten verstärkt, zu übertragen gesucht. Ohne wie Johnson den nachahmenden Ausdruck überhaupt für eine Einbildung zu halten,19 könnte man doch zweifeln, ob sich ein so besonnenes und kleinliches Studium bey einer improvisirenden Sängerkunst annehmen lasse, wie die war, woraus die Homerischen Rhapsodien allmählig hervorgegangen? Ob es nicht eine Zergliederung _____________ 19
[Schlegel spielt vielleicht auf Samuel Johnsons Pope-Biographie an, wo es im Zusammenhang von Popes Homer-Übersetzung heißt: „I have read of a man, who being, by his ignorance of Greek, compelled to gratify his curiosity with the Latin printed on the opposite page, declared, that from the rude simplicity of the lines literally rendered, he formed nobler ideas of the Homeric majesty, than from the laboured elegance of polished versions. Those literal translations were always at hand, and from them he could easily obtain his author’s sense with sufficient certainty; and among the readers of Homer the number is very small of those who find much in the Greek more than in the Latin, except the music of the numbers.“ The Lives of the English Poets, Bd. 2, London 1826, 221 (zuerst 1781). Zu Popes Homer s. o. S. 7 Anm. 8.]
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der ästhetischen Eindrücke voraussetze, die gar nicht zu der kräftigen Einfalt eines Zeitalters paßt, dem die dichterische Begeisterung etwas so unerklärliches war, daß es vollen Glauben an einen dabey waltenden göttlichen Einfluß hegte, und nicht einmal die Wahl des Gegenstandes für abhängig von dem Vorsatze des Sängers hielt? (Od. I, 347–350.) Ob endlich das sinnreiche Anspielen auf körperliche oder geistige Beschaffenheiten der Dinge durch Bewegung und Klang, durch Sylben und Buchstaben, nicht eher für ein Symptom der ausartenden Kunst zu halten sey, als für eine der Naturpoësie eigne Schönheit? Es versteht sich, daß hier weder vom Ausdruck der innern Empfindung in den lyrischen Weisen, noch von der allgemeinen Wahl eines Gesetzes der Successionen für das Ganze eines Gedichtes die Rede ist, wobey die Griechen, wie in Allem, immer durch den glücklichsten Instinkt geleitet worden sind. Da sich indessen voraussehen läßt, daß diese Meynung starken Widerspruch finden, und daß vorzüglich, mit Berufung auf das Ansehen des Dionysius von Halikarnassus, der Stein des Sisyphus gegen sie hergewälzt werden dürfte, so behält sich Rec. vor, sie an einem andern Orte zu entwickeln, und begnügt sich, eine Stelle auszuheben, woran die Kunst, mit welcher Hr. Voß den Bewegungen des griechischen Verses Schritt vor Schritt folgt, auf einmal sichtbar wird. Od. XI, 593–598. Auch den Sisyfos sah ich, von schrecklicher Mühe gefoltert, Eines Marmors Schwere mit großer Gewalt forthebend. Angestemmt, arbeitet’ er stark mit Händen und Füßen, Ihn von der Au’ aufwälzend zur Berghöh. Glaubt’ er ihn aber Schon auf den Gipfel zu drehn; da mit Einmal stürzte die Last um; Hurtig mit Donnergepolter entrollte der tückische Marmor.
Man vergleiche das Original. Nur übertreibt die Uebersetzung vielleicht in einigen Stücken den nachahmenden Ausdruck, der darinn liegen soll. Die zweyte Zeile hat im griechischen einen hüpfenden daktylischen Schluß: klkk|lkklk, hier endigt sie schwerfällig: klkk|lllk. Der absichtliche [517] Uebellaut: von der Au’ aufwälzte, ist ebenfalls weit stärker als der Hiatus in: ἄνω ὤθεσκε. In der lezten Zeile scheint Hr. V. neben der Schnelligkeit auch noch das Getöse des Hinabrollens haben nachahmen zu wollen, welches Homer weder durch den Sinn der Worte, noch den Klang der Buchstaben im geringsten andeutet. Dies hat ihn denn auf die höchst unglückliche Zusammensetzung Donnergepolter gebracht, worinn das Gepolter zu unedel, und der Donner für das Rollen eines Steines viel zu hyperbolisch ist. Sie steht indessen schon in der ältern Odyssee. Warum nicht wörtlich? Wieder zur Ebne hinunter entrollte der tückische Marmor
Der Gang des Verses wäre ganz derselbe geblieben. Gegen die beredte Bewunderung des Dionysius (περὶ συνθές. C. 30.) der diese Zeile so ganz einzig dazu gemacht findet, ihren Inhalt zu mahlen, ließe sich eine andre von völlig gleicher metrischer Beschaffenheit anführen, worinn kein Stein hinabrollt, auch nichts ähnliches geschieht: ἆυτις ἔπειτα | πέδονδε | κυλίνδετο | λᾶας | ἀναιδής. ὁι δ’ἐπ’ ὀνείαθ’ | ἑτοῖμα | προκείμενα | χεῖρας | ἴαλλον.
Doch, wer weiß? Homer hat hier die Behendigkeit, womit seine eßlustigen Helden nach den Speisen griffen, durch den Gang des Verses nachahmen wollen. Mit Recht
Rezension zu Homers Werke von Voss
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hat Hr. V. der Mannichfaltigkeit wegen, die spondeischen, im deutschen meistens trochäischen, Ausgänge häufig gebraucht; doch hat er auch hier eine rhythmische Mahlerey im Originale gesehen, und daher meistentheils dieselben Verse, wo dieses ihn bat, damit geschlossen, obgleich Homer mehrmals Spondeen setzt, wo das Gesetz der Nachahmung beflügelte Bewegungen fodern würde, z. B. Il. II, 764. IV, 74. 500. Auch folgende Beyspiele von spondeischen Ausgängen gleich oder kurz nach einander, Il. VIII, 54–55. und XII, 128. 131. wobey sich Reime, in den letzten sogar doppelte Reime eingeschlichen haben, sind für die Kenntniß der Homerischen Verskunst wichtig. Eben so gut wie den Gang solcher Verse Il. I, 11.: Οὕνεκα τὸν Χρύσην ἠτίμησ’ ἀρητῆρα, Drum weil ihm den Chryses beleidiget, seinen Priester,
hätte der Uebersetzer dies auch nachmachen können. Die monosyllabischen Schlüsse (lkkl|l) die nach Hermann. de metris p. 275.20 sowohl das Große und Erhabne auszeichnen, als das Kleine lächerlich machen sollen, (so zweydeutig ist das Urtheil über die Wirkung des nachahmenden Ausdrucks) hat er, zum Theil mit ziemlich gezwungenen Wendungen, übertragen, Il. XVI, 123.: – und plötzlich durchflog unlöschbar umher Glut.
Den einsylbigen Namen des Vaters der Götter und Menschen setzt Homer und sein Uebersetzer oft an diese nachdrückliche Stelle: Il. I, 508. μητίετα Ζεῦ, Ordner der Welt, Zeus; νεφεληγερέτα Ζεύς, der Herrscher im Donnergewölk, Zeus. Schade, daß einem Schweine [518] dieselbe Ehre widerfährt. Od. IV, 457. μέγας σῦς, ein Borstenumstarrt Schwein. Uebrigens bleibt Hn. Voßens Hexameter auch hier ein bis jetzt in unsrer Sprache unerreichtes Muster. Er wird durch den gehörigen Reichthum an Daktylen beflügelt, den bey uns die Schwäche der Trochäen nöthig macht. Die Häufung der mattern Wortfüße (lk, klk) wozu die deutsche Sprache einen großen Hang hat, ist auf das glücklichste vermieden, dagegen sind die edlern und männlichern (kl, kkl, kklk, lkl, lkkl) überall mit Wahl u. schöner Abwechselung angebracht, und auch die durch Spondeen gebildeten (kll, kkll, llk, llkk) künstlich eingemischt. Nur hat sich der Dichter den seltnen Spondeen zu lieb zuweilen harte Zusammenziehungen wie: Gĕbīrgs Fēlshaūpt, oder übellautende Zusammenstellungen: dūmpf aūfbālltĕ, tīef aūfseūfzt’ ĕr, erlaubt. – Ein Paar wirklich antispastische Anfänge des Verses sind statt spondeischer durchgeschlüpft, z. B. Ŭnd ērzstārrĕndĕ Schīldĕ, Ŭnd Rūhm hä¯tten gĕwōnnĕn. Solche Worte wie und könnten wohl vor eine unbedeutende Vorschlagssylbe gestellt, als Länge gelten, aber vor der größten Länge, wie hier, werden sie unfehlbar kurz. Im griechischen kann die Arsis in Spondeen und Daktylen eine Sylbe verlängern helfen, bey uns fodert sie vielmehr eine entschiedne Länge. Daher ist es auch Sylbenzwang, wenn die erste Sylbe solcher Wörter wie Schwachheit, Kargheit, abwärts, in die Thesis eines Spondeen, die zweyte weit kürzere in die Arsis des nächsten Fußes fällt, z. B.: Nīcht jă gĕ|bü¯hrt Kārg|heīt bey | abgeschiedenen. _____________ 20
[S. o. S. 32 Anm. 16.]
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Nicht zu verwerfen ist das Bemühn, manchen Wörtern ihre alte Vielsylbigkeit wieder zu geben, z. B. Adeler, (es hieß ehedem Adelaar;) hingegen schöneste möchte schwerlich Eingang finden. Als Probe des schönen Versbaues mag folgende Stelle dienen, die zugleich von Seiten der Treue und des Stils fast ohne Tadel ist. Il. VI, 466–475.: Also der Held, und hin nach dem Knäblein streckt er die Arme, Aber zurück an den Busen der schön gegürteten Amme Schmiegte sich schreyend das Kind, erschreckt von dem liebenden Vater, Scheuend des Erzes Glanz, und die flatternde Mähne des Busches, Welchen es fürchterlich sah von des Helmes Spitze herabwehn. Lächelnd schaute der Vater das Kind, und die zärtliche Mutter. Schleunig nahm vom Haupte den Helm der strahlende Hektor, Legete dann auf die Erde den schimmernden; aber er selber Küßte sein liebes Kind, und wiegt’ es sanft in den Armen; Dann erhob er die Stimme zu Zeus und den andern Göttern. [519]
Möchte es doch Hn. V. gefallen, wenn er einmal zum Homer zurückkehrt, der zu sehr der seinige geworden ist, als daß er ihn je überdrüßig werden könnte, die ganze Uebersetzung in diesem Geschmack zu vollenden! Wie vertraut er mit dem Geiste dieses ehrwürdigen Alten ist, hat er durch seine ältere Arbeit an der Odyssee, und durch die Nachbildung seines Stils in Originalgedichten dargethan. Daß sein poëtischer Ausdruck an Kraft und Reichthum beträchtlich gewonnen, ist selbst unter allen absichtlichen Uebertretungen der Sprachgesetze in der neuern Uebersetzung unverkennbar; und in der Louise glänzt beides, so wie der schönste Versbau ohne allen peinlichen Zwang, ohne die geringste ungebührliche Freyheit in der Sprache. Wer würde hierin etwas so vollkommnes zu liefern im Stande seyn als er, wenn er dieser entsagte, sich in Kleinigkeiten der Ausführung weniger zu leisten vornähme, und sich überhaupt lieber den Geist des Sängers, als seine Kunst, zum beständigen Augenmerk machte.
Karl Wilhelm Ferdinand Solger Karl Wilhelm Ferdinand Solger (1780–1819) war Philosoph und Ästhetiker im Umkreis der deutschen Frühromantik. Er hatte neben seinem juristischen Studium in Halle Vorlesungen bei Friedrich August Wolf gehört und war mit dem jüngeren Voss bekannt. Schon 1804 veröffentlichte er anonym eine Übersetzung des Sophokleischen König Oidipus (Berlin und Leipzig: C. E. Adamson). Nachdem er das juristische Referendariat abgebrochen hatte, um sich ausschließlich philologischen und philosophischen Studien zu widmen, legte er im Jahr 1808 eine deutsche Sophokles-Gesamtausgabe vor, für die er den König Oidipus noch einmal völlig neu übersetzte. 1809 wurde Solger auf eine philologische Professur nach Frankfurt/Oder berufen, 1811 erhielt er eine Professur für Philosophie und Mythologie an der neu gegründeten Berliner Universität. Unter Bezug auf Herder, der die Notwendigkeit von Einleitungen bei Übersetzungen hervorgehoben hatte, gab Solger seiner Sophokles-Übersetzung 1808 eine im Original beinahe 100 Seiten umfassende Einleitung bei, die ebenso als wichtiges Dokument seiner Auseinandersetzung mit Sophokles und der Ästhetik der griechischen Tragödie wie als bedeutendes Zeugnis romantischer Übersetzungstheorie gelten kann. Erstmals wird darin Übersetzen als genuine Aufgabe der Philologie und Mittel philologischer Darstellung begriffen, erstmals auch in dieser Konsequenz ein Übersetzungskonzept begründet, das die „Eigenthümlichkeiten des Alterthums […] so viel, wie möglich, zu schonen“ sucht, wobei gerade auch der Metrik eine große Bedeutung zugewiesen wird. Für die vorliegende Ausgabe wurde der Text um umfangreiche Passagen gekürzt, in denen eine einführende Darstellung der Sophokleischen Tragödie und ein Überblick über griechische Metrik gegeben wird.
Vorrede (Auszug) Aus: Des Sophocles Tragödien. Uebersetzt von Karl Wilhelm Ferdinand Solger. Erster Teil, Berlin 1808, VII–CII.
Uebersetzungen von Kunstwerken aus fremden Sprachen haben, außer dem zunächst auffallenden Zwecke, denen, welche nicht im Stande sind, diese Werke in ihren Grundsprachen zu lesen, einen neuen Weg zum Genuß und zur Bildung zu eröffnen, wohl noch einen andern, in gewisser Rücksicht höheren, und den sich, wie ich glaube, wenigstens alle Uebersetzer aus den alten Sprachen vorsetzen sollten. Der ächte Geist philosophisch-historischer Wissenschaft verlangt nämlich nicht bloß Nachrichten von dem Einzelnen, was in vorigen Zeitaltern gethan, gedacht, gebildet worden sei; er strebt vielmehr, als zu seinem letzten Ziele, dahin, das ganze Leben jener Zeitalter selbst zu seiner eigenen unmittelbaren und lebendigen Anschauung zu bringen. Dieses
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Ziel ist unerreichbar, aber eben deswegen einem unendlichen Streben nothwendig, und die Philologie (wie wir sie von ihrem wichtigsten [VIII] Bestandtheil am liebsten nennen wollen) kann sich ihm bis zu zauberhaften Wirkungen nähern, wie noch neulich eine Abhandlung über die Alterthumswissenschaft von einem großen Meister derselben1 ausgeführt hat. Zu einem solchen Zwecke, der Darstellung eines vollständigen Lebens in seiner wirklichen Erscheinung, muß sich die unermüdlichste Durchforschung des Einzelnen mit dem belebenden Geiste des Allgemeinen auf das innigste vereinigen. Diese Wiederbelebung muß auf alle mögliche Arten und unter allen möglichen Formen versucht werden, zuvörderst in historischen Entwickelungen, dann aber auch in sich annähernden Nachbildungen, wozu dann auch solche Kopieen der Kunstwerke selbst gehören werden, in welchen Allgemeines und Einzelnes in der innigsten Einheit und so streng wie möglich wieder dargestellt werden. Leicht könnte man dieses so mißverstehen, als sollte eine solche Wiederbelebung eine Erneuerung der Kunst für die jetzige Zeit, etwa die Herbeiführung eines neuen Kunstalters nach ehemaligen Mustern seyn. In die Sorge für das Weiterschreiten der Welt möchte aber wohl unser bewußter Wille nicht weit eingreifen können, und uns leicht unter der Hand nach höheren Gesetzen etwas ganz anderes entstehn, als wir machen wollten. Die Würde, welche hier den gedachten Kopieen versichert werden soll, ist also eine rein wissenschaftliche; sie sollen uns das [IX] Vergangene vollkommen darstellen, uns dazu helfen, es wieder mit zu durchleben, und wenn wir es so recht durchdrungen haben, welches der Wissenschaft letzter Zweck an sich sein muß, so wird das schon mit beitragen, uns eine allseitige harmonische Durchbildung zu ertheilen, welche sich auch in der Gegenwart, und zwar ohne Nachahmung, auf eigenthümliche Weise wird äußern müssen. Zu diesen Kopieen gehören denn auch die Uebersetzungen, deren Zweck also sein muß, ein altes Kunstwerk, so wie es im Alterthum selbst in allen seinen Beziehungen zu seiner Zeit da war, uns durch unser eigenthümliches Organ wieder zur lebendigen Anschauung bringen zu helfen. Auf der einen Seite scheine ich hiedurch die Uebersetzungen in ihrem Range zu beeinträchtigen, indem ich sie des Namens von Kunstwerken beraube; und dies ist allerdings der Fall. Denn die Schöpfung aus Nichts, die Erzeugung des Stoffes selbst, die Darstellung aus der innersten Eigenthümlichkeit des Gemüths heraus, welches alles zum Kunstwerk nothwendig ist, darf und kann hier nicht sein. Es ist hier mehr eine gelehrte als künstlerische Wirksamkeit; welche Ansicht gewiß nicht auffallen würde, wenn man gewohnter wäre, das Wesen der Gelehrsamkeit eben so sehr in die geistige Wiedergebärung eines Ganzen, als in die Sammlung des Einzelnen zu setzen. Für den Künstler kann [X] eine solche Uebersetzung fast nur Studium sein zur Uebung und Stärkung für künftige eigene Werke. Auf der andern Seite scheint mir aber die Würde der Uebersetzungen als wissenschaftlicher Werke hier sehr gehoben worden zu sein. Denn wenn man bedenkt, welche mühsame Zergliederung des Einzelnen ihnen vorhergehen, und wie nachher diese zerlegten Glieder ein Geist wieder bewegen muß, der dem ursprünglich inwohnenden nicht _____________ 1
[Solger bezieht sich auf Friedrich August Wolfs Darstellung der Altertumswissenschaft nach Begriff, Umfang, Zweck und Wert, Berlin 1807.]
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unähnlich sei, dann erkennt man leicht, daß man sich hier den höchsten wissenschaftlichen Forderungen nähert. Eben diese hohe Ansicht aber muß auch die Wiederholung der Versuche an denselben Werken entschuldigen. Es soll hier nichts Neues, nichts Ganzes und Bleibendes hingestellt, es soll vielmehr ein Versuch zur Lösung einer unendlichen Aufgabe gemacht werden. So können viele Arbeiten neben einander bestehen; dem einen wird es hierin, dem andern darin besser gelingen, und bei noch so geringen Ansprüchen auf einen hohen Grad von Vollkommenheit wird jede nicht ganz thöricht unternommene Bestrebung immer hierin oder darin eine Art von Werth behalten. Diese Betrachtung giebt mir den Muth, und, wie ich glaube, auch das Recht, zu einer Zeit, wo mehrere Uebersetzungen des Sophokles erschienen sind,2 und vielleicht noch erscheinen werden, auch mit einer solchen hervorzutreten. [XI] Sie entstand aus dem Begehren, mir den Geist der griechischen Tragiker recht lebhaft zu vergegenwärtigen, und ich wünsche, daß sie auch bei andern zu diesem Zwecke etwas beitragen möge. Ich würde nicht gewagt haben, meinen Beurtheilern durch das Obige die Waffen selbst gegen mich zu schärfen, wenn ich nicht aufrichtig erklären könnte, daß ich mein Werk nur als eine gute Stufe zum Weiterschreiten anerkannt zu sehen wünsche, sie möge nun im Ganzen so niedrig zu stehen kommen, als sie wolle. Die Grundsätze, wonach es unternommen wurde, bedürfen nun wohl kaum noch einer weiteren Auseinandersetzung, und werden hoffentlich noch deutlicher aus dem Folgenden erhellen. Herder in seinen Fragmenten zur deutschen Literatur3 scheint ein solches Ziel der Uebersetzungen, wie ich es oben auszudrücken suchte, im Sinne gehabt zu haben. Zur Vollendung eines solchen Werkes verlangt er aber auch noch eine Einleitung, welche _____________ 2
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[Zuvor waren u. a. erschienen: Trauerspiele. Sophokles, übersetzt von Friedrich Ast, Leipzig 1804, Sophokles Trauerspiele, übersetzt von Gottfried Fähse, Bd. 1, Leipzig 1804 (der 2. Band folgte 1809), und Die Trauerspiele des Sophokles, übersetzt von Friedrich Hölderlin, Frankfurt a. M. 1804.] In dem Abschnitte von der griechischen Litteratur in Deutschland; zweite Samml. S. 57. u. s. neue Ausgabe. [Solger bezieht sich auf Herders Von der griechischen Literatur in Deutschland (1766, Abschnitt „Wieweit kennen wir die Griechen?“), wo es heißt: „Wenn uns jemand den Vater der Dichtkunst, Homer, übersetzte: ein ewiges Werk für die deutsche Literatur, ein sehr nützliches Werk für Genies, ein schätzbares Werk für die Muse des Altertums und unsre Sprache, ja, so wie Homer lange Zeit die Quelle aller göttlichen und menschlichen Weisheit gewesen, so wie er der Mittelpunkt der griechischen und römischen Literatur wurde, auch das größte Original für die unsere – alles dies kann eine Homerische Übersetzung werden, wenn sie sich über Versuche erhebt, gleichsam das ganze Leben eines Gelehrten wird und uns Homer zeigt, wie er ist und was er für uns sein kann. Wie sehr haben uns die Engländer hier schon vorgearbeitet? Thomas Blackwells ‚Untersuchung über das Leben und die Schriften Homers‘ […], eine Untersuchung, die sich den hohen Satz aufgibt: ‚Welch ein Zusammenfluß von natürlichen Ursachen konnte den einzigen Homer hervorbringen?‘, die diesen Satz aus den Geheimnissen der griechischen Literatur und Geschichte mit wahrem kritischem Geist erklärt und zum Homer ein Schlüssel ist – diese Abhandlung sollte statt Einleitung sein; eine Einleitung, die fast nie so notwendig ist, als wenn wir uns dem ältesten, dem göttlichsten, dem unübersetzbaren Homer nähern. Nun folgen die wichtigsten Untersuchungen der Alten über den Homer und was er bei ihnen alles geworden ist, was er bei uns sein kann und soll, wie wir ihn ohne Mißbrauch nutzen müssen, ohne doch jemals Homere werden zu können.“ J. G. Herder, Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente, Berlin/Weimar 1985, 143 f.]
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den Standpunkt des Ganzen historisch und philosophisch entwickle. Ohne die Anmaßung, seinen großen Forderungen Genüge leisten zu wollen, glaube ich doch auch hiezu das Meinige mit Wenigem beitragen zu müssen, zumal da ich sehe, daß [XII] man dieses fast überall ganz übergeht, der einzige Uebersetzer des Sophokles aber, der etwas der Art versucht hat, in abentheuerliche Ausschweifungen gerathen ist.4 Es sei mir daher erlaubt, hier ganz kurz im Allgemeinen über den Sophokles und seine Nachbildung zu sprechen, und sodann auch etwas über seine äußeren Formen hinzuzufügen, als worüber man, bei dem jetzt allgemein erwachten Studium der alten Metrik, wohl etwas von mir möchte verlangen können. Einige Rechenschaft über die Einrichtung dieses Buchs wird sodann diese Vorrede beschließen. […] [XLI] Aus der lebendigen Wahrheit der Handlung ergiebt sich auch das Erforderniß der lebendigen Wahrheit des Ausdrucks in der Sprache. Die Sprache der Tragödie ist also allerdings die Sprache des Lebens, wohlverstanden, so, wie die Tragödie selbst das Bild des Lebens ist. Wie sich also die künstlerische Wahrheit zu der Wahrheit der Erfahrung verhält, so muß sich auch die Sprache des Lebens in der Tragödie zur Sprache des gemeinen Lebens verhalten. Und so finden wir es denn auch wirklich beim Sophokles. Sein Ausdruck ist immer lebendig, innig, würdevoll, mäßig, und höchst einfach. Aeschylos, voll der sinnlich und geistig kräftigsten Natur, gebraucht nicht bloß die kühnsten Bilder der Phantasie in seinem Dialog, ja er schmelzt sie nicht durch Vergleichungen, sondern durch unmit[XLII]telbare Aufnahme mit in die Rede ein; und dagegen stellt er oft wieder eben so die sinnlichste Nacktheit fast mit der Wahrheit des gemeinen Lebens dar5. Euripides führt eine dem gewöhnlichen Gespräch des Lebens näher kommende, wortreiche, oft weitschweifige Sprache, und bedient sich der Blumen des poetischen Ausdrucks fast nur zum absichtlichen Schmucke. Die würdigste und wahrste Mitte unter ihnen hält Sophokles. Seine Rede ist immer gewählt, kurz, oft durch Einfalt erhaben, seine Bilder immer von schlagender Wahrheit, nur da gehäuft, wo die Leidenschaft begeistert, und auch da nur durch Vergleichungen herbeigeführt. Aber was diese Rede vorzüglich über alles übrige dieser Art erhebt, das ist die bis ins Kleinste gebildete, lebendige und gewandte Verknüpfung derselben durch Wendungen und Partikeln, wodurch jede solche Rede, bei der mannichfaltigsten inneren Abwechselung dennoch immer ein untrennbares Ganzes ausmacht. Dieses ist es, was die [XLIII] durchgedrungenste Bildung
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[Solger meint Hölderlins Anmerkungen zum Oedipus und Anmerkungen zur Antigonä.] Nur Ein recht derbes Beispiel hievon Choephor. 751. etc., wo die Amme des Orestes sagt: οὐ γάρ τι φωνεῖ παῖς ἔτ’ ὢν ἐν σπαργάνοις ἢ λιμὸς ἢ δίψη τις, ἢ λιψουρία ἔχει, νέα δὲ νηδὺς αὐταρκὴς τέκνων. τούτων προμάντις οὖσα, πολλὰ δ’ οἴομαι ψευσθεῖσα, παιδὸς σπαργάνων φαιδρύντρια, γναφεὺς τροφεύς τε ταυτὸν εἰχέτην τέλος.
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des ganzen Menschen verräth, was die Griechen unter den Völkern6, und unter ihnen wieder die vollkommensten Männer unterscheidet. Reden, welche sich auf einen äußeren Zweck beziehn, entweder zur wahren Darstellung der Lage einer Sache, oder zur Ueberredung einer Person, müssen sich am meisten demjenigen nähern, was in den Geschäften des menschlichen Lebens die Klugheit und Einsicht selbst an die Hand giebt. Beim Aeschylos ist diese ganze Gattung selten. Die gewaltigen Naturen seiner Personen haben wenig Einfluß auf einander, und zeigen sich meistens nur in dem Widerstand, den sie einander leisten7. Beim Euripides schweifen solche Gespräche in künstliche Sophistik aus, welche entweder mit scheinbaren Philosophemen spielt, oder ihre letzte Zuflucht zur Rührung des Gegners nimmt8. Jenes bringt [XLIV] das der Kunst so sehr zuwider laufende Abstrakte und Unbestimmte, dieses einen Ueberfluß geschmückter und oberflächlicher Worte zum Vorschein. Beim Sophokles wird immer der Sache selbst gemäß, und auf den Verstand oder besonnenen Willen des Gegners hin, kurz im vollesten Sinne praktisch gesprochen. Daher der gemäßigte, klare, leicht geordnete Ausdruck. Da sich die Athener, und mit Recht, das ganze praktische Leben unter seinem höchsten Bilde als Leben im Staate dachten, so nimmt auch hier dasselbe ganz die Gestalt, ja selbst einzelne Ausdrücke, Wendungen und Bilder, politischer oder gerichtlicher Beredsamkeit an9. Diese Reden des Sophokles sind in der Poesie ganz das, was in der Prosa die Werke der griechischen Redner von der einfachen Gattung10 sind. [XLV] Hieran grenzen zunächst die kurzen Wechselreden, im lebhafteren und leidenschaftlicheren Gespräche. Diese dienen zuvörderst um einen noch Unwissenden in der Kürze und ohne vielen Aufwand von der Lage der Sachen zu unterrichten, und schon hier besteht die Kunst darin, in jede einzelne Rede einen recht vollen und alles aufklärenden Sinn zu legen. Vorzüglich aber sind sie bestimmt zum lebhaften Streite der verschieden Gesinnten, zumal als letzte, heftige Versuche sich zu vereinigen, die dann gewöhnlich die vollkommene Trennung bewirken. Beim Aeschylos werfen sich da die Personen gewöhnlich die ganze Last ihrer Starrheit, oder ungeheure Ausbrüche der Leidenschaft entgegen11; beim Euripides spielen sie, manchmal ohne Maß, mit Sophis_____________ 6 7
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... Grajis dedit ore rotundo Musa loqui .................... Horat. So bestehn die Gespräche im Prometheus und den Sieben gegen Thebe bloß darin, daß die Helden alles von sich weisen und sich auf nichts einlassen. Das schönste Gespräch dieser Art bei ihm ist gewiß das in der letzten Hälfte der Eumeniden, welches sich auch mehr dem sophokleischen Karakter nähert, nur daß es die gerichtliche Form zu hart an sich trägt. Außer vielen andern Beispielen waltet solche Philosophie besonders in den Reden in der Alkestis und den [XLIV] Bacchantinnen (von V. 200 an). Vorzüglich schlecht ist sie angebracht in den Flehenden (von V. 426.), wo Theseus mit einem Herold über die beste Regierungsform disputirt. Die Rührung ist oft ganz widerlich in der Hekabe, den Troerinnen u. s. w. εἰγκαλεῖν, φεύγειν, ψηφίζειν u. s. w., welches wirklich in Athen juristische Wörter waren. Von der ganzen Gattung sagt Aristoteles: οἱ μεν γὰρ ἀρχαῖοι πολιτικῶς ἐποίουν λέγοντας, οἱ δὲ νῦν ῥητορικῶς. Poet. VI. §. 23. Das πολιτικῶς erklärt Herrmann sehr schön: uti civilis prudentia postulat. Was sie τὸ λεπτὸν nannten. Prometh. 979, Sept. adv. Theb. 714., Agam. 1676., Choeph. 905. u. s. w.
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men und müßigen Ausflüchten12; beim Sophokles endlich sind sie immer auf den innigsten Zusammenhang der Sache gerichtet, den sie in sinnschwerer Kürze hinwerfen, und wirken gern so, daß sie in der Seele des hartnäckigen Gegners einen Stachel geheimes Zweifels zurücklassen, der ihn nachher doch überwindet, und oft für die ganze Handlung entscheidend wird. So möchte ich diese Reden beim Aeschylos mit ge[XLVI]schleuderten Felsstücken, beim Euripides mit geschickt hin und her gespielten Bällen, beim Sophokles mit scharfen und klug gezielten Pfeilen vergleichen. Die dritte Hauptgattung der Reden sind die Ergüsse der Leidenschaft und Empfindung. Diese sind beim Aeschylos kurz und gewaltsam, und gehn gewöhnlich in das Lyrische über, wo sie dann auch mit dem Chore zu wechseln pflegen. Die Beispiele kläglicher und allzuwahrer Darstellung des Leidens in seiner Nacktheit sind beim Euripides nicht schwer zu finden. Sophokles drückt uns eine innige, aber gemilderte Trauer aus, und zwar gewöhnlich erst hinter den ersten Ausbrüchen des wilden Schmerzes, wo uns die Auflösung in sanftere Klagen recht willkommen ist. Man kann wohl in dieser Art nie etwas schöneres lesen, als die letzten Klagen des Oedipus (als König), die der Antigone, als sie eben abgeführt werden soll, und die der Elektra, über den geglaubten Tod des Orestes. Heutige Leser werden gewiß oft dabei anstoßen, daß in solchen Reden der Personen dasjenige angedeutet und fast beschrieben wird, was die Zuschauer ja körperlich vor sich sehn. Aber nicht durch die Erfahrung bloß sollen die Zuschauer so etwas annehmen, sondern auch als poetische Wahrheit, welche also die Kunst der Poesie wieder mit in sich aufnehmen, und so zu höherer Würde [XLVII] stempeln muß13. Eben so, wie die Empfindungen, welche die Worte aussprechen, doch wieder erst durch die Musik ihr eigentliches höheres Leben erhalten. Die Erzählungen endlich von dem, was hinter der Scene vorgeht, sind ein Feld, worin sich die Tragiker mit vorzüglicher Lust geübt haben. Sophokles besonders, der sonst überall so mäßig ist, drängt hier gewöhnlich recht die Pracht und den Glanz seiner poetischen Sprache zusammen. Denn gewöhnlich ist darin auch die Entscheidung der ganzen Handlung enthalten. Aeschylos soll zuerst diese Boten eingeführt haben, indem er zuerst die Todesfälle den Augen der Zuschauer entzog14; und dieses geschah, theils um nicht durch eine zu sinnliche Wahrheit das zarte Gewebe der Kunst zu durchreißen, theils aus der heiligen Scheu, welche [XLVIII] die Griechen beim Anblicke von Leichnamen zu empfinden pflegten. Indessen gab es Ausnahmen, wie im Aias des Sophokles, wo aber doch der Selbstmord, wie alle Umstände ergeben, ganz im Hintergrunde des Theaters und im Gebüsche vorfällt. In diesen Erzählungen nun zeigt _____________ 12 13
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Ungeziemend häufig sind sie z. B. im Orestes, und fast lächerlich von 1520. (ed. Porson) an. Ferner Androm. 233., Suppl. 1048., und an vielen andern Orten. Hierin fehlen viele der heutigen Dichter unaufhörlich. Von manchen ihrer Werke wird, ohne die Hülfe der Dekorateurs und der Theaterschneider, ein bleicher Schatten auf die Nachwelt kommen; wenn nicht etwa das Kostüme und die körperliche Handlung der Schauspieler durch Parenthesen angegeben sind, welche aber auf einen begeisterten Leser ungefähr den Eindruck machen, wie in einem Marionettentheater eine Riesenhand im Hemdsärmel, die durch die Wolken herabgreift, um eine gefallene Puppe aufzurichten. Dagegen stehn die Dramen der Alten, ohne die geringste Notiz von den äußerlichen Zuthaten, im vollsten Leben leibhaftig vor unseren Augen. Siehe Dacier zu Horat. art. poet. 158.
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sich recht eine praktisch lebendige Gabe der Auffassung und Darstellung, besonders auch darin, daß die Begebenheit mit ihren eigenthümlichsten und kräftigsten Farben, aber auch nur an sich, ohne Abschweifung oder Zuthat hingestellt wird. Die Erzählung, welche der Bote in den Persern des Aeschylos von der Schlacht bei Salamis macht, konnte wohl kein andrer schreiben, als der, welcher die Schlacht selbst mitgemacht hatte, und das war des Aeschylos Fall. So tragen alle solche Beschreibungen des Sophokles ein Gepräge innerer Wahrheit, welches ihnen nur der mit den Tiefen der menschlichen Natur durch Leben und Erfahrung vertraute Weise aufzudrücken vermochte. Auch hier kann ich nicht umhin, den Euripides den beiden übrigen nachzusetzen. Seinen Erzählungen fehlt es fast immer an einem energischen Totaleindruck; er verwirrt sie durch Kleinigkeiten, indem er sie recht ausmalen will, wie die von dem Kampfe der Griechen und Taurier in der Iphigeneia in Tauris, und die von der Zerreißung des Pentheus in den Bacchantinnen. Man sieht schon mehr den Mann, [XLIX] der das Leben aus seinem Zimmer, oder gar aus seiner Höhle auf der Insel Salamis15 mit ansah. Eine seiner schlechtesten Beschreibungen ist wohl die von dem Treffen in den Herakliden, wo unter andern erst die Schlachtordnung der Athener und Herakliden durchbrochen wird, aber dann doch den Sieg davon trägt, eben als wenn es durch solche müßig erfundene Umstände wahrscheinlicher gemacht werden sollte, als es sein würde, wenn die Schlacht gleich auf den ersten Anlauf wäre gewonnen worden. Man könnte der Beschreibung des Wagenrennens in der Elektra des Sophokles etwas Aehnliches vorwerfen, indem dort erst die andern Schäden geschehn, und Orestes bis zuletzt der Glücklichste ist, dann aber ganz zu Grunde geht. Allein hier soll wirklich eine Lüge wahrscheinlich gemacht werden, und das gelingt dem Erzähler durch die Kraft und Lebhaftigkeit der Darstellung auch so, [L] daß wir Leser gewiß alles vor unseren Augen vorgehn sehn, ungeachtet wir vorher besser als Klytämnestra von der Wahrheit unterrichtet waren. Auch in den Chorgesängen verläßt unsern Dichter sein Gleichmaß nicht, und ungeachtet viele derselben voll von erhabenem und kühnem Ausdruck sind, so hinterlassen sie doch gewöhnlich das Gefühl einer feierlichen und heiteren Ruhe. Es würde zu weit führen, wenn hier der ganzen Tiefe des Gegenstandes nach gezeigt werden sollte, wodurch sich die Chorgesänge des Aeschylos und Euripides unterscheiden; nur über die des Sophokles muß noch einiges hinzugesetzt werden. Die höchste und feierlichste Art dieser Gesänge sind beim Sophokles die, welche ich die philosophischen nennen möchte, in welchen der Chor, vom Anlaß der Gegenwart ausgehend, tiefe Blicke in das menschliche Leben, oder in die innerste Natur der Dinge thut16. Der betrachtende Karakter derselben offenbart sich überall, in der Ein_____________ 15
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In dieser Höhle, die sich Gellius noch zeigen ließ, soll Euripides, nach dem Bericht des Philochoros, gedichtet haben. Gell. Noct. Att. lib. XV. c. 20. – Es ist in neueren Zeiten viel Streit über den Werth des Euripides erhoben worden, worein ich keinesweges wagen will, mich zu mengen. Indessen wollte ich deswegen auch meine Meinung nicht verhehlen. Sokrates und Platon haben ihn unstreitig sehr hoch geschätzt, aber sie urtheilten als Philosophen, nicht als Kunstkritiker. Denn was die Alten waren, das waren sie gern ganz. Wir aber müssen jeden nach seinem eigenen Standpunkte zu beurtheilen suchen. Kön. Oed. 860., Antig. 333. der Uebers.
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falt und schmucklosen Wahrheit des Ausdrucks, der, ohne Bilder der Vergleichung, nur immer darauf geht, die Dinge recht tief und eigentlich nach ihrem Wesen auszusprechen, in dem einfachen und doch innerlich fest in sich verbundenen Bau der Rede, so fern von kühnen Uebergängen und Sprüngen, wie [LI] von künstlichen und geschmückten Verwickelungen. Die Strophen, von mäßiger Länge und leicht zu übersehn, enthalten immer jede einen Hauptgedanken, beziehn sich ziemlich streng auf ihre Gegenstrophen, und jede von ihnen ist durch leichte Verknüpfung in ihrem Innern zu einem freien Ganzen gerundet. Dieses sind die heitersten und lieblichsten Blühten des philosophischen Geistes der Griechen, die aber nur aus dem starken und bis in sein innerstes Mark gesunden Stamme hervorsprießen konnten. Es ist ein Hauch des Geistes und des Gefühls der Wahrheit, der das zeitliche Leben erst mit Wesen und Bedeutung beseelt. Zuweilen geht eine solche Betrachtung am Ende über in leidenschaftliche Anwendung auf den gegenwärtigen Fall, der sie veranlaßte17. Dann folgt auf solche Ruhe plötzlich eine heftigere und bewegtere Sprache. Die gewaltig andringende Gegenwart hebt das Gleichgewicht des Gemüths auf, und bringt kühnere Bilder, mehr abgerissene Wendungen hervor. Auch findet wohl das Gegentheil statt, daß ein heftiges Gefühl der Gegenwart in ruhigere Betrachtung übergeht18. Lehrt der Chor durch Beispiele der Geschichte und Mythologie, so wird schon [LII] dadurch der Ausdruck kühner, und die innere Verbindung schwerer und künstlicher abwechselnd19. Am nächsten dieser betrachtenden Gattung stehn wohl diejenigen Gesänge, wo die Herrlichkeit des Lebens oder der Götter gepriesen wird. Bei jenen sind die Gegenstände, welche mit in die Darstellung verflochten werden, mannigfaltiger; die innere Freudigkeit drückt sich aus durch die Fülle und Pracht der Worte, durch die größeren Massen der Sprachverknüpfung; es ist der mannigfaltig spielende und buntere Glanz der Welt, wiedergestrahlt von dem ruhigen Spiegel eines heiteren und zufriedenen Gemüths20. Weniger groß sind die Umrisse, aber lebhafter und auch äußerlich bewegter die Sprache da, wo die Götter gepriesen werden, sei es in froher Hoffnung des nahen, von ihnen erwarteten Guten21, oder in vertrauensvollem Gebet um Abwendung eines drohenden Uebels22. Da aber, wo der Gegenstand selbst die höchste Leidenschaft hervorruft, drängen sich Bilder auf Bilder, die Sprache wogt in kurzen, kühnen Verknüpfungen gleich einem aufgewühlten Meere hin und her, und verströmt entweder ohne einen deut[LIII]lich begrenzenden Schluß, oder endet mit einer kurzen noch zweifelnden Beruhigung23. Mit den tiefsten und kräftigsten Lauten des empörten Gefühls füllt sie sich, wenn die höchste Spannung die Personen selbst in lyrischen Strophen mit dem _____________ 17 18 19 20 21 22 23
Kön. Oed. 1183., Oed. in Kolon. 1212. Antig. 583., Trachin. 94. Antig. 945. Oed. in Kolon. 669. Kön. Oed. 1083., Oed. in Kol. 1045., Aias 697. Antig. 1116. Kön. Oed. 151. 462.
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Chore vermischt24. Wo aber mehr Wehmut als Erschütterung herrscht, werden die Formen großartiger, und auch die Töne nicht bloß gewaltig und voll, sondern auch süß und lieblich25. Zuweilen wird der entscheidende Ausgang des ganzen Stücks durch einen kurzen Gesang vorbereitet, dessen geheimnißvolle Tiefe sich im schweren und feierlichen Gange der Rede, und in dem Schalle langer und prachtvoller Wörter andeutet26. Wo bloß das Schicksal der Hauptpersonen die Betrachtungen des Chors hervorruft und ganz an sich fesselt, indem er uns die Lage des Helden beschreibt, und die nächsten Gefühle, welche dieselbe hervorbringt, ausspricht, grade da ist der Bau der Sprache am künstlichsten und am meisten verwickelt, und die uneigentlichen Ausdrücke am freisten und kühnsten hingestellt27. Und dieses liegt auch [LIV] in der Natur der Sache; denn da ist der Chor selbst am wenigsten in eigner Bewegung, und da wird am meisten durch das eindringende Aeußere seine Seele geübt und beschäftigt. Da es nothwendig mein Bestreben gewesen sein muß, alles das, was ich in meinem Dichter sah, in der Uebersetzung, so gut ich es vermochte, wieder auszudrücken, so ergiebt sich aus allem Gesagten schon von selbst, welche Ideen mich bei diesem Werke geleitet haben. Das Erste und Wichtigste war, alle Eigenthümlichkeiten des Alterthums und des griechischen Volkes so viel, wie möglich, zu schonen. Denn ich wollte kein modernes Werk schreiben, sondern grade ein alterthümliches in unsere Sprache übertragen, welche wegen einer gewissen Aehnlichkeit der Völker selbst, unter allen neueren am meisten fähig ist, griechische Ideen auszusprechen, und griechischen Ausdruck nachzubilden. Es ist allgemein bekannt, daß das Prinzip des gesammten Lebens der Griechen auf der höchsten Empfänglichkeit für die Anschauung der Natur beruhte. Das Sinnliche also ist ihnen das Lebendigste, aber wohl verstanden bis in seine tiefsten Gründe hinein; mit der Natur gehn sie am liebsten um, aus ihr nehmen sie ihre kräftigsten poetischen Bilder; keiner Sache, welche in den Gesetzen der Natur gegründet ist, schämen sie sich. Und grade in dieser Einigkeit mit der Natur und [LV] Entfernung von aller falschen Scham, drückt sich am schönsten die Unbefangenheit und Klarheit des Gemüths aus, welche überall die Anzeige des reinsten sittlichen Gefühls ist, und die Griechen fast vor allen übrigen Völkern auszeichnet. Diese Eigenthümlichkeiten durften also meines Erachtens nicht verwischt werden, wenn das Werk einmal ein Werk des Alterthums bleiben sollte, auch da nicht, wo die gewöhnliche Denkweise oder wohl gar Ziererei mancher heutiger Leser einen Anstoß nehmen könnte. Es mußte also z. B. von dem sinnlichen Liebesgenusse und der Zeugung mit eben so wenig Rückhalt gesprochen werden, wie in der Urschrift, und dieses geschieht auch in derselben immer mit solcher Würde, daß reine Seelen, sich selbst überlassen, und vertieft in die Schönheit dieser alten Poesie, gewiß nicht dadurch mögen beleidigt werden. Besonders recht ehrwürdig und heilig ist die fast beständig vorkommende Vergleichung dieser Gegenstände mit der Saat und Ernte der Ackerfrucht. _____________ 24 25 26 27
Vorzüglich Kön. Oed. 1315., Elektra 120., und gewöhnlich gegen das Ende der Stücke. Antig. 807., Philokt. 1081. Oed. in Kolon. 1555., Elektra 1383. Trachin. 833. Philokt. 671.
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Denn in der geheimnißvollen Entwickelung der Saat sahen die Griechen die nächste Offenbarung einer mit innerem Wirken alles durchdringenden und belebenden Gottheit. So ist es auch mit vielen andern Sprechweisen und Bildern, die von Eindrücken der Sinne hergenommen sind, oder wo solche Eindrücke verglichen, oder in höherer Lebhaftigkeit des Ausdrucks verwechselt werden. [LVI] In solchen Fällen ist es die Pflicht des Commentators und historischen Forschers, dergleichen zu bemerken, zu sagen, daß es allgemeiner Gebrauch sei, und wie er eigentlich verstanden werden müsse. Aber des Uebersetzers Verdienst besteht grade darin, solche Eigenthümlichkeiten zu erkennen und so nahe wie möglich wiederzugeben. Wenn ich also auch recht gut weiß, was gewisse ganz specielle Ausdrücke und Wendungen bei den griechischen Tragikern für eine allgemeine und abgezogene Bedeutung zu haben pflegen, so werde ich doch immer suchen, so fern es ohne unnatürlichen Zwang der deutschen Sprache geschehn kann, das Eigentliche und Specielle wieder auszudrücken, und nicht durch das Allgemeinere und Erklärende die ganze Farbe zu verwischen und die Kraft der lebendigen Anschauung zu schwächen. Alles dieses habe ich denn auch ins besondere bei den Eigenthümlichkeiten des Sophokles, die ich oben anzudeuten versuchte, mir zum Gesetze gemacht, oder vielmehr ergab sich die Befolgung desselben von selbst aus der Idee, die ich einmal von einem solchen Unternehmen gefaßt hatte. Auch die Art und Weise des ganzen Baues der Rede mußte nachgeahmt werden, ohne doch dadurch gegen den Geist unserer eignen Sprache im Wesentlichen zu sündigen. Ohne Zweifel wird es mir an vielen Stellen nicht gelungen sein, dieses zu vereinigen, [LVII] obgleich ich die dreiste Nachbildung freier und kühner Wendungen nur für Fälle aufzusparen suchte, wo ein besonderer Nachdruck erreicht werden mußte. Man muß dann aber auch im Allgemeinen bedenken, daß auch von unsern guten deutschen Schriftstellern jeder seine eigenthümliche Sprache hat, die erst gekannt sein will, ehe sie ganz genossen werden kann, und daß bei jeder Nachbildung eines alten Werkes auch wieder manches Neue gewagt werden muß, weil eben wieder ein neues Urbild da ist. Viele treffliche, unserer Sprache ganz neue, und ihr bei tieferer Ansicht doch natürliche Wendungen, zum Beispiel, deren sich Voß im Homer und andern Werken dieser Art bedient hat, würden in einem deutschen Sophokles sehr am unrechten Orte sein; dagegen müssen in diesem neue Kühnheiten vorkommen, welche jener bewundernswürdige Meister der Uebersetzungskunst der Natur seiner Vorbilder nach vielleicht nie hat wagen können. Zur vollkommenen Treue gehört nach der jetzt allgemein gewordenen Uebereinstimmung aller gründlichen Kenner auch die genaue Nachbildung der metrischen Form dieser Kunstwerke. Hierüber muß ich nun noch einiges beifügen, theils für die Gelehrten, um ihnen durch Mittheilung einiger meiner Ansichten die Beurtheilung meines Werkes zu erleichtern, theils für diejenigen Leser, welche, mit dieser schwierigen Kunst nicht vertraut, einiger Fin-[LVIII]gerzeige bedürfen, um sich darin zurecht zu finden. Für beides kann aber hier nicht aus dem Grunde und weitläuftig gesorgt werden. Wer die lyrischen Versmaße recht zu verstehn und zu genießen wünscht, wird sich kurz aus Herrmanns kleinem Handbuche der Metrik in deutscher Sprache28 _____________ 28
[Gottfried Hermann, Handbuch der Metrik, Leipzig 1799.]
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unterrichten können. Nur verlange niemand, einen solchen Chorgesang beim ersten Ueberlesen, sei es dem poetischen Sinne nach ganz zu verstehen, oder der musikalischen Melodie nach vollkommen zu empfinden. Niemand, außer den größten Virtuosen, vermißt sich, eine bachsche Sonate beim ersten Anblick vom Blatt weg zu spielen29; eine nicht unähnliche Bewandniß hat es mit den metrischen Meisterstücken der Griechen. Es läßt sich hier nicht, vielleicht aber anderswo, gründlich ausführen, hat aber immer den höchsten Grad der Wahrscheinlichkeit, daß bei den Griechen metrische und musikalische Komposition der poetischen Rede völlig Eins und dasselbe waren. Nur auf die ganze Natur dieser Künste bei diesem Volke will ich mich hier berufen. Was in Versen war, wurde gesungen, und es wäre ihnen gewiß eben so unnatürlich vorgekommen, ein Gedicht zu machen, ohne es zum Gesange zu bestimmen, wie einen bloßen Gesang ohne poetischen Text auszuführen30. Es ist daher ganz natürlich, daß die [LIX] griechischen Dichter ihre Musik selbst setzten, das heißt aber nichts andres, als sie wählten und verbanden ihre Versarten selbst, worin ihrem Genie bei den lyrischen Stücken ein sehr weiter Spielraum gelassen war. Diese Versarten konnten sie auch den Personen, die zum Chore bestimmt waren, nur so beibringen, daß sie selbst ihnen alles vorsangen, und sie einübten, bis sie es richtig nachsingen konnten. Die Dauer der Töne war hier hinlänglich durch die natürliche Dauer der Sylben bestimmt. Aber das Tempo, der Wechsel der Stärke und Schwäche, der Höhe und Tiefe des Tons lag darin nicht, sondern mußte erst durch die musikalische Begleitung31 recht festgehalten werden. Aber hier gab es nun wieder allgemeine Ausgangspunkte und gleichsam Schlüssel in den verschiedenen Weisen (als der dorischen, phrygischen u. s. w.), und dann hatte auch gewiß jede Versart hier ihre besonderen Anlagen. Alles das ist uns mit dem Verluste der alten Musik in eine fast undurchdringliche Dunkelheit geschwunden. Da nun der Dialog der alten Tragiker, wie wir sehn, in Versen ist, so ist er vermuthlich auch gesungen worden. Freilich müssen wir uns diesen Gesang ganz anders vorstellen, als unsern Opern-[LX]gesang, aber den kannten ja die Alten überhaupt nicht. Der Dialog mag sich also in seinem musikalischen Vortrage in mancher Rücksicht unsern Recitativen genähert haben. Er wurde von der Flöte begleitet, dergleichen es aber von sehr verschiedener Form und Stärke gab. Dem Chor war immer die Lyra zugesellt. […] [LXXXV] Es ist indessen immer zu bemerken, daß wir im Deutschen eigentlich nicht dasselbe haben, was die alten Versarten den Griechen und Römern waren, sondern nur etwas ganz Fremdartiges, was aber geschickt ist, bei uns die Stelle derselben zu vertre-
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[Derselbe Vergleich findet sich bei August Wilhelm Schlegel, der im Athenaeum, 3. Bandes 2. Stück (1800), 216, schrieb: „Wenn dieß [scil. das Lesen metrischer Übersetzungen] dem ungeübten Leser schwer zu lesen fällt, so hat er sich eben so wenig zu verwundern oder zu beklagen, als ein Anfänger in der Musik, wenn er eine Bachsche Sonate nicht sogleich fertig spielen kann.“] Z. B. in Läufen, oder in ganzen Opern mit unsinnigem Texte. Dieses ist es, was Aristoteles ἁρμονία nennt, wie ich seine dunkle Kürze Poet. c. I. §. 4. verstehe.
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ten. Versmaße im Sinne der Alten zu haben, verhindern uns durchaus zwei allgemeine und nicht zu hebende Eigenschaften unsrer Sprache. Die erste dieser Eigenschaften ist, daß das Verhältniß ihrer Sylben zu einander in Rücksicht auf den Wechsel des Tons keinesweges beruht auf der natürlichen Länge derselben, oder der Zeit, welche sie auszusprechen kosten, sondern auf dem Accent, welcher einige durch eine größere Stärke des Tons von anderen unterscheidet. In den alten Sprachen dagegen unterscheiden sich die Sylben für das Metrum durch ihre natürliche Länge, die selbe werde nun hervorgebracht durch die Dehnung ihres Vokals, oder durch die nebeneinander stehenden Konsonanten, welche nach einander ausgesprochen werden müssen, so daß wirklich eine lange Sylbe der Zeit ihrer Aussprache nach noch einmal so lang ist als eine kurze (lkk). Im Deut-[LXXXVI]schen aber ist z. B. in dem Worte endender in jeder Sylbe ein kurzes, in keiner ein gedehntes e, und darin sollten die drei Sylben gleich sein. In der ersten und zweiten aber folgen auf das e zwei, in der letzten folgt auf dasselbe nur ein Konsonant. Jene beiden sollten also gleich, diese aber kürzer sein. Und doch ist unsrer Prosodie nach die erste allein lang, die beiden letzten aber kurz; und das Wort ist für uns ein vollkommener Daktylus (êkk), bloß deswegen, weil die erste Sylbe durch den Accent verstärkt wird. Da nun das Verhältniß dieser Sylben gar nicht auf ihrer Zeitlänge beruht, so ist die Bezeichnung lkk eigentlich auch eine bloße Nachahmung der alten Sprachen, und richtiger würde es so ëkk ausgedrückt werden. Wenn wir also beide Arten mit der Musik vergleichen wollen, so stellt uns jene den Zweivierteltakt, diese den Dreiachteltakt dar, und es wird also meines Erachtens nie vollkommen richtig sein, griechische und deutsche Verse durch dieselben Noten auszudrücken. Es läßt sich freilich hiegegen wiederum zweierlei einwenden. Erstlich, daß der Accent nicht bloß Verstärkung des Tons, sondern auch Verlängerung hervorbringe. Dieses ist zwar richtig, aber nur in so fern, daß die Stimme sich nur so lange auf der Sylbe hält, als sie nöthig hat, um eben den Nachdruck anzubringen. Also ist hier immer nicht [LXXXVII] die Verlängerung die Hauptsache, sondern nur eine Wirkung des Nachdrucks, und dann zeigt die Verlängerung selbst auch in ihrer Beschaffenheit, daß sie nicht auf der Art des Sprachtones, sondern bloß auf der Verstärkung desselben beruht, in so fern die Anstrengung dazu mehr Zeit kostet. Denn die Laute selbst bleiben unverändert; die Sylbe un z. B. ist der Art ihres Tons nach so kurz als möglich, indem sie einen kurz abgestoßnen Vokal und nur Einen Konsonanten hat, und doch wird sie in dem Worte unähnlich durch den bloßen Nachdruck, ohne daß das u gedehnt, oder ein Konsonant zugesetzt würde, so verstärkt, daß sie es über die folgende Sylbe davonträgt, die doch einen gedehnten Diphthong, und hinter demselben noch zwei Konsonanten hat. Findet also auch eine solche Verlängerung statt, so ist sie wenigstens unmusikalisch, und beruht auf der Anstrengung für den Accent. Zweitens läßt sich einwenden, daß auch wirklich der volle oder matte Ton selbst bei unsrer Prosodie in Anschlag kommt. Auch dies ist richtig. Denn es ist natürlich, daß die Sprache sich schon zum Theil so bildete, daß die Stammsylben auch häufig die volltönendsten wurden. Auch können wir jetzt noch, da wir doch nicht bloß Verstand, sondern auch Gehör haben, im entgegengesetzten Wege volle Laute bei schwächerer Bedeutung zur Stärke des Accentes hinaufsteigern. Aber [LXXXVIII] jenes ging wiederum von der Bedeutung
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aus, und also ist auch in volltönenden Sylben für uns der Accent noch wichtiger als der volle Ton; und diese Steigerung kann wieder nie so weit getrieben werden, daß nicht die volltönendsten Sylben (z. B. das Wörtchen auf), bei entschieden schwacher Bedeutung immer auch gegen tonlose, aber sehr bedeutende, kurz bleiben müßten. Wir können also diese beiden Umstände zwar trefflich benutzen, um die Härte unsres ersten Prinzipes zu mildern, und hierauf beruhen sogar hauptsächlich die rechten Feinheiten unserer Verskunst; aber die Verstärkung durch den Accent bleibt doch immer Prinzip, und erhält in streitigen Fällen überall den Vorzug. Auf der andern Seite wird auch nicht geleugnet, daß auch bei den Griechen der Redeaccent und die daraus entstehende Verstärkung Einfluß auf den Vers gehabt habe; aber die natürliche Länge oder Kürze des Tons war doch immer ursprüngliches und in streitigen Fällen überwiegendes Prinzip. Und dieses bleibt der erste wesentliche und nothwendige Unterschied in der ganzen Natur der Verskunst in beiden Sprachen. Die zweite der oberwähnten Eigenschaften der deutschen Sprache ist noch wichtiger; es ist die, daß nun eben jener Accent, der alles Verhältniß der Sylben gegen einander bestimmt, auf der Bedeutung dieser Sylben beruht. Bei den Alten [LXXXIX] war es, wie erwähnt worden, die natürliche Beschaffenheit des Tons, worauf es beim Verse ankam, also die reinste musikalische Grundlage. Die Bedeutung der Sylben war dieser gänzlich untergeordnet, und diese Musik modulirte die Töne der ganzen poetischen Rede, unabhängig von den einzelnen Begriffen, woraus diese bestand, den allgemeinen Empfindungen gemäß, welche darin dargestellt wurden. Es ist nun doch ein wesentlicher Unterschied zwischen Rede und Musik, daß jene alles durch das Mittel der Vorstellungen, diese alles durch das Mittel der Empfindungen ausdrückt. Rede und Musik, oder die Poesie in so fern sie Rede, und die Poesie, in so fern sie Musik (d. h. Metrum) ist, sind also am vollkommensten, wenn sie nichts mit einander gemein haben, als den in der Mitte liegenden Stoff, der sich in jener zu Vorstellungen, in dieser zu Empfindungen gestaltet. In diesem Stoffe und in ihrer gemeinschaftlichen Beziehung auf denselben müssen sie beide ganz Eins sein, in der einzelnen Ausführung aber entgegengesetzte Wege nehmen. So war es auch wirklich bei den Alten. Die rhetorische Deklamation und die metrische oder musikalische sind also zwei ganz verschiedene Dinge, und wir, die wir der Musik in ihrer wirklich bedeutungsvollen, geistigen Einheit mit der Rede schon ziemlich entfremdet zu sein scheinen, erstaunen zuweilen, bei den Alten ein rhe-[XC]torisch sehr bedeutendes Wort in der unscheinbarsten Senkung der Musik, ein sehr unbedeutendes aber in der Hebung derselben zu finden32. Ganz anders ist es in der deutschen Sprache. Hier beruht nicht allein, wie oben gezeigt wurde, das Taktverhältniß der Sylben auf dem Accente, sondern dieser Accent auch wieder auf der Bedeutung. In jedem Worte ist die lange Sylbe für den Vers die, welche die Wurzel oder den Stamm desselben enthält, und ganze Wörter wieder _____________ 32
In die innere Ausbildung dieses Verhältnisses läßt sich hier weiter nicht eingehn. Vieles ist aber gewiß noch aus den übrig gebliebenen Kunstwerken des Alterthums zu enthüllen. Auch verdient es eine Untersuchung, wie und warum sich bei den Römern die Metrik mehr nach dem grammatischen Accente modificirte. Endlich beruht zum Theil darauf auch das noch lange nicht ganz aufgeschlossene Geheimniß der antiken Prosa.
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verhalten sich metrisch zu einander nach dem Verhältniß ihrer logischen Wichtigkeit für die Rede33. Wenn es uns nun auch möglich ist, einiges zu thun, um die zu strenge rhetorische Deklamation in unseren [XCI] Versen zu mildern und mehr eine Deklamation der Empfindung an ihre Stelle zu setzen, so müssen wir uns doch im Einzelnen immer zu sklavisch am logischen Werthe der Wörter halten, um je etwas wirklich musikalisches hervorzubringen. Hierdurch scheint es mir erwiesen zu sein, daß unseren, nach den antiken gebildeten Versen eigentlich die Musik fehlt, und die Musik war es doch sicher, worauf die ganze antike Verskunst beruhte. Wenn also ein alter Grieche wiederkäme und deutsch verstände, so würde er unsre besten Hexameter und Trimeter doch schwerlich für Verse halten, weil sie eben seinen eigentlichsten Begriffen von dem Musikalischen in der Poesie widersprächen. Dennoch ist es immer ein sehr schätzenswerther und vortrefflicher Vorzug, der die deutsche Sprache vor allen übrigen neueren auszeichnet, daß ihre Sylben wirklich ein regelmäßiges, fest stehendes und bedeutungsvolles Verhältniß gegen einander haben; und wie wichtig das sei, haben wir gesehn, da die Erfindung der wahren, hierauf beruhenden Kunst durch Voß auf immer einen wichtigen Abschnitt in der Geschichte der deutschen Gelehrsamkeit und Literatur bezeichnen wird. Diesen Vorzug müssen wir also allerdings benutzen, um etwas hervorzubringen, das den Schein der alten Verskunst habe, und uns so ein, wenn gleich schwaches und sehr getrübtes Bild von derselben zu verschaf-[XCII]fen. Dieses kann nun zwar auch in eigenen Gedichten geschehn, da wir Deutschen uns einmal jetzt die Kunstweisen so vieler Völker und Zeitalter anzueignen suchen; hauptsächlich wird es aber doch immer ein gelehrtes Mittel bleiben, um zu dem Ziele der Uebersetzungen, wovon im Anfange dieser Vorrede gesprochen wurde, mitzuwirken. Auch wird kein Deutscher einen guten und schönen Vers dieser Art machen lernen, wenn er nicht in den poetischen Werken des Alterthums sehr bewandert und zugleich ein gründlicher und gelehrter theoretischer Kenner der deutschen Sprache und Grammatik ist, Erfordernisse, ohne welche doch sonst ein wirklicher Dichter muß bestehn können. Wenn wir nun wirklich durch dieses stellvertretende Hülfsmittel die Verskunst des Alterthums nachahmen, so müssen wir dem Prinzip, worauf es in unserer Sprache beruht, auch mit der größten Anstrengung und Aufmerksamkeit treu bleiben; sonst ist die ganze Grundlage unseres Versbaues zertrümmert. Wir dürfen also nie einer nachlässigen Aussprache des gemeinen Lebens, sondern immer nur dem Richtigsten folgen, und dieses muß sich auch der Vorleser zum Gesetze machen. Die Regeln des Accents der Bedeutung müssen im Verse noch strenger beobachtet werden als in Prosa; sonst kann ein solcher Vers gar nicht bestehn. Daß deswegen doch auf Wohlklang, Fülle des Tons, [XCIII] und andere hier mit hereinspielende Mittel volle Rücksicht genommen
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Nach diesen Grundsätzen hat Moritz in dem erwähnten Versuche u. s. w. eine logisch rhetorische Tabelle zur Vergleichung der Redetheile für die Prosodie entworfen, die in der Hauptsache immer unserer Verskunst zum Grunde liegen muß; wiewohl er dem logischen Prinzipe, ohne alle Rücksicht auf die oben erwähnten Modificationen, viel zu einseitig gefolgt ist.
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werden kann und muß, versteht sich von selbst34. Unbedeutende Sylben also müssen kurz sein, sie mögen in so großer Zahl auf einander folgen, als sie wollen, wofern sie nicht gegen einander wieder eine abgestufte, und sich so wechselseitig hebende oder niederdrückende Bedeutung hätten. Es darf also nie eine kurze Endsylbe eines Wortes gehoben werden, weil etwa eine kurze vorhergeht, sondern beide müssen gleich bleiben. Das Wort entsprudelten z. B. darf nie ein reiner Dijambus (klkl), sondern immer nur ein zweiter Päon (klkk) sein. Ich verlange daher auch, daß man nicht allein im Anfange eines Trimeters: Heiligen Betrug l k k
k l
drei, sondern auch in den Worten: Gewaltigeres Getös k l k k k k l
vier kurze Sylben hinter einander mit gleicher Kürze [XCIV] ausspreche. Solche Zusammenstellungen von Kürzen, die besonders für lyrische Gesänge gehören, können auch entstehn durch einsylbige Wörter von geringem Werthe in der Rede. Aber da diese leicht durch noch unbedeutendere Sylben gehoben werden können, so sind sie mit vollem Rechte in solchen Fällen als schwankende zu betrachten, und ich habe es daher nicht für unschicklich gehalten, in solchen und ähnlichen zweifelhaften Fällen einer Sylbe durch das darüber gesetzte Zeichen der Länge (l) oder der Kürze (k) ihren Gebrauch an dieser oder jener Stelle anzuweisen. Eben so wie bei den kurzen, muß es mit dem Nebeneinanderstellen langer Sylben sein. Die Stammsylbe eines jeden Wortes ist gegen die Ableitungssylben desselben so wichtig, daß sie durch kein Verhältniß gegen andre Wörter zur Kürze derselben hinabgezogen werden kann. Dieses gilt meines Erachtens auch für die schwächsten mehrsylbigen Redetheile, und ich würde daher z. B. die Worte: Gewalt über euch
nie so klkkl , sondern immer kllkl , ausdrücken. Hienach bestimmt sich auch der Gebrauch der zusammengesetzten Wörter, ohne welche wir auf eine sehr geringe Anzahl von Spondeen eingeschränkt wären. Alle aus zwei Substantiven, [XCV] oder aus einem Substantivum und einem Adjektivum, kurz aus zwei an Werthe sehr nahe stehenden Redetheilen zusammengesetzte Wörter müssen uns Spondeen geben, z. B. Ausbund (ll) kraftvoll (ll), und dergl. Die Wörter also, welche Moritz und andre damalige Theoretiker schwere Daktylen nannten (z. B. Weltkreises), und die Klopstock und andere auch so gebrauchten, sind für uns wahre Palimbaccheen (llk). Wenn also Moritz die Wörter Gesichtskreise und Ge_____________ 34
Wer sich von der ganzen Mannichfaltigkeit der deutschen Prosodie in allen ihren Abstufungen recht vollkommen unterrichten will, der studire die kleine Schrift von Voß: Zeitmessung der deutschen Sprache. Auf derselben beruht großentheils das hier gesagte. Man wird aber bemerken, daß dort die Theorie der deutschen Verskunst gelehrt, hier aber diese mit der griechischen verglichen wird.
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richtsdonner schwere Päone (klkk) nennt, so folgt er einer falsch verstandenen Konsequenz; uns sind sie volle Antispasten (kllk). Dasselbe gilt sogar bei sehr bedeutenden Ableitungssylben, die einen starken Einfluß auf den Grundbegriff des Wortes haben, z. B. dankbare (llk), Bosheiten (llk). Dieses ist ohne Zweifel auch der im gemeinen Leben üblichen, auf das natürliche Gefühl der Bedeutung gegründeten Aussprache viel näher; wo es aber derselben nicht ganz gleich kommt, da erinnern wir den Leser wiederum, daß er Verse liest, und wir bei ihm den guten Willen voraussetzen, sie als solche zu lesen. Nur in diesem Vertrauen war es möglich sie zu machen, und es ist allerdings leicht, wenn man will, sie durch einen zu platten Vortrag zu zerstören. Nach allem diesen muß man z. B. folgende dochmische Stelle aus dem rasenden Aias: [XCVI] O stets wacher Blick, den Bosheiten stets Zum Werkzeug bereit, o Sohn Lartios’, Schmutziger Lästerbub’ und Ausbund des Heers!
nach diesem Schema lesen: kllkl | kllkl kllkl | kllkl lkklkl | kllkl.
Nun sind aber freilich zwei solche neben einander stehende Längen in unsrer Sprache nie von ganz gleichem Werthe, sondern die eine hat den Hauptaccent, die andre nur einen Nebenaccent. Es gehört daher zur Kunst, den Vers so zu bauen, daß die Sylben, welche den Hauptaccent haben, auch immer in die Hebung des Verses kommen, z. B. in dem anapästischen Verse aus der Elektra, der aber aus lauter Spondeen besteht: Weil rastlos stets dein grollschwer Herz –
sind die Hauptaccente immer die zweiten, weil die Anapästen die Hebung hinten haben. Dagegen würden sie in den Spondeen eines Hexameters, weil dieser auf Daktylen beruht, immer die ersten sein müssen. So müssen auch die Spondeen in den Jamben eigentlich immer die Hebung hinten haben. Indessen können wir eine vollkommene Strenge hierin nicht durchsetzen, und müssen dabei auf das metrische Verständniß und die poetische Aussprache des Lesers rechnen. Besonders im Anfange eines Trimeters beleidigt ein Spondeus, welcher der ge-[XCVII]wöhnlichen Aussprache nach die Hebung vorn hat, gar nicht, z. B. Jungfraun, ein Wunder, unerwartet eurem Ohr.
Hier ist es die Pflicht des Lesers, die Sylbe fraun so zu heben, daß sie mit Jung gleich kommt. Ja diese geschleiften Spondeen, wie sie Voß sehr schicklich nennt, vermehren, schön vorgetragen, noch die Mannichfaltigkeit und Grazie des Verses, und oft haben sie sogar einen besonderen Nachdruck. So glaube ich sie z. B. im Oedipus in Kolonos Vers 342.: So hier, o Kinder, welchen dies oblág zu thun,
und im rasenden Aias V. 121. Ich wüßte keinen. Und mich faßt Wehmuth um ihn,
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wie auch an ähnlichen Stellen, nicht ohne Bedeutung für die in den Worten herrschende Stimmung angewendet zu haben. Eben dieses gilt auch für dergleichen Spondeen, wenn sie in anapästischen Versarten vorkommen. Schlimmer ist es mit kurzen Sylben, welche bei den Griechen gar oft die Hebung haben, bei uns aber sie nie haben können. Kommt z. B. bei jenen ein Daktylus in einem anapästischen Verse vor, so hat er die Hebung in den kurzen Sylben, und die lange ist in der Tiefe gegen sie. Bei uns [XCVIII] aber kann ein Daktylus die Hebung nie wo anders als in der langen Sylbe haben. Unsere kurzen Sylben können nie den Accent über eine lange bekommen, sie mögen sonst beschaffen sein, wie sie wollen. Hätten sie aber diesen Accent, so wären sie eben dadurch nicht mehr kurz, sondern lang, und der Fuß wäre kein Daktylus mehr. Hienach wäre es also ganz unmöglich, in deutschen anapästischen Versen Daktylen anzubringen. Aber in den alten Anapästen ist der Daktylus doch oft so sehr bedeutend für den Ausdruck der Stimmung. Es fragt sich also, was uns wichtiger sein muß, die vollkommene technische Richtigkeit eines doch nur unvollkommen nachgebildeten Verses, oder der wechselnde Ausdruck des Gefühls, welcher am Ende die letzte Absicht der ganzen Verskunst sein muß. Mir scheint es, das letzte müsse vorgezogen werden. Also setze ich auch Daktylen in die anapästischen Verse, nur so, wie schon oben angedeutet worden ist, daß der ganze Vers doch immer wieder auf den anapästischen Rhythmus zurückführe. Nach denselben Gründen muß man nun auch die Daktylen in den Jamben, und verschiedene aufgelöste Formen der Antispasten und Dochmien beurtheilen. Die Worte z. B. Ufergebüsch umher l k k l
k l
sind nimmermehr ein ächter Dochmius. Denn der [XCIX] Dochmius hat seine Hebungen auf den mittelsten Längen, u ê ê k l ,
oder, wenn die erste derselben aufgelöst ist, auf den Kürzen, welche daraus geworden sind: u ë k ê k l .
Unser nachgemachter kann sie aber nirgend anders als auf den Längen haben: ê k k ê k l ,
oder wenn er recht künstlich ist, und vorn eine Kürze hat, z. B. In der gewalt’gen Hand,
doch nur auf der einen ersten Länge: k k k ê k l .
Also ist er auf jeden Fall technisch unrichtig. Dennoch wollte ich lieber den lebendigeren und rascheren Ausdruck zu erreichen suchen, als mich ganz auf den regelmäßigeren Dochmius (kêêkl) einschränken. Dieses sind Beispiele einer Maxime, nach der ich in vielen solchen Fällen das richtige Maß nicht gewählt habe, um nur einen lebendigeren Rhythmus hervorzubringen.
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Was den griechischen Text betrifft, so habe ich mich veranlaßt gefunden, die brunksche Ausgabe als meine Norm anzunehmen, ohne jedoch die älteren Lesarten und die neueren kritischen Arbeiten aus den Augen zu verlieren. Die Verdienste neuerer Kritiker, besonders Herrmanns und Erfurdts,35 [C] um diesen Dichter, erkenne ich vollkommen an. Manche ihrer Meinungen sind aber immer noch zu sehr in der Untersuchung selbst begriffen, als daß ich ihnen überall hätte folgen können, und wenn ich öfters von ihnen abgewichen bin, ja ihnen wohl zu widersprechen gewagt habe, so möge man es darauf schieben, daß sie bei mir wenigstens noch nicht vollkommene Ueberzeugung bewirkt hatten. In der That ist besonders die Kritik der griechischen Metrik noch immer sehr schwankend, welches zum Theil am Mangel historischer Quellen liegt, und man kann daher nicht getadelt werden, wenn man das, was man von dem Wiederhersteller dieser ganzen Disciplin, Herrmann,36 gelernt hat, im Einzelnen, seiner eigenen Beurtheilung nach anzuwenden sucht. Möchte es mir nur so gut gelungen sein, daß dieser berühmte Mann in meiner Nachahmung im Ganzen die köstlichen Melodieen wiedererkennte, die er uns zuerst in den Werken der Alten hören gelehrt hat. Doch bedürfen die kurzen Anmerkungen, welche ich über den Text angehängt habe, kaum einer weiteren Entschuldigung. Es kann hier von gründlicher, durchgreifender, in das Feine eingehender Kritik nicht die Rede sein. Daraus würde eine neue Recension des Textes entstehn. Der Uebersetzer muß sich im Allgemeinen an schon fest stehenden oder wenigstens besprochenen Lesarten hal-[CI]ten. Die wahre Kritik ist zu wichtig und würdig, um in einem solchen Anhange Platz zu finden, und auf der andern Seite muß sie schon mehr durch Widerspruch und Untersuchung geläutert sein, um die Grundlage einer Uebersetzung abgeben zu können. Jene Anmerkungen sollen also ganz allein die Uebersetzung da, wo sie von fest gestellten oder sehr scheinbaren Lesarten abweicht, vorläufig entschuldigen. Für Leser, von welchen man eine vollständige Kenntniß der alten Geschichte und Mythologie nicht verlangen kann, sind einige erklärende Anmerkungen besonders beigefügt worden. Von den Fragmenten sind nur diejenigen übersetzt worden, welche an sich etwas Schönes und Bedeutendes ausdrücken, sie mögen nun lang oder kurz sein. Diejenigen, welche sich nur auf den verloren gegangenen Zusammenhang der Stellen, wo sie standen, beziehn, sind weggelassen worden. In einigen der übersetzten habe ich das Metrum stillschweigend verbessert. _____________ 35
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[Solger bezieht sich auf die ältere Edition von Richard François Philipp Brunck (Sophoclis quae extant omnia cum veterum Grammaticorum scholiis, 2 Bde., Straßburg 1786) sowie auf die vom Leipziger Philologen Karl Gottlob August Erfurdt begonnene und nach Erfurdts Tod (1813) von dessen Kollegen Gottfried Hermann fortgeführte Ausgabe (Sophoclis tragoediae septem ac deperditarum fragmenta, Leipzig, 7 Bde., Leipzig 1802–1825).] [Gottfried Hermanns Verdienste um die Rekonstruktion griechischer Metrik beruhen vor allem auf seinen Schriften De metris poetarum graecorum et romanorum (Leipzig 1796), Elementa doctrinae metricae (Leipzig 1816), Epitome doctrinae metricae (Leipzig 1818) und auf dem Kommentar in seiner Pindarausgabe (Carminum Pindaricorum fragmenta et Godofredi Hermanni commentatio de metris Pindari, Göttingen 1798).]
Vorrede
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Die kurze Nachricht von dem Leben des Sophokles, welche dieser Vorrede unmittelbar folgt, enthält hauptsächlich zusammengezogen das, was Lessing37 in seiner kleinen Schrift darüber gesammelt hat. Auf diese verweise ich in Ansehung der Quellen. Doch wird man finden, daß ich zuweilen von derselben abgewichen bin, oder sie vervoll-[CII]ständigt habe. Die Gründe dafür zu entwickeln, würde hier zu umständlich gewesen sein, und mit anderen Untersuchungen über diesen Gegenstand vielleicht für einen anderen Ort sich besser schicken. Glücklich würde ich mich schätzen, wenn Kenner den Geist dieses Werkes im Allgemeinen nicht der Aufmunterung unwerth fänden. Denn keinesweges traue ich mir Kenntniß oder Meisterschaft genug zu, um nicht im Einzelnen auf mancherlei Weise gefehlt zu haben. Welches denn meine Leser und Beurtheiler wohlwollend entschuldigen mögen.
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[Gottfried Ephraim Lessings Leben des Sophokles, hg. von J. J. Eschenburg, Berlin 1760.]
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834), evangelischer Theologe, Philosoph, Bildungs- und Kirchenpolitiker, hatte in Halle studiert. Während seiner Zeit als Prediger an der Berliner Charité (1796–1802) schloss er Freundschaft mit Friedrich Schlegel, auf den die Idee einer gemeinsamen Platon-Übersetzung zurückgeht. Nach Schlegels Weggang aus Berlin wurde das Vorhaben von Schleiermacher allein ausgeführt, zunächst in Stolp, wo er 1802–1804 als Hofprediger amtierte. Der erste Band erschien 1804, weitere folgten 1805, 1807, 1809 und 1828. Ab 1809 war Schleiermacher an den Reformen des preußischen Bildungswesens beteiligt. Nach Gründung der Berliner Universität übernahm er, parallel zu seiner Pfarrstelle, eine theologische Professur. Schleiermachers Vortrag Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens, gehalten im Juni 1813 in der Preußischen Akademie der Wissenschaften, wurde zuerst 1816 gedruckt und gehört zu den bedeutendsten Zeugnissen deutscher Übersetzungstheorie. Dabei verdeckt die prägnante Benennung zweier alternativer Methoden durch Schleiermacher – „Entweder der Uebersetzer läßt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen; oder er läßt den Leser möglichst in Ruhe, und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen“ – dessen eigentliche Intention. Denn letztlich lässt er nur die erste der beiden Methoden gelten: eine Übersetzung, die als sprachliche Darstellung des Verstehensaktes gedacht ist und die den zu übersetzenden Text als „fremd“ zeigt.
Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens Aus: Friedrich Daniel Schleiermacher, Akademievorträge, hg. von Martin Rössler unter Mitwirkung von Lars Emersleben (= Kritische Gesamtausgabe, 1. Abt., Schriften und Entwürfe, Bd. 11), Berlin u. a. 2002, 67–93.
Von Herrn Schleiermacher.1 Die Thatsache, daß eine Rede aus einer Sprache in die andere übertragen wird, kommt uns unter den mannigfaltigsten Gestalten überall entgegen. Wenn auf der einen Seite dadurch Menschen in Berührung kommen können, welche ursprünglich vielleicht um den Durchmesser der Erde von einander entfernt sind; wenn in eine Sprache aufgenommen werden können die Erzeugnisse einer andern, schon seit vielen Jahrhunderten erstorbenen: so dürfen wir auf der andern Seite nicht einmal über das Gebiet Einer Sprache hinausgehen, um dieselbe Erscheinung anzutreffen. Denn nicht nur daß die Mundarten verschiedener Stämme Eines Volkes und die verschiedenen Entwickelun_____________ 1
Vorgelesen den 24sten Junius 1813.
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gen derselben Sprache oder Mundart in verschiedenen Jahrhunderten schon in einem engeren Sinne verschiedene Sprachen sind, und nicht selten einer vollständigen Dolmetschung unter einander bedürfen; selbst Zeitgenossen, nicht durch die Mundart getrennte nur aus verschiedenen Volksklassen, welche durch den Umgang wenig verbunden in ihrer Bildung weit auseinander gehen, können sich öfters nur durch eine ähnliche Vermittlung verstehen. Ja sind wir nicht häufig genöthiget, uns die Rede eines Andern, der ganz unseres gleichen ist aber von anderer Sinnes- und Gemüthsart, erst zu übersetzen? wenn wir nämlich fühlen daß dieselben Worte in unserm Munde einen ganz anderen Sinn oder wenigstens hier einen stärkeren dort einen schwächeren Gehalt haben würden als in dem seinigen, und daß, wenn wir dasselbe, was er meint, ausdrücken wollten, wir nach unserer Art uns ganz anderer Wörter und Wendungen bedienen würden: so scheint, indem wir uns dies Gefühl näher bestimmen, und es uns zum Gedanken wird, daß wir übersetzen. Ja unsere eigene Reden müssen wir bisweilen nach einiger Zeit übersetzen, wenn wir sie uns recht wieder aneignen wollen. Und nicht nur dazu wird diese Fertigkeit geübt, um was eine Sprache im Gebiet der Wissenschaften und der redenden Künste hervorgebracht hat, in fremden Boden zu verpflanzen, und dadurch den Wirkungskreis dieser Erzeugnisse des Geistes zu vergrößern; [68] sondern sie wird auch geübt im Gewerbsverkehr zwischen Einzelnen verschiedener Völker, und im diplomatischen Verkehr unabhängiger Regierungen mit einander, deren jede nur in ihrer eigenen Sprache zur andern zu reden pflegt, wenn sie, ohne sich einer todten Sprache zu bedienen, streng auf Gleichheit halten wollen. Allein natürlich, nicht alles was in diesem weiten Umkreise liegt, wollen wir in unsere jetzige Betrachtung hineinziehen. Jene Nothwendigkeit auch innerhalb der eignen Sprache und Mundart zu übersetzen, mehr oder minder ein augenblickliches Bedürfniß des Gemüthes, ist eben auch in ihrer Wirkung zu sehr auf den Augenblick beschränkt, um anderer Leitung als der des Gefühls zu bedürfen; und wenn Regeln darüber sollten gegeben werden, könnten es nur jene seyn, durch deren Befolgung der Mensch sich eine rein sittliche Stimmung erhält, damit der Sinn auch für das minder verwandte geöffnet bleibe. Sondern wir nun dieses ab, und bleiben stehen zunächst bei dem Uebertragen aus einer fremden Sprache in die unsrige: so werden wir auch hier zwei verschiedene Gebiete – freilich nicht ganz bestimmt, wie dann das selten gelingt, sondern nur mit verwaschenen Grenzen, aber doch wenn man auf die Endpunkte sieht deutlich genug – unterscheiden können. Der Dolmetscher nämlich verwaltet sein Amt in dem Gebiete des Geschäftslebens, der eigentliche Uebersetzer vornämlich in dem Gebiete der Wissenschaft und Kunst. Wenn man diese Wortbestimmung willkührlich findet, da man gewöhnlich unter dem Dolmetschen mehr das mündliche, unter dem Uebersetzen das schriftliche versteht, so verzeihe man sie der Bequemlichkeit für das gegenwärtige Bedürfniß um so mehr, als doch beide Bestimmungen nicht gar weit entfernt sind. Dem Gebiete der Kunst und der Wissenschaft eignet die Schrift, durch welche allein ihre Werke beharrlich werden; und wissenschaftliche oder künstlerische Erzeugnisse von Mund zu Mund zu dolmetschen, wäre ebenso unnütz, als es unmöglich zu seyn scheint. Den Geschäften dagegen ist die Schrift nur mechanisches Mittel; das mündliche Verhandeln ist darin das ursprüngliche, und jede schriftliche Dolmetschung ist eigentlich nur als Aufzeichnung einer mündlichen anzusehen.
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Sehr nahe dem Geist und der Art nach schließen sich diesem Gebiete zwei andere an, die jedoch bei der großen Mannigfaltigkeit der dahin gehörigen Gegenstände schon einen Uebergang bilden zum Gebiet der Kunst das eine, das andere zu dem der Wissenschaft. Nämlich jede Verhandlung, bei welcher das Dolmetschen vorkommt, ist auf der einen Seite eine Thatsache, deren Hergang in zwei verschiedenen Sprachen aufgefaßt wird. Aber auch die Uebersetzung von Schriften rein erzählender oder beschreibender Art, welche also nur den schon beschriebenen Hergang einer Thatsache in eine andere Sprache überträgt, kann noch sehr viel von dem Geschäft des Dolmetschers an sich haben. Je weniger in der Urschrift der Verfasser selbst heraustrat, je mehr er lediglich als auffassendes Organ des Gegenstandes [69] handelte und der Ordnung des Raumes und der Zeit nachging; um desto mehr kommt es bei der Uebertragung auf ein bloßes Dolmetschen an. So schließt sich der Uebersetzer von Zeitungsartikeln und gewöhnlichen Reisebeschreibungen zunächst an den Dolmetscher an, und es kann lächerlich werden wenn seine Arbeit größere Ansprüche macht, und er dafür angesehen seyn will als Künstler verfahren zu haben. Je mehr hingegen des Verfassers eigenthümliche Art zu sehen und zu verbinden in der Darstellung vorgewaltet hat, je mehr er irgend einer frei gewählten oder durch den Eindruck bestimmten Ordnung gefolgt ist; desto mehr spielt schon seine Arbeit in das höhere Gebiet der Kunst hinüber, und auch der Uebersetzer muß dann schon andere Kräfte und Geschicklichkeiten zu seiner Arbeit bringen, und in einem anderen Sinne mit seinem Schriftsteller und dessen Sprache bekannt seyn als der Dolmetscher. Auf der anderen Seite ist in der Regel jede Verhandlung, bei welcher gedolmetscht wird, eine Festsetzung eines besonderen Falles nach bestimmten Rechtsverhältnissen; die Uebertragung geschieht nur für die Theilnehmer, denen diese Verhältnisse hinreichend bekannt sind, und die Ausdrücke derselben in beiden Sprachen sind entweder gesetzlich oder durch Gebrauch und gegenseitige Erklärungen bestimmt. Aber ein anderes ist es mit Verhandlungen, wiewohl sie sehr oft der Form nach jenen ganz ähnlich sind, durch welche neue Rechtsverhältnisse bestimmt werden. Je weniger diese selbst wieder als ein besonderes unter einem hinreichend bekannten allgemeinen können betrachtet werden: desto mehr wissenschaftliche Kenntniß und Umsicht erfordert schon die Abfassung, und desto mehr wissenschaftliche Sach- und Sprachkenntniß wird auch der Uebersetzer zu seinem Geschäft bedürfen. Auf dieser zwiefachen Stufenleiter also erhebt sich der Uebersetzer immer mehr über den Dolmetscher, bis zu seinem eigenthümlichsten Gebiet, nämlich jenen geistigen Erzeugnissen der Kunst und Wissenschaft, in denen das freie eigenthümliche combinatorische Vermögen des Verfassers auf der einen der Geist der Sprache mit dem in ihr niedergelegten System der Anschauungen und Abschattung der Gemüthsstimmungen auf der andern Seite alles sind, der Gegenstand auf keine Weise mehr herrscht, sondern von dem Gedanken und Gemüth beherrscht wird, ja oft erst durch die Rede geworden, und nur mit ihr zugleich da ist. Worin aber gründet sich nun dieser bedeutende Unterschied, den jeder schon auf den Grenzgegenden inne wird, der aber an den äußersten Enden am stärksten in die Augen leuchtet? Im Geschäftsleben hat man es größtentheils mit vor Augen liegenden, wenigstens mit möglichst genau bestimmten Gegenständen zu thun; alle Verhandlun-
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gen haben gewissermaßen einen arithmetischen oder geometrischen Charakter, Zahl und Maaß [70] kommen überall zu Hülfe; und selbst bei denen Begriffen, welche, nach dem Ausdruck der Alten, das Mehr und Minder in sich aufnehmen, und durch eine Stufenfolge von Wörtern bezeichnet werden, die im gemeinen Leben in unbestimmtem Gehalt auf- und abwogen, entsteht bald durch Gesetz und Gewohnheit ein fester Gebrauch der einzelnen Wörter. Wenn also der Redende nicht absichtlich um zu hintergehen versteckte Unbestimmtheiten erkünstelt, oder aus Unbedachtsamkeit fehlt: so ist er jedem der Sache und der Sprache kundigen schlechthin verständlich, und es finden für jeden Fall nur unbedeutende Verschiedenheiten statt im Gebrauch der Sprache. Eben so, welcher Ausdruck in der einen Sprache jedem in der andern entspreche, darüber kann selten ein Zweifel statt finden, der nicht unmittelbar gehoben werden könnte. Deshalb ist das Uebertragen auf diesem Gebiet fast nur ein mechanisches Geschäft, welches bei mäßiger Kenntniß beider Sprachen jeder verrichten kann, und wobei, wenn nur das offenbar falsche vermieden wird, wenig Unterschied des Besseren und Schlechteren statt findet. Bei den Erzeugnissen der Kunst und Wissenschaft aber, wenn sie aus einer Sprache in die andere verpflanzt werden sollen, kommt zweierlei in Betracht, wodurch das Verhältniß ganz geändert wird. Wenn nämlich in zwei Sprachen jedem Worte der einen ein Wort der andern genau entspräche, denselben Begriff in demselben Umfang ausdrückend; wenn ihre Beugungen dieselben Verhältnisse darstellten, und ihre Verbindungsweisen in einander aufgingen, so daß die Sprachen in der That nur für das Ohr verschieden wären: so würde dann auch auf dem Gebiete der Kunst und Wissenschaft alles Uebersetzen, sofern dadurch nur die Kenntniß des Inhalts einer Rede oder Schrift mitgetheilt werden soll, eben so rein mechanisch seyn, wie auf dem des Geschäftslebens; und man würde, mit Ausnahme der Wirkungen welche Ton und Tonfall hervorbringen, von jeder Uebersetzung sagen können, daß der ausländische Leser dadurch zu dem Verfasser und seinem Werk in dasselbe Verhältniß gesetzt werde, wie der einheimische. Nun aber verhält es sich mit allen Sprachen, die nicht so nahe verwandt sind, daß sie fast nur als verschiedene Mundarten können angesehen werden, gerade umgekehrt! und je weiter sie der Abstammung und der Zeit nach von einander entfernt sind, um desto mehr so, daß keinem einzigen Wort in einer Sprache eins in einer andern genau entspricht, keine Beugungsweise der einen genau dieselbe Mannigfaltigkeit von Verhältnißfällen zusammenfaßt, wie irgend eine in einer andern. Indem diese Irrationalität, daß ich mich so ausdrücke, durch alle Elemente zweier Sprachen hindurchgeht, muß sie freilich auch jenes Gebiet des bürgerlichen Verkehrs treffen. Allein es ist offenbar, daß sie hier weit weniger drückt, und so gut als keinen Einfluß hat. Alle Wörter, welche Gegenstände und Thätigkeiten ausdrücken, auf die es ankommen kann, sind gleichsam geaicht, und wenn ja leere übervorsichtige Spizfindigkeit sich noch gegen eine mögliche ungleiche Geltung der Worte verwahren wollte, so gleicht die Sache selbst alles unmittelbar aus. Ganz anders auf [71] jenem der Kunst und Wissenschaft zugehörigen Gebiet, und überall, wo mehr der Gedanke herrscht, der mit der Rede Eins ist, nicht die Sache als deren willkührliches vielleicht aber fest bestimmtes Zeichen das Wort nur dasteht. Denn wie unendlich schwer und verwickelt wird hier das Geschäft! welche genaue Kenntniß und welche Beherrschung beider Sprachen setzt es voraus! und wie oft, bei
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der gemeinschaftlichen Ueberzeugung, daß ein gleichgeltender Ausdruck gar nicht zu finden sey, gehen die Sachkundigsten und Sprachgelehrtesten bedeutend auseinander, wenn sie angeben wollen, welches denn nun der am nächsten kommende sey. Dies gilt eben so sehr von den lebendigen malerischen Ausdrücken dichterischer Werke, als von den abgezogensten, das innerste und allgemeinste der Dinge bezeichnenden der höchsten Wissenschaft. Das zweite aber, wodurch das eigentliche Uebersetzen ein ganz anderes Geschäft wird als das bloße Dolmetschen, ist dieses: Ueberall, wo die Rede nicht ganz durch vor Augen liegende Gegenstände oder äußere Thatsachen gebunden ist, welche sie nur aussprechen soll, wo also der Redende mehr oder minder selbstthätig denkt, also sich aussprechen will, steht der Redende in einem zwiefachen Verhältniß zur Sprache, und seine Rede wird schon nur richtig verstanden, in wiefern dieses Verhältniß richtig aufgefaßt wird. Jeder Mensch ist auf der einen Seite in der Gewalt der Sprache, die er redet; er und sein ganzes Denken ist ein Erzeugniß derselben. Er kann nichts mit völliger Bestimmtheit denken, was außerhalb der Grenzen derselben läge; die Gestalt seiner Begriffe, die Art und die Grenzen ihrer Verknüpfbarkeit ist ihm vorgezeichnet durch die Sprache, in der er geboren und erzogen ist; Verstand und Fantasie sind durch sie gebunden. Auf der andern Seite aber bildet jeder freidenkende, geistig selbstthätige Mensch auch seinerseits die Sprache. Denn wie anders als durch diese Einwirkungen wäre sie geworden und gewachsen von ihrem ersten rohen Zustande zu der vollkommneren Ausbildung in Wissenschaft und Kunst? In diesem Sinne also ist es die lebendige Kraft des Einzelnen, welche in dem bildsamen Stoff der Sprache neue Formen hervorbringt, ursprünglich nur für den augenblicklichen Zweck ein vorübergehendes Bewußtseyn mitzutheilen, von denen aber bald mehr, bald minder in der Sprache zurückbleibt, und von Andern aufgenommen weiter bildend um sich greift. Ja man kann sagen, nur in dem Maaß einer so auf die Sprache wirkt, verdient er weiter als in seinem jedesmaligen unmittelbaren Bereich vernommen zu werden. Jede Rede verhallt nothwendig bald, welche durch tausend Organe immer wieder eben so kann hervorgebracht werden; nur die kann und darf länger bleiben, welche einen neuen Moment im Leben der Sprache selbst bildet. Daher nun will jede freie und höhere Rede auf zwiefache Weise gefaßt seyn, theils aus dem Geist der Sprache, aus deren Elementen sie zusammengesetzt ist, als eine durch diesen Geist gebundene und bedingte, aus ihm in den Redenden lebendig erzeugte Darstellung; sie will auf der [72] andern Seite gefaßt seyn aus dem Gemüth des Redenden als seine That, als nur aus seinem Wesen gerade so hervorgegangen und erklärbar. Ja, jegliche Rede dieser Art ist nur verstanden im höheren Sinne des Wortes, wenn diese beiden Beziehungen derselben zusammen und in ihrem wahren Verhältniß gegen einander aufgefaßt sind, so daß man weiß, welche von beiden im Ganzen oder in einzelnen Theilen vorherrscht. Man versteht die Rede auch als Handlung des Redenden nur, wenn man zugleich fühlt, wo und wie die Gewalt der Sprache ihn ergriffen hat, wo an ihrer Leitung die Blitze der Gedanken sich hingeschlängelt haben, wo und wie in ihren Formen die umherschweifende Fantasie ist festgehalten worden. Man versteht die Rede auch als Erzeugniß der Sprache und als Aeußerung ihres Geistes nur, wenn, indem man z. B. fühlt, so konnte nur ein Hellene denken und reden, so konnte nur diese Sprache in einem menschlichen Geist wirken,
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man zugleich fühlt, so konnte nur dieser Mann hellenisch denken und reden, so konnte nur er die Sprache ergreifen und gestalten, so offenbart sich nur sein lebendiger Besitz des Sprachreichthums, nur sein reger Sinn für Maaß und Wohllaut, nur sein denkendes und bildendes Vermögen. Wenn nun das Verstehen auf diesem Gebiet selbst in der gleichen Sprache schon schwierig ist, und ein genaues und tiefes Eindringen in den Geist der Sprache und in die Eigenthümlichkeit des Schriftstellers in sich schließt: wie viel mehr nicht wird es eine hohe Kunst seyn, wenn von den Erzeugnissen einer fremden und fernen Sprache die Rede ist! Wer denn freilich diese Kunst des Verstehens sich angeeignet hat, durch die eifrigsten Bemühungen um die Sprache, und durch genaue Kenntniß von dem ganzen geschichtlichen Leben des Volks, und durch die lebendigste Vergegenwärtigung einzelner Werke und ihrer Urheber, den freilich, aber auch nur den, kann es gelüsten von den Meisterwerken der Kunst und Wissenschaft das gleiche Verständniß auch seinen Volks- und Zeitgenossen zu eröffnen. Aber die Bedenklichkeiten müssen sich häufen, wenn er sich die Aufgabe näher rückt, wenn er seine Zwecke genauer bestimmen will und seine Mittel überschlägt. Soll er sich vorsetzen, zwei Menschen, die so ganz von einander getrennt sind wie sein der Sprache des Schriftstellers unkundiger Sprachgenosse und der Schriftsteller selbst, diese in ein so unmittelbares Verhältniß zu bringen, wie das eines Schriftstellers und seines ursprünglichen Lesers ist? Oder wenn er auch seinen Lesern nur dasselbe Verständniß eröffnen will und denselben Genuß, dessen er sich erfreut, dem nämlich die Spuren der Mühe aufgedrückt sind und das Gefühl des Fremden beigemischt bleibt: wie kann er dieses schon, geschweige denn jenes, erreichen mit seinen Mitteln? Wenn seine Leser verstehen sollen, so müssen sie den Geist der Sprache auffassen, die dem Schriftsteller einheimisch war, sie müssen dessen eigenthümliche [73] Denkweise und Sinnesart anschauen können; und um dies beides zu bewirken, kann er ihnen nichts darbieten als ihre eigene Sprache, die mit jener nirgends recht übereinstimmt, und als sich selbst, wie er seinen Schriftsteller bald mehr, bald minder hell erkannt hat, und bald mehr, bald minder ihn bewundert und billigt. Erscheint nicht das Uebersetzen, so betrachtet, als ein thörichtes Unternehmen? Daher hat man in der Verzweiflung dieses Ziel zu erreichen, oder, wenn man lieber will, ehe man dazu kommen konnte, sich dasselbe deutlich zu denken, nicht für den eigentlichen Kunst- und Sprachsinn, sondern für das geistige Bedürfniß auf der einen, für die geistige Kunst auf der andern Seite, zwei andere Arten erfunden, Bekanntschaft mit den Werken fremder Sprachen zu stiften, wobei man von jenen Schwierigkeiten einige gewaltsam hinwegräumt, andere klüglich umgeht, aber die hier aufgestellte Idee der Uebersetzung gänzlich aufgiebt; dies sind die Paraphrase und die Nachbildung. Die Paraphrase will die Irrationalität der Sprachen bezwingen, aber nur auf mechanische Weise. Sie meint, finde ich auch nicht ein Wort in meiner Sprache, welches jenem in der Ursprache entspricht, so will ich doch dessen Werth durch Hinzufügung beschränkender und erweiternder Bestimmungen möglichst zu erreichen suchen. So arbeitet sie sich zwischen lästigem zu viel und quälendem zu wenig schwerfällig durch eine Anhäufung loser Einzelheiten hindurch. Sie kann auf diese Weise den Inhalt vielleicht mit einer beschränkten Genauigkeit wiedergeben, aber auf den Eindruck leistet sie gänzlich Verzicht; denn die lebendige Rede ist unwiederbringlich getödtet, indem Jeder fühlt, daß sie so nicht könne ursprünglich aus
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dem Gemüth eines Menschen gekommen seyn. Der Paraphrast verfährt mit den Elementen beider Sprachen, als ob sie mathematische Zeichen wären, die sich durch Vermehrung und Verminderung auf gleichen Werth zurückführen ließen, und weder der verwandelten Sprache noch der Ursprache Geist kann in diesem Verfahren erscheinen. Wenn noch außerdem die Paraphrase psychologisch die Spuren der Verbindung der Gedanken, wo sie undeutlich sind und sich verlieren wollen, durch Zwischensätze, welche sie als Merkpfähle einschlägt, zu bezeichnen sucht: so strebt sie zugleich bei schwierigen Compositionen die Stelle eines Commentars zu vertreten, und will noch weniger auf den Begriff der Uebersetzung zurückgeführt seyn. Die Nachbildung dagegen beugt sich unter der Irrationalität der Sprachen; sie gesteht, man könne von einem Kunstwerk der Rede kein Abbild in einer andern Sprache hervorbringen, das in seinen einzelnen Theilen den einzelnen Theilen des Urbildes genau entspräche, sondern es bleibe bei der Verschiedenheit der Sprachen, mit welcher so viele andere Verschiedenheiten wesentlich zusammenhängen, nichts anders übrig, als ein Nachbild auszuarbeiten, ein Ganzes, aus merklich von den Theilen des Urbildes verschiedenen Theilen zusammengesetzt, welches dennoch in seiner Wirkung jenem Ganzen so nahe komme, als die Verschiedenheit des Materials nur immer gestatte. Ein solches Nachbild ist [74] nun nicht mehr jenes Werk selbst, es soll darin auch keineswegs der Geist der Ursprache dargestellt werden und wirksam seyn, vielmehr wird eben dem fremdartigen, was dieser hervorgebracht hat, manches andere untergelegt; sondern es soll nur ein Werk dieser Art, mit Berücksichtigung der Verschiedenheit der Sprache, der Sitten, der Bildungsweise, für seine Leser soviel möglich dasselbe seyn, was das Urbild seinen ursprünglichen Lesern leistete; indem die Einerleiheit des Eindrucks gerettet werden soll, giebt man die Identität des Werkes auf. Der Nachbildner will also die Beiden, den Schriftsteller und den Leser des Nachbildes, gar nicht zusammenbringen, weil er kein unmittelbares Verhältniß unter ihnen möglich hält, sondern er will nur dem letzten einen ähnlichen Eindruck machen, wie des Urbildes Sprach- und Zeitgenossen von diesem empfingen. Die Paraphrase wird mehr angewendet auf dem Gebiet der Wissenschaften, die Nachbildung mehr auf dem der schönen Kunst; und wie jedermann gesteht daß ein Kunstwerk durch Paraphrasiren seinen Ton, seinen Glanz, seinen ganzen Kunstgehalt verliert, so hat wohl noch niemand die Thorheit unternommen, von einem wissenschaftlichen Meisterwerk eine den Inhalt frei behandelnde Nachbildung geben zu wollen. Beide Verfahrungsarten aber können demjenigen nicht genügen, welcher, von dem Werth eines fremden Meisterwerkes durchdrungen, den Wirkungskreis desselben über seine Sprachgenossen verbreiten will, und welchem der strengere Begriff der Uebersetzung vorschwebt. Beide können daher auch wegen ihrer Abweichung von diesem Begriff hier nicht näher beurtheilt werden; nur als Grenzzeichen für das Gebiet, mit welchem wir es eigentlich zu thun haben, stehen sie hier. Aber nun der eigentliche Uebersetzer, der diese beiden ganz getrennten Personen, seinen Schriftsteller und seinen Leser, wirklich einander zuführen, und dem letzten, ohne ihn jedoch aus dem Kreise seiner Muttersprache heraus zu nöthigen, zu einem möglichst richtigen und vollständigen Verständniß und Genuß des ersten verhelfen will, was für Wege kann er hiezu einschlagen? Meines Erachtens giebt es deren nur zwei. Entweder der Uebersetzer läßt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt
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den Leser ihm entgegen; oder er läßt den Leser möglichst in Ruhe, und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen. Beide sind so gänzlich von einander verschieden, daß durchaus einer von beiden so streng als möglich muß verfolgt werden, aus jeder Vermischung aber ein höchst unzuverlässiges Resultat nothwendig hervorgeht, und zu besorgen ist, daß Schriftsteller und Leser sich gänzlich verfehlen. Der Unterschied zwischen beiden Methoden, und daß dieses ihr Verhältnis gegen einander sey, muß unmittelbar einleuchten. Im ersten Falle nämlich ist der Uebersetzer bemüht, durch seine Arbeit dem Leser das Verstehen der Ursprache, das ihm fehlt, zu ersetzen. Das nämliche Bild, den nämlichen Eindruck, welchen er selbst durch die Kenntniß der Ursprache von dem Werke, wie es ist, gewonnen, sucht er den Lesern [75] mitzutheilen, und sie also an seine ihnen eigentlich fremde Stelle hinzubewegen. Wenn aber die Uebersetzung ihren römischen Autor zum Beispiel reden lassen will, wie er als Deutscher zu Deutschen würde geredet und geschrieben haben: so bewegt sie den Autor nicht etwa nur eben so bis an die Stelle des Uebersetzers, denn auch dem redet er nicht deutsch, sondern römisch, vielmehr rückt sie ihn unmittelbar in die Welt der deutschen Leser hinein, und verwandelt ihn in ihres gleichen; und dieses eben ist der andere Fall. Die erste Uebersetzung wird vollkommen seyn in ihrer Art, wenn man sagen kann, hätte der Autor eben so gut deutsch gelernt, wie der Uebersetzer römisch, so würde er sein ursprünglich römisch abgefaßtes Werk nicht anders übersetzt haben, als der Uebersetzer wirklich gethan. Die andere aber, indem sie den Verfasser nicht zeigt, wie er selbst würde übersetzt, sondern wie er ursprünglich als Deutscher deutsch würde geschrieben haben, hat wohl schwerlich einen andern Maaßstab der Vollendung, als wenn man versichern könnte, wenn die deutschen Leser insgesammt sich in Kenner und Zeitgenossen des Verfassers verwandeln ließen, so würde ihnen das Werk selbst ganz dasselbe geworden seyn, was ihnen jetzt, da der Verfasser sich in einen Deutschen verwandelt hat, die Uebersetzung ist. Diese Methode haben offenbar alle diejenigen im Auge, welche sich der Formel bedienen, man solle einen Autor so übersetzen, wie er selbst würde deutsch geschrieben haben. Aus dieser Gegeneinanderstellung erhellt wohl unmittelbar, wie verschieden das Verfahren im Einzelnen überall seyn muß, und wie, wenn man in derselben Arbeit mit den Methoden wechseln wollte, alles unverständlich und ungedeihlich gerathen würde. Allein ich möchte auch weiter behaupten, daß es außer diesen beiden Methoden keine dritte geben könne, der ein bestimmtes Ziel vorschwebe. Es sind nämlich nicht mehr Verfahrungsarten möglich. Die beiden getrennten Partheien müssen entweder an einem mittleren Punkt zusammentreffen, und das wird immer der des Uebersetzers seyn, oder die eine muß sich ganz zur andern verfügen, und hiervon fällt nur die eine Art in das Gebiet der Uebersetzung, die andere würde eintreten, wenn in unserm Fall die deutschen Leser sich ganz der römischen Sprache, oder vielmehr diese sich ihrer ganz und bis zur Umwandlung bemächtigte. Was man also sonst noch sagt von Uebersetzungen nach dem Buchstaben und nach dem Sinn, von treuen und freien, und was für Ausdrücke sich außerdem mögen geltend gemacht haben, wenn auch dies verschiedene Methoden seyn sollen, müssen sie sich auf jene beiden zurückführen lassen; sollen aber Fehler und Tugenden dadurch bezeichnet werden, so wird das treue und das sinnige, oder das zu buchstäbliche und zu freie der einen Methode ein anderes seyn als das der andern. Meine Absicht ist daher,
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mit Beiseitsetzung aller einzelnen über die-[76]sen Gegenstand unter den Kunstverständigen schon verhandelten Fragen, nur die allgemeinsten Züge jener beiden Methoden zu betrachten, um die Einsicht vorzubereiten, worin die eigenthümlichen Vorzüge und Schwierigkeiten einer jeden bestehen, von welcher Seite daher jede am meisten den Zweck des Uebersetzens erreicht, und welches die Grenzen der Anwendbarkeit einer jeden sind. Von einer solchen allgemeinen Uebersicht aus bliebe dann zweierlei zu thun, wozu diese Abhandlung nur die Einleitung ist. Man könnte für jede der beiden Methoden, mit Bezugnahme auf die verschiedenen Gattungen der Rede, eine Anweisung entwerfen, und man könnte die ausgezeichnetsten Versuche, welche nach beiden Ansichten gemacht worden sind, vergleichen, beurtheilen, und dadurch die Sache noch mehr erläutern. Beides muß ich Anderen oder wenigstens einer anderen Gelegenheit überlassen. Diejenige Methode, welche danach strebt, dem Leser durch die Uebersetzung den Eindruck zu geben, den er als Deutscher aus der Lesung des Werkes in der Ursprache empfangen würde, muß freilich erst bestimmen, was für ein Verstehen der Ursprache sie gleichsam nachahmen will. Denn es giebt eines, welches sie nicht nachahmen darf, und eines welches sie nicht nachahmen kann. Jenes ist ein schülerhaftes Verstehen, das sich noch mühsam und fast ekelhaft durch das einzelne hindurchstümpert, und deshalb noch nirgend zu einem klaren Ueberschauen des Ganzen, zu einem lebendigen Festhalten des Zusammenhanges gedeiht. So lange der gebildete Theil eines Volkes im Ganzen noch keine Erfahrung hat von einem innigeren Eindringen in fremde Sprachen: so mögen auch diejenigen, die weiter gekommen sind, durch ihren guten Genius bewahrt bleiben, nicht Uebersetzungen dieser Art zu unternehmen. Denn wollten sie ihr eigenes Verstehen zum Maaßstab nehmen, so würden sie selbst wenig verstanden werden und wenig ausrichten; sollte aber ihre Uebersetzung das gewöhnliche Verstehen darstellen, so könnte das holperige Werk nicht zeitig genug von der Bühne heruntergepocht werden. In einem solchen Zeitraume mögen also erst freie Nachbildungen die Lust am Fremden wecken und schärfen, und Paraphrasen ein allgemeineres Verstehen vorbereiten, um so künftigen Uebersetzungen Bahn zu machen2. Ein anderes _____________ 2
Dies war im Ganzen noch der Zustand der Deutschen in jener Zeit, von welcher Goethe (A. m. Leben III. S. 111.) redend meint, prosaische Uebersetzungen auch von Dichterwerken, und solche werden immer mehr oder weniger Paraphrasen seyn müssen, seyen förderlicher für die Jugendbildung, und in so fern kann ich ihm völlig beistimmen; denn in solcher Zeit kann von fremder Dichtkunst nur die Erfindung verständlich gemacht werden, für ihren metrischen und musikalischen Werth aber kann es noch kein Anerkenntniß geben. Das aber kann ich nicht glauben, daß auch jetzt der Vossische Homer und der Schlegelsche Shakespeare nur sollten zur Unterhaltung der Gelehrten unter sich dienen; und eben so wenig, daß auch jetzt noch eine prosaische Uebersetzung des Homer zu wahrer Geschmacksund Kunstbildung sollte förderlich seyn können; sondern für die Kinder eine Bearbeitung wie die Beckersche, und für die Erwachsenen jung und alt eine metrische Uebersetzung, wie wir sie freilich vielleicht noch nicht besitzen; zwischen diese beiden wüßte ich jetzt nichts förderliches mehr zu setzen. [Die Passage im 1814 erschienenen 3. Teil von Dichtung und Wahrheit, auf die Schleiermachers für die Druckfassung eingefügte Fußnote sich bezieht, lautet: „Wir Deutsche hatten den Vorteil, daß mehrere bedeutende Werke fremder Nationen auf eine leichte und heitere Weise zuerst herübergebracht wurden. Shakespeare prosaisch übersetzt, erst durch Wieland, dann durch Eschenburg, konnte
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Verstehen aber giebt [77] es, welches kein Uebersetzer nachzubilden vermag. Denken wir uns nämlich solche wunderbare Männer, wie sie die Natur bisweilen hervorzubringen pflegt, gleichsam um zu zeigen daß sie auch die Schranken der Volksthümlichkeit in einzelnen Fällen vernichten kann, Männer die solche eigenthümliche Verwandtschaft fühlen zu einem fremden Daseyn, daß sie sich in eine fremde Sprache und deren Erzeugnisse ganz hinein leben und denken, und indem sie sich ganz mit einer ausländischen Welt beschäftigen, sich die heimische Welt und heimische Sprache ganz fremd werden lassen; oder auch solche Männer, die gleichsam das Vermögen der Sprache in seinem ganzen Umfang darzustellen bestimmt sind, und denen alle Sprachen, die sie irgend erreichen können, völlig gleich gelten, und sie wie angegossen kleiden: diese stehen auf einem Punkt, wo der Werth des Uebersetzens Null wird; denn da bei ihrem Auffassen fremder Werke auch nicht der mindeste Einfluß der Muttersprache mehr statt findet, und sie sich ihres Verstehens auf keine Weise in der Muttersprache, sondern ganz heimisch in der Ursprache selbst unmittelbar bewußt werden, auch gar keine Incommensurabilität fühlen zwischen ihrem Denken und der Sprache, worin sie lesen: so kann auch keine Uebersetzung ihr Verstehen erreichen oder [78] darstellen. Und wie es hieße Wasser ins Meer gießen oder gar in den Wein, wenn man für sie übersetzen wollte: so pflegen auch sie von ihrer Höhe herab nicht mit Unrecht gar mitleidig zu lächeln über die Versuche, die auf diesem Gebiet gemacht werden. Denn freilich, wenn das Publikum, für welches übersetzt wird, ihnen gleich wäre, so bedürfte es dieser Mühe nicht. Das Uebersetzen bezieht sich also auf einen Zustand, der zwischen diesen beiden mitten inne liegt, und der Uebersetzer muß also sich zum Ziel stecken, seinem Leser ein solches Bild und einen solchen Genuß zu verschaffen, wie das Lesen des Werkes in der Ursprache dem so gebildeten Manne gewährt, den wir im besseren Sinne des Worts den Liebhaber und Kenner zu nennen pflegen, dem die fremde Sprache geläufig ist, aber doch immer fremde bleibt, der nicht mehr wie die Schüler sich erst das einzelne wieder in der Muttersprache denken muß, ehe er das Ganze fassen kann, der aber doch auch da, wo er am ungestörtesten sich der Schönheiten eines Werkes erfreut, sich immer der Verschiedenheit der Sprache von seiner Muttersprache bewußt bleibt. Allerdings bleibt uns der Wirkungskreis und die Bestimmung dieser Art zu übersetzen auch nach der Feststellung dieser Punkte noch schwankend genug. Nur das sehen wir, daß, wie die Neigung zum Uebersetzen erst entstehen _____________ als eine allgemein verständliche und jedem Leser gemäße Lektüre sich schnell verbreiten, und große Wirkung hervorbringen. Ich ehre den Rhythmus wie den Reim, wodurch Poesie erst zur Poesie wird, aber das eigentlich tief und gründlich Wirksame, das wahrhaft Ausbildende und Fördernde ist dasjenige, was vom Dichter übrig bleibt, wenn er in Prose übersetzt wird. Dann bleibt der reine vollkommene Gehalt, den uns ein blendendes Äußere oft, wenn er fehlt, vorzuspiegeln weiß, und, wenn er gegenwärtig ist, verdeckt. Ich halte daher zum Anfang jugendlicher Bildung prosaische Übersetzungen für vorteilhafter als die poetischen; denn es läßt sich bemerken, daß Knaben, denen ja doch alles zum Scherze dienen muß, sich am Schall der Worte, am Fall der Silben ergetzen, und durch eine Art von parodistischem Mutwillen den tiefen Gehalt des edelsten Werks zerstören.“ Goethe, Werke (Hamburger Ausgabe, dtv), Bd. 9, München 1988, 493. – Shakespeare’s dramatische Werke. Übersetzt von August Wilhelm Schlegel waren 1797–1810 in 9 Bänden erschienen. Karl Friedrich Beckers Erzählungen aus der alten Welt für die Jugend (Teil 1: Ulysses von Ithaka, Teil 2: Achill, Teil 3: Kleinere Griechische Erzählungen) war 1802 in Halle erschienen.]
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kann, wenn eine gewisse Fähigheit zum Verkehr mit fremden Sprachen unter dem gebildeten Volkstheile verbreitet ist: so auch die Kunst erst wachsen und das Ziel immer höher gesteckt werden wird, je mehr Liebhaberei und Kennerschaft fremder Geisteswerke unter denen im Volke sich verbreitet und erhöht, welche ihr Ohr geübt und gebildet haben, ohne doch Sprachkunde zu ihrem eigentlichen Geschäft zu machen. Aber das können wir uns zugleich nicht verhehlen, daß, je empfänglichere Leser da sind für solche Uebersetzungen, um desto höher auch die Schwierigkeiten des Unternehmens sich thürmen, zumal wenn man auf die eigenthümlichsten Erzeugnisse der Kunst und Wissenschaft eines Volkes sieht, welche doch die wichtigsten Gegenstände für den Uebersetzer sind. Nemlich, wie die Sprache ein geschichtliches Ding ist, so giebt es auch keinen rechten Sinn für sie, ohne Sinn für ihre Geschichte. Sprachen werden nicht erfunden, und auch alles rein willkührliche Arbeiten an ihnen und in ihnen ist Thorheit; aber sie werden allmählig entdeckt, und Wissenschaft und Kunst sind die Kräfte, durch welche diese Entdeckung gefördert und vollendet wird. Jeder ausgezeichnete Geist, in welchem sich unter einer von beiden Formen ein Theil von den Anschauungen des Volks eigenthümlich gestaltet, arbeitet und wirkt hiezu in der Sprache, und seine Werke müssen also auch einen Theil ihrer Geschichte enthalten. Dieses verursacht dem Uebersetzer wissenschaftlicher Werke große, ja oft unüberwindliche Schwierigkeiten; denn wer, mit hinreichenden Kenntnissen ausgerüstet, ein ausgezeichnetes Werk dieser Art in der Ursprache liest, dem wird der Einfluß desselben auf die Sprache nicht leicht entgehen. Er merkt, welche Wörter welche Verbindungen ihm dort noch in dem ersten Glanz der Neuheit er-[79]scheinen; er sieht, wie sie durch das besondere Bedürfniß dieses Geistes und durch seine bezeichnende Kraft sich in die Sprache einschleichen, und diese Bemerkung bestimmt sehr wesentlich den Eindruck, den er empfängt. Es liegt also in der Aufgabe der Uebersetzung, eben dieses auch auf ihren Leser fortzupflanzen; sonst geht ihm ein oft sehr bedeutender Theil dessen, was ihm zugedacht ist, verloren. Aber wie ist dieses zu erreichen? Schon im Einzelnen, wie oft wird einem neuen Worte der Urschrift gerade ein altes und verbrauchtes in unserer Sprache am besten entsprechen, so daß der Uebersetzer, wenn er auch da das Sprachbildende des Werks zeigen wollte, einen fremden Inhalt an die Stelle setzen, und also in das Gebiet der Nachbildung ausweichen müßte! wie oft, wenn er auch neues durch neues wiedergeben kann, wird doch das der Zusammensetzung und Abstammung nach ähnlichste Wort nicht den Sinn am treusten wiedergeben, und er also doch andere Anklänge aufregen müssen, wenn er den unmittelbaren Zusammenhang nicht verletzen will! Er wird sich damit trösten müssen, daß er an andern Stellen, wo der Verfasser alte und bekannte Wörter gebraucht hat, das versäumte nachholen kann, und also im Ganzen doch erreicht, was er nicht in jedem einzelnen Falle zu erreichen vermag. Sieht man aber auf die Wortbildung eines Meisters in ihrem ganzen Zusammenhang, auf seinen Gebrauch verwandter Wörter und Wortstämme in ganzen Massen sich auf einander beziehender Schriften: wie will der Uebersetzer sich hier glücklich durchfinden, da das System der Begriffe und ihrer Zeichen in seiner Sprache ein ganz anderes ist, als in der Ursprache, und die Wortstämme, anstatt sich gleichlaufend zu decken, vielmehr einander in den wunderlichsten Richtungen durchschneiden. Unmöglich kann daher der Sprachgebrauch des Uebersetzers überall
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eben so zusammenhangen, wie der seines Schriftstellers. Hier also wird er zufrieden seyn müssen, im Einzelnen zu erreichen, was er im Ganzen nicht erreichen kann. Er wird sich bei seinen Lesern bedingen, daß sie nicht eben so streng wie die ursprünglichen bei einer Schrift an die andern denken, sondern jede mehr für sich betrachten, ja daß sie ihn noch loben sollen, wenn er innerhalb einzelner Schriften, ja oft auch nur einzelner Theile derselben, eine solche Gleichförmigkeit in Absicht der wichtigeren Gegenstände zu erhalten weiß, daß nicht Ein Wort eine Menge ganz verschiedener Stellvertreter bekommt, oder in der Uebersetzung eine bunte Verschiedenheit herrscht, wo in der Ursprache eine feste Verwandtschaft des Ausdrucks durchgeht. Diese Schwierigkeiten zeigen sich am meisten auf dem Gebiet der Wissenschaft; andere giebt es, und nicht geringere, auf dem Gebiet der Poesie und auch der kunstreicheren Prosa, für welche ebenfalls das musikalische Element der Sprache, das sich in Rhythmus und Tonwechsel offenbart, eine ausgezeichnete und höhere Bedeutung [80] hat. Jeder fühlt es, daß der feinste Geist, der höchste Zauber der Kunst in ihren vollendetsten Erzeugnissen verloren geht, wenn dieses unbeachtet bleibt oder zerstört wird. Was also dem sinnigen Leser der Urschrift in dieser Hinsicht auffällt als eigenthümlich als absichtlich als wirksam auf Ton und Stimmung des Gemüthes, als entscheidend für die mimische oder musikalische Begleitung der Rede, das soll auch unser Uebersetzer mit übertragen. Aber wie oft, ja es ist schon fast ein Wunder, wenn man nicht sagen muß immer, werden nicht die rhythmische und melodische Treue und die dialektische und grammatische in unversöhnlichem Streit gegen einander liegen! Wie schwer, daß nicht im Hin- und Herschwanken welches hier welches dort solle aufgeopfert werden, oft gerade das unrechte herauskomme! Wie schwer selbst daß der Uebersetzer unparteyisch, was er jedem hier hat entziehen müssen, ihm, wo die Gelegenheit es mit sich bringt, auch wirklich ersetze, und nicht, wenn gleich unwissentlich, in eine beharrliche Einseitigkeit gerathe, weil seine Neigung dem einen Kunstelement vor dem andern gewidmet ist! Denn liebt er in den Kunstwerken mehr den ethischen Stoff und seine Behandlung: so wird er minder merken, wo er dem metrischen und musikalischen der Form unrecht gethan, und sich, statt auf Ersatz zu denken, mit einer immer mehr ins leichte und gleichsam paraphrastische hineinspielenden Uebertragung derselben begnügen. Trifft es sich aber, daß der Uebersetzer ein Musiker ist oder Metriker, so wird er das logische Element hintansetzen, um sich nur des musikalischen ganz zu bemächtigen; und indem er sich in dieser Einseitigkeit immer tiefer verstrickt, wird er je länger je unerfreulicher arbeiten, und wenn man seine Uebertragung im Großen mit der Urschrift vergleicht, wird man finden, daß er, ohne es zu bemerken, jener schülerhaften Dürftigkeit immer näher kommt, der über dem Einzelnen das Ganze verloren geht; denn wenn der materiellen Aehnlichkeit des Tons und des Rhythmus zu Liebe, was in der einen Sprache leicht ist und natürlich wiedergegeben wird, durch schwere und anstößige Ausdrücke in der andern: so muß im Ganzen ein völlig verschiedener Eindruck entstehen. Noch andere Schwierigkeiten zeigen sich, wenn der Uebersetzer auf sein Verhältniß zu der Sprache sieht, in der er schreibt, und auf das Verhältniß seiner Uebersetzung zu seinen anderen Werken. Wenn wir jene wunderbaren Meister ausnehmen, denen mehrere Sprachen gleich sind, oder gar Eine erlernte über die Muttersprache
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hinaus natürlich, für welche, wie gesagt, durchaus nicht übersetzt werden kann; alle andere Menschen, wie geläufig sie eine Fremde Sprache auch lesen, behalten doch immer dabei das Gefühl des fremden. Wie soll nun der Uebersetzer es machen, um eben dieses Gefühl, daß sie ausländisches vor sich haben, auch auf seine Leser fortzupflanzen, denen er die Uebersetzung in ihrer Muttersprache vorlegt? Man wird freilich sagen, das Wort dieses Räthsels sey längst gefunden, und es sey bei uns häufig vielleicht mehr als zu gut gelöset worden; [81] denn je genauer sich die Uebersetzung an die Wendungen der Urschrift anschließe, um desto fremder werde sie schon den Leser gemahnen. Freilich wohl, und es ist leicht genug über dieses Verfahren im Allgemeinen zu lächeln. Allein wenn man sich diese Freude nicht zu wohlfeil machen will, wenn man nicht das meisterhafteste mit dem schülerhaftesten und schlechtesten in einem Bade ausschütten will: so muß man zugeben, ein unerlaßliches Erforderniß dieser Methode des Uebersetzens ist eine Haltung der Sprache, die nicht nur nicht alltäglich ist, sondern die auch ahnden läßt, daß sie nicht ganz frei gewachsen, vielmehr zu einer fremden Aehnlichkeit hinübergebogen sey; und man muß gestehen, dieses mit Kunst und Maaß zu thun, ohne eigenen Nachtheil und ohne Nachtheil der Sprache, dies ist vielleicht die größte Schwierigkeit, die unser Uebersetzer zu überwinden hat. Das Unternehmen erscheint als der wunderbarste Stand der Erniedrigung, in den sich ein nicht schlechter Schriftsteller versetzen kann. Wer möchte nicht seine Muttersprache überall in der volksgemäßesten Schönheit auftreten lassen, deren jede Gattung nur fähig ist? Wer möchte nicht lieber Kinder erzeugen, die das väterliche Geschlecht rein darstellen, als Blendlinge? Wer wird sich gern auflegen, in minder leichten und anmuthigen Bewegungen sich zu zeigen, als er wohl könnte, und bisweilen wenigstens schroff und steif zu erscheinen, um dem Leser so anstößig zu werden als nöthig ist, damit er das Bewußtseyn der Sache nicht verliere? Wer wird sich gern gefallen lassen, daß er für unbeholfen gehalten werde, indem er sich befleißiget, der fremden Sprache so nahe zu bleiben, als die eigene es nur erlaubt, und daß man ihn, wie Eltern, die ihre Kinder den Kunstspringern übergeben, tadelt, daß er seine Muttersprache, anstatt sie in ihrer heimischen Turnkunst gewandt zu üben, an ausländische und unnatürliche Verrenkungen gewöhne! Wer mag endlich gern gerade von den größten Kennern und Meistern am mitleidigsten belächelt werden, daß sie sein mühsames und voreiliges Deutsch nicht verstehen würden, wenn sie nicht ihr hellenisches und römisches dazu nähmen! Dies sind die Entsagungen, die jener Uebersetzer nothwendig übernehmen muß, dies die Gefahren, denen er sich aussetzt, wenn er in dem Bestreben den Ton der Sprache fremd zu halten nicht die feinste Linie beobachtet, und denen er auch so auf keinen Fall ganz entgeht, weil jeder sich diese Linie etwas anders zieht. Denkt er nun noch an den unvermeidlichen Einfluß der Gewöhnung: so kann ihm bange werden, daß auch in seine freien und ursprünglichen Erzeugnisse vom Uebersetzen her manches minder gehörige und rauhe sich einschlei-[82]che, und ihm der zarte Sinn für das heimische Wohlbefinden der Sprache sich etwas abstumpfe. Und denkt er gar an das große Heer der Nachahmer, und an die in dem schriftstellerischen Publikum herrschende Trägheit und Mittelmäßigkeit: so muß er sich erschrecken, wieviel lockeres gesetzwidriges Wesen, wieviel wahre Unbeholfenheit und Härte, wieviel Sprachverderben aller Art er vielleicht mit zu verantworten bekommt; denn fast nur die besten
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und die schlechtesten werden nicht streben, einen falschen Vortheil aus seinen Bemühungen zu ziehen. Diese Klagen, daß ein solches Uebersetzen nothwendig der Reinheit der Sprache und ihrer ruhigen Fortentwickelung von innen heraus nachtheilig werden müsse, sind häufig gehört worden. Wollen wir sie nun auch vor der Hand bei Seite stellen mit der Vertröstung, daß wohl auch Vortheile werden diesen Nachtheilen gegenüberstehen, und daß, wie alles Gute mit Üblem versetzt sey, die Weisheit eben darin bestehe, indem man von dem ersten so viel als möglich erlangt, von dem andern so wenig als möglich mitzunehmen: soviel geht aus dieser schwierigen Aufgabe, daß man in der Muttersprache das fremde darstellen solle, auf jeden Fall hervor. Zuerst, daß diese Methode des Uebersetzens nicht in allen Sprachen gleich gut gedeihen kann, sondern nur in solchen, die nicht in zu engen Banden eines klassischen Ausdrucks gefangen liegen, außerhalb dessen alles verwerflich ist. Solche gebundene Sprachen mögen die Erweiterung ihres Gebietes dadurch suchen, daß sie sich sprechen machen von Ausländern, die mehr als ihre Muttersprache bedürfen, hiezu werden sie sich wohl vorzüglich eignen; sie mögen sich fremde Werke aneignen durch Nachbildungen oder vielleicht durch Uebersetzungen der andern Art: diese Art aber müssen sie den freieren Sprachen überlassen, in denen Abweichungen und Neuerungen mehr geduldet werden, und so daß aus ihrer Anhäufung unter gewissen Umständen ein bestimmter Charakter entstehen kann. Ferner folgt deutlich genug, daß diese Art zu übersetzen gar keinen Werth hat, wenn sie in einer Sprache nur einzeln und zufällig betrieben wird. Denn der Zweck ist ja offenbar damit nicht erreicht, daß ein überhaupt fremder Geist den Leser anweht; sondern wenn er eine Ahndung bekommen soll, sey es auch nur eine entfernte, von der Ursprache und von dem, was das Werk dieser verdankt, und ihm so einigermaßen ersetzt werden soll, daß er sie nicht versteht: so muß er nicht nur die ganz unbestimmte Empfindung bekommen, daß, was er liest, nicht ganz einheimisch klingt; sondern es muß ihm nach etwas bestimmtem anderm klingen; das aber ist nur möglich, wenn er Vergleichungen in Masse anstellen kann. Hat er einiges gelesen, wovon er weiß, daß es aus andern neuen und anderes aus alten Sprachen übersetzt ist, und es ist in diesem Sinn übersetzt: so wird sich ihm wohl ein Gehör anbilden, um das Alte und Neuere zu unterscheiden. Aber weit mehr schon muß er gelesen haben, wenn er hellenischen von römischem Ursprung, oder italiänischen von spanischem unterscheiden soll. Und doch ist auch dieses noch kaum der höchste Zweck; sondern der Leser [83] der Uebersetzung wird dem besseren Leser des Werks in der Ursprache erst dann gleich kommen, wann er neben dem Geist der Sprache auch den eigenthümlichen Geist des Verfassers in dem Werk zu ahnden und allmählig bestimmt aufzufassen vermag, wozu freilich das Talent der individuellen Anschauung das einzige Organ, aber eben für dieses eine noch weit größere Masse von Vergleichungen unentbehrlich ist. Diese sind nicht vorhanden, wenn in einer Sprache nur hie und da einzelne Werke der Meister in einzelnen Gattungen übertragen werden. Auf diesem Wege können auch die gebildetsten Leser nur eine höchst unvollkommene Kenntniß des Fremden durch Uebersetzung erlangen; und daß sie sich zu einem eigentlichen Urtheil, es sey über die Uebersetzung oder über das Original, sollten erheben können, daran ist gar nicht zu denken. Daher erfordert diese Art zu übersetzen durchaus ein Verfahren im Großen, ein Verpflanzen ganzer Litteraturen in eine Sprache, und hat also auch nur
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Sinn und Werth unter einem Volk, welches entschiedene Neigung hat, sich das Fremde anzueignen. Einzelne Arbeiten dieser Art haben nur einen Werth als Vorläufer einer sich allgemeiner entwickelnden und ausbildenden Lust an diesem Verfahren. Regen sie diese nicht auf, so haben sie auch im Geist der Sprache und des Zeitalters etwas gegen sich; sie können alsdann nur als verfehlte Versuche erscheinen, und auch für sich wenig oder keinen Erfolg haben. Allein auch wenn die Sache überhand nimmt, ist nicht leicht zu erwarten, daß eine Arbeit dieser Art, wie vortrefflich sie auch sey, sich allgemeinen Beifall erwerben werde. Bei den vielen Rücksichten, welche zu nehmen, und Schwierigkeiten, die zu überwinden sind, müssen sich verschiedene Ansichten darüber entwickeln, welche Theile der Aufgabe hervorzuheben, und welche vielmehr unterzuordnen sind. So werden gewissermaßen verschiedene Schulen unter den Meistern und verschiedene Partheien im Publikum sich bilden als Anhänger von jenen, und wiewohl dieselbe Methode überall zum Grunde liegt, werden doch von demselben Werk verschiedene Uebersetzungen neben einander bestehen können, aus verschiedenen Gesichtspunkten gefaßt, von denen man nicht eben sagen könnte, daß eine im Ganzen vollkommner sey oder zurückstehe, sondern nur einzelne Theile werden in der einen besser gelungen seyn, und andere in anderen, und erst alle zusammengestellt und auf einander bezogen, wie die eine auf diese die andere auf jene Annäherung an die Ursprache oder Schonung der eigenen einen besonderen Werth legt, werden sie die Aufgabe ganz erschöpfen, jede aber für sich immer nur einen relativen und subjectiven Werth haben. Dies sind die Schwierigkeiten, welche dieser Methode des Uebersetzens entgegenstehen, und die Unvollkommenheiten, die ihr wesentlich anhängen. Aber diese eingestanden muß man doch das Unternehmen selbst aner-[84]kennen, und kann ihm sein Verdienst nicht absprechen. Es beruht auf zwei Bedingungen, daß das Verstehen ausländischer Werke ein bekannter und gewünschter Zustand sey, und daß der heimischen Sprache selbst eine gewisse Biegsamkeit zugestanden werde. Wo diese gegeben sind, da wird ein solches Uebersetzen eine natürliche Erscheinung, greift ein in die gesammte Geistesentwickelung, und wie es einen bestimmten Werth erhält, giebt es auch einen sichern Genuß. Wie steht es nun aber mit der entgegengesetzten Methode, welche, ihrem Leser gar keine Mühe und Anstrengung zumuthend, ihm den fremden Verfasser in seine unmittelbare Gegenwart hinzaubern, und das Werk so zeigen will, wie es seyn würde, wenn der Verfasser selbst es ursprünglich in des Lesers Sprache geschrieben hätte? Diese Forderung ist nicht selten ausgesprochen worden als diejenige, die man an einen wahren Uebersetzer zu machen hätte, und als weit höher und vollkommener in Vergleich mit jener; es sind auch Versuche gemacht worden im einzelnen, oder vielleicht Meisterstücke, die offenbar genug sich dieses Ziel vorgesteckt haben. Laßt uns nun sehen, wie es hiermit steht, und ob es nicht vielleicht gut wäre, wenn dieses bis jetzt unstreitig seltnere Verfahren häufiger würde, und jenes bedenkliche und in vielen Stücken ungenügende verdrängte. Soviel sehen wir gleich, daß die Sprache des Uebersetzers von dieser Methode nicht das mindeste zu befürchten hat. Seine erste Regel muß seyn, sich wegen des Verhältnisses, in dem seine Arbeit zu einer fremden Sprache steht, nichts zu erlauben, was
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nicht auch jeder ursprünglichen Schrift gleicher Gattung in der heimischen Sprache erlaubt wird. Ja er hat so sehr als irgend einer die Pflicht, wenigstens dieselbe Sorgfalt für die Reinigkeit und Vollendung der Sprache zu beobachten, derselben Leichtigkeit und Natürlichkeit des Styls nachzustreben, die seinem Schriftsteller in der Ursprache nachzurühmen ist. Auch das ist gewiß, wenn wir unsern Landsleuten recht anschaulich machen wollen, was ein Schriftsteller für seine Sprache gewesen ist, daß wir keine bessere Formel aufstellen können, als ihn so redend einzuführen, wie wir uns denken müssen, daß er in der unsrigen würde geredet haben, zumal wenn die Entwickelungsstufe, worauf er seine Sprache fand, eine Aehnlichkeit hat mit der, worauf die unsrige eben steht. Wir können uns in einem gewissen Sinne denken, wie Tacitus würde geredet haben, wenn er ein Deutscher gewesen wäre, das heißt, genauer genommen, wie ein Deutscher reden würde, der unserer Sprache das wäre, was Tacitus der seinigen; und wohl dem, der es sich so lebendig denkt, daß er ihn wirklich kann reden lassen! Aber ob dies nun geschehen könnte, indem er ihn dieselbigen Sachen sagen läßt, die der römische Tacitus in lateinischer Sprache geredet, das ist eine andere und nicht leicht zu bejahende Frage. Denn ein ganz anderes ist, den Einfluß, den ein Mann auf seine Sprache ausgeübt hat, richtig auffassen und irgend wie darstellen, und wieder ein ganz anderes, wissen wollen, wie seine Gedanken und ihr Aus-[85]druck sich würden gewendet haben, wenn er gewohnt gewesen wäre, ursprünglich in einer andern Sprache zu denken und sich auszudrücken! Wer überzeugt ist, daß wesentlich und innerlich Gedanke und Ausdruck ganz dasselbe sind, und auf dieser Ueberzeugung beruht doch die ganze Kunst alles Verstehens der Rede, und also auch alles Uebersetzens, kann der einen Menschen von seiner angebornen Sprache trennen wollen, und meinen, es könne ein Mensch, oder auch nur eine Gedankenreihe eines Menschen, eine und dieselbe werden in zwei Sprachen? oder wenn sie denn auch auf gewisse Weise verschieden ist, kann er sich anmaaßen, die Rede bis in ihr Innerstes aufzulösen, den Antheil der Sprache daran auszuscheiden, und durch einen neuen, gleichsam chemischen Prozeß, sich das Innerste derselben verbinden zu lassen mit dem Wesen und der Kraft einer andern Sprache? Denn offenbar müßte man, um diese Aufgabe zu lösen, alles, was an dem schriftlichen Werk eines Mannes auch auf die entfernteste Weise Einwirkung irgend dessen ist, was er von Kindheit an in seiner Muttersprache geredet hat und gehört, rein ausscheiden, und nun gleichsam der nackten eigenthümlichen, in ihrer Richtung auf einen gewissen Gegenstand begriffenen Denkweise desselben zuführen alles dasjenige, was Einwirkung gewesen seyn würde alles dessen, was er vom Anfang seines Lebens oder von seiner ersten Bekanntschaft mit der fremden Sprache an in ihr geredet und gehört hätte, bis er zu der Fertigkeit gekommen wäre, in ihr ursprünglich zu denken und niederzuschreiben? Dies wird nicht eher möglich seyn, als bis es gelungen ist durch einen künstlichen chemischen Prozeß organische Produkte zusammenzusetzen. Ja man kann sagen, das Ziel, so zu übersetzen wie der Verfasser in der Sprache der Uebersetzung selbst würde ursprünglich geschrieben haben, ist nicht nur unerreichbar, sondern es ist auch in sich nichtig und leer; denn wer die bildende Kraft der Sprache, wie sie Eins ist mit der Eigenthümlichkeit des Volkes, anerkennt, der muß auch gestehen, daß jedem Ausgezeichnetsten am meisten sein ganzes Wissen, und auch die Möglichkeit es darzustellen, mit der Sprache und durch sie angebildet ist, und daß
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also Niemanden seine Sprache nur mechanisch und äußerlich gleichsam in Riemen anhängt, und wie man leicht ein Gespann löset und ein anderes vorlegt, so sich jemand auch nach Belieben im Denken eine andere Sprache vorlegen könne, daß vielmehr jeder nur in seiner Muttersprache ursprünglich producire, und man also gar die Frage nicht aufwerfen kann, wie er seine Werke in einer andern Sprache würde geschrieben haben. Hiegegen wird freilich jeder zwei Fälle anführen, die häufig genug vorkommen. Zuerst hat es doch offenbar sonst, nicht nur in einzelnen Ausnahmen, denn so kommt es noch vor, sondern auch im Großen eine Fertigkeit gegeben, in andern Sprachen als der angebornen ursprünglich zu schreiben, ja zu philosophiren und zu dichten. Warum soll man also nicht, um ein desto sichreres Maaß zu bekommen, diese Fertigkeit in Gedanken auf jeden Schriftsteller übertragen, welchen man übersetzen [86] will? Darum nicht, weil es mit dieser Fertigkeit die Bewandniß hat, daß sie nur in solchen Fällen vorkommt, wo dasselbe entweder überhaupt oder wenigstens von demselben nicht könnte in der angebornen Sprache gesagt werden. Wenn wir in die Zeiten zurückgehn, wo die romanischen Sprachen anfingen sich zu bilden, wer kann sagen, welche Sprache damals den dortigen Menschen sey angeboren gewesen? und wer wird läugnen wollen, daß denen, welche eine wissenschaftliche Bestrebung ergriffen, das lateinische mehr Muttersprache gewesen als das volgare? Dies geht aber für einzelne Bedürfnisse und Thätigkeiten des Geistes noch viel weiter herab. So lange die Muttersprache für diese noch nicht gebildet ist, bleibt diejenige Sprache die partielle Muttersprache, aus welcher jene Richtungen des Geistes sich einem werdenden Volke mitgetheilt haben. Grotius und Leibnitz konnten nicht, wenigstens nicht ohne ganz andere Menschen zu seyn, deutsch und holländisch philosophiren. Ja auch, wenn jene Wurzel schon ganz vertrocknet und der Senker von dem alten Stamme völlig losgerissen ist, muß doch, wer nicht selbst zugleich ein sprachbildendes und ein umwälzendes Wesen ist, sich noch vielfältig einer fremden Sprache willkührlich oder durch untergeordnete Gründe bestimmt anschließen. Unserm großen König waren alle feineren und höheren Gedanken durch eine fremde Sprache gekommen, und diese hatte er sich für dieses Gebiet auf das innigste angeeignet. Was er französisch philosophirte und dichtete, war er unfähig deutsch zu philosophiren und zu dichten. Wir müssen es bedauern, daß die große Vorliebe für England, die einen Theil der Familie beherrschte, nicht die Richtung nehmen konnte, ihm von Kindheit an die englische Sprache, deren letztes goldenes Zeitalter damals blühte, und die der deutschen um so vieles näher ist, anzueignen. Aber wir dürfen hoffen, daß wenn er eine streng gelehrte Erziehung genossen hätte, er lieber würde lateinisch philosophirt und gedichtet haben als französisch. Indem also dieses besondern Bedingungen unterliegt, indem nicht in gleichviel welcher fremden Sprache, sondern nur in einer bestimmten, jedes und nur das hervorbringt, was von ihm in seiner Muttersprache nicht konnte hervorgebracht werden: so beweiset es nichts für eine Methode des Uebersetzens, welche zeigen will, wie einer das, was er wirklich in seiner Muttersprache geschrieben hat, in einer andern würde geschrieben haben. Der zweite Fall aber, eines ursprünglichen Lebens und Schreibens in fremden Sprachen, scheint günstiger für diese Methode. Denn wer wird es unsern Welt- und Hofleuten absprechen, daß was sie liebenswürdiges in fremden Zungen über ihre Lippen bringen, sie auch gleich in derselben Sprache gedacht, und nicht etwa
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aus dem armen Deutsch erst innerlich übersetzt haben? und wie es ihr Ruhm ist, diese Süßigkeiten und Feinheiten in vielen Sprachen gleich gut sagen zu können, [87] so denken sie sie auch gewiß in allen mit gleicher Leichtigkeit, und jeder wird auch vom andern recht gut wissen, wie er eben das, was er jetzt auf französisch gesagt hat auf italiänisch würde gesagt haben. Allein diese Reden sind auch freilich nicht aus dem Gebiet, wo die Gedanken kräftig aus der tiefen Wurzel einer eigenthümlichen Sprache hervortreiben, sondern wie die Kresse, die ein künstlicher Mann ohne alle Erde auf dem weißen Tuche wachsen macht. Diese Reden sind weder der heilige Ernst der Sprache, noch das schöne wohlgemessene Spiel derselben; sondern wie die Völker durcheinander laufen in dieser Zeit, auf eine Weise, die man sonst weniger kannte, so ist überall Markt, und dieses sind die Marktgespräche, mögen sie nun politisch seyn oder litterarisch, oder gesellig, und sie gehören wahrlich nicht in das Gebiet des Uebersetzers, sondern nur des Dolmetschers etwa. Wenn nun dergleichen, wie es wohl bisweilen geschieht, in ein größeres Ganze sich zusammenfilzen und Schrift werden: so mag eine solche Schrift, die ganz in dem leichten und anmuthigen Leben spielt ohne irgendeine Tiefe des Daseyns aufzuschließen oder eine Eigenthümlichkeit des Volkes zu bewahren, nach dieser Regel übersetzt werden; aber auch nur sie, weil nur sie eben so gut auch ursprünglich konnte in einer andern Sprache gefaßt seyn. Und weiter mag diese Regel sich nicht erstrekken, als vielleicht noch auf die Eingänge und Vorhöfe tieferer und herrlicher Werke, die auch oft ganz in dem Gebiet des leichten geselligen Lebens erbaut sind. Nämlich, je mehr den einzelnen Gedanken eines Werkes und ihrer Verknüpfung die Volkseigenthümlichkeit anhaftet, und vielleicht gar noch außerdem das Gepräge einer längst abgelaufenen Zeit, um desto mehr verliert die Regel überhaupt ihre Bedeutung. Denn so wahr das auch bleibt in mancher Hinsicht, daß erst durch das Verständniß mehrerer Sprachen der Mensch in gewissem Sinne gebildet wird, und ein Weltbürger: so müssen wir doch gestehen, so wie wir die Weltbürgerschaft nicht für die ächte halten, die in wichtigen Momenten die Vaterlandsliebe unterdrückt, so ist auch in Bezug auf die Sprachen eine solche allgemeine Liebe nicht die rechte und wahrhaft bildende, welche für den lebendigen und höheren Gebrauch irgend eine Sprache, gleichviel ob alte oder neue, der vaterländischen gleich stellen will. Wie Einem Lande, so auch Einer Sprache oder der andern, muß der Mensch sich entschließen anzugehören, oder er schwebt haltungslos in unerfreulicher Mitte. Es ist recht, daß noch jetzt unter uns lateinisch geschrieben wird von Amtswegen, um das Bewußtseyn lebendig zu erhalten, daß dies unserer Vorfahren wissenschaftliche und heilige Muttersprache gewesen ist; es ist heilsam, daß es auch sonst geschehe im Gebiet der gemeinsamen europäischen Wissenschaft, des leichteren Verkehrs wegen; aber gelingen wird es auch in diesem Fall nur in dem Maaß, als für eine solche Darstellung der Gegenstand alles ist, und die eigene Ansicht und Verknüpfung wenig. Dasselbe ist der Fall mit dem romanischen. Wer gezwungen und von Amtswegen eine solche Sprache schreibt, der wird sich doch wohl bewußt seyn, [88] daß seine Gedanken im ersten Entstehen deutsch sind, und daß er nur sehr früh während der Embryo sich noch gestaltet schon anfängt sie zu übersetzen, und wer sich einer Wissenschaft wegen dazu aufopfert, der wird sich auch nur da leicht ungezwungen und ohne geheimes Uebersetzen finden, wo er sich ganz in der Gewalt des Gegenstandes fühlt. Es giebt freilich auch
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außerdem eine freie Liebhaberei am lateinisch oder romanisch schreiben, und wenn es mit dieser wirklich darauf abgesehen wäre in einer fremden Sprache gleich gut wie in der eigenen und gleich ursprünglich zu produciren: so würde ich sie unbedenklich für eine frevelhafte und magische Kunst erklären, wie das Doppeltgehen, womit der Mensch nicht nur der Gesetze der Natur zu spotten, sondern auch Andere zu verwirren gedächte. So ist es aber wohl nicht, sondern diese Liebhaberei ist nur ein feines mimisches Spiel, womit man sich in den Vorhöfen höchstens der Wissenschaft und Kunst die Zeit anmuthig vertreibt. Die Production in der fremden Sprache ist keine ursprüngliche; sondern Erinnerungen an einen bestimmten Schriftsteller oder auch an die Weise eines gewissen Zeitalters, das gleichsam eine allgemeine Person vorstellt, schweben der Seele fast wie ein lebendiges äußeres Bild vor, und die Nachahmung desselben leitet und bestimmt die Production. Daher auch selten auf diesem Wege etwas entsteht, was außer der mimischen Genauigkeit einen wahren Werth hätte; und man kann sich des beliebten Kunststückes um so harmloser erfreuen, als man die gespielte Person überall deutlich genug durchblickt. Ist aber Jemand gegen Natur und Sitte förmlich ein Ueberläufer geworden von der Muttersprache, und hat sich einer andern ergeben: so ist es nicht etwa gezierter und angedichteter Hohn, wenn er versichert, er könne sich in jener nun gar nicht mehr bewegen; sondern es ist nur eine Rechtfertigung, die er sich selbst schuldig ist; daß seine Natur wirklich ein Naturwunder ist gegen alle Ordnung und Regel, und eine Beruhigung für die Andern, daß er wenigstens nicht doppelt geht wie ein Gespenst. Doch nur zu lange haben wir uns bei fremdartigem aufgehalten, und das Ansehn gehabt vom Schreiben in fremden Sprachen zu reden, anstatt vom Uebersetzen aus fremden Sprachen. Die Sache liegt aber so. Wenn es nicht möglich ist etwas der Uebersetzung, sofern sie Kunst ist, würdiges und zugleich bedürftiges ursprünglich in einer fremden Sprache zu schreiben, oder wenn dies wenigstens eine seltene und wunderbare Ausnahme ist: so kann man auch die Regel nicht aufstellen für die Uebersetzung, sie solle denken wie der Verfasser selbst eben dieses in der Sprache des Uebersetzers würde geschrieben haben; denn es giebt keine Fülle von Beispielen zweisprachiger Schreiber, von denen eine Analogie herzuleiten wäre, welcher der Uebersetzer folgen könnte, sondern er wird nach dem obigen [89] bei allen Werken, die nicht der leichten Unterhaltung gleichen, oder dem Geschäftsstyl, fast nur seiner Einbildung überlassen seyn. Ja was will man einwenden, wenn ein Uebersetzer dem Leser sagt, Hier bringe ich dir das Buch, wie der Mann es würde geschrieben haben, wenn er es deutsch geschrieben hätte; und der Leser ihm antwortet, Ich bin dir ebenso verbunden, als ob du mir des Mannes Bild gebracht hättest, wie er aussehen würde, wenn seine Mutter ihn mit einem andern Vater erzeugt hätte? Denn wenn von Werken, die in einem höheren Sinne der Wissenschaft und Kunst angehören, der eigenthümliche Geist des Verfassers die Mutter ist: so ist seine vaterländische Sprache der Vater dazu. Das eine Kunststücklein wie das andere macht Anspruch auf geheimnißvolle Einsichten, die niemand hat, und nur als Spiel kann man das eine eben so unbefangen genießen wie das andere. Wie sehr die Anwendbarkeit dieser Methode beschränkt, ja auf dem Gebiet des Uebersetzens fast gleich Null ist, das bestätigt sich am besten, wenn man sieht, in was für unüberwindliche Schwierigkeiten sie sich in einzelnen Zweigen der Wissenschaft
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und Kunst verwickelt. Wenn man sagen muß, daß schon im Gebrauch des gemeinen Lebens es nur wenige Wörter in einer Sprache giebt, denen eines in irgend einer andern vollkommen entspräche, so daß dieses in allen Fällen gebraucht werden könnte worin jenes, und daß es in derselben Verbindung wie jenes auch allemal dieselbe Wirkung hervorbringen würde: so gilt dieses noch mehr von allen Begriffen, je mehr ihnen ein philosophischer Gehalt beigemischt ist, und also am meisten von der eigentlichen Philosophie. Hier mehr als irgendwo enthält jede Sprache, trotz der verschiedenen gleichzeitigen und auf einander folgenden Ansichten, doch Ein System von Begriffen in sich, die eben dadurch, daß sie sich in derselben Sprache berühren verbinden ergänzen, Ein Ganzes sind, dessen einzelnen Theilen aber keine aus dem System anderer Sprachen entsprechen, kaum Gott und Sein, das Urhauptwort und das Urzeitwort abgerechnet. Denn auch das schlechthin allgemeine, wiewohl außerhalb des Gebotes der Eigenthümlichkeit liegend, ist doch von ihr beleuchtet und gefärbt. In diesem System der Sprache muß die Weisheit eines jeden aufgehn. Jeder schöpft aus dem vorhandenen, jeder hilft das nicht vorhandene aber vorgebildete ans Licht bringen. Nur so ist die Weisheit des Einzelnen lebendig, und kann sein Daseyn wirklich beherrschen, welches er ja ganz in dieser Sprache zusammenfaßt. Will also der Uebersetzer eines philosophischen Schriftstellers sich nicht entschließen die Sprache der Uebersetzung, soviel sich thun läßt, nach der Ursprache zu beugen, um das in dieser ausgebildete Begriffssystem möglichst ahnden zu lassen; will er vielmehr seinen Schriftsteller so reden lassen, als hätte er Gedanken und [90] Rede ursprünglich in einer anderen Sprache gebildet: was bleibt ihm übrig bei der Unähnlichkeit der Elemente in beiden Sprachen, als entweder zu paraphrasiren – wobei er aber seinen Zweck nicht erreicht; denn eine Paraphrase wird und kann nie aussehn wie etwas in derselben Sprache ursprünglich hervorgebrachtes – oder er muß die ganze Weisheit und Wissenschaft seines Mannes umbilden in das Begriffssystem der andern Sprache, und so alle einzelnen Theile verwandeln, wobei nicht abzusehen ist, wie der wildesten Willkühr könnten Grenzen gesetzt werden. Ja man muß sagen, wer nur die mindeste Achtung hat für philosophische Bestrebungen und Entwickelungen, kann sich auf ein so loses Spiel gar nicht einlassen. Platon mag es verantworten wenn ich von dem Philosophen auf den Komödienschreiber komme. Diese Kunstgattung liegt, was die Sprache betrifft, dem Gebiet des geselligen Gesprächs am nächsten. Die ganze Darstellung lebt in den Sitten der Zeit und des Volkes, die sich wiederum vorzüglich in der Sprache lebendig spiegeln. Leichtigkeit und Natürlichkeit in der Anmuth sind ihre erste Tugend; und eben deshalb sind hier die Schwierigkeiten der Uebersetzung nach der eben betrachteten Methode ganz ungemein. Denn jede Annäherung an eine fremde Sprache thut jenen Tugenden des Vortrages Schaden. Will nun aber gar die Uebersetzung einen Schauspieldichter reden lassen, als hätte er ursprünglich in ihrer Sprache gedichtet: so kann sie ihn ja vieles gar nicht vorbringen lassen, weil es in diesem Volk nicht einheimisch ist und also auch in der Sprache kein Zeichen hat. Der Uebersetzer muß also hier entweder ganz wegschneiden, und so die Kraft und die Form des Ganzen zerstören, oder er muß anderes an die Stelle setzen. Auf diesem Gebiet also führt die Formel vollständig befolgt offenbar auf bloße Nachbildung oder auf ein noch widerlicher auffallendes und verwirrendes Gemisch von Uebersetzung und Nachbildung, welches den Leser wie
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einen Ball zwischen seiner und der fremden Welt, zwischen des Verfassers und des Uebersetzers Erfindung und Witz, unbarmherzig hin und her wirft, wovon er keinen reinen Genuß haben kann, zuletzt aber Schwindel und Ermattung gewiß genug davonträgt. Der Uebersetzer nach der andern Methode hingegen hat gar keine Aufforderung zu solchen eigenmächtigen Veränderungen, weil sein Leser immer gegenwärtig behalten soll, daß der Verfasser in einer andern Welt gelebt und in einer andern Sprache geschrieben hat. Er ist nur an die freilich schwere Kunst gewiesen die Kenntniß dieser fremden Welt auf die kürzeste zweckmäßigste Weise zu suppliren, und überall die größere Leichtigkeit und Natürlichkeit des Originals durchleuchten zu lassen. Diese beiden Beispiele von den äußersten Enden der Wissenschaft und der Kunst hergenommen zeigen deutlich, wie wenig der eigentliche Zweck alles Uebersetzens, möglichst unverfälschter Genuß fremder Werke, durch eine Methode erreicht werden kann, welche dem übersetzten Werke ganz und gar den Geist einer ihm fremden Sprache einhauchen will. Hinzu kommt noch, daß jede Sprache ihr eigenthümliches [91] hat auch in den Rhythmen für die Prosa sowol als die Poesie, und daß, wenn einmal die Fiction gemacht werden soll, der Verfasser könnte auch in der Sprache des Uebersetzers geschrieben haben, man ihn dann auch in den Rhythmen dieser Sprache müßte auftreten lassen, wodurch sein Werk noch mehr entstellt, und die Kenntniß seiner Eigenthümlichkeit, welche die Uebersetzung gewährt, noch weit mehr beschränkt wird. Auch geht in der That diese Fiction, auf der doch die jetzt betrachtete Theorie des Uebersetzers allein beruht, über den Zweck dieses Geschäfts weit hinaus. Das Uebersetzen aus dem ersten Gesichtspunkt ist eine Sache des Bedürfnisses für ein Volk, von dem nur ein kleiner Theil sich eine hinreichende Kenntniß fremder Sprachen verschaffen kann, ein größerer aber Sinn hat für den Genuß fremder Werke. Könnte dieser Theil ganz in jenen übergehen: so wäre denn jenes Uebersetzen unnütz, und schwerlich würde jemand die undankbare Mühe übernehmen. Nicht so ist es mit dieser letzten Art. Diese hat mit der Noth nichts zu schaffen, vielmehr ist sie das Werk der Lüsternheit und des Uebermuthes. Die fremden Sprachen könnten so weit verbreitet seyn als nur irgend möglich, und Jedem fähigen der Zugang zu ihren edelsten Werken ganz offen stehn; und es bliebe doch ein merkwürdiges Unternehmen, das nur um so mehre und gespanntere Zuhörer um sich versammeln würde, wenn jemand verspräche uns ein Werk des Cicero oder Platon so darzustellen, wie diese Männer selbst es unmittelbar deutsch jetzt würden geschrieben haben. Und wenn einer uns so weit brächte, dieses nicht nur in der eignen Muttersprache zu thun, sondern gar noch in einer andern fremden, der wäre uns dann offenbar der größte Meister in der schwierigen und fast unmöglichen Kunst, die Geister der Sprachen in einander aufzulösen. Nur sieht man, dies würde streng genommen kein Uebersetzen sein, und der Zweck wäre auch nicht der möglichst genaue Genuß der Werke selbst; sondern es würde immer mehr eine Nachbildung werden, und recht genießen könnte ein solches Kunstwerk oder Kunststück nur der, der jene Schriftsteller schon sonsther unmittelbar kennte. Und der eigentliche Zweck könnte nur seyn, im einzelnen das gleiche Verhältniß mancher Ausdrücke und Combinationen in verschiedenen Sprachen zu einem bestimmten Charakter zur Anschauung zu bringen, und im Ganzen die Sprache mit
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dem eigenthümlichen Geist eines fremden Meisters, aber diesen ganz von seiner Sprache getrennt und gelöst, zu beleuchten. Wie nun jenes nur ein kunstreiches und zierliches Spiel ist, und dieses auf einer fast unmöglich durchzuführenden Fiction beruht: so begreift man, wie diese Art des Uebersetzens nur in sehr sparsamen Versuchen geübt wird, die auch selbst deutlich genug zeigen, daß im Großen so nicht verfahren werden kann. Man erklärt sich auch, daß gewiß nur ausge-[92]zeichnete Meister, die sich wunderbares zutrauen dürfen, nach dieser Methode arbeiten können; und mit Recht nur solche, die ihre eigentlichen Pflichten gegen die Welt schon erfüllt haben, und sich deshalb eher einem reizenden und etwas gefährlichen Spiel überlassen können. Man begreift aber auch um so leichter, daß die Meister, welche sich im Stande fühlen so etwas zu versuchen, auf das Geschäft jener andern Uebersetzer ziemlich mitleidig herabschauen. Denn sie meinen, sie selbst trieben eigentlich nur allein die schöne und freie Kunst, jene aber erscheinen ihnen weit näher dem Dolmetscher zu stehen, indem sie doch auch dem Bedürfniß, wenn gleich einem etwas höheren, dienen. Und bedauernswürdig scheinen sie ihnen, daß sie weit mehr Kunst und Mühe als billig auf ein untergeordnetes und undankbares Geschäft verwenden. Daher sie auch sehr bereit sind mit dem Rath, man möge doch statt solcher Uebersetzungen sich lieber so gut man könnte mit der Paraphrase helfen, wie die Dolmetscher in schwierigen und streitigen Fällen es auch thun. Wie nun? Sollen wir diese Ansicht theilen und diesem Rath folgen? Die Alten haben offenbar wenig in jenem eigentlichsten Sinn übersetzt, und auch die meisten neueren Völker, abgeschreckt durch die Schwierigkeiten der eigentlichen Uebersetzung, begnügen sich mit der Nachbildung und der Paraphrase. Wer wollte behaupten, es sei jemals etwas weder aus den alten Sprachen noch aus den germanischen in die französische übersetzt worden! Aber wir Deutsche möchten noch so sehr diesem Rathe Gehör geben, folgen würden wir ihm doch nicht. Eine innere Nothwendigkeit, in der sich ein eigenthümlicher Beruf unseres Volkes deutlich genug ausspricht, hat uns auf das Uebersetzen in Masse getrieben; wir können nicht zurück und müssen durch. Wie vielleicht erst durch vielfältiges hineinverpflanzen fremder Gewächse unser Boden selbst reicher und fruchtbarer geworden ist, und unser Klima anmuthiger und milder: so fühlen wir auch, daß unsere Sprache, weil wir sie der nordischen Trägheit wegen weniger selbst bewegen, nur durch die vielseitigste Berührung mit dem fremden recht frisch gedeihen und ihre eigne Kraft vollkommen entwickeln kann. Und damit scheint zusammenzutreffen, daß wegen seiner Achtung für das Fremde und seiner vermittelnden Natur unser Volk bestimmt seyn mag, alle Schätze fremder Wissenschaft und Kunst mit seinen eignen zugleich in seiner Sprache gleichsam zu Einem großen geschichtlichen Ganzen zu vereinigen, das im Mittelpunkt und Herzen von Europa verwahrt werde, damit nun durch Hülfe unserer Sprache, was die verschiedensten Zeiten schönes gebracht haben, jeder so rein und vollkommen genießen könne, als es dem Fremdling nur möglich ist. Dies scheint in der That der wahre geschichtliche Zweck des Uebersetzens im Großen, wie es bei uns nun einheimisch ist. Für dieses aber ist nur die Eine Methode anwendbar, die wir zuerst betrachtet haben. Die Schwierigkeiten derselben, die wir nicht verhehlt haben, muß die Kunst soviel möglich besiegen lernen. Ein guter Anfang ist gemacht, [93] aber das meiste ist noch übrig. Viele Versuche und
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Uebungen müssen auch hier vorangehen, ehe einige ausgezeichnete Werke zu Stande kommen; und manches glänzt anfangs, was hernach von besserem überboten wird. Wie sehr schon einzelne Künstler die Schwierigkeiten theils besiegt, theils sich glücklich zwischen ihnen durchgewunden haben, liegt in mannigfaltigen Beispielen vor Augen. Und wenn auch minderkundige auf diesem Felde arbeiten: so wollen wir von ihren Bemühungen nicht furchtsamerweise großen Schaden für unsere Sprache besorgen. Denn zuerst muß feststehen, daß es in einer Sprache, in welcher das Uebersetzen so sehr im großen getrieben wird, auch ein eignes Sprachgebiet giebt für die Uebersetzungen, und ihnen manches erlaubt sein muß, was sich anderwärts nicht darf blicken lassen. Wer dennoch unbefugt solche Neuerungen weiter verpflanzt, wird schon wenig Nachfolger finden oder keine, und wenn wir die Rechnung nur nicht für einen zu kurzen Zeitraum abschließen wollen, so können wir uns schon auf den assimilirenden Prozeß der Sprache verlassen, daß sie alles wieder ausstoßen wird, was nur eines vorübergehenden Bedürfnisses wegen angenommen war, und ihrer Natur nicht eigentlich zusagt. Dagegen dürfen wir nicht verkennen, daß viel Schönes und Kräftiges in der Sprache sich erst durch das Uebersetzen theils entwickelt hat, theils aus der Vergessenheit ist hervorgezogen worden. Wir reden zu wenig und plaudern verhältnißmäßig zu viel; und es ist nicht zu läugnen, daß seit geraumer Zeit auch die Schreibart nur zu sehr diese Richtung genommen hatte, und daß das Uebersetzen nicht wenig beigetragen einen strengeren Styl wieder geltend zu machen. Wenn einst eine Zeit kommt, wo wir ein öffentliches Leben haben, aus welchem sich auf der einen Seite eine gehaltvollere und sprachgerechtere Geselligkeit entwickeln muß, auf der anderen freierer Raum gewonnen wird für das Talent des Redners, dann werden wir vielleicht für die Fortbildung der Sprache weniger des Uebersetzens bedürfen. Und möchte nur jene Zeit kommen, ehe wir den ganzen Kreis der Uebersetzermühen würdig durchlaufen haben!
Karl Heinrich (?) Pudor Mit einiger Wahrscheinlichkeit handelt es sich bei dem Autor um Karl Heinrich Pudor (1777–1839), einen Gymnasiallehrer aus dem westpreußischen Marienwerder (heute Kwidzyn), geboren in Friedeberg (Strzelce Krajenskie), der auch mit Poetischen Versuchen (1812) und einer Abhandlung Über Goethes Iphigenie (1832) hervorgetreten ist. Der Aufsatz erschien in der Zeitschrift Die Musen und gehört damit in den Horizont der Berliner Romantik. Pudor bezieht sich auf die kurz zuvor erschienene Übersetzung Die Geschichten des Herodotos von Friedrich Lange, die sich am Deutsch der Luther-Bibel orientierte. Seine Abhandlung beansprucht sicherlich nicht den theoretischen Rang Solgers, Schleiermachers oder Humboldts, stellt aber dennoch eine wesentliche Ergänzung zur übersetzungstheoretischen Diskussion der Zeit dar, indem sie dezidiert das Übersetzen „alter klassischer Prosa“ zum Thema macht. Pudor verweist einerseits auf die zeitlose Gültigkeit griechischer Kunst und Literatur, andererseits auf die Bedeutung der deutschen Nationalliteratur von Luther und Hutten über Opitz bis hin zu Goethe. Sein Aufsatz dürfte das erste Beispiel für die Diskussion einer archaisierenden bzw. historisierenden Übersetzungssprache sein, die auf ältere Sprachstände des Deutschen zurückgreift. Da der Name Schleiermachers wiederholt genannt wird und Pudor offenkundig Kontakte nach Berlin unterhielt, erscheint es denkbar, dass er von Schleiermachers im Jahr zuvor gehaltener Akademierede Kenntnis hatte.
Ueber die Farbengebung des Alterthümlichen in Verdeutschung alter klassischer Prosa Aus: Die Musen, hg. von Friedrich Baron de la Motte Fouqué u. Wilhelm Neumann, Jg. 1814, Erstes Stück, Berlin 1814, 102–120.
(Veranlaßt durch Lange’s Uebersetzung des Herodot. Berlin 1812 bis 1813.1) In jeder Zeitperiode offenbart sich der menschliche Geist auf eine eigenthümliche Weise, und erscheint nie wieder ganz in der Form, welcher er einmal entsagte. Daher die mannigfach wechselnde Entfaltung der Kultur der Völker, wenn auch aus demselben Stamme und unter einerlei heimathlichem Himmel erwachsen: daher die ewig originale Gestaltung der Kunstwerke des Alterthums, dieser feststehenden redenden Denkmäler der Geschichte der Menschheit. Zweckloses Beginnen und Entweihung ist es demnach, sobald wir Hand anlegen, diese heiligen Ueberreste der Vorwelt auf ir_____________ 1
[Pudor gibt irrtümlich ein falsches Erscheinungsdatum an: Langes Übersetzung erschien 1811/12 in zwei Bänden in Berlin unter dem Titel Die Geschichten des Herodotos.]
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gend eine Weise in die wandelbare Modeform späterer Zeitalter zu hüllen, und sie [103] also ihrer ursprünglichen Eigenthümlichkeit zu berauben. Dieses Schicksal traf indessen nur zu lange die Werke der alten klassischen Prosa, selbst noch in neuern Zeiten, wenn auch ein günstigeres Gestirn den Schöpfungen alter Dichtung aufgegangen war. Hier schritten Meister, wie Voß und andere Wenige voran, und weckten bald tüchtige, ihrem Muster glücklich nachstrebende, Jünger. Nicht so erging es den Werken der Prosa. Jene alten in sich vollendeten Geisteserzeugnisse in neuartige Formen zwängend und damit vornehm auftretend, glaubten ihre Dollmetscher sogar etwas Verdienstliches gethan zu haben, während sich andere auf die noch widrigere Abwege des Steifen und Affektirten und knechtischer Nachahmung verirrten. Welcher Dilettant sogar kann sich dieser Wahrnehmung erwehren, wenn er so manche der neuesten uns dargebotenen Uebertragungen, z. E. des Tacitus und anderer Klassiker, nur mit einem Blicke durchmustert! Hingegen waltet der Hang zum Modernisiren der Werke der alten Kunst, besonders bei dem Volke vor, dem es im Ganzen an ergreifender Anschauung, an Tiefgefühl, an nahe verwandter Sinnesart, so wie an einer mächtigen Sprache mangelt, und dessen Verdollmetschungen altklassischer Meisterwerke daher nur zu oft kraftlose Abbilder antiker Herrlichkeit wurden. Messieurs Athéniens, – so lautet der gar höfliche Nachhall der hochherzigen Ἀνδρες Ἀθηναῖοι, und läßt den kundigen Leser schon im Voraus eine winzig durchgeführte Darstellung erwarten. Ohne den Vorwurf der Partheilichkeit zu fürchten, dürfen wir unter den Zungen des neuern gebildeten Europa der deutschen vorzüglich den Ruhm nicht versagen, daß sie es vermag, des Alterthums machtvolle Stimmen [104] mit treuer Fülle und Würde wiederzutönen. Wenn dennoch bisher die deutsche Literatur so wenig Nachbildungen aufweiset, welche diese Aufgabe vollkommen lösen; wenn es wahr ist, daß manche Nachbildungen altklassischer Prosa, ihre Urschrift theils ohne gewissenhafte Treue, theils verworren und verzerrt, theils so neuartig abspiegeln, daß man sie, vermöge ihrer stylistischen Form, für deutsche Originalwerke halten würde, wenn nicht Aufschrift und Inhalt vom Gegentheil zeugte: so ist der Grund hievon ohne Zweifel in den schwankenden leitenden Grundsätzen überhaupt, und insbesondere in der gänzlichen Verfehlung des antiken Kolorits zu suchen, dieses ästhetischen Hauptelements bei jeder Wiedererweckung der alten Kunstgebilde. Ueberall sind Theorien bei uns an der Tagesordnung, aber noch ist keine von festen Ursätzen ausgehende, folgegleich und vollständig durchgeführte, Theorie der Uebersetzungen erschienen2; nur Fragmente hat man aufgestellt: und doch, so gewiß es eine Alterthumswissenschaft giebt, so gewiß _____________ 2
Denn Löbel’s Grundsätze der Kunst zu übersetzen, sind kein deutsches Originalwerk, und würden, da sie schon 1793 erschienen, bei der gegenwärtigen Philologie einer neuen Bearbeitung bedürfen. [Pudor bezieht sich auf Renatus Gotthelf Löbel (1767–1799), der Alexander Fraser Tytlers umfangreichen Essay on the Principles of Translation (1791) in deutscher Übersetzung vorlegte und durch eigene Anmerkungen ergänzte (Grundsätze der Kunst zu Uebersetzen, ein Versuch. Aus dem Englischen. Mit Rücksicht auf deutsche Muster, bearbeitet von Renatus Gotthelf Löbel, Leipzig 1793). Während Tytler im wesentlichen die Abbildung der „Ideen“ des Originals im angemessenen Stil gefordert und dies durch Regeln abzusichern gesucht hatte, formulierte Löbel in einem seiner Zusätze das sich aus dem verschiedenen „Genius“ und „Character aller Sprachen“ (S. 9) ergebende Übersetzungsproblem merklich schärfer.]
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muß es auch eine Uebersetzungswissenschaft geben. Merkwürdig sind Adelungs Worte am Schlusse seines Werkes über den deutschen Styl.3 Bloß eine Andeutung hinwerfend, äußert er dort, daß übrigens von Uebersetzungen an sich, besonders aus den alten Sprachen, noch viel zu sagen wäre, weil der Verfall des Geschmacks sich in unsern Tagen (1790?) auch darin zu äußern anfange, daß aber dies außer seinem Plane liege. – [105] Wenn es folgendem Versuche gelänge, für die Erweiterung und Anwendung der vorliegenden Ideen stimmfähige Geister anzuregen, so wäre sein Zweck erreicht. Zugleich sei es nicht verhohlen, daß wir uns hier nicht gerade allein an Schriftsteller wenden, die, diesem Berufe lebend, vielleicht am wenigsten solcher Winke bedürfen. Vielmehr sei auch hier zu Erziehern und Lehrern geredet, die durch mündlichen Vortrag im Herzen hoffnungsvoller deutscher Jugend ausstreuen wollen den Saamen der Begeisterung für mustergültige Schönheit und Größe, wodurch sich insonderheit der Hellenen Himmel verkläret, und denen zugleich Bewahrung unsers volksthümlichen Adels eine heilige Angelegenheit ist. Die aus mehrjähriger Erfahrung entsprungene Ueberzeugung, daß meine Lehrlinge die alten Schriftsteller in dem Maaße lieb gewannen, je treuer, je alterthümlicher und mit je mannigfacherer Benutzung deutscher Sprachweise dieselben übertragen wurden, munterte mich auf, meine Ansichten hievon einer öffentlichen einsichtsvollen Beherzigung zu unterwerfen. So mannigfach auch die Entwickelung des Antiken von Humanisten und Aesthetikern versucht worden ist, so versteht man doch seit Winkelmann4 fast allgemein darunter vorzugsweise jene edle prunklose Einfalt, jene stille Größe mit ihrem doch so lebendigen und so gewaltigen Zauber, wovon alle Gebilde alter Kunst so innig beseelt sind. Aus der Fülle und Tiefe des Gemüths, aus einer von fremdartigem Einflusse unabhängigen und naturfreien Denk- und Empfindungsweise hervorgegangen, kündigt es sich sogleich an durch seine eigenthümlichen Zeichen in [106] Sprache und Bildung, vermittelst welcher wir zu dem Heiligthume einer ewig denkwürdigen Vergangenheit gelangen. Das Moderne und Conventionelle sind seine feindlichen Pole, mit welchen es sich unmöglich vereinigen mag, obgleich es mit der romantischen Schönheit nicht den scharfen Gegensatz bildet, so wie ihn uns manche Systeme verkünden. Eine ideale Musterform spricht aus demselben, beharrend bei allem Wechsel, und eine harmonische Ausbildung des Verstandes und Gemüths beurkundend. Dieses durch alle Schöpfungen alter Kunst weit verbreitete Element, herrsche daher auch vor in allen Versuchen, wodurch klassische Ueberreste für die Nachwelt anschaulich und _____________ 3
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[Adelung fügt für die dritte Auflage einen Abschnitt Uebersetzungen ein, in dem er Übersetzen als schädlich für die Ausbildung eines guten Stils darstellt: „Billig sollte niemand eher aus einer fremden Sprache übersetzen, als bis sein eigener Styl die gehörige Festigkeit und Eigenthümlichkeit hat, weil er sonst nicht nur sich selbst schaden wird, sondern auch seine Uebersetzung mißlingen muß. Uebrigens wäre von Uebersetzungen an sich, besonders aus den alten Sprachen, noch viel zu sagen, weil sich der Verfall des Geschmackes in unsern Tagen auch darin zu äußern anfängt; allein es ist hier der Ort nicht dazu, und ich mußte der Uebersetzungen auch nur als eines Hülfsmittels des Styles gedenken.“ Johann Christoph Adelung, Über den deutschen Styl, 3., vermehrte u. verbesserte Auflage, Bd. 2, 1790, 427 f.] Winkelmann’s Werke, herausgegeben von Fernow. 1r Band. Seite 35 etc.
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zugänglich gemacht werden sollen. Wie der Hauptcharakter der Werke der Griechischen Plastik auf jenem natürlichen, wahren, einfachen, großen und edlen Style beruht, in welchem sie geschaffen sind, und wie der nachahmende bildende Künstler neuerer Zeit nach diesem Ideale ringt, eben so wesentlich ist es auch bei den Nachbildungen der Werke der redenden Kunst, daß nichts verloren gehe, worin jene Wahrheit und Natur, jene klassische Einfalt und Großheit, sich mahlt. Wenn auf der einen Seite aller gesuchte überladene Schmuck, aller spielende Schwulst, dieses sichere Zeichen eines gesunkenen Geschmacks, verbannt werden müssen; so werde auf der andern auch kein Zug vernachlässigt oder verwischt, der irgend ein klassisches Etwas, einen Reiz des antiken Lebens enthält. In traulicher Umarmung müssen überall jene vier Hauptfarben hervortreten, woraus ein geistvoller Schriftsteller ein pragmatisches Gemälde des ästhetischen Griechenlandes entwirft, jene plastische, lebendige, sich selbst verläugnende Darstellung, mit idealer Schön-[107]heit, mit heiterer Ruhe und sittlicher Grazie verknüpft, im engsten Bunde5. Vergegenwärtigen wir uns das Ideal des Uebersetzers, so erscheint er uns als ein Organ längst entschwundener Geschlechter, als eine nachhallende Stimme, wodurch die Sänger und Weisen der Vorzeit, was sie in den schönern, höhern Stunden ihres Lebens gedacht und empfunden, als ein heiliges Erbe der Nachwelt mittheilen. Seiner Individualität entsagend, und mit umfassender Kenntniß der Sprache, der Geschichte und der Eigenthümlichkeiten des öffentlichen und häuslichen Lebens der Vorwelt ausgerüstet, schwingt er sich auf den Flügeln der Einbildungskraft in ihre dämmrische Fernen, und entwirft mit fester Künstlerhand die Nachbildungen ihrer Werke, die uns dann den Umriß und Gehalt der Urbilder mit größtmöglichster Treue offenbaren. Grade aber dieser Begriff der Treue schließt schon das Merkmal der genauesten Uebertragung, des ursprünglichen antiken Kolorits, in sich, und berechtigt uns vollkommen, es bei jeder auf Beifall des Kenners Anspruch machenden Dollmetschung zu erwarten. Was wäre unter andern auch wohl unnatürlicher, als wenn wir den patriarchalischen Herodotos die Sprache eines Johannes von Müller6 reden lassen wollten? Es wäre dies ein eben so arger Mißgriff, wie wenn die schlichte Ursprache des Liedes der Nibelungen ganz in die Meißner Mundart des 19ten Jahrhunderts umgesetzt würde. Der Geist und das Leben der alten Welt wird freilich am reinsten unmittelbar aus der ursprünglichen Form und Sprache ihrer Denkmale erkannt: nach [108] der Ursprache aber ist nur diejenige Uebertragung die lauterste Erkenntnißquelle, die sich mit möglichster Treue und Innigkeit an die Ursprache anschließt. Vergessen wir nur nicht, daß die Gipsabdrücke alter gehaltvoller Münzen immer nicht die alten Münzen selbst, so wenig als die vom Spiegel reflektirten Bilder wirklich die abgebildeten Gegenstände sind. Dennoch bleiben Uebersetzungen immerhin sehr schätzbare, reich beladene, leitende _____________ 5
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Vorschule der Aesthetik von Jean Paul. Erste Abtheilung, Seite 86. [Jean Pauls Vorschule der Ästhetik war 1804 erschienen. In §§ 17–20 bestimmt er das „Plastische oder Objektive“, „Schönheit oder Ideal“, „Ruhe und Heiterkeit“ sowie „sittliche Grazie“ als die Hauptfarben griechischer Dichter.] [Pudor meint den Schweizer Historiker Johannes von Müller (1752–1809), der freilich auch für seine archaisierende, nicht zuletzt an antiken Vorbildern geschulte Sprache bekannt war.]
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Kanäle, die Vorwelt und Nachwelt verbinden, sobald sie überall dem aufgestellten Ziele entgegenstreben. Ja, wenn die unübertrefflichen Werke hellenischer und römischer Geschichtschreiber, Redner und Weisen uns anleiten zur Humanität, wenn sie uns lehren die Idee des öffentlichen Lebens im großen alterthümlichen Sinne zu ergreifen und zu verwirklichen, wenn Lehrer und Erzieher überall die schöne und unverbrüchliche Pflicht auf sich haben, den allempfänglichen Jüngling anzuleiten, aus diesen geweiheten Quellen harmonisch vollendeter Menschheit zu schöpfen: dann lohnt es wohl der Mühe, dann, so weit als möglich, auch in der Sprache jüngerer Weltalter die alterthümliche und doch so lebendige jugendlich frische Farbe zu leihen, welche eine innige Sehnsucht und ein immer reges Streben nach denselben zu erwecken und zu beflügeln vermag. Ist nun diese Farbengebung in einzelnen Schriftwerken, so wie überhaupt der herrschende Ton in denselben auch noch so verschieden, spricht z. B. ein Thucydides nur in gedrängter Geistesfülle, während auf jedem Blatte der redselige Herodotos sich einer patriarchalischen Treuherzigkeit hingiebt, so kann dies unsere Aufgabe keineswegs zurückweisen, sondern nur schwieriger, nicht unauflöslich machen. [109] Es bleibt also nun die Frage zu beantworten, wie und durch welche Mittel jenes Kolorit des Antiken erzeugt werden könne. Viel schon ist namentlich bei Uebertragung Hellenischer Prosa, die wir hier vorzüglich zum Augenmerk wählen, gewonnen, wenn die in den Partikeln vorhandene oft kaum bemerkbare Ideenfülle erhalten, wenn eine treue Anfügung an die Wortfolge, an die Stellung der Mittelwörter, an den Periodenbau, und überhaupt an die Idionie der Urschrift erstrebt ist, so weit dies mit den allgemeinen Denk- und Sprachgesetzen und mit dem besondern Genius der Muttersprache vereinbar ist. Denn unter den mancherlei Vorzügen ihrer Bildungsfähigkeit, ist gewiß derjenige nicht der geringste, daß sie in freier Verbindung der Wörter und Sätze der Griechischen und Lateinischen um Weniges nachsteht, alle Zungen aber des neuern gebildeten Europa hierin weit hinter sich läßt. Nur ist Manches für die Prosa immer noch zu wenig beachtet geblieben. So hat man z. B. bei Uebertragung prosaischer Werke meistens unterlassen, die oft so nachdrucksvolle Versetzung des Beiworts hinter sein Hauptwort anzuwenden, der Voß, Göthe und Schiller doch gewissermaßen den Stempel der Volksthümlichkeit erwarben7. Dasselbe gilt von der Stellung der Zeitwörter, welche in unserer Sprache überhaupt nur durch ein steifes, als tief begründetes Gesetz verehrtes Herkommen an [110] den Schluß der Perioden als lästige Nachzügler verwiesen worden sind. Offenbar hat auch hierin der dem Lateinischen im Studium und in Schulen eingeräumte Vorzug vor dem Griechischen, dem Bildungsgange unserer Sprache geschadet. Zwar werden sich _____________ 7
Die Beiwörter den Hauptwörtern nachzusetzen, widerstreitet übrigens auch nicht einem uralten deutschen Sprachgebrauch. Belege dazu finden sich hinreichend in den schriftlichen Ueberresten des Mittelalters. Michaler hat in seinem Glossar zum Iwain eine besondere Rubrik der Adjectiva postposita. [110] Auch hebt jenes Heldengedicht sogleich mit einer solchen Wendung an: Wer an Zeite Guete Wendet sein Gemuethe Dem folget Gelde und Eere. Eben so an vielen Stellen des Niebelungen Liedes.
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für den Dollmetscher die Schwierigkeiten in dem Grade häufen, je höher er sein Ideal steigert. Aber bedeutungslos ist hier nichts, weder in einzelnen Theilen, noch in Verwebung des Ganzen, und sehr wahr ist, was ein neuerer scharfsinniger Uebersetzer sagt8: „Wenn die Hauptredetheile,“ so heißt es dort, „gleichsam die Osteologie der Sprache und des Periodenbaues bilden, so geben die Partikeln erst Geschmeidigkeit, Biegsamkeit, Fülle und zarte Wendungen, wozu ein bloßes Skelet sich nie erheben kann. Der Bau der Perioden ferner ist besonders bei den Attischen Rednern zu einer Vollendung gediehen, die wir im Deutschen bisher noch nicht erreicht haben, ja wovon wir noch so entwöhnt sind, daß uns oft die Zerschneidung und Viertheilung einer Hellenischen Periode ein Verdienst und eine Herstellung übersichtlicher Ordnung [111] zu seyn scheint; wer aber durch gründliches Bemühen das Ebenmaaß des reichen Gliederbaues und die große Mannigfaltigkeit des Rhythmus eingesehn und herausgehört hat, kann unmöglich mehr das Anatomische Seciren und Zerbröckeln eines lebendigen Kunstwerks als richtige Behandlungsart anpreisen.“
So Herr von Raumer. Und wer kann seinen Beifall solchen Ansichten versagen, die sich so augenscheinlich durch die That bewähren. Aber darin können wir nicht mit ihm übereinstimmen, wenn er bei der Schreibart der gewöhnlich vorkommenden Hellenischen Wörter und Namen die halb oder ganz Römische schon im Deutschen aufgenommene Form beibehielt, und sich nur bei dem Ungewöhnlichen näher an das Hellenische anschloß. Namen tragen als solche ein charakteristisches unwandelbares Gepräge, und lassen auch an ihrer Stelle rein und unverfälscht wiedertönen die Laute der Vorzeit. – Außerdem aber enthält jede Sprache einen Vorrath von Darstellungsmitteln, welche glücklich angewandt den Uebersetzungen die ihnen gebührende antike Farbengebung leihen. An die Bedingungen der Zeit gebunden hat jede Sprache eine Menge veralteter oder alternder Wortformen und Wortfügungen, die grade durch ihre Alterthümlichkeit denjenigen Eindruck der Einfalt, Würde und Großherzigkeit nicht verfehlen, den des Alterthums mustergültige Denkmale zu machen geeignet sind. Auch unsre Sprache ist hierin reich, und der Inbegriff des nach diesem Zwecke geordneten Sprachschatzes zu einem Ganzen harmonisch vereinigt, muß das Gefühl in einem Tone ansprechen, der demjenigen analog ist, in welchem ein [112] Erzeugniß der redenden Kunst in der Ursprache zum Gemüthe töne. Von einer solchen antiken Form der Darstellung ist freilich bei dem übrigens hoch verdienten Adelung nicht die Rede, und es würden hierüber allerdings neue von ihm abweichende Grundsätze aufzustellen seyn. Denn nur zu beschränkt und widersprechend sind von ihm die sogenannten Archaismen abgehandelt worden.9 Unglücklich genug vergleicht er sie mit veralteten Trachten und Sitten, entschließt sich indessen doch, sie im höhern und poetischen Styl anzuerkennen, um ihrer Würde und Vollkraft willen, ob er gleich _____________ 8
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Herr v. Raumer in seiner geistvollen Vorrede zur Uebersetzung der Reden des Aeschines und Demosthenes über die Krone. Berlin, bei Hitzig. [Vgl. Friedrich von Raumer, Die Reden des Aeschines und Demosthenes über die Krone oder wider und für den Ktesiphon übersetzt von Friedrich von Raumer, Berlin 1811, VII. – Raumer (1781–1873) war zu dieser Zeit Professor der Staatswissenschaften in Breslau und wurde später als Historiker bekannt.] [Vgl. Adelung, Ueber den deutschen Styl, 3., vermehrte u. verbesserte Auflage, Bd. 1, Berlin 1789, 81– 98, Abschnitt Veraltete Wörter und Formen, besonders S. 92–96.]
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so manchem herrlichen ausdrucksvollen Laute, wie: traun, befahren, frommen, bieder, Minne u. a. ein possierliches Aussehn abgewonnen hat. Unläugbar wird nach dem Gesetze der Ideen-Vergesellschaftung allein schon die ehrwürdige gemüthliche Sprachweise unserer Altvorderen dem Eindrucke hold seyn, den wir bei Auffassung und Mittheilung der Ueberreste Hellenischer Bildung bezwecken. Wir stehen dann gleichsam unter bemoosten Trümmern und heimathlichen Erinnerungsmahlen, die in unserer Einbildungskraft um so leichter und lebendiger zurückrufen die Bilder theuerer Zeiten und entschwundener verwandter Geschlechter. Ja, selbst die mittelmäßigen Kunstwerke des Alterthums werden nicht unwerth seyn einer solchen Wiederbelebung, da auch sie wie ein Heros10 der neuern Literatur sich vernehmen läßt, immer das Ideal der Klassicität, dem sie nachringen, durchschimmmern lassen. Woher anders leiten wir doch die Eindrücke ab, die selbst eine minder vollkommene Lateinische Uebertragung einer Griechischen Urschrift, [113] mehr noch als eine gleichgestaltete deutsche in dem Gemüthe des tiefer Geweihten zurückläßt? – Ist es nicht die Würde, welche schon an sich der Römersprache Eigenthum ist, ist es nicht der antike Geist, der darin fortlebt, ist es nicht die einer todten Sprache so eigenthümliche Macht, die nur mehr und mehr emporgehoben wird durch ihre Abgestorbenheit, nicht jene magische alterthümliche Ferne, aus welcher wir einen Anklang höherer Geister zu vernehmen scheinen, ist es nicht alles dieses im Verein, was ohne weitere Anwendung von Kunstmitteln dienet zu einer kräftigen und glücklichen Wiederbelebung des dem römischen durch Vorzeit und Abstammung verwandteren hellenischen Geistes? Sehen wir uns nun um nach einer parallelen Grenzlinie deutscher mit hellenischer Sprachweise; so läßt sich diese zwar nicht ganz scharf, aber doch nicht jenseits Luther und Ulrich von Hutten ziehen. Denn dieser freiherzige edle deutsche Mann stand Luthern am nächsten, indem er gleich ihm das Schwerdt der Rede zu schwingen von Kraft und Muth befeuert war. Möchten doch seine schriftlichen Ueberreste bald allgemeiner werden durch Sonnenblicke günstiger Zeiten. Selbst wenige Worte aus einem solchen Munde fordert die Nachwelt, als ein heiliges Vermächtniß. Nicht früher kann jene Grenzlinie deutscher Sprachweise beginnen. Denn wohl durchschimmern schon in Karl dem Großen, in Rabanus Maurus und Otfried hoffnungsvolle Sterne die düstere Nacht des Mittelalters; aber die durch mehrere Jahrhunderte währende Herrschaft erst der fränkischen, und dann der allemannischen Mundarten, so wie das hohe Ansehn und die allgemeine Verbreitung der lateinischen Sprache in [114] der Schriftstellerwelt, konnten der Ausbildung und Vervollkommnung einer allgemeinen deutschen Volks- und Büchersprache nicht anders als hinderlich seyn. Luther allein war zum Schöpfer der deutschen Prosa geboren, und sollte auch hierdurch sich selbst ein unvergängliches Denkmal errichten. Seine Verdeutschung der ältesten Urkunde des menschlichen Geschlechts war das erste deutsche Schriftwerk, das, ohne sich durch eine Mundart zu beschränken, in allgemeiner deutscher Schriftsprache abgefaßt wurde, und nun noch nach Jahrhunderten sein wohlverdientes Ansehn behauptet. Soll aber diese Kernsprache als Quelle zu unserm Zwecke dienen, so verschone man sie mit _____________ 10
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castigirten Formen und benutze sie so, wie sie ursprünglich rein und kraftvoll der Brust und den Lippen des Herrlichen entströmte11. Mit Recht gilt uns demnach seine Sprache als auf immer gestempelt für die Uebertragung alter schriftlicher Denkmale, die da Kunde geben von dem Leben und Weben der Urzeit. Nach ihm ging mit dem fast zu lange vergessenen Opitz12 eine neue Sonne auf für vaterländische Rede und Bildung. Nicht allein seine Poesie, sondern auch seine Prosa verdient ein ernsthafteres Studium, als dessen man ihn ge-[115]wöhnlich würdigt. Dieser Vater und Wiederhersteller deutscher Dichtkunst war es, der unsere Sprache nebst Luther am meisten begriff in ihren hohen Uranlagen, und sie durch Vertrautheit mit dem klassischen Alterthume gebildet, glücklich zu vervollkommnen strebte. Mitten unter den Stürmen des dreißigjährigen Krieges den Musen huldigend, wandelte er fest seine Bahn fort, that manchen kräftigen Zuruf an sein Vaterland, und errang sich also unsterbliche Lorbeeren. In seinen Werken, so wie in so manchen unserer älteren deutschen Schriftsteller, selbst in den oft ungerecht verrufenen Mystikern, liegt noch manches ungekannte Gold, wenn wir es nur vor aller Ueberverfeinerung zu unterscheiden vermögen. Auf der andern Seite kann die Wahl einer Mustersprache in unserer Literatur bei Uebertragung der höher vollendeten attischen Prosa nicht über unser Zeitalter hinausgehn. Wir leben allerdings in einem Zeitraum, wo auch die deutsche Prose eine höhere Vollendungsstufe erstiegen, wenn gleich ihre Ausbildung noch nicht abgeschlossen ist; in einem Zeitraume, der sich in mehr als einer Beziehung dem Jahrhundert des Demosthenes gegenüberstellt. Mit Recht glänzt unserm Vaterlande auch im Gebiete der Prosa ein Genius vor, den ein scharfsinniger Literator13 in wenig Worten also bezeichnet: Recentiorum poetarum antiquissimus.
Denn auch Göthe’s Prosa ist ausgestattet mit jener edlen Einfalt und stillen Würde, die stets über klassischer Gediegenheit waltet. An ihn reihen sich an die Namen: [116] Lessing, Reinhard, Garve, Engel, Johannes v. Müller, Schleiermacher, Krummacher _____________ 11
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Ueber die Ehrwürdigkeit der alten deutschen Luthersprache lese man Jahn’s kräftige Worte in dessen: Deutsches Volksthum Seite 161 etc. Eine trefflich durchgeführte Beurtheilung ihrer Gediegenheit findet sich auch in folgender, vielleicht zu wenig gekannten Schrift: W. A. Tellers vollständige Darstellung und Beurtheilung der deutschen Sprache in Luthers Bibelübersetzung. [Pudor bezieht sich auf Deutsches Volksthum (zuerst Lübeck 1810), eine wirkmächtige, für die frühe Nationalbewegung wegweisende Schrift des „Turnvaters“ Friedrich Ludwig Jahn, und auf die Vollständige Darstellung und Beurtheilung der deutschen Sprache in Luthers Bibelübersetzung (2 Bde., Berlin 1794/95) von dem Aufklärungstheologen Wilhelm Abraham Teller.] Man vergleiche die treffenden Worte, welche über ihn noch neulich Hegewisch im deutschen Museum von Friedrich Schlegel im Oktoberstücke 1812 gesprochen. [Dietrich Hermann Hegewisch, Leben des Dichters, Martin Opitz v. Boberfeld. Nebst Bemerkungen über seinen poetischen Charakter, in: Deutsches Museum 1812, 2. Bd., 116–157.] Jenisch in seinem Obelisk an der Grenzscheide des 18ten und 19ten Jahrhunderts. [Daniel Jenisch, Obelisk an die Gränzscheide des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts. Eine Lapidarschrift, Berlin 1801.]
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und die Brüder Schlegel,14 mit einigen wenigen Seltenen; denn es sind auf diesem Felde vielleicht noch mehr Kampfpreise zu erringen übrig, als in den Regionen der Sprache der Dichtung. Wenn nun auch der Uebersetzer der Meisterwerke der attischen Prosa sich die Sprache solcher Meister als Mustersprache vorhält, so wird er sich doch nur um so mehr alsdann seinem Ideale nähern, wenn er es sich überall zum Ziele macht, daneben durch treue Anfügung, so wie durch schickliche Benutzung früherer alterthümlicher deutscher Sprachweisen, seiner Darstellung eine antike Farbengebung zu leihen, und diese als ein belebendes Element vorherrschen zu lassen. Ohnedies gleichen die Uebertragungen den fremden Gewächsen südlicher Zonen, die, unter einen nördlichen Himmelsstrich verpflanzt, entarten aus ihrer heimischen Schönheit und Vollkraft. Vortrefflich hat unseres Erachtens der neueste Uebersetzer des Herodotos, Friedrich Lange, diese Ideen verwirklicht. Es war ein glücklicher Gedanke, daß ihm Luthers einfältige und kraftvolle Sprache der Darstellungsweise des Urvaters und Fürsten der Geschichte15 analog und zur Uebertragung desselben ganz geeignet schien, zumal, da auch jener ehrwürdige Urheber der Weltgeschichte unter allen seines Gleichen dem alttestamentarischen Zeitalter, das Luther durch seine Dollmetschung gefeiert, am nächsten lebte, und aus seinen kindlichen Erzählungen überall Spuren ähnlicher patriarchalischer Denkweise und Sitte hervorleuchten. Scheint auch an manchen Stellen [117] die einfache Ursprache hier wohl gar prächtig wiederzutönen, so liegt der Grund in der That in ihr selbst, und es verbürgt sich grade hiedurch die Kraft unverkünstelter Natur und die hohe Macht der Rede vollherziger Gemüther. – Und so stehe denn hier zum Schlusse eine Probe des schon erwähnten Langeschen Kunstwerks, um hieraus durch Anschauung und Vergleichung jeden unbefangenen Kenner des Alterthums und des deutschen Sprachschatzes selbst ein Ergebniß ziehen zu lassen. Mit vollem Rechte glauben wir Jacobi16 in die Reihe verdienstvoller Literatoren und geistvoller Dollmetscher der Denkmale hellenischer Kunst gestellt zu sehn: aber die Tonweise, die Lange gewählt, ist so ganz neu und abweichend; der Geist, der durch das Ganze beider weht, ein so ganz anderer, daß man in der Bearbeitung des einen kaum dasselbe Urwerk wiedererkennet, wenn man die des andern zuvor gelesen17. Wir heben _____________ 14
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[Deutlich wird an dieser Namensliste, dass Pudor der Philosophie und Theologie der Aufklärung stark verpflichtet war. Franz Volkmar Reinhard (1753–1812) war Theologe und bekannter Prediger der Aufklärung (Sämtliche Predigten, 42 Bde., 1815–1821). Friedrich Adolph Krummacher (1767– 1845) war ein reformierter Theologe, der auch Gedichte veröffentlichte. Christian Garve (1742– 1798), Philosoph der Aufklärung, Freund Moses Mendelssohns, hatte u. a. Ciceros De officiis und Aristoteles’ Ethik übersetzt und kommentiert. Johann Jacob Engel (1741–1802), Philosoph und Schriftsteller der Aufklärung, war lange in Berlin als Dozent, Privatlehrer (u. a. Wilhelm von Humboldts) und Theaterleiter tätig. Zu Johannes von Müller s. o. S. 86 Anm. 6.] Cicero de leg I,1. und de Orat. II,13. [Carl Wigand Maximilian Jacobi hatte wenige Jahre zuvor eine Herodot-Übersetzung veröffentlicht: Herodots Geschichte. Herodotus aus dem Griechischen übersetzt durch Maximilian Jacobi, 3 Bde., Düsseldorf 1799–1801.] Anziehend für den Sprachforscher wird hiebei die Vergleichung einer der frühesten deutschen Uebertragungen des Herodot von Georg Schwarzkopf (1593) seyn, worin sich manche merkwürdige
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das 86ste Kapitel und einen Theil des 87sten der Klio aus, ohne sorgfältige Auswahl. Es lobe das Werk den Meister. „Die Perser aber eroberten Sardis, und nahmen den Krösos lebendig gefangen, nachdem er König gewesen 14 Jahr, und war belagert worden 14 Tage, und hatte sein großes Reich zerstöret, gleichwie ihm der Götter Spruch geweissaget. Und die Persen griffen ihn und führten ihn vor den Kyros. Derselbige ließ einen Scheiter-[118]haufen aufthürmen und den Krösos darauf setzen in Ketten, und zweimal sieben Knaben der Lyder mit ihm. Er hatte dabei im Sinne, entweder der Götter einem sie zum Erstlingsopfer zu bringen, oder ein Gelübde zu bezahlen; aber er hatte auch erfahren, daß Krösos ein gottesfürchtiger Mann war, und nun wollte er doch sehen, ob irgend ein Gott ihn errettete, daß er nicht lebendig verbrannt würde. Also that er. Und Krösos, da er auf dem Scheiterhaufen stand, gedachte, obwohl er so unglücklich war, jener Worte Solons, der ihm wie aus göttlicher Eingebung gesagt, kein Mensch sei glücklich, dieweil er noch lebe. Und als er daran gedachte, siehe da kam er zu sich und seufzte nach langer Todesstille und rief dreimal: Solon! Als Kyros dieses hörte, sandte er die Dollmetscher hin und ließ fragen, wen er da anriefe. Krösos schwieg und antwortete ihnen nicht; endlich aber, da man heftig in ihn drang, sprach er: einen Mann, darum ich viel gäbe, wenn er zu allen Herrschern redete. Und wie er so undeutlich redete, fragten sie wiederum, was das heissen sollte. Da sie nicht müde wurden und immer ungestümer in ihn drangen, erzählte er, wie vor Zeiten Solon, ein Mann von Athenä, zu ihm gekommen, der alle seine Herrlichkeit gesehn und für nichts geachtet, und was er gesagt, das sei alles so gekommen wie er gesagt, und er habe nicht anders geurtheilet über ihn denn über alle Menschen, vornehmlich über die, so sich selber für glücklich hielten. Das erzählte Krösos. Der Scheiterhaufen aber war schon angezündet, und brannte an allen Enden. Und als Kyros von den Dollmetschern vernahm, was Krösos gesagt, reute es ihn, und er bedachte daß er, der doch selber ein Mensch war, [119] einen andern Menschen, welcher einst an Glück und an Herrlichkeit es ihm gleich gethan, lebendig dem Feuer überantwortete. Zudem auch fürchtete er die Vergeltung, und da er überlegte, daß nichts Beständiges sei im menschlichen Leben, befahl er das brennende Feuer zu löschen eilends, und herunterzunehmen den Krösos und die, so mit dem Krösos waren. Und als Krösos, erzählen die Lyder, Kyros Sinnesänderung erfuhr, und wie er sah, daß jedermann löschte an dem Feuer, keiner aber desselben vermochte Herr zu werden, da schrie er laut und rief den Apollon an, wenn er ihm je ein werthes Geschenk dargebracht, so möchte er ihm beistehn und ihn erlösen aus dieser Noth. Also schrie er zum Gott mit Thränen in den Augen. Und siehe! bei heiterer Luft und wolkenlosem Himmel zog sich urplötzlich ein Gewölk zusammen, und es stürzte ein Wetter herab und regnete mit unendlichem Regen. Also ward der Scheiterhaufen gelöscht.“ _____________ Uebereinstimmungen mit der Langeschen finden. Auch Degen in seiner Literatur der deutschen Uebersetzungen der Griechen hat sie gewürdigt. [Herodoti Des Allerfürnembsten vnnd ältesten Geschichtschreibers Historia […] auß der Griechischen Spraach in die Teutsche gebracht […] durch […] Georgium Schwartzkopff, Frankfurt a. M. 1593. Zu Degen s. u. S. 5 Anm. 4.]
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Möchte man diesen glücklich begonnenen Weg, wenn auch unter veränderten Bestimmungen, bei allen Uebertragungen hellenischer Geschichtschreiber, Redner und Weisen, weiter verfolgen. Gewiß würden geistvolle Uebersetzer, wie ein Wieland, Jacobi, Jacobs, Schleiermacher, v. Raumer,18 in ihren sonst so trefflich gelungenen Verdeutschungen sich einer noch höheren Vollendung genähert haben, wenn es ihnen gefallen hätte, ihren Kunstwerken auch diese Zauberfarbe zu leihen. Möchte zu dem Ende das Streben nach vertrauterer Bekanntschaft mit den Nationaldenkmalen altdeutschen Geistes und mit dem Leben und Weben unserer Väter in Sinn, in Rede und That immer allgemeiner sich regen, und sich mit segnendem Einflusse auch auf Ansicht [120] und Mittheilung der vollendeten Erzeugnisse des verbrüderten hellenischen Genius verbreiten, auf daß an dem stolzen Baume der Freiheit von Hellas, germanische Kraft sich festige und immer höher und höher emporranke. Vor allen aber müsse der mündliche und schriftliche Dollmetscher sein Urwerk mit rein menschlichem Sinne durchschauen, durchdenken und durchempfinden; nur weß das Herz voll ist, deß geht der Mund über. Denn nicht klare Anschauung und lichtvolle Einsicht allein, auch wahre und innige Mitempfindung und gemüthvoller Einklang, sind die Blumen, aus welchen die Muse dem Uebersetzer, wie er seyn sollte, den unverwelklichen Kranz windet. – Pudor.
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[Zu Raumer s. o. S. 88 Anm. 8, zu Jacobi S. 91 Anm. 16. Der Philologe Friedrich Christian Wilhelm Jacobs (1764–1847) übersetzte Demosthenes (Demosthenes Staatsreden, übersetzt und mit erläuternden Anmerkungen versehen von Friedrich Jakobs, Leipzig 1805), außerdem Velleius Paterculus (Des Cajus Vellejus Paterkulus römische Geschichte. Uebersetzt von Friedrich Jakobs, Leipzig 1793) und später Longus (Hirtengeschichten von Daphnis und Chloe in vier Büchern. Uebersetzt von Friedrich Jacobs, Stuttgart 1832).]
Wilhelm von Humboldt Wilhelm von Humboldt (1767–1835), Universalgelehrter und preußischer Staatsmann, war maßgeblich beteiligt an den Reformen des preußischen Bildungswesens und an der Gründung der Berliner Universität im Jahr 1810. Er hatte in Göttingen bei Christian Gottlob Heyne studiert und war mit Schiller befreundet. Die Übersetzung des Aischyleischen Agamemnon entstand seit den 1790er Jahren in immer neuen Umarbeitungen, anfangs im Austausch mit Friedrich August Wolf, ab 1808 begleitet durch eine Korrespondenz mit Gottfried Hermann. Hermanns Arbeiten zur Metrik Pindars gaben auch wesentliche Impulse für Humboldts Entscheidung, die erste, in fünfhebigen Jamben gehaltene Fassung in eine metrische Übersetzung umzuwandeln. Als nach zwei Jahrzehnte währender Arbeit die Übersetzung 1816 im Leipziger Verlag Fleischer gedruckt wurde, geschah dies unter der Aufsicht Hermanns. Neben Solgers Vorrede zur Sophokles-Übersetzung und Schleiermachers Akademierede ist Wilhelm von Humboldts Einleitung zur Agamemnon-Übersetzung der dritte für den übersetzungstheoretischen Paradigmenwechsel nach 1800 elementare Text. Humboldt weicht von der üblichen Bevorzugung des Sophokles ab und stellt den Aischyleischen Agamemnon als durch tragische Erhabenheit bedeutendste griechische Tragödie dar. Erhabenheit, Dunkelheit, Einfachheit und Schönheit sind zentrale Begriffe seiner Interpretation. Goethe reagierte befremdet: „So tritt doch eine solche uralte Riesengestalt, geformt wie Ungeheuer, überraschend vor uns auf, und wir müssen alle unsere Sinne zusammennehmen, um ihr einigermaßen würdig entgegen zu stehen“ (an Humboldt, 1. September 1816). Aus der hohen Auffassung des Stückes folgt bei Humboldt das Eingeständnis der Unübersetzbarkeit. Die Eigenart dieses Kunstwerkes verstärkt für ihn die ohnehin gegebene Inkommensurabilität der verschiedenen Sprachen. Dass dennoch übersetzt werden müsse, begründet Humboldt doppelt: mit der Notwendigkeit von Übersetzungen für Sprachunkundige und, wichtiger noch, mit der Notwendigkeit, die eigene Sprache und Literatur an fremden Kunstwerken zu bilden. Zentrale Forderung dazu ist genaue Treue gegenüber den Sprachformen und besonders der Metrik des Originals, was, so Humboldt, eine „gewisse Farbe der Fremdheit“ in Übersetzungen begründet.
[Vorrede] Aus: Aeschylos Agamemnon metrisch übersetzt von Wilhelm von Humboldt, Leipzig 1816, III–XXXVII.
Unter allen Werken der Griechischen Bühne kommt keines dem Agamemnon an tragischer Erhabenheit gleich. So oft man dies wundervolle Stück von neuem durchgeht, empfindet man tiefer, wie bedeutungsvoll jede Rede, jeder Chorgesang ist, wie alles Einzelne, wenn gleich äußerlich scheinbar locker verbunden, innerlich nach
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Einem Punkte hinstrebt, wie jeder aus zufälliger Persönlichkeit geschöpfte Bewegungsgrund entfernt ist, wie nur die größesten und dichterischsten Ideen die überall waltenden und herrschenden sind, und wie der Dichter dergestalt alles bloß Menschliche und Irrdische vertilgt hat, daß es ihm gelungen ist, das reine Symbol des menschlichen Schicksals, des gerechten Waltens der Gottheit, des ewig vergeltenden Verhängnisses hinzustellen, das unerbittlich Schuld durch Schuld so lange rächt, bis ein Gott mitleidsvoll die zuletzt begangene versöhnt. Dike und Nemesis, die beiden reinsten Götterbegriffe des Alterthums, an welche der einfach erhabne Sinn der Griechen die ganze Weltregierung knüpfte, so daß unter ihrer Leitung Begebenheit sich aus Begebenheit entwickelte, sind es, auf denen der ganze Sinn und Begriff der Dichtung ruht. Die früheste geschichtliche Ueberlieferung gestaltete sich in dem glücklichen Griechischen Geiste von selbst zum Stoffe der Kunst, ein Vorzug, der wohl hauptsächlich der in ihrem ersten Ursprung dichterischen Sprache zuzuschreiben ist, da die Form immer die Materie besiegt, die nur, wo jene mangelhaft ist, sich in ihrer rohen Un-[IV]beholfenheit hervordrängt; die Ereignisse in Argos, in Theben, in Ilion scheinen sich an einander zu reihen, wie der gelungenste Flug der Einbildungskraft sie auf der Bühne zu ordnen vermöchte. Das Geschlecht der Pelopiden gehört vorzugsweise zu diesen, ohne alle vorgängige Bearbeitung, dichterischen Stoffen. Eine Reihe schwerer Blutschuld folgt von Myrtilos Ermordung an auf einander; Atreus und Thyestes Zwist, die Schlachtung der Kinder des letzteren, Iphigenias Opfer, Agamemnons Ermordung; jeder der Strafbaren handelt weniger durch sich selbst, als vom Verhängniß getrieben, um Werkzeug der Strafe und der Rache zu seyn; endlich ahndet Orestes den Tod des Vaters an der eigenen Mutter, und nun setzen zwei heilende Gottheiten dem Frevel ein Ziel, versöhnen ihn, beschwichtigen die Eumeniden, und verbannen auf immer den „Wahnsinn des Wechselgemords“ aus dem Hause der Plistheniden. Aeschylos Tetralogie, der Agamemnon, die Choephoren und die Eumeniden, durchlaufen den ganzen letzten Theil dieser gräuelvollen Frevel, aber schon der Agamemnon allein enthält, in Erinnerung und Andeutung, die ganze Folge von ihrem Ursprunge an, die Kassandras Weissagungen auf die erhabenste Weise an einander knüpfen. Auch daß Orestes diesem Verderben den Gipfel aufsetzen wird, verkündigt sie, so daß das aufgeregte Gemüth schon in diesem Stück allein die Beruhigung findet, ohne die jede künstlerische Wirkung ihre wahre Auflösung vermißt. Neben der Frevelreihe der Pelopiden geht, nicht ohne Schuld von allen Seiten, der Krieg vor Ilion, und die Zerstörung der Stadt her. Paris hat durch die Entführung der Helena das Verderben über Troja gebracht; Agamemnon und Menelaos haben für die Beleidigung ihres Hauses ganz Griechenland in den [V] Kampf geführt, haben „unwilligen Muth den zum Tod Hinwandernden geweckt,“ und viele, für das Weib eines Andren Gefallene deckt feindlicher Boden. Diese doppelte Reihe von Ereignissen, von denen die eine nur den Argeiischen Königsstamm angeht, die andre ganz Griechenland und Asien, Alles, was die damalige Welt Großes kannte, umfaßt, verknüpft das Opfer der Iphigenia, und außer allem diesem wird das Haupt Agamemnons von der Last des Glückes, den bedeutendsten und langwierigsten Krieg, den man bis dahin erfahren hatte, beendigt zu haben, durch das Gewicht der Zerstörung einer Stadt uralter Macht und Reichthums, den Untergang eines großen und weitgepriese-
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nen Königsstammes niedergedrückt. So ist der zurückkehrende König, wie er seine Heimath betritt, wie mit nicht zu überspringenden Netzen umstellt. Väterschuld und eigne, heimlich schleichender Volkshaß und Neid des Schicksals ziehen ihn unwiederbringlich ins Verderben, und er fällt mehr vom Verhängniß, als dem Arm seines Weibes, die selbst wieder einem gleichen Geschicke entgegengeht. Obgleich der Begriff der Nemesis an mehr, als Einer Stelle, vorzüglich aber in dem Chorgesange, auf den das Erscheinen der Kassandra folgt, angedeutet ist, waltet doch der des strafenden Rechtes vor. Der Chor legt sogar hierüber seine Meynung an einer Stelle (v. 732–742.) ausdrücklich dar. Es ist ein irriger Wahn, sagt er, wenn man glaubt, daß auf das große Glück immer Unsegen folge; in dem Hause des Gerechten pflanzt es sich harmlos fort, und nur da, wo es mit Frevel gepaart ist, führt es von Stufe zu Stufe des Unheils. Diese ewig wachsame Gerechtigkeit der Gottheit, die machmal späte, aber immer unfehlbare [VI] Ahndung des Unrechts, die sich der Frevelhafte selbst durch die Verblendung zuzieht, in welche ihn die Uebelthat verstrickt, wird auf die mannigfaltigste und erhabenste Weise durch das ganze Stück gefeiert. Götterscheu und Frömmigkeit sprechen sich stärker und reiner, als in irgend einem andren, darin aus, und es ist überhaupt mehr, als sonst eines, reich an Lehren und Weisheitssprüchen. Es kommt dies großentheils von dem Vorwalten der lyrischen Formen her, da dem Chor viel mehr darin eingeräumt ist, als in den späteren Tragödien. Die Chorgesänge selbst aber sind, auf eine den Pindarischen ähnliche Weise, mit der kraftvollen, alterthümlichen Einfachheit behandelt, nicht in der durchgängigen Farbe milder und leichter Anmuth, wie bei Sophokles, obgleich auch diese sich in einzelnen Stellen findet, noch mit der Ueppigkeit der Bilder, die man in ihnen oft bei Euripides antrift. Klytämnestra ist der Hauptcharakter des Stücks, da eigentlich sie allein handelt. Im Anfange erscheint sie zwar listig und verstellt über einem tief versteckten Anschlag brütend, und bis zur Vollendung spielt der Dichter nur durch Andeutungen des Chores ihrer Entschuldigung vor, doch läßt sie selbst deutlich genug blicken, was sie vollenden will; aber nachdem die That geschehen ist, tritt sie frei und sicher, in schauderhafter Größe, mit ihrem Geständniß und ihrer Rechtfertigung ans Licht. Jeder Bewegungsgrund, der mehr in besondrer Individualität als dem einfachen Naturcharakter liegt, ist hier entfernt; einer Leidenschaft zu Aegisthos wird nirgend gedacht; gleiche Begierde sich zu rächen hat beide verbunden; sie erwähnt seiner nur als eines Beistandes, einer Stütze. Die einzige Triebfeder ihres Handelns [VII] ist der Schmerz um Iphigenia, den sie auch auf die natürlichste Weise, als das Gefühl der in ihren Hofnungen getäuschten Mutter, angiebt; mein Kind, sagt sie, hat er geopfert, die liebste meiner Wehen. Nur als ein hinzukommender Grund erscheint die Eifersucht auf Kassandra, und nur als eine Rechtfertigung auch ihrer Ermordung. Der Tod der Iphigenia ist der nächste Grund der ganzen Handlung des Stücks; die beiden Massen der Schuld und der Schicksalsmisgunst, die sich gegen Agamemnon aufthürmen, verknüpfen sich in ihm; daher fängt auch das Stück fast mit der Erzählung ihres Opfers an, und wie es die Art der ältesten Griechischen Dichter, und vorzüglich des Aeschylos ist, die Haupttriebfedern, so wie Alles, worauf die Wirkung vorzüglich berechnet wird, in großer Breite und Festigkeit hinzustellen, damit das Ganze sicher auf ihm ruhen könne, die weiteren Entwicklungen aber kurz zu behandeln; so ist dem Tode der Iphi-
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genia ein ganzer, und der längste Chorgesang gewidmet, der mit dem herrlichen Bilde der Abfahrt nach Ilion, eines erscheinenden Zeichens, und einer Weissagung des Kalchas beginnt. Die Freude, die ihr die Rache gewährt, führt Klytämnestra in der größesten Furchtbarkeit, und mit der bittersten Ironie aus; Iphigenia wird dem Vater bei den Schatten entgegen kommen, ihn am Acheron begrüßen, wie es der Tochter geziemt. Nirgend thut sie einen bedauernden Rückblick auf die That; sie ist nicht Agamemnons Weib gewesen, sie ist der Rachdämon des Geschlechts, das sich selbst den Untergang bereitet. Eine desto stärkere Wirkung bringt, gegen das Ende des Stücks, die Milde hervor, mit der sie sich, mit jedem Geschick zufrieden, wenn nur des ewig vergeltenden Gemordes ein Ende wird, nach Versöhnung sehnt, die aber erst dem zu [VIII] Theil werden kann, der bloß als Werkzeug, und auf den unmittelbaren Befehl der Gottheit gehandelt hat. Aegisthos tritt nur auf, um auch von seiner Seite zu beurkunden, daß er in dem Enkel den Frevel des Ahnherrn strafte. Sein ganzer Zwist mit dem Chor kann beim ersten Anblick überflüssig, und das Stück besser mit den letzten Anapästen, die Klytämnestra sagt, zu enden scheinen. Aber diese letzte Scene gleicht dem Schlußton eines Accords, ohne den die wahre Auflösung fehlen würde, vorzüglich in dem Gegensatz der Heftigkeit Aegisths, und der nun milden Klytämnestra, und in den schönen Versen: (1642. 1643. 1646. 1649.) Laß’ uns stiften neues Leid nicht, o der Männer theuerster! Schon zu mähen dieses Viele, ist uns Ernte jammervoll; – – – – was wir thaten, mußte seyn. Dieses ist des Weibes Rede, wenn Gehör ihr einer leiht.
Auf dieselbe Weise könnte man auch vielleicht die, sonst so dichterische Beschreibung der Trennung des Menelaos vom übrigen Heer durch einen Sturm für eine entbehrliche Episode halten. Aber die Frage mußte beantwortet werden, ob Menelaos nicht zurückkehrte, die That verhindern, oder rächen könnte? Außerdem war der Abfahrt beider Könige im ersten Chorgesange gedacht, es durfte bei der Rückkehr nicht bloß Einer genannt werden. Ein solches Streben nach dichterischer Symmetrie und Vollständigkeit ist der Griechischen Dichtung und Kunst besonders eigen. Agamemnon wird eben so sehr, und sogar mehr durch dasjenige gezeichnet, was seinem Erscheinen vorhergeht, als durch dies Erscheinen selbst. Er soll, als der größeste und glücklichste [IX] Sterbliche, den die Götter je mit Ruhm und mit Sieg gekrönt haben, auftreten. Dies wird durch die Erzählung von der Einnahme Trojas, dem Triumphzug des Heers nach der Heimath, der Freude, diese nach zehnjähriger Abwesenheit wiederzusehen, die sich in dem Herold auf eine so rührende Weise ausspricht, vorbereitet. Aber zugleich wird alle diese Erhabenheit, als den unmittelbar nachfolgenden Fall drohend, dargestellt. So tritt der König selbst auf, und nach wenigen Worten über die Größe des vollbrachten Unternehmens, und die Nothwendigkeit nunmehr Stadt und Haus zu ordnen, athmen alle seine Reden nur Besorgniß vor dem Neid und der Misgunst des Geschicks, Milde, wie gegen Kassandra, und die Sehnsucht, sein Leben fern von Glanz, in weiser Mäßigkeit und fröhlicher Heiterkeit zu beschließen. Dieser Wunsch, in bewegender Einfachheit, vor der, die ihm den Tod bereitet, und
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wenige Augenblicke, ehe sie die That vollendet, ausgedrückt, bringt die rührendste Wirkung hervor. Bei seinem Fall spricht er bloß die tödtlich empfangene Wunde aus. Das so meisterhaft behandelte Ausbreiten der Purpurteppiche wird nicht als eine mitwirkende Ursach, sondern nur als ein Bemühen Klytämnestras vorgestellt, den Neid der Götter und Menschen durch überirrdische Ehrenbezeigungen auf ihr Schlachtopfer zu häufen. Es macht, daß Agamemnons Stimmung, seine Neigung, die Last seines Ruhms und seiner Größe zu vermindern, sich besser aussprechen kann, und giebt zu einigen sehr dichterischen Schilderungen Anlaß. Kassandra füllt den schrecklichsten Moment des Stückes aus, den zwischen Agamemnons Eintritt in den Pallast, bei dem sein Schicksal nicht mehr zweifelhaft ist, und seiner Ermordung. [X] Nichts im ganzen Alterthum reicht an die Erhabenheit dieser Scene, ist gleich erschütternd und rührend. Die nun als Gefangene dienende Königstochter löst nach und nach ihr starres Schweigen; bricht erst in Wehklagen, bloße unarticulirte Laute und Ausrufungen, dann in Weissagungen aus; anfangs in dunkle; darauf, wo auch das Silbenmaß so schön und bedeutungsvoll von den wechselnden Chorweisen zu den festen und klaren Trimetern übergeht, entfernt sie jedes Dunkel; unverhüllt soll der Seherspruch der Sonne entgegen treten. Die furchtbarsten Bilder aus der Vorzeit des fluchbeladenen Hauses, in das sie, todbestimmt, gehen soll, wechseln mit den rührendsten ihrer Jugend, des Glücks, das sie ehemals genoß, des Untergangs ihrer Vaterstadt. Mit wenigen, aber den lebendigsten Zügen ist das Elend einer, immer Unglück verkündenden, aber nie von ihren Mitbürgern geglaubten Weissagerin gezeichnet; und über der ganzen Scene liegt, wie das Dunkel einer schwülen Gewitternacht, die düstre Farbe eines ewig drohenden Verhängnisses, unglückschwangrer Verheißungen. Kassandras Unglück, und das ihres Stammes ist rettungslos, und wendet sich nicht wieder zum Bessern. Das Geschlecht der Pelopiden dauert fort, und erhebt sich wieder, Zeus gedenkt noch nicht, es zu vertilgen, (v. 666.) aber dem Priamos brachten seine Frömmigkeit und seine Opfer kein Heil, die Götter sind von Ilion gewichen, es steigt nicht wieder aus der Asche empor. Die Schilderung eines solchen Unglücks findet ihre dichterische Auflösung nur in starrer Ergebung, in entschlossenem Umfassen des Unvermeidlichen. Auch antwortet der Chor auf alle Gründe, die Kassandra dafür anführt, daß sie dem vorausgesehenen Tode nicht zu entfliehen versucht: (v. 1278.) [XI] niemals vernehmen solches Wort die Glücklichen.
Die Chöre sind nur bis zu Agamemnons Eingehen in den Pallast, als Monologen, zwischen die Scenen gestellt. Von da aus schreitet die Handlung zu bewegt vor, und die Gesänge des Chors mischen sich den Scenen selbst ein. Die vier großen einzelnen Gesänge bereiten die Handlung vortreflich vor, und unterstützen ihren Gang. Der erste ist eine vollständige, aber lyrische Exposition des ganzen folgenden Stücks, von desto größerer Wirkung, als sie das hereinbrechende Unglück noch dunkel und ungewiß andeutet. Schon bei der Abfahrt der Atreiden zeigten sich zwar günstige, aber zugleich mit Sorge erfüllende Zeichen. Möge nicht kindrächender Groll im Hause zurückgeblieben seyn! Nun folgt eine ausführliche Schilderung des unseligen Opfers, das der Grund zur Rache ward, und ungewisse Ahndung der Zukunft. Der zweite und
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dritte beziehen sich auf den Krieg und den Untergang Ilions; jener, bei dem der Chor, da der Herold noch nicht erschienen ist, noch des Ausgangs nicht gewiß zu seyn glaubt, spricht mehr von dem Verluste, den Hellas erlitten, dem Murren des Volkes darüber, dem heimlich gegen die Atreiden schleichenden Haß; dieser, wo der Herold das große Vollbrachte verkündigt hat, und Agamemnon auftreten soll, stellt die Zerstörung der feindlichen Stadt, als die gerechte Ahndung für Paris Frevel dar. Der vierte, wo Klytämnestra, bei Agamemnons Eingehen in das Haus, eben den bedeutungsvollen Anruf an Zeus gerichtet hat, (v. 949. 950.) drückt nur verwirrte, dunkle Besorgniß und Schwermuth, unbestimmte Ahndung auf übermäßiges Glück folgenden Unheils aus. [XII] Der einzelnen Handlung des Stücks ist – und darauf beruht großentheils seine so mächtige Wirkung – ein ungeheurer Hintergrund gegeben. Von der ersten Scene an bis zum Erscheinen Agamemnons steht der ganze Troische Krieg mit allem Verderben, das er über einzelne Familien Griechenlands brachte, und allem Glanze, mit dem er die Nation verherrlichte, dem Zuschauer lebendig vor Augen; eine Fackelreihe verbindet in einer glanzvollen Nacht Asien und Europa. Dadurch daß der Dichter gerade diese Sage heraushob, gewinnt er nicht nur eine der reizendsten und dichterischsten Schilderungen, und erregt eine für seinen Zweck ungleich dankbarere Spannung der Erwartung auf die Bestätigung der ersten Verkündigung, sondern der Fall Ilions wird nun auch ungleich lebendiger vor die Einbildungskraft geführt, und der Gang des Ganzen erhält eine viel größere Raschheit durch das unmittelbar nachfolgende Erscheinen des Agamemnon, so daß man die schon im Alterthum gerügte Unwahrscheinlichkeit leicht der magischen Wirkung des Wundervollen verzeihen kann. Wenn man bedenkt, daß den Griechen, wie aus dem Anfang der Geschichte Herodots sichtbar ist, der Troische Krieg gleichsam als eine Vorbedeutung ihrer späteren Siege über die Perser galt, und daß die Entsündigung Orests der Anlaß wurde, daß Pallas selbst das angesehenste Gericht in Athen gründete, so fühlt man, wie auch diese Umstände die Wirkung des Stücks vermehrt haben müssen, so wenig es des hinzukommenden Interesses solcher historischen Beziehungen bedarf. Daß, wie so eben erwähnt ward, das Erblicken des Flammenzeichens und die Rückkehr Agamemnons nur durch wenige hundert, ohne Unterbrechung gesprochene und gesungene Verse [XIII] getrennt sind, wird den mit den Werken des Alterthums Vertrauten nicht wundern. Man würde sogar schon irren, wenn man bestimmt und fest annähme, daß Aeschylos die Rückfahrt hätte in Eine Nacht zusammendrängen, oder ihr die natürliche Zeit lassen wollen. Dem ersten widerspricht er nicht undeutlich in der Erzählung der Zerstreuung der Flotte durch einen Sturm, und durch die Schilderung des Herolds, wie das Heer auf seinem Zuge die Kriegsbeute den Tempeln angeheftet hat. (v. 565–567.) Das letzte würde gänzlich den schönen und raschen Gang des Stückes stören, in dem die durch das Fackelzeichen erregte zweifelnde Erwartung eine augenblickliche Auflösung fordert. Die Frage selbst konnte nicht in einem Dichter von Aeschylos Zeit entstehen, und es enthielt in seinem Begriff einer Tragödie keinen Widerspruch, den Agamemnon und sein Heer unmittelbar erscheinen zu lassen, ohne darum von der Länge oder Kürze seiner Fahrt Rechenschaft abzulegen. Die alten Kunstwerke verschmähen sehr häufig diese Sorgfalt, die einzelnen
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Glieder ihrer Darstellung auch gewissermaßen äußerlich, und wie es in der Natur zu seyn pflegt, zu verknüpfen. Auch die bildende Kunst benutzt diese Freiheit, und es ist ungefähr ebenso, wenn auf Basreliefs und geschnittenen Steinen die Pferde, auch in voller Bewegung, ohne alle Andeutung des Geschirres, bloß vor den Wagen gestellt sind. Die Alten konnten indeß auch leicht über solche Nebendinge hinweggehen, da sie es so meisterhaft verstanden, die Einbildungskraft bei den wesentlichen zu fesseln. Dies wird vorzüglich in lyrischen Dichtungen klar, die einen ganz andren, mehr aus dem Gemüth selbst herkommenden Zusammenhang fodern, als die an sich mehr, bei den Griechen aber, bei denen alles objectiv ist, nur auf andre [XIV] Weise objectiven epischen. Das Lyrische und Epische, das in der ausgebildeten Tragödie in dem Begriff einer, als augenblicklich gegenwärtig vorgestellten Handlung einzeln verschwindet, erscheint bei den Alten noch mächtig in ihr geschieden. Im Agamemnon waltet bei weitem das Lyrische vor, und indem vom ersten bis zum letzten Verse vorzüglich, aber doch nicht allein, durch den Chor, durch bloß gestaltlose Anregung von Empfindungen die entsprechende Stimmung im Zuschauer hervorgebracht wird, werden zugleich mit der größesten Festigkeit und Bestimmtheit auftretende Gestalten hingestellt, mehr einzeln, als in enger Verbindung, mehr still und ruhig, als in zu reger Bewegung, so daß vor der Einbildungskraft gewissermaßen eine Verbindung musikalischer und plastischer Eindrücke entsteht. Diese Verknüpfung der am meisten entgegengesetzten, aber an sich mächtigsten aller Künste ist der neueren Dichtkunst fremd, und so auffallend groß und ergreifend nur in Aeschylos und in Pindaros. Bei diesem ist es, der Natur seiner Dichtungen nach, vielleicht noch mehr der Fall; man erinnere sich nur an Iasons Erscheinen auf dem Markt von Iolkos, an den auf Zeus Scepter schlummernden Adler, und so viele andere Stellen; in diesem Sinne könnte man ihm wohl bestreiten, was er in einem andren so schön sagt, daß er kein Bildner ist, auf festem Fußgestell weilende Gebilde zu machen. Im Agamemnon wird das Gemüth durch die Besorgnisse des Chors, die dunkeln, aber immer furchtbaren Andeutungen Klytämnestras, die Wehklagen und Weissagungen Kassandras vom ersten Verse an, wie mit schwermüthigen Melodieen, mit trüben und schwarzen, aber unbestimmten Ahndungen erfüllt, und auf diesen Grund nun treten, auf ihm bewegen sich die gro-[XV]ßen, theils furchtbaren, wie Klytämnestra, theils herrlichen Gestalten, wie Agamemnon und Kassandra. Welcher schönere Gegenstand, auch für die plastische Kunst, könnte gedacht werden, als Kassandra auf dem Wagen des Mannes, der sie gefangen aus ihrer zerstörten Vaterstadt geführt hat, und vor der Thür des Pallastes, der ihm und ihr den Tod bringt! Hiermit übereinstimmend sind nun auch Sprache und Stil, nicht so zart verschmolzen, so geschmeidig, und sich dem Gespräch nähernd, wie bei Sophokles, aber einfach, kraftvoll, grandios, alterthümlich, manchmal selbst abgebrochen, dunkel und fast überreich. Ein solches Gedicht ist, seiner eigenthümlichen Natur nach, und in einem noch viel anderen Sinne, als es sich überhaupt von allen Werken großer Originalität sagen läßt, unübersetzbar. Man hat schon öfter bemerkt, und die Untersuchung sowohl, als die Erfahrung bestätigen es, daß, so wie man von den Ausdrücken absieht, die bloß körperliche Gegenstände bezeichnen, kein Wort einer Sprache vollkommen einem in einer andren gleich ist. Verschiedene Sprachen sind in dieser Hinsicht nur ebensoviel
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Synonymieen, jede drückt den Begriff etwas anders, mit dieser oder jener Nebenbestimmung, eine Stufe höher oder tiefer auf der Leiter der Empfindungen aus. Eine solche Synonymik der hauptsächlichsten Sprachen, auch nur (was gerade vorzüglich dankbar wäre) des Griechischen, Lateinischen und Deutschen, ist noch nie versucht worden, ob man gleich in vielen Schriftstellern Bruchstücke dazu findet; aber bei geistvoller Behandlung müßte sie zu einem der anziehendsten Werke werden. Ein Wort ist so wenig ein Zeichen eines Begriffs, daß ja der Begriff, ohne dasselbe, nicht entstehen, geschweige denn festgehalten werden kann; das unbe-[XVI]stimmte Wirken der Denkkraft zieht sich in ein Wort zusammen, wie leichte Gewölke am heitren Himmel entstehen. Nun ist es ein individuelles Wesen, von bestimmtem Charakter und bestimmter Gestalt, von einer auf das Gemüth wirkenden Kraft, und nicht ohne Vermögen sich fortzupflanzen. Wenn man sich die Entstehung eines Worts menschlicher Weise denken wollte (was aber schon darum unmöglich ist, weil das Aussprechen desselben auch die Gewißheit verstanden zu werden voraussetzt, und die Sprache überhaupt sich nur als ein Product gleichzeitiger Wechselwirkung, in der nicht einer dem andren zu helfen im Stande ist, sondern jeder seine und aller übrigen Arbeit zugleich in sich tragen muß, gedacht werden kann), so würde dieselbe der Entstehung einer idealen Gestalt in der Phantasie des Künstlers gleich sehen. Auch diese kann nicht von etwas Wirklichem entnommen werden, sie entsteht durch eine reine Energie des Geistes, und im eigentlichsten Verstande aus dem Nichts; von diesem Augenblick aber tritt sie im Leben ein, und ist nun wirklich und bleibend. Welcher Mensch, auch außer dem künstlerischen und genialischen Hervorbringen, hat sich nicht, oft schon in früher Jugend, Gebilde der Phantasie geschaffen, mit denen er hernach oft vertrauter lebt, als mit den Gestalten der Wirklichkeit? Wie könnte daher je ein Wort, dessen Bedeutung nicht unmittelbar durch die Sinne gegeben ist, vollkommen einem Wort einer andren Sprache gleich seyn? Es muß nothwendig Verschiedenheiten darbieten, und wenn man die besten, sorgfältigsten, treuesten Uebersetzungen genau vergleicht, so erstaunt man, welche Verschiedenheit da ist, wo man bloß Gleichheit und Einerleiheit zu erhalten suchte. Man kann sogar behaupten, daß eine Uebersetzung um so abweichen-[XVII]der wird, je mühsamer sie nach Treue strebt. Denn sie sucht alsdann auch feine Eigenthümlichkeiten nachzuahmen, vermeidet das bloß Allgemeine, und kann doch immer nur jeder Eigenthümlichkeit eine verschiedene gegenüberstellen. Dies darf indeß vom Uebersetzen nicht abschrecken. Das Uebersetzen, und gerade der Dichter, ist vielmehr eine der nothwendigsten Arbeiten in einer Literatur, theils um den nicht Sprachkundigen ihnen sonst ganz unbekannt bleibende Formen der Kunst und der Menschheit, wodurch jede Nation immer bedeutend gewinnt, zuzuführen, theils aber, und vorzüglich, zur Erweiterung der Bedeutsamkeit und der Ausdrucksfähigkeit der eigenen Sprache. Denn es ist die wunderbare Eigenschaft der Sprachen, daß alle erst zu dem gewöhnlichen Gebrauche des Lebens hinreichen, dann aber durch den Geist der Nation, die sie bearbeitet, bis ins Unendliche hin zu einem höheren, und immer mannigfaltigeren gesteigert werden können. Es ist nicht zu kühn zu behaupten, daß in jeder, auch in den Mundarten sehr roher Völker, die wir nur nicht genug kennen, (womit aber gar nicht gesagt werden soll, daß nicht eine Sprache ursprünglich besser, als eine andre, und nicht einige andren auf immer unerreichbar wären) sich Alles, das
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Höchste und Tiefste, Stärkste und Zarteste ausdrücken läßt. Allein diese Töne schlummern, wie in einem ungespielten Instrument, bis die Nation sie hervorzulocken versteht. Alle Sprachformen sind Symbole, nicht die Dinge selbst, nicht verabredete Zeichen, sondern Laute, welche mit den Dingen und Begriffen, die sie darstellen, durch den Geist, in dem sie entstanden sind, und immerfort entstehen, sich in wirklichem, wenn man es so nennen will, mystischen Zusammenhange befinden, welche die Gegenstände der [XVIII] Wirklichkeit gleichsam aufgelöst in Ideen enthalten, und nun auf eine Weise, der keine Gränze gedacht werden kann, verändern, bestimmen, trennen und verbinden können. Diesen Symbolen kann ein höherer, tieferer, zarterer Sinn untergelegt werden, was nur dadurch geschieht, daß man sie in solchem denkt, ausspricht, empfängt und wiedergiebt, und so wird die Sprache, ohne eigentlich merkbare Veränderung, zu einem höheren Sinne gesteigert, zu einem mannigfaltiger sich darstellenden ausgedehnt. Wie sich aber der Sinn der Sprache erweitert, so erweitert sich auch der Sinn der Nation. Wie hat, um nur dies Beispiel anzuführen, nicht die Deutsche Sprache gewonnen, seitdem sie die Griechischen Silbenmaße nachahmt, und wie vieles hat sich nicht in der Nation, gar nicht bloß in dem gelehrten Theile derselben, sondern in ihrer Masse, bis auf Frauen und Kinder verbreitet, dadurch entwickelt, daß die Griechen in ächter und unverstellter Form wirklich zur Nationallecture geworden sind? Es ist nicht zu sagen, wieviel Verdienst um die Deutsche Nation durch die erste gelungne Behandlung der antiken Silbenmaße Klopstock, wie noch weit mehr Voß gehabt, von dem man behaupten kann, daß er das klassische Alterthum in die Deutsche Sprache eingeführt hat. Eine mächtigere und wohlthätigere Einwirkung auf die Nationalbildung ist in einer schon hoch cultivirten Zeit kaum denkbar, und sie gehört ihm allein an. Denn er hat, was nur durch diese mit dem Talente verbundene Beharrlichkeit des Charakters möglich war, die denselben Gegenstand unermüdet von neuem bearbeitete, die feste, wenn gleich allerdings noch der Verbesserung fähige Form erfunden, in der nun, so lange Deutsch gesprochen wird, allein die Alten deutsch wiedergegeben werden kön-[XIX]nen, und wer eine wahre Form erschafft, der ist der Dauer seiner Arbeit gewiß, da hingegen auch das genialischste Werk, als einzelne Erscheinung, ohne eine solche Form, ohne Folgen für das Fortgehen auf demselben Wege bleibt. Soll aber das Uebersetzen der Sprache und dem Geist der Nation dasjenige aneignen, was sie nicht, oder was sie doch anders besitzt, so ist die erste Forderung einfache Treue. Diese Treue muß auf den wahren Charakter des Originals, nicht, mit Verlassung jenes, auf seine Zufälligkeiten gerichtet seyn, so wie überhaupt jede gute Uebersetzung von einfacher und anspruchloser Liebe zum Original, und daraus entspringendem Studium ausgehen, und in sie zurückkehren muß. Mit dieser Ansicht ist freilich nothwendig verbunden, daß die Uebersetzung eine gewisse Farbe der Fremdheit an sich trägt, aber die Gränze, wo dies ein nicht abzuläugnender Fehler wird, ist hier sehr leicht zu ziehen. Solange nicht die Fremdheit, sondern das Fremde gefühlt wird, hat die Uebersetzung ihre höchsten Zwecke erreicht; wo aber die Fremdheit an sich erscheint, und vielleicht gar das Fremde verdunkelt, da verräth der Uebersetzer, daß er seinem Original nicht gewachsen ist. Das Gefühl des uneingenommenen Lesers verfehlt hier nicht leicht die wahre Scheidelinie. Wenn man in ekler Scheu vor dem Ungewöhnlichen noch weiter geht, und auch das Fremde selbst vermeiden will, so
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wie man wohl sonst sagen hörte, daß der Uebersetzer schreiben müsse, wie der Originalverfasser in der Sprache des Uebersetzers geschrieben haben würde, (ein Gedanke, bei dem man nicht überlegte, daß, wenn man nicht bloß von Wissenschaften und Thatsachen redet, kein Schriftsteller dasselbe und auf dieselbe Weise in einer andren Sprache geschrieben haben würde) so zerstört man alles Ueberset-[XX]zen, und allen Nutzen desselben für Sprache und Nation. Denn woher käme es sonst, daß, da doch alle Griechen und Römer im Französischen, und einige in der gegebenen Manier sehr vorzüglich übersetzt sind, dennoch auch nicht das Mindeste des antiken Geistes mit ihnen auf die Nation übergegangen ist, ja nicht einmal das nationelle Verstehen derselben (denn von einzelnen Gelehrten kann hier nicht die Rede seyn) dadurch im Geringsten gewonnen hat? Dieser hier eben geschilderten Einfachheit und Treue habe ich mich, um nach diesen allgemeinen Betrachtungen auf meine eigene Arbeit zu kommen, zu nähern gesucht. Bei jeder neuen Bearbeitung habe ich gestrebt immer mehr von dem zu entfernen, was nicht gleich schlicht im Texte stand. Das Unvermögen, die eigenthümlichen Schönheiten des Originals zu erreichen, führt gar zu leicht dahin, ihm fremden Schmuck zu leihen, woraus im Ganzen eine abweichende Farbe, und ein verschiedener Ton entsteht. Vor Undeutschheit und Dunkelheit habe ich mich zu hüten gesucht, allein in dieser letzteren Rücksicht muß man keine ungerechte, und höhere Vorzüge verhindernde Forderungen machen. Eine Uebersetzung kann und soll kein Commentar seyn. Sie darf keine Dunkelheit enthalten, die aus schwankendem Wortgebrauch, schielender Fügung entsteht; aber wo das Original nur andeutet, statt klar auszusprechen, wo es sich Metaphern erlaubt, deren Beziehung schwer zu fassen ist, wo es Mittelideen ausläßt, da würde der Uebersetzer Unrecht thun, aus sich selbst willkührlich eine den Charakter des Textes verstellende Klarheit hineinzubringen. Die Dunkelheit, die man in den Schriften der Alten manchmal findet, und die gerade der Agamemnon vorzüglich an [XXI] sich trägt, entsteht aus der Kürze, und der Kühnheit, mit der, mit Verschmähung vermittelnder Bindesätze, Gedanken, Bilder, Gefühle, Erinnerungen und Ahndungen, wie sie aus dem tief bewegten Gemüthe entstehen, an einander gereiht werden. So wie man sich in die Stimmung des Dichters, seines Zeitalters, der von ihm aufgeführten Personen hineindenkt, verschwindet sie nach und nach, und eine hohe Klarheit tritt an die Stelle. Einen Theil dieser Aufmerksamkeit muß man auch der Uebersetzung schenken, nicht verlangen, daß das, was in der Ursprache erhaben, riesenhaft und ungewöhnlich ist, in der Uebertragung leicht und augenblicklich faßlich seyn solle. Immer aber bleiben Leichtigkeit und Klarheit Vorzüge, die ein Uebersetzer am schwersten, und nie durch Mühe und Umarbeiten erringt; er dankt sie meistentheils einer ersten glücklichen Eingebung, und ich weiß nur zu gut, wieviel meine Uebersetzung mir hierin zu wünschen übrig läßt. Bei der Berichtigung und Auslegung des Textes habe ich mich der Hülfe des Herrn Professors Hermann erfreut. Mit einer neuen Ausgabe des Aeschylos beschäftigt, hat mir derselbe die Freundschaft erzeigt, mir von seiner Bearbeitung des Aga-
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memnons alles mitzutheilen, was mir bei der Uebersetzung nützlich seyn konnte.1 Durch diese gütige Unterstützung, ohne die ich, vorzüglich die Chorgesänge nie gewagt haben würde, dem Publicum vorzulegen, bin ich in Stand gesetzt worden, meiner Uebersetzung einen durchaus neu geprüften Text zum Grunde zu legen, und jeder Kundige wird bald gewahr werden, wieviel glückliche Veränderungen einzelne Stellen erhalten, wieviel außerdem die Chöre und Anapaestischen Systeme durch richtigere Versabtheilung gewonnen haben. Die sich auf den Sinn beziehenden Verän[XXII]derungen des Textes sind in den Anmerkungen von Herrn Professor Hermann selbst kurz angegeben worden, die das Metrum betreffenden zeigt die Vergleichung der Uebersetzung mit den vorigen Ausgaben. Diesem Texte bin ich nunmehr auch so genau, als es mir möglich war, gefolgt. Denn ich habe von jeher die eklektische Manier gehaßt, mit welcher Uebersetzer manchmal unter den hundertfältigen Varianten der Handschriften und Verbesserungen der Kritiker, nach einem nothwendig oft irre leitenden Gefühl, willkührlich auswählen. Die Herausgabe eines alten Schriftstellers ist die Zurückführung einer Urkunde, wenn nicht auf ihre wahre und ursprüngliche Form, doch auf die Quelle, die für uns die letzte zugängliche ist. Sie muß daher mit historischer Strenge und Gewissenhaftigkeit, mit dem ganzen Vorrath ihr zum Grunde liegender Gelehrsamkeit, und vorzüglich mit durchgängiger Consequenz unternommen werden, und aus Einem Geiste herfließen. Am wenigsten darf man dem sogenannten ästhetischen Gefühl, wozu gerade die Uebersetzer sich berufen glauben könnten, darauf Einfluß gestatten, wenn man (das Schlimmste, was einem Bearbeiter der Alten begegnen kann) nicht dem Text Einfälle aufdringen will, die über kurz oder lang andren Einfällen Platz machen. Auf den metrischen Theil meiner Arbeit, vorzüglich auf die Reinheit und Richtigkeit des Versmaßes, da diese die Grundlage jeder andren Schönheit ist, habe ich soviel Sorgfalt, als möglich, gewandt, und ich glaube, daß hierin kein Uebersetzer zu weit gehen kann. Der Rhythmus, wie er in den Griechischen Dichtern, und vorzüglich in den dramatischen, denen keine Versart fremd bleibt, waltet, ist gewissermaßen eine Welt für sich, auch [XXIII] abgesondert vom Gedanken, und von der von Melodie begleiteten Musik. Er stellt das dunkle Wogen der Empfindung und des Gemüthes dar, ehe es sich in Worte ergießt, oder wenn ihr Schall vor ihm verklungen ist. Die Form jeder Anmuth und Erhabenheit, die Mannigfaltigkeit jedes Charakters liegt in ihm, entwickelt sich in freiwilliger Fülle, verbindet sich zu immer neuen Schöpfungen, ist reine Form, von keinem Stoffe beschwert, und offenbart sich an Tönen, also an dem, was am tiefsten die Seele ergreift, weil es dem Wesen der inneren Empfindung am nächsten steht. Die Griechen sind das einzige Volk, von dem wir Kunde haben, dem ein solcher Rhythmus eigen war, und dies ist, meines Erachtens, das, was sie am meisten charakterisirt und bezeichnet. Was wir bei andren Nationen davon antreffen, ist unvollkommen, was wir, und selbst (wenn man einige wenige, bei ihnen sehr gelungene Versarten ausnimmt) die Römer besitzen, nur Nachhall, und zugleich schwacher _____________ 1
[Gottfried Hermann war zu dieser Zeit mit Vorbereitungen zu einer Aischylos-Edition beschäftigt, die allerdings erst 1852 erschien.]
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und rauher Nachhall. Man hat bei Beurtheilung der Sprachen und Nationen viel zu wenig auf die gewissermaßen todten Elemente, auf den äußeren Vortrag geachtet; man denkt immer Alles im Geistigen zu finden. Es ist hier nicht der Ort dies auszuführen; aber mir hat es immer geschienen, daß vorzüglich der Umstand, wie sich in der Sprache Buchstaben zu Silben, und Silben zu Worten verbinden, und wie diese Worte sich wieder in der Rede nach Weile und Ton zu einander verhalten, das intellektuelle, ja sogar nicht wenig das moralische und politische Schicksal der Nationen bestimmt, oder bezeichnet. Hierin aber war den Griechen das glücklichste Loos gefallen, das ein Volk sich wünschen kann, das durch Geist und Rede, nicht durch Macht und Thaten herrschen will. Die Deutsche Sprache [XXIV] scheint unter den neueren allein den Vorzug zu besitzen, diesen Rhythmus nachbilden zu können, und wer Gefühl für ihre Würde mit Sinn für Rhythmus verbindet, wird streben, ihr diesen Vorzug immer mehr zuzueignen. Denn er ist der Erhöhung fähig; eine Sprache muß, gleich einem Instrument, vollkommen ausgespielt werden, und noch mehr Uebung bedarf das Ohr vieler, durch die Willkühr der Dichter irre gewordener, auch an nicht so häufig vorkommende Versmaße weniger gewöhnter Leser. Ein Uebersetzer, vorzüglich der alten Lyriker, könnte oft nur gewinnen, indem er sich Freiheiten erlaubte; wenige werden ihm in den Chören genau genug folgen, um den richtigen, oder unrichtigen Gebrauch einer Silbe zu prüfen; ja bei gleicher Richtigkeit ziehen, wie schon Voß sehr wohl bemerkt hat, viele eine gewisse Natürlichkeit einer höheren Schönheit des Rhythmus vor. Allein hier muß ein Uebersetzer Selbstverläugnung und Strenge gegen sich ausüben; nur so wandelt er in einer Bahn, auf der er hoffen kann, glücklichere Nachfolger zu haben. Denn Uebersetzungen sind doch mehr Arbeiten, welche den Zustand der Sprache in einem gegebenen Zeitpunkt, wie an einem bleibenden Maßstab, prüfen, bestimmen, und auf ihn einwirken sollen, und die immer von neuem wiederholt werden müssen, als dauernde Werke. Auch lernt der Theil der Nation, der die Alten nicht selbst lesen kann, sie besser durch mehrere Uebersetzungen, als durch eine, kennen. Es sind ebensoviel Bilder desselben Geistes; denn jeder giebt den wieder, den er auffaßte, und darzustellen vermochte; der wahre ruht allein in der Urschrift. Zuerst habe ich es dahin zu bringen gesucht, daß auch der ungeübtere Leser über das Silbenmaß nicht zweifelhaft bleiben [XXV] könne. Es giebt im Deutschen eine große Anzahl mittelzeitiger Silben, die nicht allein ohne Nachtheil, sondern auch mit Erhöhung der Mannigfaltigkeit des Wohllauts bald kurz, bald lang gebraucht werden können. In hexametrischen, und überhaupt in allen Gedichten, wo dieselbe Versart durchaus, oder doch mit wenigen Unterbrechungen fortgeht, setzt sich der Rhythmus in dem Ohre so fest, daß jeder nur irgend geübte Leser, ohne Schwierigkeit, erkennt, wie er Länge und Kürze auf die mittelzeitigen Silben zu vertheilen hat. Allein wo, wie in einer Griechischen Tragödie, die mannigfaltigsten Versfüße verbunden sind, ist kein Leser im Stande, das richtige Maß aufzufinden, wenn ihm der Dichter nicht dadurch zu Hülfe kommt, daß er sich an festere Regeln hält, als sonst nothwendig scheinen. Selbst die Alten erlauben sich die Verlängerung einer kurzen Silbe durch die Arsis des Verses meistentheils nur im daktylischen Metrum. Ich habe es mir daher zum Grundsatz gemacht, die mittelzeitigen Silben an den Stellen des Verses, die ein bestimmtes Maß erheischen, mit äußerst wenigen Ausnahmen, entweder immer lang, oder immer
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kurz zu gebrauchen. Pronomina und Praepositionen habe ich schlechterdings immer verkürzt, diejenigen Stellen ausgenommen, wo ihnen der Sinn selbst vorherrschende Länge giebt, die es mir daher auch überflüssig geschienen hat, durch verschiedenen Druck, wie sonst gewöhnlich ist, herauszuheben. Der Trimeter gewinnt noch außerdem ungemein, wenn alle nothwendige Längen und Kürzen in ihm recht bestimmt gegen einander abstehen. Die aus der Mittelzeitigkeit vieler Silben entstehende Mannigfaltigkeit kann er doch in den unbestimmt bleibenden Stellen benutzen. Conjunctionen, welche die auf sie folgenden Sätze regieren, wie als, [XXVI] oder gewissermaßen elliptisch den vorhergehenden in sich enthalten, wie denn, habe ich meistentheils lang gebraucht. Einige habe ich versucht, nach der Art der Griechen, dem Sinn der Rede gemäß, enklitisch, oder betont, zu behandeln. So nun und nur z. B. lang im Trimeter v. 311. 312. jetzt möcht’ ich unaufhörlich dieses Wort, wie du es hier erzählst, bewundernd hören nur von dir
ich möchte nichts andres thun, als immer aufs neue von dir hören. Dagegen kurz in dem aufgelösten Dochmischen 1126. Verse: wo nur entspringt der Pfad göttlicher Kunde dir?
Ich muß es dahingestellt seyn lassen, ob dies Beifall finden dürfte, aber wenigstens wird man Uebereinstimmung mit mir selbst antreffen. Mittelzeitige Endsilben, wie -bar und -sam, habe ich nur höchst selten lang gebraucht. Bei dieser Vorsicht, das Versmaß nicht zweifelhaft werden zu lassen, und namentlich bei der beständigen Verkürzung der Pronominum und Praepositionen war eine andre Klippe zu vermeiden, nicht durch Verkürzung solcher Silben, die durch ihre Elemente und deren Verbindung eine Verlängerung in der Aussprache bewirken, wie uns, mir, ihm u. a. m. das Ohr zu beleidigen. In den Trimetern lassen sich diese Silben in die unbestimmten Stellen des Verses vertheilen, allein bei den übrigen Versarten ist dies selten möglich. Doch habe ich durch nie kurz, auch immer lang gebraucht. Zu Anfangssilben der Anapästischen Verse hätte ich gern noch seltner Silben genommen, die, ungeachtet ihrer entschiednen Kürze, doch, bei der hinzukommenden Hebung des Versanfanges, leicht im Lesen zu lang gehalten werden. Diese Gewohnheit der Hebung ist aber, wenn Anapästen und Chorverse richtig gelesen werden sollen, [XXVII] durchaus zu verbannen. In den Griechischen Namen habe ich mich so nah, als möglich, an die Geltung der Griechischen Silben gehalten. Daher sind Agamemnon, Menelaos immer wie dritte Paeone, nie wie Ditrochaeen zu lesen. Bei dem Namen Klytämnestra, der ein erster Epitritus ist, und bei uns, wegen der Senkung der Endsilbe ein Antispast werden würde, habe ich eine vielleicht willkührlich und hart erscheinende Ausnahme gemacht, da ich ihn auch als einen dritten Paeon behandle. Allein da kein Deutscher Leser den Namen Klytaémnéstrá aussprechen wird, und im Anapästischen Verse die erste Länge des Namens immer hätte in eine Tonhebung fallen müssen, wie z. B. Du von Tyndaros Stamm, o Klytämnestra,
so hätte er in diesem nie einen Platz finden können. Da eben dies der Fall mit jedem Antispastischen Worte im Deutschen ist, so habe ich auch Alexandros als dritten
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Paeon brauchen müssen. Strophios und Priamos müssen, da wir keine aus zwei, oder mehreren Kürzen bestehende Wörter haben, noch, unsrer Tonsetzung nach, aussprechen können, bei uns Daktylen werden. Allein so wie in Deutschen Ableitungen denselben Namen eine lange Silbe zuwächst, habe ich die ursprüngliche Kürze der Endsilbe wieder eintreten lassen; und so hoffe ich, wird niemand folgenden Vers: (525.) so büßten zwiefach die Priamiden ihre Schuld
so lesen, daß er zwiefach zum Trochaeus machte. Von der Regel, die Endsilbe zweisilbiger, von einer Länge anhebender Namen zu verkürzen, habe ich mir nur einmal eine Ausnahme v. 151. erlaubt, wo ich Kalchas als zwei Längen, deren erste einen Spondeus beschließt, die zweite einen Daktylus an-[XXVIII]hebt, zu brauchen versucht habe. Atreus hat mir geschienen immer als Spondeus gelten zu müssen. Was die Schönheit aller Verse so sehr erhöht, allein vorzüglich den Trimetern des Aeschylos soviel Kraft und Größe giebt, die harmonische Vertheilung und Verschränkung der rhythmischen und prosodischen Einschnitte, und die Sorgfalt für vollklingende Wortfüße ist im Deutschen überaus schwer, und in der gleichen Vollkommenheit unmöglich zu erreichen. Ich habe nach meinen Kräften dahin gestrebt, und wenigstens die allzuhäufigen einsilbigen Ausgänge zu vermeiden gesucht, welche die Natur unsrer Sprache und Construction bis zum Ueberdruß herbeiführt. Der Abschnitt nach der sechsten Silbe, wo er der einzige ist, muß allerdings im Trimeter vermieden werden. Allein neben einem andren, überwiegenderen, schadet er dem Verse nicht, der, seinem übrigen Bau nach, nicht leicht mit dem gewöhnlichen Alexandriner verwechselt werden kann. Auch die griechischen Tragiker haben diesen Abschnitt, und in einigen Versen diesen allein. Ein wahrer Alexandriner ist v. 44. in Sophokles Elektra. Den von Porson gerügten Abschnitt nach der ersten Silbe des fünften Fußes, wenn diese lang ist, habe ich mehr vermieden, weil er den Vers fast immer schwerfällig macht, als weil er nicht bei den Tragikern gefunden würde. Daß er sogar häufig, und wenn man auch die Regel ganz gelten lassen will, als gesetzmäßige Ausnahme steht, wenn die folgende Länge ein einsilbiges Wort ist, leidet keinen Zweifel. Der Anapästische Vers schließt zwar, auch wenn kein Daktylus unmittelbar vorhergeht, einigemal bei Aeschylos mit einem Daktylus. Allein man muß diese wenigen Fälle doch wohl als Ausnahmen ansehen, da es bei Sophokles nur ein einzigesmal [XXIX] (Oed. Col. v. 235.) und nicht in einem rein Anapästischen System vorkommt. Auch hat dieser Ausgang, vorzüglich, wenn der Schlußdaktylus auf einen Anapästen folgt, wirklich etwas dem Ohr Ungefälliges. Ich habe mir ihn daher nie erlaubt. In der Art, wie die Anapästen in die Wortfüße einschneiden, habe ich bei den Tragikern eine Regel bemerkt, die es im Deutschen fast unmöglich seyn würde, nachzuahmen. Sie verlangen nemlich, daß, wenn die letzte Silbe des Anapästen ein einsilbiges Wort ist, auch die erste ein Wort ausmache, oder beginne wie v. 90. der im Kreis des Olymps
und Anapästen, wo in diesem Fall die erste, oder gar die beiden ersten Silben Endsilben des vorhergehenden Wortes sind, wie v. 45. zu der Hülfe des Kriegs von dem heimischen Land
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finden sich bei Aeschylos und Sophokles2 nur äußerst selten, häufiger bei Euripides, und bei Aristophanes so oft, daß sie nicht mehr angezeigt zu werden verdienen. Bei den Chorversen habe ich mich nie begnügt, die Längen und Kürzen gleichsam mechanisch nachzuahmen, sondern bin immer von der Festsetzung des Silbenmaßes ausgegangen. Nur so läßt sich der Rhythmus bewahren, und nur so ist es möglich, die Aenderungen anzubringen, welche das Versmaß erlaubt. Auf diese Weise aber widersetzt sich unsre Sprache auch der regelmä-[XXX]ßigsten Nachbildung keiner Versart. Mit den Abänderungen muß man jedoch behutsam umgehen; die Tragiker erlauben sich dieselben in den Chören nicht häufig, und der Grund dieser Stätigkeit scheint mir großentheils in dem Bau ihrer Strophen zu liegen. Mehrere Verse (Cola) haben, vorzüglich, wenn nicht zuviele Füße in denselben auf einander folgen, eine oft so große Aehnlichkeit unter einander, daß sie, als zu mehreren Versarten zugleich gehörig angesehen werden können. Sie verlieren aber diese Aehnlichkeit, wenn man sie nach den Gesetzen einer von diesen umändert, oder behalten sie wenigstens nicht bei jeder Umwandlung bei. So kann z. B. v. 1132. froh ich genährt empor
sowohl ein logaödischer, als ein choriambischer, und dochmischer Vers seyn. Aendert man ihn aber, nach den Gesetzen dieser letzteren Versart, so um: froh ich genährt aufwuchs
oder froh ich und ungetrübt war
so entfernt er sich gänzlich von den beiden ersteren Versarten. Nun scheint es Grundgesetz bei der Zusammenfügung der Strophe zu seyn, bei der Verbindung verschiedener Versmaße lieber die einander ähnlichen, als unähnlichen Formen zu wählen; ja manchmal wird durch solche, zwei Silbenmaßen zugleich angehörenden Verse der Uebergang von einem zum andren gleichsam vorbereitet. Zu einem Beispiel kann die dritte Strophe des ersten Chorgesangs dienen. (v. 185–197.) Sie fängt mit Iamben an, hat in der Mitte (v. 189.) einen bestimmt Antispastischen Vers, und schließt mit einem rein Choriambischen System. Die allge-[XXXI]meine Verwandtschaft dieser Silbenmaße liegt im Iambus, der sich eben so gut dem Antispasten, als dem Choriamben anschließt. Daher auch zwei bloß Iambische, und sich keinem andren Versmaß nähernde Verse (187. 191.) eingeschoben sind. Allein für die übrigen Iambischen Verse sind nur solche Formen gewählt, die auch Antispastische seyn könnten, und das Choriambische System wird durch zwei Verse (192. 193.) die den Choriamben und Antispasten zugleich angehören, eingeführt. Diese kunstvolle Harmonie stört nun der Uebersetzer, der sich in solchen Fällen auch sonst ganz erlaubte Aenderungen verstattet, und man dürfte, wenn man vollkommene Genauigkeit erreichen könnte, dies also nur da thun, wo auch solche Gründe nicht eintreten. Ein merkwürdiges Beispiel der _____________ 2
Zu diesen seltnen Ausnahmen gehören Aesch. Persae v. 47. Agam. v. 1555. wo aber das einsilbige Wort es nur durch Apostrophirung wird, Choeph. v. 1007. Soph. Aj. v. 104. wo aber die beiden kurzen Silben in eine lange zusammengezogen werden können, Phil. v. 491.
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Stätigkeit der Verse in den Chören giebt ein Vers, den Aeschylos im Agamemnon oft gebraucht, und der in folgenden Gestalten vorkommt: v.
234 Wie sonst nach Anrede, weil 231. und sanft des Mitleids Geschosse 363. zu achten nicht derer, sagt einer wohl 220. da achtet nicht mehr des Vaters Wehruf 190. und Argos Volks Blüthe welkte matt dahin.
Diese Verse können Antispastische, oder Asynarteten aus bloß Iambischen, oder zugleich aus Iambischen und Trochaeischen Versen seyn. Allein wenn man alle Stellen, wo sie vorkommen, mit einander vergleicht, so bleibt schwerlich ein Zweifel übrig, daß der Anfang in allen ein zweisilbiger überzähliger Iambischer Vers ist, an den sich bald (v. 220.) ein ganz gleicher, bald (v. 190.) ein dreifüßiger, bald ein einzelner Iambus, mit (v. 231.) oder ohne (v. 234.) eine überschießende Silbe, bald aber (v. 363.) ein Antispast [XXXII] anschließt. Hiernach wäre also die fünfte Silbe gleichgültig, sie ist aber bis auf v. 754. beständig lang, wovon mir der Grund bloß darin zu liegen scheint, daß der Dichter in diesen, übrigens bloß Iambischen Asynarteten die den Antispastischen Versen, mit denen er sie in derselben Strophe verband, ähnliche Form bewahren wollte. Ich bin daher nur ungern in drei Stellen davon abgewichen. Selbst was auf den ersten Anblick durchaus gleichgültig scheint, beruht manchmal auf nicht zu vernachlässigenden Gründen. So z. B. erlaubt der Antispastische und Dochmische Vers unbedenklich die Auflösung jeder der beiden Mittellängen des Antispasts in zwei kurze Silben, und bei aufgelösten die Zusammenziehung solcher zwei Kürzen in eine Länge. In der Scene der Kassandra, und in der vorletzten des ganzen Stücks, der mit der Klytämnestra, in welchen beiden der dochmische Rhythmus vorherrschend ist, sind fast alle Antispasten ganz, oder zum Theil in Kürzen aufgelöst, was im Deutschen wegen der nothwendigen Bewahrung des Rhythmus, da die erste der beiden aus der Auflösung der Länge entstandenen Kürzen immer betont seyn muß, manche Schwierigkeit findet. Dennoch war es schlechterdings nothwendig, in diesen Scenen soviel Auflösungen, als möglich, auch in der Uebersetzung, beizubehalten, da gerade durch diese Auflösungen der klagende und jammernde Charakter verstärkt wird, der diese Scenen bezeichnet. Dieser Bewahrung des Rhythmus durch richtige Tonsetzung muß ich noch mit einigen Worten gedenken. Es ist jetzt wohl allgemein anerkannt, daß in keine Versart ein Rhythmus aufgenommen werden kann, der mit ihrem Grundrhythmus in Widerspruch steht, daß daher der Daktylische Vers sich senkende Spondeen liebt, [XXXIII] der Anapästische sich hebende fordert, der Antispast bei gleichschwebenden am schönsten ist. Es folgt zugleich daraus, daß, wo diese Verse die Auflösung einer Länge gestatten, die zwei Kürzen genau an die Stelle derselben treten müssen, und also in den Trimetern und Anapästen die Daktylen und Tribrachen, so wie in den Antispasten die aufgelösten Kürzen der Mittellängen die vorletzte Kürze betonen müssen. Dies Betonen einer Kürze ist nun in unsrer Sprache allerdings möglich, da man sich einen ganz falschen Begriff unsrer Metrik machen würde, wenn man sich einbildete, Ton und Länge wären in derselben Eins und dasselbe, und könnten gleichsam mit einander ver-
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wechselt werden. Denn unsre Aussprache unterscheidet, auch im gewöhnlichsten Reden, sehr gut das Verweilen der Stimme von dem Heben derselben, und wenn auch Länge bei uns ohne Betonung nicht gedacht werden kann, sondern sie vielmehr immer dem Hauptton folgt, so hören doch Kürzen durch das Heben der Stimme in der Betonung gar nicht auf, Kürzen zu bleiben, und werden nicht dadurch in Längen verwandelt. Die Unmöglichkeit einer tonlosen Länge schließt daher gar nicht die Möglichkeit einer betonten Kürze aus. Allein gewiß ist es, daß wenn der Leser genau unterscheiden soll, wo die Kürze wirkliche, aber betonte Kürze ist, man in dem Gebrauch der Kürzen und Längen selbst den festeren Regeln folgen muß, von denen ich weiter oben sprach. Auch alsdann noch ist es nichts weniger, als leicht, in allen einzelnen Fällen richtig zu unterscheiden, welche Silbe wirklich, als betont, gelten kann? und auf der andren Seite zu vermeiden, daß nicht, statt der betonten Kürze, eine zur Länge werdende Mittelzeit eintrete. Es mangelt über diesen Punkt noch unter uns sowohl an hinreichend sichren [XXXIV] Grundsätzen, als an häufigen und zuverlässigen Beispielen, und ich möchte daher nicht behaupten, daß ich nicht in diesem Theile der metrischen Behandlung, der, wegen der vielen aufgelösten Dochmischen Verse, im Agamemnon sehr wichtig ist, hier und da gefehlt haben sollte. Worüber jedoch kein Zweifel obwalten kann, ist, daß eine entschieden kurze Silbe, die in einem Wort auf eine entschieden lange folgt, nie betont seyn kann. Verse daher, die Daktylen, wie folgende, enthielten, habe ich in meinen späteren Umarbeitungen des Agamemnon alle, ohne Ausnahme, verbessert. Ilion besitzet Argos Heer an diesem Tag. Strophios aus Phokis jene doppelt drohende Folge, so du folgen willst, vielleicht auch folgst du nicht. Doch der Himmlischen hört einer, es sey Zeus, Blieben daheim hier ungeehret zurück. Oben und tief dort
Das Gleiche habe ich auch bei allen Versen, die unbestreitbar aufgelöste Antispastische sind, gethan, und es nur ungern, und bloß aus höheren Rücksichten in wenigen Fällen selbst da aufgegeben, wo die Verse zwar nicht an sich antispastisch gelesen zu werden brauchen, wo aber, nach meiner obigen Auseinandersetzung, der Dichter mit Fleiß ihnen eine Doppelnatur (zugleich als Antispastische und Choriambische) erhalten hat, welche sie nun in meiner Uebersetzung verloren haben. Beispiele dieser Art sind v. 192. 193. 206. Auf gleiche Weise habe ich die Verse verändert, welche allzusehr sinkende Spondeen hatten, wie z. B. Verschiednen Schicksals Doppelloos zwiefach getheilt Herold der Schaaren Argos, Heil und Freude dir! Ledas Entsproßne, meines Hauses Wächterin, [XXXV] Kraftlos hin, gleich unmündigem Kind, Rufend den dreimal
In allen diesen Versen wird jedoch, wenn auch der Rhythmus gestört ist, das Versmaß selbst nicht zweifelhaft. Allein der aufgelöste Antispast läßt sich in vielen Fällen schlechterdings nur am Rhythmus von andren Versarten unterscheiden. So kann von folgenden beyden, dem Versmaße nach, vollkommen gleichen Versen nur der letzte für
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Wilhelm von Humboldt
einen Dochmischen gelten, der erste ist unverkennbar bloß ein Choriambischer, und dieser Unterschied wird einzig durch die Betonung begründet. Bittreres Mittel, Zukunft Schwer zu entscheiden ist dies
Um nun die Betonung hervorzubringen, muß man eine Kürze wählen, die sich vor der ihr unmittelbar folgenden merklich hervorhebt. So erhebt sich zum Beispiel ein Pronomen, oder eine Conjunction über eine Praeposition, oder den Artikel: v.
499. Genug erschienst uns feindlich du am Skamandros einst. 1290. Nicht wie ums Gebüsch der Vogel jammr’ ich furchtbewegt. 355. Den erhabenen Zeus ehr’ ich, den Gasthort 769. Und im Innren erfreut sehn sie der Nacht gleich. 1122. Und wo entstammend rauschten dir von Gott gesandt 1142. O Heerdenzahl, fromm von des Vaters Hand
oder irgend ein einsilbiges Wort, selbst der Artikel, über eine entschieden kurze Anfangssilbe des folgenden Worts: v.
1585. Und wünschet den Pelopiden grausen Untergang 684. Zu dem gewaltigen Hader
oder eine Anfangssilbe, auf welche eine offenbar gegen sie tonlose folgt: [XXXVI] v.
772. dem bleibet des Manns Aug’ unerkannt nicht 975. sehr ist unerfreulich
oder die vorletzte, sich über eine Endsilbe erhebende Silbe; diese Classe betonter Kürzen ist die zweifelhafteste, und wo das Ohr sich am leichtesten täuschen kann: v.
474. und verführerischer sich verbreiten Weibergerüchte leicht. 1251. statt väterlichen Altares harret rauchend bald 1255. ein vaterrächend, muttermörderisches Gewächs. 1116. satt des Gestöhns, die grauröthliche Nachtigall 1126. wo nur entspringt der Pfad göttlicher Kunde dir? 1130. Skamandros heimathlicher Vatertrank 1383. was für ein meerentspült trinkbares kostetest
oder eine, ihrer Natur nach, mehr, als die zunächst folgende Silbe, betonte Endsilbe: v.
1143. einst für der Mauern Beschirmung geopfert, Heil 1149. hereinbrechend, heißt furchtbar und feindgesinnt
oder endlich, wo eine solche Endsilbe an sich zwar unbetont ist, allein durch die gewöhnliche, in daktylischen Wörtern, oder denen, die einen solchen Schluß haben, die Endsilbe hebende Aussprache Betonung gewinnt: v.
313. Es haben Ilion die Achaier an diesem Tag.
Dies ist aber die am wenigsten zu empfehlende Art, da sie eine fehlerhafte Betonung begünstigt. Dies wäre ungefähr dasjenige, was ich bei der Beurtheilung der gegenwärtigen Uebersetzung berücksichtigt wünschte. Schließlich muß ich noch bemerken, daß ich dieselbe im Jahr 1796. anfieng, sie 1804. in Albano umarbeitete und endigte, und daß
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seit-[XXXVII]dem nicht leicht ein Jahr verstrichen ist, ohne daß ich daran gebessert hätte. Ich sage dies nicht, um mir diese Sorgfalt zum Verdienst anzurechnen, sondern damit es zur Entschuldigung diene, wenn vielleicht an dieser oder jener Stelle die Leichtigkeit und Geschmeidigkeit vermißt würde, die durch häufigeres Umarbeiten oft verloren geht. Frankfurt am Main, am 23. Februar, 1816.
Friedrich Wilhelm Riemer Friedrich Wilhelm Riemer (1774–1845) zählte zu den Schülern Friedrich August Wolfs in Halle. Er war Hauslehrer der Kinder Wilhelm von Humboldts und (1803–1812) von Goethes Sohn August. Bekannt ist er vor allem als philologischer Berater und Zuarbeiter Goethes. Riemers Aufsatz erschien im Todesjahr Goethes in dessen Zeitschrift Ueber Kunst und Alterthum und ist nicht zuletzt als Beitrag zu Goethes Weltliteratur-Begriff zu lesen. Riemer entwirft darin eine Geschichte des Übersetzens, die bei den „Orientalen“ beginnt, über die Griechen, die Römer und die modernen romanischen Nationen führt und in deutscher Übersetzungskunst gipfelt: Luther und Opitz werden dabei (wie schon bei Pudor) als Wegbereiter dargestellt. Die Nachbildung antiker Silbenmaße in deutscher Sprache sei Klopstock, Ramler und Voss zuerst gelungen. Schließlich hätten Gries, Schlegel und nicht zuletzt Goethe das metrische Prinzip auch auf das Übersetzen aus neuen Sprachen angewendet, wodurch die einzigartige Bedeutung der Deutschen als Übersetzernation besiegelt worden sei. Bemerkenswert ist, dass Riemer sein Übersetzungsverständnis dabei immer wieder eng an den Protestantismus und an, wie er sagt, „moralisch-ästhetische Eigenschaften“ der Deutschen (Gerechtigkeit und Liebe) anbindet.
Einiges zur Geschichte des Uebersetzens Aus: Ueber Kunst und Alterthum. Von Goethe. Aus seinem Nachlaß herausgegeben durch die Weimarischen Kunstfreunde. Drittes Heft des sechsten und letzten Bandes, Stuttgart 1832, 574–608.
Wir Deutschen rühmen uns nicht nur einer größren Anzahl von Uebersetzungen aus fast allen Sprachen, sondern auch der ganz besondern Vorzüglichkeit mehrerer derselben, in Vergleich mit andern Nationen. Eine solche Erscheinung – ihren Bestand vorläufig zugegeben – erregt das Nachdenken über die obwaltenden Ursachen derselben. In der Beschaffenheit unserer Sprache allein kann wohl der Grund nicht liegen: denn sie ist weder im Bau (Wort- und Satzbildung) noch in andern Erfordernissen (Gebrauch der Tropen, Vorrath eigentlicher Ausdrücke, soge-[575]nannter termes propres, oder termini technici) ursprünglich so ausgestatttet, daß sie hierin nicht andere, oft einseitig mißachtete Sprachen über sich erkennen müßte; auch nicht in den Kenntnissen der Nation, obschon diese an Universalität andern es leicht zuvorthun dürfte. Es wird also wohl noch ein drittes Vermögen geben, dessen Hinzutritt die vorhandenen Sprach- und Sachelemente erst in Bewegung setzt, und zu jenem lebendig ergiebigen Resultat begeistert. Vielleicht findet sich dasselbe in Character und Temperament der Nation.
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Das Uebersetzen, soll es kein nothdürftiges Dolmetschen bleiben, sondern nächst dem Sinn auch den Character in Form und Farbe des Originals wiedergeben, erfordert nicht nur ein Wissen und Können, d. h. vollkommene Sprach- und Sachkunde mit technischer Gewandtheit; es verlangt auch moralisch-ästhetische Eigenschaften, die allem was Kunst werden soll, als wesentliche Bedingnisse zu Grunde liegen. [576] Unter welchen Benennungen, weitern oder engern, man diese auch aussprechen will, immer werden es Tugenden seyn, die sich am bezeichnendsten durch Gerechtigkeit und Treue, Anerkennung und Zuneigung, Achtung und Liebe als sittliche Grundlagen des Menschen beurkunden. Eine ohne die andere wird zwar kaum gedenkbar seyn, weder Gerechtigkeit ohne Treue, noch Treue ohne Gerechtigkeit, am wenigsten aber wird die Treue sich ausschließen können, ohne daß dem Ganzen ein auffallender Abbruch dadurch geschehe. Alle Kunst wird eine Zeit lang empirisch getrieben, ohne besondere Regeln als die sich jedesmal aus dem besondern Falle von selbst ergeben, und dieses sind anfangs mehr Behelfe als nothwendige Mittel und Lösungsarten der Aufgabe. So ist es auch mit dem was man Uebersetzen heißt, von einem Volke zum andern, von einer Zeit zur andern ergangen. Eine kritische Geschichte des Uebersetzens [577] unter allen litterarisch auftretenden Völkern, mit vergleichender Beurtheilung der Probestücke, würde uns die Eintrittsepoche jenes nothwendigen Princips bemerkbarer machen, und sie mit einer für die Entwickelung der Menschheit zu höherer Sittlichkeit und eigentlichster Humanität so denkwürdigen Begebenheit in überraschende Verbindung bringen. Bloß um diesen uns Deutsche, als Uebersetzer, besonders interessirenden Gegenstand wenigstens von einer neuen Seite zur Sprache zu bringen, sey es mir erlaubt, im Allgemeinen den historischen Weg, den die Untersuchung zu nehmen hätte, nach gewissen Richtpuncten abzumarken; denn weitre Aus- und Durchführung durch das Einzelne würde nur allein von den vereinigten Kräften der sprachkundigsten Litteratoren geleistet werden können; wie sie denn auch mit andern sprachlichen Untersuchungen, namentlich mit der über Bereicherung der Sprache und Ausbildung des Styls, in mannigfaltiger Berührung steht. [578] Von den Orientalen der frühsten Zeit: Aegyptern, Chaldäern, Phöniziern, Hebräern wird jedoch dabey kaum oder wenig die Rede seyn können, aus Mangel an Nachrichten und Belegen. Wissen wir doch nicht einmal, ob sie von Schriftwerken sich untereinander etwas darbieten konnten und mochten, das aus einem Idiom in das andere übersetzt zu werden erheischt oder verdient hätte! Religion, Gesetzgebung, Geschichte – der erste und meiste Inhalt aller Nationallitteratur – ist anfangs ein Hausschatz, von dem selten aus freyem Antriebe an Fremde mitgetheilt wird; er geräth fast immer erst durch Eroberung in andere fremde Hände, die ihn dann weniger benutzen als verzetteln. So viel ist gewiß, daß vor allgemeinerer Verbreitung und Benutzung der Schreibkunst an keine litterarische Mittheilung zu denken war, und daß früher gebildete und in ihrer Bildung erstarrte Völker, von einem später auftretenden nichts mehr annehmen können und mögen, es sey denn daß sie auf irgend [579] eine Weise wieder liquid werden, um – doch mehr im Einzelnen als im Ganzen – sich Eines und das Andere von dem Neuen anzueignen. Was auch alsdann unter der Form einer Ueberset-
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zung erscheint, wird mehr nach dem jedesmaligen Bedürfniß gemodelt seyn, als dahin trachten, die Integrität des Urbildes zu bewahren. Die Hebräer, lange Zeit hindurch kein litterarisch gebildetes Volk, dessen Schriftwesen sich zuletzt nur auf eine kleine Nationalbibliothek beschränkte, konnten ebenso wenig als Uebersetzer aus fremden Sprachen auftreten. Wie sollten sie bey ihrem Nationalstolz sich um die Litteratur der Völker die sie verachteten und deren Religion und Sitten ihnen ein Gräuel war, im geringsten bekümmern oder gar damit befassen? Nur ihre eignen heiligen Schriften waren sie genöthigt theils zu commentiren, theils in die verwandten Dialecte semitischer Sprachen sowohl, als wegen ihrer im hellenisirten Aegypten lebenden Glaubensbrüder ins [580] Griechische zu übertragen. Da nun diese Uebertragungen größtentheils erhalten sind; so würde eine documentirte Geschichte des Uebersetzens zunächst mit den Schriften der Hebräer anzufangen haben; wobey der Vortheil eintritt, daß, da zu gleicher Zeit die Originale vorliegen, eine mehr oder weniger vollkommene Vergleichung von Urschrift und Nachbildung anzustellen möglich würde. Diese dürfte das Resultat geben, daß zuerst buchstäbliche Treue und Genauigkeit, in den Uebersetzungen der Hebräer zum Vorschein kommt; ein Character, der mit andern Eigenschaften der Nation zusammenhängend, sich großentheils auch in der Uebersetzung griechischer und römischer Schriften, welche von gelehrten Juden des Mittelalters verfertigt worden, rühmlichst aussprechen soll. Nicht so günstig würde das Urtheil über die Araber zur Zeit ihrer blühenden Epoche ausfallen. Zwar übersetzten sie mehrere wissenschaftliche Werke der Griechen und Römer; [581] allein nach dem Urtheil der größten Kenner ihrer Sprache und Litteratur soll es nichts unzuverlässigeres und treuloseres geben, als diese ihre, willkührlich erweiterten oder verkürzten, mit Fremdartigem vermischten, Bearbeitungen auswärtiger Litteratur-Werke. Die früheren Griechen, d. h. in der Zeit ihrer genialen Productivität, übersetzten nicht. Was und von Wem hätten sie auch übersetzen können und mögen, bey der geistigen Absonderung in der die Völker des Alterthums lebten, und bey der so laut ausgesprochenen Vorliebe der Griechen für das Eigene: wie denn der alles Fremde verachtende, und nur Eigenes bewundernde Egoismus allen Völkern in ihrer Kindheit angehörig, sie noch öfter bis zur höchsten Stufe der Cultur begleitet, wovon sogar in unserer christlich-humanen Zeit die gebildetsten Nationen – Franzosen und Engländer – nicht abzuläugnenden Beweis geben. – Dagegen verstanden sie allerdings wohl Fremdes sich so zu- als anzueignen, wußten es aber der-[582]gestalt mit ihrer eigenthümlichen Vorstellungs- und Empfindungsart zu verweben, daß es, wo nicht gerade als etwas ihnen ursprünglich Angehöriges erschien, jedoch für einen ihrer Persönlichkeit wohl angepaßten Schmuck, oder als verfeinertes Selbstfabricat aus den rohen Stoffen der Fremde gelten konnte. Selbst in den Relationen, welche Herodot und Ctesias in ihren ethnographischen Werken von auswärtigen Völkern liefern, darf man nicht glauben, Urkunden und Schriftwerke derselben übersetzt zu lesen: eigene Beobachtung, wenn es sich traf, übrigens aus dem Bericht von Dolmetschern nach griechischer Ansicht aufgefaßte und gemodelte Erzählung ist wohl alles Auswärtige was in den Werken der genannten
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Schriftsteller uns entgegenkommt; und selbst im besten Fall, da es aus Mangel der Originale einer Controle ermangelt, für unseren Zweck nicht in Anspruch zu nehmen. Aber auch zu der Zeit ihrer gelehrten Bildung, als nach Alexander dem Großen die ab-[583]nehmende poetische Productivität sich meist auf Critik und Bibliographie resignirte, wo der Orient seine Sagen, Mährchen, Philosopheme, Chroniken und Annalen in schriftlicher Aufzeichnung den Bibliotheken zu Alexandrien und Pergamum zuströmte, war wohl weniger von Uebersetzungen aus solchen dem ausgebildeten Sprachgenius und Geschmack der Griechen nicht völlig zusagenden Idiomen, als von Benutzung und Verarbeitung des darin enthaltenen Stoffes zu geschichtlichen oder räsonnirenden Werken die Rede. Und so will es für unsern Zweck nicht viel bedeuten, wenn man von griechischer Uebersetzung phönizischer und carthagischer Werke spricht, die in Bruchstücken uns zugekommen, sich weder vollständig beurtheilen noch mit den mangelnden Originalen vergleichen lassen. Selbst unter der Herrschaft der Römer, als griechische Staats- und Geschäftsmänner sich mit der römischen Geschichte und Alterthumskunde auf gelehrte Weise vertraut mach-[584]ten, um sie ihren Landsleuten aus den Quellen mitzutheilen, geschah dieß weniger durch Uebersetzung als durch Benutzung und Verarbeitung des nicht immer mit auslangender Sprachkenntniß gehandhabten historischen Stoffes. Denn von Uebertragen poetischer und rhetorischer Erzeugnisse der Römer ins Griechische ist, außer etwa in Schulübungen, nirgens eine Spur, und solches auf keine Weise auch nur wahrscheinlich, da die Griechen sich als Lehrer und Muster der Römer anzusehen so befugt als gewohnt waren. Wenn denn gleichwohl aus ihrer spätesten Zeit, unter den Byzantinern, sich griechische Uebersetzungen sowohl aus dem Römischen, wie aus orientalischen Sprachen vorfinden, so werden diese doch weniger den Character der Urschrift als vielmehr eine gewisse periphrastische und metaphrastische Manier behaupten, zu der sich zuletzt eine vollkommen ausgebildete und abgeschlossene Sprache selbst wider Willen bequemen muß, weil ihr sowohl die Lust als die [585] Fähigkeit abgeht, dem Original in seinen Eigenthümlichkeiten zu folgen. Die Römer übersetzten zwar, und frühzeitig genug, poetische und rhetorische Werke der Griechen und betrachteten auch in ihren Rhetorenschulen das Vertiren aus dem Griechischen als eine treffliche Vorübung zu Gewinnung eigener Gedanken und Redewendungen; allein, da dieser Nation in allem was Sprache und Kunst betrifft, die zweyte Rolle durch Natur und Schicksal zugetheilt war: so blieb ihr nach einem sklavischen Anfang im Nachbilden sogar griechischer Wortformen, welche dem Genius der römischen Sprache von Natur fremd auch durch spätere Bestrebung nie recht zu eigen werden mochten, bloß das Rivalisiren mit ihren griechischen Vorbildern durch Imitation und Accomodation, d. h. im Grunde das Aufsuchen eines Surrogats oder Aequivalents, oder die Kunst Ein und dasselbe auf andere Manier zu sagen; worin sie es denn nach dem Selbstzeugniß ihrer Autoren aufs höchste brach-[586]te, indem sie alles wo nicht erfunden, doch verbessert und vervollkommnet zu haben sich einbildete. Ihre stylistische Uebersetzungsmethode ging nun aber auch auf die Tochtersprachen des Lateinischen über und folgte ganz natürlich aus dem Character eines concisen, im Reduciren auf Begriffe nicht im Nachbilden von Anschauung sich gefallenden,
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mit einem Wort eines die Abstracta liebenden Sprachidioms. Ein solches ist wohl geeignet den Sinn eines Originals in Resultate zu concentriren, keineswegs aber, wie die episch-darstellende Weise des Griechen, in ihrer malerischen Ausführlichkeit, der Vorzeichnung eines Urbildes zu folgen, und außer dem Contour auch noch Colorit und Ton desselben so genau als möglich wiederzugeben. Dieser Kennzug römischer Sprachweise und römischen Geistes zeigt sich daher auch noch in den lateinischen Versionen, welche seit dem Wiederaufleben der classischen Litteratur durch [587] Philologen aus allen europäischen Zungen, so von Werken der griechischen als moderner Sprachen gefertiget worden und noch werden. Wenn nicht in allen, doch gewiß in den meisten, erscheint das Original nur auf den Ausdruck einer Pasilalie reducirt, keineswegs aber das Besondere desselben noch weniger das Individuelle des Autors wiedergegeben. Keine Sprache der Welt dürfte daher wohl weniger zu Interlinear-Versionen geeignet seyn, als eben die Lateinische, die gleichwohl, nach einem alten Herkommen, unter dem Schein seyn sollender Gründlichkeit, auch bey den neuesten Uebersetzungen aus dem Indischen zu Ungunst und Verkümmerung des Originals angewendet wird, während eine Nachbildung in der Muttersprache das populäre Verdienst schneller und weiter verbreiteter Kenntniß des Vortrefflichen unter einem größern Publicum sich erwerben würde. Die Uebersetzungen der Italiäner, Portugiesen, Spanier, Franzosen und [588] selbst der Engländer behaupten demnach, wie sich erwarten läßt, den Character ihrer Stammsprache und die Grundsätze der römischen Vorbilder. Eine Annäherung an die wahren Grundsätze, durch Nachahmung der antiken Sylbenmaaße – ein Versuch der in einer gewissen Periode von Italiänern, Franzosen und Engländern beinahe gleichzeitig gemacht wurde – fand weder durchgehenden Beyfall noch dauernde Nachfolge; im Gegentheil ward sie für die Engländer sogar verpönt durch ein ausdrückliches Verdammungsurtheil Bacon’s; und selbst in neuerer Zeit wurde den Franzosen schlechthin alles Uebersetzen, als zur Einbuße des National-Geistes und Characters führend, verdächtig gemacht. Wenn diese Nationen denn gleichwohl mit Uebersetzungen der Alten prangen, so sind diese im besten Falle, nur mit ohngefähren aus mehr oder minder treuem Gedächtniß gemachten Copien zu vergleichen. Man könnte sie sämmtlich characterisiren als „Uebersetzungen ohne Maaß.“ [589] Denn da sie weder in Satzund Periodenbildung noch im Versbau die Dimensionen und Proportionen des Originals beybehalten, so geben sie wenig mehr als den Inhalt, die Summe des Gedankens; statt seiner Form und Farbe aber nur ein Surrogat von eigenem Nationalgeschmack oder Tournüre, so daß, bey aller hochgerühmten „classischen Education“ nur aus dem griechischen und lateinischen Idiom entlehnte Wörter und Floskeln alter Autoren, sonst aber nichts von antiker Sinnes-, Ausdrucks- und Wendungsart in den eigenen Werken der Nationalsprache zum Vorschein kommt. Ist nun jenes Verfahren schon für die Prosa kaum, und nur allenfalls nach Umständen bey gewissen Zwecken, zulässig, so ist es für alle gebundene Rede, als in einem verderblichen Grade sie beeinträchtigend, völlig abzuweisen. Die Poesie, selbst Maaß und in Maaßen sich bewegend, kann sie noch ihren Character und Ausdruck behalten, wenn sie die Tactart [590] und das Tempo verändert? Diese Transposition vorneh-
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men heißt den Character des Stücks verändern und ist eben so seltsam als ein Adagio in ein Allegro, ein Largo in ein Prestissimo zu verwandeln. Daß man den Homer in Jamben übersetzen könne, auch wenn man nicht die Absicht hat ihn zu travestiren, ist allenfalls zu begreifen, aber sich einzubilden ein Meisterstück von Uebersetzung daran zu besitzen, ist eine Superstition die zunächst einer Reform des hergebrachten Litteraturwesens hoffentlich weichen wird. Die Uebersetzungsweise welche die Deutschen im Mittelalter, sowohl bey alten Profanschriftstellern als bey benachbarten Modernen anwendeten, hatte anfangs, d. h. zur Zeit der Minne- und Meistersänger, denselben so eben beschriebenen wenn nicht noch viel freyeren Character, und würde sich richtiger als Travestirung, oder auch als sogenannte freye Bearbeitung bezeichnen lassen. Ja die ganze deutsche Nationalpoesie jener Zeit ist, mit Aus-[591]nahme der lyrischen, mehr oder weniger eine freye Nachund Umgestaltung ausländischer Vorbilder, die selbst wieder ursprünglich von lateinischen Verfassern aus dem Clerus herrühren. Erst gegen das Ende des XV. Jahrhunderts, als dieser Nationalgesang wo nicht aufhörte doch schwächer ertönte, dagegen die Prosa mit ernsteren Studien, wie Arzneywissenschaft und römische Rechtskunde, mehr in Gang kam, zeigt sich das Bestreben, geweckt und unterstützt durch genauere grammatische Sprachkenntniß, auf ein eigentliches Wiedergeben des Originals auszugehen, und das letzte Viertel dieses Jahrhunderts ist so reich an deutschen Uebersetzungen aus dem Lateinischen und andern neueren Sprachen, daß sogar gegen sie als gefährliche Förderungsmittel der Volksaufklärung strenge Verbote der Geistlichkeit ergingen. Wir erblicken darin die ersten Vorboten und Verkündiger des durch die Reformation und ihre Folgen hervorgerufenen oben bereits angedeuteten Princips. [592] Hatte nämlich die christliche Religion, durch die göttliche Autorität ihrer heiligen Urkunden, nicht nur die höchste Verehrung, sondern auch die gewissenhafteste Treue beym Uebertragen derselben in andere Sprachidiome, nach dem Vorgange der Hebräer, allen ihren Bekennern zur unverbrüchlichsten Pflicht gemacht, so daß zuerst in Bezug auf diese Schriftdenkmäler auch die sprachverschiedensten Nationen die möglichste Annäherung an den Urtypus zu beobachten sich sowohl aufgefordert als von selbst entschlossen fühlten und noch fortwährend fühlen – eine Obliegenheit welche denn auch bey allen kirchlichen auf jene sich stützenden Schriften folgerichtig in Anwendung kommen mußte – : so sollte von nun an auch zugleich für die Schriftwerke des menschlichen Geistes eine ähnliche angemessene Hochschätzung und Gewissenhaftigkeit, bey Uebertragung derselben in die Muttersprache, gewonnen und durch die Deutschen, die hierin zuerst den Ton und die Mensur angaben, begründet werden, [593] und zwar in Gefolg und auf Anlaß jenes welthistorischen Ereignisses. Wie also vormals die getreuste Verbreitung göttlicher Offenbarungen in alle Sprachen und Mundarten sich von der denkwürdigen Epoche der Ausgießung des heiligen Geistes herdatirt; so darf man ohne blasphemische Anmaßung behaupten: von der Reformation und der in ihrem Gefolge werkthätig auftretenden Philologie und Philosophie nahm auch die gründliche Erkenntniß eines herrlich in Kunst und Wissen sich offenbarenden Menschen-Geistes den ersten Ausgang, um nächst frohgläubiger Aner-
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kennung seiner mannigfaltigen Werke auch treufleißige Nacheiferung in immer weiter und weiter wirkender Folge zu entwickeln. Nachdem M. Luther für seine Zeit genial, meister- und mustermäßig, für alle folgenden bewunderungswürdig, als Uebersetzer, man kann sagen zweyer Litteraturen, der altjüdischen und neuchristlichen aufgetreten; so war durch [594] seine Leistung auf einmal nicht nur ein regelgebendes Vorbild, sondern auch ein höchst ergiebiges Sprachelement gewonnen, in welches sich auswärtige Idiome nicht nur ohne Verlust und Einbuße übertragen ließen, sondern das selbst auch einer zunehmenden Entwickelung, immer vollendeteren Ausbildung durch gemeinsame Bearbeitung fähig erschien. Die unvermeidlichen Nachwehen der Reformation, als einer Wiedergeburt des Geistes, der durch äußere Hemmnisse in sich gedrängt in hypochondrische und feindselige Stimmung gegen sich selbst zu gerathen schien, verzögerten zwar noch eine Zeit lang die vollständige Anwendung des gewonnenen Princips auf die Werke des classischen Alterthums, wie des Auslandes; förderten aber doch das gründliche Studium der alten Sprachen und somit der Sprachwissenschaft überhaupt, und bereiteten demnach eine zweyte Epoche vor, welche mit dem gelingenden Selbstbetrieb der Poesie und Redekunst, auch die Nachbildung fremder Kunst-Erzeug-[595]nisse in wechselseitigen Einfluß zu bringen und dadurch beydes zu steigern wußte. Diese Epoche beginnt mit dem protestantischen Martin Opitz und seinen Nachfolgern. Durch eine, auf den Grund der von Luther angestimmten Sprachweise weiter fortbauende mannigfache Benutzung und Ausbeutung der in der Sprache liegenden Analogien, auf Anlaß und Anreiz der nachzuahmenden antiken sowohl als modernen Vorbilder, wird nicht allein ein unglaublicher Vorrath von Worten und Wendungen geschaffen, sondern auch die ästhetische Anerkennung des Kunstmäßigen und Schönen in den Originalen noch mehr geweckt, und tiefer begründet. Sobald daher durch eine immer vernunftgemäßer sich gestaltende Religion, und eine der scholastischen entgegenwirkende originalere Philosophie auch die Humanität – wie man das in Kunst und Wissenschaft sich, als Drittes einer großen Dreyeinigkeit, offenbarende Menschenwesen zusammenfassend be-[596]zeichnen möchte – zu einer ästhetischen Anerkennung gelangt war und die noch so verschiedenen individuellen Ausdrucksarten menschlichen Denkens und Empfindens, als eben soviel sich steigernde Gestaltungen einer großen Idee zu gelten anfingen; sogleich mußte auch der sprachliche Ausdruck derselben in diesem oder jenem Volke durch Bild und Rhythmus, als etwas interessant Wesentliches zu eben jener Individualität Gehöriges, in nähere Betrachtung kommen, und nicht nur Zugeständniß im Allgemeinen sondern auch Nachahmung und Beybehaltung im Besondern finden. Diese Anerkennung war zuerst ein Zug der Gerechtigkeit, welche ein Anderes gelten läßt und ihm eigenen Fug und Lust des Daseyns und Wirkens zugesteht, und die wir oben als nothwendige Bedingung und Grundlage aller Uebersetzungskunst angaben. Nun fehlt noch die angewandte Bethätigung durch Liebe, als das zweyte Erforderniß. Diese offenbaret sich in freundlich zuvorkommender Nach-[597]giebigkeit und Bequemung gegen und an die Art seines Wesens, ja in völliger Identificirung mit seinem Wollen und Wirken; und auch diese sollte ihr zuletzt in Bezug auf Inhalt und Form eines Vorbildes möglich werden.
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Zwey Elemente der Uebersetzungskunst hatten sich sonach entwickelt, Gerechtigkeit und Liebe. Bey keiner Nation zeigten sich diese Erfordernisse in einem so vorzüglichen practischen Grade, als bey der deutschen, unter der sie jedoch öfter, ihr selbst unverstanden, nur mit dem Namen eines Vorurtheils für das Fremde und der Nachahmungssucht zur Sprache kamen. Und freylich konnten solche Eigenschaften sich nur vereint finden bey einer Nation die eigentlich zu reden noch nicht fertig und abgeschlossen ist, d. h. die immer noch im Lernen begriffen auf sich einwirken läßt, und eben so geneigt als bedürftig bleibt, von außen anzunehmen, dergestalt daß diese Unfertigkeit in einer Hinsicht, ihr zu einer wahren Fertigkeit in anderem Betracht werden muß. [598] Sie behauptet demnach die unbefangene Bildsamkeit eines Kindes, das mit Achtung und Liebe für die Eigenschaften Aelterer und Höherer erfüllt, dieselben durch Nachahmung sich anzueignen strebt. Eine solche Nachahmung steigert sich zur Nacheiferung mit der zunehmenden Kenntniß und Einsicht des Nachahmungswerthen selbst, und macht daher nur Fortschritte in dem Grade, daß sich ihr neue Ansichten hierüber eröffnen. Die Früchte dieser deutschen Gesinnung, nachdem sie einmal mündig geworden, zeigten sich zuerst an den Uebersetzungen der Alten. Allgemein hielt man sich nicht allein streng an den vorliegenden Inhalt, den man gründlich zu erschöpfen suchte, sondern auch mit fortschreitender Einsicht und eigenem Kunstvermögen, an die ihn bedingende äußere Form. Und hier wäre eigentlich der Ort für umständlichere Auseinandersetzung der Verdienste, welche sich deutsche Gelehrte und Dichter seit Mitte und Schluß des vorigen Jahrhunderts [599] zuvörderst um das classische Alterthum erworben: einmal durch strengeres Anschließen an den Inhalt, in genaueren sinnerschöpfenden Uebersetzungen: wie die treufleißigen Arbeiten eines Damm, Heilmann, Reiske, Heinze;1 und später die elegantern eines Garve, Wieland, Hottinger2 und anderer; wodurch nicht nur _____________ 1
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[Der Theologe und Philologe Christian Tobias Damm (1699–1778) war einer der ersten, die im 18. Jahrhundert das Griechische gegenüber dem Lateinischen aufwerteten. Er übersetzte u. a. Homer und Pindar in Prosa. – Der Theologe Johann David Heilmann (1727–1764) legte 1760 die erste vollständige, später vielfach nachgedruckte deutsche Thukydides-Übersetzung vor (Des Thucydides acht Bücher der Geschichte aus dem griechischen mit vielen kritischen Anmerkungen übersezt von D. Johan David Heilman, Lemgo 1760). – Der Philologe Johann Jakob Reiske (1716–1774) übersetzte Thukydides (Deutsche Uebersetzung der Reden aus dem Thukydides. Nebst lateinischen Anmerkungen über dessen gesamtes Werk, Leipzig 1761), Demosthenes und Aischines (Demosthenis und Aeschinis Reden verdeutschet und mit den nöthigen Anmerkungen erläutert, 5 Bde., Lemgo 1764–1769). – Der Philologe Johann Michael Heinze (1717–1790) übersetzte u. a. Aischines, Cicero und Seneca.] [Zu Garve s. o. S. 91 Anm. 14. – Christoph Martin Wieland (1733–1813) entfaltete mit seinen Übersetzungen, in denen er Treue gegenüber der Ausgangssprache stets mit den Gepflogenheiten und Normen der Zielsprache zu vereinbaren suchte (u. a. Horaz, Lukian, Shakespeare, Euripides, Aristophanes, Cicero), eine enorme Wirkung bei den Zeitgenossen; viele seiner Übertragungen wurden später allerdings durch „treuere“ Neuübersetzungen abgelöst. – Der Schweizer Philologe Johann Jakob Hottinger (1750–1819) übersetzte Cicero (Marcus Tullius Cicero von den Pflichten aus der Urschrift übersetzt mit philologisch kritischen Anmerkungen, 2 Bdch., Zürich 1800, und Marci Tullii Ciceronis de Divinatione libri 2. Markus Tullius Cicero von der Divination, Wien 1802) und Theophrast
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Verständniß und Uebersicht der alten Schriftsteller, mehr als durch abgerissene Commentare gefördert, sondern auch der Gehalt derselben für das größere Publicum ausgemünzt und unter demselben in Umlauf gebracht wurde: sodann aber durch Nachbildung der Form in immermehr dem Gelingen sich annähernden Versuchen zur Wiederbelebung der alten Sylbenmaaße. Diese Forderung, so natürlich sie uns jetzt erscheint, und gewissermaaßen sich von selbst verstehend, konnte doch nur zuerst aufgestellt und geleistet werden von Dichtern und dichterisch gestimmten Organisationen, deren Ohr an sich schon für den Rhythmus empfänglicher, bey dem Lesen der Alten noch [600] ganz besonders von der characteristischen Entschiedenheit der antiken Sylbenmaaße und ihrer Angemessenheit zum Inhalt afficirt, die Nachahmung derselben, so gut wie jede andere Mimesis, sich zur Aufgabe machen, und sowohl in eigenen Poesien als in der Wiedergabe fremder bewerkstelligen mußte. Und so erwarben denn zuerst Klopstock, Ramler, Voß,3 sammt ihren Mitwirkern und Nachfolgern, das deutsche Verdienst: jenes Uebersetzer-Princip, Gerechtigkeit und Liebe, in seinen strictesten Bedeutungen bey der Uebersetzung aus den ältern Sprachen geltend gemacht zu haben; wovon denn die Folge war, daß es auch in nothwendiger Consequenz bey Uebersetzungen aus allen neuern Sprachen vollkommener ausgeübt werden mußte. Indessen dauerte es hier doch länger als man hätte erwarten sollen. Allein wer Geschichte und Leben sinnig betrachtet, wird vielfältig Gelegenheit haben zu bemerken, daß die Menschen gar oft für ein undurchdringlich Hin-[601]derniß halten, was doch nur eine papierne Wand ist, die sich mit dem Ellbogen einstoßen ließe; und so retardirt sich nicht selten das ganz Folgerechte wegen vermeinter Unmöglichkeit. Es scheint aber gut und einer stetigen nicht übereilten Entwickelung angemessener, daß solche Vorurtheile obwalten, damit sowohl der Einzelne als ganze Geschlechter in der Beseitigung derselben nicht nur Beschäftigung, sondern auch Verdienstlichkeit finden mögen. Nach dieser Bemerkung wird es erklärlich, wie man an dem was hinsichtlich der alten Sprachen bereits möglich geworden war, treuste Copie der so schwierigen oft erst zu ermittelnden Metra, verzweifelte in Betreff neuerer Sprachen, welche in ihren Dichtungsformen doch nur geringere Abwechselung bieten, und deren Schwierigkeit nicht in den Rhythmen sondern allein in den Reimen zu finden wäre, insofern von ihrer Bedeutsamkeit die Rede seyn sollte. Die Italiänische Stanze vollkommen nachzubilden dachte und wagte anfänglich Nie-[602]mand; und Terzinen nur einigermaßen zu versuchen, entmuthigte sogar bisherige Meister im Uebersetzen. Und doch hatte man die Sonettform nicht nur bey Uebersetzungen, sondern auch bey selbstständigen eignen Dichtungen längst schon
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(Theophrast’s Charakterschilderungen uebersetzt und erläutert von J. J. Hottinger, vermehrte u. verbesserte Ausgabe, München 1810).] [Zu Klopstock s. o. S. 5 Anm. 6, zu Voss S. 5 Anm. 4. – Karl Wilhelm Ramler (1725–1798) stand mit seinen antike Versmaße nachahmenden Oden (Berlin 1767) und mit Übersetzungen, vor allem des Horaz (zuerst Oden aus dem Horaz, 1769), bei den Zeitgenossen in hohem Ansehen.]
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angenommen, wenn auch anfangs nicht mit ebenmäßiger Verslänge, wozu doch bereits einzelne Beyspiele der Minnesänger hätten Ermuthigung geben sollen. Hatte man Sonette statt in Hendekasyllaben vielmehr in dem aus dem Französischen und Holländischen einseitig aufgegriffenen Alexandriner gebildet; so konnte die darin bereits enthaltene Form der Ottave sowohl als der Terzine nicht für ein Unmögliches und Unerreichbares gelten, wenn man sie einstweilen auch nur mit Alexandrinern nachbildete, indem diesen Falls die Beobachtung dreyer gleichen Reime bey einem Theile nicht schwieriger seyn konnte, als bey dem Sonett im Ganzen. Aber die Menschen sind weit weniger zum Entdecken und Erfinden als zum Nachahmen und Beybe-[603]halten erschaffen, außerdem das Individuum nicht in Millionen Exemplaren existiren würde. Genug, erst um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, versuchte zuvörderst Wieland die italiänische Stanze in der Art nachzuformen, daß er freylich die drey gleichen Reime beybehielt, in der Stellung derselben jedoch sich vielfache Abweichungen herausnahm, die uns jetzt schwieriger vorkommen, als die Beobachtung der Regel; dazu ein Hin- und Herschwanken der Verslänge, die vom drey- und vierfüßigen Jambus bis zum sechsfüßigen abwechselt. Goethen war es vorbehalten auch in der genauesten Nachbildung der Ottave rime wenn nicht der erste zu seyn, doch zuerst mit entschiedenem Gelingen als Meister aufzutreten. Sein Verdienst ward früher oder später – wie es in Deutschland zugeht – nach längern oder kürzern Einreden und Gegenerinnerungen, endlich allgemein anerkannt, und wie es ebenfalls vaterländischer Gebrauch ist, ganz still und ohne vieles Aufheben, durch Nacheiferung [604] sowohl bey eignen Dichtungen als bey Nachbildung fremder thatsächlich gefeyert. Demungeachtet fand die regelmäßige Nachbildung bey Uebersetzungen, wo sie hingehörte, weniger Nachfolge als bey eigenen Dichtungen. Es geschahen sogar Rückschritte. Die Uebersetzer des Tasso und Ariost machten sich, wie besonders des letztern Styl und Ton so auch die Freyheit seiner Stanze zu Nutze, ja einer derselben sogar, durch Abwerfen des fesselnden Reims, die Aufgabe so bequem, daß er auch nicht einmal auf Beybehaltung der Versabtheilung und Satzstellung, als einer nothwendigen Schadloshaltung für jene Einbuße, bedacht war. Erst um den Anfang dieses XIX. Jahrhunderts – ein in jeder Hinsicht merkwürdiger Zeitschied, welcher auch in Sprache und Kunst einen auffallenden Abschnitt brachte, – trat Gries4 mit einer nach Form und Inhalt gelungenen Uebersetzung des Tasso hervor, und leistete in ganzer unverbrüchlicher Strenge und [605] Folgerichtigkeit etwas woran man noch kurz zuvor völlig verzweifelt hatte. Mochte nun der Deutsche, von Hause aus zum Ernst geneigt, eine seinem Wesen mehr zusagende Würde wohl eher erreichen bey einem Gedicht wie Tasso’s Jerusalem, das von feyerlicher Art vorzüglich Correctheit und Gemessenheit in Ausdruck und _____________ 4
[Die Tasso-Übersetzung von Johann Diederich Gries erschien zuerst 1800–1803 (Torquato Tasso’s Befreites Jerusalem. Übersetzt von J. D. Gries, 4 Bde., Jena) und erlebte im Lauf des 19. Jahrhunderts eine Reihe von Neuauflagen.]
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Form beobachtet; so hielt man ihn doch immer für unfähig auch den leichtern Gang der ariostischen Muse und ihre graziosen Tanzschritte nachzuahmen. Allein der Beharrlichkeit des deutschen Fleißes, bey Anwendung eigener Dichtergaben, sollte es gelingen auch diese Palme zu erreichen. Dem deutschen Sänger des befreyten Jerusalems, der so zu sagen im tragischen Felde den Siegerkranz davon getragen, war es beschieden, auch im Comischen der Ariostischen Muse gleiche Lorbeern zu gewinnen, und die gleiche Anstelligkeit unserer Sprache zum Scherz wie zum Ernst, in einer und der nämlichen Persönlichkeit zu bethätigen. [606] Hiebey ist jedoch nicht zu vergessen, vielmehr mit dankbarer Anerkennung hervorzuheben, wie viel zu dieser Gelenkheit und Anmuth der Sprachbewegung bereits Wielands graziose Leichtigkeit und Unbefangenheit in seinen eigenen, der ariostischen Muse so nah verwandten Dichtungen beygetragen; wie sehr er nicht nur die Fertigkeit der Mannigfaltigkeit des Reimens vermehrt und erhöht, sondern überhaupt einen natürlich edlen Ausdruck ohne Bombast und Schwulst, zugleich belebt durch den reizenden Anstrich gutmüthiger Laune, dem deutschen Vortrag angewonnen; der sonst, ohne Wieland und seine Schule, durch vorherrschenden Einfluß der alten Sprachen, ingleichen durch die norddeutsche Vorliebe für die ernsthaften Britten, wie auch durch den Umstand, daß die Sprache bis dahin meist nur zu strenger Auseinandersetzung wissenschaftlicher Gegenstände, besonders der Religion und Sittenlehre, angewendet worden, beynahe ganz auf die Seite des Ernstes übergewuchtet wäre. [607] Soviele Leistungen nun von Einem Manne und beynahe auf Ein Mal während und innerhalb der Blüthe eines Menschenlebens, waren dennoch weit entfernt für das Letzte und Aeußerste zu gelten und mit stolzer Zufriedenheit für den Gipfel der Kunst angenommen zu werden, daß sie den Trieb der Nacheiferung noch mehr entflammten und das Wagniß aufriefen mit dem Bereitsgewonnenen das Glück noch weiter zu versuchen. Und so blieb man denn nicht bey den Italiänern stehen; Spanier und Engländer kamen gleichzeitig an die Reihe, nach den eben dargelegten Principien übersetzt zu werden: ein Unternehmen das nicht minder gelang, ja in gewisser Hinsicht, wegen überwundener größerer Schwierigkeiten, noch mehr Bewunderung erregen mußte. Was hier gleichzeitig ebenfalls von Gries, Schlegel5 und andern geleistet worden, wirkt in zunehmender Anerkennung und mannigfacher Nachfolge lebendig fort. Allbereits sieht [608] man dieselben Maximen, denselben Eifer, dieselbe Genauigkeit und Treue den bedeutendsten Dicht- und Redewerken aller Nationen nicht nur Europa’s, sondern auch anderer Welttheile zugewendet, dergestalt daß Blüthen und Früchte des gesammten durch Sprache sich offenbarenden menschlichen Schöpfungsvermögens in dem Medium der unsrigen, wie in einem geistigen Element, aufbewahrt und dem allgemeinen Bedürfniß zu Genuß und Nahrung mitgetheilt werden mögen. Und so dürfte sich bald die von Goethe gestellte Prophezeihung (K. und A. Band V. Heft 2. S. 59) wahr machen: „Der Ausheimische werde in kurzer Zeit bey uns _____________ 5
[Zu nennen sind vor allem der „Schlegel-Tieck’sche Shakespeare“, der zuerst 1797/1810 in neun Bänden erschien, Schlegels Anthologie Blumensträuße italienischer, spanischer und portugiesischer Lyrik (1804) oder die Calderon-Übersetzung von Johann Diederich Gries (6 Bde., 1815/1824).]
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Deutschen zu Markte gehen müssen, um die Waaren die er aus der ersten Hand zu nehmen beschwerlich fände, durch unsere Vermittelung zu empfangen.“6 – Dann wäre in unserer Sprache die einzige mit der mindesten Einbuße des Individuellen mögliche Pasilalie und Pasigraphie aufgefunden. Riemer.
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[Riemer zitiert aus Goethes Aufsatz Serbische Lieder. Vollständig lautet die Stelle: „Und es ist keine Kleinigkeit wenn eine Sprache dies [scil. die besondere Eignung für Übersetzungen] von sich rühmen darf: denn müssen wir es zwar höchst dankenswerth achten, wenn fremde Völkerschaften dasjenige nach ihrer Art sich aneignen was wir selbst innerhalb unseres Kreises Originelles hervorgebracht; so ist es doch nicht von geringerer Bedeutung, wenn Fremde auch das Ausheimische bey uns zu suchen haben. Wenn uns eine solche Annäherung ohne Affectation wie bisher nach mehrern Seiten hin gelingt, so wird der Ausheimische in kurzer Zeit bey uns zu Markte gehen müssen, und die Waaren, die er aus der ersten Hand zu nehmen beschwerlich fände, durch unsere Vermittelung empfangen.“ Goethe, Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Abt. 1, Bd. 22, Frankfurt a. M. 1999, 134 f.]
Karl Schäfer Johann Albrecht Karl Schäfer war zwischen 1822 und 1862 Gymnasialprofessor am Fridericianum in Erlangen.1 Im Schulprogramm für das Jahr 1838/39 veröffentlichte er seinen Aufsatz Ueber die Aufgabe des Uebersezens, in dem er sich mit Schleiermachers Akademierede auseinandersetzt. Schäfers Arbeit ist Zeugnis für die seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts verstärkt deutlich werdende Abkehr von sprachmimetischen, die Fremdheit des Originals wahrenden Übersetzungsgrundsätzen und wurde in der Folgezeit, beispielsweise von August Boeckh (s. S. 200 im vorliegenden Band), als Gegenposition zu Schleiermacher rezipiert.
Ueber die Aufgabe des Uebersezens Aus: Jahresbericht von der Königlichen Studienanstalt zu Erlangen in Mittelfranken, bekannt gemacht bei der öffentlichen Preisvertheilung den 28. August 1839, Erlangen [1839], 3–24.
Von den beiden Arten schriftstellerischer Thätigkeit, dem freien Schaffen und dem Nachbilden des Fremden, wird im Verhältniss der Bildungsstufe eines Volkes und seiner grössern oder geringern Selbständigkeit immer die eine oder die andere vorwiegen. Bei dem deutschen Volke, dessen Bildung sogleich von Anfang auf eine fremde Litteratur, die der Griechen und Römer, gegründet worden, das durch Bedürfniss und durch Achtung des Fremden zu den wissenschaftlichen Erzeugnissen der ihm in Geistesbildung vorangeeilten Nachbarvölker hingezogen und durch sie getragen wurde, das durch seine Weltstellung, seine Lage im Herzen Europa’s zu ununterbrochenem Verkehr nach allen Richtungen hin angewiesen und berufen ist: bei diesem Volke ist es natürlich, dass von jenen beiden Arten des Schriftstellerthums die der Nachbildung und Aneignung des Fremden mit Vorliebe und viel fleissiger als bei andern Nazionen geübt wird. Denn wenn man schon in den untergeordneten Sphären des Lebens Alles, was man in der Fremde kennen gelernt und liebgewonnen hat, gerne in den eigenen Haushalt verpflanzt und bei sich einheimisch zu machen sucht, um wie viel natürlicher ist ein solches Verlangen da, wo es sich nicht um diese oder jene Behaglichkeit des körperlichen Daseins, sondern um die Bildung und Veredlung des Geistes handelt.
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[Geburts- und Todesjahr waren nicht zu ermitteln. Für freundliche Auskunft danke ich Herrn Martin Wachter (Verwalter des Archivs am Fridericianum, Erlangen).]
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Um so wichtiger ist bei dieser Richtung und Eigenthümlichkeit unserer Litteratur die Beantwortung der Frage, welche Art der Verpflanzung und Aneignung fremder Werke die entsprechendste, oder welche Uebersezungsmethode die beste sei. [4] Denn es ist bei dem Uebersezen nicht wie bei dem freien Schaffen, dass die Form sich fast unbewusst und unwillkührlich macht, sondern mehr als irgendwo wird hier dem Herkommen und dem Beispiel gehuldigt, wie denn die Erfahrung lehrt, dass eine rezipirte Manier oder eine gebilligte Erfindung alsbald ganze Schaaren von Uebersezungen nach sich zu ziehen pflegt. Alle nur immer möglichen Arten und Ausartungen aber fallen zwischen die zwei Extreme, dass man dem Inhalte die Form oder der Form den Inhalt opfert. Soll nämlich die Aneignung nicht mit Aufopferung der Form geschehen, welche bei poetischen und rhetorischen Kunstwerken von nicht minderer Bedeutung, als der Inhalt selbst ist, d. h. soll die Uebersezung nicht blos Dolmetschung oder auch Paraphrase sein: und soll hinwiederum nicht eine ganz fremde Form der des Originals substituirt werden, wobei dieses abermals die Hälfte des Seinigen einbüsset, d. h. soll nicht eine reine Nachbildung geliefert werden; so bleibt kein anderer Weg übrig, als dass ein gegenseitiges Nachgeben vermittelnd eintrete; denn, wie bei jeder Mittheilung und Aneignung, so ist auch hier die Bedingung, dass der eine Theil dem andern entgegen komme, dass Bestimmtes aufgeopfert werde, um Bestimmtes dagegen einzutauschen. Welches aber die Gränzen dieser Aufopferung seien, und der Punkt, bei welchem beide Theile zusammentreffen, diess ist die Frage, um welche es sich hier handelt. Schleiermacher hat in seiner bekannten Abhandlung über die verschiedenen Methoden des Uebersezens (vorgeles. d. 24. Jun. 1813, abgedr. in den Abhandl. der philosoph. Klasse der Königl. Akad. der Wissensch. Berlin 1816. p. 143–172.)2 die nämliche Frage zu erledigen gesucht. Allein die Grundsäze, zu denen er sich bekennt, und die Resultate, zu welchen ihn der Gang seiner Untersuchung geleitet hat, sind so auffallend und unnatürlich, dass diese Abhandlung als einer von den vielen Beweisen gelten kann, wie selbst scharfsinnigen und konsequenten Denkern, wenn sie einmal in einer bestimmten Praxis befangen sind, und diese systematisch rechtfertigen wollen, ihr Verstand den Liebesdienst der Trugschlüsse nicht zu versagen pflegt. Die Praxis aber, welche jener Auseinandersezung zu Grunde lag, ist die damals noch allgemein herrschende Vossische Methode. Wir werden demnach, wenn es uns gelingt, Schleiermacher zu widerlegen, auch zugleich die Ausartung [5] jener Uebersezungsschule dargethan haben, um desto ungehinderter dann zeigen zu können, mit welchem Rechte man nunmehr die Bahn, auf welche jene beiden Koryphäen, durch Wort und Werk, die Nazion geleitet haben, allmählich zu verlassen beginnt. Es wird nun vor Allem nöthig sein, diejenigen Säze, durch welche sich Schleiermacher’s System am deutlichsten kund giebt, herauszuheben und zu beleuchten. Derselbe nimmt zwei Möglichkeiten des Uebersezens an: erstens, dass der fremde Autor zu dem Leser oder der Leser zu dem Autor sich hinbewege, zweitens dass beide sich auf einem mittlern Punkte d. h. auf dem Standpunkte des Uebersezers treffen. „Die beiden getrennten Partheien (Schriftsteller und Leser) müssen entweder an _____________ 2
[S. o. S. 59–81.]
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einem mittlern Punkte zusammentreffen, und das wird immer der des Uebersezers sein, oder die eine muss sich ganz zur andern verfügen, und hievon fällt nur die eine Art in das Gebiet der Uebersezung, die andere würde eintreten, wenn in unserm Falle die deutschen Leser sich ganz z. B. der römischen Sprache oder vielmehr diese sich ihrer ganz und bis zur Umwandlung bemächtigte.“ Unter dem Hinverfügen des Lesers zum Autor versteht er das Lesen des Autors in der Ursprache, unter der Hinbewegung des Autors zum Leser das völlige Deutschmachen des Römers, so dass die Uebersezung denselben nicht zeige, „wie er selbst würde übersezt, sondern wie er ursprünglich als Deutscher deutsch würde geschrieben haben.“ Da nun in dem erstern Falle der Begriff der Uebersezung sich von selbst aufhebe, weil der Leser ihrer nicht bedürfe, und da der andere Fall unmöglich sei, so bleibe nur noch das Dritte übrig, nämlich der Standpunkt des Uebersezers, dessen Aufgabe nach ihm ist, „das nämliche Bild, den nämlichen Eindrukk, welchen er selbst durch die Kenntniss der Ursprache von dem Werke, wie es ist, gewonnen, den Lesern mitzutheilen und sie also an seine ihnen eigentlich fremde Stelle hinzubewegen.“ Wenn wir nun aber fragen, welches Verstehen der Ursprache denn dieser Uebersezer nachahmen wolle, oder auf welchem Standpunkte der Kenntniss wir uns denselben zu denken haben, so unterscheidet hier Schleiermacher ein doppeltes Verstehen: eines, welches die Uebersezung nicht nachahmen dürfe, „ein schülerhaftes Verstehen, welches sich noch mühsam und fast ekelhaft durch das Einzelne hindurch-[6]stümpert und deshalb noch nirgend zu einem klaren Ueberschauen des Ganzen, zu einem lebendigen Festhalten des Zusammenhangs gedeiht.“ Diesem gegenüber liege ein anderes Verstehen, welches sie nicht nachahmen könne, das Verständniss jener seltenen Männer, welche sich so ganz in eine fremde Sprache und deren Erzeugnisse hinein leben und denken, dass sie bei dem Lesen fremder Autoren ihrer Muttersprache sich nicht mehr bewusst sind, und welche also auf einem Punkte stehen, wo der Werth des Uebersezens Null wird. Und so folgert denn Schleiermacher weiter: „Das Uebersezen bezieht sich also auf einen Zustand, der zwischen diesen beiden mitten inne liegt, und der Uebersezer muss also sich zum Ziel stekken, seinem Leser ein solches Bild und einen solchen Genuss zu verschaffen, wie das Lesen des Werks in der Ursprache dem so gebildeten Manne gewährt, den wir im bessern Sinne des Worts den Liebhaber und Kenner zu nennen pflegen, dem die fremde Sprache geläufig ist, aber doch immer fremde bleibt, der nicht mehr wie die Schüler sich erst das Einzelne wieder in der Muttersprache denken muss, ehe er das Ganze fassen kann, der aber doch auch da, wo er am ungestörtesten sich der Schönheiten eines Werkes erfreut, sich immer der Verschiedenheit der Sprache von seiner Muttersprache bewusst bleibt.“ Dass aber ein Uebersezer dieser Art, seinem Standpunkte der Mittelmässigkeit entsprechend, „nur das nämliche Verständniss, dessen er sich selbst erfreut, dem nämlich die Spuren der Mühe aufgedrükkt sind,“ eröffnen kann, dass er also seinem Leser nur eine solche Uebersezung zu geben im Stande ist, welche diesen bei jedem Worte erinnert, dass er etwas Ueberseztes, etwas Fremdes liest, deren Verständniss ihm die nämlichen Schwierigkeiten bietet, wie der Autor dem Uebersezer, ja, welche man sogar nicht einmal versteht, ohne das Original bei der Hand zu haben – Alles diess erkennt Schleiermacher nicht nur unbedenklich an, sondern er findet hierin gerade die Haupt-
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aufgabe und den Hauptruhm der Methode! „Wie soll, fragt er, der Uebersezer es machen, um eben dieses Gefühl, dass sie Ausländisches vor sich haben, auch auf seine Leser fortzupflanzen? Das unerlässliche Erforderniss des Uebersezens, antwortet er, ist eine Haltung der Sprache, die nicht nur nicht alltäglich ist, sondern die auch stets ahnen lässt, dass sie [7] nicht ganz frei gewachsen, vielmehr zu einer fremden Aehnlichkeit hinübergebogen ist.“ Also, um es kurz zu sagen, eine Uebersezung soll nicht ganz, sondern nur halb deutsch sein, und der Uebersezer selbst soll es nur zu einem halben Verstehen des Autors gebracht haben, soll zwischen Anfänger und Meister in der Mitte stehen, das heisst ein Stümper sein, und die Uebersezung soll endlich nicht einmal als Zwekk für sich gelten, sondern nur als Aushilfsmittel zum Verstehen des Autors dienen, und die Stelle eines fortlaufenden Kommentars vertreten. Blikken wir, überrascht durch diese Säze, noch einmal auf den Gang der Untersuchung zurükk, und forschen, wie es möglich war, sich zu so unnatürlichen Behauptungen zu verirren, so begegnet uns sogleich beim Anfange der Argumentazion ein logischer Fehler. Nachdem nämlich Schleiermacher richtig zwischen Paraphrase, Nachbildung und Uebersezung unterschieden und die beiden erstern als Gränzzeichen für das Gebiet der leztern bezeichnet hat, wird troz dem der Begriff des Uebersezers so gefasst, dass ein Theil davon handgreiflich ausserhalb der Definizion gelegen ist. Für den eigentlichen Uebersezer, sagt er, giebt es nur zwei Wege: „entweder der Uebersezer lässt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen, oder er lässt den Leser möglichst in Ruhe und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen.“ Und nun werden diese zwei Wege so angegeben, dass auf dem einen das Nachbilden oder Ganzdeutsch-machen, auf dem andern das Uebersezen liege. Zwar enthalte, äussert er weiter unten, jener erstere Weg auch das Belassen in der Ursprache, aber diess falle ja von selbst weg. Indem er auf solche lustige Weise den Uebersezer zwischen das Belassen im Grundtexte und das Ganz-deutsch-machen hineinpraktizirt hat, glaubt er dem staunenden Publikum bewiesen zu haben, dass jenem zur Sprache ein Kauderwelsch von Halbdeutsch oder Undeutsch gebühre. Recht deutlich drükkt er diess vollends dadurch aus, dass er meint, nicht so vollkommen deutsch müsse man den fremden Autor reden lassen, wie wenn er in Deutschland geboren und erzogen wäre, sondern so, wie er allenfalls deutsch würde schreiben gelernt haben, wenn er es auf dem nämlichen Wege erlernt hätte, auf welchem der Uebersezer die Sprache des Autors erlernen musste. [8] Ganz konsequent beweist er nun weiter, dass die Uebersezungslitteratur ihre eigene Sprache haben müsse, welche sich in so viele Zweige theile, als es Völker gebe, deren Litteratur wir uns aneignen wollen, so dass wir auf diese Weise eine Menge von Sprach-Tonarten gewinnen, deren Farbe den kundigen Leser sogleich bei dem ersten Blikke erkennen lasse, in welcher Sprache das Original einheimisch sei. So erhalten wir denn ein Griechisch-, ein Römisch-, ein Italiänisch-, ein Spanisch-deutsch! Denn, sagt er, der Zwekk sei offenbar damit noch nicht erreicht, dass ein überhaupt fremder Geist den Leser anwehe, sondern, wenn er eine Ahnung bekommen solle von der Ursprache und von dem, was das Werk dieser verdankt, so müsse er nicht nur die ganz unbestimmte Empfindung bekommen, dass, was er liest, nicht ganz einheimisch klingt, sondern es müsse ihm nach etwas Bestimmtem klingen. Und wenn er Verglei-
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chungen in Masse anstellen könne, so werde sich ihm allmählich ein Gehör anbilden, nicht nur, Altes von Neuerem, sondern auch, hellenischen von römischem Ursprung oder italiänischen von spanischem zu unterscheiden. Damit begnügt er sich aber keineswegs, sondern diese Individualisirung noch weiter fortführend, verlangt er, dass neben der Verschiedenheit der Nazionen, selbst auch die Bildungsperioden derselben, ja sogar die Eigenthümlichkeiten der einzelnen Autoren ausgeprägt werden sollen. „Und doch ist auch dieses, sagt er, an das Obige anknüpfend, noch kaum der höchste Zwekk, sondern der Leser der Uebersezung wird dem bessern Leser des Werks in der Ursprache erst dann gleich kommen, wenn er neben dem Geiste der Sprache auch den eigenthümlichen Geist des Verfassers in dem Werke zu ahnden und allmählich aufzufassen vermag.“ So dass wir denn in diesem Uebersezungsdeutsch neben dem Griechisch-deutschen nun nicht nur ein Griechisch-Athenisch-deutsch, sondern auch ein Griechisch-Athenisch-Sophokleisch-deutsch erhalten! Aber wie ist es möglich, fragen wir, diese unendliche Aufgabe mit den Mitteln zu lösen, welche der deutsche Uebersezer hat, da ihm doch nur deutsche Worte, deutsche Konstruktionen, deutsche Wendungen zu Gebote stehen, und da, wie ja Schleiermacher selbst bemerkt, das System der Begriffe und ihrer Zeichen in der Sprache des Uebersezers ein ganz anderes ist, als in der Ursprache, und die Wortstämme, [9] anstatt sich gleichlaufend zu dekken, vielmehr einander in den wunderlichsten Richtungen durchschneiden? Wir antworten getrost: Schleiermacher lässt den Uebersezer sich seine Sprache selbst machen. Freilich kann er diess nicht Wort haben wollen [sic], denn er erinnert selbst, dass Sprachen nicht erfunden werden und dass alles rein willkührliche Arbeiten an ihnen und in ihnen Thorheit ist. Aber lässt sich eine grössere Willkühr denken, als die Muttersprache zu einer fremden Aehnlichkeit hinüberbiegen zu wollen, und diess ist ihm ja die Hauptaufgabe des Uebersezers! Heisst diess etwas Anderes, als sich seine Sprache selbst machen? Denn was geschieht, um der Muttersprache die Farbe des griechischen oder lateinischen Elementes zu geben? Man nimmt ihr das Kleid, in welchem sie sich frei und behaglich bewegt, und presst sie in das steife Gewand einer dem fremden Idiome nachgebildeten Wortstellung. Man zwingt ihr Formen, Konstruktionen, Wendungen und Bilder auf, gegen welche der Genius der Sprache sich sträubt. Um ein dem Ausdrukk des Originals nahe kommendes oder entsprechendes Wort zu gewinnen, wählt man willkührlich aus dem Reichthume der Muttersprache, ohne Rükksicht auf den Unterschied der Zeiten und Umstände, Altes wie Neues und stellt es bunt neben einander: man sezt in mechanischem Austausche Zeichen für Zeichen, und glaubt in allem Ernste durch eine solche Zusammenkittung von Worten und Konstruktionen eine neue Sprache bilden zu können. Ein künstliches Produkt soll etwas Lebendiges ersezen, einen Organismus, der sich unbewusst aber frei aus dem Leben der Völker und der Einzelnen herausbildet, dessen Theile sich wie die Glieder unseres eigenen Körpers gegenseitig tragen und bedingen! Ein Uebersezen, welches sich solcher Mittel bedient, ist nicht mehr Nachahmung, es trägt das Gepräge der Nachäffung. Denn während jene von Seite des Nachahmers einen eigenen Standpunkt und Charakter voraussezt, den er nach seinem Urbilde zu formen strebt, feiert diese den Triumph der Unfähigkeit, welche dem Urbilde sich gleich dünkt, wenn sie sich mit Lappen unwesentlicher Einzelheiten be-
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hängt, und Geberden, Gang und Haltung glükklich sich angeeignet, denn ganz und gar passt auf solche Manier das Schiller’sche Wort: Wie er räuspert und wie er spukkt, das habt ihr ihm glükklich abgegukkt! [10] Am auffallendsten giebt sich dieses mechanische Verfahren bei Uebertragungen poetischer Produktionen kund. Auch angenommen, dass wir, was nicht der Fall ist, die zu solcher sklavischen Vertauschung nothwendigen Mittel in unserer Sprache vorhanden hätten, dass wir z. B. im Stande wären, das Metrum des Urbildes mit der nämlichen Form wiederzugeben, so ist schon an und für sich eine wörtliche Uebertragung eines Dichterwerks eine Unmöglichkeit, und die Schwierigkeiten, welche die Vereinigung des musikalischen Sprachelements, das sich in Rhythmus und Tonwechsel offenbart, mit der dialektischen und grammatischen Sphäre als unausführbar erscheinen lassen, beleuchtet Schleiermacher selbst zur Genüge. Aber wie erst, wenn wir keinen Rhythmus, kein Versmaas aus einer andern, alten oder neuern Sprache unmittelbar in die unsrige verpflanzen können, ohne dass beides nicht ein ganz anderes würde, weil wir nicht die nämlichen Mittel und Werkzeuge dazu besizen! Prosodie und Akzent unsrer Sprache sind bekanntlich total verschieden von dem griechischen und lateinischen. Während der eine die Höhe und Tiefe des Tons bezeichnet, bedeutet der andere die Stärke und Schwäche der Silbe. Ein eigentliches Metrum fehlt uns ganz und gar, denn wir haben nur ein relatives, verhältnissmässig geringeres oder grösseres Gewicht der Silbe. Es ist uns darum nicht möglich, mehrere gleiche Kürzen oder Längen aneinander zu fügen, eben weil das Gewicht der Silbe immer durch die Nachbarsilbe in der Weise bestimmt wird, dass gewöhnlich die vorangehende lange eine darauffolgende kurze Silbe, und umgekehrt, erzeugt. Unser Rhythmus ist ein Auf- und Abwogen in Trochäen und Jamben, in Daktylen und Anapästen, und alle andern Füsse sind uns im Grunde versagt. Aber selbst diese Trochäen und Jamben, diese Daktylen und Anapästen entsprechen nicht den antiken Metren gleichen Namens. Man darf nur z. B. an das Gesez der Dipodie, nur an die Regelmässigkeit denken, mit welcher im antiken Metrum immer Daktylus und Anapäst dem Spondeus gleich gewesen sind, um diess klar zu erkennen. Wenn nun gleichwohl versucht wird, ohne Weiteres und mit Gewalt einen in Form und Inhalt getreuen Abdrukk eines fremden Urbildes, sei es in Prosa oder Poesie, herzustellen, was wird und muss die Folge davon sein? Es entsteht eine [11] monströse Zusammensezung, ein Gemisch aller möglichen Sprachweisen, ein buntschekkiges, unnatürliches Produkt, welches von vorne herein auf den Charakter des Aesthetischen und Schönen verzichtet. Denn was schön ist, sagt Horaz, muss eben gerade einfach, in sich selbst eins und übereinstimmend sein. Sehen wir uns im Bereiche der Erfahrung nach den Resultaten solcher Uebersezungsweise um, und bemessen wir die Richtigkeit der Methode nach den vorhandenen Proben, so giebt uns Schleiermacher durch seine Uebersezung der Platonischen Werke selbst den Beleg, welch einen unerquikklichen Eindrukk eine solche zu fremder Aehnlichkeit hinübergebogene Sprache nothwendig erzeugen muss. Noch deutlicher und anschaulicher würde diess freilich werden, wenn wir die langen Reihen von Uebersezungen aus der Vossischen Schule betrachten wollten, denn der Fehler des Lehrers hat sich in den Produkten der nachtretenden Menge, alle Stadien der Sprachverrenkung
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durchlaufend, bis zur Karrikatur gesteigert. Aber es genügt zu unserm Zwekke das einzige Beispiel des Meisters. Voss hatte, wie bereits bemerkt, längst praktisch geübt, was Schleiermacher systematisch ausführt, ob er gleich hinter den Anforderungen desselben zurükkbleibt, weil ihm das Anschmiegen, das Eingehen in die verschiedensten Elemente, mit Einem Worte, das Proteusartige fehlt, was Schleiermacher fordert. Aber er gräzisirt und latinisirt die Muttersprache wie jener, und steht insofern in gleicher Kategorie mit ihm, wenn sie gleich von verschiedenen Standpunkten aus zur nämlichen Praxis gelangt sind. Denn Schleiermacher glaubt fremd sprechen zu müssen, um treu zu sein, und Voss glaubt treu zu sein, wenn er wörtlich übersezt; da er aber diess nicht thun kann, ohne fremd zu sprechen, so ist seine Sprache so undeutsch, wie die Schleiermacher’s und umgewendet. Die Treue aber, welche die Uebersezungsmethode Vossens für sich in Anspruch nimmt, zeigt sich sonderbarer Weise dadurch, dass er jeglichen Schriftsteller in gleicher Weise übersezt hat, in diejenige Sprache, welche er sich ein für allemal in jener Periode geschaffen hatte, wo er sich seinen Standpunkt originell gestaltete. Von Homer’s Uebersezung an, dem bei weitem verdienstlichsten seiner Werke, obleich selbst diess den Ton des Originals verfehlt, hat er Virgil, Ovid, Horaz, Theokrit, [12] Tibull, endlich gar Aristophanes,3 Alle in dem nämlichen Zuschnitt des Gewandes, in der nämlichen Physiognomie vor uns vorübergeführt. Ueberall dieselbe Einförmigkeit, dieselbe gleichschwebende Haltung der Sprache bei der grössten Verschiedenheit der Originale nach Zeit, Stoff und Bearbeitung4. Solchen Uebersezungen bleibt doch offenbar kein anderes Verdienst, als das eines Kommentars, insofern sie demjenigen, welchem die Ursprache nicht recht geläufig ist, als Beihilfe zum Verständniss dienen, aber sie sind weit davon entfernt, ein Portrait des Urbildes in Ton, Farbe und Eigenthümlichkeit zu geben, und vernichten so geradezu den ganzen Reiz der Persönlichkeit des Schriftstellers. Es könnte Jemand glauben, den Grund dieser gerügten Mängel nicht im Prinzip, sondern in der Persönlichkeit des Mannes suchen zu dürfen. Allein dem ist nicht also! Von Vossens Neigung zum Uebertriebenen, Hochtrabenden, von seiner Vorliebe für provinzielle Kraftausdrükke und den Mund mehr als den Sinn füllende Wortbildungen gänzlich abgesehen, liegt der Fehler an und für sich schon in der Annahme, das Original nach Form und Inhalt wörtlich wiedergeben zu können und zu müssen. Denn daraus folgt mit Einem Worte – jener Charakter der mehr quantitativen als qualitativen Uebertragung, der seine Uebersezungen alle bezeichnet. Am deutlichsten hat sich dieses Verfahren Vossens bei der Uebersezung Shakspeare’s5 kund gegeben. Bei den Alten ist man schon von vorne herein geneigt, auf Geläufigkeit, Verständlichkeit und Anmuth der Uebersezungen zu verzichten. Unser Respekt vor ihnen ist schon von der Schule her so gross, dass wir gar nicht hoffen, sie _____________ 3 4
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[Zu Voss s. o. S. 5 Anm. 4.] Einen schönen Kontrast bilden dagegen die Uebersezungsproben in dem Erlanger Schulprogramm vom Jahre 1833, wo der Grundsaz, dass jeder Schriftsteller, je nach dem Ton seiner Sprache, auch in einem ähnlichen deutschen Ton übersezt werden muss, auf das glükklichste anschaulich gemacht ist. [Shakespeare’s Schauspiele von Johann Heinrich Voss und dessen Söhnen Heinrich Voss und Abraham Voss, 9 Bde., Leipzig 1818–1829 (Bd. 4–9: Stuttgart).]
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irgend familiär und heimisch bei uns erscheinen zu sehen. Dazu kömmt, dass der grosse Zeitabstand und die Lükken der Vermittlung in hundert Fällen an der Möglichkeit des Verständnisses, geschweige der Uebertragung verzweifeln lassen, und wo oft das Gefühl mit Entschiedenheit verwirft, fehlen die [13] Mittel des Beweises. Aber bei einem uns so nahe stehenden Schriftsteller, wie Shakspeare, in dessen Lebensatmosphäre wir selbst noch athmen, mit dem wir gewissermassen auf Einem Grund und Boden stehen, wo wir den Komplex der Beziehungen und Zustände klarer haben, bei einem solchen Schriftsteller fühlt man der Uebersezung nicht nur leicht das Unnatürliche und Unwahre an, sondern kann es zugleich darthun und beweisen, und das Forum bildet nicht ein und der andere Eingeweihte, dem die Menge glauben muss, sondern ein grosses Publikum von Sachverständigen, dem die Sprache des Autors zum Theil die Muttersprache ist, erscheint als kompetenter Richter. Die Vossische Uebersezung hat das Verdienst der nämlichen Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt wie Alles Uebrige, was aus den Händen des hochverdienten Mannes hervorgegangen ist, aber der Grundsaz, oder die Gewalt, welche dem Genius der deutschen Sprache angethan ist, hat sich hier, der Schlegel-Tieck’schen Uebersezung gegenüber, am empfindlichsten gerächt, und diess behaupten wir auch vom Sommernachtstraum (von Voss dem Vater), der vielleicht als die gelungenste Parthie dieser Uebersezungen gelten kann. Diesem gegen Voss ausgesprochenen Urtheile tritt indess ein Achtung und Ehrfurcht gebietender Richter entgegen. Diess ist kein anderer, als der König unsrer Dichter und Prosaisten selbst, Göthe6, indem er die Vossische Uebersezungsmethode als die dritte und lezte oder vollkommenste anerkennt und dann also fortfährt: „Diese Art erlitt anfangs den grössten Widerstand; denn der Uebersezer, der sich fest an sein Original anschliesst, giebt mehr oder weniger die Originalität seiner Nazion auf, und so entsteht ein Drittes, wozu der Geschmakk der Menge sich erst heranbilden muss. Der nie genug zu schäzende Voss konnte das Publikum zuerst nicht befriedigen, bis man sich nach und nach in die neue Art hinein hörte, hinein bequemte. Wer nun aber jezt übersieht, was geschehen ist, welche Versatilität unter die Deutschen gekommen, welche rhetorische, rhythmische, metrische Vortheile dem geistreich talentvollen Jüngling zur Hand sind, wie nun Ariost und Tasso, Shakspeare und Calderon, als eingedeutschte Fremde, uns doppelt [14] und dreifach vorgeführt werden, der darf hoffen, dass die Litterar-Geschichte unbewunden aussprechen werde, wer diesen Weg unter mancherlei Hindernissen einschlug.“ Dieses Urtheil ist den Worten nach gegen das unsre gerichtet, der Sache und dem Sinn nach keineswegs. Denn wir erkennen mit Göthe das Verdienstvolle der ersten Leistungen Vossens an, mit denen er Bahn brach und jene Versatilität der Sprache hervorbrachte: wir bekämpfen aber die Ausartungen seiner selbst und seiner Nachahmer und die theoretischen Uebertreibungen Schleiermacher’s. Die nämlichen Beispiele und Muster, welche Göthe anführt, Shakspeare und Calderon von Tieck und Schlegel, gelten auch uns als Muster guter Uebersezungen. Weiterbildung der Sprache endlich wollen _____________ 6
In den Noten und Abhandlungen zum West-östlichen Divan. Thl. VI. p. 239. [Vgl. Goethe, Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Abt. 1, Bd. 3/1, hg. v. Hendrik Birus, Frankfurt a. M. 1994, 280–283.]
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auch wir, aber nur keine gewaltsamere als bei anderem Schriftstellerthum. Die Kluft, wie sie Schleiermacher zwischen die Uebersezungslitteratur und die selbständige stellte, wollen wir entfernt wissen. Wir wollen die Treue der Form, nach welcher Voss strebte, verbunden mit dem Gefühl, Takt und Geschmakk eines Schiller, Bürger, Wieland, Wolf, Jakobs.7 Göthe hat bei diesem Urtheile die späteren Vossischen Uebersezungen gewiss nicht im Auge gehabt, und sein Urtheil über Romeo und Julie wird sicherlich kaum anders gelautet haben, als das seines Freundes Zelter, dem alle Unnatur zuwider war8. Zudem muss man berükksichtigen, dass für Göthe, als Laien in den alten Sprachen, Voss als Vorgänger und Lehrer immer eine wichtige Autorität blieb, die ihm um so mehr Achtung einflösste, je weniger er ihm nachrechnen konnte. Man vergleiche in dieser Hinsicht, welche Bedenken und geheime Skrupel ihm Vossens Andeutungen über die Verbesserung des Hexameters verursachten9, indem er weder für sich selbst und mit eigenen Kräften die Sache aus-[15]gleichen und vermitteln, noch auch bei Vossens Geheimthun dahinter kommen konnte, wie es derselbe meine. Endlich darf man nicht vergessen, dass Göthe selbst keinen grössern Uebersezungsversuch nach dem Vorbilde jenes von ihm bewunderten Meisters gemacht hat. Hätte er ein solches Werk unternommen, so wäre es gewiss nicht minder geschmakkvoll und sinnig, wie die Verdeutschung seines Haidenrösleins ausgefallen. Nie hätte er sich zu solcher Unnatur verirrt, wie Schleiermacher sie vorschreibt, sondern sein richtiges Gefühl würde gewiss in der Praxis unwillkührlich das Fehlerhafte der gebilligten Theorie beseitigt haben. Die Alten haben uns auch in dieser Hinsicht den allein wahren Weg vorgezeichnet, denn in der richtigen Erkenntniss der Unnatürlichkeit des Bestrebens, fremde Originalwerke eben so geistig als wörtlich treu wiederzugeben, haben dieselben bekanntlich entweder sich mit Umschreibungen und Bearbeitungen begnügt, oder wo sie wirklich übersezt haben, da finden wir, dass sie sich den fremden Stoff im Geiste ihrer Sprache angeeignet und in das Lateinische lateinisch übersezt haben. Es würde hier zu weit führen, diese Thatsache mit Beispielen einzelner Uebersezungsproben zu belegen10, desto weniger mögen wir es uns versagen, über die Grundsäze der Alten einen _____________ 7
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[Zu Bürger s. o. S. 5 Anm. 3, zu Wieland S. 122 Anm. 2, zu Friedrich Jacobs S. 93 Anm. 18. – Der Rückgriff auf Schillers Übersetzungen (u. a. Euripides, Iphigenie in Aulis und Scenen aus den Phönizierinnen, entstanden 1789), die beispielsweise Solger vehement zurückgewiesen hatte (vgl. Solger, Nachgelassene Schriften und Briefwechsel, Bd. 1, Leipzig 1826, 133), ist bezeichnend für die Abwendung vom sprachmimetischen Prinzip. – Friedrich August Wolf legte zwei AristophanesÜbersetzungen vor (Aristofanes Wolken, Berlin 1811, und Aus Aristofanes’ Acharnern, Berlin 1812).] Briefw. III. Thl. p. 169. „Gleich darauf habe ich Vossens Uebersezung nachgelesen und sage noch einmal: das Stükk ist unverwüstlich. Wer es gesehen, geschaut, gelesen – Englisch, Deutsch, der lese es auch Vossisch: es ist unverwüstlich!“ [Zelter an Goethe, 14.1.1821, in: Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1796 bis 1832, hg. v. F. W. Riemer, Bd. 3 (1819–1824), Berlin 1834, 169.] Göthe’s Werke. B. XXX. p. 272. 273. [Schäfer bezieht sich auf Campagne in Frankreich 1792, wo Goethe über die Entstehung des Versepos Reineke Fuchs (vgl. unten S. 151 Anm. 14) berichtet.] Abgesehen von den einzelnen Versen, welche sich z. B. bei Horaz aus Alcäus und Sappho, bei Virgil, in der Aeneide aus Homer, in den Eklogen aus Theokrit, im Landbau aus Hesiod, Nikander, besonders aus Aratus, oft wörtlich übersezt finden, kann man die Probe am besten mit grössern Stücken machen,
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Alten selbst zu hören: es ist Cicero11, welcher seine Uebersezung der zwei Streitreden des Demosthenes und Aeschines mit folgenden Worten bei seinen Landsleuten einführte: Nec converti ut interpres, sed ut orator, sententiis iisdem et earum formis, tamquam figuris, verbis ad nostram consuetudi-[16]nem aptis: in quibus non verbum pro verbo necesse habui reddere, sed genus omni um verborum vimque servavi: non enim ea me adnumerare lectori putavi oportere, sed tamquam adpen dere. Aber auch von den neueren Nazionen ist es namentlich Engländern und Franzosen nie in den Sinn gekommen, Wort und Gedanken des fremden Idioms zugleich in ihrer Sprache wiedergeben zu wollen. Nur wir Deutsche umarmen diese Ixionswolke eines Uebersezungsideals, und bilden uns noch etwas Erklekliches darauf ein, dem Unmöglichen ohne Mitbewerber und Nebenbuhler nachzujagen. Allerdings erfreut sich unsre Sprache einer grössern Empfänglichkeit und Bildungsfähigkeit, als jede andere der neuern Sprachen. Aber wir dürfen uns dieser Vorzüge weder zu viel, noch zu wenig bewusst sein: das eine führt zum Uebermuth, das andere zur Abhängigkeit: beides aber ist unsrer jezigen Stellung gleich unwürdig. In der Mitte des vorigen Jahrhunderts war es verzeihlich, wenn die Uebersezungen der Deutschen undeutsch waren, denn das Volk hatte seit dem 30jährigen Kriege mit seiner Selbständigkeit auch seine Sprache eingebüsst, und da sich unsre Litteratur nur an den Mustern des Alterthums allmählich wieder aufrichten konnte, so war es natürlich, dass man den Schriftstellern, welche hier Bahn brachen, namentlich den Dichtern, ihre fremden Lehrer anfühlte12. Wenn aber Schleiermacher noch in unsern Tagen in der Undeutschheit die rechte Aufgabe des Uebersezens suchte und fand, und die Zumuthung stellte, dass das deutsche Ohr sich an das Undeutsche gewöhnen müsse, so heisst diess die Unvernunft zum Gesez erheben und sich an der Sprache versündigen. In jenen traurigen Tagen, als die deutsche Nazion französischer Herrschaft unterthan _____________
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wie also z. B. mit Cicero’s Uebersezungen aus Aratus, dann Cato M. 22. aus Xenoph. Cyrop. 8. 7., namentlich Catull C. LI. aus Sappho. Cornel. im Themist. 9. aus Thucyd. I. 137. etc. Was von den Griechen aus dem Lateinischen übertragen worden ist, findet sich zusammengestellt (worunter auch Uebertragungen, zu denen das Original fehlt, die aber gleichwohl viel Licht geben, wie Polyb. III. 22, 2. und c. 24.) in einem Programm von C. F. Weber: De latine scriptis quae Graeci veteres in linguam suam transtulerunt. Cassellis MDCCCXXXV. De opt. gen. oratt. c. 5. [„Ich habe aber nicht wie ein Dolmetscher, sondern wie ein Redner übersetzt, mit denselben Gedanken und mit ihren Formen, gewissermaßen in ihrer Gestaltung, aber mit Worten, die zu unserem Sprachgebrauch passen. Dabei habe ich es nicht für notwendig gehalten, Wort für Wort wiederzugeben, sondern ich habe die ganze Art der Worte und ihr Wesen gewahrt. Ich glaubte nämlich nicht, dass ich sie dem Leser vorzählen, sondern dass ich sie ihm gewissermaßen zuwiegen muss.“] Klopstock übersezte bekanntlich, von einem richtigen Gefühle geleitet, einige seiner Oden in das Griechische, und Lessing gab seine Messiade den lateinischen Hexametern wieder zurükk, weil er (wie er im II. Theile seiner Schriften p. 244–251. Frankfurt u. Leipzig 1770. mit verstellter Naivität versichert) viele Stellen der Messiade Andern nur mit Hilfe des Lateinischen erklären konnte. Das beste Urtheil aber fällt Novalis (S. Schr. Berl. 1802. p. 372.): Klopstock’s Werke scheinen grösstentheils freie Uebersezungen und Bearbeitungen eines unbekannten Dichters, durch einen sehr talentvollen aber unpoetischen Philologen zu sein.
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war, und ihr Sinn zur Knechtschaft [17] hinneigte, da kamen in ähnlicher Weise Gelehrte, und suchten darzuthun, dass diese Knechtschaft die eigentliche Freiheit sei13. Seitdem hat sich Gottlob unsre Sprache zur Mündigkeit herangebildet und ist berufen, selbständig ihre eigne Bahn hinzuwandeln. Wie es aber damals galt, sich eine Sprache zu gewinnen, so stellt unsre Zeit an das Geschlecht die Aufgabe, sie zu behaupten, und nicht in übermüthigem Vertrauen auf ihre Universalität sie zur Nachäffung jeder ausländischen Sprach- und Dichtweise in widerlicher Sprachverrenkung zu misbrauchen. Denn wie sich die kräftige Persönlichkeit jedes Einzelnen darin ausdrükkt, dass sie Alles, was ihr nicht gemäss ist, ferne hält und ausstösst, so muss die deutsche Nazion jezt ihre Sprache, als das heiligste Palladium der Nazionalität, wahren und das kräftig-schöne Gebilde vor Verbildung behüten. Es scheint allerdings eine ehrenwerthe Bestimmung unsres Volkes zu sein, die verschiedensten Richtungen, in der Wissenschaft wie im Leben, aufzunehmen und zu vermitteln. Aber um so mehr zu beherzigen ist auch die Aufgabe, bei solchem Zuströmen fremder Bildungselemente, bei dem überwiegenden Einflusse bereits fertiger und scharf ausgeprägter Nazionalität anderer Völker, aus der Vielfachheit der Berührung Vortheil zu ziehen, ohne dass die eigne Individualität in unbestimmte Umrisse sich auflöse und verschwimme. Welches sind nun aber die Anforderungen, die wir selbst an eine Uebersezung stellen? Sie muss vor Allem deutsch14 sein, d. h. der Charakter unsrer Sprache, als der Form unsres volksthümlichen Denkens und Empfindens, muss sich darin nach seiner Eigenthümlichkeit rein und klar ausgeprägt darstellen. Jedes einzelne Element derselben, Wortstellung, Periodenbau, Sazverbindung, Modusgebrauch, dann die Wortbildung, die Weise des Ausdrukks, die Wahl der Tropen und Bilder, – kurz, [18] Alles und Jedes darf nur dem Bereiche des deutschen Sprachidioms entnommen sein. Schleiermacher opfert dieses Erforderniss ganz und gar seiner Theorie; weil er aber selbst nicht umhin kann, die Verpflichtung zur Reinheit der Sprache als einen Vorzug der von ihm verworfenen Methode anzuerkennen, so hören wir diess am liebsten aus seinem eignen Munde: „So viel sehen wir gleich, dass die Sprache des Uebersezers von dieser Methode nicht das Mindeste zu befürchten hat. Seine erste Regel muss sein, sich wegen des Verhältnisses, in dem seine Arbeit zu einer fremden Sprache steht, nichts zu erlauben, was nicht auch jeder ursprünglichen Schrift gleicher Gattung in der heimischen Sprache erlaubt ist.“ Korrekt also muss die Uebersezung sein, deutsch ohne alle Härte, ohne alle aufgezwungene Sprachbildungen und auffällige Neuerungen. Der Uebersezer kann und darf Worte und Wendungen bilden, neue Bedeutungen schaffen, aber durchaus nicht mehr, als jeder andre Schriftsteller. Alles aber, was er uns giebt und bietet, muss uns natürlich, homogen, unsrer Eigenthümlichkeit entsprechend _____________ 13
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Vergl. v. Strombeck: Darstellungen aus meinem Leben II. Thl. p. 51. [Friedrich Karl von Strombeck, Darstellungen aus meinem Leben und aus meiner Zeit, 7 Bde., Braunschweig 1833–1840.] Wer deutsch reden will, der muss nicht der ebräischen Worte Weise führen, sondern darauf sehen, wenn er den ebräischen Mann versteht, dass er den Sinn fasse und denke also: Lieber, wie redet der deutsche Mann in solchem Fall? Wenn er nun die deutschen Worte hat, die dazu dienen, so lasse er die ebräischen Worte fahren und spreche frei den Sinn heraus aufs beste deutsch, so er kann. (Weish. Luth. 2te Aufl. p. 165.)
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sein. So nur wird uns eine neue Stellung, ein neues Wort, sei es wirklich erst gebildet oder aus dem eigenen Sprachschaze in den Gebrauch zurükkgerufen, nicht als Neuerung erscheinen, sondern das Gegebene wird uns schon beim ersten Anblikk gewohnt und heimisch vorkommen, wie wir oft im Leben eine uns verwandte Natur bei der ersten Erscheinung schon als längst gekannt und als ersehnte Ergänzung unsres Innern begrüssen. Es genügt jedoch nicht, dass der Sprache negativ ihr Recht widerfahre und ihr nicht Gewalt angethan werde, sondern die Sprache der Uebersezung muss neben der Korrektheit auch anmuthig15, gefällig, wohlthuend, harmonisch sein. Auch hier möge Schleiermacher für uns sprechen. „Nicht nur nichts zu fürchten hat die Sprache von jener Methode, sondern der Uebersezer hat so sehr als irgend einer die Pflicht, wenigstens dieselbe Sorgfalt für die Reinigkeit und Vollendung [19] der Sprache zu beobachten, derselben Leichtigkeit und Natürlichkeit des Styls nachzustreben, die seinem Schriftsteller in der Ursprache nachzurühmen ist.“ Wir werden nicht mit ihm darüber rechten, dass er hiebei dasjenige zu einem minimum der Uebersezungsaufgabe zu machen scheint, was uns als das Höchste gilt, sondern wir fragen nur: Wer die Form der alten Schriftwerke nachzubilden sich bestrebt, kann der ein andres Ziel kennen, als Anmuth und Schönheit? Worin liegt denn jener eigenthümliche Reiz der Schriften des Alterthums, welchem keine Zeit seine Blüthe abzustreifen vermag, jener unwiderstehliche Zauber, welcher die Bewunderung aller Jahrhunderte fesselt? Es ist die Grazie selbst, die nie alternde, ewig blühende! Darum ist und bleibt die höchste Aufgabe alles Uebersezens: Aus dem Schönen ins Schöne!16 Und wer diess Ziel nicht erstreben kann oder will, der ist des hohen Berufs der Vermittlung zwischen alter und neuer Zeit unwürdig, der trübe den lautern Quell klassischer Rede nicht durch unreine Hände, und halte sich fern von dem Alterthum17. _____________ 15
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Der Uebersezer muss den Schein der vollkommensten Freiheit mit der vollkommensten Gesezmässigkeit behaupten. Es ist nicht genug, Schwierigkeiten zu beseitigen, auch der Schweiss muss verborgen bleiben, den der Sieg gekostet hat. (Jacobs Verm. Schr. II. Th. p. 19). [Friedrich Jacobs, Griechische Blumenlese (Vermischte Schriften, 2. Tl., Bd. 1), Gotha 1824, XIX f.: „Das Epigramm der Hellenen und ihre Elegie ist ein so zartes Werk der Kunst, dass es keine Nachlässigkeit verstattet, und mehr als irgend ein anderes in Sprache, Haltung und Rhythmus den Schein der vollkommensten Freiheit mit der vollkommensten Gesetzmäßigkeit behaupten muß. Daß dem Uebersetzer dasselbe obliege, kann nicht bezweifelt werden. Es ist nicht genug, Schwierigkeiten zu besiegen; auch der Schweiß muß verborgen werden, den der Sieg gekostet hat; es ist nicht genug, sich durch die Gesetze der Kunst zu fesseln; auch die Bewegung in diesen Fesseln muß so leicht und anmuthig seyn, als man nur bey Ungefesselten sehn kann.“] [Diese Formulierung hat Schäfer von Johann Gustav Droysen übernommen, in dessen deutscher Aischylos-Ausgabe es heißt: „Die erste Anforderung ist, daß aus dem Schönen in das Schöne übertragen werde […].“ Des Aischylos Werke. Uebersetzt von Joh. Gust. Droysen, Bd. 1, Berlin 1832, IX.] Muss denn nicht durch solche Uebersezungen, wie wir sie namentlich von Tazitus haben, das Urtheil über den künstlerischen Werth der Schriftsteller des Alterthums, also die Vorstellung vom Alterthum selbst gänzlich verkehrt werden? – Der Woltmann’schen Uebersezung widerfährt, was ihr gebührt, von dem Rez. in der Hall. Allg. Lz. 1826. 89: „Wer wird nicht, wenn er Woltmanns Uebersezung liest, meinen, Tazitus habe ein Latein geschrieben, so rauh, so ungefüge und barbarisch, als der Kriegsgesang der alten Germanen war, den Ammianus Marcellinus mit dem Rollen eines Rüstwagens über einen Knüppeldamm verglich.“
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Was Göthe18 ziemlich unverständlich ausdrükkt, wenn er als die dritte und höchste Uebersezungs-Epoche diejenige bezeichnet, wo man die Uebersezung dem Original identisch machen möchte, so dass eins nicht anstatt des andern, sondern an der Stelle des andern gelten solle, diess enthält das dritte Erforderniss, welches wir an eine Uebersezung stellen, dass sie nämlich etwas an sich sei. Sie soll nicht blos ein Surrogat, ein Ersaz für die Unzugänglichkeit des Originals sein. Wir wollen eine Uebersezung, welche man für sich geniessen kann, und nicht erst in die Urschrift zurükkübersezen braucht, um sie geniessbar zu [20] machen19. Sie darf nicht erst ihren Werth durch ihr Vorbild erhalten, darf nicht einem Symbole gleichen, welches seine Bedeutung erst durch das gewinnt, woher es genommen ist, nicht einer Reliquie, welche nur durch das, woran sie erinnert, das ist, was sie ist. Die Uebersezung wird aber dieser Aufgabe entsprechen, wenn sie jene beiden ersten Erfordernisse in sich enthält, denn ein Werk, welches Korrektheit und Grazie in sich vereinigt, ist schon etwas an sich, ein Selbstständiges, und wenn Solger vermeint, eine Uebersezung sei kein Kunstwerk,20 weil sie nichts aus dem Gemüthe darstelle, und ein Produkt der Gelehrsamkeit sei, so mag diese Definizion für seine Zeiten passen, und wir begnügen uns mit der Erwiederung, dass einer Uebersezung wenigstens das wesentlichste Merkmal eines Kunstwerks nicht fehlen dürfe, die Vollendung in sich selbst. Eine Uebersezung darf endlich kein willkührliches, handwerksmässiges Fertigen einer Waare sein, wie sie der Markt der Uebersezungsfabriken alljährig zur Schau stellt. Wenn der Zwekk alles Uebersezens Vermittlung des Alterthums und der Gegenwart ist oder sein soll, so ergiebt sich, dass die Zeit selbst in sich die Möglichkeit und das Bedürfniss einer solchen Vermittlung enthalten muss. Denn ohne das Vorhandensein einer bestimmten Aehnlichkeit der allgemeinen Zustände und einer gewissen Gleichheit der Stimmung ist ein richtiges Verständniss des wiedergebornen Schriftstellers undenkbar, und ohne die Grundlage solcher analoger Färbungen der Gegenwart, welche allein nur Empfänglichkeit und Anklang bedingen, bleibt eine Uebersezung ein unfruchtbares Samenkorn, ein fremder Stoff, den der Verdauungsprozess der Zeit ausstösst, ohne ihn in das Blut des Bewusstseins aufzunehmen. Vollends aber muss die Persönlichkeit des Uebersezers in einer genauen Beziehung zu seinem Original stehen. Man muss selbst ein Dichter sein, um einen Dichter übersezen zu können. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass ein gleich grosses Talent und Genie erfordert werde, und dass wir erst einen deutschen Aeschylus erwarten [21] müssten, um ein deutsches Abbild des Originals zu gewinnen. Nicht diess, nicht gleich an Kraft, nur fähig, seinen Schriftsteller in sich aufzunehmen, ihm gleichsam ebenbürtig muss der Uebersezer sein. Das Vermögen, in den Geist des Urbilds einzugehen, sich in ihn einzuempfinden _____________ 18 19
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S. W. Thl. VI. p. 239. [In den Noten zum Divan, s. o. S. 134 Anm. 6.] Und wenn man gewisse Uebersezungen darum gepriesen hat, dass sie dem Leser den Genuss gewährten, sie fortwährend gleichsam in das Original zurükk zu übersezen, so scheint mir das dem künstlerischen Werthe solcher Arbeiten geradezu den Stab zu brechen. (Droysen in s. Aristoph. I. Thl. Vorr. p. IX.) [Des Aristophanes Werke. Uebersetzt von Johann Gustav Droysen, Bd. 1, Berlin 1835.] [S. o. S. 40.]
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und einzufühlen, reicht vollkommen hin, um die Originalität darzustellen. Es muss ein Verhältniss zwischen Schriftsteller und Uebersezer sein, wie es Göthe21 zwischen Wieland und Cicero oder Horaz annimmt, oder, wie es zwischen Göthe selbst und Eckermann Statt findet. Wenn somit ein Uebersezer nicht bestellt werden kann, wenn es der Fügung überlassen werden muss, wann und wo er ersteht, so sind doch die Bedingungen seiner Erscheinung nicht so hoch gestellt, dass die Zeit berufene Uebersezer nur in langen Zwischenräumen, wie die grossen Originale selbst, zu schauen bekäme. Welcher Mittel sich unser Uebersezer zu bedienen, wie er zu verfahren hat, ergiebt sich aus dem bisher Gesagten von selbst. Er darf nicht selbst machen, weder auf eigne Faust noch durch Nachäffung, weder in Prosa noch in Poesie. Er darf nichts Fremdes unmittelbar einimpfen wollen, sondern er muss unter dem bereits Vorhandenen das Entsprechende nehmen, und sein Hauptverdienst wird sich in dem Takt und Geschikk zeigen, aus dem Bereiche des Volkslebens oder aus der vorhandenen Litteratur mit glükklicher Hand das Analoge herauszugreifen. So war es ein guter Gedanke von Lange, Herodot in dem Gewande der Lutherischen Sprache wiederzugeben,22 denn allerdings steht diese zu uns in einem ähnlichen Verhältnisse, wie die Sprache Herodot’s zu seiner Zeit. Das Milde und doch Kräftige, das Vertrauliche, Redselige, Treuherzige, das Schmukklose und Schlichte, alle diese Elemente sind beiden Sprachen gemeinsam, und daher gewinnen wir aus der Lange’schen Uebersezung einen ähnlichen Eindrukk, wie ihn das Original erzeugt, aber bei Lange erscheint zum Theil gesucht, was bei Herodot natürlich ist: er artet in Manier aus, und wird dadurch widerlich. Darum gebührt ihm das Verdienst des Gedankens, aber die Ausführung ist noch einem Glücklichern vorbehalten. Sogar die Wahl der Ansprachsform23, um ein Beispiel von scheinbar Gleichgiltigerem zu wählen, ist von der grössten Bedeutung, wenn es gilt, das Entsprechende und Analoge aus der Muttersprache zu finden. Am meisten hat man alles nationelle und volksthümliche [22] Gefühl bei Nachahmung der antiken Metren verläugnet24, als wenn man so ohne Weiteres das Gleiche mit einem ganz ver_____________ 21
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S. W. Thl. XXXII. p. 251. [Schäfer bezieht sich auf Goethes Rede Zu brüderlichem Andenken Wielands (1813, in: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Frankfurter Ausgabe, Abt. 1, Bd. 17, 1994, 426–448), in der allerdings vor allem Wielands Affinität zu Lukian betont wird.] [Zu Langes Herodot-Übersetzung s. o. S. 83.] Sehr Lesenswerthes s. hierüber in einem Schulprogramm meines ehrwürdigen Vaters, J. A. Schäfer, Ansb. 1794. und in den Vorr. zu seiner Uebers. der Briefe des Plinius. Der alte Gellert fühlt das Nothwendige und allein Fruchtbringende des Analogen sehr richtig, wenn er in seiner praktischen Abhandlung von dem guten Geschmakk in Briefen bei einem Plinianischen Briefe Tu mit Sie übersezt und dabei sagt: Bei einem einzelnen Brief, den ich als Exempel anführe, schien mir das Sie nöthig zu sein, um die Aehnlichkeit der alten und unserer Briefe fühlbar zu machen, und den Leser geschwinder zu überzeugen, dass die Regeln eines guten Briefs allezeit ebendieselben gewesen sind. Fischart, der deutsche Rabelais, fügt, nachdem er seiner Muttersprache wegen der Fähigkeit, auch den Hexameter nachzuahmen, ein Lob gesungen, hinzu: Wenn sie (die deutschen Verse) nicht die Prosodie oder Stimmässigung also abergläubig, wie bei den Griechen, halten, so ist es erst billig, denn wie sie ihre Sprach nit von andern haben, also wollen sie auch nit nach andern traben. Eine jede Sprach hat ihre sondere angeartete Tönung und soll auch bleiben bei derselben Angwöhnung.
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schiedenen Material wiederherstellen, etwa eine Brükke aus Stein nach demselben Plane wie eine hölzerne, oder eine eiserne gerade wie eine Brükke aus Stein bauen könnte, und nicht vielmehr jeder Stoff seine eigenen Geseze der Anwendung in sich trüge25. Einen unbefangenen Uebersezer wird sein eignes Gefühl leiten, was er zu opfern oder aufzunehmen, und was er in der Muttersprache als Ersaz für das Geopferte zu substituiren habe. Dabei ist wohl zu beachten, dass, nachdem unsre Sprache durch manchen schönen Zuwachs von allmählich akklimatisirten Metren aus den alten und neuern Sprachen wirklich bereichert worden ist, wir nicht mehr so viel, wie vordem, zu opfern haben, sondern es steht uns bereits ein weites Feld von einheimischen Mitteln offen, um alte Originale mit genügender Wahrheit der Form darstellen zu können. Wie bekämpft aber Schleiermacher diese von uns vertretene Methode, deren Ziel ist, dahin zu wirken, dass wir die Alten so, wie sie leibten und lebten, endlich auch einmal in unsrer Muttersprache geniessen können? Er verzichtet auf eine solche Uebersezung nicht, weil er ihre Vorzüge verkennte, sondern weil er sie für unmöglich hält. „Wie kann man einen Menschen von seiner angebornen Sprache trennen wollen, und meinen, es könne ein Mensch oder auch nur eine Gedankenreihe eines Menschen eine und dieselbe werden in zwei Sprachen? Oder wenn sie denn auch auf gewisse Weise verschieden sind, wie kann man sich anmassen, die Rede bis in ihr Innerstes aufzulösen, den Antheil der Sprache daran auszuscheiden, und durch einen neuen, gleichsam chemischen Prozess sich das Innerste derselben verbinden zu lassen mit dem Wesen und der Kraft einer andern Sprache?“ Allerdings kann man den Menschen von seiner Sprache nicht, wie die Frucht von der Schale, lostrennen, und sie ist kein Kleid, das man einem auszieht, um ihm ein andres dafür anzuziehen. Handelt denn aber Schleiermacher’s Uebersezer dieser Wahrheit würdiger als wir? Er kleidet sich, wie der Römer oder Grieche gekleidet war, präsentirt sich dann in dieser Vermummung und beginnt seine Komödie! – Wenn der Gedanke sich seine Form schafft, wie die Seele sich gleichsam selbstthätig mit dem ihr gebührenden Körper umgiebt, so kann er doch wohl das Nämliche noch einmal, im Deutschen, thun, was er bereits einmal, im Griechischen, gethan hat. [23] Es handelt sich also nur darum, dass der Uebersezer geistesverwandt, und dass er hingebend genug sei, um den schon einmal gedachten Gedanken nachzudenken d. h. in sich aufzunehmen und in freiem Geiste (gleichwie das Weib beim Embryo) sich reproduziren zu lassen. Nicht eine Mummerei, sondern ein nochmaliges Entstehen in einem homogenen Geiste und homogenen Elemente wird von uns gefordert26. Zum Zweiten fürchtet Schleiermacher, eine solche Uebersezung müsse nothwendig sich in Nachbildung verlieren. Er sucht diess aus der Unmöglichkeit nachzuweisen, die Philosophische, innerhalb der Gränzen eines bestimmten Kreises gänzlich abge-
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Ueber die Art, wie ein sinniger Uebersezer im Metrischen zu verfahren habe, muss man Droysen’s Vorrede zu s. Aristoph. I. Thl. p. XI.–XVI. nachlesen. Es ist mir vorgekommen, dass, wer einen solchen grossen Alten unserm Jahrhundert darstellen will, sich in ihn verwandeln und nicht sclavisch, sondern, wie die Schrift sagt, κατ’ ἐξουσίαν den Charakter seines Ausdrukks vortragen soll. Joh. v. Müller. S. W. VIII. p. 413.
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schlossene, Sprache überzutragen, ohne entweder zu paraphrasiren oder nachzubilden, und findet die Aufgabe vollends unausführbar bei der Komödie. In der Philosophie ist man nun einmal gewohnt, dass jeder Philosoph und jede Philosophie sich eine eigne Kunstsprache bilde und mache. So wollen wir denn auch dem Plato und Aristoteles die ihrige lassen und ihrem Uebersezer gestatten, dass er hier besondre Ausdrükke sich mache, so weit das technische Gebiet der Begriffsbestimmungen es fordert. In der Komödie aber wird der Uebersezer allerdings nicht umhin können, theilweise Nachbildner zu sein. Dadurch ist jedoch nur ein gradweiser, nicht ein spezifischer Unterschied von den andern Uebersezungen bedingt. Theilweise ist jede Uebersezung, auch die Vossisch-Schleiermacher’sche, Nachbildung. Denn durchgängiges Substituiren lauter neuer Dinge, so dass ein Werk ganz und gar aus seiner Umgebung herausgerissen und der unsrigen einverleibt wird, ist Nachbildung, theilweises aber ist Uebersezung. Wenn übrigens Schleiermacher gerade Aristophanes wählt, um die Unausführbarkeit unsrer Methode darzuthun, so hätte er nicht glükklicher für uns wählen können. Denn hier haben wir nicht nur durch Göthe ein Beispiel der Nachbildung,27 gegenüber der Uebersezung, sondern auch in dem leztern Fache zwei Leistungen, wie wir sie passender selbst nicht hätten auffinden können. Nach dem Vorgange Wolf’s28, und nach dem misslungenen Versuche Vossens29, hat uns Droysen den alten Dichter so wiedergegeben, dass er einer der unsrigen geworden ist, oder, wie ein geistvoller Rezensent30 sagt: „Droysen’s Bemühung hat die Stellung des [24] wirklichen definitiven Verdauungsprozesses alter Dichter im Gegensaz gegen die Vossische Aufgabe, unsre Sprache und Dichtung mit altklassischer Eigenthümlichkeit zu bereichern. – Er will geben und gibt wirklich nicht eine nur gelehrte und schrullenhaft (?) elegante Uebersezung, sondern Poesie und den Alten wirklich frisch und verjüngt im geistigen Hauche der deutschen Gegenwart.“ In solchem Geiste und in solchem Sinne muss uns das ganze Alterthum genähert werden. Lasse man immerhin die Befangenheit fürchten, dass die Beimischung von dem Wesen und der Persönlichkeit des Uebersezers den Autor entstellen, und dass uns sein Bild, durch dieses Medium erblikkt, nicht ganz in dem nämlichen Lichte erscheinen möchte! Nimmt auch der Uebersezer einen Theil des Interesses für seine Persönlichkeit in Anspruch, so zeigt er uns zum Ersaz dafür an seinem eignen Beispiele, was eine treue Beschäftigung mit dem Original gewinnen lasse, und wird unser Führer nicht allein mit den Worten, sondern auch mit der That. Und solchen Gewinn sollen _____________ 27 28 29
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[Goethe hatte auf Wunsch des Herzogs Carl August für eine Aufführung in Ettersburg bei Weimar im Sommer 1780 eine freie Bearbeitung der Aristophanischen Vögel angefertigt.] S. im Schütz’schen Briefw. I. p. 220. Jacobs’s Urtheil über Wolf und Voss. Die Vossische Uebersezung ist und bleibt zwar ein merkwürdiges moralisches Phänomen unsrer Zeit, durch diese hervorgerufen und gefördert, dürfte aber in ästhetischem und technischem Betracht selbst noch nicht für ein gelungenes, sondern künftigem Gelingen vorarbeitendes Unternehmen angesprochen werden. Jenes dürfte nicht ausbleiben, wenn wir des Gottes eignen Rath beherzigten: (Frösche 1445) Sprich etwas ungelehrter und verständlicher. Rez. im Hermes XVII. p. 7. Hall. Jahrbb. 1839. 1. [Autoren dieser Rezension waren die Herausgeber der Hallischen Jahrbücher, Arnold Ruge und Theodor Bergk.]
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wir bei der Beschäftigung mit den Alten Alle erstreben; aber wir können uns desselben nicht eher erfreuen, als bis wir jene durch und durch und von Grund aus verstehen, so dass wir in ihnen und sie bei uns ganz heimisch werden. Auf halbem Wege wird aber hier Nichts erreicht. Nur selbstische Menschen oder Schwächlinge bringen halbe Hilfe statt ganzer: jene, indem sie dafür sorgen wollen, dass man ihrer Dienste niemals entrathen könne, diese, weil sie es nicht besser vermögen. Der tüchtige Mensch und der Meister seines Faches drükkt nicht mit der einen Hand nieder, indem er mit der andern emporhilft. Nur durch Vermittlungen solcher Art, wie wir sie fordern, wird die Aufgabe gelöst, welche wir dem Alterthum gegenüber, als einem Theil der Weltgeschichte, selbst an uns zu stellen haben, und nur so kann und wird es allmählich erreicht werden, dass dasselbe endlich aufhöre, für uns ein bloser Name zu sein, und das lähmende Anstaunen des Unbegriffenen sich in ein freudiges Erkennen und begeistertes Nachahmen verwandle!
Robert Prutz Robert Prutz (1816–1872), Philologe und Schriftsteller, hatte in Berlin, Breslau und Halle Klassische Philologie studiert. Sein politisches Engagement während des Vormärz machte eine akademische Laufbahn zunächst unmöglich. Auf Fürsprache Alexander von Humboldts erhielt er 1849 ein Extraordinariat für Literaturgeschichte, das er allerdings 1858 auf Grund andauernder Schwierigkeiten mit den Behörden wieder aufgab. Danach lebte er als vielseitiger und produktiver Schriftsteller und Privatgelehrter in Stettin. Er verfasste Zeitgedichte, Romane und Dramen und erhielt 1865 von der Deutschen Schillerstiftung eine Pension auf Lebenszeit. Seine Abhandlung zur Geschichte der deutschen Sophokles-Übersetzung erschien in den von Arnold Ruge herausgegebenen Hallischen Jahrbüchern für deutsche Wissenschaft und Kunst, einer bedeutenden Zeitschrift der Junghegelianer. Der konsequent historisch-positive Ansatz, den Prutz in seinen literatur-, theater- und journalismusgeschichtlichen Arbeiten richtungsweisend vertrat, ist auch hier wirksam: Prutz setzt der, so seine Formulierung, „luftigen Theorie“ Schleiermachers eine faktenreiche historische Darstellung entgegen, die insofern auch für die theoretische Dimension des Übersetzens wichtig ist, als sie die allmähliche Entfaltung des Formgedankens historisch darstellt und implizit Hinweise für zukünftige Übersetzer geben will. In der abschließenden Besprechung aktueller Übersetzungen werden die Arbeiten von Georg Thudichum (1794–1873) und vor allem von Johann Jacob Christian Donner (1799–1875) als Muster vorgestellt. Für vorliegende Ausgabe wurde der Text um Passagen zur älteren Übersetzungsgeschichte gekürzt.
Zur Geschichte der deutschen Uebersetzungs-Litteratur: Sophokles. (Auszug) Aus: Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst, 1840, Sp. 449–454, 457–464, 465–472, 473–479, 481–488, 489–496, 502–504.
Die Tragödien des Sophokles. Uebersetzt von Georg Thudichum. Leipzig u. Darmstadt, bei C. W. Leske, und Bonn, bei A. Marcus. Erster Theil, 1827. Zweiter Theil, 1838. Sophokles, von J. F. C. Donner. Heidelberg, 1839. Verlag von Winter. Des Sophokles Tragödien in deutscher Prosa. Von einem Vereine Gelehrter. Erfurt und Leipzig, 1840. Verl. v. Ludw. Hilsenberg. Sophokles Oedipus in Kolonos. Von Arnold Ruge. Jena, 1830. Verl. v. Aug. Schmid. Antigone. Ein Trauerspiel von O. Marbach. Leipzig, 1839. Verlag von Hinrichs.
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Wenn wir den unermeßlichen Aufwand von Zeit und Fleiß und Kraft erwägen, welchen in dem gesammten Verlauf unserer Litteratur, insbesondere aber seit den letzten vier Jahrhunderten man gemacht hat, um die Schriften des Alterthums unserer Begriffswelt und unserer Sprache durch Uebersetzung anzueignen, wenn wir uns erinnern an die wetteifernden Bemühungen so viel ausgezeichneter und tüchtiger Männer, die alle den reichen Schatz ihrer Kenntnisse, das glückliche Vermögen ihres sprachlichen und oft sogar ihres poetischen Talents auf diese Uebertragung der Alten verwendeten, ja wenn wir nur mit einem Blick in die Verzeichnisse unserer Bibliotheken uns überzeugen von dem wahrhaft ungeheuren Vorrath von Uebersetzungen, Nachahmungen, Bearbeitungen des Alterthums, und dann erwartungsvoll, welches endlich jetzt die gereifte Frucht so unzähliger Bemühungen sein wird, den gegenwärtigen Zustand unserer Uebersetzungslitteratur ins Auge fassen: so wird es uns nicht wenig überraschen, hier, als hätten wir jene lange Schule mühsamster Versuche und Erfahrungen noch gar nicht durchgemacht, immer noch ein so chaotisches Gewirre widersprechender Ansichten, Forderungen und Leistungen zu finden, daß es in der That schwer hält, in diesem allgemein willkürlichen Treiben ein mehr als willkürliches Urtheil persön-[450]licher Billigung oder Mißbilligung zu fällen. Nicht ohne Grund glauben wir den Ursprung dieser Verwirrung, die in dem Mißbrauch und der vergeblichen Anstrengung so vieler Kenntnisse und Kräfte sogar etwas Tragisches erhält, darin zu finden, daß man es bisher verschmäht hat, der geschichtlichen Entwicklung dieser Uebersetzungslitteratur diejenige Aufmerksamkeit zu widmen, welche, indem sie aus der Geschichte den Begriff herauskehrt, zugleich das Princip und den nothwendigen Gang zukünftiger Uebersetzungen, insoweit diese nicht als unerheblich und willkürlich außerhalb der allgemeinen Entwicklung stehen bleiben wollen, vor unser Bewußtsein führen würde. Denn mit der luftigen Theorie, welche von dem bisherigen geschichtlichen Verlauf und der thatsächlichen Verwirklichung der Idee in der Geschichte absieht, und ihre eigene Willkür zum Gesetz machen will, werden wir weder hier ausreichen, noch irgendwo; und darum haben selbst so scharfsinnige und anregende Betrachtungen, wie z. B. die von Schleiermacher (Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens, in den Abhandlungen der berliner Akademie, 1813; Philos. Kl. v. 1812–13, S. 143–172),1 weil sie nicht aus geschichtlicher Forschung hervorgehen und nicht an diese sich anschließen, keine Vereinigung der widersprechenden Ansichten herbeiführen können. Man hört es wohl alle Tage und es ist wahr genug, daß unsere ganze gegenwärtige Bildung auf den edlen Stamm des classischen Alterthums gepflanzt ist und bis in die kleinste Ader hinein von diesem unversiegbaren Quell der Antike lebendig durchflossen wird; aber noch fehlt es an einer Darstellung, die uns aufklärte und unterrichtete über die Art und den Zusammenhang dieser innerlichsten Verwandtschaft, – eine Darstellung, in welcher die Geschichte unserer Uebersetzung der Alten keinen geringen Platz einnehmen und nicht ohne allgemeinstes Interesse sein würde. Es wäre dies eine Aufgabe sowohl für den Philologen als für den Geschichtschreiber unserer Litteratur; jener, dem es um Erkenntniß des besondern alterthümlichen Geistes zu thun ist, oder doch zu thun sein soll, würde denselben _____________ 1
[S. o. S. 59–81.]
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begleiten durch die mannigfachen und oft wunderbaren Umbildungen, welche er in der Berührung mit der mittelalterlichen und mo-[451]dernen Zeit, in der Einwirkung auf die Charaktere und Zustände der verschiedenen Völker, in der Verschmelzung und Erweiterung zu einem neuen Dasein erfahren hat; er würde nachweisen, was von jenen großen und energischen Manifestationen des Alterthums in seinen Dichtern und Künstlern von dem neuen Geiste nachfolgender Jahrhunderte aufgenommen und zu neuem Lebenssafte verwendet worden; er würde zu herzerhebendem Schauspiel uns zeigen, wie die Kunst der Alten in ihrer reinen und vollendeten Form zu allen Zeiten eine Bildnerin und Erzieherin des menschlichen Geschlechts geblieben, und wie es dadurch geschehen ist, daß der besiegte Grieche und Römer zum Sieger seiner barbarischen Obherren ward. Dieser dagegen, der Geschichtschreiber unserer Litteratur, getreu seinem Berufe, das Leben unsers deutschen Geistes in seiner poetischen Gestaltung darzulegen, wird dabei nicht umhin können, eine besondere Aufmerksamkeit auf die Einflüsse zu wenden, welche wir von Außen her erfahren und die wie Sonnenschein und Regen die edle Pflanze unserer Bildung zu glücklichem Gedeihen erzogen haben; er wird uns schildern müssen, wie das Selbst unserer Litteratur oft in Nachahmung und Uebertragung sich zu verlieren schien an fremde Einflüsse; aber wie der einzelne Mensch, will er zu wahrhaftem Leben und zur richtigen Entwicklung seiner eigenen Kraft gelangen, in fremde Zustände eingehen und in wechselvollem Schicksal fremde und selbst feindselige Mächte muß auf sich wirken lassen, damit er in dieser Entzweiung, diesem Anderen sich selber wiederfinde: so sind auch für unsere Litteratur diese Jahre der Dienstbarkeit, diese Durchgänge durch fremde Elemente, mögen sie oftmals noch so barock und unerquicklich scheinen, dennoch nothwendige Stadien der eigenen Entwicklung gewesen. Daß unter diesen fremden Mächten die Antike bei Weitem die gewaltigste und siegreichste gewesen, ist Jedem sogleich ersichtlich; bei ihrem Einflusse wird daher auch der Litterarhistoriker ganz besonders zu verweilen haben, und so endlich mit dem Philologen zu erfreulichstem Resultate zusammenkommen. Allein warum wiederholen, was schon oft beklagt wurde? Der Philolog, in die historischen, fest gewordenen Zustände einer vergangenen Zeit versenkt, in dem redlichen Bemühen, diese Vergangenheit in all ihren Einzelheiten zu ergründen und zu Tage zu fördern, wird nur allzuleicht verführt, über die Einzelheiten das Allgemeine zu vergessen; die historischen Zustände, indem er es verabsäumt, sie zu neuer Belebung an den Busen unsers Lebens zu legen, werden ihm zur todten Kenntniß; in die Vergangenheit sich einspinnend und aus ihrem behaglichen Besitz auf die wogende Gegenwart und insbesondere auf die Interessen unserer Litteratur wie mit Verachtung herabblickend, verliert er den Ariadnefaden lebendigen Bewußtseins, der allein durch das wüste Labyrinth leblos massenhaften Wissens ihn führen könnte, und zieht es vor, [452] dem unersättlichen Minotaurus eitler Schulgelahrtheit sein täglich neues Opfer von Varianten und Noten und Nötchen zu bringen. Die Wenigen aber, die das Gebiet philologischer Kenntnisse mit wahrhaft lebendigem Geiste beherrschen und denen diese Kenntnisse wirklich zur Wissenschaft geworden, finden in den eigenen Grenzen dieses Gebietes genug aufzuräumen an Schutt und Trümmern und haben so vielen verfallenen Schachten nachzuspüren, daß wir mit ihnen nicht rechten dürfen, wenn zu erregender Anknüpfung des Alterthums an gegenwärtige und allgemeine Interessen
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ihnen nicht der Wille mangelt, sondern die Kraft. Die Geschichte unserer Litteratur dagegen liegt so sehr noch in den Windeln, es ist erst so kurze Zeit, daß sie aus der Dürftigkeit der Nomenclatoren und Repertorien sich herausgearbeitet hat, aus denen den eigentlichen Geist und Gehalt unserer Litteratur zu entwickeln ihr bisher noch so wenig gelungen ist, daß die Reisen gleichsam und Abenteuer in der Fremde, welche unsere Litteratur zu bestehen gehabt, in unsern Geschichtsbüchern vorläufig wenig mehr, als eine unfruchtbare Erwähnung zu erwarten haben. Endlich dürften auch weder der Philolog, noch der Litterarhistoriker ihr Ziel erreichen, so lange sie eine lebendige Betheiligung an der Gegenwart, insoweit diese in der jetzigen philosophischen Cultur zum Bewußtsein gekommen ist, verschmähen: denn nur was selbst den Geist anerkennt, wird anerkannt werden von ihm; nur was selbst durchflossen von dem Strome lebendiger Gegenwart, wird dieser Strom zu tragen sich nicht weigern: alles Andere wird zu Boden sinken, ein todter Ballast. Von jenem chaotischen Gewirre nun der Uebersetzungslitteratur geben die vorliegenden Uebertragungen des Sophokles ein sehr deutliches und fast vollständiges Bild, das, hätten wir uns nicht auf diese nothwendigsten Repräsentanten beschränken zu müssen geglaubt, leichtlich durch Hinzuziehung noch anderer Uebersetzungen, wie der von Minckwitz2 u. A. hätte erweitert werden können. Diese Uebersetzungen nun, wie sie in so verschiedener Richtung hervorgegangen sind aus subjectivem Dafürhalten ihrer Verfasser, einer subjectiven Billigung oder Mißbilligung zu unterwerfen, in allgemeinsten Ausdrücken von größerer oder geringerer Treue, Gewandtheit, Lesbarkeit zu sprechen, und allenfalls durch mitgetheilte Proben an das wiederum subjective Gefühl des Lesers zu appelliren, wäre eben so üblich wie leicht gewesen. In der festen Ueberzeugung jedoch, daß die Aufgabe der Kritik nicht Lob und Tadel ist, sondern Begreifen und Erklären, wagen wir den Versuch, zunächst in Anlehnung an die Uebertragungen des Sophokles die geschichtliche Entwicklung unserer Uebersetzungen der Alten in ihren wechselnden Einflüssen, Krisen und Fortbildungen anzudeuten, – ein Versuch, der besonders durch den gänzlichen Mangel genügender Vorarbeiten ein sehr schwieriger ist, denn zu ge-[453]schichtlicher Ergründung dieses Stoffes, zu welcher die scharfsinnigen Betrachtungen von Schleiermacher, Göthe, Schlegel3 u. A. begreiflicher Weise nur wenig fördern, besitzen wir außer zerstreuten Notizen in philologischen und litterarhistorischen Handbüchern nur wenige überaus dürftige Repertorien, von denen die Degen’schen Register4 (aus den neunziger Jahren) das _____________ 2 3
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[Sophokles Werke. Im Versmaß der Urschrift übersetzt von Johannes Minckwitz, 7 Einzelbände, Stuttgart 1835–1844.] [Prutz bezieht sich auf Schleiermachers Rede (s. o. S. 59–81), auf Goethes Rede Zu brüderlichem Andenken Wielands (1813, s. o. S. 140 Anm. 21) sowie die Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans (1819, s. o. S. 134 Anm. 6). Ob er einen konkreten Text der Brüder Schlegel, etwa August Wilhelm Schlegels große Besprechung des Voss’schen Homer (s. o. S. 3–38), im Sinn hatte oder allgemein an ihre übersetzerischen Leistungen dachte, lässt sich nicht sagen.] [Johann Friedrich Degen, Versuch einer vollständigen Litteratur der deutschen Uebersetzungen der Römer, 3 Bde., Altenburg 1794–1799, und Litteratur der deutschen Uebersetzungen der Griechen, 3 Bde., Altenburg 1797–1801.]
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Neueste und mit einigem Zerstreuten in der Bibliothek des Fabricius5 und allenfalls in Blankenburg’s Nachträgen zum Solger6 das einzige Nutzbare sind. Wir werden daher mit diesem Versuche schon einen würdigen Zweck erreicht haben, wenn es uns gelingen sollte, die reifere Kraft gelehrterer Männer für diesen Gegenstand anzuregen. […] [485] Inzwischen aber hatte die Antike in ihrem siegreichen [486] Eroberungszuge durch die deutsche Welt wohl aufgehalten, aber nicht gehemmt werden können: die kirchlichen Interessen der Reformation, wie sie im dreißigjährigen Kriege alle leiblichen Kräfte Deutschlands für sich in Anspruch nahmen, hatten auch alle geistigen sich unterworfen, und mit aller Wissenschaft war auch die Philologie eine demüthige Dienerin der Theologie geworden. Allein nachdem der Glaube gesichert war, entfaltete die Wissenschaft, die Erkenntniß, die ihn ja erläutert hatte, aufs Neue ihre Schwingen zu immer weiterem Fluge: Leibnitz gründete die deutsche Philosophie, Thomasius vermittelte die Wissenschaft mit dem Leben, und was diese für die Philosophie, das thaten J. M. Heusinger, J. M. Geßner, Christ und Ernesti für die Philologie: sie brachen die Fesseln, in welcher die Theologen sie gehalten, und bahnten durch die Trümmer des orthodoxen Dogma einen neuen freien Weg zur kastalischen Quelle des Alterthums. Von besonderer Bedeutung ist hierbei die Gründung der Universität Göttingen (1747), die, was funfzig Jahre zuvor Halle für Philosophie und Theologie gewesen, jetzt vornämlich für die realen Wissenschaften der Philologie und Geschichte wurde. Man hatte nicht mehr die rechtgläubige Sicherung des Dogma, nicht mehr die polyhistorische Anhäufung philologischen Stoffes vor Augen, sondern auch die Kenntniß des Alterthums sollte fruchtbar werden fürs Leben und, den ganzen Menschen ergreifend, ihn harmonisch, gebildet, geschmackvoll machen. So ward Göttingen vor Allem die humanistische Universität, und als solche (man vergleiche Göthe’s Dichtung und Wahrheit, II, 42) ein Augenmerk für das gesammte Deutschland.7 Aus ähnlicher Anregung gingen Winkelmann und Heyne hervor, Beide im _____________ 5
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[Die von dem Universalgelehrten Johann Albert Fabricius (1668–1736) herausgegebene Bibliotheca Graeca (1705–1728), eine monumentale Sammlung des damals verfügbaren Wissens zur griechischen Literaturgeschichte. Prutz lag wahrscheinlich die neue Ausgabe in zwölf Bänden von Gottlieb Christoph Harless (Hamburg 1790–1809, Index Leipzig 1838) vor.] [Wohl ein Druckfehler, es muss heißen: Johann Georg Sulzer. Worauf sich Prutz bezieht, ist allerdings nicht klar. Die von Christian Friedrich Blankenburg herausgegebenen Litterarischen Zusätze zu Johann Georg Sulzers allgemeiner Theorie der schönen Künste (3 Bde., Leipzig 1796–1798) enthalten keinen Artikel zum Problem des Übersetzens. In den nicht von Blankenburg, sondern von Johann Gottfried Dyck herausgegebenen Nachträgen zu Sulzers allgemeiner Theorie der schönen Künste […] (8 Bde., Leipzig 1792–1806) findet sich ein kleiner Beitrag des Hallenser Professors Johann Gebhard Ehrenreich Maaß mit dem Titel Geist eines Schriftstellers, Lectüre, Uebersetzung (Bd. 3,2, 1795, 221– 236). Beide Werke, die Litterarischen Zusätze und die Nachträge zu Sulzer, erwähnen allerdings in unterschiedlichen literaturgeschichtlichen Zusammenhängen gelegentlich einzelne Übersetzungen oder Übersetzer.] [Prutz bezieht sich auf folgende Stelle bei Goethe: „[…] ich wollte mich mit Ernst zu jenen gründlichen Studien bekennen, und, indem ich, bei einer vollständigeren Ansicht des Altertums, in meinen eigenen Werken rascher vorzuschreiten dachte, mich zu einer akademischen Lehrstelle fähig machen, welche mir das Wünschenswerteste schien für einen jungen Mann, der sich selbst auszubilden und zur Bildung anderer beizutragen gedachte. Bei diesen Gesinnungen hatte ich immer Göttingen im Auge.
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Alterthum auf das Ganze, das Menschlich-Ergreifende dringend, Beide mit feinstem Formensinn begabt und daher die antike Kunst in den Kreis der philologischen Wissenschaften ziehend. Gleichzeitig und auf demselben Wege brach Lessing das Joch französischen Ungeschmacks; unmittelbar auf die Kunst der Alten eingehend deckte er mit kühner Hand den Mißverstand auf, den dieselbe bei unsern Nachbarn und Gesetzgebern erlitten, und zeigte uns damit, daß wir der Aftergebilde der Franzosen, deren hohle Schemen wir an die Stelle der lebendigen Antike gesetzt hatten, nicht länger bedurften. So wurden die Alten zum zweiten Male bei uns eingeführt. Auch in unserer Litteratur machten sich schon vor Lessing einzelne Versuche sichtbar, sich den Alten auf anderem Wege, als einzig durch die Vermittelung der Franzosen zu nähern. Sogar Gottsched8 selbst hatte schon 1733 einen Anfang gemacht, den Anakreon in jenem antiken Maße wiederzugeben, dessen bequeme Lockerheit zu einer solchen ersten Uebung sehr geeignet war und darum auch in der Folgezeit eine so ermüdende Pflege fand. Lange und Pyra thaten in ihren poetischen Spielen den Reim in Bann, nicht [487] achtend, daß sie dafür von dem Gottsched’schen Publikum in Bann gethan wurden; derselbe Lange versuchte auch eine Uebersetzung des Horaz in einem dem ursprünglichen sich wenigstens annähernden Versmaße, welche, so verdient sie auch, was Lange’s philologische Befähigung dazu anbetrifft, durch Lessing’s berühmtes Vademecum in den schlechtesten Ruf gekommen ist, dennoch als erstes Wagestück nicht darf vergessen werden.9 So suchte man bei dem besseren und unmittelbaren Verständniß der Alten, bei der innigeren Durchdringung, die unser Leben von dem neu erwachten Alterthum erfuhr, mit dem lebendigeren Gefühl für die Form auch diese selbst herzustellen. Doch waren dies eben nur Versuche: aber dieselbe Zeit, welche Winkelmann und Lessing erzeugt hatte, brachte auch Klopstock hervor, der in allem Formalen ein unzweideutiger Schüler der Alten ist. Sein Messias war das erste Gedicht, das durch die gewaltige Fülle seines Inhalts auch die Form des Hexameters genießbar und vielwillkommen machte; in seinen Oden und Hymnen erwarb er fast alle, auch die künstlichsten Metren der Alten für unsere Sprache. Auch Klopstock mußte für seine Form denselben Hohn und Spott überraschter Gegner erfahren, wie einst Opitz für die seine. Aber nicht nur, daß _____________
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Auf Männern wie Heyne, Michaelis und so manchem anderen ruhte mein ganzes Vertrauen; mein sehnlichster Wunsch war, zu ihren Füßen zu sitzen und auf ihre Lehren zu merken.“ Goethe, Dichtung und Wahrheit (2. Teil, 6. Buch), in: Werke (Hamburger Ausgabe, dtv), Bd. 9, München 1988, 241.] [Die Anakreon- und Horaz-Übersetzungen von Johann Christoph Gottsched (1700–1766) sind enthalten in: Gottsched, Gedichte, Leipzig 1736.] [Samuel Gotthold Lange, Horatzische Oden nebst Georg Friedrich Meirs Vorrede vom Werthe der Reime (Halle 1747). Die kurz darauf erschienene zweisprachige Ausgabe (Des Quintus Horatius Flaccus’ Oden fünf Bücher und von der Dichtkunst ein Buch, Halle 1752 ) führte zu einem heftigen Disput, in dessen Verlauf Lessing die übersetzerische Kompetenz Langes in in Zweifel zog (Ein vade mecum für den Hern. Sam. Gotth. Lange, Pastor in Laublingen, in diesem Taschenformat ausgefertigt, Berlin 1754). Der mit Lange befreundete Jakob Immanuel Pyra (1715–1744) trat u. a. mit dem Lehrgedicht Der Tempel der wahren Dichtkunst (Halle 1737) gegen den Reim und damit gegen das von Gottsched verfochtene französische Vorbild auf. Pyras Übersetzungen (Homer und Vergil) blieben allerdings fragmentarisch.]
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Gottsched und sein Anhang ihn mit Streit- und Spottschriften verfolgten: auch die vergeblichen Versuche, welche einsichtsvollere und begabte Männer machten, um diese neue Form sich anzueignen, lassen uns erkennen, wie tief eingewurzelt die im Laufe der Zeit auch wieder zur Unform gewordene Form der Opitz’schen Epoche und wie gewaltig die von Klopstock angeregte Revolution war. So brachte Bodmer nur überaus holprige und des bittersten Spottes seiner Widersacher allerdings würdige Hexameter zu Stande;10 so mußte Geßner, indem er sich nicht mehr in die alte und noch nicht in die neue Form finden konnte, seine Idyllen in Prosa schreiben;11 so kam Utz, der die neue antikisirende Weise anfänglich mit so lebhaftem Enthusiasmus begrüßt und mit Götz gemeinsam sich an metrisch getreuen Nachbildungen des Anakreon und Pindar versucht, ja der in seiner Frühlingsode sogar die alten Gesetze der Position beobachtet hatte, endlich dahin, seine Uebersetzung des Horaz ohne alle Form, nämlich in prosaischer Paraphrase zu geben;12 umgekehrt rieth Herder, der nachher selbst die antiken Maße so wohl zu behandeln wußte, anfänglich ab von der Uebertragung dieser Metren in unsere Sprache (Fragm. über d. deutsche Litteratur, S. 66);13 ja durch Göthe wissen wir, welch wunderliches Geheimniß noch zu der Zeit, da er den Reinecke Fuchs in Hexameter umgoß, dieses, wie es schien, unnachahmliche und unerlernbare Metrum verschlossen hielt.14 [488] Ging es doch in manchen Stücken Klopstock und Ramler selbst nicht besser, welchen Letzteren wir hier sogleich anführen müssen, da er, Klopstock zwar an poetischem Geiste bei Weitem nicht erreichend, in Verständniß und Reproduction der alten Formen aber, als Philolog von Fach, ihn übertreffend, sowohl in seinen eigenen Gedichten, als in seinen fleißigen und für jene Zeit zum größten Theil musterhaften Uebertragungen der Alten, hauptsächlich aber als allgemeiner Glätter und Polirer aller deutschen Dichter Außerordentliches geleistet hat für die Ausbildung der Form.15 Beide nämlich, Klopstock wie _____________ 10
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[Johann Jacob Bodmer (1698–1783) legte 1778 eine damals wirkungsmächtige Homer-Übersetzung in Hexametern vor (2 Bde., Zürich 1778), aus der bereits seit 1755 (in der Folge von Klopstocks Messias) an verschiedenen Orten Proben erschienen waren. Bodmer verwendete den Hexameter auch für Bearbeitungen altdeutscher Stoffe (Der Parcival, 1767; Wilhelm von Oranse, 1774).] [Salomon Gessner (1730–1788), Idyllen, Zürich 1756.] [Johann Peter Uz (1720–1796), Die Oden Anakreons, in reimlosen Versen. Nebst einigen andern Gedichten, Frankfurt a. M./Leipzig 1746 (zusammen mit Johann Nikolaus Götz); Die Werke des Horaz aus dem Lat. übers. von J. Z. L. Junkheim, J. P. Uz u. G. L. Hirsch, 3 Bde., Anspach 1773–1775. Uz’ Ode Lobgesang des Frühlings eröffnete die 1755 erschienene Sammlung Lyrische und andere Gedichte.] [Über die neuere Deutsche Litteratur. Fragmente, 1. Sammlung, 2., völlig umgearbeitete Ausgabe, Riga 1768.] [Dies entspricht nicht ganz den Tatsachen. Als Goethe 1793 das mittelniederdeutsche Tierepos Reynke de vos auf Grundlage der neuhochdeutschen Prosaübersetzung Gottscheds (1752) in Hexameter übertrug, war dieser Vers bereits durch Klopstock, Stolberg, Voss u. a. in die deutsche Literatur eingeführt. Es ist bekannt, dass Goethe in der Zeit der Arbeit am Reineke Fuchs Voss’ Vergil-Übersetzung erwarb; später erwog er sogar, seine vergleichsweise frei gehandhabten Hexameter nach den strengen Prinzipien von Voss umzuarbeiten, ein Vorhaben, dass freilich nicht ausgeführt wurde, vgl. Goethe, Werke (Hamburger Ausgabe, dtv), Bd. 2, München 1988, 724 f. Auf Goethes Arbeit am Hexameter in Reineke Fuchs nimmt auch Schäfer Bezug, s. o. S. 135 Anm. 9.] [Zu Karl Wilhelm Ramler s. o. S. 123 Anm. 3.]
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Ramler, verfielen in ihren Oden auf eine seltsame Art unmetrischen Metrums, eine rhythmisirende Prosa, die ihre Formlosigkeit nur schlecht bemäntelte mit dem mißverstandenen Beispiele Pindar’s; denn in der That war dies Pindarisiren in einer gespreizten Prosa, der man durch beliebiges Absetzen in kürzere und längere Zeilen das Ansehen wirklicher Verse geben zu können meinte, nichts Besseres, als weiland des Franzosen Ronsard Pindariser, worunter seine Landsleute heutigen Tags schlechthin Schwulst und Bombast verstehen. Auch bei uns ist durch jene poetische Prosa nicht wenig Schwulst und Bombast zu Tage gefördert worden, wozu auch die damaligen prosaischen Uebersetzungen der alten Dichter (so Goldhagen’s Sophokles, 177716) ganz besonders beitrugen. Während so die deutsche Litteratur sich von der Dienstbarkeit des französischen Ungeschmacks immer mehr entfernte und immer eifriger die antike Formenschönheit für sich zu gewinnen suchte, trat in diese gährende Zeit ein neues Element, welches, von verwandtem germanischen Stamme ausgehend, unendlich kräftig eingriff, ja welches wir noch heute nicht zu vollkommener Durchbildung und Harmonie überwunden haben: der englische Geschmack. Die erste Einführung der englischen Litteratur war, seltsam genug, durch die französische Richtung vermittelt worden: man nahm Schriftsteller aus der nächsten englischen Zeit auf, die selbst unter französischem Einflusse stand, die zahmen Poesieen Addison’s, Young’s, Thomson’s, den von Außen und Innen französisch glatten Zuschauer; Addison’s Cato, von Gottsched in stattliche Alexandriner gebracht, hatte einen besondern Ruhm geerntet;17 Otway’s Venice preserv’d18 aber, nach französischem Zuschnitt eingerichtet, war in prosaischer Bearbeitung ein Lieblingsstück der Zeit. [489] Aber schon die Schweizer traten dem eigentlichen englischen Charakter näher; Klopstock’s Messias ist, wie formal ein Kind der Antike, so geistig ein Sohn Milton’s; nun ward auch Shakspeare eingeführt: 1742 erschien die erste, wenn auch sehr ungeschickte Uebersetzung des Julius Cäsar;19 Weiße brachte die Shakspeare’schen Stoffe, _____________ 16 17
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[Des Sophocles Trauerspiele. Aus dem Griechischen übersetzt von E. M. Goldhagen, Mitau 1777.] [Joseph Addison (1672–1719) veröffentlichte 1713 das Drama Cato, durch das Gottsched zu seiner Tragödie Der sterbende Cato (1732) angeregt wurde. Von Edward Young (1683–1765) fand hauptsächlich die Dichtung The complaint, or night thoughts (1742–1745) über England hinaus Verbreitung, die mehrfach ins Deutsche übersetzt wurde, zuerst von Johann Arnold Ebert (Klagen, oder Nachtgedanken über Leben, Tod und Unsterblichkeit, 1751/54). James Thomson (1700–1748) veröffentlichte 1730 die Dichtung The Seasons, die 1744 in einer deutschen Fassung von Barthold Hinrich Brockes erschien (Brockes aus dem Englischen übersetzte Jahreszeiten des Herrn Thomson. Zum Anhange des Irdischen Vergnügens in Gott). Joseph Haydn verwendete später für sein Oratorium Die Jahreszeiten (zuerst aufgeführt 1801) eine deutsche Textbearbeitung von Gottfried van Swieten. Zu Thomsons Sophonisba s. u. S. 153 Anm. 21.] [Thomas Otways Tragödie Venice preserv’d (zuerst aufgeführt 1682) fand in freien Bearbeitungen auch in Deutschland Verbreitung, vgl. z. B. Die Verschwörung wider Venedig. Ein Trauerspiel […] theils aus dem englischen Originale, theils aber aus der französischen Nachahmung des Herrn la Place gezogen, Wien 1754.] [Gemeint ist die 1741 erschienene Übersetzung von Carl Wilhelm von Borck, die in Alexandrinern gehalten ist.]
Zur Geschichte der deutschen Uebersetzungs-Litteratur: Sophokles
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Romeo und Julie, Richard den Dritten, geleckt und gezähmt auf die Bühne;20 Lessing, Herder und Göthe machten den großen Briten durch Hindeutung, Erzählung und Nachahmung unter uns bekannt. Doch lassen wir diese geistigeren Einflüsse liegen, auch wie Shakspeare durch unverständige Nacheiferung sogar nachtheilig auf Form und Poesie selber wirkte, – ein Unwesen, daran wir ja noch heute kranken: für uns ist hier nur die Einführung des fünffüßigen Jambus von Wichtigkeit, welchen zuerst Joh. Heinr. Schlegel in seiner Uebersetzung der Thomson’schen Sophonisbe (1758)21 gebrauchte (doch hatte schon früher sein Bruder Elias wenigstens Bruchstücke in dieser Form versucht) und der seitdem auch bei uns der allgemein übliche und anerkannte dramatische Vers geworden ist. Die Vereinigung dieser beiden Richtungen, der Klopstock-Ramler’schen und der englischen, haben wir in Stolberg’s Uebersetzung des Sophokles (1787).22 Wie Opitz-Schlegel in Alexandrinern, so giebt er den Dialog in fünffüßigem Jambus, wie Jene den Chor in Arienform nach italienischem Zuschnitt, so er in den durch Klopstock und Ramler eingeführten Maßen, in alcäischen, sapphischen, asklepiadischen Strophen. Wir setzen z. B. den Anfang des Oedipus auf Kolonos her, und fügen ihm die Ruge’sche Uebersetzung bei: V. 1–8. Antigonä, des blinden Greises Kind, Welch Land ist dieses, welcher Männer Stadt? Wer nimmt wol heute mit der kärglichsten Der Gaben Oedipus, den Flüchtling, auf? Nur wenig fodr’ ich und noch weniger Empfang’ ich, doch auch dies ist mir genug! [490] Daß Alles mir genüg’, hat mich gelehrt Mein langes Alter, meiner Leiden Last, Und die Geduld, die Edle, die uns prüft. Ruge: Antigone, des blinden Greises Kind, Zu welcher Gegend nahn wir, welcher Stadt? Wer wird den heimathlosen Oedipus Mit milden Gaben dürftig heut verpflegen, Ihn, der nur wenig bittet, weniger Empfängt, und dennoch sich genügen läßt? Denn Gnügen lehrt das Leiden, lehrt des Lebens Gedehnte Frist mich und der edle Sinn u. s. w.
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[Christian Felix Weiße (1726–1804) veröffentlichte 1768 in Leipzig die Prosa-Adaption Romeo und Julie. Ein bürgerliches Trauerspiel in fünf Aufzügen. Sein Alexandrinerdrama Richard der Dritte (1761 zuerst aufgeführt) ist formal dem französischen Klassizismus, in der Übertragung des Shakespeare’schen Stoffs aber der Vorstellungswelt der deutschen Aufklärung und Empfindsamkeit verpflichtet und wurde schon von Lessing (Hamburgische Dramaturgie, 2. Band, 73. Stück) scharf kritisiert.] [Johann Heinrich Schlegel (1724–1780) hatte 1758 in Leipzig eine deutsche Übersetzung der Tragedy of Sophonisba (1734) von James Thomson veröffentlicht.] [Sofokles übers. von Christian zu Stolberg, 2 Bde., Leipzig 1787.]
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Noch deutlicher werden diese zwiefachen Einwirkungen der Antike und des englischen Geschmacks in Bürger’s Uebertragungen des Homer23: denn so viel Mühe er sich auch giebt, das vor sich selbst zu verbergen (siehe die verschiedenen Vorreden und Einleitungen im 3. Bd. der Reinhard’schen Ausgabe seiner Schriften), so ist doch sichtlich seine erste jambische Bearbeitung durch Pope’s Beispiel24 angeregt, bis er vierzehn Jahre später (1784), belehrt und bekehrt durch die inzwischen erschienene Odyssee von Voß25, seine eigenen bis dahin so eifrig und nicht ohne Gewandtheit verfochtenen Grundsätze aufgebend, eine hexametrische Uebertragung der Ilias versuchte. Aber weder die frühere jambische Arbeit, noch diese neue zu vollenden, ward dem vielduldenden Manne vom Schicksal verstattet; seine Versuche jedoch bleiben eben als solche noch für uns belehrend und erfreuend. – Im eigenthümlichsten Verhältniß zu all diesen Umwälzungen stehen die Uebersetzungen von Wieland26. Es scheint in der That, als wäre die nicht tiefe, aber anmuthige und durchaus glückliche Natur dieses Mannes bestimmt gewesen, die litterarischen Gegensätze seiner Zeit, wo sie ins Extrem übergehen wollte, in sich zu versöhnen und zu vermitteln und jedem Aeußersten gleichsam die Wage zu halten: wie er ja persönlich in Weimar zwischen so bedeutenden und im tiefsten Grunde verschiedenen Charakteren, wie Göthe, Herder, Schiller, unangefochten und von Allen wohlgelitten zu leben wußte, auch seinen Mercur in immer gleicher Haltung gemächlich redigirte und aller Polemik, selbst (wir meinen Göthe’s Helden, Götter und Wieland) wo sie ihn [491] persönlich traf, anmuthig und heiter auszuweichen verstand. So in seiner eigenen schriftstellerischen Wirkung geht er aus von Bodmer und Klopstock: er ahmt den Messias und die Noachide nach in langweilig hexametrischen Heldengedichten, er schreibt fromme Psalmen und läßt die Seelen der Verstorbenen in eine empfindsame Correspondenz treten. Aber so wie die Klopstock’sche Frömmigkeit in einen orthodoxen Rigorismus ausartet, schlägt er plötzlich um und tritt, gegen diese Uebersentimentalität die Rechte der Erde, das Sinnliche zu verwahren, nachahmend auf die Seite der lockeren, luftigen Franzosen; den Klopstock’schen Hexametern und der ganzen reimlosen Poesie jener Zeit gegenüber, verhilft er dem Reime wieder zu seinem Recht, und gewinnt ihm durch den Zauber seiner Sprache, die liebliche Leichtigkeit seiner Verse die fast entfremdeten Gemüther aufs Neue; er übersetzt selbst den Shakspeare (1762) und wird gerade durch diese Uebersetzung der eigentliche Stifter und Beförderer der Shakspeareromanie (vgl. Göthe, Dichtung und Wahrheit, III, 73; Schröder’s Leben von Meyer, I, 23327), – und in nüchterner Behaglichkeit an Franzosen und französirte Griechen sich anschließend, theilt er dennoch niemals den Sturm und Drang, dem er mit jener Uebersetzung ein so bedeutendes Mittel in die Hand gegeben hat; er dringt _____________ 23 24 25 26 27
[Zu Bürgers Homer-Übersetzung s. o. S. 5 Anm. 3.] [Zu Popes Homer s. o. S. 7 Anm. 8.] [Homers Odüßee übersezt von Johann Heinrich Voß, Hamburg 1781; vgl. dazu oben S. 5 Anm. 4.] [Zu Wieland s. o. S. 122 Anm. 2.] [Prutz bezieht sich auf die Schilderung Goethes im 3. Teil von Dichtung und Wahrheit, aus der schon Schleiermacher zitiert hatte (vgl. oben S. 67 Anm. 2), sowie auf die Biographie Friedrich Ludwig Schröder. Beitrag zur Kunde des Menschen und des Künstlers (T. 1, Hamburg 1819) von Friedrich Ludwig Wilhelm Meyer.]
Zur Geschichte der deutschen Uebersetzungs-Litteratur: Sophokles
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aufs Tiefste ein in den Geist seiner Alten, in Horaz, Aristophanes, Lucian, Cicero, bewährt in seinen eigenen Productionen den glücklichsten Formensinn, und macht doch keinen Versuch, die Alten in ihrer Form zu reproduciren; ja die großen formalen Umwälzungen der Uebersetzungs-Litteratur berühren ihn nicht, und während ringsum Hexameter und Pindarische Oden das Feldgeschrei sind, übersetzt er ganz gemüthlich seinen Horaz in Jamben, und in solche Jamben, daß wir sie noch heute mit Freude lesen. Man vergleiche die bewundernswürdig schöne Gedächtnißrede Wieland’s von Göthe,28 um diese Andeutungen, wenn auch in anderer Form und von anderem Gesichtspunkte aus, bestätigt zu finden; auch was Göthe hier (Bd. XXXII, S. 251, 252 und VI, 238) über die Wieland’schen Uebersetzungen sagt, bezeichnet dieselben aufs Treffendste. Wieland’s behaglich abgeschlossener Genius geht zu wenig heraus aus dieser horazischen Tranquillität, um sich an den Alten enthusiastisch zu betheiligen und den Gedanken ihrer vollständigen Verpflanzung mit vollem Inhalt und voller Form zu fassen; nur was ihm, seinem Subject, seiner besondern friedlichen Stimmung zusagt, liest er aus den Alten heraus, und so castrirt er Shakspeare und Aristophanes; Alles, Inhalt und Form, bezieht er auf seine Stimmung, seine Gegenwart und giebt es in diesem Sinne nett und zierlich wieder. Er ist immer nur Wieland, in seinem Horaz, Lucian, Cicero, in seinen griechischen Romanen, immer und überall die behagliche, ruhige Persönlichkeit, die sich so wohl fühlt in ihrer gol-[492]denen Mitte. Auch sein eigenes poetisches Talent ist ein mehr in diesem abgegrenzten Kreise ambulirendes, in die Breite gehendes, descriptives, als ein producirendes, bewältigendes, sich erhebendes, so daß auch kein eigentlicher furor poeticus seinen Frieden beeinträchtigt. Da nun die Mehrzahl der Menschen in der That Nichts sucht und will, als diesen gemüthlichen Frieden und das eigene ungestörte Subject, in ungehinderter heitrer Entfaltung, so ward Wieland so ungemein beliebt, namentlich in den österreichischen Staaten, wo man sich an eine ähnliche Loyalität gewöhnt hat; und so fanden auch seine Uebersetzungen und jene antiken Romane, Dialoge und Briefe, die den Leser gar nicht nöthigten, in eine ferne, fremde Welt sich zu bemühen, sondern mit modernster Umgebung ihn anheimelten, so vielen Anklang – und dennoch keinen Nachahmer, weil diese Weise gerade nur Wieland’s war und nur ihm gelingen mochte. – Mitten in diesen Widerstreit von Uebertragungen, Umschreibungen und Nachbildungen war 1781 Voß’ Uebersetzung der Odyssee getreten.29 Selbst von entschiedenem, sittlich freiem und großem Charakter, hatte er sich gemüthlich und leidenschaftlich vertieft in die freie und große Welt des Alterthums; mit genauester gelehrter Kenntniß fast aller philologischen Disciplinen verband er ein außerordentliches und jetzt, da wir uns schon so lange eingewohnt haben in den ruhigen Besitz seiner Errungenschaft, von uns in seinem vollen Werthe kaum mehr zu fassendes formales Talent, durch welches er unserer Sprache einen Reichthum, der strengsten Nachbildung antiker Maße einen Wohlklang, endlich den Uebersetzungen selbst eine Treue verlieh, von welchem Allen bis dahin kaum eine Ahnung und jedenfalls nur sehr zweideutige Spuren gewesen waren. So war die Wirkung seiner Odyssee unermeßlich: _____________ 28 29
[Zu Goethes Wieland-Rede s. o. S. 140 Anm. 21.] [Zu Voss’ Homer-Übersetzung s. o. S. 5 Anm. 4.]
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durch sie zuerst wurde der bis dahin so mannigfach angefeindeten und von Vielen für unausführbar gehaltenen strengeren Uebersetzungsweise der Sieg gesichert. Gleichzeitig war unsere eigene Litteratur durch Göthe und Schiller in diejenige Sphäre der Schönheit und Kunstvollendung emporgerissen worden, in welcher sie fortan zu immer edlern Zielen sich zu bewegen hat; selbst jetzt im Besitz der Schönheit, im Besitz einer wahrhaften und kunstgemäßen Litteratur, konnten wir jetzt auch alle Schönheit der antiken Litteratur fühlen, erkennen und wiedergeben. Was nun Heyne und Winkelmann vorahnend eingeleitet und begonnen hatten, was sodann in Voß mehr der Trieb einer glücklichen Natur und die Wirkung seines starken, energischen Charakters gewesen war, brachte Fr. Aug. Wolf in der Alterthumswissenschaft als Princip zur Anerkennung: die Beschäftigung mit dem Alterthum soll aufhören einer todten und zerfallenden Gelehrsamkeit zu dienen; auf das Ethische, auf den Menschen des Alterthums gerichtet, soll sie auch in uns den Men-[493]schen ergreifen, bilden und verklären; die Form, die nicht mehr bloß Außenseite, bloß Schale ist in unorganischer Abstraction, gewinnt Leben und Bedeutung als die eigenthümliche und nothwendigste Offenbarung des innen schaffenden Geistes; auch das Kleinste, – aber es giebt jetzt kein Kleinstes mehr! – Form, Rhythmus, Darstellung, es ist Alles durchdrungen und belebt von dem allerfüllenden schöpferischen Geist, den wir in Allem ahnen, in Allem suchen, in Allem zum Verständniß und zur Darstellung zu bringen haben. Es ist also nicht mehr um den Stoff allein, entkleidet und losgelöst von der Form, in welcher er lebendig und wirklich wurde, noch um diese Form allein zu thun, eine Schale ohne Kern, sondern um das aus Beiden organisch und unlösbar in einander gewachsene antike Leben, insofern wir in ihm uns selbst und die lebendigste Anregung zu allem Guten und Besten vereinigt finden. Wenn wir Voß zahlreiche Uebersetzungen im Einzelnen betrachtend, allerdings bei den meisten derselben und namentlich bei allen späteren durch eine oft unerträgliche Steifheit und Schwerfälligkeit, ein Untergehn des antiken Geistes, ja unsers Sprachgenius in ungefügen kolossen- und molossenhaften Wortbildungen beleidigt werden, und endlich sogar von seinem Aristophanes, noch mehr von seinem Shakspeare30 mit bedauerndem Widerwillen uns abwenden müssen: so mögen wir dies der unvollkommenen Natur des Menschen, der so gern in dem, was er errungen hat, sich einseitig fixirt, wohl verzeihen und sogar vergessen um des Bedeutenden und Außerordentlichen willen, was er ja für uns errungen hat. Auch traten bald für ihn jüngere und gewandtere Kräfte ein, unter denen den Schlegel der Ruhm bleiben muß, nicht minder durch Wort und Lehre für eine freiere und geistreiche Erkenntniß der Alten, als durch zahlreiche gelungenste Uebersetzungen und durch die glückliche Einführung neuer Formen und neuer Litteraturen auch für unsern Sprachschatz von segensreichster Wirkung gewesen zu sein. Einen Uebersetzer in diesem Sinne und dieser Richtung fand Sophokles in Solger;31 die Vorrede zu dieser Uebersetzung ist ein trefflicher und wohlbewußter Ausdruck der neuen, durch Wolf und sodann durch die Schlegel angeregten Kunstansichten; wir begnügen uns daher, da der Solger’sche Sophokles _____________ 30 31
[Zu Voss’ Aristophanes s. o. S. 5 Anm. 4, zur Shakespeare-Übersetzung s. S. 133 Anm. 5.] [Zu Solgers Sophokles s. o. S. 39.]
Zur Geschichte der deutschen Uebersetzungs-Litteratur: Sophokles
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selbst fast noch in Aller Händen ist, auf einige Stellen der genannten Vorrede hinzudeuten: „Uebersetzungen von Kunstwerken aus fremden Sprachen haben, außer dem zunächst auffallenden Zwecke, denen, welche nicht im Stande sind, diese Werke in ihren Grundsprachen zu lesen, einen neuen Weg zum Genuß und zur Bildung zu eröffnen, wohl noch einen andern, in gewisser Rücksicht höhern. – Der ächte Geist philosophisch-historischer Wissenschaft verlangt nämlich nicht bloß Nachrichten von dem Einzelnen, was in vorigen Zeitaltern gethan, gedacht, gebildet worden sei; er strebt vielmehr, als [494] zu seinem letzten Ziele, dahin, das ganze Leben jener Zeitalter selbst zu seiner eigenen unmittelbaren Anschauung zu bringen. – Zu einem solchen Zwecke, der Darstellung eines vollständigen Lebens in seiner wirklichen Erscheinung, muß sich die unermüdlichste Durchforschung des Einzelnen mit dem belebenden Geiste des Allgemeinen auf das Innigste vereinigen. Diese Wiederbelebung muß auf alle mögliche Arten und unter allen möglichen Formen versucht werden, zuvörderst in historischen Entwicklungen, dann aber auch in sich annähernden Nachbildungen, wozu dann auch solche Copieen der Kunstwerke selbst gehören werden, in welchen Allgemeines und Einzelnes in der innigsten Einheit und so streng wie möglich wieder dargestellt werden. – – – Zu diesen Copieen gehören denn auch die Uebersetzungen, deren Zweck also sein muß, ein altes Kunstwerk, so wie es im Alterthum selbst in allen seinen Beziehungen zu seiner Zeit da war, uns durch unser eigenthümliches Organ wieder zur lebendigen Anschauung bringen zu helfen.“32 So sind wir also auf einem Standpunkte angelangt, wo mit der lebendigen Durchdringung des Alterthums auch die Form der alten Kunstwerke bis in ihre besondersten Einzelheiten hinein uns bedeutsam, nothwendig und unentbehrlich geworden ist, und wo mit der Erkenntniß der fremden Schönheit unsre Sprache selbst die Fülle, Bildung und Schmiegsamkeit gewonnen hat, diese Schönheit wiederzugeben. Auf diesem Standpunkt kann die Frage, wie denn nun ferner zu übersetzen sei, ob in strengster Nachahmung der Antike, ob halb, ob ganz modernisirend, nicht wohl mehr aufgeworfen werden. Die Geschichte geht nie und nirgend rückwärts; rückwärts würde aber gehen, würde dem gesammten Entwicklungsgange unserer Litteratur Hohn sprechen und so viel mühseligste Erfahrung muthwillig verleugnen, wer noch allen Ernstes der Meinung sein könnte, die Alten seien anders zu übersetzen als in ihrer alten Form. Freilich entstehen hier sogleich Mißstände und Widersprüche, die bedeutend genug sind, daß wir sie noch einen Augenblick ins Auge fassen: Wir sind nicht mehr die Menschen der alten Welt, wir haben weder ihre Sprache mehr, noch ihre Vorstellungen und Formen; die griechische Welt bleibt uns immer eine andere, eine fremde, deren innersten menschlichen Kern wir allerdings noch in unserm eigenen Busen wieder finden; die Formen aber und Zustände, in denen diese Welt sich bewegt, sind uns fremd, und nur auf dem historischen Wege der Forschung können wir sie verstehen und mit ihnen uns befreunden. Wo nun diese Formen in unserer Welt, in unserer Sprache zur Darstellung gelangen sollen, wird, da im Grunde kein Mensch und keine Sprache etwas Anderes sagen kann, als sich selbst, etwas Unpassendes, Unverständliches, Befremdliches entstehen, das nur der vermitteln und ausdeuten _____________ 32
[S. o. S. 40.]
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kann, der die historische Kenntniß jener Zustände besitzt. Dies wird vor Al-[495]lem auch in der sprachlichen Darstellung, in der Form der Uebersetzung sich zeigen. So, um uns auf das griechische Drama zu beschränken, hat der jambische Trimeter für unser Ohr, das sich an den leichtern Fluß des englischen Verses gewöhnt hat, eine Feierlichkeit, Schwere, Steifheit sogar, die er im Griechischen durchaus nicht hat, und die bei uns um so fühlbarer wird, als wir der langen, vielsilbigen Wörter, der langgestreckten, rhythmischen Verbalformen, der immer ungezwungenen Zusammensetzungen der griechischen Sprache entbehren, und, den Vers zu füllen, oft zu müßigen Flickwörtern oder ungeschickten, überprächtigen Zusammensetzungen unsre Zuflucht nehmen müssen. Noch schlimmer wird dieser Widerspruch bei den Chören, die, wo sie über die einfachsten und leicht üblichsten daktylischen oder anapästischen Systeme hinaus gehen, für unser Ohr schon im Griechischen selbst, geschweige in der mühseligen deutschen Nachbildung alle Musik, alle Gesetzmäßigkeit und Ordnung verlieren. Einiges freilich läßt sich in diesen Stücken durch historische Einleitungen und Erläuterungen, welche den Leser mit der nöthigen Kenntniß auszurüsten suchen, nothdürftig vermitteln und erreichen; im Ganzen aber wird, meinen wir, die Sache so stehen, daß, wer nicht im Stande ist, das Original zu verstehn, von allem Fremdartigen unverletzt, in historischem Sinne zu genießen, auch von keiner Uebersetzung, und sei sie die treuste, sei sie die wohllautendste, die richtige Frucht wird haben können. Jener „zunächst auffallende Zweck,“ wie ihn Solger nennt, durch Uebersetzungen denen beizuspringen, die den Grundtext nicht lesen können, wird also von allen Uebersetzern, die wirklich in der Kunst und in der Entwicklung der Litteratur stehen wollen, als ein in sich unerreichbarer und nichtiger nicht länger anzustreben sein: alle Arbeiten dieser Art können nur aus historischem Verständniß gewürdigt werden; wem die Fähigkeit zu diesem abgeht, der kann von der antiken Litteratur überhaupt kein Verständniß erlangen, da ja sie, wie jegliche menschliche und künstlerische Bestrebung, nicht bloß bewundert und angestaunt, nicht auf Treu und Glauben angenommen und verehrt, sondern erforscht, begriffen und verstanden werden soll. Man halte das nicht für eine Art gelehrten Hochmuths, der, auf sein Erlerntes stolz, in das Heiligthum, welches er sich vielleicht mühsam erschlossen hat, den Profanen keinen Eingang gestatten will: muß doch der Gelehrte selbst, will er nicht Götzendienst treiben in diesem Heiligthum, wieder hinaustreten unter die Profanen – in unser Volk, unsre Zeit, unser Bewußtsein, und alle historische Kenntniß, alle Vertiefung ins Alterthum soll auch für ihn nur ein Durchgang, eine Bildung für das Leben der Gegenwart gewesen sein. Ihre wahre Bethätigung er[496]langt all diese Kenntniß des Fremden erst in der Verschmelzung mit dem, was unser ist, – und so wird für jene Profanen das Alterthum nicht in Uebersetzungen, nicht in Trimetern und Chorgesängen wach, sondern da erst, wo ein Dichter, ein Künstler die antike Welt zu freier Production nach unserm und für unser Bewußtsein mit selbständig schöpferischer Kraft verarbeitet: – die Iphigenie von Göthe. So ist dann der große Kreislauf geschlossen und wieder, wie im Mittelalter, geht die Antike frei und jugendlich in neuer Form zu neuem Leben in unsere Litteratur über, – nur daß jetzt aller Erwerb und Sieg so vieler Jahrhunderte ihr zu Gute kommt, Sinn und Form geläutert sind und die Kunst die Göttin auch unserer Litteratur geworden ist.
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Wenden wir uns schließlich jetzt zu den neuesten Uebersetzungen, deren wir im Eingang gedacht haben; so stellen dieselben sich mit Bezug auf die eben versuchte historische Entwicklung der Uebersetzungslitteratur sogleich folgendermaßen zurecht: die angeblich „von einem Vereine Gelehrter“ ausgegangene erfurter Prosaübersetzung tritt durch diese freiwillige und nach so ermuthigenden Vorgängen in keiner Art zu rechtfertigende Verzichtleistung auf die entsprechende poetische Form von selbst in die Reihe jener längst abgethanen Uebertragungen, die mit dem Stoff allein uns Alles zu geben meinten. Denn dem Zeugniß der Geschichte gegenüber müssen wir in der That eine competentere Autorität, als den Namen des Verlegers erwarten, um zu glauben: „daß nur so (durch Uebersetzung in Prosa) ein erfreuliches Eindringen in den Geist des alten Dichters bezweckt werden kann; legt man der Uebertragung die schwere, der deutschen Sprache überlästige Fessel des griechischen Verses an, so muß unter dem ängstlichen Drucke derselben Geist und Wort ersticken und der Leser kann nur vor diesem ungenießbaren Werke zurückschrecken.“ Wir haben gethan, was die Vorredner verlangen: wir haben ihre „Uebersetzung mit irgend einer, selbst von Meisterhand entworfenen Version in gebundener Rede nach griechischer Form“ verglichen, und haben daraus die Ueberzeugung gewonnen, daß die buchhändlerische Speculation, die in der Ankündigung: „Schillerausgabe des Sophokles!“ sich offenbart, auch auf das Innere dieses Buches selbst nur allzuvielen Einfluß gehabt hat, so daß dasselbe, außer dem nothwendigen Gange der Zeit stehend und selbst als Eselsbrücke der vielen ungenauen und falschen Stellen wegen auch nicht einmal für Schüler nutzbar, ohne Weiteres aus der Litteratur zu beseitigen ist. [Fortsetzung in Sp. 502] Die Ruge’sche Uebersetzung des Oedipus,33 mit so vielem Fleiß, so tüchtiger Kenntniß und so gebildetem Geschmack dieselbe auch unternommen worden, ist nicht mehr und nicht minder als – ein Anachronismus: wie Opitz-Schlegel ihren Sophokles auf die italienisch-französische, wie Stolberg auf die englisch-Klopstockische, so hat Ruge in diesem Versuch den Oedipus auf die gewandte und allerdings liebliche Form unsers heutigen romantischen Drama bezogen; seine nächste Parallele findet dieser Oedipus in den Schiller’schen Bearbeitungen des Euripides, nur daß Schiller nach französischer Uebertragung halb mühsam, halb leichtfertig arbeitete, Ruge aber, neben löblichem formalen Talent, in der Treue des Einzelnen, wie in dem (so weit das hier noch möglich war) entsprechenden Ton des Ganzen überall das eindringendste Verständniß des Sophokles und den gründlichsten Fleiß bewährt hat. Aber dem Opitz’schen Schicksal, daß die gereimten Chöre, besonders die lyrischen Dialoge, in der That mehr modernen Arien gleichen, als eben noch dem Chor des antiken Drama, hat auch er nicht entgehen können. Uebrigens ist es leicht zu erklären, wie Männer von lebendigem Gefühl für die Schönheit der Alten, beleidigt und verdrossen durch Vossische Schwerfälligkeit, in einzelnen Versuchen dahin gebracht werden können, die allein richtige, weil geschichtlich nothwendige, strengere Uebersetzungsart geflissentlich bei Seite zu setzen. Nur darf man so wenig an dieser, wie an irgend einer historischen Entwicklung verzweifeln: die von Voß angeschlagene Weise, _____________ 33
[Sophokles, Ödipus auf Kolonos. Von Arnold Ruge, Jena 1830.]
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immer wieder und immer neu versucht, wird uns endlich doch zu dem wünschenswerthen und möglichen Ziele führen. Diesem ist der Sophokles um ein Bedeutendes genähert worden durch die neuesten Uebersetzungen von Thudichum und Donner: zunächst sind Beide ungleich richtiger, als [503] Solger, besonders schließt Thudichum sich mit emsiger Genauigkeit an den Grundtext. Doch haftet ihm dabei in vielen Stellen noch eine Schwerfälligkeit an, welche Donner zumeist sehr glücklich vermieden hat, so daß in Betreff der sprachlichen Cultur Donner zu Thudichum etwa so steht, wie Thudichum zu Solger. Freilich hat Donner diese anmuthige Lesbarkeit mitunter nur auf Kosten des Sophokles selbst erreicht, den er in gewissem Sinne verschönert hat, indem er einfache und schlichte Wörter durch sogenannte poetische wiedergiebt, Bilder und sprachliche Gegensätze mitunter verstärkt, dem Ganzen aber eine Pracht und Zierlichkeit gegeben hat, von der wir zweifeln, daß sie wirklich die attische des Sophokles ist. Um so empfindlicher verletzt bei ihm wie auch bei Thudichum, in gewissen Flickwörtern und Versausfüllungen, die Beide noch nicht entbehren können, ein gänzliches Herausfallen aus der poetischen Sprache, aus der Wörter wie „annoch, hiebevor, ingleichen“ u. s. w. verbannt bleiben müssen, besonders da sie das Unpassende übermäßig prächtiger Zusammensetzungen, wie „Buschlaub, Weihguß, Ahnd-Erinnys“ u. s. w., nur noch fühlbarer machen. Die Sprache der griechischen Tragödie ist allerdings nur die veredelte Sprache des attischen Umgangs, an der auch Sophokles Vieles zum Theil gewaltsam gebildet und geneuert hat; nimmermehr aber werden die Uebersetzer selbst der Meinung sein, der Sophokleische Stil habe diese ärgerliche Buntscheckigkeit von Schwulst und Plattheit, die sie nicht überall vermieden haben. Immer jedoch sind beide Uebersetzungen mit Dank und Freude aufzunehmen als ein vielverheißendes Unterpfand dessen, was künftighin der deutsche Geschmack, der deutsche Fleiß auch in dieser Laufbahn noch erreichen wird. Zu bedauern jedoch ist, daß es den Verfassern nicht gefallen hat, ihre Uebersetzungen mit denjenigen Einleitungen und Zusätzen auszustatten, deren der Kenner des griechischen Drama zwar nicht bedarf, die aber zu rascherer Befreundung mit ihren Arbeiten ihm und vor Allem einem größeren Leserkreis sehr willkommen gewesen sein würden. Solger, von Herder angeregt, hat hiefür ein musterhaftes Beispiel nachgelassen. Herr Donner dagegen hat sich begnügt, seine Uebersetzung ganz nackt, ohne Vorwort und Einleitung in die Welt zu schicken: das Wenige, was er beigefügt, eine metrische Tabelle nämlich der Chorstellen und in kurzen Anmerkungen die Verdollmetschung mythologischer Trivialitäten, ist wohl nicht an seinem Ort, da sowohl die Chöre, wenn sie Takt und metrisches Verständniß erst durch ein Schema bekommen müssen, als die ganze Uebersetzung schlecht berathen wäre, wenn dieselbe Leuten in die Hände fiele, die mit dem griechischen Alterthum unbekannt genug wären, um auch dergleichen Trivialitäten nicht zu wissen. Herr Thudichum hat seinem Sophokles allerdings sehr reichhaltige Anmerkungen beigefügt, die aber mehr ein wüstes Convolut von zwar schätzbaren, doch hier kaum erwarteten philologischen Notizen und mehr einem in die Breite gehenden, gelehrten Studium förderlich sind, als daß sie den Standpunkt fixiren helfen, von dem Sophokles und diese Uebersetzung will angesehen sein. [504]
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Es bleibt uns endlich noch die Antigone des Herrn Marbach, der „nur deswegen den Namen des griechischen Dichters auf dem Titel nicht genannt hat, um bei keinem Leser die Erwartung zu erregen, daß er hier eine Uebersetzung finden werde, und um die Anforderungen der Kritiker an eine Uebersetzung von seiner freien Bearbeitung abzulehnen“ (S. VIII). Es ist also eine Umdichtung, die letzte und höchste Weise, in der das Alterthum in unsere Litteratur übergehen wird, welche Herr Marbach versucht hat; allein wir müssen bedauern, daß er hier auf halbem Wege, in der Form allein stehen geblieben ist, und den Stoff der antiken Fabel nicht antastend, nur jene willkürlich behandelt hat; so zwar, daß er sie durchaus modernisirt, und in Vers, Sprache, Bildern oft gänzlich abweicht von Sophokles, oft wieder ihm treu bleibt, wodurch denn ein unbehagliches Zwitterding entsteht, das, nicht Fisch, nicht Fleisch, sich keinen Platz in unserer Litteratur wird erwerben können. Wir haben oben der Opitz’schen Chorstelle die entsprechende Bearbeitung von Marbach beigefügt, um unsern Lesern bemerkbar zu machen, wie Herr Marbach zwischen einer Aufwärmung der schlesischen Schule und eigenem löblichen Versuche schwankt. War es ihm um eine wirkliche Modernisirung, um eine Einführung der antiken Tragödie in unser heutiges Bewußtsein zu thun (das ja nicht an dem Wohlklang einiger zierlichen Verse allein haftet), so hatte er in Göthe’s Iphigenie ein ebenso schwer erreichbares, als kräftig antreibendes Vorbild, und gerade die Fabel der Antigone bot in der Liebe des Hämon ein Motiv dar, das schon bei Sophokles sich dem Modernen nähert und dessen kräftigere Hervorhebung mit den daraus fließenden Consequenzen unserm heutigen Gefühl ebenso würde entsprochen haben, wie bei Göthe die Andeutung des Orakels und die ethische Versöhnung im Schlusse seiner Iphigenie. Von diesen kühneren Schritten hat Herr Marbach sich zurückgehalten zum Nachtheil seiner Arbeit, von der in dieser Form keine eingreifende Wirkung zu erwarten steht. Wie weit er sein „Streben, das Meisterwerk griechischer Poesie als Meisterwerk deutscher Sprach- und Verskunst wiederzugeben,“ erreicht hat, mögen wir im Einzelnen nicht entscheiden; im Ganzen ist die Sprache edel und wohllautend; nur sind die zahlreichen Hiaten und die durchgängig falsche Betonung Eteokles (kêkê) uns anstößig gewesen. So ist denn der bedeutendste Gewinn, den die Uebersetzungslitteratur des Sophokles in den jüngsten Jahren gehabt hat, ihr offenbar durch Thudichum und Donner zu Theil geworden: aber der besondere Eifer, mit dem die neuere Philologie sich eben der griechischen Tragödie zugewendet hat, verbunden mit der täglich erhöhten Bildung unserer Sprache wird auch die Uebertragung des Sophokles bei diesen schönen Anfängen nicht stehen bleiben lassen; – möge dann ein freundliches Geschick jenen beiden trefflichen Uebersetzern Zeit, Kraft und Stimmung gewähren, auch unter dem nachdrängenden Gewühle künftiger Nebenbuhler ihrer Arbeit durch immer neue Ergänzung und Verbesserung den Platz zu sichern, den sie jetzt mit so vielem Recht einnehmen! – R. E. Prutz.
Ludwig Seeger Ludwig Seeger (1810–1864), Lehrer, Schriftsteller, Journalist, hatte in Tübingen Theologie und Philologie studiert. 1838 ging er, nicht zuletzt wegen der repressiven Verhältnisse in Württemberg, wie viele andere demokratisch gesinnte Deutsche in die Schweiz, wo er bis 1848 als Gymnasiallehrer und Universitätsdozent in Bern tätig war. Er stand den deutschen Frühsozialisten nahe, war Mitglied im Berner Jungdeutschen Arbeiterbildungsverein und hatte Kontakt zu Georg Herwegh, Arnold Ruge und Büchners Mitstreiter August Becker. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland im Jahr 1848 arbeitete er als Journalist und war mehrfach Abgeordneter der Fortschrittspartei im württembergischen Landtag. Seeger begann schon als junger Mann, Übersetzungen zu verfassen. Den größten Erfolg hatte er mit einer zweibändigen deutschen Ausgabe des französischen ChansonDichters Pierre-Jean de Béranger (zuerst 1839/40) und mit einer Übersetzung sämtlicher Komödien des Aristophanes (3 Bände, 1845–48). Außerdem übertrug er Sophokles, Pindar und anakreontische Lyrik. Die Vorrede zur Aristophanes-Übersetzung, die als fiktiver Brief gefasst ist, stellt ein bedeutendes Zeugnis der Übersetzungstheorie im Vormärz dar. Die durch Johann Heinrich Voss begründete Übersetzungstradition wird entschieden verworfen: „Wir müssen, das ist jetzt die Aufgabe, vor allen Dingen deutsch und poetisch übersetzen.“ Hinter der Abkehr vom sprachmimetischen Übersetzen steht das Bestreben nach einer Demokratisierung von Bildung – die Zeugnisse der Weltliteratur sollen für jeden zugänglich und verständlich gemacht werden –, aber auch die Ablehnung eines Sonderstatus antiker Literatur.
Epistel an einen Freund als Vorwort. Aus: Aristophanes. Von Ludwig Seeger, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1845, 1–22.
Du scheinst nicht zufrieden mit mir zu sein, daß ich wieder zu übersetzen anfange. Meinen Versuch mit den Beranger’schen Liedern1 ließest Du gelten: „das war doch noch Fleisch von unserm Fleisch und Bein von unserm Bein.“ Aber nun gar die Alten? „Wann wird, rufst Du aus, wann wird einmal die Zeit kommen, wo wir die Krücken von uns werfen, und auf eignen Füßen stehen?“ Der Himmel verhüte es, daß diese Zeit je kommt! der Tag, an dem wir diese treuen Führer und Begleiter auf unserm Bildungswege in undankbarem Eigendünkel _____________ 1
[Bérangers Lieder in den Versmaßen des Originals verdeutscht von L. S. Rubens [d. i. Ludwig Seeger], 3 Bde., Bern 1839–1841. – Pierre-Jean de Béranger (1780–1857) war ein französischer Lyriker, dessen politisch-satirische Chansons sich in Deutschland seit den 1820er Jahren großer Beliebtheit erfreuten.]
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von uns stießen, wäre der Vorabend einbrechender Verwilderung und Barbarei. Ja, auf eignen Füßen sollen und können wir stehen, Krücken brauchen wir Gottlob nicht, aber auf eigenen Füßen stehen ist nicht isoliert, auf einer Säule stehen, egoistisch bornirt sich abschließen. Die deutsche Nation ist von Natur kosmopolitisch, wenn man das in übeln Geruch gekommene Wort noch gebrauchen darf, und die todten Nationen gehören, wenn ihr Geist noch lebendig ist, wie dies von den Hellenen Niemand [2] läugnen wird, in den Bund und Verkehr der Völker so gut wie die Lebenden. Ueber die Lectüre der Alten, sei’s im Original, oder, was für die Meisten nöthig oder wünschenswerth sein wird, in Uebersetzungen, denke ich überhaupt so: Moderne dabei umfassende, nationale Bildung und Erziehung zu einem menschenwürdigen Dasein ist für uns das letzte Ziel. Der Bildungsstoff, den die neue und neueste Zeit gebracht und täglich bringt, könnte hiezu hinreichend scheinen, er ist es in der That nicht. Zu einer umfassenden Bildung gehört nicht nur Philosophie und Poesie der Neuzeit; was wir wissen und haben, ist kein aus den Wolken gefallenes Geschenk des modernen Genius, unsere Bildung ist das Produkt aller Jahrhunderte, aller geschichtlichen Völker, ihr Hauptelement ist und bleibt aber das Klassische, das Hellenische. Dieses läßt sich also nicht ignoriren, wenn unsre Bildung eine vollständige, eines freien Mannes würdige sein soll. Es soll kein exclusives Wissen, es soll auch keine exclusiven Genüsse geben, auch ästhetische nicht. Was es Schönes und Großes in der Welt gibt, und vor allen Dingen das Schönste, sollen Alle, wenn sie wollen, ohne unverhältnißmäßige Opfer genießen, sich aneignen können. Alle fremden Literaturen müssen subsidiarisch für unsere Bildung benützt werden, dem Einen sagt dies, dem Andern jenes zu, er soll es nicht entbehren müssen; alle Werke des Menschengeistes sind das Erbe der Nationen, vor Allem der deutschen; denn Keine hat es sich so sauer werden lassen, wie diese, sich zu einer Freiheit zu erziehen, für die man es doch immer noch nicht für reif halten will. Das deutsche Volk hat bei der Gründlichkeit, mit der es seine historische Mission erfüllt, von der Vergangenheit so viel Schlimmes und Schädliches ererbt, so viele kranke Stoffe sind, während es im Bergwerk der Geschichte arbeitete, in seine leibliche und geistige Existenz übergegangen, daß es die schreiendste [3] Ungerechtigkeit wäre, wenn ihm das Gute, das Gesunde vorenthalten bleiben sollte. Die Gegenwart ist der Universalerbe der Vergangenheit, muß sie die Schulden des Erblassers bezahlen, so sollen ihm auch die Activa ausgehändigt, der Reichthum soll in Circulation gesetzt, die fruchtbaren, belebenden Elemente sollen aus ihrer Umhüllung hervorgezogen und zum allgemeinen Nießbrauch der Berechtigten – und das sind Alle, die davon wollen – frei gegeben werden. Und Du glaubst immer noch, daß ich, wenn ich die hellenischen Dichter übersetze, so übersetze, daß sie Jedermann, der einen Schiller mit Verstand liest, auch lesen kann, – Allotria treibe, mich an dem Geist der neuen Zeit versündige? Du hältst es für eine gutmüthige Illusion, wenn ich mit der deutschen Bearbeitung eines der Mehrzahl selbst der Gebildeten noch so gut wie fremden Dichters, den man doch hergebrachterweise, als Prototyp aller komischen Poesie preist, wenn ich mit dieser mühsamen Ar-
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beit der deutschen Nation zwar keinen großen, aber doch einen Dienst zu leisten glaube?2 Du kennst mich: zur Unterhaltung schreibe ich nicht, weder für mich noch für Andere; noch weniger soll einer durch Länder und Meere, durch alle Gebiete der Kunst und Wissenschaft schweifenden, ästhetisch-romantischen Genußsucht gedient werden.3 Ur-[4]theilen, kritisch prüfen soll Jeder können, diese, trotz allem Aufwand von Gelehrsamkeit, der seit der Reformation an sie verschwendet worden ist, uns noch heute so fern stehenden Heroen der antiken Poesie sollen uns näher gerückt werden, wir wollen, anstatt sie anzustaunen, uns mit ihnen befreunden, der unbedingte, abgöttische Respekt vor den Alten soll zur kritisch temperirten Bewunderung werden. Es ist Zeit, daß man dem deutschen Volke die Akten vorlegt in einem Streit, der bisher hinter seinem Rücken, in den Phrontisterien4 der Gelehrten verhandelt wurde, als ging’ er das Volk gar nichts an; und so wenig eine Jury das lateinische Korpus Juris braucht, um ein vernünftiges Urtheil zu fällen, so wenig ist für die Jury der Gebildeten im Volke – und das sollen ja Alle werden – das Griechische unumgänglich nothwendig, um selbstständig prüfen zu können: ob Shakespeare größer als Sophokles oder Aristophanes, ob wir immer und immer wieder zu den Alten zurückkehren müssen, oder ob wir nicht endlich einmal eine Bilanz ziehen, der antiken Kunst und Poesie ihre Stelle in der Bildungs-Geschichte der Menschheit ein für allemal anweisen, und uns damit für immer vor blinder Nachbeterei wie vor oberflächlicher Geringschätzung sicher stellen sollen? Wer uns Uebersetzungen der griechischen Dichter bietet, deutsche Uebersetzungen, nicht in jenem berüchtigten „Uebersetzerrothwelsch“ abgefaßt, wo die goldnen Aepfel statt in silbernen Schalen auf „fünfgezottelter Ziegenpelz-Einpolsterung“ Voß.5
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[Es lagen zu dieser Zeit schon zwei deutsche Gesamtübersetzungen des Aristophanes vor: von Johann Heinrich Voss (1821, s. o. S. 5 Anm. 4) und von Johann Gustav Droysen (3 Bde., Berlin 1835–1838). Auch von der Übersetzung Hieronymus Müllers waren bereits zwei Bände (1843/44) erschienen, der dritte folgte 1846.] Um zu zeigen, daß, was ich hier meine, in beiden Lagen zugestanden wird, führe ich ein Wort der Allg. Zeit. No. 13. 1844 an: Wir sind so an die Forderung des Interessanten gewöhnt, daß wenn heutigen Tags in unsrer mit Allem dilettirenden Zeit alte Dramen wieder aufgeführt werden, es nicht das längst erstorbene Gefühl für die antike Schicksals-, Lebens- und Kunst-Welt ist, welche die Leute in das Theater führt, sondern das Interessante, die Neugier Spannende, zu sehen, wie sich die Antigone auf den Brettern ausnimmt, wo eben Raupach’s Zeitgeist spielte, oder der Birchpfeiffer Pfefferrösel ihre Lebkuchen feil bot. [Seeger spielt auf Aristophanes’ Wolken an, wo Sokrates und seine Schüler im sog. Phrontisterion (Seeger übersetzt „Werkstatt tiefgelehrter Denker“, V. 94) ihren wirklichkeitsfernen Studien nachgehen.] [In Voss’ Übersetzung der Wolken, V. 8–10, heißt es richtig: „Ja selbst der hofnungsvolle hier, mein junger Fent / Nie wacht er, so lang die Nacht auch währt, nein, sondern – farzt, / In fünf gezottelter Ziegenbälg’ Einpolsterung.“ Aristofanes von Johann Heinrich Voss, Bd. 1, Braunschweig 1821, 197. – Vermutlich übernahm Seeger die Stelle von August Wilhelm Schlegel, der in der Anmerkung zum
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liegen, glaube mir, auch der dient nach seiner Kraft dem Geist der neuen Zeit, auch seine Arbeit bildet ein Glied in der Kette der gründlich reformatorischen Bestrebungen unserer Tage. Denn [5] allerdings, wie die Sprache, in die übersetzt wird, immer wichtiger ist, als die, aus der man übersetzt, so ist auch die Gegenwart über den Alten nie aus den Augen zu verlieren. Wer das Alte als Altes und darum Ehrwürdiges uns wieder aufwärmen wollte, der – hätte seinen Lohn dahin; der freie männliche Geist aber, der sich trotz aller Hemmnisse im deutschen Volke regt, die Energie und Ausdauer mit der man an der Lösung der schwersten Probleme, die die Geschichte uns je vorgelegt, arbeitet, dieser freie, rüstige Geist kann durch die nähere Bekanntschaft mit den kerngesunden, ewig jugendlichen Alten nur an Frische und Regsamkeit gewinnen,6 wenn die Befähigten es nicht verschmähen, jene Bekanntschaft lebendig zu vermitteln und als gewandte Dolmetscher die Alten den Neuen vorzustellen. Dieser Dolmetscher haben wir nun freilich schon so viele gehabt, und sie haben uns in unsern redlichen Bemühungen, mit den Hellenen, unsern Geistesverwandten, näher vertraut zu werden, so geringe Dienste geleistet, daß es kein Wunder ist, [6] wenn Manche sich mißmuthig abwenden, und auf eine Bekanntschaft verzichten, die, so interessant sie sein mag, – Dank der vornehmen Geheimnißkrämerei und der poetischen Impotenz dieser Dolmetscher, der Philologen von der strikten Observanz – so unsäglich schwer zu machen ist. Wer erinnert sich nicht des bittern Gefühls, mit dem er ein-, zwei-, dreimal eine Uebersetzung von Sophokles oder Aristophanes in die Hand nahm, und nach einem kurzen Versuch, sich durch das, für ihn so gut wie das Original fremde Idiom durchzuarbeiten, wieder aus der Hand legte? Man stellt sich die verdrießliche Alternative: entweder du bist völlig vernagelt für diese Poesie, oder: diese Uebersetzungen mögen Alles sein, gelehrt, gründlich, treu u. s. w., aber deutsch sind sie nicht. Zum ersteren Geständniß entschließt man sich schwer, wenn man seine deutschen Klassiker, selbst den wunderlichen Jean Paul gelesen und genossen hat, wenn man aus einer Real-, Kunst-, Gewerb- oder Militärschule hervorgegangen, sich eines gewissenhaften Strebens nach allseitiger Bildung bewußt ist, ja sogar das Nötigste aus der alten Geschichte noch im Gedächtnis hat. An wem liegt also die Schuld? An den Uebersetzern?
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dritten Abdruck seiner Voss-Rezension (s. o. S. 3) ebenfalls „Ziegenpelz“ statt „Ziegenbälg“ schrieb, vgl. A. W. Schlegel, Kritische Schriften, Bd. 1, Berlin 1828, 156.] Daß diese Bekanntschaft mit den Alten, wie man sie in den Schulen macht, bis jetzt so wenig Früchte trug, daran sind wenigstens die Alten nicht Schuld: unsere Erziehung war eben eine scholastische, handwerksmäßige, keine lebendig freie, politisch sociale. – Man höre z. B. den Vater der Geschichte, den Herodot (V. 78) der in allen deutschen Gymnasien gelesen wird: „Man findet es durchgängig bestätigt, daß die Freiheit und gesetzliche Gleichheit eine vortreffliche Sache ist, da auch die Athener, so lange sie unter absoluten Herrschern standen, keinem ihrer Nachbaren im Kriege überlegen waren, während sie, so bald sie dieselben los geworden, bei weitem die Ersten wurden. Es ist hieraus offenbar, daß sie so lange sie Unterthanen waren, sich absichtlich feig benahmen, als Leute, die ja für ihren Herrn arbeiteten, während, nachdem sie frei geworden, Jeder für sich selbst zu arbeiten Lust und Liebe hatte.“
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Aber dürfen wir es wagen, die großen, gefeierten Namen eines Voß, Wolf, Solger, Thiersch, Droysen7 u. s. w. zu verunglimpfen? haben sie nicht durch ihre allbekannten Uebertragungen sich ein unsterbliches Verdienst um das Verständniß der Alten erworben? – Sicher! Wer könnte das läugnen? – Aber eben weil wir sie gehabt haben und doch heute noch so mancher Gebildete klagt: er wisse nicht, wie und wo er seinen Wunsch, mit den Griechen ebenso, wie mit andern Fremden, Shakespeare, Calderon, Ariost, die er auch nur aus Uebersetzungen kenne, vertraut zu werden, ohne allzugroßen Aufwand von Zeit und Mühe und Geld befriedigen könne, eben diese oft gehörte Klage [7] beweist uns, daß wir auf der Heerstraße der bisherigen Uebersetzungsweise nicht fortgehen dürfen, wenn wir zur Befriedigung des fast durch ein Wunder immer noch vorhandenen Bedürfnisses Etwas thun wollen. Wir müssen, das ist jetzt die Aufgabe, vor allen Dingen deutsch und poetisch übersetzen. Die Treue versteht sich hiebei von selbst, wenn auch diese nicht eine buchstäbliche sein darf, wobei das summum jus, das man den Alten angedeihen läßt, zur summa injuria wird, mit treuer Liebe müssen wir übersetzen, damit man uns traduttori nicht länger traditori nenne. Aber was nannte man bisher Treue? Soll das treu übersetzt heißen, wenn man z. B. die meist nur durch Hypothesen der Erklärer festgestellten Versmaaße der Chöre genau irgend einer dieser Conjekturen gemäß übersetzt, und die „Mückenfüße“, die metrischen Tabellen, drüber oder hinten hinsetzt, wie es einst Klopstock bei seinen Oden that, wie es noch heute Fritze hinter seinen Sophokles’schen Tragödien8 thut, wenn man jener Caprice zu Liebe die Sprache rädert, allen Duft und Schmelz mit groben Handwerkersfingern verwischt, und den wallenden, melodischen Strom der Poesie in ein zackiges, unter jedem Tritt knarrendes Eisfeld verwandelt? A. W. Schlegels Urtheil über die Vossischen Uebersetzungen (in den Studien und Kritiken) ist bekannt.9 Alles, was er an dem Vossischen Homer gerügt hat, – und nun lese man erst den Aristophanes von Voß! – ist noch bis auf den heutigen Tag (man sehe z. B. H. Müllers Uebersetzung des Aristophanes10 an) nicht zu den Ohren, noch weniger in das Bewußtsein der Uebersetzer gedrungen. Drei und vierfach zusammengesetzte Beiwörter und Partizipien, unzählige Zeitwörter mit der Vorsilbe ent, z. B. entzittern, oft noch mit hinweg verbunden; mit um z. B. von Mühlsteinen umprallt, die Troer umschlug [8] schwerlastender Kummer; gewaltsame Verkürzungen, wie: gestrengt für angestrengt; absolute Genitive, wie: die herrliche, langes Gewandes; die Schreibung des e, wo der Usus es längst gestrichen: gefüllete; das active Particip in den härtesten, unverständlichsten Verknüpfungen, unerlaubte Inversionen, falsche _____________ 7
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[Zu Voss s. o. S. 5 Anm. 4, zu Solger S. 39. – Friedrich August Wolf (1759–1824) veröffentlichte anonym zwei Aristophanes-Übersetzungen (Wolken 1811 und Acharner 1812). Friedrich Thiersch (1784–1860) übersetzte Pindar (2 Bde., 1820). Johann Gustav Droysen (1808–1884) übersetzte Aischylos (1832) und Aristophanes (3 Bde., 1835–1838).] [Sophocles, metrisch übertragen von Fr. Fritze, Berlin 1843–45.] [S. o. S. 3–38. Was Seeger nicht erwähnt: Schlegel hatte den deutschen Homer von Voss zwar zuerst scharf kritisiert, dieses Urteil aber später in einer Notiz, die er dem Nachdruck 1801 (in der Sammlung Charakteristiken und Kritiken) anfügte, revidiert.] [Die Lustspiele des Aristophanes. Übersetzt und erläutert von Hieronymus Müller, 3 Bde., Leipzig 1843–1846.]
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Stellung der Negation, trennbare und untrennbare Partikeln am Verb willkührlich verbunden oder abseits gestellt: ganz den Tag hinflog ich, und: stets nachtobte des Krieges Wuth: – all das – und das Sündenregister ließe sich noch ins unendliche vermehren – ist Observanz geworden unter den philologischen Uebersetzern, keiner denkt mehr bei solch unnatürlichen Wörtern, Wendungen und Construktionen daran, daß er der Sprache mit grober Faust ins Gesicht schlägt. Unsre Sprache ist biegsam, nun ja, biegt sie, aber brecht ihr nicht das Genick. Oder bin ich hier, weil ich Parthei bin, vielleicht partheiisch? Nun so will ich Befugtere reden lassen. Wir verehren die Alten, sagt A. Stahr,11 und sie verdienen diese Verehrung, wenn gleich dieselbe in der gewöhnlichen philologischen Praxis, die noch immer das Alterthum in Pausch und Bogen zu nehmen und alle seine Werke mit traditionellem Enthusiasmus als absolut zu fixiren gewohnt ist, oft zur Carrikatur wird. Aber wir sollten nur auch von ihnen lernen, wie man zu verfahren hat, wenn es gilt, Fremdes durch Vermittelung der Muttersprache uns nahe zu bringen. Wenn Cicero den Platon oder Aristoteles, wenn er einen spätern Dichter oder Denker der Griechen übersetzt, so hören wir wirklich und vor allen Dingen einen Römer, dem seine Sprache und deren Genius das höchste und erste Gesetz ist; und Horaz, hat er nicht etwa bei seiner Benutzung und theilweisen Uebersetzung griechischer Vorbilder geständigermaßen dasselbe Prinzip verfolgt? Ja, er hat nicht selbst da, wo er ganz unselbstständig, ganz von hellenischer Kunst abhängig ist, in den Metris seiner Lyrik [9] doch überall im Einzelnen sich die Modificationen erlaubt, welche der ernstere, gemessnere Charakter, die gravitas seiner Sprache ihm zu fordern schien? Und wir dagegen? Unfrei, wie wir überhaupt sind, machen wir uns selbst auf dem freiesten Gebiet zu Knechten, verläugnen unsre Nationalität, den Charakter und Genius unsrer Sprache selbst da, wo wir zur Zeit noch fast allein frei uns bewegen dürfen. Es ist die Geschichte von dem Hunde, der seinem Herrn entlief, um einmal die Freiheit zu schmecken. Was willst du nun beginnen? fragte ihn der Fuchs. Ich will hingehen und – mir einen neuen Herrn suchen. So knechten wir unsre Sprache einer von Schulmeistern ausgeklügelten Metrik zu Liebe und verläugnen ihr Lebensprincip des Accents und der rhythmischen Bewegung zu Gunsten abstrakter metrischer Gesetze, die in dem Lebensprozeß unsrer Sprache und Poesie keinerlei Begründung haben. Und so kommen wir zu einem Robespierre’schen Terrorismus und metrischen Fanatismus, der freilich harmloser Natur, sich in die komische Erscheinung auflöst, daß ein Schulmeister (wie Kirchner12), alles Ernstes daran denken konnte, unsre gesetzlose Poesie zur metrischen Raison zu bringen und das Panier des Absolutismus und der Legitimität, der bevormundenden Centralisierung auch in der freiesten aller Künste zum Principe zu erheben. – Eine Uebersetzung, fährt Stahr fort, ist ein Portrait, und ein Portrait ist nur dann ein _____________ 11 12
[Adolf Stahr (1805–1876) war Lehrer, Schriftsteller, Literaturhistoriker und übersetzte Aristoteles, Sueton und Herodian. Woraus Seeger hier und im Folgenden (S. 169) zitiert, war nicht zu ermitteln.] [Karl Kirchner, Die Gesetze der deutschen Zeitmessung, Stralsund 1828. – Kirchner (1787–1855) war Rektor in Stralsund und später in Schulpforta.]
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Kunstwerk, wenn es das Original nicht in Denners13 Manier mit allen Flecken und Sommersprossen, Mälern und Warzen abschreibt, sondern die geistig bedeutenden Züge zu einem ausdrucksvollen Ganzen vereint, und das Wesentliche vom Unwesentlichen und Zufälligen sondert. Construktionen und Sprachwendungen in einem dichterischen Kunstwerk fremder Sprache sind gegen das Poetische des Inhalts und Gehalts das Zufällige für den Uebersetzer. Er hat sie der Mutter-[10]sprache unterzuordnen, wenn er nicht statt eines geistig treu reproducirten Kunstwerks ein Nachbild liefern will, dessen Aehnlichkeit eine widerwärtige ist, eben wie man von gewissen Portraits sagt: sie seien zum Erschrecken ähnlich. So steht es mit unsern philologischen Uebersetzern: Prosodie, so viel man will, aber keine Poesie, kein deutsches Kunstwerk. „Sie leben und weben in Hellas, wer wollt’ es bezweifeln? Sie sind dort ansäßig vielleicht, aber – nicht zu Haus; das Vaterland indeß, heimische Art und Sitte haben sie vergessen, und die der Afterheimath ist ihnen nur äußerlich. Kommen sie zu uns zurück, so ist das dritte Wort ein fremdländisches; aber mögen sie in der Fremde noch so viel gelernt, studirt, sich angeeignet haben, das Vaterland hat davon gar keinen Gewinn und sie nur einen eingebildeten.“ Die deutsche Uebersetzungskunst, von der man so viel Wesens macht, hat, einige wenige glänzende Ausnahmen abgerechnet, an den Alten in der Regel sich schwer versündigt, und ihre Meisterschaft hat sie für das Gebiet der klassischen, der hellenischen Dichtkunst erst noch zu erproben. Wird sie dieses thun? Kann sie es? Ich glaube, ja. Wie sie es thun wird, darüber lassen sich freilich nur Vermuthungen, wenn auch auf die Historie begründete, aufstellen, und wenn diese für den Einzelnen auch die volle Beruhigung einer zweifellosen Ueberzeugung gewähren, – sie zur vollen Gewißheit erheben kann nur wieder eine historische Thatsache, die Erfahrung, ob auf diese oder jene Grundsätze gebaute Uebertragungen wirklich im Volke durchdringen, oder – weil sie das Räthsel nicht gelöst – gestürzt, zu ihren zahllosen Vätern im Staube der Bibliotheken versammelt werden. Im Verlauf unserer letzten Literaturperiode – denn daß wir im Uebergang zu einer neuen begriffen sind, ist ein Geheim-[11]niß, das sich die Knaben auf der Gasse zuflüstern – hat die deutsche Uebersetzungskunst, nach und neben einander, eine zweifache Richtung genommen, die modernisirende, freie, laxe, bequeme, französisch deutsche, und die buchstäblich treue, pedantisch strenge, undeutsche, oder um an geschichtliche Namen anzuknüpfen, die Wieland’sche und die Voß’sche. Dies sind die beiden entgegengesetzten Pole, von denen angezogen die Uebersetzungen nach zwei Seiten auseinander gehen. Dort regiert einseitig der Geist, hier einseitig der Buchstabe, dort bequeme Zierlichkeit, ausschweifende Licenz, fessellose Willkühr, hier steife Unbeholfenheit, tyrannische Machtsprüche und sklavische Unterwürfigkeit, leblose Mechanik. Nun liegt es nahe, zu sagen: der goldne Mittelweg wird auch hier die Bahn sein, die wir in Zukunft einschlagen müssen. Ich kann aber in allen Dingen, wie Du weißt, vom Justemilieu kein Heil erwarten: zwischen zwei wahrhaften Gegensätzen ist in alle Ewigkeit keine Vermittlung möglich. Die wahre Vermittlung ist die Auflösung _____________ 13
[Der Maler Balthasar Denner (1685–1749) war für die Detailgenauigkeit seiner Porträts bekannt.]
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der Gegensätze in ein drittes Höheres, es ist nicht das starre Gesetz und nicht die lose Freiheit, die uns selig macht, es ist auch nicht die gesetzliche Freiheit oder die freie Gesetzlichkeit, wie man diese Vermittlungstermen gewöhnlich braucht, um sich und Andere damit zu täuschen, es ist die Freiheit, die ihr Maaß in sich selbst trägt, die Gesetzlichkeit, die im Objekte liegt, und mit der das Subjekt zusammen wächst, die innere, erkannte Naturnothwendigkeit, die das Wesen jedes Kunstwerkes, jeder Produktion, auch der Reproduktion ist. Das wahre Verständniß eines Autors schließt sich nur dem Liebenden auf, in der Liebe wachse ich mit dem Geliebten zusammen, ich gebe mich ihm hin, aber ich opfre nichts von meinem Selbst auf, ich bereichre dieses, meine Hingebung ist keine Unterwürfigkeit, ich empfange, um das Empfangene von meinem Wesen durchdrungen wiederzugeben, ich gebe, um in jedem Au-[12]genblicke wieder zu empfangen. Es ist dem Gehalt, dem Wesen nach dasselbe, was ich empfange, was ich wiedergebe, es ist der Form nach ein Anderes, aber selbst diese Modification ist eben Modification, Nachbildung, nicht Umbildung. Der Geist ist der Vater, die Sinnlichkeit die Mutter alles Schönen, jedes Kunstwerks, diese Aeltern vervielfältigen ihr Wesen in Kindern, jedes dem andern ähnlich und doch wieder unähnlich. Eine relative Aehnlichkeit dieser Art meint wohl auch der treffliche Stahr, wenn er die Uebersetzung ein Portrait des Originals nennt, es ist genügend, wenn das Portrait diesem auch nur so weit gleicht, wie eine Schwester der andern. – Nicht gleich ist das Antlitz bei allen, Aber verschieden auch nicht, wie eben Geschwistern geziemet. (Ovid).14
Wie ist nun diese relative Aehnlichkeit der Form zu erzielen, welche metrische Grundsätze müssen bei der Uebersetzung eines alten Dichters feststehen, wenn der Uebersetzer die oben angeführten Abwege vermeiden will? Streng müssen wir sein, wie Voß, aber nicht pedantisch, frei wie Wieland, aber nicht willkührlich. Wir sind, sagt Prutz, in einem belehrenden Aufsatze: „zur Geschichte der deutschen Uebersetzungskunst“15, wir sind nicht mehr die Menschen der alten Welt, wir haben weder ihre Sprache mehr, noch ihre Vorstellungen und Formen, die griechische Welt bleibt uns immer eine andere, eine fremde, deren innersten menschlichen Kern wir allerdings noch in unserm eignen Busen wieder finden; die Formen aber und Zustände, in denen diese Welt sich bewegt, sind uns fremd, und nur auf dem historischen Weg der Forschung können wir sie verstehen, und mit ihnen uns befreunden. Wo nun diese Formen in [13] unsrer Welt, in unsrer Sprache zur Darstellung gelangen sollen, wird, da im Grunde kein Mensch und keine Sprache etwas Andres sagen kann, als sich selbst, etwas Unpassendes, Unverständliches, Befremdliches entstehen, das nur der vermitteln und ausdeuten kann, der die historische Kenntniß jener Zustände besitzt16. _____________ 14 15 16
[Ovid, met. 2,13 f.] [S. o. S. 145–161.] Eigenthümlichkeit des Ausdruckes ist Anfang und Ende aller Kunst. Nun hat aber jede Nation eine von den allgemeinen Eigenthümlichkeiten der Menschheit abweichende, besondere Eigenheit, die uns zwar anfänglich widerstreben mag, aber zuletzt, wenn wirs uns wohlgefallen ließen, wenn wir uns der-
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Dies wird vor Allem auch in der sprachlichen Darstellung, in der Form der Uebersetzung sich zeigen. So, um uns auf das griechische Drama zu beschränken, hat der jambische Trimeter für unser Ohr, das sich an den leichteren Fluß des englischen Verses gewöhnt hat, eine Feierlichkeit, Schwere, Steifheit sogar, die bei uns um so fühlbarer wird, als wir der langen, vielsilbigen Wörter, der langgestreckten, rhythmischen Verbalformen, der immer ungezwungenen Zusammensetzungen der griechischen Sprache entbehren, um den Vers zu füllen, oft zu müßigen Flickwörtern oder ungeschickten überprächtigen Zusammensetzungen unsre Zuflucht nehmen müssen. – So weit Prutz. Es ist wahr, was die Alten schon von dem Trimeter sagten: er ist πρακτικός, praktisch, thatkräftig, energisch, natus rebus agendis; aber, lesen wir ihn auch wie wir sollen, nicht ähnlich dem Alexandriner, sondern wie sein Name anzeigt, nicht als sechsfüßigen Jamben, sondern als dreigetheilten Vers, mit drei Jambischen Doppelfüßen, k l k l | k l k | l k l k , [14] immerhin hat dieser Vers für unser Ohr etwas Unnatürliches, Etwas vom Theaterschritt; es ist wahr, er tritt fest auf, dringt gemessen, rüstig vor, und doch sagen wir: so geht kein Mensch bei uns zu Land, es ist in diesem Gang für uns Etwas, was nicht zu jeder Situation paßt, etwas Pomphaftes, steif Gespreiztes, oder wie die Schwaben sagen: etwas Aufgedonnertes. Es ist der plastische Sinn der Griechen, der diesen Vers erschuf, und wie man die Charaktere der alten Tragödie „schöne wandelnde Statuen“ genannt hat, so hat auch dieser Schritt für uns etwas Steinernes, etwas von dem Schritt der antiken Basrelieffiguren. Diese dem ersten Anschein nach so geringfügige, rein formelle Frage, ob wir uns in der Uebersetzung der alten Dramen des Trimeters bedienen sollen oder nicht, hängt aber wieder genau mit dem Unterschied der antiken und modernen Kunst zusammen. Unsre ganze Aesthetik steht auf einem andern Boden, als die alte; der Unterschied des Plastischen und Romantischen ist ja in Aller Munde. Der Streit dieser sich gegenseitig fast ausschließenden Elemente ist offenbar zu Gunsten des Romantischen, oder besser: des Modernen, als des unsrer Natur Gemäßen entschieden. Die öffentliche Meinung ist daher dieses Streites längst überdrüssig, obwohl das Bewußtsein darüber klarer sein dürfte. Der oben in der Anmerkung angeführte Correspondent der Allg. Zeitung17 faßt die Sache kurz in den Worten zusammen: Unsere Kunst, dem verhältnißmäßig engen Anschauungskreise der Plastik, dem sog. edlen Maaß der Griechen entwachsen, vermag mehr (als nur schöne, wandelnde Statuen auf die Bühne zu stellen, oder wie die Ilias, eine Reihe der herrlichsten Basreliefs zu liefern): ihr liegt eine Weltanschauung zu Grunde, von der die Alten kaum eine Ahnung hatten. Musik, Malerei, Architektur und Plastik sind jetzt in der Poesie ver-[15]einigt, und interessant muß ein Kunstwerk sein, nicht blos schön. _____________
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selben hingäben, unsre eigne charakteristische Natur zu überwältigen und zu erdrücken vermöchte. Göthe’s Werke, B. 45, S. 123. [= Nachgelassene Werke, Bd. 5, Stuttgart/Tübingen 1833, Abschnitt Deutsches Theater. Einzelnes.] [August Wilhelm Schlegel, s. o. S. 167 Anm. 9.]
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Diese Bemerkungen werden uns auch in der Beantwortung der Frage: ob der Trimeter beizubehalten oder mit dem Jamben zu vertauschen sei? leiten müssen. Ist das Wesen der Alten das Plastische und kommt dieses auch in ihrem dialogischen Versmaaße zur Erscheinung, so müssen wir zwar den allgemeinen Charakter ihrer Metren beibehalten, also hier den jambischen, aber wir dürfen nicht den deutschen Dialog der griechischen Dramen in eine Form bringen, die auf uns, unsrer modernen Natur gemäß, einen ganz andern Eindruck macht, als der Trimeter auf die Griechen machte. Bei ihnen war das Plastische, sinnlich Abgeschlossene das Natürliche, das Herrschende, das Plastische ist bei uns nur unter andern Elementen ein Element; was dem Griechen natürlich klang im Trimeter, klingt uns eben nicht so. Ein Opfer muß also gebracht werden, wenn nicht die Treue zur Untreue werden soll. Es ist nun einmal für ein gebildetes deutsches Ohr unmöglich, auch nur eine halbe Seite deutscher Trimeter ohne die unangenehmste Empfindung anzuhören. Diese lang athmigen, im besten Zuge abklappenden Verse können wir nur hie und da, wo es eben der Stoff mit sich bringt, uns gefallen lassen. Der Trimeter fällt bei uns vielleicht in die gleiche Verdammniß mit dem Alexandriner, und dies wäre nur dann nicht der Fall, wenn wir überall am Schlusse des Trimeters lange Silben anzubringen vermöchten. Haben wir aber die Schlußsilben, wie dies in allen vorhandenen Uebersetzungen der griechischen Dramatiker der Fall ist, in der Regel kurz, so fällt die ganze Masse des für unsre metrische Gewohnheit ohnedies etwas langen Verses auf den dünnen Halm der letzten Silbe und knickt und drückt ihn zu Boden: dieses pendelartige Ticktack, dieses Zusammenknacken bei jedem Schritt, dieser metrische [16] „Knieschnapper“ hat was unausstehlich Widerwärtiges. Daß kein Schauspieler diese Verse deklamiren kann, hat man in Berlin18 erfahren. Man sehe hierüber Fritze’s Uebersetzung der Elektra mit der Vorrede vom Uebersetzer und von Ludwig Tieck.19 Die dort auseinandergesetzten Gründe für den Jamben und gegen den Trimeter will ich nicht wiederholen. Aber es ist gewiß nicht ohne Gewicht, daß ein Tieck nach so langer Befreundung mit der Solger’schen Uebersetzung sich von dieser trennt und meint, „daß der Dichter bei der freieren jambischen Nichts einbüßte, ja, daß es für den Sprechenden und Hörenden gleich vortheilhaft sei, diesen gewöhnlicheren Vers zu vernehmen, der für uns leichter und ungezwungener ist.“ Beiläufig will ich übrigens hier erwähnen, daß meine jambische Uebersetzung der Elektra schon lange vor der Fritze’schen in Borbergs „Hellas und Rom“20 zu lesen war, und daß schon vor zehn Jahren Ludwig Uhland über _____________ 18
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[Seeger spielt auf die Aufführung der Sophokleischen Antigone (unter der Regie Ludwig Tiecks, mit der Bühnenmusik von Felix Mendelssohn Bartholdy) im Oktober 1841 im Neuen Palais zu Potsdam an, die in der Folge im Berliner Schauspielhaus wiederholt wurde. Ihr lag die metrische Übersetzung Johann Jakob Christian Donners zugrunde.] [Sophokles, metrisch übertragen von Franz Fritze, 7 Bde., Berlin 1843–1845. – Franz Fritze war Jurist in Berlin und mit Ludwig Tieck bekannt. Für die Aufführung des Oedipus auf Kolonos, die 1845 ebenfalls im Potsdamer Neuen Palais stattfand, verwendete man zum Teil die Übersetzung Donners (für die Chöre), zum Teil die von Fritze (Blankverse der Sprechpartien).] [Hellas und Rom. Vorhalle des Klassischen Alterthums in einer organischen Auswahl aus den Meisterwerken seiner Dichter, Geschichtschreiber, Redner und Philosophen. Nach den besten vorhandenen Uebertragungen hg. und mit fortlaufenden biographischen und literär-geschichtlichen Erläuterungen
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eine von mir ihm mitgetheilte Uebersetzung eines Theils der Sophokles’schen Tragödien mir schrieb: er habe meine Uebersetzung ohne Beiziehung des Originals gelesen, und sich so den Eindruck vergegenwärtigt, den dieselbe auf solche Leser machen müßte, die dadurch zuerst mit dem Dichter bekannt würden; „dieser Eindruck erschien mir als ein sehr günstiger, die Sprache bewegt sich frei und einfach, und dabei doch in würdiger Haltung, wie der Geist des Originals es erfordert“ u. s. w. Ich führe dies nur deßwegen an, um zu zeigen, daß ich mit der Einführung oder vielmehr Wiedereinführung des nach Wieland und Stolberg21 abgekommenen Jamben gar nichts Neues thue, daß dieser in neuerer Zeit immer allgemeiner anerkannt wird. Ueberhaupt, wenn der Trimeter uns ohr- und mundgerecht sein soll, warum haben ihn unsre Dichter fast ganz unangebaut gelassen? Warum? Weil es unmöglich ist, in unsrer Sprache, deren Wörter meist trochäisch oder daktylisch enden, Wörter genug mit langen [17] Endsilben aufzutreiben. Und was der Dichter nicht kann, das kann der Nachdichter, der an sein Original gebunden ist, noch weniger. Wäre nur ein einziger griechischer Dramatiker in schönen, regelrechten Trimetern übersetzt vorhanden, so würde auch ich nicht auf die Ehre verzichten, an die Übrigen ein Gleiches zu leisten. Aber das Unmögliche machen wir nicht möglich, und wenn ein Opfer gebracht werden muß, und es ist allerdings ein Opfer, so darf es, wenn wir für Deutsche schreiben, doch nicht die rhythmische Schönheit des deutschen Verses sein, die verloren geht. Darum deutsche Jamben, akatalektische und hyperkatalektische in passender Abwechslung, wie in Schiller’s und Göthe’s Dramen, selbst in seiner aus dem Griechischen umgedichteten Iphigenie, die selbst Gottfried Hermann, der Metriker, für klassisch erklärt hat trotz ihrer Jamben.22 Und die Chöre? Diese werden metrisch getreu nachgebildet, so weit sie kritisch festgestellt, und unsrem Ohre zugänglich sind. Sonst, freier Rhythmus, dem Gang der Gedanken und Empfindungen vollkommen entsprechend. Hier entscheidet nur das Ohr, der poetische Takt, keine Willkühr, keine maaßlose metrische Tändelei! Der Nachdichter lauscht dem Dichter Rhythmus und Melodie ab, und ein poetisch sicherer Tastsinn, an alten und neuen Kunstwerken geübt, muß heraus fühlen, was genau nachzuahmen ist, und was als Aeußerliches ohne Nachtheil, ja zum Vortheil der Verdeutschung geopfert werden darf. Poesie geht, wie gesagt, über Prosodie. Lesen sich unsre Chöre schön und fließend, bewegen sie sich, nach Erforderniß des Inhalts, bald rasch und leidenschaft_____________
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begleitet von K. Fr. Borberg, 8 Bde., Stuttgart 1842–1847. – Borberg war Kollege Seegers an der Berner Realschule und nahm neben der Sophokleischen Elektra auch zwei Oden Pindars und zwölf anakreontische Gedichte in Seegers Übersetzung in die Sammlung auf.] [Wieland hatte u. a. Aristophanes’ Friede, Wolken, Ritter und Vögel, Euripides’ Helena und Ion übersetzt (gedruckt im Attischen Museum seit 1797), von Christian Graf zu Stolberg liegt eine zweibändige Sophokles-Ausgabe vor, s. o. S. 153 Anm. 22.] [Gottfried Hermann versah seine Edition der Euripideischen Iphigenie in Aulis (Leipzig 1831) mit der Widmung „Goethio Taurica Iphigenia spiritum Graecae tenuem Camenae Germanis monstratori“ (Für Goethe, der den Deutschen mit der Iphignie auf Tauris den feinen Geist der griechischen Muse gezeigt hat). Zu Hermann vgl. auch oben S. 56 Anm. 36.]
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lich, bald langsam und gemessen, bald leicht hinschwebend, bald stark auftretend, bald anmuthig spielend, bald mächtig hinreißend – immer werden wir den gleichen oder doch einen [18] ähnlichen Eindruck hervorbringen, den der Rhythmus des Originals, der, wie gesagt, so viel nur irgend möglich beibehalten wird, auf das Ohr des Griechen hervorbrachte. Nach diesen Grundsätzen verfahre ich, aber vollkommen gerechtfertigt sind sie erst dann, wenn bei ihrer Befolgung eine wirklich genußreiche, durch keinerlei sprachliche und rhythmische Härten gestörte Lektüre des griechischen Dichters für alle gebildeten Freunde der Kunst und des Alterthums möglich gemacht, wenn diese Uebersetzungsweise wahrhaft populär wird. Aber auch dann, wenn das, was jetzt Vielen eine Chimäre scheinen wird, gelänge, wird immer noch zugestanden bleiben müssen, was Göthe sagt: (Werke B. 49. S. 72.) „Uebersetzer sind als geschäftige Kuppler anzusehen, die uns eine halb verschleierte Schöne als höchst liebenswürdig anpreisen, – sie erregen eine unwiderstehliche Neigung nach dem Original.“ Gut, wenn auch unsere Uebersetzung dies bewirkt, aber dies allein bewirken wollen kann sie natürlich nicht. Somit hätt’ ich Dir, lieber Freund, und Allen, die diese Epistel zu lesen bekommen, auseinander gesetzt, daß und warum ich glaube, daß die hellenischen Dichter auch jetzt noch und gerade in dieser Zeit und wie sie übersetzt werden müssen. Der hellenische Geist hat seine Mission in Deutschland noch nicht erfüllt, Dichter, die so durch und durch politisch sind, wie die griechischen, ein Aeschylos, der nicht blos Perser schreibt, sondern auch gegen die Perser (bei Marathon und Salamis) ficht, ein Aristophanes, der wie dieser von ihm hochverehrte Heros sich aufs thätigste an den inneren und äußeren Geschicken seines Vaterlandes oft mit eigner Lebensgefahr betheiligt, solche Männer des begeisterten Worts und der begeisterten That müssen unsern Bücher- und Stubenmenschen vorgeführt, ihre Werke müssen dem deutschen Volk in seiner Sprache ans Herz gelegt werden, [19] damit es wenigstens – noch erröthe. Benutzen wir die uns noch übrige Zeit vor der kritischen Epoche, die uns bevorsteht, um alle Schleusen zu öffnen, die den täglich steigenden Strom einer gediegenen Geistes- und Charakterbildung noch höher anschwellen können, kräftigen und erfrischen wir uns an dem Quell der ewigen Jugend, dem reichen, klaren Born der antiken Poesie, erwecken wir in allen Köpfen und Herzen durch jedes Mittel, das einer so theuren Sache würdig ist, das deutsche Nationalgefühl, erwecken wir es auch dadurch, daß wir den Unsrigen das Muster eines Volkes vorhalten, das seinen Staat nicht wachsen ließ, sondern selbst zu dem machte, was ihn der Bewunderung aller Zeiten und Völker werth gemacht, eines Volkes, dessen Dichter namentlich ihr Selbstgefühl als freie Hellenen so nachdrücklich, so siegreich aussprachen, wie z. B. Aristophanes, Volk und Mächtige zu geißeln ein gefürchtet Haupt im Staat!
Hier habe ich nur noch beizufügen, was der alte ehrliche J. G. Schlosser in der Einleitung zu seiner prosaischen Uebersetzung der Frösche sagt, die, wohlgemerkt, vor sechzig Jahren, in der Zeit der dumpfen Stille vor dem Gewitter der Revolution erschienen ist. (Kleine Schriften III. 1783.) Ueber jene vorrevolutionaire, ante-
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diluvianische Zeit und das Verhältniß des Aristophanes zu ihr läßt er sich so vernehmen: „Die alte Komödie hat allerdings viele Fehler gehabt, und mag viele Grausamkeiten begangen haben. Es ist hart, wenn ein Mann, zumal ein Mann, der auf einem öffentlichen Platz steht, der Brandmarkung jedes muthwilligen Dichters ausgesetzt ist; es ist aber auch auf der andern Seite wieder traurig, daß die Schlachtopfer des Geizes, der Eitelkeit, der Dummheit ihrer Obern nun gar kein Mittel mehr haben, den Druck unter dem sie seufzen, auf eine Art an den Tag zu legen, und ihrer Galle [20] Luft zu verschaffen! Kein Mittel mehr, den in den Hofkreis eingeschlossenen Regenten zu erleuchten, keines, die sich zum Ansehen der Weisheit brüstende Dummheit zu züchtigen, die religiöse Heuchelei zu entlarven, den gierigen Eigennutz zu brandmarken und die übertünchte Leerheit abzuwaschen; oder wagt auch einmal ein Dichter sich an die Satire, wie muß er sich bemühen, seine Farben zu vertreiben, seine Züge zu verstecken! Wie muß er sich in der weitesten Allgemeinheit halten! Was ist aber eine allgemeine Satire? Jeder lacht darüber und Keiner findet sich in der Karrikatur. Doch was würde es auch helfen, wenn unsre Dichter alle Freiheit des Archilochus und des Aristophanes hätten? Es versteht ja doch Keiner mehr von der Weltgeschichte, als was etwa die Zeitung lehrt, es hat ja doch Keiner kein Vaterland mehr, kann ja doch Keiner mehr als Dichter Einfluß in das wirkende Leben haben. Und wie würde auch unser empfindsames, gutherziges Rosenfestpublikum eine kühne Satire ohne Konvulsion ertragen? Laßt uns also so fort mit Rabener’schen Satiren u. s. w. zufrieden sein, und auf unsern Kopfkissen sterben! Wem aber das nicht genug ist, der wirds denen danken, die ihm in den Alten andere Aussichten zeigen.“23 Der wackre Mann, der diese Worte vor mehr als einem halben Jahrhundert schrieb, würde sich im Grabe umkehren, wenn er wüßte, daß seine Philippika heut noch buchstäblich wahr ist und daß ihr zweiter Abdruck wohl ebenso wirkungslos verhallen wird, wie der erste in dem alten bestäubten Buche, das vor mir liegt. Einen Kommentar dazu – doch die Hand auf den Mund, wir sind in Deutschland, und „wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf“. Mehr, weit mehr als an seiner politischen Schonungslosigkeit, die wir uns ja wohl gefallen lassen, wenn hinten weit in der Türkei – oder im grauen Alterthum – [21] die Völker und Personen aufeinander schlagen, hat man von jeher an der schonungslosen Nacktheit, an dem Cynismus des Aristophanes Anstoß genommen. Böckh soll bei Anführung des Epigramms von Platon auf Aristophanes: Einen Tempel von ewiger Dauer begehrten die Grazien, Und der Göttinnen Sitz ward Aristophanes Geist –
trocken bemerkt haben: einen Tempel ja, aber einen dreckigen. Wenn nicht wahr, doch gut erfunden, und bezeichnend für die gang und gäbe Ansicht von dem Komiker.
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[Johann Georg Schlosser, Kleine Schriften, Bd. 3, Basel 1783, 138 f. – Seeger gibt das Zitat mit einigen kleineren Abweichungen wieder.]
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Es ist wahr, der ungezogene Liebling der Grazien24 erlaubt sich manche Spässe hinter ihrem Rücken; wenn Einer, so ist er des crimen laesae gratiae schuldig. Es fällt mir nicht ein, die Unflätigkeiten der alten Komödie entschuldigen zu wollen. Wozu auch? Die Alten liebten nun einmal das Nackte, wir den Schleier; das Steckenpferd der Griechen war und ist heute noch (man lese Sanders, „das Volksleben der Neugriechen“25) – und das ihrige allein? – die Zotologie. Die Alten kannten das nicht, was wir Pruderie nennen, und was Göthe meint, wenn er sagt: Ihr habt das Recht gesittet Pfui zu sagen, Man darf das nicht vor keuschen Ohren nennen, Was keusche Herzen nicht entbehren können.
Und doch ist, nach meiner festen Ueberzeugung, die ganze neuere Literatur sittlich nicht reiner, wohl aber verführerischer als selbst die griechische Komödie mit ihrer ganzen naiven Schamlosigkeit. Aristophanes selbst sagt einmal, er habe die Scham erst ablegen müssen, um als Komiker hervorzutreten. Die Alten schrieben für Männer, und in der Komödie, wenn einmal Alles auf den Kopf gestellt wird, kommt auch der Koth obenauf; das gehört mit zur verkehrten Welt der Komödie. Je toller, je besser, heißt es zur Karnevalszeit, und eine solche waren die [22] mänadischen Dionysosfeste, wo allein dramatische Stücke aufgeführt wurden. Es war ein kurzer Spaß von ein paar Tagen, ein lustiger, phantastischer Rausch mitten zwischen den Lebensernst hinein. Was will man überhaupt mit dem Vorwurf der Unsittlichkeit einer Poesie, der Gefährlichkeit für die Jugend u. s. w.! Kann „nicht in schmutzigen Seelen selbst eine Vestalin Begierden erregen“? Und: Fera-t-on cet outrage à l’humanité de penser que le vice n’ait besoin que de se montrer pour entrainer tous les coeurs? (Chamfort.)26 Und so absurd es ist, aus Aristophanes einen Tugendspiegel machen zu wollen, so wenig ist zu läugnen, daß er das Häßliche, Gemeine meistens nur aufstellt, um das Unwahre, das erlogen Erhabene daran zu halten, um seine Verwandtschaft mit der schmutzigen Umgebung einleuchtender zu machen. Wenn es eine Poesie giebt, die sich blos im Aether badet, so ist es einmal nicht und kann es nicht die Komödie sein. Wer ihre Frechheit nicht ertragen kann, der bleibe fern davon. Daß übrigens selbst Frauen, nicht nur die Mad. Dacier27, sondern selbst eine deutsche Fürstin, die Herzogin Amalia von Weimar den Aristophanes las, ist bekannt. „Diesen Winter, schreibt sie an Knebel, studire ich den Aristophanes, welchen ich zuweilen mit Wieland lese. Ich finde an ihm sehr viel Vergnügen, sein _____________ 24
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[Im Epilog der Vögel-Bearbeitung von Goethe heißt es: „Der erste, der den Inhalt dieses Stücks / Nach seiner Weise aufs Theater brachte, / War Aristophanes, der ungezogne / Liebling der Grazien.“ Werke (Münchner Ausgabe), Bd. 2,1, München 1987, 336.] [Daniel Sanders, Das Volksleben der Neugriechen. Dargestellt und erklärt aus Liedern, Sprichwörtern, Kunstgedichten. Nebst einem Anhange von Musikbeilagen, Mannheim 1844.] [Das Zitat ist der Abhandlung De Molière (1769) des französischen Schriftstellers Nicolas Chamfort (1741–1794) entnommen, in: Œuvres complètes, 3. Ausg., 1. Bd., Paris 1812, 14.] [Anne Dacier (1654–1720) war durch zahlreiche Übersetzungen antiker Autoren auch im deutschen Sprachraum bekannt. Ihre Aristophanes-Übersetzung (Comédies grecques d’Aristophane traduites en françois avec des notes critiques et un examen de chaque pièce selon les règles du théâtre) war 1692 in Paris erschienen.]
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beißender Witz ist unerschöpflich und mit alle dem hat er so viel Grazie, daß man ihm Alles gern vergibt, selbst seine schmutzigen Sachen.“28 – Daß der christliche Kirchenvater Chrysostomos den Aristophanes unter seinem Kopfkissen gehabt habe, das haben ihm seine größten Verehrer nachgesagt. – – – Χαῖρε. – Ludwig Seeger.
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[Brief vom 4.1.1784, in: K. L. von Knebel’s literarischer Nachlaß und Briefwechsel, hg. v. K. A. Varnhagen von Ense und Th. Mundt, Bd. 1, Leipzig 1835, 195. Anna Amalia hatte kurz zuvor begonnen, Griechisch zu lernen.]
Tycho Mommsen Karl Johannes Tycho Mommsen (1819–1900), der jüngere Bruder von Theodor Mommsen, studierte an der Universität Kiel (u. a. bei Otto Jahn und Johann Gustav Droysen) Klassische Philologie, Philosophie und Geschichte und promovierte 1843 mit der Abhandlung De Pindari vita et partium studio. 1846 erschien seine metrische Pindarübersetzung (Pindars Werke in die Versmasse des Originals übersetzt), der er 18 Jahre später auch eine kritische Pindarausgabe folgen ließ. Daneben beschäftigte sich Mommsen auch intensiv mit der englischen Literatur der Shakespeare-Zeit und unternahm u. a. eine Revision der Schlegel-Tieckschen Übersetzung des Macbeth und eine Bearbeitung des Coriolan (1853–55). In seiner Ausgabe von Romeo und Juliet (1859) übertrug er als einer der ersten die textkritischen Methoden der Klassischen Philologie explizit auf die Shakespeare-Kritik. Als Gymnasiallehrer wirkte er in Husum, Eisenach und Oldenburg. 1864 wurde er zum Direktor des städtischen Gymnasiums in Frankfurt a. M. berufen, wo er bis zu seiner Pensionierung 1886 tätig war. Die beiden Teile der Abhandlung Die Kunst des deutschen Uebersetzers erschienen zunächst in den Oldenburger Schulprogrammen von 1857 und 1858; sie wurden unter gleichem Titel 1858 zusammen mit der Schrift Marlowe und Shakespeare von 1854 nochmals separat in Leipzig publiziert. Eine zweite, vermehrte Auflage erschien 1886 in Frankfurt a. M. unter dem Titel Die Kunst fremdsprachlicher Übersetzungen ins Deutsche. Mit einem Anhang: Über Shakespeare und Marlowe. Mommsens Abhandlung ist einer der wichtigsten und seinerzeit einflussreichsten Beiträge zur übersetzungstheoretischen Diskussion in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Nach einem Überblick über den Einfluss fremdsprachlicher Dichtung auf die Entwicklung der deutschen Sprache und Literatur stellt Mommsen ein dreigliedriges Modell von Übersetzungstypen vor. Es folgt eine Darstellung der Übersetzungsproblematik in Bezug auf einzelne Sprachgruppen, wobei der vorliegende Textauszug nur die – von Mommsen summarisch behandelte – Gruppe der Sprachen des klassischen Altertums berücksichtigt. Am Ende der Abhandlung wird der allgemeine pädagogische Nutzen des Sprachstudiums und des Übersetzens sowie die besondere Rolle des Übersetzens an der Schule thematisiert.
Die Kunst des deutschen Uebersetzers (Auszug) Aus: Vierzehntes Programm der Vorschule und höheren Bürgerschule zu Oldenburg von Tycho Mommsen, Oldenburg 1857, 3–42 [Teil 1]; Fünfzehntes Programm der Vorschule und höheren Bürgerschule zu Oldenburg von Tycho Mommsen, Oldenburg 1858, 3–41 [Teil 2].
Mit Recht hat man bemerkt, daß von der mittelalterlichen die neuere Entfaltung und Blüthe der deutschen Dichtkunst sich am schärfsten dadurch unterscheide, daß sie wesentlich von fremdem Anstoß ausgegangen sei. Es ist charakteristisch, daß an der
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Spitze derselben eine Uebersetzung steht, die einflußreichste die je gemacht ist, die Luthersche Bibel. Allein das gleichzeitig wiedererweckte Studium des klassischen und biblischen Alterthums blieb doch ohne durchgreifenden Einfluß auf die deutsche Originalliteratur; die herrlichen Anfänge Luther’s und Hutten’s verschwanden bald wieder vor der herrschenden Gelehrtensprache, und nur auf Lateinisch wußte der Deutsche edel und geschmackvoll zu reden und zu dichten. Erst durch die dann auftauchende Nachahmerei der Französischen, Spätlateinischen und Italienischen Muster bei Opitz und den Seinigen, dann der bessern Französischen und einiger Englischen mit Gottsched, Haller u. A., und durch die daran geknüpften halbwahren Theorien dieser Schulen hindurch, sollte es uns gelingen, der deutschen Kunst gegen den falschen Zeitgeschmack soviel Boden zu gewinnen, daß genialere Naturen in der Praxis wie [4] Klopstock, in der Theorie wie Lessing, Wurzel fassen und nach einigem Kampf den französisch sein sollenden Geschmack besiegen konnten. Aber auch sie gingen von fremden, wenn auch bessern Mustern aus: den Psalmen, den edelsten Werken der Griechen und Römer, und den besten der Engländer; bis 20 Jahre später die vollständige Kenntniß von einem der Letzteren, von Shakespeare, und die gleichzeitig erweckte (ebenfalls von England ausgehende) Aufmerksamkeit auf den köstlichen Schatz der naiven Volkspoesie aller Zungen in einige tiefursprüngliche deutsche Seelen den zündenden Funken warfen, der sie bald wie leuchtende Riesen in selbsteigener Herrlichkeit weit über alle Fremdländerei emporflammen ließ. In einige derselben führte dann außer dem immer tieferen Studium der Antike die Südromanische, namentlich die Italienische Sprache und Dichtung, einen neuen Keim, dem sowohl einige unserer vollendetsten Originalwerke entwuchsen, als später eine ganze südlich-orientalische Nachdichtung; bis in jüngster Zeit andre Pfropfreiser, ein altdeutsches mit Uhland, ein neufranzösisches mit Chamisso und Freiligrath, ein neuenglisches, an Byron anlehnend, mit H. Heine, abermals eigne Schößlinge trieben. Denn da ja, was erstere Richtung anbetrifft, das Verständniß der mittelhochdeutschen Poesie erst durch Sprachstudium und antiquarische Gelehrsamkeit wieder vermittelt werden mußte, so kann man es nicht füglich als das Wiederauftauchen einer früheren Richtung ansehen. Und freilich war dieser Griff ins eigne Alterthum in vieler Hinsicht ein glücklicher, ähnlich dem der Neugriechen in das ihrige; obwohl diese ebensowenig als wir im Stande waren, die feinsten Besitzthümer ihrer Ahnen, z. B. die Prosodie, wieder lebendig zu machen. So hat der Kunststil in Deutschland je nach dem Eintreten dieses oder jenes auswärtigen Einflusses gewechselt; [5] so sind seine Phasen die eigentlichen Knotenund Ausgangspuncte der Literatur; so seine von originalen Geistern verarbeiteten Resultate unsre größten Schätze; und sind es – wenige Lieder ausgenommen – keineswegs unsre glücklichsten Erzeugnisse, welche im unmittelbaren Anschluß an die äußeren Schicksale unsers Volkes entstanden sind. Obgleich aber sich durch diese immer neuen Elemente der Gesichtskreis der Nation auf ’s Schönste erweitert hat, so ist es doch nicht zu leugnen, daß, gegenüber dem volksthümlichen Emporwachsen im Mittelalter, dieses Angeregtwerden von Außen sein ernstes politisches Spiegelbild hat. Aber Thorheit wäre es unsre Empfänglichkeit für das Fremde darum zu schelten, Thorheit zu wähnen, man könne den politischen Sinn durch Unterdrückung der frei
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alles anerkennenden Kunst und Wissenschaft, oder durch Hinlenkung auf einseitig nationale und unmittelbar praktische Interessen fördern; der Deutsche ist wohl am wenigsten der Mann auf diesem Wege zu etwas Anderem als zu einem kleinlichen, schmutzigen Eigennutze zu gelangen. Er kann sich die politische Männlichkeit und patriotische Aufopferungsfähigkeit nicht klüglich zurechtschmieden oder künstlich anschnallen: er wird dazu auf dem ihm eignen, ihm nationalen Wege, dem rücksichtslosen Aufwärtsstreben in Wissenschaft und Kunst (und dann auch im Gewerbe) vordringen müssen. Der Stahlharnisch der politischen Tugend ist nirgends zu Kauf, er wird ihn aus seiner eigenen Brust hervorwachsen lassen müssen; und da die Sprache, die Wissenschaft, die Kunst bis jetzt seine einzigen Gemeingüter sind, und nicht auch Kirche und Staat, ja nicht einmal Handel und Gewerbe, so halte er sich an jene idealeren Güter und arbeite sich an ihnen empor, wie er das 1813 that. Nur das durch den großen Aufschwung seit den siebenziger Jahren durchgeistigte deutsche [6] Jünglingsund Mannesalter war eines solchen Aufschwungs fähig; und als bei weit glücklicherer Lage, bei höher gestiegenen Handels- und Industrieverhältnissen und weit größerem Nationalreichthum und nationalem Egoismus das Volk etwas Aehnliches versuchen wollte, zeigte es sich bald als unter sich in schnöde Eitelkeit und unheilige Selbstsucht zerbröckelt, und das rohe Werk blieb ohne Segen. Auch ist es keineswegs das deutsche Volk allein, welches seine geistigen Entwicklungsstadien nach Anlässen aus der Fremde zählt. Abgesehen von den rein nachahmenden Literatur-Epochen, die bei Römern, Engländern, Dänen, Schweden u. A. von der größten Wichtigkeit waren, hat z. B. auch die genial emporstrebende Elisabethische Literatur Englands von der Fremde den Anstoß empfangen. Spenser war der Begründer der poetischen Diction der ganzen Folgezeit und arbeitete dadurch für Shakespeare, wie Klopstock für Schiller und Göthe vor; er aber stützte sich ebenso auf Ariost und Tasso, wie Klopstock auf Milton, Homer und die Psalmen, und es ist nicht unmerkwürdig, daß er dieselbe Idee hatte, die Klopstock uns zum Heil verwirklichte, den gereimten Vers für den reimlosen aufzugeben. Die römische und südromanische Bühne waren nicht minder einflußreich auf Sackville (der außerdem von Dante ganz durchdrungen war), auf Marlowe und Shakespeare, wie die englische und griechisch-römische auf Lessing, Schiller und Göthe. Daher sagt Shakespeare nicht bloß in Bezug auf gewisse Laster, sondern im Allgemeinen: proud Italy, Whose manners still our tardy a p ish nation Limps after, in base imitation. (R. II. 2, 1.)
[7] Schon früher aber empfingen sowohl Chaucer von Boccaz und Petrarca, als die Uebergangs-Dichter aus Heinrichs VIII. Zeit, wie unsre Brockes und Canitz, aus der Vertrautheit mit dem Auslande die Anregung, welche sie zu Sprachschöpfern machte; und selbst der neuste Aufschwung hing durch Scott u. A. nicht unwesentlich mit Deutschland zusammen. Liegt es nun überhaupt im Charakter der neueren Zeit und namentlich der germanischen Nationen, dies engere Berühren und gegenseitige Austauschen, so ist eine gewisse Liebe und Empfänglichkeit für das Fremde überhaupt für alle
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Blüthe der Kunst nothwendig. Denn die Kunst wird von dem Uebermaß nationaler Vorurtheile gedrückt und beschränkt, sie haßt es, wie alle Extreme, die religiösen sowohl wie die politischen, die socialen wie die intellectuellen. Denn die Freiheit ist wohl die Mutter der Kunst, aber nicht die Frechheit und Zügellosigkeit; die Fürstlichkeit ihre Gönnerin, aber nicht die monopolische rechtkränkende und sittebrechende Gewaltherrschaft; der Idealismus die Welt in der sie lebt, aber nicht eine kranke, unsinnliche oder gestaltenverwirrte Träumerei; eine gesunde Lebensanschauung die Luft in der sie athmet, aber nicht ein banausischer Materialismus; die heilige Begeisterung für die höchsten Wahrheiten die stärkste Feder in ihrer Schwinge, aber nicht die ein für allemal fertige Orthodoxie oder die dumpfe Kopfhängerei selbstpeinigender Askese; der ordnende Verstand ihr treuster Freund und Rathgeber, aber nicht die kalte Vernünftigkeit und die nüchterne Alltagspraxis des sogenannten gesunden Menschenverstandes. So auch ist die Nationalität ihre Amme, aber nicht die eigensinnige Absperrung gegen die Fremde. Nur in den glücklichen Mittelzuständen, nur wo Freiheit und Gebundenheit, Theorie und Praxis, Glaube und Vernunft, nur wo auch National[8]stolz und Fremdenliebe gleich wiegen, hat sie ihre guten Tage. So rühmt Perikles als ursächlich und charakteristisch für die Blüthe Athens, daß es sich nicht gleich den Spartanern gegen das Fremde verschloß – und damals war ja Griechenland die Welt und Athen und Sparta wie England und Frankreich; – so spricht Horaz das Bewußtsein der Augustischen Römerzeit aus mit dem Grajis dedit ore rotundo Musa loqui .... Vos exemplaria Graeca Nocturna versate manu, versate diurna.
So waren die Italiener zu der Medicäer, die Engländer zu Elisabeths, die Deutschen zu Carl Augusts Zeit gegen die Fremde gestimmt – so nicht die dünkelhaften Franzosen zu der Ludwigs XIV. Und wahrlich, es ist dies ja auch nur eine Scheinblüthe gewesen, die nicht nur in der eignen Nation die edelsten Keime erstickt, sondern auch wie ein andrer Boa-Apas die Geister ringsum betäubte und vergiftete. Sie aber allein könnte die Wahrnehmung widerlegen, daß die Kunst nur in jenen Mittelzuständen zur höchsten Blüthe kommen kann. Also kommt es nicht darauf an, ob fremd oder nichtfremd im Anlaß, aber wohl darauf, daß dies Fremde lebensfähig, daß es bedeutender sei als das Eigene. Und zweitens darauf, daß es uns nicht völlig übermanne, sondern daß wir uns dasselbe unterwerfen, so weit es uns gleichartig ist. Die Einwirkung des fremden Geschmackes aber geschieht (wenn wir uns zunächst auf die Dichtkunst beschränken) theils (unmittelbar) dadurch, daß ein großer Theil der Gebildeten die fremde Sprache lernt und mit den lebenden und todten Geistern des Auslandes selbst in Verkehr tritt, theils (mittelbar) dadurch, daß allen Gebildeten die Erzeugnisse des-[9]selben in deutschen Nachbildungen zugeführt werden. Fast immer durchdringt sich dieses gegenseitig, so daß aus dem Sprachstudium die deutsche Nachbildung hervorgeht und diese wieder auf Belebung und Verallgemeinerung des Sprachstudiums einwirkt. Vor Luther lehrte Reuchlin, und nach ihm wurde das Hebräische erst regelrecht getrieben; vor Spenser und Fairfax waren schon viele Kenner
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und Liebhaber des Italienischen und nach ihnen blieb es ein stehendes accomplishment; vor und mit Voß lehrte Heyne und mit ihm F. A. Wolf und G. Hermann; gleichzeitig mit den Gebrüdern Schlegel Wilh. v. Humboldt; mit und nach Rückert und Platen Bopp und Pott und Diez; mit Uhland und Simrock die Brüder Grimm und Lachmann; schon vor Lamartine und Victor Hugo lehrte Silvestre de Sacy und dann seine trefflichen Schüler. Gingen so immer Sprachstudium und Dichtung Hand in Hand, eine Verbindung, die sich auch in vielen Einzelnen, z. B. in Lessing, Voß, W. von Humboldt aufs Klarste wiederspiegelt – so war das Eigne und Merkwürdige unserer neueren Entwickelung doch, daß man nicht etwa mit dem Geschmack wechselte und alte Fäden fallen ließ, wenn man neue aufnahm, sondern daß man alle zusammen festhielt, was auf Seiten der Dichtkunst die buntste Varietät der Stile, auf der der Wissenschaft die vergleichende Sprachforschung (oder, richtiger gesagt, die historische) in ihren verschiedenen Zweigen erzeugte, die großartigste Schöpfung des deutschen Geistes im 19. Jahrhundert. Man mag über jene Buntheit der Stile noch so ungünstig urtheilen, jedenfalls ist auch sie ein schöner Beweis von der Lebensfähigkeit unsres Vaterlandes, und nur ihre Menge, nicht aber daß sie von Nachbildung ausgingen, zu tadeln, da doch auch sie, so weit sie überhaupt was Rechtes sind, original sind, und wenn sie nicht in dem Maaße [10] und Sinne original sind, wie Göthe und Schiller es waren, dies nicht von ihrem Ausgehen von der Fremde, sondern vielmehr daher kommt, daß so urkräftige Geister immer und überall selten sind. Wir unterscheiden nun drei Arten der Nachbildung. Wenn der fremde Inhalt zwar ziemlich getreu, aber entweder ohne die Form der Dichtung oder doch nicht in einer gleichen oder analogen wiedergegeben ist, so haben wir eine stillose Uebersetzung. Wenn ein deutscher Inhalt in fremder noch nicht eingebürgerter Form dargestellt ist, die Originaldichtung in fremdem Stil. Wenn endlich Form und Inhalt möglichst getreu und doch schön und verständlich übertragen werden: die strenge oder stilhafte Übersetzung. Diese Arten spielen bisweilen in einander über, lassen sich aber im Ganzen wohl scheiden und jede hat ihre eigenen Gesetze, ihre eigene Bedeutung für die Leser oder Dichter, namentlich aber ihre eigene Unvollkommenheit. Die erste – scheint es – am wenigsten. Sie giebt die Form verloren, aber den Inhalt wird sie desto klarer und vollständiger darstellen. Sie wählt Prosa. Ja, kann man denn überhaupt übersetzen? Wie kein Wort das Wort, wie noch viel weniger ein Satz den Satz, so deckt kein Bild das Bild, kein Gefühl das Gefühl, kein Witz den Witz, ja kaum ein einziger Gedanke den Gedanken vollkommen, sobald er dem mitgebornen sprachlichen Ausdruck entrissen wird. Jedes Wort ist, wenn nicht im Begriffsinhalte, so doch in seiner lebendigen phraseologischen Erscheinung in jeder Sprache ein besonderes Wesen, und spricht man dafür das analogste Wort einer andern Sprache aus, so erweckt dies nicht alle dieselben und daneben einige neue Ideenassociationen. Wenn ich z. B. das einfache Wort father durch père oder Vater übersetze, so mögen sich diese Wörter ihrem [11] Inhalte nach decken, aber schon in der einfachsten Verbindung: Der Vater schläft, die Mutter wacht. The father sleeps, the mother wakes Le père dort, la mère veille
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sind die dadurch erweckten nächsten Vorstellungen zwar dieselben, die Empfindungen aber durch den härteren oder weicheren Laut, den zerlasseneren oder geschlosseneren Ausdruck ein klein wenig verschieden, und die daneben erweckten Anklänge, z. B., wenn ich bei den deutschen Worten an einen mit wacht schließenden ähnlichen Gesangvers, bei den englischen an einen spaßhaften Kinderreim auf cakes, bei den französischen an eine bekannte Fabel von abeille der Biene, erinnert werde, unterscheiden sich nicht blos individuell, sondern auch national: – wenn vom „Kaiser“ die Rede, denkt der Franzose nur an einen Napoleon, der Deutsche etwa an Friedrich Barbarossa. In noch viel größerem Umfange gilt dies von allem, was eigentlich Redewendung und gar was Reimformel, Spruch, Wortspiel, Witz ist. Ja, wie so die Ausdehnung der Begriffe in dem Gebrauche nie ganz gleich ist, so haben nicht nur dieselben Wörter im Munde verschiedener Menschen oder Menschenklassen (z. B. der Diplomaten) oft grundverschiedene Bedeutung – weshalb sie sich so oft mißverstehen – sondern vielmehr haben alle feineren Begriffe, für die der große Volksmund ein Wort ausgeprägt hat, nicht gleichen Inhalt von Sprache zu Sprache. Die höchsten und theuersten Begriffe: Gott, König und Vaterland haben dem Engländer, dem Franzosen, dem Deutschen, jedem seinen nationalen Inhalt, leider uns noch einen in sich selbst vielfachen; Jeder wendet sie nicht bloß anders an, er setzt sie auch anders zusammen. Auch der einfachste Satz deckt [12] oft als solcher nicht den Satz; wenn ich z. B. sage: „Wenn du das thust, so gehe ich“ und im Englischen If you do that, I go, so ist die Nachstellung des Objects that und die Auslassung des so so viel härter und analytisch-verständiger, die Schließung des Vordersatzes mit dem Zeitwort so viel runder und synthetischer und das vermittelnde so so viel weicher und gleichschwebender, daß doch auch dieser kleine Satz in so verwandten Sprachen nicht ganz denselben Eindruck macht. Wie wäre es auch sonst möglich, daß derselbe Gedanke in der einen Sprache schön, in der andern häßlich ist? Die zierlichste schönste Periode eines Thucydides oder Macchiavelli, eines Boccaz oder Cervantes, eines Demosthenes, Cicero oder Pitt wird (wie oft) im Deutschen ein schwerfälliges winkliges Gefüge, der elegantste Satzbau der Franzosen ein widriges, trockenes und abgerissenes Gemengsel werden. Und wie viel mehr gilt dies von der stets individuelleren, stets nationaleren Dichtersprache! Die besten Metaphern, die schärfsten Witze, die tiefsten Gefühle kommen aus dem Kern der Nation, also aus dem innersten Leben der Sprache! Und manche Begriffe sind ja nur national. Wer kann des Schweden midja, des Engländers ironbound coast, des Franzosen mon brave, des Griechen καλοκἀγαθός, des Römers virtus oder fides oder religio eigentlich übersetzen? – Aber dennoch haben diese mangelhaften Uebersetzungen den größten Nutzen gestiftet. Die poetische Prosa des Wieland-Eschenburgischen Shakespeare (1762 ff.) entzündete Göthe’s und Schiller’s jugendliche Begeisterung zum Götz und zu den Räubern; aus Luther’s Bibel sogen Millionen Trost und Erhebung; Gurlitt’s Pindar war seiner Zeit die wirksamste Version des großen Griechen. Vielleicht konnte man bei manchen Originalen überhaupt nicht weiter kommen, als z. B. Luther bei den Psalmen und [13] solches Verdienst war, je edler der Inhalt, extensiv viel bedeutender als das der gelehrten Erklärer. Denn eine solche Uebersetzung mußte, wenn der Inhalt nur an sich von so hoher und zugänglicher Bedeutsamkeit war, wohl populär werden. Aber allerdings ist diese Art jetzt vielfach gegen die künstlerische zurückgetreten und zu einem
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Hilfsmittel für das Verständniß des Originals herabgesunken, als welches sie freilich auch oft von der Trägheit mißbraucht wird. – Fast dagegen in Vergessenheit gerathen ist die alte Art stilloser Uebertragungen, wo eine andere dem Zeitgeschmack des Uebersetzers gemäße poetische Form gewählt wurde, oder wo man nach nicht aus dem Original geschöpften Grundsätzen wegließ oder zusetzte. So übersetzten die Engländer im 16. Jahrhundert, und im 17. Opitz aus Sophocles und Seneca, so Dietrich von dem Werder, Mitstifter des Palmordens, Ariost und Tasso, so von Borck (1761) Shakespeare’s Julius Caesar in gereimte Alexandriner, so nicht viel besser noch Wieland Horazens Episteln und Satiren, Christian v. Stolberg den Aeschylos,1 so Bürger den Anfang der Iliade in fünffüßige Iamben; Andere den Horaz in Reimstrophen, und ähnlich mißhandelte Schiller die Aeneide und den Macbeth. Manche Nationen blieben bei dieser Gattung stehen; die Franzosen haben meines Wissens gar keine andere; auch die Engländer von Fairfax’s Tasso an bis auf Coleridge’s Wallenstein (die Rache für den Schiller’schen Macbeth) sind lange bei dieser Art verharrt und erst in neuester Zeit stilhafter geworden, wie denn Byron in der That Bruchstücke aus Pulci und Dante in Ottaven und Terzinen meisterhaft nachbildete. Die Dänen haben mindestens in P. Foersom’s, des genialen Schauspielers, Bearbeitung einen vortrefflichen stilhaften Shakespeare. Eins der berühmtesten Beispiele dieser Gattung ist Pope’s Iliade; Bentley sagte von ihr, sie [14] sei zwar ein ganz hübsches Gedicht, aber kein Homer. Darin liegt die Verurtheilung dieser ganzen Gattung; es kann eine prosaische Uebersetzung, so farblos sie ist, doch ein ungefähres Bild von einem Gedicht geben; aber die falschen Farben einer demselben nicht analogen Form können das Bild nur verwirren. Daher haben diese Mühwaltungen, selbst Wieland’s anmuthig verwässerter Horaz, nie etwas Sonderliches gewirkt und sind namentlich alle jene Alexandrinercopien längst zu ihren Vätern versammelt. Dagegen war die zweite Gattung, die Originaldichtung im Stil der Fremde, immer von der größten Bedeutung. Zwar war auch hier eine vollkommene Congruenz der Formen im seltensten Falle möglich, da die Gliederung und Bewegung des Verses aus dem innersten Leben jeder Einzelsprache hervorgeht, aber einestheils modificirte sich die Schwierigkeit der Nachbildung doch sehr nach der verschiedenen Entfernung der fremden Form von den ursprünglich deutschen, anderntheils machte gerade diese Nothwendigkeit, das Fremde gemäß den eigenen Sprachgesetzen organisch umzugestalten, diese fremden Formen zu eigenen, zu originalen. Der deutsche Alexandriner war nicht ganz der französische, die Ottaven Göthe’s nicht die des Tasso (wenn auch mehr als die sieben- und neunzeilige englische Stanze), der Hexameter Klopstock’s gar nicht der des Homer, noch weniger der Göthesche oder Schillersche, aber auch nicht der von Voß oder Wolf; die Trochäen Herder’s nicht ganz die spanischen; weder die Klopstockische, noch die Ramlersche, noch die Platensche Alcäische oder Sapphische Strophe die des Horaz oder seiner Muster; der deutsche Schillervers nicht ganz der englische Blankvers; und freilich hatte überall das Original seine uner_____________ 1
[Lt. Werkausgabe der Stolberg-Brüder von 1823 stammen die Aischylos-Übersetzungen von Friedrich Leopold, nicht von Christian; vgl. Gesammelte Werke der Brüder Christian und Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg, Bd. 15, Hamburg 1823.]
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reichbaren Vorzüge; aber sie waren eigene schöne Gebilde, die, je nach der Ge[15]nialität der Hand, die den ersten glücklichen Wurf that oder der Emsigkeit, mit der man sie sich anzueignen suchte, entweder sogleich oder nach und nach beliebt und heimisch wurden. Klopstock’s Verehrer begeisterten sich für die Messiade, deren Form jedem so äußerst unzugänglich war; noch jetzt stößt wohl Einer oder der Andere in der Louise oder in Hermann und Dorothea oder in einem Schiller’schen Epigramm an, aber die Masse der Gebildeten hat sich auch der Form bemächtigt, liebt und versteht sie, und kümmert sich wenig darum, daß die Gelehrten sagen, daß das schlechte Hexameter oder Distichen seien. Groß ist die Zahl derer, die die rhythmische Schönheit eines „Wunderseliger Mann, welcher der Stadt entfloh,“ oder des „Laß, oh laß, Freund, stieben den Staub Neapels!“ empfinden gelernt haben, auch wenn sie nichts von Asklepiadeisch und Sapphisch wissen; braucht ein unverbildetes Ohr sie ja nur richtig vorlesen zu hören! Herder’s Cid, Göthe’s Zueignung und Schiller’s Abschied vom Leser, Chamisso’s Salas y Gomez, manche Platensche Sonette und Parabasen wissen die Meisten, die eine etwas höhere Schulbildung durchgemacht haben, halb auswendig. All’ das aber sind, sagt man, undeutsche Formen; nur der Volksliederton oder die einfache gereimte und die Nibelungenstrophe sind uns natürlich. Als ob die Gelehrten zu bestimmen hätten, was uns natürlich sei. Was unser Ohr ergötzt und unser Herz bewegt, das ist natürlich. Und gelingt Ersteres nicht ohne einige Lehre und Anleitung, so erinnere man sich, daß die Orange doppelt so lange Zeit braucht, um zu reifen, als der Holzapfel, oder daß jene nicht darum ungenießbar ist, weil vielleicht Einer bei der ersten Bekanntschaft in die bittre Schale hineinbeißt. In der That kommt es mir so vor, wie wenn der Deutsche sich verbieten wollte, Orangen und Feigen zu essen, weil [16] sie bei ihm nicht wachsen und weil sie frisch vom Baume besser schmecken und weil doch eigentlich nur der Gravensteiner mit seinem zarten Duft uns wohlschmeckt. Das wäre doch gar zu strenge! Wie wenn der gesteigerte Völkerverkehr nun auch noch Datteln und Schirastrauben und Indische Nüsse brächte? Da wendet sich der gelehrte Patriotismus ab und sagt: Bewahre! Aber ich fürchte, man hat doch von fremder Frucht genascht und ist dafür, wie Proserpina durch das Absaugen eines Granatkernes, in die Nacht seines eigenen Aberglaubens gebannt! Liegt also wohl die beste Vertheidigung jener Dichtungen im Erfolg, so kann solche nur zum geringsten Theile für die dritte Gattung, die stilhafte Uebersetzung geführt werden. Die Kunst ist noch neu und doch haben sich ihr, seit Ramler 1769 mit 15 Horazischen stilhaft übersetzten Oden auftrat, und Voß 1781 so die deutsche Odyssee folgen ließ, Herder dann (1778) diese Strenge auch auf die neueren Sprachen in seinen so unendlich wirksamen Stimmen der Völker in Liedern anwandte, endlich A. W. Schlegel mit dem Shakespeare (1797), und W. v. Humboldt (1816) mit seinem bewunderungswürdigen Agamemnon sie zur höchsten Stufe erhoben hatten, eine Menge der edelsten Kräfte gewidmet. Populär aber wurde Vieles nicht, aus verschiedenen Gründen. Es schien ja von vorn herein, als ob dies die Verbindung zweier schon getrennt eigentlich unmöglicher Aufgaben sei, das Wiedergeben desselben Inhalts in derselben Form; und als ob, da beide sich wechselseitig bedingen, die aufgezwungene Form den Inhalt, der eingezwungene Inhalt die Form noch minder klar und schön als das überhaupt im Deutschen möglich sei, hervortreten lassen, die Unwahrscheinlichkeit also,
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zu einem analogen Ganzen zu gelangen, sich verdoppeln würde; so daß man, weil man Alles wollte, Nichts errei-[17]chen konnte. Wahr ist es, daß auch im besten Falle nicht dieselbe geistige Physiognomie, sondern eine andere, ein anderer Horaz, ein anderer Homer, ein anderer Shakespeare, Calderon und Dante zum Vorschein kam; wahr auch, daß Manche, indem sie die fremden Heroen zugleich deutsch zu reden und deutsch auszusehen zwingen wollten, sie nur zum Stammeln und Gesichterschneiden brachten und wirklich Nichts erreichten. Aber dennoch war der Gedanke ganz richtig. Die metrische oder reimklingende Gestaltung eines poetischen Werkes ist so sehr der Kern seines Wesens, daß man viel eher als mit Aufgebung derselben mit Aufgebung und Veränderung des Inhalts hoffen kann, ein ähnliches Kunstwerk vor den Augen seiner Landsleute zu erbauen, und der unermeßliche Erfolg einzelner Werke dieser Art, wie des Vossischen Homer und des Schlegel-Tieckschen Shakespeare, sind ein unwidersprechlicher Beweis für die Lebensfähigkeit dieses Strebens. Aber Alles kam darauf an, daß der Uebersetzer nicht bloß aus einem vollen Verständniß und tiefen Gesammtgefühl für die Schönheit des Vorbildes heraus, sondern auch mit deutsch-poetischem Geiste arbeitete, mit dem Willen, eine deutsche Dichtung zu erschaffen, die an sich schön und verständlich sei, und daß er, stets sich seine geniale Freiheit wahrend, alle ängstliche Worttreue vermeidend, Alles das ausschied und umschuf, was im Urbild ihm selbst (dem so Begeisterten) unklar oder unschön erschien. Niemand war darin trefflicher begabt als Schlegel, der ja bekanntlich Vieles, was ihm im Shakespeare widerstand, ohne Umstände ausließ oder mit einem glücklichen Leichtsinn änderte, und doch den Shakespearischsten Shakespeare darstellte, der je in fremder Zunge erschien. Allein diese Treue wurde bald auf Kosten der Schönheit und Verständlichkeit übertrieben; Schlegel selbst änderte seinen ersten Band nicht immer [18] zum Vortheil, so wenig wie Voß seine Odyssee; ja diesem ging in seinen späteren Uebersetzungen jegliche Grazie, oft auch die Verständlichkeit ab. Andere gingen noch weiter in Formstrenge und Inhaltstreue, wie Wolf, Humboldt und Platen, und Mancher scheiterte darüber in den kühnsten Unternehmungen. Aber der Fehler lag nicht immer an der mangelhaften Begabung oder zu pedantischen Methode des Uebersetzers (wie die eben genannten Männer keiner dieser Vorwürfe trifft), sondern vielmehr daran, daß das Publicum zur Aufnahme des fremden Stiles oder des Inhaltes nicht vorbereitet oder überhaupt minder geneigt war. Immer war es die günstigste Lage für das Beliebtwerden einer stilhaften Uebersetzung, wenn schon vorher originale Geister sich desselben Stiles zu eigenen Schöpfungen bedient, und dadurch in der Lesewelt Sinn und Liebe für denselben geweckt hatten. So bereiteten Klopstocks Oden den Ramlerschen Horaz, seine Messiade den Vossischen Homer vor; so gingen Göthes unsterbliche Lieder den Herderschen fremden Volkspoesieen voran; so lockerten Göthes Ottaven den Boden für den Ariost und Tasso von Gries; Herders Trochäen für den deutschen Calderon, Chamisso’s Terzinen für den deutschen Dante; Lessing’s, Schiller’s und Göthe’s fünffüßige Jamben für den deutschen Shakespeare; Platens Ghaselen für die Rückert’sche Makame; so gewährten Freiligrath’s Alexandriner und Chamisso’s Chansons den Uebersetzungen derselben eine Empfehlungskarte. So möchte der antike Trimeter noch nicht genug in den wenigen Partien bei Schiller und Göthe und in den unwirksamen Dramen Anderer vertreten sein, um den Uebersetzungen der griechischen Tra-
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giker Eingang zu verschaffen, obwohl der Donnersche Sophokles sich einiger Beliebtheit erfreut; während dem deutschen Aristophanes genialer durch Platens Anapäst und [19] übrige Tetrameter vorgearbeitet ist. Und es dürfte ein Hauptgrund der Kälte des Publicums gegen gewisse Nachbildungen, z. B. des Childe Harold und des Pindar sein, daß deren Form nicht vorher in Originaldichtungen popularisiert wurde; es würden dann ja auch die Uebersetzer selbst glücklicher gewesen sein, wenn sie die Umbildung der Spenserstanze oder der chorlyrischen Strophe in deutsche Analoga bereits vorgefunden hätten. Denn Klopstocks wildere Odenmaaße waren weit entfernt, solche zu sein; zu seiner Zeit konnte Niemand den Pindar richtig lesen und seine strophische Composition verstehen. Jetzt (nach Böckh) wird jeder zugeben, der es hört oder selbst versteht, daß Nichts an Schönheit diesen bald stolzen, bald spielenden, bald flötenden, bald schmetternden Rhythmen gleich kommt. Selbst Platens schönes Talent reichte dazu nicht aus. An der Möglichkeit eines deutschen Gegenbildes derselben zweifle ich nicht. Was ein deutscher Mund lesen kann, was ein deutsches Ohr als schön empfinden, wofür ein deutsches Herz sich begeistern kann: davon kann es auch einen sinnlichen Ausdruck in seiner Sprache gestalten. Dagegen werden die abscheulichen Laute und Maaße des semitischen Stammes ihm nie zusagen und es wird wohl ein Naturgesetz sein, wenn es sich in Hinsicht auf sprachliche Physik auf seine indo-germanischen Schwesterherzen beschränken muß. Rückert, der mit bezaubernder Schlauheit in der Gita-Govinda den Windungen der indischen Lyrik nachgeschlichen ist, hat sich wohl gehütet, das Tavîl oder Basît des Hariri mit seiner molossischen Schwerfüßigkeit nachzuahmen. – Nicht minder einflußreich auf die Empfänglichkeit für das Fremde war ein sachlicher Vorbau. Wie lebte und webte man schon seit Lessing, Göthe und Herder, ehe die eigentlichen kunstmäßigen Uebersetzungen kamen, in der Welt Homerischer Anschauungen, Sophoklei-[20]scher Sittlichkeit, Platonischer Gedanken, Aristotelischen Tiefsinns; wie hatte man sich eingelebt in die geniale Weltanschauung des großen Briten, in die naive Lieblichkeit des Volksliedes, in die Phantasie des Orients! Wie viele Anstöße des geschichtlichen, mythologischen, philosophischen und ästhetischen Verständnisses hatte man aus dem Wege geräumt durch populäre Schriften, durch akademische Lehre! Und dann, wie viele kannten und liebten namentlich die klassischen Originale, wie war die Philologie selbst in unserer Blüthezeit populär! Da arbeitete sich denn auch Mancher, dem das Verstehen der Originale zu schwer war, angeregt von dem Angeregten, durch geschmacklosere Uebersetzungen, wie Solger’s Sophokles oder Forster’s Sakuntala, mit Eifer und Liebe durch, und wer die Originale kannte, war doppelt entzückt von dem schönen deutschen Spiegelbilde, das er nun auch den höchstgebildeten Frauen und Nichtgriechen oder Nichtengländern durch Vorlesen und Auslegen begreiflich machen konnte. Allein diese Popularität, welche erst wieder mündlich durch die Kenner der Originale vermittelt werden mußte, war doch nur ein Nebenzweig, und konnte nur im Bunde mit der einst allgemeinen Freude an philologischen Studien bestehen. Denn damals rauschte ein Strom der Begeisterung für das Selbsteindringen in die edelsten Geisteserzeugnisse aller Völker durch unser Vaterland und alle höheren Stände begegneten sich in dieser Liebe – :
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Breiter wallet nun der Strom Mit vermehrten Wellen,
aber nicht tiefer, nicht energischer. Das Aufkommen des Vielerlei in der Kunst, das theoretische Fixiren und Steigern der Einzelwissenschaften, namentlich auch der Philologie selbst auf Schule und Universität, schwächte und zerstreute diese Liebe; und man müßte wohl recht naiv und unwissen-[21]schaftlich unterrichten, wenn man etwas davon wieder zurückführen wollte. Das starre Gelehrtenthum übte auch auf die Uebersetzungskunst, die sich im Bunde mit milder Humanität zu einer nie geahnten Höhe entwickelt hatte, einen ungünstigen Einfluß. Auch sie bekam einen mehr fachlichen Charakter; man überspannte den Bogen, wollte Nichts aufgeben und strebte mehr nach dem Lobe der Sachkundigen als nach dem Beifall aller edlen Seelen. Schon Tieck (oder vielmehr seine Helfer) gab in der Vollendung der Schlegelschen Uebersetzung keinen Witz, auch den gemeinsten nicht, auf, gab bisweilen lieber Unverstandenes unverständlich, ihm grob dünkendes noch gröber, ihm hart dünkendes noch härter wieder, statt mit liberalem Tact zu mildern und wegzulassen. Eben darüber sind manche herrliche Stücke noch kaum zur Perception des Publikums gekommen, anders als durch das verstehende, auslegende und auslassende Medium eines „Kenners,“ der dann die Rolle übernimmt, die der Uebersetzer hätte spielen sollen. Ich bin freilich der Meinung, daß auch diese Art einiges Gute hat, indem sie das Gesammtverständniß und Studium schwerer Originaldichtungen fördert, und daß man bei einigen derselben überhaupt nicht weiter kommen kann. Denn die Schwierigkeiten der Uebertragung liegen ja hauptsächlich in der Eigenthümlichkeit der Originale selbst. Was der Zeit nach entlegen ist, wie das heidnische Alterthum der klassischen, nordischen oder indischen Völker oder die scholastischtheologische Welt des Dante, ja selbst die biblische des Milton, erfordert eine Menge Voraussetzungen um verstanden zu werden, während Alles, was innerhalb des Gebietes der neueren Weltanschauung liegt, derselben minder bedarf. Auch je ferner uns eine Nation immer gestanden hat, um desto schwerer können wir ihre Dichtung verstehen; ein chinesisches Drama [22] würde wohl kaum Glück machen. Dann ist wohl der große Unterschied der Zugänglichkeit für Alle, nach den verschiedenen Dichtungsarten zu berücksichtigen. Der gemächliche Fluß der epischen Erzählung, die klarere Entfaltung der dramatischen Handlung, Alles überhaupt, was ein stofflich fortschreitendes Interesse erweckt, ist leichter wiederzugeben als die aus der Tiefe des individuellen Geistes keimende Lyrik, und in ihr wieder am leichtesten die halbepische Ballade, demnächst auch Alles, was Volkslied heißt und an Volkslied streift. Denn Epos, Drama und Ballade haben das Gemeinsame, daß sie in läßlicheren, bequemeren Formen sich bewegen und mit denselben weniger innig verwebt sind, so daß auch der schöne Inhalt als solcher wirken kann, wie z. B. die Beckerschen „Erzählungen aus der alten Welt“ und manche gute Prosaromane und Sagenbücher beweisen; und bei dem Volkslied kommt sowohl die ebenfalls bequeme Form als auch der schroffer entwickelten Culturdichtung gegenüber ein gewisser Geheimbund hinzu, in welchem sich alle Volksgeister unter einander verstehen. Es sind eben einfache klarere oder unklarere Gefühle, Scenen und Geschichten, deren kindliche Darstellung, wenn auch noch so national, doch
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leicht und gern nachempfunden wird. Die Kunstlyrik dagegen, in der ganze, großartige Menschen ihr so oder so gewordenes Ich wiederspiegeln, ist sehr schwer noch einmal zu wiederholen. Homer wurde beliebt in weiten Kreisen, aber noch kein Pindar; Shakespeare, aber noch kein Byron (und was wäre an diesem anders gut als was lyrisch ist?); Ariost, aber kein Petrarca. Hier begegnen wir ja der allerkühnsten und doch allerfestesten Form, den allertiefsten Gedanken und dem allerglänzendsten Ausdrucke; und nirgends ist das Verwachsensein dieser Elemente inniger. Denn die Seele der Lyrik ist die sinnliche Empfindung. Diese ist fast nur in und mit der Einen [23] Sprache möglich, und wie bei der Umsetzung eines Gemäldes in ein anderes Bindungsmittel, z. B. von Oel in Pastell, die Meister der Färbung mehr leiden würden, als die der Zeichnung und Composition, ein Titian mehr als ein Rafael, so muß auch beim Uebersetzen ein Lyriker unendlich mehr einbüßen, als ein Epiker oder Dramatiker. Und doch ist das nach den Individualitäten verschieden. Je schroffer diese hervortritt, desto schwerer; je mehr in Harmonie mit dem unvergänglichen Volksgeiste, je plastischer und unrhetorischer, desto leichter. Anakreon und Catull ist leichter, Theilen des Horaz und Pindar sehr schwer beizukommen, abgesehen von den Maaßen. Manches Göthe’sche Lied, auch der kunstvollsten Art, ist den Engländern gelungen; aber vor einem „Ewigklar und spiegelrein und eben“ werden sie zurückbeben; sie reiben sich dabei die Stirn, können’s nicht verstehen und noch viel weniger nachbilden; freilich war auch in Schiller die Mischung von Kantischer Gedankentiefe, Rhetorik und süßer Melodie der Rede so seltsam individuell, daß kaum ein Deutscher sie begreift. Endlich ist die komische Muse unendlich viel spröder als die ernste. Die Lyrik mag aus der Gelegenheit hervorgehen, aber sie ist schlecht, wenn sie daran haften bleibt; der Scherz wurzelt im Augenblick. Es giebt nur wenig unsterbliche Witze, und die besten sind bekanntlich die ungeschriebenen, die nur von Mund zu Mund gehen, denn wie ernsthaft sehen die flüchtigen Geschöpfe schon auf dem Papier aus! Sie gehören der Zeit, dem Ort, den Personen an; wenn diese fremd geworden sind, ist im Grunde ihre Bedeutung verloren. Soll man sich das nun gar von einem fremden Boden her verpflanzen, so ist es doppelt fremd und bedarf der glücklichsten Kühnheit, um zu gedeihen. Weder die Satire und Epistel der Römer noch irgend eines andern Volkes, noch die Sinnsprüche verschiedener [24] Völker kamen (obwohl in zahlreichen Nachbildungen verunstaltet) anders als im Original zur Geltung, sie fielen und standen zu sehr mit dem eigenen sprachlichen Ausdruck; der feine Duft der Ariostischen (und Calderon’schen – ? – ) Ironie, so köstlich im Original, ging, weil sie fast allein auf dem Klange beruhte, in der Uebersetzung fast ganz verloren und diese wurde ungemein viel langweiliger dadurch; Göthe blieb gleich im Anfang des Byronschen Don Juan stecken. Besser stellte sich die Aufgabe für das Drama, wo der Wortwitz nur eine Zuthat war, und die eigentliche Komik sich an Handlungen und Gestalten knüpfte. Falstaff und Malvolio sind uns freilich weit nationaler geworden als Euelpides und Peisthetäros, aber bedenkt man, wie weit geniale Uebersetzer uns die viel ferner stehende Attische Komödie zugänglich gemacht haben – obwohl dies nicht ohne einige Anachronismen thunlich war, deren man noch weit mehr hätte wünschen mögen – so muß man sich doch wundern, daß ein im Stil längst eingebürgertes, das Plautinische Drama, eigentlich seit Lessing’s prosaisch übersetzten Captivis nur ohne allen Witz und Geschmack stilhaft behandelt ist. Selbst eine recht
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witzige, genial freie Uebertragung in Prosa müßte willkommen sein, und wie viel mehr noch eine (zwar ebenfalls nicht ganz getreue!) Nachbildung der schön bewegten muntern Rhythmik des alten Pfifficus! Ist er doch wahrlich im Original nicht einmal den Leuten vom Fach allen geläufig, und ist doch die Urquelle all unserer und der uns nachbarlichen Komödie! – Außer dem Drama dürfte die humoristische Erzählung, z. B. Chaucer’s vortreffliche Sachen der Art, so wie das neckische Volkslied durch geschickte Freiheit zur Popularität durchdringen können, wie der komische Roman des Auslandes es schon lange gethan hat und der edle Ritter von der Mancha und das ehrenwerthe Mitglied [25] des Pickwick-Club uns gar vertraute Gesellen geworden sind, aber nie und nimmer Alles was dem epigrammatischen oder eigentlichen Witz angehört. Ist doch selbst der Wortkampf bei Shakespeare uns ungenießbar, so wie alles Vorlessingsche der Art in unserer eignen Literatur; denn Logau ist eben umgearbeitet von Lessing und Wernicke, obwohl vortrefflich, doch mehr scharfsinnig als witzig. Vor allen Dingen aber ist es die Sprache des Originals, deren verschiedene Uebersetzungsschwierigkeit eine Verschiedenheit des Gelingens bedingt, und zwar nach Gruppen verschieden; die germanischen, die romanischen, die klassischen und orientalischen haben jede verschiedene. Ich nehme mir die Freiheit, mindestens einige Einzelsprachen, die englische, französische und italienische näher zu beleuchten, und dann die entfernteren, wie die klassischen und orientalischen am Ende summarisch zu erwähnen, vorher jedoch von einer der zunächst stehenden einige Worte vorauszuschicken. […] [Teil 2] […]
[24] Mögen diese Andeutungen genügen; ich würde fürchten zu ermüden, wenn ich auf das Nähere einginge. Ebenso wenig kann es meine Absicht sein, an diesem Orte anders als vorübergehend der Uebersetzungskunst in Bezug auf die Dichtungen des classischen Alterthums zu gedenken. Die alten Sprachen, in ihrer plastischen Weise die reichste Fülle und Mannigfaltigkeit grammatischer Verhältnisse am Worte selbst zu bezeichnen, in ihrer aus dieser sinnlichen Formendeutlichkeit entspringenden Fähigkeit bei der kühnsten Wortstellung doch verständlich zu bleiben, in ihrer aus derselben Quelle fließenden syntaktischen ebenfalls so höchst anschaulichen Gliederung und Geschlossenheit, sind für die Ausbildung einer eignen poetisch-rhythmischen Diction aus ihrem Wortvorrath heraus so günstig organisirt gewesen, daß ihnen der deutsche Uebersetzer auch mit Anwendung seines reichen angestammten und erborgten Wortschatzes, seiner ererbten und eroberten Dichterfreiheiten nur mit Mühe nachringt, so daß eigentlich jede Uebersetzung aus dem Alterthum eine Verwässerung ist. Hat er der lateinischen Sprache gegenüber noch das dieser fremde, köstliche Gut der Wort-Zusammensetzung, so bringt sie ihn wiederum durch ihre noch anschaulichere Gedrängtheit und Kürze in Verlegenheit, und er könnte verzweifeln, in demselben Silbenraume dieselben Gedan-
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ken wiederzugeben, wenn er nicht auf Kosten seiner eigenen schönen vielsilbigen Wörter doch seine Artikelchen, Präpositiönchen und übrigen Redetheilchen unterbringen könnte. Die kraftvolle Sprache des Römers leidet allerdings etwas darunter, aber er kann nicht mehr als er kann, und wahrlich, er hat doch von dem männlich-stolzen, festen und würdevollen Bau seiner uralten Lehrmeisterin ein gut Theil erobert! – War er dagegen scheinbar dem Griechischen mehr gewachsen durch die [25] bequemere Anwendung der kleinen lautlich und gemüthlich nüancirenden Partikeln und durch die gleiche Kraft der Zusammensetzung, so neckte dieses ihn wieder durch die Fähigkeit auch einmal die Artikel u. s. w. aufzugeben, und brachte ihn durch die Vertheilung eines großen Theiles seines dialektischen Wortreichthums auf die einzelnen Dichtungsgattungen, wodurch es nicht eine, sondern ein halbes Dutzend poetischer Dictionen gewann, vollkommen zur Einsicht seiner Ohnmacht, aber freilich auch zur höchsten Kraftanstrengung. Denn wieder kam die noch größere Vielsilbigkeit des Griechischen hier rettend zu Hilfe. – Was ist aber für den Dichter die Sprache ohne den Vers anders als der Stoff ohne die denselben organisirende Bewegung, der Leib ohne das Leben? Und für wen mehr als für die Dichter des Alterthums, denen das unglückliche Zwittergeschöpf der Neuzeit, die sogenannte Prosadichtung, noch nicht geoffenbart war? – Aber war der Deutsche schon den alten Sprachen gegenüber im entschiedensten Nachtheil, so war er in phonetischer Beziehung sowohl überhaupt als auch insbesondere dem antiken Verse gegenüber vollkommen ohnmächtig. Denn alle moderne Kunst beruht hauptsächlich auf einer Mischung zwischen Rhythmus und Reim, und er konnte, mit Anlehnung an seine mittelalterlichen Freiheiten, auch dem romanischen Streit zwischen Wortaccent und rhythmischem Accent sich anschließen. Wie aber nun? Der antike Vers kennt nichts von dem bunten schillernden Schmuck des Gleichklangs, dem daraus entspringenden Laut- und Gedankenübergewicht des Versendes, wodurch auch mehr Neigung zum Gedankenabschnitt an eben dieselbe Stelle fiel, und die Zerrissenheit des lautlichen wie rhetorischen Ganzen begünstigt wurden; nichts von dem ruhelosen Springen von einer solchen Versbindung zur andern, dem [26] eine gewisse unordentliche Hast und geniale Ungebundenheit im Gange der Gedanken zur Seite ging, da die Reime doch auf denselben einen, wenn auch unbewußt, leitenden Einfluß übten: sondern der antike Vers baute sich unmittelbar aus dem innern organischen Leben der alten Sprachen auf, indem ihr elastischer Bau zwischen der Zeitdauer der Silben nach langen oder kurzen Vocalen, offenen oder geschlossenen Silben genau unterschied, nach dem Verhältniß derselben zur rhythmischen Hebung und Senkung den Vers bestimmte, und die Monotonie des Wechsels zwischen Länge und Kürze theils durch die Auflösung einer ursprünglichen Länge in zwei Kürzen und durch die Zusammenziehung zweier Kürzen in eine Länge, theils durch die Ausdehnung der Kürze zu einer mittelzeitigen Länge, theils endlich für den nicht gesungenen Vortrag durch die Einwirkung des Wortaccents und das so viel häufigere und kühnere enjambement der Zeilen brach. Die daraus entstandene unsägliche Mannigfaltigkeit von Versen, welche selbst Tonarten der Musik unterschiedlich wiederzuspiegeln vermochten, war nur denkbar bei dem zarten inneren Bau der griechischen Sprache, die z. B. ohne alle Mühe sechs offene Silben hinter einander folgen lassen konnte, und ihr schmiegte sich die rauhere Rede Latiums wenigstens für die minder künstlichen rhyth-
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mischen Gebilde mit Glück an. Wie ein solcher Vers, lediglich aus der Bewegung der Sprache selbst hervorgewachsen, nichts von dem unruhigen Treiben und Haschen nach einer bestimmten Wiederholung gleicher Laute am Ende hatte, so konnte sich in ihm der Gedanke ganz und harmonisch entfalten, er glänzte „wie der Mond in beruhigter Pracht im melodischen Wandel der Sterne.“ – Aber wie diesen Mond in der unruhigen Welle unserer Sprache wiederspiegeln? Es gelang nur durch das [27] seltsame Experiment, an die Stelle der mit rhythmischen Hebungen zusammenfallenden Längen die Wortaccente zu setzen, um die sich der neuere germanische Versbau dreht, da das Bewußtsein für organische Länge und Kürze längst erstorben und verwirrt war. Es gelang aber nur halb, da man nicht nur die betonten offenen Silben, sondern auch die minder betonten geschlossenen, und die durch die geringere Bedeutung in der Satzbetonung zurücktretenden Formwörter als Kürzen gelten lassen mußte. Man mußte zugeben, daß eigentliche Spondeen fast unmöglich, daß Trochäen für den daktylischen, Iamben für den anapästischen Vers unerläßlich seien, und kam somit durch das ganze Experiment nur dem alten Princip von der Unbestimmtheit und Wandelbarkeit der Senkungen und der dadurch erhöhten Wichtigkeit der Hebungen wieder näher. Aber obgleich auch der beste deutsche Hexameter im Grunde nur ein Spottbild eines griechischen oder lateinischen ist, so hat man doch auf dem Wege der Nachahmung rhythmische Gebilde erschaffen, welche nicht sowohl die einfacheren Formen der Alten so analog wie möglich wiedergeben, als vielmehr (z. B. bei dem deutschen Hexameter und Pentameter) wieder neue Formen geworden sind, die sich ihre eigenen Wohllautsgesetze ausgebildet haben, die auch, was das Allermerkwürdigste ist, bis zu einem hohen Grade populär geworden sind, die zu der Hinlenkung vom Zerbröckeln durch fades Reimgeklingel auf ruhige Entfaltung und volle, energische Darstellung eines poetischen Inhaltes von Klopstock an aufs Vortrefflichste gewirkt haben, und die nicht mehr aus dem deutschen Volke verschwinden werden. Denkt man, wie lange sie gekämpft haben, ehe sie durchdrangen, so werden auch wohl neuere Erwerbungen wie der antike Trimeter und die verschiedenen reimlosen Tetrameter nicht [28] verloren sein. Die künstlichere strophische Gestaltung wurde mit am frühesten versucht, aber gleich Klopstock, obwohl er Asklepiadeische Strophen mit einigem Glück baute, ging mit seinen drei oder vier sogenannten Kürzen über das Maaß des Rhythmischen überhaupt hinaus, da er als Hauptmaaß zu Grunde legen wollte, was in unendlich viel feiner gebauten Sprachen mehr Ausnahme als Regel ist. Platen baute später Horazische Oden mit einer wunderbaren Geschmeidigkeit, jedem an alte Maaße Gewöhnten zur Freude, und vielleicht könnte auf diesem Wege (obwohl es Platen dazu an Großartigkeit der Ideen fehlte) noch Schwereres gelingen. Besonders ist die Consonantenposition in allen antiken Maaßen aufs Schonendste zu behandeln. Ueberhaupt könnte, da die Technik der Kunst sich auch in unfruchtbareren Zeiten fortbildet, wohl noch Manches erreicht werden. Nur muß man von den zahlreichen Verseklitterern unserer Tage etwas mehr fleißiges Studium verlangen, wobei man gern darauf verzichtet, daß sie „ihre Seele der ganzen Menschheit zutrinken.“ .. .. Vos, o Pompilius sanguis, carmen reprehendite, quod non Multa dies et multa litura coercuit. –
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Hier sind wir an der Gränze der Uebersetzungskunst angelangt, was den Rhythmus anbelangt, denn allerdings hat die Reimkunst noch sich durch die Nachbildung orientalischer Formen in neuester Zeit erheblich erweitert, immer freilich unter der fabelhaften Reimfähigkeit der Originale bleibend. Aber ich wage es nicht, auch noch die braunen Gesichter vom Ganges, aus dem Rosenhain von Schiras [29] und der arabischen Wüste einzuführen, da ich fürchte, sowohl durch die Fremdartigkeit, theilweise auch durch die widrige Härte dieser Laute, meine Leser zu erschrecken, als auch daß meine Kunde für keine derselben ausreichen würde, um die Leistungen der Uebersetzer sicher zu porträtiren. Bei Rückert’s Makamen kann von einer Treue nur im weitesten Sinne des Worts die Rede sein. Er hat, so weit ich bemerkt habe, den Stil meisterhaft getroffen, aber weder alle Gedanken wiedergegeben, noch auch die seinigen nicht hinzugemischt. Gewiß war diese stilhafte Nachbildung das einzig Richtige, und Rückert hat ja in diesem Zuführen neuer Kunstformen und Erweitern der sprachlichen Mittel seine eigentliche Bedeutung. Er war sich klar über den Werth und das Aecht-Deutsche dieser Aufgabe, wenn er sie in seiner Einleitung zur Uebersetzung der Hamasa der Nation in den Mund legte: Es ist mein Volk das große, Das täglich sendet aus Die Söhn’ aus seinem Schooße, Zu führen in sein Haus die Völker aller Zungen, Und wunderbar erklungen Ist da ein Weltgespräch beim Schmaus. O kommt im schlichten Hemde Zum buntgemischten Mahl! Ihr sollt, und seid ihr Fremde, Nicht fremd hier sein zumal. Ich bring euch als die Meinen; So möget ihr erscheinen Im deutschen Gastversammlungssaal.
Und in der That wunderbar erklingt das Weltgespräch in diesem Saale! Jede Sprache ist ein körperliches und geistiges Einzelwesen, es hat seine Tugenden und seine Laster, seine Schönheit und seine Häßlichkeit: und doch ist es allein die deutsche, die der englischen von ihrer Kraft, [30] der italienischen von ihrer glänzenden Weichheit, der französischen von ihrer eleganten Schnelle, der spanischen von ihrer abstracten Würde, dem Orient von seiner buntgewirkten Seltsamkeit, dem classischen Alterthum von seiner plastischen Schönheit einen guten Theil abgelauscht und abgeborgt, und in den eigenen Busen übertragen hat, ja die sich ihnen allen wie ins Herz gebohrt hat, indem sie auch in die Seele ihrer Seele, in die in ihnen herrschende rhythmische und lautliche Bewegung eingedrungen ist. Aber wie erreichte sie dies? Etwa durch ihre glückliche Naturanlage? Sie wurde darin von mancher Nachbarin übertroffen, deren ursprüngli-
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che Bildsamkeit nicht geringer, deren Wohllaut viel größer, deren eigener Reichthum mindestens eben so groß war. Sie erlangte es durch ihren Fleiß und ihre Liebe. Durch ihre Liebe, insofern sie all den fremden blonden und braunen Gästen in ihrem Herzen Platz vergönnte und sich nicht in eigensinnigem selbstüberschätzendem Stolze ihren Schönheiten verschloß. Durch ihren Fleiß, insofern sie keine Mühe scheute, alle die örtlich und zeitlich entlegenen Denk- und Anschauungsweisen in Religion und Philosophie, in Sitte und Recht, im theoretischen und praktischen Leben durch Uebersetzen in deutsches Denken und Anschauen zu begreifen, und, indem sie diese in sich verarbeitete, dennoch sich nie selbst zu verlieren, sondern durch mehrmaliges immer tieferes Hinabsteigen in die eigene Vergangenheit und Rundschauen in den Volksmundarten den ganzen Schatz ihrer angestammten Hilfsmittel zu erkennen und, so weit er noch lebensfähige Spuren hinterlassen hatte, wieder zu beleben. So ist sie freilich zu einem Grade des Reichthums, der Energie, der Bildsamkeit (im Gehen wachsen die Kräfte), und selbst des Wohllauts gekommen, wie ihn, diese Dinge in Eins gefaßt, keine der lebenden [31] Sprachen erreicht hat, und trägt, wie keine andere, ein universalistisches Gepräge, auf welche das Herz Europas stolz sein kann, das nicht umsonst in die Mitte der civilisirten Welt gesetzt ist. ____________________
Der Deutsche also, dem die geistigen Erzeugnisse aller Culturvölker durch Uebersetzung, Nachbildung und deutsche Erklärung einverleibt sind, und der nicht bestimmt ist, als Gelehrter selbst an dieser Einverleibung mitzuwirken, sondern einen praktischen Lebensberuf hat, mag sich begnügen mit dem Benutzen dieser so erweiterten deutschen Hilfsmittel? – Mit nichten. Abgesehen davon, daß ja bei den feinsten geistigen Culturproducten die Originale immer noch, wie es aus dem vorigen erhellt, bedeutend über den Copien stehen; abgesehen davon, daß auch in den meisten technischen Berufen die Kenntniß z. B. des Englischen und Französischen den Verkehr mit dem Auslande ungemein erleichtert, und durch das schnellere Benutzen der etwa in Zeitungen desselben veröffentlichten technischen Neuerungen oder durch mündlichen Gedankenaustausch mit fremden Berufsgenossen auch den unmittelbarsten praktischen Nutzen gewährt – abgesehen von allem dem: was sollte wohl aus der so hoch (mit fremder Hilfe) gesteigerten Bildung werden, wenn die Welt der Gelehrten und die der Gebildeten nicht wenigstens auf gleichartigem Boden ständen? Da wären wir für die Einen bald bei dem Mandarinenthum der Chinesen oder der Geheimlehre römischer Pontifices angelangt, und für die Anderen bei dem geistigen Proletariat, das mechanisch Alles begreift und organisch Nichts. Tausende von Begriffen, die den fremden [32] Sprachen entnommen sind, würden jene bald allein, diese nur halb und unsicher, weil ihnen der Zusammenhang mit dem Ursprung fehlt, und zuletzt gar nicht wissen und fühlen; die Sprache jener würde vollgestopft mit dünkelhaftem Fremdthum, die dieser bald so arm und kahl werden, wie ihre eigene Seele; und zuletzt würden sie sich (wie in Aegypten) gar nicht mehr verstehen. Die politische Schädlichkeit einer solchen Trennung, obwohl sie schon zum Theil besteht, würde unberechenbar sein; ihr Haß, einmal angebildet, so
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tief und unversöhnlich, wie der religiöser Secten; und das Ende davon, wie immer, der Untergang der universalistischen Bildungspartei unter der von buntzerrissener Fachbildung angeführten Masse, der Sieg des geistigen Individualismus, was dann nur einen Schritt entfernt ist von der alten Nacht der Barbarei. Denn im Grunde giebt es gar keinen bloß theoretischen Beruf, sondern ist jeder auch praktisch; und wird einmal die gelehrte Bildung als unpraktisch und träumerisch anzusehen, zum Schiboleth einer Partei der Gebildeten, so ist alle Aussicht, daß auch zuerst etwa der Arzt, dann auch der staatswirthschaftliche und richterliche Beamtete, demnächst auch der Geistliche und der Lehrer zu der sogenannten praktischen Fahne schwören, und der Thurm der alten Bildung zu einer lächerlichen Ruine wird. Es bedarf also durchaus einer gleichartigen Bildungsunterlage, wie in der Erziehung des Menschengeschlechts einer allgemeineren, so einer besonderen für alle Zweige der höheren Berufswelt, und wir glauben, daß ein wesentlicher Theil derselben die Erlernung fremder Sprachen sein müsse. Denn kein anderes Bildungsmittel entwickelt so harmonisch alle Seelenkräfte, keins beschäftigt so gleichzeitig von vornherein das aufnehmende Gedächtniß, den ordnenden Verstand, den Tact rathender [33] Combination, die anschauende Phantasie, das empfindende Gemüth; vorausgesetzt, daß man vom nothwendig Schalen des ersten Anfangs so bald wie möglich (und es ist bei unpedantischer Art viel möglich) zum Sinnvollen, Zusammenhangenden, zur erheiternden oder rührenden Anekdote übergeht, um die Lust und Empfänglichkeit für das Verstehen zu erwecken und den Sinn für das später dargebotene Interessante, Schöne und Erhabene vorzubereiten; vorausgesetzt, daß man das Sprachenlernen weder zum Vehikel für die Erlangung beruflicher Kenntnisse erniedrigen, noch gar zu dem einer ganz unkindlichen historischen oder philosophischen Spracherkenntniß emporspannen will; vorausgesetzt endlich, daß man unter den Sprachen eine richtige Wahl trifft, und nicht entweder alle treiben will oder die an sich und durch die Literatur mächtigsten, überlegensten gegen die ohnmächtigeren in den Hintergrund schiebt. Kein Studium ist so nicht bloß am letzten Ziele wie alles Wissen unendlich, sondern immer in jeder einzelnen Aufgabe beweglich und unendlich. Wie der Quartaner über die ersten Sätze in Jacob’s Elementarbuch, so seufzt ein W. v. Humboldt über Aeschylos’ Agamemnon, wenn er übersetzen soll, da das Uebersetzen ja eben in sich eine Unmöglichkeit enthält und vielfach lösbar ist; und eben dies macht, daß, – während dem Sprachstudium jene sich immer wiederholende Befriedigung einer vollkommen gelös’ten Geistesaufgabe abgeht, welche den Hauptreiz und das eigentlich Wirksame der Mathematik ausmacht, aber auch zur eitlen Selbstgenugsamkeit verführt, – dafür durch Nieganzlösen und Immerübriglassen, besonders in den schwereren Sprachen, eine Ehrfurcht vor dem Menschengeiste überhaupt erweckt und jene fleischliche Sicherheit gründlich gehemmt wird, die Alles wissen und verstehen zu können meint, oder der das [34] Nochnichtklare als eitler Tand und Wirrwarr erscheint. Diese innere religio ist gerade entgegengesetzt der Menschenfurcht, von der die guten Philologen nie viel besessen haben. Gar oft zeigten sie bei großer Demuth vor allem Aechten und Wahren sich gleichgiltig gegen die Formen und Verhältnisse des Lebens, waren unbequeme Leute und im Zorne nicht Gottes sondern der Menschen. – Kein Bildungsmittel knüpft so naturgemäß an das älteste Lernen des Kindes an; keins ist selbst so naiv und unpedantisch, da es den Prozeß vom ersten Stammeln bis zur freien
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und leichten Bewegung des Gedankenausdrucks immer wiederholt. Keines entwickelt die Harmonie der Seelenkräfte so von innen heraus, indem dies Lernen nicht eine Menge von Vorstellungen, Wahrheiten, Verstandesschlüssen, Empfindungen von außen mechanisch heranbringt, sondern durch Selbstthätigkeit bei Kleinem und im Einzelnen dynamisch aufbaut und so die Sprache und den Geist unmerklich allseitig erweitert, schmeidigt und sittigt, so daß dieser Geist nun nicht nur das systematischere oder das trockenere stoffliche Wissen zu bewältigen stark und geschickt, sondern auch überhaupt so viel umsichtiger, gewandter und gescheidter geworden ist, daß er auch in jedem praktischen Berufe, selbst wenn er gar nichts mit Sprachen oder mit den Sprachen, die er gelernt, zu thun hat, sich leichter und schneller zurechtfinden wird. Dies kann auch nicht anders sein. Keine Thätigkeit knüpft an eine nothwendigere Bedingung des Menschengeistes an. Der Blindgeborene, der etwa auch nicht rechnen gelernt hätte, wäre zwar ein sehr unvollkommener Mensch, aber doch ein Mensch; er kann zwar kein Mathematiker oder Naturforscher werden, kann aber doch zu seinem Gott beten und seine Mitgeschöpfe lieben; aber wer sprachlos geboren ist, ist auch [35] fast ganz gedankenlos, und umgekehrt, wer stumpfsinnig geboren ist, kann auch nicht sprechen; und da all unser Denken und geistiges Lernen durch das Thor des Sprechens hindurch muß, so ist es wohl kein Wunder, daß derjenige, dessen Sprachfähigkeit intensiv vermehrt wird, auch überhaupt denk- und lernfähiger ist. Die Entwickelung unserer Sprache bezeichnet daher auch recht eigentlich das Resultat unserer ächt-menschlichen Bildung, die Stufe unserer Gottähnlichkeit, da sie nicht so sehr auf der Naturanlage des einzelnen Geschöpfes, als vielmehr auf dem Leben unter den Mitgeschöpfen, auf der Cultur, beruht. „Du willst mit mir reden, Aristänetos? – Allerdings, o Sokrates. – Aber Dein Nachbar der Waffenschmied und Dein Bruder der Schuster wohnen Dir näher, warum störst Du mich und redest nicht lieber mit jenen? – Mein Nachbar der Waffenschmied redet wie ein Waffenschmied, und mein Bruder der Schuster wie ein Schuster: du aber, o Sokrates, redest wie ein Mensch; und wenn ich, der ich ein Zimmermann bin, mit jenen rede, so verstehen wir uns meistentheils gar nicht anders als über das was schlecht und gemein ist, und es will mich bedünken, als ob, wenn ich mich mit ihnen unterhalten habe, ich meine Brüder und Nachbaren und Athen und die Götter weniger als sonst liebe; wenn ich aber mit Dir geredet habe, so kommt es mir vor, als ob ich auch die Sprache der Schuster und Waffenschmiede besser verstehen und sogar mich mit den Herrschern und Feldherren unterreden könne. Also habe Geduld mit mir, und rede mit mir. – Komm herein, und wir wollen es versuchen.“ Besser als aus der Gesichts- und Schädellehre kann man aus der Sprachentwickelung das geistige Gepräge eines Menschen erkennen. Jene ist physischen Grundursachen und Zufälligkeiten [36] unterworfen, diese ist fast ganz ein Werk der Psyche. Es braucht ja wohl nicht gesagt zu werden, daß hier nicht von jener Beweglichkeit der Organe die Rede ist, welche viele Leute gut sprechen nennen: bekanntlich kann Jemand sehr fertig und fließend und doch so schlecht und armselig sprechen, daß man ihm ein Almosen geben möchte; und umgekehrt, Mancher stammelnd und stotternd, und doch in geistiger Beziehung vortrefflich. Ebensowenig kann von der nur für gewisse Gelegenheiten angelogenen, papagaienartigen Kunst die Rede sein, die man ei-
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nen schönen Vortrag nennt. Es handelt sich nur um die innere und natürliche Sprache des Geistes, und von ihr gilt ganz das etwas zweideutige Wort Le style c’est l’homme, oder das treffendere des Arabers Rede und du bist. Ein beschränkter Geist wird dasselbe Wort, dieselbe Wendung zum Ekel wiederholen, einem reicheren eine größere Fülle des Ausdrucks zu Gebote stehen; der Leichtfertigere wird sich zum style coupé, der Nachdenklichere zum Periodisiren, Einschachteln und Verschränken der Sätze neigen; der klare Kopf wird klar und einfach, der verwirrte dunkel und geschraubt reden; die Härte der Seele wird sich in kurzen, abgebrochenen Sätzen offenbaren, wie die Weichheit des Herzens in Rundung und Ebenmaaß; ja es werden sich sogar nicht selten die traurigsten Geister, die boshafte Lüge und versteckteste Heuchelei durch das verrathen, was Shakespeare (der größte Psycholog der Welt) so schön an Regan eine glatte, ölige Rede nennt. Aber sind wir noch jung, so sollen wir diese unsere individuelle Geistesform erst erwerben. Verschmähen wir da nicht die Hilfsmittel auch ächte Redefertigkeit zu erlangen (denn wenn man seine innere Sprache zur gleich guten, harmonischen Erscheinung bringen kann, ist das ein [37] gut Ding), aber sehen wir darin nicht Alles, seien wir durchdrungen davon, daß das Edelste langsam und von innen heraus reifen muß, und lassen wir jene nicht auf Kosten unseres Reichthums in widrige Geschwätzigkeit ausarten. Ihr sollt nicht plappern wie die Heiden. Arbeiten wir aber an jener inneren Rede, erweitern wir ihre Grenzen, übersetzen wir recht viele Geister in unsern Geist! Unsere Nation hat es gethan und sich dadurch zu ihrer genialen Geisteshöhe erhoben, seien wir nicht undeutscher als die besten Deutschen waren! Benutzen wir sorgfältig alle die andern schönen und nützlichen Wissenschaften und Künste, deren Anfänge uns in der Jugend geboten werden, aber vergessen wir nicht, daß die Sprachbildung der eine Grundpfeiler des ganzen Erziehungsgebäudes ist, welchem an Umfang und Kraft wohl nur der ächter Frömmigkeit gleichkommen dürfte. […]
August Boeckh August Boeckh (1785–1867) wurde nach dem Studium in Halle (bei Friedrich August Wolf und Friedrich Schleiermacher) bereits 1807 auf ein Extraordinariat in Heidelberg berufen, wo er mit Friedrich Creuzer, Clemens Brentano und Achim von Arnim in Verbindung stand. 1811 ging er an die neu gegründete Berliner Universität, an der er mehr als ein halbes Jahrhundert wirkte. Boeckh hielt regelmäßig – zuletzt im Jahr 1865 – eine Vorlesung über die Grundlagen der Philologie ab, die postum unter dem Titel Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften in redaktioneller Bearbeitung erschien. Diesem Werk sind die folgenden Ausführungen Boeckhs zum Übersetzen entnommen. Boeckh greift zunächst die seit Goethe und Schleiermacher verbreitete Auffassung zweier konträrer Übersetzungsmethoden auf, ohne sich indessen deutlich für eine von beiden auszusprechen. Dies ist auch nicht erforderlich, da er sich generell skeptisch zur Bedeutung von Übersetzungen äußert. Er betrachtet sie lediglich als Notbehelf und basale Lehr- und Lernmethode: „Wenn die Philologie anfängt zu übersetzen, hört sie daher auf Philologie zu sein.“ Obwohl Boeckh 1808 in einer Rezension Schleiermachers Platon-Übersetzung (in den Heidelberger Jahrbüchern der Literatur) mit lebhafter Zustimmung begrüßt hatte und sich in seiner Hermeneutik Schlegel und Schleiermacher verpflichtet zeigte, vollzog er letztlich deren radikale Aufwertung des Übersetzens nicht mit. Es kann deshalb nicht überraschen, dass Boeckh nur ein einziges Mal selbst als Übersetzer tätig wurde, als er um eine Übersetzung der Sophokleischen Antigone für die Potsdamer Aufführung von 1841 gebeten wurde. Zu allem Überfluss wurde die Übersetzung nicht rechtzeitig fertig (sie erschien 1843 im Druck), als Ersatz musste die von Donner verwendet werden.
Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften (Auszug) Aus: Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften von August Boeckh, hg. von Ernst Bratuscheck, 2. Aufl. besorgt von Rudolf Klussmann, Leipzig 1886, 158–163.
[…] Die gesammte Hermeneutik hat nur das Verständniss der Denkmäler zum Zweck; für die Förderung des gemeinsamen Studiums ist es aber von Wichtigkeit, dass dies Verständniss in der geeigneten Weise dargelegt werde. Die Darlegung geschieht nun in doppelter Art, durch Uebersetzen und Commentiren. Wir untersuchen zuerst den Werth des Uebersetzens. Das Ideal einer Uebersetzung ist, dass sie das Original vertrete; dies würde in vollkommenem Maasse der Fall sein, wenn sie auf uns bei Kenntniss der historischen Verhältnisse denselben Eindruck machte wie das Original
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auf das ursprüngliche Publicum. Die historischen Voraussetzungen des Werkes müssen also auf jeden Fall durch anderweitige Erklärung gegeben werden, wenn die Uebersetzung ihren Zweck erfüllen soll. Es fragt sich nun, wie die Uebersetzung selbst eingerichtet werden muss um die beabsichtigte Wirkung möglichst vollkommen auszuüben. Hierüber stehen sich zwei Ansichten gegenüber. Einige behaupten, man müsse den nationalen Stil des Werkes möglichst beibehalten; andere verlangen, das Nationale solle möglichst abgestreift werden. Die erstere Ansicht vertritt Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens. Akad. Abh. von 1813 (Werke. Zur Philosophie 2. Bd.),1 die andere Carl Schäfer, Ueber die Aufgaben des Uebersetzers. Erlangen 1839. 4.2 Beide Methoden des Uebersetzens haben ihre Vorzüge und Mängel. Diejenigen, welche das Nationale nicht übertragen, sind auch nicht im Stande das Individuelle völlig zum Ausdruck zu bringen, weil beides verwachsen ist. Es wird dann nothwendig ihre eigene Individualität in der Uebersetzung hervortreten, wie dies bei Wieland der Fall ist. Ferner werden sie vieles Einzelne untreu wiedergeben, weil ja auch der grammatische Wortsinn, wie wir (oben S. 98)3 gesehen haben, national bedingt ist. Die Uebersetzung wird also den Inhalt und die innere Form und Combinationsweise des Werks im Grossen und Ganzen darstellen, dagegen die Feinheiten der Gliederung und die entsprechende äussere Form verwischen. Innerhalb dieser Grenzen aber bewirkt sie, weil der fremde Nationalcharakter möglichst abgestreift ist, ein Verständniss wie ein Werk in der Muttersprache. Bei der entgegengesetzten Methode wird man dagegen der eigenen Sprache Gewalt anthun um den nationalen Charakter der fremden nachzubilden, und da sich die Sprachen doch auch grammatisch nicht decken (s. oben S. 100)4, ist eine treue Wiedergabe des Originals den-[159]noch unmöglich. Trotzdem ist diese Methode des Uebersetzens vorzuziehen, weil sie von dem, was der Uebersetzer verstanden hat, mehr zum Ausdruck bringt. Er wird sich so seiner eigenen Individualität bestmöglich zu entäussern suchen; er wird keine Originalität erstreben, die bei der Uebersetzung ein Fehler ist, und so wird es ihm gelingen auch die Feinheiten der Combinationsweise und der äusseren Form einigermaassen nachzubilden. Freilich wird die möglichste Treue im Einzelnen wieder leicht den Eindruck des Ganzen beeinträchtigen. Die Homerische Poesie z. B. ist ganz Natur, durchaus ungekünstelt; jede Uebersetzung hat aber etwas Gekünsteltes, _____________ 1 2 3
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[S. o. S. 59–81.] [S. o. S. 127–143.] [Boeckh bezieht sich auf den Abschnitt zur Grammatischen Interpretation, wo es heißt: „In dem Verlauf der historischen Entwickelung hebt sich bald diese, bald jene Seite der Grundbedeutung [scil. des Wortes] stärker hervor; der Charakter der Nation, die Gliederung derselben in Stämme, deren Dialekte verschieden sind, der weitere Einfluss der Oertlichkeiten und einzelnen Individuen geben so der Anschauung ihre bestimmte Richtung. Jedes Wort und jede Structur haben ihre Geschichte, und es spiegelt sich darin oft die Culturgeschichte des Volkes, wie z. B. die ganze moralische Entwickelung der Griechen in der Geschichte des Wortes ἀγαθός ihren Ausdruck findet […]“.] [Boeckh meint wohl die Stelle auf S. 101, wo es heißt: „Was übrigens hier von Worten gezeigt ist, gilt ebenso auch von Constructionen und Arten der Wortstellung: überall muss die Grundbedeutung durch die Anschauung aufgefasst und nicht durch grammatische Spitzfindigkeiten bestimmt werden […]“.]
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weil sie mit Unterdrückung der eigenen Individualität in eine fremde Seele hineingeschrieben ist. Sie gleicht im günstigsten Falle einem die Natur nachbildenden englischen Park; oft aber verfällt sie in steife Künstelei wie die Vossische Uebersetzung des Homer, die stelzbeinig und rauh ist, und in noch schlimmerer Weise seine Uebersetzung des Aristophanes.5 Am wenigsten lassen sich die Eigenthümlichkeiten des Rhythmus und des Klanges übertragen, da die neueren Sprachen ein anderes rhythmisches Gesetz als die alten haben, und die verschlungenen griechischen Metra mit häufiger Aufeinanderfolge mehrerer Kürzen und Längen oft gar nicht darstellbar sind. Doch haben die deutschen Uebersetzer hierin seit Voss ausserordentliche Fortschritte gemacht. Vergl. Minckwitz, Lehrbuch der rhythmischen Malerei der deutschen Sprache. Leipzig (1855) 2. Aufl. 1858.6 und Gruppe, Deutsche Uebersetzerkunst. Hannover 1859, neue vermehrte Ausgabe 1866.7 Hervorragend sind die Leistungen von Fr. Aug. Wolf (Aristophanes’ Wolken. 1811), W. v. Humboldt (Aeschylos’ Agamemnon. 1816 und Pindarische Oden, Gesamm. Werke Bd. 2), Otfried Müller (die Eumeniden des Aeschylos. 1833), Droysen (Aristophanes. 1835– 1838, 2. Ausgabe 1871; Aeschylos. 1832, 3. Aufl. 1868), Donner8 und Minckwitz. Die beste Uebertragung prosaischer Kunstwerke ist Schleiermacher’s Uebersetzung der Platonischen Dialoge.9 Ueberhaupt sind die deutschen Uebersetzungen die besten; wir haben recht eigentlich unsere Stärke im Uebersetzen fremder Literaturen, das auch in Deutschland zu einem wahren Handwerk geworden ist. Man hat die Virtuosität der deutschen Uebersetzer auf die Voll-[160]kommenheit unserer Sprache zurückgeführt und für die Uebersetzungen antiker Werke besonders die Aehnlichkeit des Deutschen und der alten Sprachen betont. Daran ist etwas Wahres, aber nicht viel; denn wie foltert man doch auch unsere Sprache selbst bei guten Uebersetzungen! Aug. Wilh. Schlegel leitet (Athenäum II, 2, S. 280 ff.)10 unser Geschick zum Uebersetzen treffend aus _____________ 5 6
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[Zu Voss s. o. S. 5 Anm. 4.] [Der Leipziger Philologe Johannes Minckwitz (1812–1885) hatte seine Studien zum deutschen Vers nicht zuletzt anhand von Übersetzungen vorgenommen; er übersetzte u. a. Euripides, Sophokles, Pindar, Aischylos und Aristophanes. Seine Ansichten zum Übersetzen fasste Minckwitz 1878 in den Beiträgen zur Sprachvergleichung. Prosa, Poesie, Rhythmus und Übersetzungskunst (in: Zeitschrift für vergleichende Litteratur, Bd. IV) zusammen.] [Otto Friedrich Gruppe (1804–1876) behandelt – wie Prutz (s. o. S. 145–161) – Übersetzungsgeschichte als Geschichte der allmählichen Entfaltung des Formprinzips. Der volle Titel seiner Schrift lautet: Deutsche Uebersetzerkunst. Mit besonderer Rücksicht auf die Nachbildung antiker Maaße, nebst einer historisch begründeten Lehre von deutscher Silbenmessung, Hannover 1859 (2. Aufl. 1866).] [Zu Donner s. o. S. 172 Anm. 18.] Vergl. Kl. Schriften VII, S. 18 ff. [Boeckh verweist auf seine Kritik der Uebersetzung des Platon von Schleiermacher von 1808, in: Gesammelte kleine Schriften, Bd. 7, hg. v. Ferdinand Ascherson u. Paul Eichholtz, Leipzig 1872, 1– 38.] [Im Zusammenhang einer Übersetzung aus Ariosts Orlando furioso wendete sich August Wilhelm Schlegel nachdrücklich gegen die Auffassung, dass die deutsche Sprache geeigneter zum Übersetzen sei als andere Sprachen. Die Neigung der Deutschen zum Übersetzen habe statt dessen etwas mit Mentalität und Nationalcharakter der Deutschen zu tun: „Unsere Sprache ist halsstarrig: wir sind desto biegsamer […].“ August Wilhelm Schlegel, Nachschrift des Uebersetzers an Ludwig Tieck, in: Athenaeum, 2. Bandes 2. Stück (1799), 277–284, hier 282 f.]
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dem deutschen Naturell ab. Dabei hebt er als Erklärungsgrund den deutschen Fleiss hervor. Hiergegen hat jemand bemerkt, dass auch die deutsche Trägheit ihren Antheil daran hat. Es ist in der That ein ganz behagliches Spielwerk ums Uebersetzen; man braucht dabei wenig zu sammeln, mehr an der Feder zu kauen und auf einen guten Einfall zu warten; man bedarf keiner grossen Combinationen wie bei der Kritik und historischen Forschung. Wir haben die Fähigkeit uns Fremdes anzueignen, aber freilich auch die Sucht, wozu wir, ohne selbst Mangel an Originalität zu haben, deshalb verurtheilt sind, weil Deutschland Europa’s Brennpunkt für Literatur wie für Raubkriege ist. Wir haben von der Zeit der Provenzalen an fremden Mustern gedient, wie die Römersprache bis Catull, ehe sich in ihr ein bestimmter Begriff von Correctheit festsetzte, den unsere allseitige, protestirende Natur nie zulassen wird. Unsere Uebersetzungen sind also gewiss die treuesten; allein auch von ihnen gilt bei poetischen Werken doch was Cervantes im Don Quixote sagt: „Allen, die Poesien in eine andere Sprache übersetzen wollen, wird das begegnen, dass der Dichter seine eigentliche Trefflichkeit einbüsse; denn bei allem Fleisse und aller Geschicklichkeit, die sie anwenden und besitzen, wird der Dichter nie so wie in seiner ersten Gestalt erscheinen können.“ An einer andern Stelle vergleicht er die Uebersetzungen mit brüsselschen Tapeten von der verkehrten Seite, wo die Figuren noch kenntlich, aber durch die zusammenlaufenden Fäden sehr entstellt sind.11 Lächerlich ist es daher, wenn man behauptet, der vollendetste Uebersetzer sei auch der vollendetste Philologe. Voss war seiner Zeit der beste Uebersetzer; aber seine Forschungen sind in grammatischer, ja auch in jeder andern Beziehung ziemlich beschränkt gewesen. Soweit sich das Verständniss des Originals in einer Uebersetzung ausdrücken lässt, kann man es sich ohne allzu tiefe Forschung erwerben. Natürlich wird eine Uebersetzung um so vollkommener sein, je tiefer man in das Original eingedrungen ist; aber dies gilt doch nur bis zu einer Grenze, die auch der vollendetste Philologe nicht [161] überschreiten kann. Die Uebersetzung ist eigentlich nicht die Kehrseite des Originals, sondern des Bildes, welches der Uebersetzer vom Original gewonnen hat, und auf dieser Kehrseite treten viele feine Züge überhaupt nie hervor, welche die Arbeit des Philologen in jenes Bild eingewirkt hat; folglich lässt sich aus einer Uebersetzung die zu Grunde liegende philologische Forschung nur sehr mangelhaft erkennen. Ausserdem gehört zum Uebersetzen, dass man die eigene Sprache künstlerisch beherrscht, was nicht Sache der philologischen Wissenschaft ist. Wenn die Philologie anfängt zu übersetzen, hört sie daher auf Philologie zu sein. Da somit das _____________ 11
[Die Stelle bei Cervantes lautet: „Dessenungeachtet scheint es mir, daß das Übersetzen aus einer Sprache in die andere, wenn es nicht aus den Königinnen der Sprachen, der griechischen und lateinischen, geschieht, sich so verhält, als wenn man die flamändischen Tapeten auf der unrechten Seite sieht, denn ob sich gleich die Figuren zeigen, so sind sie doch voller Fäden, die sie entstellen, und sie zeigen sich nicht in der Schönheit und Vollkommenheit wie auf der rechten Seite; auch beweist das Übersetzen aus leichten Sprachen ebensowenig Talent als Beredsamkeit, sowenig wie der beides zeigen kann, der ein Papier vom andern abschreibt; deswegen aber will ich nicht sagen, daß das Übersetzen keine löbliche Arbeit sei, denn der Mensch kann noch mit andern, schlimmern Dingen seine Zeit zubringen, und die ihm weniger Nutzen gewähren.“ Cervantes Saavedra, Don Quijote, dt. v. Ludwig Tieck, Bd. 2, Berlin 1966, 440 f.]
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Uebersetzen von der eigentlichen philologischen Arbeit abzieht, würde ich abrathen sich ohne besonderen Beruf viel damit zu befassen. Gegen die hier aufgestellten Ansichten schreibt Walch in der Vorrede zu seinem Agrikola (S. XXII)12 mit wahrem Ingrimm. Es scheint, dass ihm meine Aeusserungen von einem meiner Zuhörer mitgetheilt sind; denn er führt einiges, was ich in den Vorlesungen gesagt habe, wörtlich an. Darin hat er sich jedoch vergriffen, dass er die Bemerkung über die Faulheit der Uebersetzer auf eine missverstandene Ironie Wolf’s zurückführt; der Gedanke rührt von dem Juristen Thibaut13 her. Dass man die Uebersetzungen nach Cervantes mit umgekehrten Tapeten vergleicht, sollen Wolf’s Schüler auch von diesem entlehnt haben, als ob Niemand als er den Don Quixote gelesen hätte. Wahrscheinlicher ist es, dass Wolf die Bemerkung, wie ich selbst, dem Schlegel’schen Athenäum entlehnt hat; ich habe sie nie von ihm gehört. Natürlich sind Uebersetzungen – was Walch mit grossem Pathos hervorhebt – nützlich und sogar nothwendig. Man kann nicht alle Sprachen lernen, deren Literaturen von allgemeinem Interesse sind, und es ist also gut, wenn solche Literaturen, und besonders auch die klassischen Werke des Alterthums, einem grösseren Publikum wenigstens soweit zugänglich gemacht werden, als dies durch eine gute Uebersetzung möglich ist. Ich bin selbst durch einen Zufall in die Lage gekommen zu diesem Zwecke übersetzen zu müssen.14 Nur darf man solche Leistungen nie als abgeschlossene klassische Werke [162] ansehen; sie bedürfen fortwährend der Vervollkommnung, da sie im besten Falle doch nur das jeweilige Verständniss des Uebersetzers wiedergeben. Man hat gute Uebersetzungen oft als Bereicherung der Nationalliteratur angesehen, z. B. Luther’s Bibelübersetzung und den Vossischen Homer. Aber die deutsche Literatur würde einem Bücherschrank gleichen, wenn alles Fremde, was man hineinstellt, ihr angehörte. Der Uebersetzer eines Meisterwerks kann nie mehr Verdienst in Anspruch nehmen als etwa ein Zeichner oder Kupferstecher, der eine Raphael’sche Madonna copirt. Der Nationalliteratur kommen gute Uebersetzungen nur mittelbar zu Gute; sie erweitern _____________ 12
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[Der Philologe Georg Ludwig Walch (1785–1838) war von 1811 bis 1825 Lehrer am Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin und hatte seit 1830 eine Professur in Greifswald inne. Übersetzungen betrachtete er gerade im Rahmen des Universitätsstudiums als „unentbehrliches Ergänzungsstück aller Erklärung“: „Deshalb könnte nur als Dünkelweisheit belächelt werden, wollte Jemand diesem Zweig litterarischer Thätigkeit, die nicht unbedingt huldigend dem Ergötzlichkeits-Prinzip, einen objektiven Zweck verfolgt, Achtung versagen, und eines Voß, v. Humbold [sic] und anderer dankenswerthes Bemühen, fremde Individualitäten in reiner Form darzustellen, nach einer schlecht verstandenen Ironie Wolfs mit dem Namen Faulheit stempeln. Noch weniger lohnend wäre, Vorwänden zu begegnen, wie, ‚alles Streben sei eitel, kaum ein Schattenbild des Originals erreiche man‘; oder dem von Schülern ebenfalls Wolf abgeborgten Einfall, nach Cervantes, (gegen starrhäuptige Uebersetzer,) ‚die gelungenste Übersetzung gleiche immer nur der Rückseite eines umgewandten Teppichs:‘ auch hierin dürfte der Besonnene nur das verschleierte Bekenntniß einer auf Geschmacklosigkeit sich gründenden Feigheit erkennen.“ Tacitus’ Agrikola. Urschrift, Übersetzung, Anmerkungen und eine Abhandlung über die Kunstform der antiken Biographie durch Georg Ludw. Walch, Berlin 1928, XXII f.] [Gemeint ist der Heidelberger Jurist Anton Friedrich Justus Thibaut (1772–1840), den Boeckh vielleicht aus seiner Heidelberger Zeit (1807–1810) kannte.] Des Sophokles Antigone metrisch übersetzt. Mit Musik von Felix Mendelssohn-Bartholdy. Klavierauszug Op. 55. Fol. Leipzig 1843 und: Des Sophokles Antigone, griechisch und deutsch. Berlin 1843.
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den Ideenkreis der Nation und bilden die eigene Sprache, indem sie mustergültige Wendungen und Structuren aus fremden Sprachen in Aufnahme bringen15; umgekehrt wirken freilich schlechte Uebersetzungen höchst verderblich. Durch das Uebersetzen selber wird man sich der Eigenthümlichkeit der eigenen Sprache im Gegensatz zur fremden unmittelbar bewusst; daher ist das mündliche und schriftliche Uebersetzen eine wichtige pädagogische Uebung. Ueberhaupt wird man beim Studium durch eigenes Uebersetzen die Probe machen, ob man Sinn und Structur im Groben verstehe und darauf hin dann weiter ins Einzelne eindringen. Bei dieser vorbereitenden Orientirung können gute gedruckte Uebersetzungen verglichen werden. Bei griechischen Schriftstellern wird dieser Zweck auch durch beigefügte lateinische Uebersetzungen erfüllt.16 Für das Studium wissenschaftlicher Werke, wo es hauptsächlich auf den Inhalt ankommt, sind auch Paraphrasen brauchbar, wenn sie auf wirklichem Verständniss beruhen, wie z. B. die Paraphrase des Lucrez von Creech.17 Uebersetzungen und Umschreibungen sind also für das Studium die Grundlage der weiteren Erklärung, des Commentirens; je mehr man sich in eine fremde Sprache einlebt, desto unmittelbarer wird man mit ihren Worten die Anschauung verknüpfen, die darin ausgedrückt ist, desto entbehrlicher wird also das Uebersetzen. Vom Commentiren gilt nun dasselbe, was Platon im Phädros (S. 276) von der philosophischen Mittheilung sagt; die vollkommenste Art das gewonnene Verständniss mitzutheilen ist [163] der mündliche Commentar; der schriftliche ist nur ein Bild desselben. Schon das grammatische Verständniss kann mündlich am besten dargelegt werden; denn hier kann die Bedeutung der Wörter bei allen aufstossenden Schwierigkeiten durch vielfache Umschreibung und vielseitige Anschauung klar gemacht werden, was schriftlich nicht ohne grosse Weitläufigkeit möglich ist. Für das historische Verständniss wird man dabei soviel beibringen, als bei der Vorbildung der Zuhörer erforderlich ist; kein schriftlicher Commentar kann wie der mündliche Alles aufklären, was jedem Einzelnen dunkel sein kann; er würde dadurch übermässig anschwellen und trivial werden. Endlich lassen sich die Feinheiten des Stils oft nur in ähnlicher Weise deutlich machen wie der grammatische Sinn der Worte; der mündliche Vortrag einer Stelle kann oft allein die Bedeutung des Rhythmus, des Klanges und der Wortstellung zeigen und also die darin liegende Empfindung hervortreten lassen. Auf der Schule wird dem Schüler das Uebersetzen und die grammatische Analyse zufallen; wie weit im Uebrigen sein Verständniss reicht, kann der Lehrer durch Fragen leicht erkennen und das Fehlende dann ergänzen. […]
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Vergl. Kl. Schr. VII, 19f. Vergl. die Vorrede zur latein. Uebersetzung des Pindar. Pindari Opera, tom. II pars II, S. 5 u. 6. [Thomas Creech (1659–1700) hatte eine Versübersetzung (1682) und eine kommentierte Textausgabe (1695) von Lukrez’ De rerum natura vorgelegt; beides wurde im 18. Jahrhundert mehrfach neu aufgelegt.]
Adolf Wilbrandt Adolf Wilbrandt (1837–1911), Schriftsteller und Übersetzer, war nach juristischen und historischen Studien in Rostock, Berlin und München, die er 1859 mit der Promotion abschloss, als Journalist und freier Schriftsteller tätig. Seit 1871 lebte er in Wien, wo er 1881– 1887 Direktor des Burgtheaters war. Anschließend kehrte er in seine Heimatstadt Rostock zurück, wo er sich ganz seiner literarischen Arbeit widmete. Er stand seit seiner Studienzeit dem Münchner Dichterkreis nahe und machte sich einen Namen als Dramatiker, Lyriker, Novellist und Romanautor. 1866 und 1867 gab Wilbrandt zwei Bände mit Übertragungen antiker Tragödien heraus: Drei Tragödien des Sophokles mit Euripides’ Satyrspiel und Vier Tragödien des Sophokles und Euripides. Die Sophokles-Übertragungen erschienen 1903 noch einmal separat: Sophokles’ ausgewählte Tragödien. König Oedipus – Oedipus in Kolonos – Antigone – Elektra. Wilbrandt verfasste seine Übersetzungen antiker Dramen mit Blick auf die moderne Theaterbühne. Eine ausführliche Darlegung seiner übersetzerischen Prinzipien findet sich im Vorwort zum ersten der drei Bände. Gegen die seinerzeit übliche antikisierende und historisierende Aufführungspraxis setzte er ein Konzept, das dezidiert auf Verlebendigung und Wirkungsäquivalenz angelegt war. Dazu sollten alle Elemente, die das bürgerliche Publikum des 19. Jahrhunderts als fremd oder störend hätte empfinden können, radikal eliminiert bzw. durch Wirkungsmittel der modernen Bühne ersetzt werden. Wilbrandt gab u. a. die iambischen Trimeter mit fünfhebigen Iamben wieder, strich bzw. kürzte die Chorszenen und teilte die Dramen in Akte auf. Einige Übersetzungen von Wilbrandt wurden bereits kurz nach ihrer Erstveröffentlichung in Inszenierungen des Meininger Hoftheaters verwendet. Er selbst brachte am Burgtheater Elektra, Oedipus auf Kolonos, König Oedipus und das Satyrspiel Der Kyklop heraus.
Vorwort Aus: Drei Tragödien des Sophokles mit Euripides’ Satyrspiel. Mit Rücksicht auf die Bühne übertragen von Adolf Wilbrandt, Nördlingen, 1866, VII–XXXII.
Der Titel dieses Buches fordert ein Wort der Erklärung, vielleicht der Rechtfertigung. Ich habe zu sagen, was diese Arbeit von den vorhandenen „Uebersetzungen“ des Sophokles und Euripides unterscheidet; warum ich sie unternahm, und warum ich ihresgleichen für nöthig halte. Schon ehe ich Sophokles in meiner Weise zu verdeutschen versuchte, schien es mir, daß einige seiner Tragödien sich ohne allzu große Gewaltthaten für unsere heutige Bühne würden herrichten lassen. Nicht nur in der antikisirenden Weise, in der man Antigone und die beiden Oedipus, mit Mendelssohn’s und Lachner’s Musik, Wort für
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Wort, also mit dem Schein, das antike Theater wiederherzustellen, aufgeführt hatte: sondern unter den Bedingungen unsrer eignen Bühne und mit ihren eigenen Mitteln. Ich glaubte – wie auch schon Andere vor mir geglaubt – in diesen Tragödien [VIII] so viel Energie der Handlung und so starke Zeichnung der Charaktere zu sehen, daß sie auch ihrer griechischen Vortragsweise entkleidet die heutigen Zuschauer erschüttern könnten. Und so unternahm ich es – zunächst im „König Oedipus“ – den uns fremden Chor zu beseitigen, zu ersetzen, und Alles auf die Wirkung zu stellen, die das recitirende Drama unserer Tage ausübt. Dabei ergab sich freilich auch die zweite Nothwendigkeit, anstatt des griechischen Trimeters, dieses spröden Fremdlings, unsern dramatischen Iambenvers zum Führer des Dialogs zu machen. Denn die Bühne erträgt nicht, was der Leser erträgt. Der Leser kann sich – mit einiger Geduld und Neubegierde – in alle Formen des Auslandes hineinfinden; die Bühne fühlt sich als geschlossenen Organismus, der sich das Fremdartige aufzunehmen weigert, und steht der Menge gegenüber, der es nicht das Unbekannte, Unnationale aufdrängen kann. Sobald sich ihr ein Werk mit dem Anspruch nähert, nicht als Ausnahme, nicht als antiquarische Nachahmung (und wenn es auch die würdigste wäre), sondern nach ihren eigenen Gesetzen aufgenommen zu werden, – sobald erhebt sich auch die Forderung, alles durchaus Exotische verbannt zu sehen. Indessen zu diesen nächsten Erwägungen drängte sich mir noch eine dritte auf. Der Gedanke: ob nicht [IX] diese freie, diese scheinbar willkürliche Behandlung auch die günstigste, auch die natürlichste sei – ja auch dann noch, wenn sich die Bühne ihr zufällig auf immer verschließen sollte. Denn die Bühnenfähigkeit wirkt ja nicht von der Bühne allein: ist sie in Wahrheit da, so wird und muß sie auch auf den Leser wirken, dem die Bühne bekannt ist, dem die dramatische Form sich in die Seele geprägt hat. Und so wäre die Frage, ob nicht in der Sache selbst eine Aufforderung liege, zu so wichtigen Aenderungen zu greifen, die auf den ersten Blick als das müßige Erzeugniß persönlicher Willkür erscheinen könnten. Man lasse mich zunächst ein Wort von dem Bedürfniß des Publikums, unsrer Gebildeten, sagen. Könnten sie alle den Sophokles in griechischer Sprache lesen, so würden sie vielleicht auch mit dem griechischen Theater hinlänglich bekannt sein, um sich auf einen der alten Steinsitze der Orchestra und Skene gegenüber zu denken und sich das versunkene Bild athenischer Aufführungen wiederaufzubauen. Vielleicht hätten sie auch Entsagung genug, ihr verwöhntes Ohr zu der Einfachheit antiker Musik herabzustimmen, und die Phantasie des Gehörs gleich der des Auges zu innerlicher Wahrnehmung verschollener Klänge anzuspannen. Aber freilich, auch in diesem günstigsten Fall würde hier das Vermögen der geistigen Wiederherstellung am Ende sein. Es würde noch immer Keiner unwidersprechlich [X] zu sagen wissen, wie denn in der griechischen Orchestra gesungen, wie auf der griechischen Bühne gesprochen ward; in welcher Art Chor und Wechselgesang, Recitativ und Declamation, Tanz und Musik sich einzeln ergingen und zu dem Gesammtbild vereinten, das nun als aufgeschriebenes Räthsel uns aus stummen Lettern und philologischen Commentaren entgegenblickt. Indessen die Sache steht anders: in jedem Jahr wächst die Zahl der Gebildeten, die sich dem Zauber dieser alten poetischen Offenbarungen hinzugeben vermöchten, und in jedem Jahr scheint sich die Zahl der des Griechischen Kundigen zu verringern.
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Natürlich; denn während die philologische Wißbegierde, die ehedem an der Antike hängen blieb, auf hundert andre Felder ausfliegen lernt, breitet sich die Gesittung in immer tiefere Schichten aus, und vor Allem die Frauenwelt sucht sich in literarischem Wissen und Empfinden neben ihrem engen Daheim eine zweite Heimath anzubauen. Wie viele Tausende, die gern das Beste sich zu eigen erwerben möchten, und denen doch die sprachliche Gelehrsamkeit, welche dahin führt, unerreichbar bleibt! Und nicht die sprachliche Gelehrsamkeit allein: auch das weite Wissen um Cultur, Geschichte, Sage, Religion, das man besitzen muß, um sich ungestört zu den athenischen Theaterbesuchern setzen und mitgenießen zu können – auch dieses umfassende Wissen ist nicht Vielen vergönnt. Der Sehnsucht, in jene alte Poesie hinein-[XI]zudringen, stellt sich wie der Mährchenberg, durch den man sich hindurchessen mußte, ein Wust von Vergangenheit und Fremdheit entgegen, den man erst lernend überwinden soll, um an die Schwelle zu kommen: die Götterwelt mit allen ihren Geschichten, Formen, Ceremonien und Pflichten, die jene Dramen erfüllen; die tausend Anspielungen auf Sage und Vorzeit, die alten Sitten, Rechte und Begriffe; – und endlich (was mehr ist als alles dies) die für uns abgestorbene Bühnengestalt, der befremdende Chor, die andern Gesetzen folgenden Versmaße und Strophengebäude, die specifischen Eigenheiten und Künste des Dialogs – kurz, jene Formen, die für den Kundigen reiche Enthüllungen des griechischen Wesens, für den Unkundigen fast ebenso viele Verhüllungen sind. Man mißverstehe mich nicht. Wer in Altgriechenland heimisch ist, dem bleiben diese Formen ewig werth und schön; er kann sein Herz an sie hängen, er kann über ihnen Gegenwart und Zukunft vergessen. Aber für den Laien sind sie wie gemalte Vorhänge, die ihm das Allerheiligste verschließen; denn sie bleiben seiner Seele fremd. Wenn diese Chorgesänge, diese Trimeter und Tetrameter ihm verdeutscht erklingen, so hört er nicht den Wohllaut griechischer Verse, nicht den leichten attischen Redefluß, nicht die bezaubernde Natürlichkeit Sophokleischer Leidenschaft: statt dessen fremde, erzwungene, oft unverständliche Versmaße, schwerfällige [XII] Redeweise, mühsame Wendungen – kurz, die unüberwindlichen Mängel der Buchstabentreue, der philologischen Wörtlichkeit. Und diese Mängel muß er viel stärker empfinden, als der Gelehrte ihm nachzufühlen vermag. Wenn der Gelehrte eine dieser Uebersetzungen in die Hand nimmt, so steht ihm sogleich der Urtext und aller Genuß, den er je aus ihm gesogen, vor Augen. Es ist, wie wenn wir ein auch mangelhaftes photographisches Bildniß eines bekannten und geliebten Menschen oder einer uns innig vertrauten Gegend anschauen: sofort ist unsere Phantasie geschäftig, das Fehlende zu ergänzen, wir erwärmen uns – während ein fremder, kühler Beschauer nur die sichtbare Mangelhaftigkeit empfindet und gleichgültig hinwegsieht. Oder noch schlimmer, wenn er die Mangelhaftigkeit der Photographie nicht empfindet; wenn er sich nach diesem angeblich genauen Abbild – denn die Sonne hat es ja doch mit scrupulöser Gesetzlichkeit hervorgebracht – einen falschen, groben, abstoßenden Begriff vom Original macht. Und wenn nun das Original nicht wohl zu photographiren ist? wenn ein Lichtbild es allemal ungünstig auffassen würde? Wäre alsdann nicht die pietätvolle Hand eines Zeichners vorzuziehen, der, seine Wirkungen berechnend, an diesem oder jenem Punkt mit scheinbarer Willkür verfährt, um den eigentlichen Geist der Erscheinung um so reiner wirken zu lassen? [XIII]
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Allerdings, eine gewisse äußerliche Treue wird dabei über Bord geworfen; und wer mit dem Verlangen herantritt, vor Allem Eigenart und Aufbau eines Sophokleischen Drama’s kennen zu lernen, der wird sich an die wörtlichen Uebersetzungen wenden müssen. Hier findet er alle die antiken Versmaße wieder, den Chor in der Gestalt, die ihm die alten Bühnenhandschriften gegeben haben, jede Anspielung, die dem athenischen Publikum zugedacht war, und in beigefügten Commentaren ihre Erklärung. Aber jene antiken Eigenthümlichkeiten hat man doch bald erlernt; und dann, meine ich, wird sich das rein ästhetische Verlangen melden, das Verlangen, den alten Dichter ungestört zu genießen, nicht blos seine Kunstformen zu kennen, sondern die unmittelbare Wirkung seiner dramatischen, seiner poetischen Kraft. Und hier tritt, ohne Zweifel, die gewissenhafte Ausübung künstlerischer Freiheit in ihr unantastbares Recht. Wenn Sophokleische Redeweise uns in der Uebertragung so oft verschränkt und künstlich erscheint, weil griechischer und deutscher Sprachbau gründlich verschieden sind; wenn Sophokleische Leidenschaft uns anfangs kühl oder bedächtig klingen mag, weil sie im nackten Wort ohne jede Hinweisung auf den Vortrag und ohne alle die Versinnlichung auftritt, auf die sie berechnet war; wenn Sophokleischer Chorgesang uns den großen Schritt der Handlung allzu hemmend und äußerlich unterbricht, weil wir für Illusion er-[XIV]zogen und an eine andere Art, Pausen und Ruhepunkte zu schaffen, gewöhnt sind; wenn Sophokleisches Spiel von Vers gegen Vers – diese herkömmlichen stichomythischen Duette – uns als unlebendige Spielerei ermüden, weil weder griechische Marktberedsamkeit noch griechische Zungenfertigkeit, aus denen diese Form erblühen konnte, bei uns Nordischen je zu Hause war: nun, so gilt es, in allen diesen Dingen die Kluft der geschichtlichen Entfernung auszufüllen, das Fremde zu verdeutschen, das Abgestorbene durch Lebendiges zu ersetzen. Es gilt, durch die Mittel unserer Sprache die gleichen Wirkungen hervorzurufen, die der Grieche durch die seinigen erzielte; dem Pathos seiner Helden die äußere und innere Lebendigkeit wiederzugeben, die ihm damals der durch den Dichter einstudirte Vortrag verlieh; die Wirksamkeit des Chors ebenso für unser Gefühl in den dramatischen Verlauf hineinzuflechten, wie sie für das Gefühl des griechischen Zuschauers damit verwebt war; und jenen Stichomythien durch freiere Bewegung die Natürlichkeit zurückzugeben, die sie in der alten Form nur für das alte Theater haben konnten. In diesem Sinne scheint mir eine wahrhafte Aneignung der Sophokleischen Tragödien nur durch bewußte Umarbeitung möglich zu sein. Wenn man es Umarbeitung nennen will, in Plan und Handlung und Charakterzeichnung auf ’s gewissenhafteste dem Text [XV] zu folgen und nur in den Einzelnheiten der Formengebung unsre eignen Bedürfnisse zu Rathe zu ziehn. Denn ich weiß sehr wohl, wie viel Gutes die deutsche Gewissenhaftigkeit zu bedeuten hat, die jeder fremden Eigenart gerecht zu werden verlangt. Ich weiß auch, wie viel Aechtes wir unsern ringenden Nachbildungen der antiken Formen, – wie viel wir auch unsern Verirrungen zu verdanken haben. Jene tausend Experimente, jene unermüdlichen Versuche, griechisch und römisch zu werden, wie geschmeidig und reich und formfühlig haben sie unsere Sprache gemacht! Auch war es, wie immer, nöthig, daß man, um die Gränze der Möglichkeit zu finden, sie getrost übersprang. Aber diese nothwendige Blindheit hat eben auch, wie Alles, ihre Zeit, und es steht uns schon eine geraume Weile übel an, diesen Sprung in’s Zuviel
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immer Einer dem Andern wieder nachzuthun. Wohl wäre es statt dessen an der Zeit, auch an den reinen Genuß der Lebenden zu denken, und den ernsten Versuch zu machen, wie viel von der antiken Literatur sich wirklich mit Leib und Seele für die unsere gewinnen läßt. So ganz und wahrhaft gewinnen, daß man nicht mehr die ästhetische Erhebung durch hundert Verleugnungen der eigenen Art und Form, durch hundert gelehrte Unterbrechungen erkaufen muß; sondern in dem Gefühl, auf eignem Boden zu stehn und den Geist der eigenen Sprache zu empfinden, sich von der ewigen Größe des [XVI] alten Genius erschüttern, durchdringen und befreien läßt. Vermöchte ich das zu erreichen, so sollten mich alle Anfechtungen der Rechtgläubigen alter Schule nicht bekümmern. Denn nur was wirkt, ist lebendig, und nur was lebendig ist, ist treu. Ist Sophokles noch heute ein großer Dichter und ein dramatischer Meister, so muß er auch noch heute lesbar und bühnenmöglich sein; so muß er auch die Sprache unserer Poesie und die Coulissen unserer Bretterwelt vertragen können. Nicht in jedem seiner Worte und Werke – aber doch wohl in seinen Meisterstücken, da, wo reine, große Menschlichkeit, in ewig menschlichen Schicksalen, durch die staunenswertheste Kunst der dramatischen Entwickelung an unsere Seele dringt. Elektra, Antigone und König Oedipus habe ich in diesem Geiste zu behandeln gesucht. Nicht weil ich nur diese Tragödien allein für vollkommene Werke des alten Meisters halte, sondern weil sie aus bewußten und unbewußten Gründen – wie Neigung thut – sich vor den andern mir entgegendrängten. Hier steht der Uebersetzer einstweilen still, und erwartet, wie sein Publikum diese Versuche beurtheilt. Jedes Unternehmen solcher Art muß für sich selber reden; und am liebsten bräche ich hier ab, um es dem Auge und dem Wohlwollen unbefangener Leser zu übergeben. Denn wer eben nicht unbefangen ist, wer die [XVII] Nachahmung der griechischen Versmaße für unerläßlich und die Beseitigung des Chors in seiner antiken Gestalt für eine ungeheuerliche Willkür hält, den würde auch die längste Vorrede nicht aus seiner Ueberzeugung herauslocken; für den wird dieses ganze Buch nicht geschrieben sein. Aber den Parteilosen gegenüber ist wohl noch ein Wort der Verständigung nöthig. Zu sehr ist man daran gewöhnt, den Chor als einen unvermeidlichen und unersetzlichen Bestandtheil des griechischen Drama’s anzusehn, als daß man eine Uebertragung, die ihn beseitigt, ohne Mißtrauen empfangen sollte. Auch bilde ich mir ein, daß nicht leicht Jemand lebhafter als ich empfindet, wie viel Glanz und Leben über diesem Glied des alten Organismus lag, wie viel Poesie jene glücklichen Meister in ihn ausgeströmt haben. Ließe sich noch einmal einer jener Feiertage, an denen Sophokles mit seinen Nebenbuhlern vor dem ganzen Volk, vor Stadt, Meer und Himmel wetteiferte, von den Todten erwecken und vor unsern Augen wiederholen, so sollte kein Zuschauer andächtiger sein als ich, und keiner mit größerer Pietät die feierlichen Chorgesänge vernehmen. Aber die Todten stehn nicht auf, und der attische Chor läßt sich so wenig wie andere Todte erwecken. Wenn man ihn mit Mendelssohn’scher Musik bekleidet, so hat er nur ein beseeltes Gewand, aber er selbst bleibt kalt, und die moderne Hülle macht ihn nur zu etwas Anderem, nicht lebendig. Denn [XVIII] sein Wesen war nicht, gesungen, sondern verstanden zu werden. Hätte die Musik jener Tage ihn – wie die heutige – unverständlich gemacht, so hätte sie ihn vernichtet, ihn zum Geistesgenossen moderner Opernchortexte herabgedrückt. Läßt man ihn andrerseits gesprochen werden,
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damit wenigstens sein dichterischer Inhalt zum Ausdruck komme, so steht er unvermittelt und unbegründet, wie ein blasses Theorem, zwischen den handelnden Menschen. Der dritte, der Mittelweg, der einzige, auf dem seine Eigenart sich lebendig bewegen konnte, ist mit der griechischen Musik auf immer verschüttet worden. So liegt der alte Chor wie in dem verzauberten Schloß, zu dem man den Zugang nicht mehr finden kann. Seine Form ist versteinert; es fragt sich nur: wie soll man seinen Inhalt für das Leben retten? Und ich antworte: indem man ihn seiner abgestorbenen Symbolik entkleidet, seiner allgemeinen Gestalt eine schickliche Individualität verleiht, und durch diese scheinbare Vergewaltigung sein lebendiges Verhältniß zur Handlung erneuert. Aber der Himmel behüte uns davor, eine neue Schablone an die Stelle der alten zu setzen! Im Gegentheil: so wie es dem Sophokles gelang, die Fesseln des Chors zu lockern und auch in dieser scheinbar einförmigen Maske mannichfaltig zu sein, so ist dem Erneuerer das Ziel gesteckt, der Natur jedes einzelnen Falles mit freier Beweglichkeit gerecht zu werden. Seine [XIX] Aufgabe ist jedem Drama gegenüber individuell, wie jedes Kunstwerk es ist. Das Gesammtbild der Situation, die äußere Gestalt, in welcher der Chor erscheint, das Maß seines Umfanges und des Antheils, den er am Verlauf der Handlung nimmt, – diese gegebenen Elemente müssen den Bearbeiter bei seiner individualisirenden Thätigkeit bestimmen. Im „König Oedipus“ spricht der Chor in jedem seiner Gesänge die dramatische Stimmung aus, die der Gang der Ereignisse in dem theilnehmenden Volk erregen mag; – in der „Antigone“ ergeht er sich in lyrischer Freiheit, tönt sich auf ’s reichlichste in Hymnen aus, die nur noch am dünnsten Faden festgehalten über die Handlung hinwegschweben; – in der „Elektra“ kommt er nur ein paarmal für sich allein zum Wort, sonst ist er ganz in den Dialog hineingeflochten oder von der lyrischen Beredsamkeit der Heldin aufgesogen. So verlangt er jedesmal ein anderes Gesicht; so giebt er jedesmal dem ganzen Stück eine andere Farbe. Und eben demgemäß habe ich ihn abzutönen, hervorzubilden gesucht. Im „König Oedipus“ lasse ich ihn wie er ist, nur daß ich aus dem musikalischen Greisenchor eine Gesellschaft thebanischer Bürger mache, aus der sich einige redend hervorheben und mit verstärkter Wärme – immer aber dem Urtext angeschmiegt – den Gang des Schicksals begleiten. In der „Antigone“ verlangt der dichterische Glanz, der den Chor umschimmert, sein eigenes Recht: [XX] hier habe ich jede Gelegenheit ergriffen, wo sich, in bühnenmäßiger Natürlichkeit, die Feierlichkeit des Momentes lyrisch steigern ließ, und den Chor in Chöre, die symbolische Vertretung der Stadt in Sprecher der Bürgerschaft und Festzugtheilnehmer verwandelt. In der „Elektra“ endlich bildete sich mir der fremd von außen herantretende Chor der Jungfrauen zu vertrauten Dienerinnen des Hauses um, denen die Dulderin ihre Seele ausschüttet; und statt der Chorführerin ließ ich die älteste dieser Dienerinnen die nun um so herzlichere Rolle der mitfühlenden Gefährtin auf sich nehmen. Man beurtheile aus der Sache, aus der Arbeit selbst, ob ich dem Dichter wohl oder wehe gethan, ob ich die Wirkung seiner Tragödien befleckt oder gereinigt habe. Wohlverstanden, – die Wirkung auf den heutigen Zuschauer und den heutigen Leser; denn für ein alt-athenisches Publikum übersetzen wir ihn doch nicht. Und zwar die Wirkung im Ganzen, und zwar die dramatische Wirkung: denn es kann so manche einzelne
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Schönheit verloren gehn und doch das Ganze gewinnen; und es muß oft ein einzelner Reiz zum Opfer fallen, damit die Bühnenwirkung rein und völlig erscheine. Wie viel innere Ueberwindung es mich an manchen Stellen gekostet hat, den ehrwürdigen Text mit dem Messer anzugreifen, oder einen eigenen Ton, wo es unerläßlich war, hinzuzuthun, – davon rede ich [XXI] nicht; denn diese Opfer der Selbstüberwindung sollten der Sache dienen, und thun sie dies, so waren sie keine Opfer. Wo einmal die Grundbedingung: Wirkung auf heutige Menschen, in ihrem Werth erkannt ist, da gilt es, keine unabwendbare Consequenz zu scheuen. Und so bin ich auf Schritt und Tritt dem Grundsatz gefolgt: hingebende Treue überall als das Erste und Nächste zu pflegen, aber nicht über die Gränze hinaus, wo die Treue die Wirkung tödtet; vielmehr, so weit es möglich war, die bewundernswerthe Schlichtheit und Natur der Sophokleischen Charakterzeichnung in flüssiger Reinheit herzustellen; alle Glossen und Commentare durch unmittelbare Verständlichkeit des Textes überflüssig zu machen; dunkle mythologische Beziehungen, erläuterungsbedürftige Anspielungen, specifisch hellenische Wendungen und Uebergänge preiszugeben; dagegen hier und da ein eigenes Zwischenwort nicht zu scheuen, wo sich ein Mißverständniß leicht verhüten oder der Dialog mit dem allergeringsten Aufwand wohlthätig beleben ließ. Denn jedes Zeitalter hat seine eigene dramatische Lebensart, und es giebt keine ächtere Treue gegen Vergangenes, als ihm mit den Mitteln der Gegenwart dieselbe poetische Unmittelbarkeit zu verleihen, die es in seinen eigenen Tagen ausgeathmet hatte. Und hier wird denn noch ein Wort über die Versmaße zu sagen nöthig sein. Zwar könnte ich sagen: weil ich für die Bühne schreiben wollte, habe ich mich [XXII] einzig und allein an Metra gehalten, die uns geläufig sind; und diese Appellation an das Recht der Bühne könnte mich jeder weiteren Vertheidigung überheben. Aber ich setze hinzu: auch deswegen habe ich den Trimeter und die antiken Strophengebäude abgewehrt, weil ich es für unmöglich halte, sie unserer Sprache so zu eigen zu machen, wie sie der griechischen eigen waren, und weil jede halbe Aneignung Halbwahrheit und Untreue in sich schließt. Ich meine: Niemand kann mit Fug bestreiten, daß wir fähig sind, Trimeter, Anapästen, Glykoneen, Tetrameter u. s. w. im Einzelnen glücklich zu bilden; und wäre es nicht schon oft genug geschehn, so müßte man noch heute anfangen, unsrer Sprache diese edlen Künste abzugewinnen. Aber etwas Anderes ist es doch, ob wir den Trimeter so behandeln können, daß er, zu vielen Hunderten auftretend, uns als ein dramatisches, lebendiges und leichtes Maß – wie er es den Griechen war – ohne Ermüdung gefällt; und ob die einzelnen Metra der Strophengebäude sich in derselben Verbindung, in der sie in den Urbildern auftreten, auch im Deutschen als poetische Form empfinden lassen. Der Trimeter, behauptet man wohl, sei unserer Sprache durchaus nicht fremdartiger als der Hexameter; aber der deutsche Dichter soll noch gefunden werden, der in ähnlicher Weise, wie Göthe im Reineke Fuchs den Hexameter, so den Trimeter in dramatischen Gedichten von anderthalbtausend [XXIII] Versen so mannichfaltig und warm beleben könnte, daß wir – laut oder leise – immer fortlesen möchten (geschweige sie spielen sehn), ohne uns auf das ungeduldigste aus diesen Versen herauszusehnen. Denn es ist uns Deutschen unmöglich, auf die Länge die dipodische Natur des Trimeters festzuhalten, unmöglich, seine Einförmigkeit so reich zu vervielfachen, wie es der Grieche vermochte, – von andern Conflicten mit dem in-
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nersten Bau unserer Sprache nicht zu reden; und wie wir uns auch anstellen mögen, er erklingt bei uns (wenn wir ihn nicht haltungslos zerflattern lassen) ernst und schwer, während er den Griechen ein bequemes, flüssiges Maß war – während er ihnen eben das war, was uns der moderne fünffüßige Jambus ist. Was aber vom Trimeter gilt, das gilt von den Chormaßen in gleichem oder in noch höherem Grade. So lange ein bestimmtes, lebendiges Versmaß, wie etwa der Anapäst, eine Weile gleichmäßig wiederkehrt, oder mit ähnlich ausgeprägten und leichtvernehmlichen wechselt, so lange zwar sind wir fähig mit Genuß zu folgen; aber sobald die rein griechischen Kunstmittel, Quantität und Rechnung und die Empfindung des musikalischen Flusses, den der Dichter als sein eigener Componist mitgebar, – sobald diese in der Nachahmung alleinherrschend auftreten, will ich Den sehen, der die Form – zumal von der Bühne herunter – noch ästhetisch nachzuempfinden vermag. Man [XXIV] schlage die versgetreuen Uebersetzungen auf: fast in jedem Chorgesang wird man – neben kräftigen Rhythmen – jene charakterlosen Streckverse finden, die man abbrechen könnte, wo man will, denen gleichsam ihre musikalische Seele entflohen ist. Der Dichter gab ihnen Musik: diese Musik ist verloren; er gab ihnen einen dramatisch-lyrischen Vortrag: diesen Vortrag kennen wir nicht mehr, oder streiten um ihn. Nur die Verstheilung ist uns geblieben, die das Mittel war für einen erstorbenen Zweck; und nichts bedingt sie mehr, als die antistrophische Messung, die kein menschliches Ohr vernehmen kann. Sie hat noch einen geschichtlichen, – keinen ästhetischen Werth; wozu denn im Deutschen sie festhalten? Erst wenn man sie durch freie Lösung uns vertrauter Rhythmen zu ersetzen sucht, wird der Vers wenigstens wieder Flügelschwung und einfach an’s Herz dringenden Wohllaut gewinnen können. Stets hat man es denn auch wieder aufgegeben, den Trimeter in unsere eigene Production als dramatisches Versmaß einzuführen, nur gelegentlich abwechselnd aufzutreten und die Feierlichkeit einer einzelnen Scene zu erhöhen, – nur das hat man ihm mit Erfolg zumuthen dürfen. Oder wo er in Göthe’s Pandora und im zweiten Theil des Faust ein breiteres Feld gewinnt, da hört er eben auch auf, dramatisch lebhaft zu sein – da ist er dem Trimeter des Sophokles so ähnlich, wie der zweite Theil des Faust dem [XXV] ersten ist. Und so war es denn natürlich, daß man schon früh darauf verfiel, ihn auch aus den Uebersetzungen zu verbannen. Dem Leser wird die Schiller’sche Uebertragung der „Iphigenie in Aulis“ des Euripides bekannt sein, in der an die Stelle des Trimeters unser fünffüßiger Jambus, an die Stelle der Chormetra freie gereimte Strophen traten. Und unter allen dramatischen Uebersetzungen aus dem Alterthum ist keine, die sich so glücklich und rein, wie diese, genießen läßt. Nur daß sie freilich der hingebenden Objectivität ermangelt, die dem jugendlichen Genius Schiller’s zu ferne lag; daß sie ungriechischer und moderner ist, als das Prinzip der künstlerischen Freiheit verlangt hätte. Und insoferne trifft sie auch der Vorwurf des Zwitterhaften, den Schiller (in seinen Anmerkungen) beinahe sich selber macht, als die gereimte Behandlung der Chorgesänge, statt sie dramatischer zu machen, nur ihren lyrischen Charakter steigert und sie dem Organismus des Ganzen nur noch stärker entfremdet. Aber dieser erste Anlauf, so gelegentlich, so wenig prinzipiell durchdacht er war, mußte doch die Richtung auf das gleiche Ziel immer wieder hervorrufen; denn er hatte den Weg gezeigt, auf dem sich der wahrhaft dramatische Gehalt der Antike wirklich für unsere Literatur
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erobern läßt. Es ließe sich eine ganze Reihe mehr oder minder freier Bearbeitungen Sophokleischer Tragödien aufzählen, die in den letzten drei [XXVI] oder vier Jahrzehnten entstanden sind. Ich kenne sie nur zum Theil; – aber ich bekenne, mir ist keine begegnet, in der ich mein Ideal erfüllt und ein lebendiges Prinzip vollkommen durchgeführt gesehen hätte. So scheint mir z. B. nichts gewonnen, wenn Oswald Marbach, der eine vollständige freie Uebersetzung des Sophokles veröffentlicht hat, die Chöre so nimmt, wie sie sind, und sie nur in gereimte Strophen bringt – meist in gereimte Trochäen, wie im spanischen Drama. Der Dichter bleibt unaufführbar, und man hat ihm nur modernen Aufputz gegeben. Ueberhaupt ist Marbach, um nicht griechisch zu bleiben, lieber spanisch geworden: so läßt er Antigone ihre letzte Klage – im Dialog mit dem Chor – in Octaven ausjammern; Kreon spricht in der Schlußscene, wo er mit Hämon’s Leiche kommt, in beständigen Trochäen-Reimen; desgleichen Antigone und Ismene (mit dem Chor) am Schluß des „Oedipus in Kolonos“; und so überall, wo im Original wechselnde Rhythmen ertönen. Es kann nicht fraglich sein, ob die Fremdheit der griechischen Versmaße mit der Fremdheit der undramatisch singenden und klingenden Reimpaare und Reimstrophen zu vertauschen, irgend wünschenswerth ist. – Doch die Vorrede wird ein Buch. Man vergönne mir nur noch zum Schluß, an dieser Stelle zu sagen, was ich nicht in gesonderte Anmerkungen zu den ein[XXVII]zelnen Stücken zerreißen möchte: nämlich, was für Freiheiten im Einzelnen jede einzelne Aufgabe nöthig gemacht hat. In der „Elektra“ wird man bemerken, daß ich nicht bloß der Vertreterin des ursprünglichen Chors (der Leukonoe), sondern auch dem Erzieher des Orestes einen eigenen Namen gegeben habe. Es klingt im Deutschen pedantisch, ihn „Erzieher“ oder „Pfleger“ zu nennen; und Sophokles (denn er war wirklich kein Pedant) würde heute der Erste sein, ihm einen ehrlichen Namen zu bewilligen. Dagegen habe ich es vermieden, den stummen Begleiter des Orestes Pylades zu nennen, wie es beim Dichter geschieht, – weil man nun einmal heutzutage von einem Pylades mehr erwartet, als diese stumme Theilnahme des Bedienten. Endlich habe ich einen Theil der Worte des Chors (V. 479–502), weil sie mir nur so zu voller Wirkung zu gelangen schienen, der Elektra in den Mund gelegt. Im „König Oedipus“ ist der kurze vierte Chorgesang (V. 1086–1109), worin, auf uns widerstrebende Weise, der höchste Moment vor der Peripetie durch eine an’s Ironische anklingende Vergötterung des Unglücklichen in die Länge gezogen wird, ganz beseitigt, und nur durch ein rasches Wort der nothwendige Uebergang im Dialog hergestellt worden. Ich habe vorzüglich in der Wirkung auf Andre gesehen, wie un[XXVIII]heilbar fremdartig dieses Chorlied unser Gefühl verwirrt und durch den undramatischen Aufenthalt erkältet. Ein poetischer Werth geht damit nicht verloren. Im Dialog war es unerläßlich, die allzu häufigen und oft allzu nackten Wiederholungen der Gräuel zu kürzen, in welche sich Oedipus verwickelt sieht. Jedes Uebermaß ist hier unserer tragischen Empfindung tödtlich. Desgleichen habe ich die Hinweisung auf Oedipus’ ferneres Schicksal und Ende (wie es der „Oedipus in Kolonos“ darstellt) in V. 1455–58 weggelassen; eine Anspielung, die mit dem gegenwärtigen Stücke nichts zu
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thun und nur für den trilogischen Zusammenhang der drei Tragödien eine Bedeutung hat. In der „Antigone“ – und nur hier – habe ich den Versuch gemacht, die Handlung in drei Acte zu zerlegen. Diese Zerlegung schien (bei den Bedingungen unserer Bühne) nothwendig, weil die Handlung sich über einen ganzen Tag erstreckt und die Idealität der Zeit sowohl wie des Raumes, die sich für den Griechen in Chor und Orchestra aussprach, für uns Heutige nicht mehr gilt. So kann, was Hämon von der Stimmung und dem Urtheil der Stadt erzählt, nicht während des Einen voraufgehenden Gesanges sich ereignend gedacht werden; so bedarf es einer Zeitpause, wenn Teiresias von der Entweihung der ganzen Stadt durch den umhergeschleppten Aasgeruch des Leichnams berichten soll. Dann schien diese Dreitheilung nützlich, [XXIX] um alle die äußeren und inneren Vortheile des Scenewechsels und der Ruhepunkte zu erreichen; und sie war möglich, weil nicht, wie in der Elektra und dem Oedipus, der Knäuel der Handlung eine ununterbrochene Abwickelung verlangt. Zwischen dem zweiten und dritten Act ist der Chorgesang (V. 944–987), dessen mythologische Trockenheit und Kälte nach der voraufgegangenen wunderbaren Scene für uns ohne Inhalt wie ohne Seele ist, hinweggefallen. Ich bin gewiß, daß keine empfindende Seele ihn vermissen wird. – Aus chronologischen Gründen habe ich auch einige unscheinbare Aenderungen im zweiten Bericht des Wächters nicht vermeiden dürfen. Wie ich endlich das lyrische Element des Chors zur Geltung zu bringen gesucht – wobei freilich einige Opfer unerläßlich waren – das wolle man im Stücke selber nachsehen. Meine Aufgabe war, den Gesängen so viel theatralische Lebendigkeit wie irgend möglich zu geben. Der erste von ihnen forderte zu sehr den Reim heraus, als daß ich dieser Versuchung widerstanden hätte. Es ist ein Versuch, und der einzige dieser Art. Zu diesen Gesängen wäre nun freilich die Hülfe eines berufenen Componisten zu wünschen. Indessen ist auch die Möglichkeit geblieben, Alles sprechen zu lassen: wobei denn anstatt der Chöre Einzelne, in angemessenem Wechsel, das Wort zu nehmen und durch feierlichen Vortrag zu heben hätten. [XXX] Ueber das Satyrspiel endlich, das ich den drei Tragödien angehängt, über den „Cyklopen“, wird noch ein Wort der Erklärung nöthig sein. Mir und Andern schien es wünschenswerth, diesem Buch einen griechisch fröhlichen Schlußact zu geben. Von Sophokles’ Satyrspielen ist aber bekanntlich keins auf uns gekommen; vielmehr die einzige Posse, die aus dem ganzen Alterthum übriggeblieben – da man die satyrischen Comödien des Aristophanes doch wohl nicht Possen nennen kann – diese einzige, älteste und somit ehrwürdigste Posse ist eben der „Cyklop“ des Euripides. Ich habe mich lange verwundert, warum ein so merkwürdiger und classischer Ueberrest aus heiteren Tagen, dieses Urbild eines Fastnachtschwankes, und zugleich ein so reiner Abdruck griechischer Grazie der Ausgelassenheit, doch selbst unter eifrigen Freunden des Griechenthums so wenig bekannt sei. Endlich bildete ich mir ein, daß es nur eines kecken Entschlusses und einer ungezierten, unpedantischen Munterkeit bedürfe, um diesen halbbegrabenen Schwank wieder in’s Leben zu ziehn. Ich glaubte zu sehn, daß vollends hier die philologische Treue tödtlich sei; daß jeden Zug des Originals mit ängstlichem Finger nachmalen, den griechischen Plauder-Trimeter in die spanischen Stiefel unseres Pseudo-Trimeters einschnüren, den specifisch griechischen Humor in
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specifisch nichtdeutschen Wendungen copiren, – daß dies nichts anderes heiße, als den Griechen und den [XXXI] Deutschen zugleich verrathen, und über den eigentlichen Spaß des Spasses einen künstlichen Vorhang ziehn. Denn nirgends ist freie Bewegung nöthiger, als beim Humor, und nirgends ist Wörtlichkeit verderblicher, als bei Possen und Witzen, die fast das halbe Pyramiden-Alter erreicht haben. So sind denn hier die Chöre völlig freie Nachbildung, individualisirt, auf moderne, graziös heitere Musik berechnet; die Trimeter in Prosa aufgelös’t, der Dialog oft ein wenig „aufgemuntert“ – vor Allem da, wo der Spaß, den ein Athener ohne Weiteres als solchen verstand – z. B. die persiflirende Advokatenrede des Odysseus – eine nachdrückliche neue Einführung verlangte. Auch schien es mir nöthig, in einer für die Bühne berechneten Posse nur die allergeläufigsten mythologischen Namen zu gebrauchen: also nur Bacchus (statt Dionysos, Bromios etc.), Juno statt Hera. Und zuletzt verstand es sich von selbst, daß das Obscöne beseitigt oder durch andern, harmlosen Scherz ersetzt ward. Diesem Bedürfniß ist die kleine Ariadne-Episode entsprungen, die man harmlos hinnehmen wolle; wobei mir zugleich nützlich und gut erschien, auch die Satyrn mit Bacchus in heitre Verbindung zu bringen und die armen Kinder nicht vor den Augen des Publikums verdursten zu lassen. Doch genug der Erklärung; ohnehin wäre Alles umsonst, wenn sich die Sache selbst nicht zu erklären [XXXII] vermöchte. Vielleicht, daß mit der Zeit sich stille Hoffnungen verwirklichen, und diese Verdeutschungen nicht nur in die Hände wohlwollender Leser, sondern auch hier oder dort auf die Bretter der Bühne gelangen und der Feuerprobe unterworfen werden, an die bei jeder Zeile der Arbeit gedacht worden ist.
Wilhelm Jordan Wilhelm Jordan (1819–1904), Schriftsteller und Übersetzer, hatte in Königsberg Theologie und Philosophie studiert. Nach seiner Promotion (1842) arbeitete er als freier Schriftsteller und Publizist in Leipzig. Aus politischen Gründen aus Sachsen vertrieben, ging er zunächst nach Bremen, dann als Korrespondent der Bremer Zeitung nach Paris. 1848 wurde er in das Paulskirchenparlament gewählt, wo er erst der linken, später der rechten Fraktion angehörte. Aus einer kurzzeitigen Tätigkeit als Ministerialrat in der Marineabteilung des Handelsministeriums (1848–1849) bezog er in der Folge eine Pension, die es ihm ermöglichte, sich bis an sein Lebensende seinen literarischen Interessen zu widmen. Jordan veröffentlichte mehrere Gedichtbände, verfasste Dramen und Romane und verarbeitete den Stoff der Nibelungensage zu einer neuen epischen Erzählung, die er auf zahlreichen Rezitationsreisen auswendig vortrug. In seiner Übersetzung erschienen Shakespeares Gedichte (1861), Die Tragödien des Sophokles (1862), Homers Odyssee (1875) und Homers Ilias (1892). Übersetzungstheoretische Äußerungen Jordans finden sich vor allem in den ausführlichen Vorworten zu den drei letztgenannten Werken. Insbesondere das Vorwort zur Odyssee fand in der Diskussion der Folgezeit Beachtung. Jordan vertrat, ähnlich wie Adolf Wilbrandt, ein Übersetzungskonzept, das sich von der sogenannten philologischen Übersetzungsmethode, also dem wort- und versgenauen Übertragen antiker Dichtung, abgrenzte und stärker die performative Wirkung auf das zeitgenössische Publikum in den Blick nahm. Der ursprünglichen Funktion antiker Dichtung entsprechend, sollte auch eine Übertragung durch dramatische Aufführung bzw. rhapsodischen Vortrag – Jordan verstand sich selbst als moderner Rhapsode – eine unmittelbare Wirkung auf das zeitgenössische Publikum ausüben.
Einleitung Aus: Homers Odyssee, übersetzt und erklärt von Wilhelm Jordan, Frankfurt a. M. 1875, V–XLII.
Es ist fraglich, ob wir auch nur für den fünften Theil des homerischen Sprachschatzes deckende deutsche Ausdrücke aufzutreiben vermöchten, wenn wir auch in der Wahl weder durch eine Versregel, noch durch andere Kunstgesetze der Poesie beschränkt wären. Unsere bestvertretenden Worte bedeuten selten genau dasselbe, weit öfter nur nächstvergleichbares aber immer noch erheblich verschiedenes. Hier nur ein paar aus den hundertweise verfügbaren Beispielen. φρην und φρενες bedeuten eigentlich das Zwerchfell; dann, weil dieses die Blasebalgmechanik des Athmens, der mit ihm verbundenen wallenden Bewegung besorgt, dieses Wallen, griechisch θυμος, den Lebenshauch, das Gemüth, den Geist; ferner, weil
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es von den übrigen Eingeweiden die edleren, Lungen und Herz, scheidet, das der Brust und dem Herzen zugeschriebene Fühlen, Wollen, Denken, Bewußtsein, den Verstand. Mit diesen Abstracten müssen wir es je nach der vorwiegenden Meinung der Stelle übersetzen, obwohl sie Begriffe ausdrücken, welche in solcher Sonderung und Schärfe dem Menschen des homerischen Zeitalters noch fremd waren, und obwohl die betreffenden Worte den Stämpel der langen Entwicklungsgeschichte tragen, welche [VI] sie sprachlich ausgeprägt hat. So geläufig es uns ist, das Wort „Sprache“ zu setzen und setzen zu müssen, wo ältere Völker nur „Zunge“ gesagt haben und selbst die meisten neueren nur „Gezüngel“ (langage und language) zu sagen wissen: wir dürfen nicht vergessen, daß der Unterschied ein bedeutender ist und daß eben nur Wir und einige andere reine Germanen den gewaltigen Gedankenschritt der Lösung dieser höchsten Menschenleistung von einem ihrer Organe ganz gethan und mit der Ausmünzung eines eigenen Lautgebildes endgültig vollzogen haben. Für ἱστος besitzen wir ein streng deckendes Wort, können es aber zur Uebersetzung nicht brauchen. Es bedeutet genau „Ständer“, dann eine Verbindung mehrerer Ständer, ein Gestell. Im Griechischen geht für die Anschauung der Begriff des aufrecht stehenden Gerüstes auch in der Specialisierung nirgend verloren. Jetzt ist es der Ständer im Schiff, der die ἱστια, nachgeahmt etwa „Ständerlinge“, trägt, und wie wir die letzteren, von anderem Begriff ausgehend, nur mit „Segel“ wiedergeben können, so müssen wir es in diesem Fall übersetzen mit „Mast“, obwohl nur etwa der Einsetz- und Aushebemast unserer kleineren Fahrzeuge mit dem homerischen einigermaßen zusammentrifft. Dann wieder wird es zum Gestell, welches zum Weben mit den Aufzugs- oder Kettenfäden senkrecht bezogen wird. Da nun werden wir es, um mit einem Worte die nächstzutreffende Anschauung zu wecken, mit „Webstuhl“ übersetzen, obwohl uns dies Wort eine wesentlich andere Vorrichtung für liegende Fäden und mit einem Sitz für den Webenden zeichnet. [VII] Es verräth also einen hohen Grad von Unwissenheit, eine wörtliche Uebersetzung überhaupt für möglich zu halten. Nicht einmal zwischen gleichzeitigen Sprachen ist sie durchzuführen. Sie wird um so mehr zum Unding, je größere Zeiträume die Lebensstufen beider von einander scheiden. Vers aber und oberste Forderungen der Poesie gebieten nicht selten, sogar solche Worte zu meiden, die das nächstvergleichbare bezeichnen, und statt ihrer minder zutreffende zu wählen. Hiefür nur ein Beispiel aus dem eben berührten Handwerk. Die Arbeit am aufrecht stehenden griechischen Weberahmen geschah, indem man zwischen dem Zettel den Einschlagsfaden durchzog vermittelst eines der Länge nach mit ihm bewickelten Stäbchens, κανων, am nächsten vergleichbar der hölzernen Netznadel, mit welcher unsere Fischer ihre Garne stricken. Was aber an unserem Webstuhl der Schlag des Kammes auf einen Tritt besorgt, das Festdrücken des Einschlags im Zettel, das mußten viele Schläge der κερκις bewirken, eines Handklöpfels, der vermuthlich mit mehreren Zinken versehen und kammartig gestaltet war. Das kann man, wie hier geschieht, erklären, aber nun und nimmer [sic]dem ungelehrten deutschen Zuhörer anschaulich machen, wo nur für wenige Worte Versraum vorhanden ist. Schauen thut der Hörende nur da, wo das Vernommene die Erinnerung von Selbstgesehenem aufruft. Der Nachbildner wird also, um die Haupteigenschaft der epischen
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Poesie, die Anschaulichkeit für den Hörer, zu bewahren und ihm die webende Kalypso sichtbar zu machen, einer jedermann geläufigen Erinnerung den Vorzug geben und den Halbvers χρυσειῃ [VIII] κερκιδ’ ὑφαινεν trotz besseren Wissens übersetzen: „und wob mit goldenem Schiffchen“, als stünde nicht κερκιδι sondern κανωνι (obwohl auch vom letzteren unsere im Nächlein hin und her schießende Spule noch sehr verschieden ist); denn wenn ich übersetzte „mit goldenem Schlägel“ oder „Klöpfel“, so würde ich damit dem Lauscher einen Vers von poetischer Schönheit mit einem undurchsichtigen Fleck behaften. Unsere von achtzig Menschengeschlechtern weiter gebildete Sprache ist also ein so sehr andersartiger Stoff, daß wir in ihm die Erneuerung der alten Dichtung gar nicht unternehmen können ohne ähnliche Verzichte, wie sie etwa dem Architecten geboten sind, wenn er mit Ziegeln in griechischem Style bauen, oder dem Kupferstecher, wenn er ein Oelgemälde nachahmen soll mit seinen Punkten und Strichen. Gleichwohl haben meine Vorgänger in diesem Stoff gearbeitet, als sei es möglich und ihre Aufgabe, die Werke Homers Denjenigen zu ersetzen, die dessen gar nicht bedürfen: den gelehrten Kennern der Urschrift. Diese vor allen zufrieden zu stellen und jeder Einwendung ihrerseits vorzubeugen ist unverkennbar ein Hauptbestreben der bisherigen Uebersetzer gewesen. Ich ziehe der poetischen Nachbildung Homers die Grenzen des Erreichbaren sehr viel enger, stelle dagegen weit höhere Forderungen innerhalb dieser Schranken. Solche Philologen, denen ihr Fachstudium die feine Linie nicht verdunkelt hat, welche die Nachbildung einhalten muß, wenn sie Poesie bleiben will, werden mir nicht allzuoft ihre Zustimmung versagen. Ihre scharfe Prüfung habe ich nicht zu scheuen und wird mir dieselbe sehr willkommen sein. Denn [IX] Sie nur sind befähigt, mir die beträchtlich gesteigerte Richtigkeit meiner Wiedergabe, die feinere und genauere Ausschöpfung des Originals zu bezeugen. Gleichwohl muß ich bekennen, daß mir das Trachten nach ihrem Beifall wenigstens nicht oberstleitend gewesen ist. Was ich zuerst erstrebt, war mein eigener Genuß. Als ich darauf an der Lustarbeit von mehr als einem Vierteljahrhundert auch den Schliff nach den Kunstregeln des erfahrenen Rhapsoden und selbstschaffenden Epikers vornehmen konnte, leitete mich dabei die Voraussetzung einer Zuhörerschaft, bestehend aus gebildeten Sprachgenossen die des Griechischen nicht, oder doch nicht genügend mächtig wären. Solchen bin ich bemüht gewesen, das vollendetste Epos des Alterthums eigen zu machen in einer Gestalt, die an vergnüglicher und erbaulicher Poesie der des Vorbildes, an schlichter Faßlichkeit und herkömmlichem Ausdruck einer deutschen Originaldichtung nahe komme. Daraus erklärt sich, was ich weniger als meine Vorgänger geleistet zu haben bekenne, und was ich mehr erreicht zu haben hoffe. Ihr merkliches Bestreben, sogar die griechische Wortfolge beizubehalten, hat mir die deutsche Redeweise verboten. Auch die Wahl derselben Wortgattungen und nächstgleichen Wortformen wird man bei mir weit mehr vermissen. Ich erziele die Leistung eines Eigenschaftswortes nicht selten durch ein Zeitwort, Hauptwort, Adverb, und abwechselnd umgekehrt, wovon einige Fälle in den Anmerkungen erwähnt sind. Selbst auf die deckende Versfolge, die meine Vorgänger auf ’s strengste einzuhalten
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bemüht waren, hat meine Uebersetzung vielfach verzichten [X] müssen. Unsere andere Denkweise und Satzordnung machten es bei meinem Plan sehr oft zur Pflicht, einen nachfolgenden Vers oder Halbvers voranzustellen. Auch habe ich zuweilen einen griechischen Hexameter nicht anders als mit deren anderthalb in gutem Deutsch wiederzugeben gewußt. Ferner kommt es vor, daß ich drei mit zweien und selbst zwei mit nur einem erschöpfen konnte. Beides macht die beibehaltene griechische Zählung an der Seite erkennbar. Natürlich aber können diese Stellzahlen, nach dem zuvor gesagten, nur annähernd zutreffen. Zuweilen hat auch das Original unzweifelhafte Verwerfungen erlitten, deren Berichtigung ebenfalls die Seitenziffer anzeigt, meistens auch eine Anmerkung begründet. Ein wörtlicher Abklatsch ist also meine Arbeit nicht. In dieser Art von Treue übertreffen mich die bisherigen Uebersetzer. Dagegen macht mein Werk Anspruch auf eine Treue höherer Gattung, welche man bisher nicht einmal zu erstreben gewußt hat. Mit dieser Behauptung will ich meinen Vorgängern, auch den neueren, Wiedasch, Uschner, Donner,1 weder gute Kenntniß des Griechischen, noch gewissenhaften Fleiß absprechen. Voß vereinigte mit bewundernswürdigem Vollbesitz beider Eigenschaften den annähernd genügenden einer dritten: zur Wiedergabe der über zehntausend griechischen Worte Homers haben ihm ungefähr neuntehalbtausend deutsche zur Verfügung gestanden, worin selbst Nachfolger hinter ihm zurückbleiben, obgleich sie starke Bezüge aus seiner Münzstätte gemacht hatten. Ja, seine erste Ausgabe zeigt das oft gelungene Bestreben, [XI] diesen beträchtlichen Wortschatz auch zu üblichen, der Natur unserer Sprache gemäßen Wendungen zu verbinden. Leider aber ließ er sich von dieser glücklich getroffenen Richtung bei jeder folgenden Auflage weiter abdrängen. Er suchte nicht nur strenge Daktylen, sondern auch wirkliche Spondäen, welche Uns nun einmal gar nicht oder doch nur äußerst sparsam zur Verfügung stehen. Er bemühte sich, die Trochäen möglichst auszumerzen und trachtete so, sein Deutsch hineinzumartern in das Hexameterschema einer Metrik, welche schon für das Griechische großentheils auf Mißverstand beruht, für unsere Sprache aber allen Sinnes entbehrt. Den heilsamen Hemmschuh auf dieser abschüssigen Bahn, sein angeborenes Sprachgefühl, verschliß er mehr und mehr in der Gewohnheit, sich zu jeder Ostermesse einen lateinischen oder griechischen Poeten einzuschlachten, bis es ihm zuletzt zur anderen Natur geworden war, nur noch griechisch und lateinisch mit deutschen Worten zu schreiben. So hat er seinen anfangs noch so ziemlich deutschen Homer, in gutem Glauben ihn fortwährend zu verbessern, mit jeder Feilung minder genießbar gemacht für Leser von unverbildetem Geschmack und Erbsinn für die Natur der Muttersprache.
_____________ 1
[Ernst Wiedasch, Homers Werke, metrisch übersetzt von E. W., Stuttgart 1830-1843; Karl Uschner, Homers Gedichte, im Versmasze der Urschrift uebersetzt von K. U., Berlin 1861; Johann Jakob Christian Donner, Homer, Deutsch in der Versart der Urschrift von J. J. C. D., Berlin/Stuttgart 18551906.]
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Ausreichend übrigens zur Vollwechselung eines sprachlichen Krösus unter den Dichtern ist das Betriebskapital an deutschen Worten und Wendungen noch bei keinem meiner Vorgänger gewesen. Weit mehr beeinträchtigend aber ist ein zweiter, allen bisherigen Uebersetzern Homers gemeinsamer Mangel. Was sie nachzubilden unternommen war das vollendetste der epischen Kunstwerke, und von der epischen Kunst hatten sie [XII] gleichwohl keinen Begriff, noch konnten sie ihn haben, da es zu dieser schlechterdings nur einen Zugang gibt: die Ausübung des Rhapsodenberufes. Da dieser Mangel auch die Möglichkeit fern hielt, sich seiner bewußt zu werden, so arbeiteten sie getrost darauf los in der naiven Zuversicht, daß aus der erreichbar genauesten und bis in’s Kleinste getreuen Abformung alles Einzelnen auch ein getreues Nachbild des Ganzen herauskommen müsse. Auch wäre dies Vertrauen kein Wahn, wenn es nicht leider unmöglich wäre, irgend ein Einzelnes eines Kunstwerkes zu sehen und erkennen als das, was und wie es das ist, ohne zuvor seinen Dienst im Ganzen verstanden zu haben und zu wissen, was es zu leisten habe bei Verwendung des Kunstwerkes, im Epos also beim Gehörtwerden in Rhapsodieen. So mußte es ihnen ergehn wie jenem chinesischen Schneider, welcher noch niemals eine Hose gemacht, aber im Vertrauen auf seine sonstige Geschicklichkeit es dennoch übernommen hatte, einem englischen Hauptmann einen Satz Beinkleider für die Compagnie herzustellen. Seine Nachbildungen einer alten Musterhose waren dieser in der That mit erstaunlicher Genauigkeit Stich um Stich nachgenäht, aber jeder derselben war, wie zufälligerweise dem Vorbilde, am Knie ein abgezirkelt gleiches Flick aufgesetzt. Zunächst ist dieser Vergleich in aller Strenge zutreffend. Alle später auf- und eingehefteten Flicke, welche die homerische Dichtung verunstalten, sind von unseren Nachbildnern mit chinesischer Sorgfalt der deutschen Odyssee einverleibt worden, auch die allerblödsinnigsten, wie z. B. die Uebertragung der Flügelsandalen des Hermes auf Pallas Athene, und die [XIII] sinnzerstörendsten, wie z. B. die Vorwegnahme des Verses IX, 15 hinter VII, 241. (S. d. betr. Anmerkung.)2 Diese gröblichen, von mir erwiesenen Entstellungen waren freilich überhaupt unbemerkt geblieben und hatten die Weihe von Jahrtausenden. Aber auch von solchen Versen, welche längst und zum Theil schon vom Alterthum einstimmig verurtheilt waren, haben sie die Unächtheit nur ausnahmsweise durch Einklammerung angedeutet. Hier nun hat gewiß schon mancher Leser die Frage auf den Lippen: Wie? Du vermissest dich, den Homer eigenmächtig zu corrigiren? Du hast solche Verse ausgelassen? Beruhigen Sie sich, Verehrtester. Auch bei mir finden Sie jeden Hexameter übersetzt, er sei noch so unächt und einfältig, die hinzugefälschten aber in der Regel mit ihrer Stellungsziffer unter den Text verwiesen. Nur für die umfangreicheren und zum Theil auch poetisch werthvollen Einschaltungen bringe ich die Einklammerung in Anwendung, um nicht durch Kleindruck das Lesen unbequem zu machen. Wo hinge_____________ 2
[Vgl. Wilhelm Jordan, Homers Odyssee, übersetzt und erklärt von W. J., Frankfurt a. M. 1875, 494 ff. Anm. 4.]
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gen stereotype Verse, die schon mehrmals dagewesen sind, als falsche Einschaltung wiederkehren, begnüge ich mich, am Fuß der Seite auf die Stellen zu verweisen, an denen man sie übersetzt findet. Doch kommt auch zwei- oder dreimal der umgekehrte Fall vor, daß einer dieser sterotypen Verse durchaus unentbehrlich ist und im Original dennoch fehlt. Man findet ihn dann unter Hinweis auf eine Anmerkung in eckigen Klammern der Uebersetzung einverleibt. Ferner aber gilt jener Vergleich auch für die Zufälligkeiten des ächten Textes. Sie muß der Nachbildner [XIV] vom Wesentlichen zu unterscheiden wissen, wenn sein Werk gelingen soll, und das ist nicht möglich ohne Kenntniß der Grundgesetze der Kunstgattung. Was ich verstehe unter Zufälligkeiten, denen schon der Dichter selbst unterworfen gewesen, will ich versuchen deutlich zu machen durch meine Theorie der poetischen Störungen. Störungen. Jede Dichtung ohne Ausnahme zeigt ein Ringen mit ihrer Form. In keiner ist es immer siegreich, sondern oft nur ein Davonkommen, eine nothdürftig vertuschte Niederlage. Das Ideal des schattenlos klaren Gedankens und das Ideal des reinen Wohllauts bei strenger Erfüllung des musikalischen Formgesetzes bilden das Parallelogramm der Kräfte, durch welche die Versarbeit des Dichters in der Diagonale, der Schönheitslinie, fortrückt, – etwa wie der Planet seine Ellipse beschreibt indem er gleichsehr trachtet, in die Sonne zu fallen, als in das Sternenall hinaus zu fliegen. In Wahrheit jedoch erleidet die Bahn des Planeten Störungen und ist niemals eine Ellipse, sondern eine verwickelte Kurve, welche diese Ellipse bald nach innen, bald nach außen schneidet und überschwillt. Denn der Planet ist nicht ein Punkt, sondern ein ausgedehnter Körper von nicht vollkommen regelmäßiger Form, und wird nicht nur von der Sonne, sondern auch von einer Menge anderer Planeten, und in jedem Augenblick anders, angezogen. Aehnlich nun beschreiben die Verse jeder Dichtung eine Wellenlinie auf der Schönheitslinie, weil die schaffende Kraft [XV] des Dichters, ob auch noch so groß, eine beschränkte, weil sein Geist, ob auch noch so genial und seinem Zeitalter noch so weit voraus, doch auch den Meinungen, dem Geschmack, der Mode dieses Zeitalters vielfach unterthan bleibt; endlich aber, weil er zu arbeiten hat in einem Material von widerstandleistender Sprödigkeit, der Sprache, die schon von andern vor ihm geformt wurde, und zunächst nicht für die Zwecke seiner Kunst, sondern für den Marktverkehr und die Bedürfnisse des Lebens. Die Ausbiegungen sind bald größer, bald kleiner. Wo sie für die Wahrnehmung verschwinden, da ist die Wirkung das reinste Entzücken. Immer aber kann der Vers jene Linie nur hin und zurück schneiden, niemals genau und dauernd in ihr fortschreiten. Die Möglichkeit der astronomischen Berechnung der Planetenbahnen beruht darauf, daß man aus der gewellten Linie der wirklichen Bahn die nicht vorhandene ideale Ellipse dennoch erkennt und auf sie die sogenannten Störungen aufgetragen denkt. Ebenso kann die Nachahmung poetischer Kunstwerke nur dadurch gelingen, daß der Nachbildner die vom Original nicht eingehaltene, aber erstrebte Schönheitslinie aus
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den Abweichungen nach beiden Seiten in scharfer Annäherung bis zu den feinsten Integralen abzuleiten und zu schauen vermag. Diese und nur diese, im Original nicht unmittelbar vorhandene Linie muß er, darf er einzuhalten streben. Als Nachbildner hat er ja nicht wie der Dichter des Originals die Freiheit, zu besserer Erfüllung der Form den Inhalt abzuändern, sondern ist doppelt gebunden, sowohl an den Vers als an das in ihm vorgetragene. Wenn er mit einem alten Poeten zu thun hat, bleibt er überdies [XVI] von der ersten bis zur letzten Zeile verurtheilt zu dem unentrinnbaren Anachronismus, die Vorstellungen der Vergangenheit nur ausdrücken zu können mit Worten, welche bis in ihr feinstes Gefäser durchtränkt sind von einer Fülle neuer und vormals unmöglicher Gedanken. Deshalb ist Er weit größeren Störungen unterworfen, und diese wachsen unvermeidlich bis in’s Häßliche und Unerträgliche, wenn er nachzuschreiten versucht auf der unmittelbar gegebenen Bahn des Urtextes, wo sich dann zu deren Störungswellen seine doppelt so starken allemal addiren. Deshalb ist die sogenannte wortgetreue Uebersetzung eines Gedichts, wenn sie etwas anderes sein will als ein sprachliches Lehrmittel, etwas in sich Widersprechendes, deshalb jeder Versuch, einen Dichter in der Urform zu übertragen, wenn ihn ein Nichtdichter unternimmt, der Mann möge sonst noch so begabt und gelehrt sein, so hoffnungslos verurtheilt zu gänzlichem Mißlingen. Denn die Schärfe des Blicks, um jenes Ringen mit der Technik zu erkennen; die Befähigung, die Schönheitslinie des Verses, welche den reinen Gedanken mit der reinen Form vereinigen würde, aus dem welligen Zuge der beständigen Ausweichungen nach beiden Seiten zu erschließen, kann auch bei angeborener Begabung nur erlangt werden durch langjährige Erfahrung bei demselben Ringen mit der Technik in eignem freiem Schaffen. Wer nicht manches Zehntausend von Versen selbst ersonnen, getaktet und gereimt hat, dem sind die Störungen homerischer Hexameter, Dantescher Terzinen, gerade so unzugänglich, wie die des Planetenlaufes einem Beobachter ohne Fernrohr, Mikrometer, Beobachtungskunst und Kenntniß der Integralrechnung. [XVII] Wenden wir diese Theorie nun an auf Homer und die Nachbildung seiner Werke. Zunächst sei hier schon bemerkt, daß er die Hexameter keineswegs mühelos aus dem Aermel geschüttelt hat. Viele Spuren beweisen das Gegentheil; so z. B. die überall merkliche Neigung, einmal ausgeprägte Verse theils wenig, theils gar nicht verändert wieder zu verwenden, auch wo sie minder gut passen und die sonst angestrebte Charakteristik der Redenden bedenklich verwischen; und das ist keineswegs nur der Fall an zweifelhaften, möglicherweise später eingeschalteten Stellen, – wofür ich auf die Anmerkungen verweise. Sodann gibt es unter den Regeln die man aus dem vorherrschenden Gebrauch mit Sicherheit als von Homer selbst anerkannte ableiten darf, schlechterdings doch nicht eine einzige, die nicht auch gröblichst übertreten würde. Da ist kein sogenannter längster Vokal, der nicht auch regelwidrig kurz, d. h. in der Senkung, und kein kürzester der nicht auch ohne nachfolgende Konsonantenhäufung lang, d. h. in der Hebung gebraucht vorkäme; wie wir denn selbst dem allerunzweifelhaftesten Jambus ἐπει im Hexameteranfang begegnen. Dahin gehört ferner die Nichtvermeidung harter Uebelklänge wie οἱ οἱ ἑποντο; eben dahin auch die Seltenheit des Perfectums und noch mehr des Plusquamperfectums, die recht oft, auch wo sie dem Sinne nach unentbehrlich wären, durch den Erzählungsmodus vertreten
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werden, einfach aus Versnoth, weil die vielsilbige Form im Hexameter nicht unterzubringen war; – eine Noth, der auch im deutschen epischen Styl nicht immer zu entkommen ist. Theilweise wenigstens zu diesen Nothhülfen zu rechnen ist auch die gar oft an’s Uebermaaß streifende [XVIII] Verwendung der kleinen Wörtchen γε, δε, τε, ἀρ, μεν, u. a., wo sie wenig anderen Dienst haben, als den, eine Note der Senkung zu tragen oder als Puffer das harte Aufeinanderstoßen der Vocale abzufangen. Endlich ist als eines dieser Mittel zur Ueberwindung der Versschwierigkeit noch zu erwähnen eine Reckung und Zerdehnung der Worte, deren sprachliche Willkür zuweilen an die der komischen Gewaltreime in unsern Fliegenden Blättern erinnert. Man erklärt diese Erscheinung am besten durch den Hinweis auf ein verwandtes und sehr gewöhnliches Verfahren der modernen Musik. Zum Worte „dunkelt“ z. B. werden die Noten unter Umständen so gesetzt, daß man singen muß dū-ū-ŭnkelt, oder auch du-ne-ke-let. Dabei begnügt man sich, die betreffende Silbe im Text nur einmal zu schreiben, nämlich unter der ersten Note, unter der zweiten und dritten aber nur durch einen Strich anzudeuten, daß auch diese noch auf jene zu singen seien. Dieser Gebrauch nun, einer Silbe mehr als eine Note zuzuweisen, scheint dem Alterthum fremd gewesen zu sein. Wo also die Melodie, welcher sich der Text anzupassen hatte, mehr Noten als das Wort gesonderte Vocale zählte, da mußte sich das letztere Vermehrung seiner Silben gefallen lassen, und so finden wir, um nur ein Beispiel anzuführen, je nach dem Versbedürfniß, γελοιος — γελοι-ϊος, für γελωντες bald γελωοντες, bald γελοωντες und γελοιωντες. Eine große Rolle ferner bei der Ermöglichung des Hexameters spielt ein Herkommen des epischen Styls, durch welches ein beträchtlicher Theil des Versraumes nur allzuleicht mit der nöthigen Wortmusik versorgt wurde; ein [XIX] Gebrauch der Eigenschaftsworte welcher unsern Kunstbegriff als ungehörig anmuthen muß. Es werden unendlich oft „geflügelte“ oder „befiederte Worte“ gesprochen, und nur in einer geringen Anzahl von Fällen kann damit besondere Eile, Gewandtheit oder etwa rasch und sicher wie ein befiederter Pfeil das Ziel treffende Schärfe und Keckheit der Rede gemeint sein. Das Beiwort war eben mit dem Hauptwort durch den Gebrauch wie in eins verwachsen und – lieferte bequem ein wohllautendes Stück Hexameter. Der Himmel heißt der „sternige“ auch bei Tage, wo kein Stern sichtbar ist. Das Schiff heißt das „schnelle“, auch wann es auf dem Gestade festliegt. Es wird als am Vordertheil blau gemalt bezeichnet, wo die erzählte Begebenheit, der zweite Steinwurf des Kyklopen welcher beinahe das Steuer getroffen, gerade sein Hintertheil in unsere Vorstellung rückt. Odysseus heißt der listenreiche auch wenn durchaus keine seiner Listen in Sicht steht, Kirke die hehre oder würdige in derselben Zeile, die von ihrer Giftmischerei handelt. Ja, manche dieser Beiworte sind so vernutzt, daß man an ihre Bedeutung gar nicht mehr gedacht zu haben scheint und sie als Versfüllsel anwendete, wo sie nach unseren Begriffen äußerst unpassend klingen; so z. B. wenn die Achäer die starkmuthigen genannt werden, wo sie sich kaum haben aufhalten lassen in feiger Flucht aus abergläubischer Furcht, oder wenn mit demselben Worte, das sonst gewalti-
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gen Königen und Helden beigelegt wird, der Kyklop der „großherzige Menschenfresser“ titulirt wird. Schon diese Prädicate nehmen für Uns alle Stufen ein [XX] vom Müßigen bis zum Störenden, vom Seltsamen bis zum Barocken und Grotesken. Aber fast noch mehr lehnt sich unser Gefühl auf gegen Beiworte, welche zwar an sich passend sind, aber angebracht stehn wo die Handlung die Stromschnelle des Absturzes und den Berstpunkt der Spannung erreicht hat und Uns deswegen jede überflüssige Silbe zum unerträglichen Anstoß wird. Bei der ersten Schilderung und im ruhigen Verlauf der Erzählung lassen wir es uns gern gefallen, daß die Schwelle als die glattgehobelte, der Bogen des Odysseus als der wohlpolirte bezeichnet wird. Wenn aber Eurymachos in der äußersten Todesverzweiflung die Freier aufruft, sich Tischchen statt der Schilde vorzuhalten und mit gezückten Schwertern einzudringen auf den von der Schwelle herab mit dem Bogen schießenden Helden, dann muß uns die widernatürliche Redemuße zu eben diesen Beiwörtern den Eindruck der Unvernunft machen. In den Anmerkungen werden einige Stellen besprochen, an denen Homer diesen Brauch seines Zeitalters und seiner Schule durch bedeutsame Dienstleistung zu einem durchaus richtigen und ewig gültigen Kunstmittel zu läutern angefangen hat. Aber diese Treffer, obwohl sie schon ziemlich zahlreich sind, haben ihn dennoch nicht zur scharfen Erkenntniß und ausnahmelosen Anwendung der Methode geführt, die überkommene Rhapsodengewohnheit durch weise Einschränkung durchweg zu einem Hauptwerkzeug der epischen Plastik und Charakteristik zu verfeinern. So bleibt denn für das Bestreben des Nachbildners, dem geläuterten Geschmack zu genügen, dieser mehr dem Versdienst als dem Gedanken gewidmete Gebrauch der Beiworte eines der [XXI] unüberwindlichen Hindernisse. Auch bin ich nicht der Meinung, daß er versuchen dürfe, es wegzuschleifen. Er hat seine Leser nur zu erinnern, daß sie diese Unvollkommenheiten, die der Dichtung aus der Mode ihres Zeitalters anhaften, eben mit in den Kauf nehmen müssen. Da er aber von vorn herein weiß, nur eine Theilzahlung leisten zu können und, um nicht in ein griechisch deutsches Kauderwälsch zu verfallen, oft ungenau sein zu müssen wegen der Verschiedenheit seiner Sprache und der in ihr weit größeren Schwierigkeit eines dem Hexameter ähnlichen Versgebildes, so wird er aus der Noth eine Tugend machen und vor allem eben diese Zufälligkeiten des Originals, da sie ja selbst Ausbiegungen von der Schönheitslinie sind, betrachten als den meistgeeigneten Spielraum für seine Einlenkungen nach dieser hin. Er wird sie behandeln als minder bindenden Theil des Urtextes und lieber eines dieser Beiworte minder entsprechend wiedergeben oder auch ganz fallen lassen, als sich für die treuest mögliche Wiedergabe des poetischen Gedankens in der nächstverwandten üblichen Wendung den Versraum beschränken und die schlichte Klarheit des Satzes trüben. Nahe verwandt, ja theilweise zusammenfallend mit dieser Unmöglichkeit, den befremdlichen Dienst der Eigenschaftsworte in der Uebersetzung unserem Kunstbegriff annehmbar zu machen, ist ein anderes Hinderniß der uns geläufigen Ausdrucksweise: die Etikette der homerischen Titulaturen, Würde- und Standesbezeichnungen. Ihnen gegenüber kämpfen wir mit einer doppelten Schwierigkeit. So reich an solchen unsere Sprache auch ist oder doch in sehr erinnerlicher Zeit gewesen ist: [XXII] bei unserer
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völlig andern staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung und ständischen Gliederung ist in diesem großen Vorrath doch kaum jemals ein auch nur annähernd entsprechender Namenshenkel zum Ausdruck der Vornehmigkeitsstufe aufzutreiben. Vollends übel steht es um unser Verständniß der dafür vorkommenden homerischen Ausdrücke und ihrer Nuancen; denn hiefür hat uns die Ueberlieferung der späteren Griechen so gut wie ganz im Stich gelassen, weil sie davon selbst nichts mehr verstanden noch verstehen wollten. An den Höfen der Fürsten hatten die Sänger ihren Unterhalt gefunden, an ihrer festlichen Tafel ihre Lieder vorgetragen. So verherrlichten diese vor allem die Königsgeschlechter und berühmtesten Adelsfamilien. Wir finden deshalb das homerische Epos wie durchsättigt mit aristokratisch-monarchischer Gesinnung. Seine Herkunft, sein Stand, seine Würdestufe muß jedem Vornehmen nicht nur in der Anrede, sondern auch in der Erzählung von ihm mit gewissenhafter Devotion ausgedrückt werden. Als die Dynasten vertrieben, die Königreiche in Republiken verwandelt wurden, da wurde dem Bürgerstolz der neuen, der Demokratie zustrebenden Gemeinwesen diese Tendenz mißliebig. Ihre Ausdrucksweise erschien, was wir zopfig nennen würden. Das Epos selbst wurde deswegen schon vernachlässigt und drohte in Vergessenheit zu gerathen. Es ist fraglich, ob wir es besitzen würden, wenn nicht eine politische Reaction eingetreten und die Monarchie wieder aufgelebt wäre als usurpirte Alleinherrschaft mächtiger Mitglieder großer Adelsfamilien, als sogenannte Tyrannis. Das scheint sicher, daß wir neben dem im Grunde sehr aristokratischen Solon besonders dem Tyrannos von Athen, Peisistratos, [XXIII] die Erhaltung der homerischen Dichtungen in ihrer gegenwärtigen Gestalt zu verdanken haben. Inzwischen aber war die Kunde der alten Etikette, von deren Strenge der Text uns die Spuren zeigt, ziemlich verloren gegangen, und so läßt uns in Betreff ihrer die Tradition der Alten beinahe völlig im Dunkeln. So scheint ὀρχαμος, Gebietiger, mit λαων den höchsten Feldherrnrang, mit ἀνδρων jedoch nur ähnliches wie etwa unser Oberst, Hauptmann oder selbst nur Zugführer zu bezeichnen. Aber ohne daß an die sonst überall deutliche Beziehung auf die Stellung im Heere gedacht werden darf, wird auch Eumäos so betitelt, der doch nur ein selbst unfreier Obmann über Unfreie ist. Ferner können wir nur aus dem Text vermuthen, daß ἀγαυος eine gewisse, nicht gerade hohe Stufe edler Herkunft ausdrückt, etwa nur eben „adlig“ als die nächste Steigerung zu καρηκομοων, welches den Freien bezeichnet, der im Gegensatz zu den geschorenen Sklaven und Hörigen vollen Haarschmuck tragen darf. Hier ist denn auch zu erinnern, daß dem griechischen βασιλευς etymologisch unser „Herzog“ noch am nächsten entsprechen würde. Es ist aber zur Uebersetzung nirgend brauchbar und wir müssen uns behelfen mit „König“ oder „Fürst“, obwohl diese Würdebezeichnungen von sehr unähnlichem geschichtlichem Wachsthum für uns verbunden sind mit Vorstellungen, welche bei großer Verschiedenheit nur weniges gemein haben mit dem Begriff des homerischen Titels. Wenn Telemach (I, 394 u. f.) von vielen allein schon auf dem kleinen Ithaka vorhandenen βασιληες alten und neuen Geschlechtes reden kann, die zu Amtsnachfolgern des Odysseus geeignet wären, so ist daraus ersichtlich, daß diese „Könige“ nur eben vornehmere freie [XXIV] Gutsbesitzer und allerhöchstens etwa den Baronen des Mittelalters zu vergleichen waren. — Das höchste Prädicat, διογενης, scheint ungefähr prince du sang, aus hochfürstlichem Geblüt, das nächsthohe, διοτρεφης, etwas unserem „von Gottes Gna-
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den“ mindestens verwandtes zu bedeuten. Dagegen ist διος stark vernutzt. Als Prädicat des Odysseus mag es nahezu eben so viel wie διογενης, etwa den erlauchten, hohen, bedeuten. Aber wiederum führt es auch der Sauhirt Eumäos und dieser soll damit schwerlich als der „göttliche“, viel wahrscheinlicher als der Mann von freier Herkunft bezeichnet werden, dem nur das Mißgeschick seiner Jugend das Loos eines Hörigen zugezogen habe, so daß es für ihn noch am nächsten zusammentreffen würde mit unserm „wohlgeboren“. Am befremdlichsten muthen uns an ἱερον μενος und ἱερη ἰς. Da ist nun dem Leser, wenn ihm „Alkin’s gesegnete Stärke antwortete …“ und „Telemachs heilige Kraft versetzte …“ seltsam vorkommen, nicht anders zu helfen, als mit der Bemerkung, daß diesen Ausdrücken von den uns geläufigen einigermaßen entsprechen würden: Seine Hoheit, Telemach; Seine Majestät, König Alkinoos, Seine Durchlaucht, Antinoos; denn auch dieser Fürstensohn und Thronprätendent erhält denselben Ehrentitel. Ferner darf man billigerweise nicht verlangen, die griechischen Namen dem deutschen Hexameter überall härtelos und regelrecht eingeschmolzen zu finden. Für einige der häufigeren die es zwanglos gestatten habe ich, wie es für Telemach und Penelope (die aber des Verses wegen bei mir meistens Penelopeia bleibt) schon vor mir geschehen war, deutsche Assimilation angewendet, und man wird den Gesammtgewinn an Glätte nicht [XXV] unbeträchtlich finden, den die Formen Odyß, Alkin, Antin, Naúsika (s. d. betr. Anmerkung)3 erzielen. Für die übrigen habe ich die sonst übliche lateinische Betonung meist verworfen und die beibehaltene griechische, wo es zur Hülfe für den Vorleser wenigstens beim ersten Vorkommen zweckmäßig schien, mit Accenten bezeichnet. Einen nicht geringen Theil der Schuld, daß sich zu dem schlichten Fluß und glatten Wohllaut des homerischen Textes die für die Zunge anstoßvolle, für Gehör und Sprachgefühl widerhakige Rauhheit der deutschen Nachbildungen ungefähr verhält, wie zu feinfühlig geschorenem Sammet die Oberfläche einer dräthenen Flachshechel, trägt die sklavische Nachahmung eines anderen und sehr häufigen epischen Herkommens. Hätte man sich Rechenschaft zu geben gewußt vom rhapsodischen Kunstzweck desselben, so würde man sogleich auch das deutsche Herkommen gefunden haben, welches, wenn auch formell anders, doch den nächstgleichen Dienst leistet. So aber hat man mit plumpem Abklatsch in durchschnittlich jedem dreiunddreißigsten Verse noch eigens einen Stein in’s Geleise geworfen, der uns unsanft aufrüttelt aus dem Rest wohligen Behagens an der Fahrt auf der homerischen Kunststraße, nachdem sich dieselbe ohnehin schon in einen deutschen Knüppeldamm verwandelt hat. Von den 12110 Versen der Odyssee bezeichnen dreihundert und einige sechzig, meistens mit ihren ersten Worten, den Uebergang vom Dialog zur erzählten Handlung. Betrachtet man die dazu gewählten Worte und Wendungen in vergleichender Zusammenstellung, so ergibt sich als ihr wesentlicher Dienst die Nuancirung der zeitlichen und [XXVI] ursächlichen Folge des Thuns oder Geschehens auf die eben gehörte Rede. _____________ 3
[Vgl. Wilhelm Jordan, Homers Odyssee, übersetzt und erklärt von W. J., Frankfurt a. M. 1875, 488 Anm. 1.]
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Wenn das nachfolgende Thun, in der Rede angezeigt als beabsichtigt oder doch nach ihrem Inhalt schon zu erwarten, schon während derselben oder doch gleich nach ihrer Vollendung beginnt, ist die Uebergangsformel: ὡς εἰπων — πουσα — πον (dies nur 1 mal, vom redenden Traumbild der Schwester der Penelope) — ποντι u. s. w. (50 mal). Wenn von der Handlung der Redenden ihre schnelle Folge auf das Wort ausgedrückt werden soll: ἠ ῥα και (17 mal). Wenn diese Folge eine momentane ist: ἠ και (8 mal). Wenn das Eintreten einer Begebenheit sich schon mit dem letzten Worte deckt: οὐπω παν εἰρητο (2 mal). Wenn kein Accent gelegt wird auf das Tempo des Folgens der That oder Begebenheit, aber entweder der laute Ton oder die Wichtigkeit der Rede, welche in diesem Fall sogar eine leise geflüsterte sein kann, hervortreten soll: ὡς ἀρ ἐφωνησεν — φωνησας — σαντε u. s. w. (34 mal). Hiebei ist noch aufmerksam zu machen auf eine seltene, nämlich nur dreimal vorkommende Formel von scharf bestimmtem Sinn, welche nach ἐφωνησε die Aufnahme der Rede seitens der Hörenden kennzeichnet: τῃ δ’ ἀπτερος ἐπλετο μυθος, ihr war der Ausspruch ein nicht entflatternder. Diese Formel gibt zu erkennen, daß das vom Redenden verlangte oder gerathene nur Einleitung einer unausgesprochenen, aber von der Hörenden sogleich errathenen und beherzigten Absicht von höchster Bedeutsamkeit ist, die vorerst [XXVII] geheim bleiben muß. Vgl. XIX, 16–30 und die Anmerkung XVII, 1. Wenn, was der häufigste Fall ist, weder Ton und Nachdruck der Rede, noch Tempo der Handlungs- oder Begebenheitsfolge besonders accentuirt werden, aber meistens der ursächliche Zusammenhang zwischen Rede und nachfolgendem Geschehn, Erfüllung eines Raths oder Befehls, ausgedrückt werden soll: ὡς ἀρ ἐφη (13 mal) oder ὡς ἐφατ’ — αμην — ατο — ασαν — φαμενος — νη u. s. w. (231 mal). Wenn endlich auf ein Zwiegespräch, zuweilen auch auf eine Einzelrede, keine Angabe ihrer Wirkung, sondern zunächst ein Ruhepunkt folgt und dann entweder die Scene wechselt, oder eine andere Person den Dialog aufnimmt ohne daß das Tempo dieses Wechsels bestimmt werden soll: ὡς ἀγορευον — ε meistens mit τοιαυτα um anzudeuten, daß die angeführten Worte nicht als vollständige Wiedergabe, sondern nur als wesentlicher Inhalt der Rede gelten wollen (11 mal). Diese Nuancen in der Uebersetzung direct auszudrücken ist uns größtentheils versagt. Zwar haben wir für εἰπω und φημι sagen, sprechen, reden; für ἀγορευω erzählen, sich unterhalten, plaudern, selbst schwatzen; für φωνεω das öfters aber nicht immer passende „rufen“, „ausrufen“. Aber schon der Umstand, daß wir unser Participium selten declinieren, sein Geschlecht meistens nur durch Artikel und Pronomen ausdrücken können, zwingt zu Umschreibungen mit: als, indem, während er, sie, es, so redete u. s. w. Vollends mißlich wird die Sache durch die Forderung des Hexameters, mit betonter Silbe zu beginnen. Für das über zweihundertmalige ὡς ἐφατ’ haben [XXVIII] wir nur „so sprach er“ was im Anfang des Hexameters unmöglich ist. „Sagt’ er“ würde zwar genügen und versgerecht sein, darf aber im Deutschen nur zwischen Rede und ihrer Fortsetzung, allenfalls an ihrem Schluß stehn, niemals aber einen neuen Satz beginnen. „Sprach’s und“ könnte man zur Noth für übliches Deutsch gelten lassen in dem einen Fall der fast zeitlos auf die Rede folgenden Handlung. Es wäre also nur
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geeignet für ἠ και und allenfalls für ἠ ῥα και. Was bleibt übrig? Einzig „also sprach er“, was denn auch die Uebersetzer zum Ueberdruß oft anwenden. Es hat aber erstens den sehr großen Uebelstand, beinahe ein Drittel Hexameter zu verwenden zur Wiedergabe eines Sechstels von allergeringfügigstem Inhalt, dagegen für die Nachbildung der allemal weit wichtigeren und inhaltreicheren übrigen fünf Sechstel nur vier Sechstel Raumes zu lassen und so zu gewaltsamen Pressungen zu nöthigen. Dazu kommt, daß „also“ im heutigen Deutsch überwiegend igitur, folglich, bedeutet und für „so“ außer im Gerichts- und Kanzleistyl nur gebraucht wird, wo eine gewisse Feierlichkeit der Rede oder Situation dies Zurückgreifen zur volleren, in diesem Sinne nahezu veralteten Form angemessen erscheinen läßt. Nichts aber stört unangenehmer den für schlichte und alltägliche Dinge dem Epos gebotenen ebenso schlichten und alltäglichen Ausdruck, als diese unpassende Feierlichkeit bei der allergewöhnlichsten, große Strecken weit jede Minute wiederkehrenden Redewendung. Aus dieser Enge gibt es nur einen Weg. Auch die deutsche Sprache hat hergebrachte Wortverbindungen zur Leistung desselben Dienstes. Diese muß man anwenden, wie verschieden [XXIX] sie auch seien von jenen altgriechischen Formeln. Wo z. B. erzählt wird, wie der Redende selbst zur Handlung übergeht, da wird die schärfere, aber weder in den Vers noch zum poetischen Styl passende Uebertragung „indem er so redete …“ durchaus genügend ersetzt durch das eine dem Verbum der Handlung vorgefügte Wörtchen „dabei“. Gleich sinnerschöpfend ausgedrückt wird die ursächliche Folge der Handlung Anderer auf die Worte des Redenden, wenn wir anstatt „so sprach er und sie thaten ….“ sagen „seinem Rathe gemäß, seinem Befehle gehorsam, ..“ oder kurz „folgsam thaten sie …“. Aus meinem Texte selbst wird man ersehen, mit welchen Mitteln sich auch die Temponuancen leicht ausdrücken lassen. Dem Original steht die kindliche Breite jener Formeln sehr wohl; in der Nachbildung wird sie als Unbeholfenheit empfunden. Unsere Sprache alterthümelnd zurückschrauben auf eine längst verlassene Stufe heißt ihr mit ihrer natürlichen Bewegung die Anmuth benehmen deren sie zur Uebersetzung Homers vor allem bedarf, wenn die oberste Aufgabe einer solchen, die störungsfrei genießbare Erneuerung seiner ewigen Poesie in entsprechender Kunstgestalt, nicht gänzlich mißlingen soll. Mehr Hexameter, als der kürzeste Gesang der Odyssee zählt, werden durch dies Verfahren befreit von einer übelklingenden Schwerfälligkeit, die mit jeder Wiederholung unangenehmer in’s Ohr fällt. Die Noth, daß jene Formeln zugleich deutsch und versgerecht unübersetzbar sind, wird also durch das angedeutete Verfahren wieder zur Tugend erhoben. Die formelle Abweichung gestattet es, die Dichtung des Meisters über allen Vergleich pietätvoller wiederzugeben, als nach der Methode der sogenannten Wortgetreuen, [XXX] deren verrenkte Abgüsse aus Missethaten gegen die Muttersprache doch minder eine Uebertragung, als eine Verleumdung Homers zusammenstückeln. Mir nun wird man vielleicht das Gegentheil, Neigung zur Schönmalerei, vorwerfen, und in manchen Stücken mit einigem Schein von Recht. Denn es ist nicht zu leugnen, daß von den Verzichten, welche Versnoth oder Mangel einer näher zutreffenden und gebräuchlichen deutschen Wendung auferlegen, manche, z. B. auf gehäufte, für den Sinn müßige und selbst störende Beiworte, der Nachbildung auch zum Gewinn gereichen. Verlust freilich ist es, Nausikan, wann ihre Arme beim Ballspiel in die Mitte
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des Gesichtsfeldes gerückt sind, nicht als λευκωλενος bezeichnen zu können, weil „die weißarmige“ im deutschen Hexameter nicht gut unterzubringen ist und „lilienarmig“ von romantischem Beigeschmack widerlich süßelt. Aber desto lieber wird man sich die Entbehrung desselben Beiworts für die alte Arete oder gar Hekuba gefallen lassen. Ein anderer Gewinn der Uebersetzung gegen das Original, derjenige an Mannigfaltigkeit des Ausdrucks, ist einestheils oft nur ein scheinbarer, anderntheils aber nicht unerlaubterweise gesuchte Verschönerung, sondern eine Pflicht und Schuldigkeit, welche der Uebersetzer erfüllen muß, weil er dem oben angegebenen, unausweichlichen Anachronismus zu entrinnen gar nicht einmal versuchen darf. So wäre es abgeschmackt, die für uns mißtönige Wiederholung desselben Worts in drei, vier, ja mehr Versen hinter einander nicht zu vermeiden, wenn uns ausreichende Synonyma zur Verfügung stehn, wie Fahrzeug [XXXI] für Schiff, an Bord für in’s und im Schiff.4 Wenn ferner das homerische Griechisch eine Menge höchst verschiedener Nuancen desselben Begriffs durch das nämliche Wort, und doch jedesmal vermöge der geschilderten Lage in scharfer Bestimmtheit auszudrücken vermag, so ist dies nicht Armuth, sondern anmuthige Gewandtheit. Der Nachbildner aber würde seinen Dienst spottschlecht verstehn, wenn er sich in allen diesen Fällen auch begnügen wollte mit dem einen allenfalls findbaren Wort, das einen verwaschenen Mittelbegriff aller dieser Nuancen, aber niemals eine derselben in voller Schärfe ausdrückte. Wenn uns die gleiche Grundvorstellung fehlt und mit ihr auch das Proteuswort, das sein Gesicht für jeden Zweck so geschmeidig als deutlich verwandelt, dann muß er dieses der Situation gemäß jedesmal durch ein anderes vertreten lassen. Nur ein Beispiel. Dem griechischen δαιμονιος kommt nach seiner Grundvorstellung noch am nächsten unser „besessen“. Es bezeichnet Den, welcher mit seiner Erscheinung, seinem Wesen, Reden, Thun, den Eindruck macht, bestimmt, geführt, bewogen zu sein nicht von den gewöhnlichen und verständlichen Ursachen, Regungen, Neigungen, sondern von etwas Unfaßbarem, von einer geheimnißvollen Macht, einem Dämon, einer Gottheit. Diese Gottheit ist nun meistens eine böse, oder meint es doch, wenn sie eine an sich gute ist, mit [XXXII] ihrer Einwirkung auf den Betroffenen böse für ihn.5 Aber der Dämon kann auch ein guter sein; denn Eumäos gibt den wundersam gewinnenden Eindruck den der als Bettler verkleidete Odysseus auf ihn macht zu erkennen mit der Anrede δαιμονιε ξεινων. Dann verblaßt stufenweise die Vorstellung der Einwirkung eines Dämons zu der einer minder unbegreiflichen als heftigen Gemüthsbewegung oder einer seltsamen, unerwarteten Laune, wenn man auch nie vergessen darf, daß alles Menschenthun als Ausfluß göttlicher Antriebe gedacht wird. Ja, das Wort sänftigt sich ab zum neckischen _____________ 4
5
Vgl. νηα — νηα — νηι IV, 779, 80, 81, obwohl eine dieser nahen Wiederholungen durch Verwerfung entstanden scheint. — Besonders auch: τηκετο — κατατηκετ’ — κατετηξεν — τηκομενης — τηκετο XIX, 205, 6, 7, 8 u. 9, was denn freilich einer der allerabscheulichsten Einfälschungen angehört. S. d. betr. Anmerkungen. [Vgl. Wilhelm Jordan, Homers Odyssee, übersetzt und erklärt von W. J., Frankfurt a. M. 1875, 546. Jordan schreibt hier die vermeintliche ‚Einfälschung‘ einem „auf Uebertreibung und schwülstige Gleichnisse erpichten Rhapsoden“ zu.] Vgl. die lichtgebende Stelle XVIII, 406 u. 7, Telemach zu den Freiern: δαιμονιοι, μαινεσθε, .... θεων νυ τις ὐμμ’ ὀροθυνει. Toll schon seid ihr, Besessne, ein Gott vermuthlich verwirrt euch.
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Vorwurf einer sogleich und gern befriedigten Neugier beim Kosen der endlich wieder im Ehegemach vereinigten Gatten. So wird man denn bei mir an den sieben Hauptstellen sechs völlig verschiedene Uebersetzungen dieses Wortes antreffen. Dasselbe gilt von ähnlichen Proteuswörtern, wie σχετλιος, und anderen, bei denen es zur Wiedergabe immer darauf ankommt, die Grundvorstellung zu ermitteln, um die gleiche oder nächst ähnliche deutsche zu gewinnen. Denn unausweichlich gebunden bei der Nachbildung eines andern Poeten bleibt der Poet nicht nur an die Worte seiner Sprache, sondern auch an ihre Grundvorstellungen, die zuletzt immer auf einen Mythus hinauskommen. Wo diese Grundvorstellungen im Griechischen und Deutschen durchaus verschiedene sind, da darf nicht Uebersetzung, sondern nur Stellvertretung [XXXIII] stattfinden. So mögen wir ein für allemal anführen, daß nach homerischer Vorstellung gesprochene Worte wie eine Heerde dem Pferch, oder Vögel dem Käfig, „dem Zaune oder Gitter der Zähne entfliehen“, dürfen sie aber schlechterdings nur „den Lippen entschlüpfen“ lassen. So haben wir gelegentlich zu erklären, daß von Homer die Begierde nach Speise und Getränk als ein feindliches Wesen im Innern gedacht wird, welches man, wie die Krankheit durch eine Arzenei, durch Essen und Trinken austreibe; wir dürfen aber weder diese Vorstellung beibehalten, noch vermögen wir die Befriedigung beider Bedürfnisse mit nur einem Verbum poetisch auszudrücken; denn dem deutschen Sprachgeist ist der Durst ein Feuer das gelöscht, der Hunger aber ein schreiender Säugling, der gestillt sein will. Schließlich noch einige Bemerkungen über den griechischen und den deutschen Hexameter. Der Vers, mit welchem Odysseus die Erzählung seiner Irrfahrten beginnt, lautet, nach dem Hexameterschema gelesen, folgendermaßen: ⏖
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⏑
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⏑ ⏑ ⏑
ilio thenmephe ron ane moskiko nessipe lassen hingegen nach den Betonungsgesetzen der griechischen Sprache so:
iliothen me pheron anemos kikonessi pelassen. Eine Menge anderer Hexameter theilen mit diesem die vollständige Discrepanz der Vers- und der Wortbetonung deren Zusammentreffen überhaupt mehr Ausnahme als Regel ist. [XXXIV] Das Beispiel ist also, wenn auch für meinen Zweck besonders geeignet, doch von allgemeiner Gültigkeit. Der Unterschied ist ungefähr eben so groß, als der zwischen der bekannten komischen Verdrehung: ⏑
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⏑
zuster bên oneglau bênist verder bên und der richtigen Aussprache: Zu sterben ohne Glauben ist Verderben. Wenn man sich auf einem Ball während eines Tanzes von scharf absetzendem Rhythmus, etwa einer Polka-Mazurka, recht fest die Ohren zuhält, kann man sich
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leicht unter Narren versetzt wähnen, so tollhäuslerisch unmotivirt erscheinen die Bewegungen der Tänzer beim Wegfall der Musik. Sehr ähnlich wirkt der homerische Hexameter, als solcher gelesen, auf jeden, dem das Redetongesetz der griechischen Sprache nahezu eben so fest im Ohre liegt als das der Muttersprache. Auch dürften wir überzeugt sein, daß ein auferstandener alter Rhapsode, wenn er unsere Gymnasiasten ein Stück Homer vorschriftsmäßig nach dem Rhythmus recitiren hörte, sich vor Lachen den Bauch halten würde. Was die griechischen Worte im Hexameter auszuführen haben ist in der That ein Tanz in Gliederschwenkungen, geradeso entgegengesetzt der ihrem Organismus natürlichen Redegangart, wie Mazurkasprünge unserm gewöhnlichen Gehschritt. Die Musik aber, welche diese Gewaltthat der Versregel gegen das Betonungsgesetz mit einem auch heute noch gültigen Herkommen rechtfertigte, ist verklungen und wir können uns von ihr kaum eine Vorstellung machen. Wenn also, wie ich das schon in meiner Schrift über den [XXXV] epischen Vers ausgeführt habe,6 die homerischen Verse niemals gesprochen, sondern immer nur mit Instrumentalbegleitung gesungen worden sind, dann sind der lateinische, und weit mehr noch der deutsche Hexameter nach ihrer Bestimmung und nach ihren Wirkungsmitteln eine vom homerischen sehr verschiedene Form. So lag denn die Frage nicht fern, ob für die Nachbildung des homerischen Epos wirklich so unbedingt gerade der Vers der angemessenste sei, welcher zwar eben so heißt, in Wahrheit aber nicht den homerischen selbst nachahmt, sondern eine generell verschiedene, auf unrichtiger Voraussetzung beruhende Abstraction von demselben? Indeß hat sich dieser Vers in schönen Dichtungen das deutsche Bürgerrecht erworben. In der Silbenzahl und für die möglichst deckende Nachbildung kann kein anderer dem des Originals gleichnahe kommen. Auch hat noch keine andere Uebersetzung Homers, weder die prosaischen, noch die jambischen oder gar die gereimten und dadurch äußerst widerwärtig romantisirten, Anklang zu finden vermocht. So blieb es gleichwohl das Natürlichste, daß auch ich mich zur Nachbildung der Odyssee dieses Enkels ihres Verses bediente. Aber schon bei freiem Schaffen hat diese Form beträchtliche Schwierigkeiten. Unsere Declination und Conjugation vermittelst Artikels, Fürworts und Hülfsverbums bedingen das Vorwiegen jambischer Satzanfänge. Die Herstellung dactylischen, spondäischen oder wenigstens trochäischen Versbeginnes ist deshalb in der Mehrzahl der Fälle nur zu bewirken durch Kunstgriffe der Satzbildung welche den schlichten Redefluß leicht beeinträchtigen. Die [XXXVI] Kleistische Variation des Hexameters mit jambischem Anfang7 ist rettungslos verworfen worden weil sie den Character des Verses gänzlich verwandele. Gedacht aber war sie mit treffender Beurtheilung der unserer gegenwärtigen Sprache natürlichen Rhythmik. Indem es ihr wirklich gelang, mit_____________ 6 7
[Wilhelm Jordan, Der epische Vers der Germanen und sein Stabreim, Leipzig 1868.] [Der preußische Offizier und Dichter Ewald Christian von Kleist (1715–1759) hatte in seinem erstmals 1749 veröffentlichten Gedicht Der Frühling, das sich sowohl von James Thomsons The Seasons (1731) als auch von Vergils Georgica inspiriert zeigt (der Arbeitstitel der ursprünglich größer angelegten Dichtung lautete Landlust), einen reimlosen, auftaktigen Hexameter verwendet.]
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telst der einen, scheinbar so geringfügigen Aenderung fast alle jene Uebelstände auf einen Schlag zu beseitigen, führte sie jedenfalls den Beweis für die Gefährlichkeit der kleinen Klippe. Dazu kommt, als zweites Hauptkreuz, daß unser „und“ als Satzcopula an zu wenigen Stellen des Hexameters einen Platz findet auf dem es zugleich rhythmisch und syntactisch befriedigt, da es an seinem Anfange nur mit zweifelhafter Befugniß, an seinem Ende gar nicht stehen kann. Weit größer noch werden diese Schwierigkeiten bei vorgeschriebenem Inhalt, riesig aber und zuweilen fast unüberwindlich für eine Nachbildung Homers wie Ich sie fordere: so gemäß der herkömmlichen Redeweise, so gemeinverständlich von einmaligem Hören, als es für die Rhapsodie nothwendig ist; kurz, in dem ächt epischen Styl bei dem sich der Hörer von Herzen wohl fühlen könne, von dem aber bisher ohne vollkommenste Vertrautheit mit dem Original Niemand auch nur eine Ahnung gewinnen konnte. Deshalb werde hier wenigstens noch angedeutet, unter welchen Voraussetzungen mein Versbau jene Schwierigkeiten zu überwinden, diesen Forderungen zu genügen strebte, indem ich versuchte, die Odyssee nachzugestalten, nicht etwa, wie Andere sich ausgedrückt haben „im Versmaß der Urschrift“, sondern in einem Rhythmengebilde welches auch gesprochen natürliches [XXXVII] Deutsch bleibt und sich gleichwohl im Eindruck auf das Ohr demjenigen möglichst nähert, welchen die homerischen Verse machen, wenn man sie, ihrer Bestimmung entgegen, nicht singt, sondern in gewohnter Weise recitirt und dabei der Haupteigenschaft aller vernünftigen Menschenrede, der nach Logik und Sprachgebrauch richtigen Betonung, völlig entkleidet. Daß es für die deutsche Sprache wenigstens sogenannte Quantitäten, d. i. feste vocalische Längen und Kürzen, durchaus nicht gibt, habe ich schon in der vorhin angeführten Schrift zur Genüge gezeigt. Hundertfältig zu Gebot stehen die Beispiele dafür, daß die nämlichen Vocale und Diphtonge, denen beim Vortrage nach unserem Sprachgebrauch hier der vollste Ton und vom Tacte das größeste Zeitmaß beigelegt wird, in anderer Verbindung als schwachtonig, ja tonlos und nur einen geringen Bruchtheil des vorigen Zeitmaaßes ausfüllend gesprochen werden. Wir kennen nur Betonungs- und Tactwerths-Verhältnisse, und diese werden ohne Rücksicht auf die Vocalisation lediglich bestimmt vom Gedankengewicht der Silben und ihrer diesem Gewicht entsprechenden Satzstellung. „Frau“ z. B. ist doch gewiß eine der lautschwersten Silben; aber eben so gewiß verstände Derjenige gar nichts von der Feinsinnigkeit unserer Betonungsgesetze, der dies Wort in der Verbindung „seine liebe Frau Mutter“ mit Tonfülle, statt als ganz schwachtonigen Vorschlag ausspräche. Ich gehe aber weiter. Wenn man die Rhythmik der Musik beschränken wollte auf den Gebrauch etwa nur Halber- und Viertel-Noten, so wäre das nur ganz genau der nämliche kolossale Unverstand wie die Zumuthung welche die Metriker der Poesie zu stellen sich wirklich erdreistet haben: ihren Versbau [XXXVIII] mit nur zwei Elementen, Längen und Kürzen, zu bewerkstelligen. Der Vers ist ja seinem Ursprunge nach ein secundäres Gebilde, nicht selbständig erwachsen, sondern in die Sprache hinübergenommen aus der Musik und entstanden durch bequem sangbare Anpassung der Articulationsdauer der Silben an den Rhythmus einer gegebenen Melodie. Für Uns aber, nachdem er sich aus dem Dienste der Musik
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auch zur Selbständigkeit gelöst hat, ist er selbst, wie ich an anderem Orte ausgeführt, darstellende Sprachmusik geworden. Schon für die griechische Poesie läßt sich nachweisen, daß sie nicht blos mit Längen und Kürzen – um den schiefen Ausdruck einstweilen beizubehalten – sondern auch mit Dreiviertels- und Fünfviertels-Längen und mit halben, Viertels- ja selbst Fünftels-Kürzen arbeitet, so namentlich in den Chören der Tragiker, wo die Senkung bis vier- und fünffach aufgelöst wird. Den Anapäst als vom Jambus, den Dactylus als vom Trochäus in der Tactdauer verschieden zu bezeichnen ist gänzlich falsch. Ihre Unterschiede bestehen lediglich darin, daß der Anapäst die eine voranstehende Senkung des Jambus, der Dactylus die eine folgende des Trochäus in deren zweie auflöst, welche zusammen nur genau denselben Zeitwerth haben wie jene eine, ohne daß auf jede immer genau die Hälfte davon entfallen müßte. Also in Noten ausgedrückt: Jambus
e Q ,
Anapäst
x x Q ,
Trochäus
Q e,
Dactylus
Q x x .
—
Unmittelbar beweisend dafür, daß [XXXIX] Anapäst und Dactylus nicht aus zwei Kürzen vor, beziehentlich nach einer Länge, sondern, wenn man einmal im Ausdruck der alten Metrik bleiben will, aus zwei halben Kürzen vor, beziehentlich nach einer Länge besteht, ist die bekannte Thatsache, daß im tragischen und komischen Trimeter der Jambus sehr oft durch einen Anapäst vertreten wird und daß nicht nur ganz gleichwerthige sondern auch genau dieselben Silbenpaare, die im Hexameter und andern dactylischen Versen als Spondäen figuriren, in trochäischen Versen als Trochäen stehen. Mit dieser Herleitbarkeit des Dactylus aus dem Trochäus durch Auflösung der Senkung ist denn auch der principielle Einwand gegen letzteren beseitigt. Er braucht sich, obwohl auch das durchaus genügen würde, nicht mehr blos auf seine Unvermeidlichkeit im deutschen Hexameter zu berufen. Hat man aber einmal erkannt, daß das rhythmische Gesetz des Verses und das der Musik identisch sind, so wird man auch einer weiteren Variation, die dem deutschen Nachbilde des Hexameters unentbehrlich ist wenn er den leichten epischen Fluß bewahren soll, zu dieser practischen nicht minder die theoretische Berechtigung zugestehn müssen. Der Musiker setzt nicht nur die oben bezeichneten Auflösungen, beziehentlich Contractionen, sondern statt
Q. e und Q ee auch Q e. x
und
Q xe. —
Trochäen ersterer und Dactylen letzterer Art mit einer so zu sagen halb langen zweiten oder dritten Silbe, bei gleichwerthiger [XL] Beschleunigung der letzten oder zweiten, lassen sich auch aus Homer in Menge beibringen. Daraus schöpfe ich das unentbehrliche Recht, den strengeren Dactylus ebenfalls zuweilen zu ersetzen durch eine Silbengruppe, deren zweite der ersten wenig nachsteht an erforderlicher Articulationszeit, wenn nur in gleichem Maaße die dritte zu beinahe zeitlosem Nachschlag
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einschwindet. „Wahrheit“ „Heimkehr“ „Sehnsucht“ „sorglos“ z. B. wird man in der Regel gebraucht finden
Q. e aber mit folgendem „ge- „ver- „be- und ähnlich tonlosen Silben auch Q e. r — „Aufgänge“ „Unglück er-, „Rüstung des“ sind in diesem Sinne sehr wohl im Hexameter zu verwenden. Berechtigt und ganz wohl rhythmisch aussprechbar ist auch die umgekehrte Formel
Q re. vermöge deren „Magdeburg“ „Huldigung“ nicht erst gebrauchswidrig zu Q eQ gereckt werden müßten um im Hexameter Platz zu finden. In beiden Fällen ist dann das tonlose Zwischen- oder Folgesilbchen wie eine im Tact nicht mitzählende Vorschlagsnote zur punktirten trochäischen Senkung oder zur folgenden Hebung vom Vortragenden zu behandeln. Das sei denn überhaupt noch erinnert, daß wie alle meine Verse auch diese nicht zum stummen Besehen mit den Augen bestimmt sind, sondern gerade so einen verständigen Menschen voraussetzen der ihnen Laut gebe, wie die Noten des Componisten [XLI] einen Spieler, durch den sie als Musik in die Existenz treten. Auch diese Erneuerung der Odyssee, mit der ich dem großen Meister einen Theil meiner Jüngerschuld abtrage, will genossen sein mit den Ohren von den Lippen. Wenn sich der Vorleser nur sein angeborenes Sprachgefühl nicht hat trüben lassen durch die Metrik später griechischer Stubenhocker, die keine Vorstellung mehr hatten von der rhapsodischen Recitation des Epos und der oratorienartigen Ausführung der Tragödie, dann wird er nur mäßiger Uebung und geringer Kunst bedürfen, um die Noten meiner Wortcomposition als plastisch darstellende und zugleich behaglich erfreuende und erbauende Sprachmusik zu Gehör zu bringen. Ich meine zwar nicht, durchweg den Wohllaut erzielt zu haben, den die Poesie Homers verdient und der in einer anderen, minder widerstrebenden Form, z. B. im epischen Stabverse, wenn auch nicht ohne Mehrkosten an Treue, bei Weitem näher erreichbar sein würde, wie mir das umfangreiche Versuche bewiesen haben. Was indeß die Composition der Sprachmusik für den Zweck ihres Verlautens von Mund zu Ohr, und wie sie das zu leisten habe, das darf ich aus Erfahrung bewährter zu wissen behaupten, als man es aus Schulregeln lernen kann. Auch glaube ich diese Leistung, so weit des Hexameters Enge sie gestattet, wenigstens bis dahin geführt zu haben, wo man endlich thun muß, als sei man fertig, weil bei weiterer Feilung die Gefahr der Verbildung drohend wird. So sei denn auch dieses Werk endlich entlassen, weit minder mit Freude daß es vollbracht, als mit dem Gefühl des Bedauerns daß eine Arbeit nun zuende ist, der ich seit [XLII] meinen Knabenjahren beinahe täglich Stunden des reichsten Genusses zu verdanken hatte. Vielleicht thut es ihr keinen Schaden bei meinen werthen Sprachgenossen, wenn sie merken, daß ich beim Schaffen an sie noch gar nicht gedacht, sondern in glücklicher Weltvergessenheit einzig mein Vergnügen gesucht habe.
Julius Keller Julius Keller (1847–1911) war nach dem Studium der Klassischen Philologie und der Philosophie in Heidelberg, Leipzig und Berlin als Gymnasiallehrer in Baden-Baden, Konstanz, Wertheim und Karlsruhe tätig. Später bekleidete er Direktorenposten in Lörrach und Mannheim. In Verbindung mit seiner Lehrtätigkeit legte Keller auch sprachtheoretische Studien vor. Zu nennen sind die Abhandlungen Denken und Sprechen und Sprachunterricht (1899), Die Grundlinien zu eine Psychologie des Wortes und des Satzes (1907) und vor allem Die Grenzen der Übersetzungskunst (1892). Letztere entstand vor dem Hintergrund des langjährigen Streites um eine Reformierung des deutschen Schulwesens, insbesondere um die Gleichstellung der naturwissenschaftlich-neusprachlich ausgerichteten Realgymnasien mit den altsprachlich orientierten humanistischen Gymnasien. Die Übersetzungsthematik erschien seinerzeit offenbar besonders geeignet, die altsprachliche Ausbildung als Grundlage für alle weiterführenden Studien zu rechtfertigen. So ist nach 1890 ein deutlicher Anstieg an Publikationen zum Übersetzen im altsprachlichen Unterricht zu verzeichnen (ein weiteres Beispiel stellt die Arbeit von Georg Lejeune Dirichlet in diesem Band dar). Gegen die Forderung der sogenannten Realisten, im altsprachlichen Unterricht anstelle der zeitaufwendigen Originallektüre verstärkt auf gedruckte Übersetzungen zurückzugreifen, betonten die Vertreter der humanistischen Richtung, dass der Nutzen des altsprachlichen Unterrichts für die sprachliche und geistige Bildung der Schüler nicht in zeitsparender Inhaltsvermittlung, sondern gerade in der intensiven Auseinandersetzung mit den antiken Originaltexten und in der selbständigen Suche nach den jeweils geeigneten Ausdrucksmitteln der Muttersprache liege. In diesem Sinne argumentiert auch Keller. Er diskutiert sprachtheoretisch fundiert die von Wilhelm von Humboldt aufgeworfene Frage nach dem Zusammenhang von Sprache und Denken, zeigt Möglichkeiten und Grenzen des Übersetzens auf und leitet aus seinen Erkenntnissen Konsequenzen für das selbständige Übersetzen sowie für den Umgang mit gedruckten Übersetzungen im Unterricht ab.
Die Grenzen der Übersetzungskunst kritisch untersucht mit Berücksichtigung des Sprachunterrichts am Gymnasium Beilage zu dem Programm des Grossherzoglichen Gymnasiums zu Karlsruhe für das Schuljahr 1891/92, Karlsruhe 1892.
Georg v. d. Gabelentz erwähnt in seinem Buch über die Sprachwissenschaft ein neunjähriges Kind, das einmal den Ausspruch that: „Es ist doch komisch, wenn ich über eine Sache deutsch oder französisch oder englisch nachdenke: allemal nimmt sie sich anders aus“. v. d. Gabelentz schliesst daraus ganz allgemein auf die Erweiterung und Vertiefung des Denkens bei diesem Kinde durch den Besitz mehrerer Sprachen. Und der Schluss
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ist gewiss berechtigt. Aber das kindliche Wort sagt uns noch mehr, wenn wir uns nach den Voraussetzungen fragen, von denen das Kind offenbar ausging; und wenn wir die Empfindungen des Kindes etwas schärfer ins Auge fassen, die eben im Begriffe sind, sich zu einer bewussten Wahrnehmung und klaren Erkenntnis hindurchzuringen. Jedenfalls hatte das Kind bereits eine relative Herrschaft über seine drei Sprachen erlangt. Es war längst über den Standpunkt des blossen Übersetzens und übersetzenden Vergleichens hinausgewachsen. Es hatte die Sprachen innerlich erlebt, und diese führten ihr selbständiges Leben in ihm. Aber seine Verwunderung über das Ergebnis der Beobachtung seines eigenen Denkens in verschiedenen Sprachen ist in der naiven Voraussetzung begründet, alle Dinge und alle Vorstellungen von denselben, alle Begriffe und Gedanken seien für alle Menschen dieselben, und die verschiedenen Sprachen seien nur verschieden klingende Bezeichnungsweisen des allgemein und ewig Gleichen. Und diese Voraussetzung ist fast so verbreitet wie die Sprache selbst und sicher so allgemein wie die Einsprachigkeit und wird durch die landläufige Art des Übersetzens im sprachlichen Unterricht nur noch genährt. Zu dieser stillschweigenden bewussten oder unbewussten Voraussetzung tritt nun die erwachende Empfindung des intelligenten Kindes in scharfen Gegensatz, dass die vermeintlich selbe Sache in den drei verschiedenen Sprachen eine andere ist. Das Kind war mit seiner Verwunderung auf dem besten Wege zur Erkenntnis des Wesens der Sprache und des Verhältnisses der einzelnen Sprachen zum menschlichen Denken. Freilich, dieser Weg ist ein weiter, und die Wissenschaft hat ihn noch nicht bis zum letzten und sichern Ziele zurückgelegt. Und auf die Frage nach den Grenzen der Möglichkeit des Übersetzens lässt sich eine ganz fest umschriebene und unanfechtbare Antwort erst geben auf Grund der sicheren und genauen Erkenntnis des Verhältnisses alles sprachlichen Ausdrucks nicht nur zum menschlichen Denken im engeren Sinn, sondern zur gesamten Funktion unseres geistigen Wesens. Aber die Fortschritte gerade auf diesem Gebiet der Erkenntnis sind seit W. v. Humboldt doch so bedeutend, dass der Versuch wohl erlaubt sein mag, dem Problem des Übersetzens näher zu treten. Jene Erfahrung des neunjährigen Kindes kann der Lehrer einer fremden Sprache in der Schule täglich und stündlich machen, von der untersten Unterrichtsstufe ab in stetig zunehmendem Masse. Aber er macht sie, soweit wir sehen, in der Regel nicht mit der nötigen Klarheit und nicht in dem von der Sache selbst gebotenen Umfang. Und dies kann nicht überraschen bei [4] der geschichtlichen Entwickelung unseres Sprachunterrichts und speziell bei den wissenschaftlichen Zielen, die das Gymnasium bisher verfolgte. Auf der untersten Stufe mag es ja eine berechtigte pädagogische Erwägung sein, die es empfiehlt, an dem unausgesprochenen Axiom uneingeschränkter Übersetzungsmöglichkeit festzuhalten. Aber wenn Direktoren und Lehrer der Oberklassen ausdrücklich von der Ansicht ausgehen, es könne immer nur eine Übersetzung einer Stelle die richtige sein, und deshalb von den Schülern bei der Wiederholung dieselben Ausdrücke und Wendungen verlangen, die sie selbst angegeben haben, so liegt auch diesem Verfahren das Axiom von der Möglichkeit einer deckenden Übersetzung zugrunde. Wohl mag auch der Wunsch eines möglichst glatten Prüfungserfolgs der Erkenntnis des wahren Sachverhalts hindernd im Wege stehen. Und je mehr an unsern Schulen auf möglichste Bestimmtheit und Sicherheit präsenten Wissens in sprachli-
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chen Dingen Gewicht gelegt wird und in Verbindung damit auf rasches und „fehlerloses“ Übersetzen, um so mehr muss wieder jenes Axiom die Grundlage alles unseres sprachlichen Unterrichts sein, und um so fester muss es sich einleben bei Lehrer und Schüler. Und was ist es anderes als wieder ein Ergebnis des bewussten oder unbewussten Glaubens an dieses Axiom, wenn wohlgemeinte Reformvorschläge dem Gymnasium die gedruckten Übersetzungen der griechischen Klassiker zur Lektüre empfehlen anstelle des Urtextes? Können doch auch hiermit nur gute oder „richtige“ Übersetzungen gemeint sein! Und dieses Axiom für das Übersetzen ist im Grunde identisch mit der herrschenden Auffassung vom Unterschiede der Sprachen, die uns nicht nur jedes Vokabularium, sondern im allgemeinen auch jedes Lexikon als verschiedene Arten der Bezeichnung des gleichen geistigen an sich selbständigen Inhalts ansehen lehrt. Auf dem Boden dieser Auffassung ist die ganze Wissenschaft der klassischen Philologie erwachsen und gross geworden; und wo sie sich von der allgemeinen Sprachwissenschaft noch nicht hat beeinflussen lassen, wo sie nur ihren überlieferten Zusammenhang mit den historischen Wissenschaften gepflegt hat, steht sie heute noch auf diesem Boden. Die Sprachvergleichung hat an diesem Verhältnis nicht viel zu ändern vermocht. Sie verfolgt andere Ziele. Sie hat unsere Grammatiken völlig reformiert oder wenigstens stark beeinflusst, das grammatische Verständnis auf dem Gebiet der Formenlehre mächtig gefördert und vertieft; sie hat die Etymologie auf sichere Grundlagen gestellt und unser Wissen auf diesem Gebiet mit einer Fülle von Einzelerkenntnissen bereichert; sie hat uns endlich einen klareren Einblick in die geistigen Prozesse gegeben, die dem sogenannten Bedeutungswandel zugrunde liegen. Das sind ihre eigentlichen Aufgaben, und die weitere Bearbeitung derselben kann auch dem Betrieb der klassischen Sprachen auf jeder Stufe nur Förderung bringen. Die Frage nach dem Wesen der Sprache stellt sie nicht, untersucht also auch nicht das Verhältnis des Sprechens zum Denken. Schon die Betrachtung der sogenannten inneren Sprachform gehört zu ihrem Grenzgebiet. Wie aber die Sprachvergleichung mit dem Seziermesser in der Hand den toten Leib der Sprache nach allen seinen Teilen und Teilchen kennen lehrt, so will die Sprachwissenschaft, darin der Physiologie vergleichbar, die lebendige Sprache in allen ihren einzelnen Funktionen und in deren Zusammenwirken zu einer Gesamtfunktion des geistig-leiblichen Wesens der Menschen begreifen. Und dass von dieser Seite neue Einsichten auch für die klassische Philologie, sofern sie sich mit den Sprachen ihres Gebiets beschäftigt, kommen können und müssen, ist zweifellos. Aber jede, auch die kleinste Förderung unserer Erkenntnis der alten Sprachen ist untrennbar von einem Fortschritt in der Erkenntnis des Geistes der Völker, die jene Sprachen gesprochen haben. So lange nun die klassische Philologie im Zeitalter des Humanismus möglichst sichere Beherrschung der lateinischen Sprache in gebundener und ungebundener Rede, in Wort und Schrift als Hauptziel verfolgte, da war die gleichzeitige Lehrmethode unbestreitbar die beste. Man zwang die Schüler mit allen Mitteln womöglich von der Stunde des Eintritts in die [5] Gelehrtenschule an nur noch lateinisch zu sprechen und zu denken. Und unerlaubte Zwangsmittel zu diesem Zweck gab es damals noch nicht, solange die Jünger der Wissenschaft wenigstens schliesslich mit heiler Haut abgingen.
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Man that also ungefähr dasselbe, als wenn wir einen zehnjährigen Jungen, um ihm Französisch beizubringen, in ein Collège nach Paris versetzten. Der Erfolg wäre sicher der schnellste und beste. Bei dieser Lehrmethode konnte man ruhig sagen: virtus heisst Tugend, ars Kunst, telum Geschoss, fides Treue, valetudo Gesundheit, modestus bescheiden, saluber gesund, proficisci reisen u. s. w. Alle die falschen oder einseitigen Bedeutungsangaben schadeten nicht. Es war dafür gesorgt, dass dem Schüler durch die lebendige Rede und durch reichliche Lektüre die richtigen Begriffe der Worte sich mit derselben Sicherheit anbildeten, wie dem Kinde die Begriffe der Muttersprache. Er kam auf dem Wege mehr oder minder unbewusster Beobachtung und Induktion mit den Worten in Besitz der Begriffe spezifisch lateinischer Prägung und wusste mit ihnen richtig umzugehen und in ihnen zu denken, ohne sich viel Rechenschaft zu geben über das Verhältnis dieser Begriffe zu ähnlichen der ohnehin verachteten eigenen Sprache. Das Latein war ihm eine zweite Muttersprache geworden, sofern es die inneren und äusseren Formen abgab, in denen sein Geist lebte und funktionierte. So weit sind wir allerdings nun schon, dass wir den verschiedenen Sprachen, mit denen wir uns beschäftigen, Begriffe von ganz spezifischer Prägung zuerkennen; Begriffe, von denen wir den Schülern sagen, sie seien eigentlich unübersetzbar, wohl keine andere Sprache, kein anderes Volk habe einen ähnlichen Begriff geschaffen. Die stillschweigende Voraussetzung ist dabei, die andern Begriffe stimmten so im allgemeinen innerhalb der verschiedenen Sprachen. Wir weisen also den reiferen Schüler darauf hin, dass virtus niemals „Tugend“ heisst, sondern einen spezifisch römischen Begriff darstellt, der alle lobenswerten Eigenschaften des vir, d. h. des Mannes im besten Sinne des Wortes, zusammenfasst. Wir erinnern sodann an Mannhaftigkeit, Tapferkeit, weisen auf mancherlei Surrogate hin, die im einzelnen Fall dienlich sein können, auf das schale und kahle „Vorzüge“, auf Umschreibungen mit Hülfe des indifferenten „Eigenschaften“ und eines passenden Attributs, ermangeln aber nicht hinzuzufügen, dass alle diese Übersetzungen einseitig sind, dass ihnen die gedrungene Kürze ebensosehr fehlt wie die abgerundete Fülle des Inhalts, und dass ihnen ausserdem noch eine wesentliche Eigenschaft abgeht, nämlich das natürliche etymologische Bewusstsein, das dem Römer unzertrennlich mit dem Aussprechen des Wortes virtus verbunden war. Mit gemischten Gefühlen weisen wir auf die deutsche „Gemütlichkeit“ als auf einen Begriff spezifisch deutscher Prägung hin. Den griechischen καλὸς καὶ ἀγαθός lehren wir als eine begriffliche Zusammenfassung erkennen, in der der Grieche seine Vollkommenheitsvorstellung vom Menschen und Bürger zum Ausdruck brachte, und zwar nach der körperlichen und geistigen sowie nach der sittlichen und politischen Seite. Wer vermöchte aber den Inhalt dieses Begriffs in deutscher Sprache zu erschöpfen ausser in einem langen und recht umständlichen Satz? Und doch wächst er dem Griechen ganz von selbst aus den beiden Elementen heraus, aus denen seine sprachliche Form sich zusammensetzt. Freilich bietet unsere Sprache auch weder für καλός noch für ἀγαθός einen auch nur einigermassen deckenden Begriff, trotz allen einhelligen „schön“ und „gut“ unserer Wörterbücher. Dem entsprechend wird der Lehrer des Englischen keinen Versuch machen seinen gentleman zu verdeutschen. Hier hat die deutsche Sprache dem Lehrer insofern schon vorgearbeitet, als sie dies englische Wort samt seinem Begriff sich längst einverleibt und unsere Begriffswelt damit thatsächlich bereichert hat. Und
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dem französischen esprit konnte das Zeitalter Lessings mit seinem „Witz“ noch eher gerecht werden als unsere fortgeschrittene Zeit, deren „Geist“ etwas ganz anders ist als esprit. Wo ferner Gegenstände oder Einrichtungen oder Handlungen sich bei dem fremden Volke [6] finden, die unser Volk und unsre Sprache nicht kennt, auch da machen wir selbstverständlich eine Ausnahme von der oben erwähnten allgemeinen und altüberlieferten Voraussetzung. Wir bescheiden uns deshalb bei den deutschen „Auspizien“, nachdem wir den Sinn des Wortes erklärt; wir könnten uns auch mit lectisternium und manchem anderen der Art beruhigen, statt gezwungene und an sich doch entweder unverständliche oder unzulängliche Verdeutschungen zu versuchen; und das „ver sacrum“ ist dem „heiligen Lenz“ oder „Frühling“ entschieden vorzuziehen, von dem unsere Dichter in ganz anderm Sinne zu singen das Recht haben. Auch begnügen wir uns naturgemäss mit Lotos und der Asphodeloswiese und lassen das Moly der Götter unangetastet. Freilich verblüffen wir im Gegensatz dazu unsere Quartaner immer noch mit dem „Scherbengericht“, einer vermeintlichen Übersetzung des Ostracismus, die ein künstliches Dasein, einem ausgestopften Tiere gleich, ausschliesslich in der Schule fristet. Ist der Ostracismus erklärt, so verbindet sich sein Begriff am leichtesten mit dem Wort, an dem er erwachsen ist. Der unaufmerksame Schüler aber wird unter Ostracismus vielleicht gar nichts verstehn, unter Scherbengericht sicher etwas Falsches. Denn bei dem ersten Teile des Wortes denkt er nur an die Bruchstücke eines zerschlagenen Gefässes und bei dem zweiten viel eher an das Linsengericht als an ein Volksgericht.1 Wo wir also begriffliche Zusammenfassungen vorfinden, in denen wir ein Stück der ganz individuellen Eigenart eines Volkes sehen müssen, und wo wir Bezeichnungen von Gegenständen, Einrichtungen, Bräuchen vor uns haben, die nur im Kreise eines Volkes zu finden oder wenigstens uns fremd sind, – und auch da nicht einmal immer – verzichten wir auf Übersetzung und geben Ausnahmen von der allgemeinen Voraussetzung der Übersetzbarkeit zu. Sonst halten wir alles für übersetzbar bis herunter auf die zahllosen homerischen μέν und δέ, ἄρα und νυ, κεν und τε u. a. Wir empfinden da wohl die ausserordentliche Glätte der Form und des Gedankens, die der griechischen Rede durch diese vielen kleinen Einsatzstücke erteilt wird. Wir vergessen aber, dass die deutsche Sprache von Natur grobkörniger ist und eine rauhere Bruchfläche darbietet. Wenn wir nun unseren Schülern den Geschmack an Homer verderben mit den weit _____________ 1
Dabei fällt mir ein Erlebnis aus meiner eigenen Schulzeit ein. Einer unsrer französischen Lehrer – er lebt nicht mehr – las mit uns einen Abschnitt aus der Geschichte der französischen Revolution von Mignet. Die Überschrift dieses Abschnitts in unserm Lesebuch übersetzten wir mit „das Ende der konstituierenden Assemblée“. Und obwohl der Lehrer selbst unverdrossen mit einem zweibändigen Dictionnaire auf dem geräumigen Katheder arbeitete, lieferte er doch ein Deutsch, das von französischen Fremdwörtern der ungewöhnlichsten Art strotzte. Uns war diese Methode der Nichtübersetzung höchst ergötzlich, und wir übten unsern Witz an dem neuen System. Dass der Lehrer auf die Verdeutschung unter Umständen verzichtete, eben weil er die französischen Begriffe besser verstand, als das Wörterbuch sie ihm verdeutschen konnte: dieser Gedanke war für uns und unsere in 5 Jahren gereifte Übersetzungsweisheit ausgeschlossen. Allerdings machte der Lehrer auch keinen Versuch, uns durch Interpretation der betreffenden französischen Begriffe den Humor an der Sache zu verderben.
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plumperen und eigenständigeren Einsatzstücken „also, eben, ja, freilich, natürlich, zwar, aber, wohl, füglich“, so übersehen wir dabei in der Regel, dass wir in dem Bestreben, unserer Sprache die griechische Glätte mitzuteilen, nur die uns angemessene und natürliche Grobkörnigkeit der Sprache durch eine künstliche, uns aber zuwiderlaufende ersetzt haben. Unsere Einsatzstücke ergänzen nicht die rauhe Fläche zur Glätte, sondern ragen nach allen Richtungen aufdringlich über dieselbe heraus. Der Schüler hat dabei mit recht den Eindruck der Pedanterie, findet natürlich an solchem Deutsch keinen Geschmack und lernt an dem holprigen Wesen auch die griechische Diction nicht in ihrer Geschmeidigkeit und feinen Glätte empfinden. Unser Verfahren im Sprachunterricht ist in den letzten Jahrzehnten im Zusammenhang mit der Verkürzung der Unterrichtszeit für die klassischen Sprachen mehr und mehr das Opfer der endlos „verbesserten Methode“ geworden. Und vielleicht die schlimmste Seite dieser verbes-[7]serten Methode ist ein – man möchte sagen dogmatischer Übersetzungsdrill, der mit allen Mitteln gefördert wird, und dem die Frage nach der Übersetzbarkeit überhaupt ganz fern liegt. Dabei ist das Grunddogma, von dem alles andere abhängt, die Voraussetzung, dass die allen Menschen gemeinsame Welt der Gedanken in den verschiedenen Sprachen nur eine lautlich verschiedene „Bezeichnung“ fände. Hiernach sind unsere Schulvokabularien dogmatisch, indem sie einem fremdsprachlichen Wort in der Regel ein deutsches gegenüberstellen; unsere grösseren Wörterbücher sind dogmatisch, indem sie die Gegenüberstellung des fremdsprachlichen und deutschen Ausdrucks auch auf alle möglichen Wendungen, Phrasen und Verbindungen ausdehnen, in denen das einzelne Wort auftritt. Und in gleicher Weise ist unser Unterricht fast durchweg dogmatisch. In Sexta lernt der Schüler: fides die Treue; in Quinta erfährt er wohl, dass fidem habere Glauben schenken heisst; in Quarta, dass fidem dare und accipere mit Schwur, eidliches Versprechen und dergl. wiederzugeben ist; in Tertia, dass fides Schutz bedeutet; in Untersekunda wird dem Schüler klar, dass mit dem Schwinden der fides der „Krach“ da ist, dass also fides Kredit heisst; in Obersekunda liest er dann zu seinem Erstaunen: en haec promissa fides est? und findet im Wörterbuch etwa die Bedeutung „Erfolg“ oder „Erfüllung“; daneben aber schillert dasselbe Wort durch alle Klassen hindurch noch in den verschiedensten Farben der Bedeutung als Garantie, sicheres Geleit, Aufrichtigkeit, Glaubwürdigkeit u. dergl. Der denkende Schüler wundert sich wohl mehr und mehr über die vielen „Bedeutungen“ des einen Wortes und bildet sich ein, der Lateiner verwende sein fides in allen diesen einzelnen Fällen in den verschiedenen Bedeutungen, die das Wörterbuch anrät; und schwerlich ringt er sich zu der Erkenntnis durch, dass eben auch in fides trotz seiner leichten Übersetzbarkeit in allen Verbindungen eine spezifisch römische und für den redenden Römer untrennbare oder jedenfalls ungetrennte einheitliche Begriffsprägung vorliegt, die kein anderes Volk so geschaffen hat, und dass in allen Wendungen, in denen das Wort erscheint, für den Römer der ganze Begriffsinhalt des Wortes in Erregungszustand versetzt wird, sobald er es im Zusammenhang ausspricht. Auch uns ist es ja, ehe wir lateinisch gebildet sind, durchaus dasselbe „wegen“, mag es nun propter oder causa bedeuten, und dasselbe „glauben“, einerlei ob wir putare oder credere dafür zu wählen haben. Unsere eigenen Schüler beweisen uns dies zur Genüge. – So steht es heutzutage in der Praxis der Schule, und so musste es gemäss
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der Geschichte der Gelehrtenschule kommen. Und nach dem Gymnasium richten sich vielfach die andern Schulen. Anders stände die Sache, wenn wir die Sprachen noch von innen heraus lehrten, wenn wir alles dafür thäten, den Schüler die fremden Sprachen möglichst bald innerlich erleben zu lassen. Aber solange wir sie mit Grammatik und Vokabularium in der Hand von aussen her beibringen, so lange muss in gewissem Umfang das dogmatische Verfahren beibehalten werden. Aber ehe wir praktischen Erwägungen und Folgerungen näher treten, wollen wir doch das Problem des Übersetzens selbst erst feststellen und nach Möglichkeit zu lösen versuchen. Übersetzen heisst nach der allgemeinen Auffassung: in Worten ausgesprochene Gedanken – Gedanken im weitesten Sinne gefasst – in eine andere Sprache übertragen. Wir sagen ausdrücklich: nach der allgemeinen Auffassung, denn nicht jede wissenschaftliche Auffassung dieses Verhältnisses gesteht dem sprachlich ausdrückbaren Gedanken ein selbständiges Dasein hinter den Worten zu. Eventuell müsste man also etwa sagen: Übersetzen heisst die sprachlichen Gedankenformen eines Idioms durch die sprachlichen Gedankenformen eines anderen Idioms möglichst adäquat wiedergeben. Was aber heisst Sprache? Wo ist die Grenze von Sprache und Dialekt? Soll das Kriterium des Dialektes darin bestehn, dass die Vertreter verschiedener Dialekte sich immer noch verstehn, so sprechen wir Deutsche verschiedene Sprachen. Ein Mecklenburger Bauer und ein Schwarzwälder Holzschläger oder gar ein Tiroler Sennhirt verstehn sich sicherlich nicht. Kaum in unserm engeren Vaterlande ein ungebildeter Franke vom Main und ein entsprechender Ale-[8]manne vom See. Aber die Unterschiede in der Sprache erstrecken sich ja noch viel weiter. Keine zwei Dörfer im Deutschen Reich sprechen für den Kenner, d. h. vor allem für die betreffenden Dorfbewohner selbst, ganz die gleiche Sprache. Und wenn man auch nicht so weit geht, wie einer unserer Sprachforscher, der die Dinge gern auf die Spitze treibt, dass man sagt, niemals wird auch dasselbe Wort von demselben Individuum in absolut gleicher Weise gebraucht, so darf man doch zuversichtlich aussprechen, dass keine zwei Menschen genau die gleiche Sprache sprechen. Unterschiede sind für den feinen Beobachter immer vorhanden, und zwar mehrfache, die sich auf alle Gebiete der Sprache erstrecken; Unterschiede des Lautes und des Sprachgebrauchs, Unterschiede in der Vorliebe für diese oder jene Ausdrucksweise und Verbindung, und die grössten Unterschiede in der Betonung, so weit sie nicht Schablone des üblichen Sprechgesanges ist, sondern Ausdruck der individuellen Grundstimmung und Bewegungsart der Seele. Wo beginnt nun die Aufgabe der Übersetzung und wo hört sie auf ? Man wäre geneigt ohne alle Überlegung, weil man sie für überflüssig hält, zu urteilen, das Übersetzen sei um so leichter, je geringer die Unterschiede seien; um so schwerer, je weiter die Sprachen von einander abstünden. Und insofern mit recht, als es um so schwieriger ist in eine Sprache sich einzuleben, je ferner sie nach ihrem Bau und ihrem Anschauungskreis uns steht. Aber von dieser ausserhalb liegenden Schwierigkeit abgesehen und vollkommene Beherrschung der in Frage kommenden Idiome vorausgesetzt scheint die Schwierigkeit des treffenden Übersetzens eher umgekehrt mit der Ähnlichkeit der Idiome zu wachsen und sich rasch bis zur Unmöglichkeit zu steigern. Schon der reifere Schüler macht die Erfahrung, dass es viel leichter ist, ein Kapitel Livius oder Caesar so zu verdeutschen, dass nicht allzuviel eingebüsst wird, als etwa
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einen Abschnitt des Nibelungenlieds; oder gar ein Hebelsches Gedicht hochdeutsch wiederzugeben, ohne – fast alles dabei zu verlieren, was den eigentlichen Wert eines solchen Gedichtes ausmacht. Allerdings wäre es auch unverständlich, warum uns ein Dichter etwas in einem Dialekt sagen wollte, was er ebensogut in der Schriftsprache hätte sagen können. Die Unmöglichkeit der Übertragung in das Hochdeutsche ist also die Voraussetzung aller Dialektpoesie und ihre einzige Berechtigung. Die Übertragungen Hebels ins Hochdeutsche lesen sich daher ausserordentlich nüchtern und kahl, da ihr ursprünglicher Wert nur im Unübersetzbaren besteht, und der übersetzbare Rest fast nichts mehr vom eigentlichen poetischen Gehalt an sich hat. Der Geist ist weg, das Phlegma ist geblieben. Man vergleiche z. B. den Anfang des Gedichtes „Eine Frage“ mit der Übersetzung von Reinick. Bei Hebel lauten die 3 ersten Zeilen: Sag, weisch denn selber au, du liebi Sêl, Was ’s Wienechtchindli isch, un hesch’s bidenkt? Denkwol i sag der’s, un i freu mi druf.
Reinick giebt dafür: Sag’, hast du wohl bedacht, du liebe Seel’, Und weisst du, was das Weihnachtskindlein ist? Ich will dir’s sagen und ich freu’ mich drauf.
Es ist scheinbar wenig, was der Übersetzer eigentlich verfehlt hat. Die Umstellung von weisch und hesch’s bidenkt ist eine merkliche Verschlechterung; das selber au hat er fallen lassen, weil das alemannische au etwas ganz andres ist als das auch der Schriftsprache. Die liebe Seel’ des Übersetzers ist keine rechte Übersetzung, es sind die gleichen Worte wie im Original, aber ohne den gleichen Wert; und kein Mensch wird im Hochdeutschen sagen du liebe Seel’. Der grösste Verstoss liegt im Ausfallen des Denkwol. Vielleicht hatte der Übersetzer kein Verständnis für dieses Wort und dafür, dass das folgende un i freu mi druf seinen rechten Sinn erst bekommt durch das vorausgehende Denkwol. Der Sprecher des Gedichtes kündigt mit diesem Wort dem [9] Angeredeten eine freudige Überraschung an, und indem er dann erst hinzufügt un i freu mi druf, ist die Grundstimmung, von der das ganze Gedicht getragen ist, erst angegeben, die Einigkeit und Innigkeit der beiderseitigen Freude an der folgenden Mitteilung und Betrachtung. Dies aber fehlen lassen heisst fast alles fehlen lassen, greift jedenfalls weit über den Kreis einer blossen Einzelheit hinaus. Aber ist dies eigentlich die Hauptsache? Ist es ein ausschlaggebender Verlust, wenn der Übersetzer später das Gufebüchsli und die Gufe unter dem Weihnachtsbaum weglässt, um uns keine poetischen Stecknadeln oder gar Stecknadelbüchschen aufreden zu müssen? Oder sind Geschmacklosigkeiten die Hauptsache, wie am Ende des Habermus, wo das Hebelsche: so chömmetder Zibbertli über wiedergegeben sein soll mit da giebt es gebackene Pflaumen – was nicht einmal in die Schriftsprache gehört, ganz abgesehen davon, dass es sich dabei weder um Pflaumen handelt noch um Gebackenes? Oder verlieren wir am meisten, wo die Übersetzung uns um Anschauungen bringt, die aus der Landschaft oder der unmittelbaren Umgebung stammen, in der der Dialekt erklingt? Wenn wir uns z. B. begnügen müssen mit mancher blanke rote Winterapfel für
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Hebels menge rôten Öpfel ab der Hurt mit seinem ganzen dem Eingeweihten wohlbekannten Zauber für Nase und Auge während der entbehrungsreichen Winterzeit? Es ist richtig, alle diese Einzelheiten summieren sich zu einem recht erheblichen Gesamtverlust. Aber trotzdem bilden sie nicht die Hauptsache. Warum kann das Chindli nimmermehr durch Kindlein oder gar Kindchen wiedergegeben werden? Warum mutet uns das Bettli ganz anders an als das Bettchen? Ist es etwa bloss die Lautsymbolik, die den Unterschied ausmacht? Vielleicht. Aber ist die Lautsymbolik etwas Absolutes, für alle Gleiches? Gewiss nicht, sondern je nachdem ein Volk, eine kleinere Gemeinschaft, ein Individuum empfindet und ein Gefühlsleben in sich entfaltet hat, ist die Lautsymbolik eine grundverschiedene bei dem gleichen Laute. Und hiermit sind wir an dem Hauptpunkte angelangt, an jener Schranke, die dem Übersetzer ewig unübersteiglich bleiben wird und sei er auch der grösste Sprachkünstler; denn die Schranke ist ihm nicht von dem fremden Idiom gesetzt, sondern von dem eigenen und bildet ein ewig unveräusserliches Inventarstück seines eigenen Idioms, hier der deutschen Schriftsprache. Es ist das ganz individuelle Empfindungs- und Gefühlsleben einer kleinen Volksgemeinschaft, das in den Hebelschen Gedichten durch den alemannischen Dialekt zur Aussprache kommt. Und derartigem individuellen Leben gegenüber hält sich die Schriftsprache ihrem Wesen nach ablehnend, also nicht etwa nur die deutsche, sondern jede. Und man kann kategorisch aussprechen, der alemannische Dialekt Hebels könnte nirgends auf Erden Schriftsprache eines grösseren Volkes sein. Die Schriftsprache ist ein Durchschnittsprodukt einer grossen Gemeinschaft, das die Extreme nach jeder Richtung abstreift, und das auf jede lokale Färbung verzichtet und zugunsten des Ganzen, dem sie gleichmässig dienstbar sein soll, verzichten muss. Sie dient in erster Reihe der Verständigung und dem allgemeinsten Verkehr aller mit allen. Die Welt des Gedankenmässigen der Begriffe und ihrer Verbindung findet in ihr den angemessensten und allgemein verständlichsten Ausdruck. Sie gleicht der prächtigen Oberfläche eines mächtigen Waldes, die im hellen Strahl der Sonne am besten gedeiht. Wer aber unter das Laubdach sich begiebt, um zu sehen, wo es seine Kraft herholt, der findet manche Pflanze und Blüte von eigenartiger Schönheit, die nur in der Verborgenheit blüht und gedeiht, die das helle Sonnenlicht der Allgemeinheit und Öffentlichkeit nicht einmal ertrüge. Oder sie gleicht einem gewaltigen Strom, der aller Welt dienstbar zwischen künstlichen Ufern dahinbraust, und dessen trübere Wasser uns nichts mehr erzählen von dem reinen murmelnden Quell in den Schlüften der Berge, von dem Spiel mit bunten Kieseln und Blumen, von den kecken Sprüngen über die Felsen hinab und von der innigen Gemeinschaft mit der umgebenden Natur, mit den Wurzeln der Baumriesen, die sie gespeist, und mit den [10] Bewohnern der Berge, die sie getränkt. Und doch sind diese zahllosen verborgenen Quellen die Wurzeln der Kraft auch des gewaltigsten Stromes. Die Schriftsprache ist nivellierend und hat wohl schon manche anmutige Höhe eingeebnet und arbeitet auch unverdrossen an den festeren Felsengebirgen der beständigsten Dialekte, von denen ihr Gebiet durchzogen ist. Und sie ist sachlich. Wer sachliche Mitteilungen zu machen hat, wird sich am besten und auch am liebsten möglichst der Schriftsprache bedienen; wer sich selbst aussprechen will, wird dies, falls sein Geist in einem Dialekt wurzelt, am liebsten und vollkom-
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mensten im Dialekt oder in der Färbung seines Dialekts thun. Es giebt nun freilich schon sehr viele Durchschnittsmenschen unter den Gebildeten und Halbgebildeten, die in Ermangelung einer ausgesprochen individuellen Natur keine Veranlassung haben, jemals aus dem Rahmen der banalsten Form der Schriftsprache zu fallen; auch solche, deren angestammter Dialekt Unterschiede von der Schriftsprache nur zum minder Edeln hin aufweist – hierher gehören z. B. die Dialekte der badischen Pfalz –; aber so lange wir Dialekte haben, die Vorzüge besitzen vor der Schriftsprache, und so lange es innerhalb dieser Dialekte Menschen giebt, die keine blossen Kulturprodukte, sondern Geschöpfe der Natur von ursprünglicher Kraft sind, so lange ist der rettungslose Untergang aller Dialekte, den man sonst wohl annehmen zu müssen meint, kaum zu befürchten. Es ist charakteristisch, dass die Dialektdichtung fast in demselben Augenblick Anspruch auf Berechtigung erhebt, wo nicht nur der Sieg der deutschen Schriftsprache vollständig äusserlich entschieden ist, sondern wo diese auch durch die Begründung einer grossen und tonangebenden Litteratur die Linien schärfer gezogen hatte, die ihr Gebiet nach allen Richtungen umschrieben. Noch Haller wusste in der ersten Zeit seines poetischen Schaffens die Grenze zwischen Schriftsprache und Dialekt nicht zu ziehen. Noch zu Lessings Zeiten sträubte sich die katholische Kirche gegen die deutsche Schriftsprache, die denn doch zu eng mit Luthers Bibelübersetzung zusammenzuhängen schien. Und ungefähr gleichzeitig mit Schillers Ausgang setzt unsere Dialektdichtung ein. Denn nun erst war es endgültig entschieden, was unweigerlich aus dem Bereich der Schriftsprache ausgeschlossen blieb; der Boden für das selbständige Auftreten der Dialektpoesie war somit bereitet. Die Griechen hatten einen anderen Ausgleich zwischen Schriftsprache und Dialekt getroffen. Sie nahmen den Dialekt in die grössten Litteraturwerke der attischen Schriftsprache mit auf, wo es nötig schien. Wenn aber Sophokles seine Chorlieder in der Färbung des Dialekts dichtete, so that er dies nicht aus blossem Stilgefühl, wie man wohl sagt, sondern weil es sich in diesen Chorliedern um den Ausdruck von Stimmungen handelte, die den Griechen mit dem Dialekt unmittelbar gegeben waren und die sich durch die sonst so hoch entwickelte attische Litteratursprache einfach nicht ausdrücken, nicht erzeugen liessen. Der alemannische Dialekt Hebels ist seinem Wesen nach die Sprache einer kleinen aber aufs engste zusammengehörigen Gemeinschaft. Aus jedem Wort, aus jedem Klang fast ertönt das liebevollste Interesse an dem Angeredeten und als Grundstimmung eine kindliche, harmlose Freudigkeit. Und im Ganzen lebt eine Zartheit der Empfindung, eine Treuherzigkeit und innere Wärme, wie sie nur der kindlich reinen Seele eigen sind. Eine Schriftsprache vermag derartige Tonfarben wohl im einzelnen anklingen zu lassen, nie aber in ihrer Vereinigung als Grundton der Stimmung voll zum Ausdruck zu bringen und festzuhalten. Und darin liegt der Hauptverlust den die Hebelschen Gedichte bei der Übersetzung ins Hochdeutsche erleiden und den sie mit innerer Notwendigkeit erleiden müssen; ihre spezifische Gefühlswelt geht verloren, und darum sind sie unübersetzbar. Aber immerhin ist die Schriftsprache doch noch eine Art Durchschnittssprache aller Deutschen, so weit es sich um den Ausdruck des geistigen und des Gefühlslebens
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handelt. Also kann [11] ihr Verhältnis zu den Dialekten niemals das denkbar schlimmste sein. Wie aber gestaltet sich die Sache, wenn man etwa aus einem Dialekt in den andern zu übertragen versuchte? Und wenn man dazu einen Dialekt wählte, der in den spezifischen Vorzügen des Alemannischen ebenso tief unter der Schriftsprache stände, wie die Sprache Hebels über ihr steht? Und ein solcher Dialekt ist der unserer badischen Pfalz. Von zarter Empfindungsweise, von innigerem Gemeinschaftsleben, von innerer Wärme findet sich in der Sprechweise des naturwüchsigen Pfälzers kaum eine Spur. Da ist alles derb, die Sprache und Ausdrucksweise unfein, oft roh, im Klang meist schreiend; ein starker Egoismus verbindet sich meist mit grossem Selbstbewusstsein und einer starken Neigung zu renommistischem Wesen, weshalb ein Pfälzer den andern mit Vorliebe als „Krakehler“ oder „Krischer“ bezeichnet. Zur poetischen Behandlung in diesen Dialekten der Pfalz eignen sich nur die derbsten Dorfgeschichten und ganz besonders solche Begebenheiten, in denen die Einbildung und das renommistische Wesen des gewöhnlichen Pfälzers im Konflikt mit seiner Borniertheit erscheint. Nadler, Kobell u. a. haben dies richtig herausgefühlt. Man mache nun den Versuch, ein Hebelsches Gedicht in eine Pfälzer Mundart zu übertragen, und man wird die überraschendsten Dinge erleben. Die Verse z. B. ’s Habermuos wär’ fêrig, so chömmet, ihr Chinder, und esset; Betet: Aller Augen – und gent mer ordeli Achtig, As nit eim am ruossige Tüpfi ’s Ermeli schwarz wird.
würden sich in der Mundart der „Mannemer Stadtbas“ etwa folgendermassen ausnehmen: So, der Brei wär gekocht, ietz kummt, ir Kinner, un esst aach; Beet eens: Aller Aache – so, ietz gebbt mer norr owacht, Dass mer net eem am russige Haffe sei Ärmel noch schwarz werrd.
Wer dies mit den richtigen Accenten zu hören versteht, wird zugestehen müssen, dass Hebel kaum grausamer karikiert werden kann. Wer aber in dieser mehr Travestie als Übersetzung fortfahren wollte, würde bald die Entdeckung machen, dass ihm nicht nur durchweg die Farben auf der Palette fehlten, um auch nur entfernt die Töne zu treffen, die uns den alemannischen Dialekt so sympathisch machen, sondern dass er mit seinen Mitteln auch die Formen nirgends wiederzugeben vermöchte, wo sie in einigermassen weicher verlaufenden Linien sich halten. Ein gerupfter Pfau wird sich eben niemals mit Krähenfedern wieder zur ursprünglichen Farbenschönheit und Formvollkommenheit aufputzen lassen, allerdings auch nicht eine gerupfte Krähe mit Pfaufedern zu ihrer ursprünglichen Erscheinung. Das wirklich Übersetzbare aber an der Dialektdichtung, d. h. der begriffliche Kern, ist nichts weiter als der gerupfte Vogel. Man kann aber die Frage nach der Übersetzbarkeit in noch geringere und feinere Unterschiede verfolgen. Mehr als in der Schriftsprache spricht man schon im Dialekt nicht nur seine Gedanken, sondern auch sich selbst aus; und auch da weit mehr im unmittelbar gesprochenen als im geschriebenen Wort. Wir wissen aber, dass die Unterschiede der Sprache auch durch die kleinsten Dialektgebiete bis zum Individuum in immer feineren Verzweigungen sich forterstrecken. Ist nun schon der Dialekt das zutreffende Bild des geistigen Wesens seiner Vertreter nach Umfang und Inhalt, so kann
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man vom natürlichen Individuum noch mehr sagen: seine lebendige Rede ist er selbst; eher als man dies vom blossen Stil, einer einzelnen Seite der lebendigen Rede, sagen kann. In der unmittelbaren Aussprache des Inneren ist aber nicht nur der ganze Sprechmechanismus in Thätigkeit, sondern auch der ganze mimische Apparat des menschlichen Leibes arbeitet mit. So hat denn hier erst das Individuelle seinen Höhepunkt erreicht. Und damit hört die Möglichkeit der Übersetzung überhaupt auf und die Nachahmung tritt an ihre Stelle. Denn was der individuellen Rede ihren eigenartigen Wert verleiht, ist die darin in die Erscheinung tretende Person. Diese tritt aber weniger in den kleineren Unter-[12]scheidungen der Sprachform in die Erscheinung als in den unübersetzbaren Accenten im weitesten Sinne des Wortes und in allen den kleinen begleitenden Bewegungen des Mundes und der Augen und schliesslich des ganzen Körpers. Jedermann weiss, dass eine Fülle von launigen Erzählungen, Schilderungen, Scherzen nur in der ganz individuellen Form des originalen Erzählers wirken, in der blossen Wiedergabe der Worte oftmals gar nicht. Je individueller also die Sprachform ist, um so mehr bildet sie mit dem geistigen Inhalt eine unteilbare Einheit. Im Dialekt schon ist Geist und Form völlig untrennbar. Annähernd übersetzbar erschiene ein Dialekt nur dann, wenn irgendwo auf Erden eine andere Sprache oder der Dialekt einer solchen sich herausgebildet hätte, deren Träger die gleiche Richtung des Geistes und Art des Gemütes hätten und zudem in ähnlicher Umgebung lebten. Die gleiche Lautsymbolik könnte sich da mit völlig anders gearteten Lauten verbinden. Denn ein irgendwie genauer formulierbares Verhältnis zwischen dem einzelnen Laut und der möglichen Symbolik desselben scheint nicht zu existieren. Aber so wenig wie die Natur dieselbe Landschaft zweimal geschaffen hat, so wenig, ja sicherlich noch weniger, wird sie uns denselben Typus des Geistes und Herzens in zwei verschiedenen Volksstämmen und Sprachen bieten. Man wird sich also schon mit dem Ergebnis bescheiden müssen, dass der Dialekt nicht übersetzbar ist, wenigstens nicht im landläufigen Sinne des Wortes, wonach mit der Übersetzung dasselbe nur mit andern Lauten gesagt ist, was das Original enthielt. Wenn der Dialekt sich in die zugehörige Schriftsprache noch leichter oder mit geringerem Verlust übersetzen lässt als in einen andern Dialekt, so liegt der Grund in dem Charakter der Schriftsprache als eines Durchschnittsproduktes des Geistes der Nation. Je mehr dem Dialekt gemein ist mit der Schriftsprache, d. h. je weniger er individualisiert ist, um so leichter ist die Übertragung möglich, um so weniger wird dabei eingebüsst. Übertragung aus einem Dialekt in den andern vollzöge sich nur dann leichter, wenn die beiden Dialekte sich innerlich näher stünden als der Schriftsprache selbst, andernfalls schwerer. Aber wenden wir uns von den Dialekten zu den Sprachen und vom gesprochenen Wort zum geschriebenen. Das gesprochene Wort giebt uns den ganzen Menschen, das geschriebene ist nur ein Teil des gesprochenen. Wenn man sagt, die Sprache könne kein Gefühl ausdrücken, so denkt man an das geschriebene Wort und denkt an die begriffliche Fixierung der Gefühle. Diese ist wohl allerdings nicht in weiterem Umfang möglich. Aber der sprechende Mensch hat eine Menge kleiner Mittel, seinen Gefühlen in der Sprache und durch das Sprechen in anderer als begrifflicher Weise Ausdruck zu geben. Es ist dies neben dem Geberdenspiel, das so reich ist beim natürlichen Men-
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schen, wie das Gefühlsleben selbst, das musikalische Element, der eigentliche accentus, d. h. der zur Sprache hinzukommende Gesang, die Melodie, die der natürliche Mensch in unendlicher Abwechslung den leisesten Regungen seines Gefühlslebens angepasst mit seiner Rede unabsichtlich verbindet. Wir sagen der natürliche Mensch; denn beim Kulturmenschen ist die natürliche Musik der Rede vielfach gefälscht oder verkümmert; er neigt zur Monotonie oder sucht im theatralischen Pathos einen Ersatz für die verlorene Natur. Alle diese Dinge nun, in denen das Gefühlsleben des sprechenden Menschen zum Ausdruck kommt, fallen im geschriebenen Wort weg. Nicht viel mehr als die begriffliche, logische und grammatische Seite der Sprache bleibt übrig. Die geschriebene Sprache steht also auf viel allgemeinerem Boden; sie hat alles Subjektive nach Kräften abgestreift; sie verhält sich zum lebendigen Wort wie eine Zeichnung zum Ölbild. Die Mitteilung eines Inhaltes ist meist ihr einziger Zweck. Wenn nun der Inhalt unseres Geistes „durch die Thore der Sinne“ in die Seele eingezogen ist, also ein Abbild darstellt der uns umgebenden Welt, so sollte man, da doch im ganzen allen die gleiche Welt des Lebendigen und Un-[13]belebten gegenübersteht, wieder erwarten, dass die verschiedenen Sprachen eben nur einen Complex verschiedener Bezeichnungen dieses allgemein Gleichen darstellten; wenigstens sofern sie als Schriftsprachen nur sachliche Mitteilung erstrebten. Die Schwierigkeiten der Übersetzung könnten also, da auch die Gesetze der Logik allgemeinverbindlich sind, nur darin bestehen, die Unterschiede der Grammatik im weiteren Sinn auszugleichen. Wenigstens müssten dies, so sollte man denken, die einzigen Schwierigkeiten sein zwischen je zwei Schriftsprachen; namentlich zwischen solchen, die den Zusammenhang mit dem wuchernden Leben der natürlichen Sprache so völlig und so lange gelöst haben, wie z. B. die deutsche und die lateinische Sprache. Wenn wir nun im folgenden die Bedingungen untersuchen, unter denen eine Übersetzung des geschriebenen Worts der Schriftsprache sich als möglich erweist, so konnte selbstverständlich diese Untersuchung nur auf dem prinzipiellen Boden des allüberall Gleichen geführt werden. Es kam nicht das zufällige Verhalten der Begriffsordnung und Form der deutschen Sprache zu womöglich jeder einzelnen fremden in Betracht, noch viel weniger das Verhalten der fremden zu einander. Es kam nur darauf an, die ausschlaggebenden Gesichtspunkte, die im Wesen gleich, in der Form individuell verschieden allenthalben wiederkehren, an wenigen Beispielen zu erweisen. Wilhelm Jordan spricht in der Einleitung zu seiner Übersetzung der Odyssee von den Schwierigkeiten des Übersetzens und erwähnt dabei, dass höchstens ein Fünftel von den zehntausend Worten Homers mit deckenden deutschen Worten wiedergegeben werden könnte. Als Beispiel eines griechischen Wortes, dem ein „streng deckendes“ deutsches Wort gegenüberstehe, nennt er ἱστός; und die streng deckende deutsche Übersetzung dieses Wortes ist ihm „der Ständer“. Dabei verkennt Jordan keineswegs, dass dieser deutsche Ausdruck in keinem einzigen Falle das griechische ἱστός zu ersetzen vermag, dass wir vielmehr bald Webstuhl und bald Mastbaum sagen müssen, und dass auch diese beiden Übersetzungen nur unzulängliche Notbehelfe sind, sich keineswegs decken mit den Vorstellungen, die der homerische Grieche mit seinem ἱστός im einen und im andern Falle verband. Wie er nun dazu kam, die Übersetzung „Ständer“ als streng deckend zu bezeichnen, ist schwer zu sagen; denn die rein etymologische
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Analogie ist gleichfalls keine strenge zu nennen, und damit fällt auch die strengdeckende Grundbedeutung. Wir fürchten aber, dass es mit dem grössten Teile jenes Fünftels der homerischen Wörter, die volle Äquivalente im Deutschen haben sollen, ganz ähnlich steht. Und wenn man den Masstab genau anlegen will, so wird man finden, dass gar kein homerisches, ja überhaupt kein griechisches Wort seinen streng deckenden Ersatz in einem deutschen Worte findet. Jedes in Litteratur und Schrift fixierte Wort ist das Ergebnis der Entwickelung der lebendigen Rede. Dieses Ergebnis selbst hat die Gewähr grösserer Dauer und festeren Bestandes. Je grösser das Gebiet einer Schriftsprache und ihrer Literatur und je reicher die Produktion in derselben ist, um so beständiger wird diese Schriftsprache selbst in Begriff und Form. Die Form erscheint fixiert und der begriffliche Inhalt ist durch den Zusammenhang einigermassen festgelegt. Handelt es sich gar um rein technische Ausdrücke in Kunst, Wissenschaft und Verkehr, um Ausdrücke, die heutzutage Gemeingut der Gebildeten aller modernen Kulturvölker sind, so verleiht das allgemeinere Interesse denselben die denkbar grösste Festigkeit und Dauer. Es bildet sich da vor unsern Augen auf natürlichem Wege, d. h. vom Bedürfnis in jedem einzelnen Falle veranlasst, eine Art Weltsprache aus, jedenfalls das einzige Volapük, das Zukunft haben kann. Aber auf dem Gebiete der Voraussetzung jeder Schriftsprache, der lebendigen Rede im Munde des Volkes, herrscht ewiger Fluss und ewige Beweglichkeit. Und dies ewig Fliessende und Bewegliche scheint aufseiten des begrifflichen Inhalts noch stärker als auf der Seite des Lautes. Der lebendigen Sprache an sich fehlt der Halt der erlernten Grammatik und der normierten Aussprache, der Masstab und Halt der Literatur. Das Kind ahmt die Sprache erst der Eltern, dann der erweiterten Umgebung nach. Mehr als drei Generationen leben in der Regel nicht [14] zusammen. Die Nachahmung selbst ist niemals eine streng deckende und kann es nicht sein. Was aber hier von der lautlichen Seite der Sprache gilt, das gilt in noch gesteigertem Masse von der begrifflichen. Für einen Teil der Begriffe ist allerdings durch die konkreten Gegenstände selbst, die sie bezeichnen, eine Art Halt gegeben; aber doch nur ein sehr relativer, wie die Sprachgeschichte auf jedem Blatte lehrt. Wo aber der scharf umrissene Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung fehlt, wo bloss Vorgestelltes aus dem grossen Gebiete des Nichtsinnlichen ausgedrückt werden soll, und wo überhaupt die Sprache sich auf ihrem fruchtbarsten und, wie es scheint, ewig jungfräulichen Boden, dem der Metapher, bewegt, da fehlt jener äussere Halt gleich anfänglich oder nach kurzer Frist völlig, und das begriffliche Wesen des Worts ist einem im Keim unmerklichen, aber in seiner Weiterentwickelung unaufhaltsamen Veränderungsprozess preisgegeben, der sich meist viel rascher vollzieht als der parallele Veränderungsprozess der phonetischen Seite des Wortes. Zwei Faktoren wirken dabei immer zusammen, ein negativer und ein positiver. Der negative ist wie auf der Seite des blossen Lauts unvollkommene Nachahmung; d. h. aus mangelnder Schärfe der Auffassung wird die überlieferte Vorstellung nicht genau so umgrenzt aufgenommen, wie sie überliefert wurde. Dazu kommt als positiver Faktor mehr oder minder bewusste Modifizierung und neue Umgrenzung des Begriffs infolge neuer Erkenntnis oder Auffassungsweise und metaphorische Weiterentwickelung desselben.
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Diese beiden Faktoren allein haben zur Folge, dass schon die begriffliche Form der Sprache des Enkels sich fühlbar von der des Grossvaters unterscheidet; und dass bei Sprachen ohne Litteratur schon nach wenigen Generationen eine Sprache gesprochen wird, deren begriffliche Form sich noch weniger als die lautliche mit der Sprache der Ahnen decken will. Aber in der weiteren Abfolge der Sprachentwickelung treten neue Faktoren der Veränderung hinzu. Neue Erlebnisse und Erfahrungen treten in den Gesichtskreis des Volkes und erscheinen in neuen teils selbst geschaffenen teils aufgenommenen Begriffsformen, die ihrerseits sofort wieder in den allgemeinen Veränderungsprozess mit eintreten. Denn nichts ist in der lebendigen Sprache stabil. Formale Elemente sterben ab, neue bilden sich; alle unterliegen dem Wandel der Bedeutung und des Wertes. Bei einer Reihe von Ausdrücken schwindet infolge der vielverzweigten lautlichen Veränderungen bei Ableitungen vom gleichen Stamme das etymologische Bewusstsein. Und diese ihrem Wesen nach gleichfalls negative Erscheinung giebt wieder die Veranlassung zu positiven sprachlichen Neuschöpfungen. Neben den blossen Namen einer Sache, der weiter keine erklärende Anschauung mehr bietet, tritt die Neubildung, geschöpft aus dem uranfänglichen Quell alles Sprachlichen, den Thätigkeitsbegriffen; und das nicht mehr verstandene Wort, das eine bloss noch phonetische Bezeichnung für die Sache selbst geworden ist, wird vielleicht mehr und mehr verdrängt durch das neue Wort, das mit seiner etymologisch klaren Bedeutung das Wesen derselben Sache nach irgend welchem Merkmal, oder von irgend welcher Seite aus angeschaut zu bezeichnen scheint. Und dasselbe Bedürfnis der Anschaulichkeit hat indessen ununterbrochen nach allen Richtungen des Sinnlichen und weit in das Nichtsinnliche hinein in der Form der Metapher Vorstösse unternommen die Erkenntnis und somit die Begriffswelt erweiternd und ewig umgestaltend im Innern. Aber alle Sprachen sind ja ursprünglich nur gesprochene Sprachen ohne Literatur. Und die eben nur oberflächlich skizzierten Weiterbildungsprozesse vollzog jede auf ihren besonderen Wegen nach den verschiedensten Richtungen hin. Das Endergebnis dieses ewig fliessenden Wesens der begrifflichen Form der Sprachen, dieses keinen Augenblick unterbrochenen Prozesses unmerklicher Veränderung des Vorstellungsinhaltes der phonetischen Wortbilder muss mit elementarer Notwendigkeit darin bestehen, dass jede Sprache, so wie sie auf jeder Stufe der Entwickelung als fertig erscheint und sich fixieren lässt, einen durchaus und in allen Teilen [15] individuellen Charakter hat, und zwar nicht etwa nur lautlich, sondern nach ihrer Begriffs- und Vorstellungsform; und es ist hiernach nicht etwa überraschend, dass kein Begriff einer Sprache sein streng deckendes Gegenbild in einer andern findet, sondern es wäre in hohem Masse überraschend und verlangte eine wissenschaftliche Erklärung, wenn wirklich in zwei verschiedenen Sprachen zwei Begriffe in völlig gleicher Umgrenzung und zu völlig gleichem Gebrauch sich entwickelt hätten. Vom Standpunkte der blossen Betrachtung der Sprache aus und ihrer immanenten Entwickelung kann also diese prinzipielle Verschiedenheit der begrifflichen Form aller Sprachen und zwar bis in alle Einzelheiten hinein nur als das Selbstverständliche angesehen werden. Aber wie verhält es sich dem gegenüber mit der uns umgebenden Welt, die doch in der Sprache nur ihr „lautliches Abbild“ findet? Bildet sie nicht den festen Anker, der das divergierende Streben aller Sprachen mässigt oder gar hindert?
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War es nicht unsere Sonne, die auch die ganze farbenreiche Welt des ägäischen Meeres vor die Augen des homerischen Griechen hinzauberte? War es nicht derselbe Mond, den unsere Dichter zu besingen kein Ende finden, und der auch schon das Herz der homerischen Hirten erfreute (Il. VIII, 555 ff.)? Und blieb die irdische Natur nicht die gleiche? Ist Baum nicht Baum geblieben? Und ist unser Rind, Pferd, Schaf u. s. w. nicht zu allen Zeiten für den Menschen das gleiche Tier gewesen, und jetzt noch unter allen Zonen? Und gab es unter Menschen nicht jederzeit Mann, Weib und Kind? Und ein Obdach, das sie ihr Haus und Heim nannten? Und ist das psychische Leben des Menschen nicht immer von den gleichen Eigenschaften und Kräften des Geistes und der Seele getragen gewesen? Und muss desswegen nicht auch auf diesem Gebiet die Macht des Objektiven, des unverrückbar Thatsächlichen die Bahnen der Sprachen bestimmt vorzeichnen und ihre Pfade wenigstens dicht neben einander halten? Die naturwissenschaftliche Betrachtung der Dinge wird geneigt sein, die meisten dieser Fragen oder alle zu bejahen. Die Gegenstände an sich waren ja in der That immer die gleichen. Die Gedankenlosigkeit der französisch und englisch parlierenden Menge, die Naivetät aller Einsprachigen und die Oberflächlichkeit so vieler Gebildeten wird überrascht sein, dass man so überflüssige Fragen überhaupt aufwirft, und wird ihre Bejahung mehr als selbstverständlich finden. Die wissenschaftliche Sprachbetrachtung aber wird ebenso selbstverständlich allen diesen Fragen und unzähligen ähnlichen ein kategorisches Nein entgegenstellen. Ganz abgesehen von dem sehr ins Gewicht fallenden verschiedenen Geschlecht des Wortes an sich ist die homerische Sonne der feurige, lebendige Gott, der seine Strahlen Pfeilen gleich herabsendet zur Erde, der alles sieht und alles hört, dessen Aufgang ein Triumphzug ist, angekündigt von der rosenstreuenden Eos, der hinabsteigt, um sich in den Fluten des Okeanos zu erquicken und dann in erneuter Pracht wie ein Held aus dem Bade sich wieder zu erheben und Menschen und Göttern das Licht zu bringen, nicht aber das grosse Licht, das Gott am dritten Schöpfungstag gemacht hat, nicht das höchst prosaische Tagesgestirn, das leuchtet, wärmt und blendet, und noch viel weniger der riesige feurigflüssige Weltkörper der Wissenschaft. Und der Mond, den unsre liebeskranken Mädchen und Knaben anschmachten, er erfreut das Herz des homerischen Hirten, nicht weil er eine Schäferstunde mit seinem Silberschein umgiessen wird, sondern weil er den nächtlichen Dieb von der Herde fern hält und die Abwehr der Raubtiere erleichtert. Ausserdem aber ist auch der Mond dem Griechen eine lebendige Gottheit, kein blosses Licht der Nacht und kein erstarrter Trabant der Erde, der den Sonnenstrahl reflektiert. Aber auch die irdischen Gegenstände der Natur, in der wir leben, sind in der Sprache und ihrem Vorstellungsgehalt grundverschieden. Den wissenschaftlichen Begriff des Baumes vermittelt das Wort in keiner Sprache dem redenden Volke. Die Vorstellung ergiebt sich aus der unmittelbaren Umgebung, und so ist [16] der Baum des Süditalieners ein andrer als der des Norddeutschen; schon der des Schwarzwälders bekanntlich ein andrer als der des Odenwälders. Und wie sollten wir dem homerischen βοῦς mit seinen Ableitungen und Metaphern wie βοῶπις in unsrer Sprache gerecht werden können? Die wir nur Übertragungen wie „stiernackig“, „stierdumm“, „anstieren“ aus unserer Vorstellung von dem Tiere bilden können, um von Schlimmerem zu schweigen! Wo der Grieche das breitgestirnte stattliche Tier sah, mit
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der glatten Haut und dem Schmucke des Horns ein Bild von Schönheit und Kraft, da sehen wir bloss den plumpen und stumpfsinnigen Wiederkäuer und glauben dann mit „stieräugig“ eine Übersetzung geleistet zu haben, wo der Grieche das weit geöffnete und klare, das schönbewimperte und in ruhiger Selbstgewissheit drein schauende Auge des stattlichen und starken Tieres metaphorisch auf seine höchste Göttin überträgt! Mit den andern Tieren ist es nicht anders. Das Pferd ist bei uns reicher benannt und in der Vorstellung höher gewertet schon deshalb, weil die ganze Konkurrenz des Rindergeschlechts wegfällt, das bei den Griechen durchaus ebenbürtig neben dem Pferd steht. Die altgriechische Auffassung des Pferdes war eine viel objektivere als die unsrige. Die uns so geläufigen stehenden Verbindungen „edles Pferd“ und „stolzes Ross“ kennt die homerische Zeit nicht; vielleicht weil das Pferd fast nur als Zugtier Verwendung findet; indess die hohe Wertung desselben bei uns in der vorwiegenden Benutzung des Tieres als Reittier begründet sein mag, oder ihren Ursprung schon in Tacitus Zeiten hat, wo die praesagia ac monitus equorum unter allen Orakeln den meisten Glauben fanden, und die Pferde geradezu als Teilnehmer am Wissen der Götter angesehen wurden. Aber decken sich die beiderseitigen Vorstellungen auch keineswegs, so verliert doch wenigstens das griechische ἵππος bei dem deutschen „Ross“ nichts. Dagegen ist die hohe Wertung des Pferdes bei uns sicherlich mit an dem Missgeschick des Esels schuld. Die Hartschlägigkeit und den unüberwindlichen Eigensinn dieses Tieres kannte Homer schon ganz genau und hat sie unübertrefflich in einem Bilde geschildert. Aber in dem Esel nichts als eine allseitige Karikatur des edeln Rosses zu sehen, blieb uns Deutschen vorbehalten. Macht uns aber schon unsere so geläufige metaphorische Verwendung dieses Tieres schwer, in „Esel“ eine zutreffende Übersetzung von ὄνος zu sehen, so kommt hinzu, dass auch die „nationale“ Verschiedenheit der Tiere selbst zu ungunsten der deutschen Esel eine so grosse ist, dass die beiderseitigen Vorstellungen sich nicht entfernt decken. In geringerem Masse ist dies auch bei den Pferden der Fall, wovon man sich schon aus dem Parthenonfries überzeugen kann. In allen diesen Fällen ist es keineswegs das naturwissenschaftliche Objekt, das die Sprache benennt, sondern es ist nur die Vorstellung von dem Objekt, die benannt wird. Und diese Vorstellungen sind etwas Subjektives und variieren in zahllosen Modifikationen schon nach Gesellschaftsgruppen und Individuen, besonders aber nach national und sprachlich abgegrenzten Gruppen. Wie weit diese Unterschiede der Vorstellung vom gleichen Objekt gehen können, haben wir oben am Beispiel des Stiers gesehen. Aber sie erstrecken sich ebenso auf diejenigen Objekte, von denen man annehmen sollte, dass sie die Gewähr des ewig Gleichen in sich selbst trügen, auf alle spezifisch menschlichen Thätigkeiten und Beziehungen bis in den engsten Familienkreis hinein. Mann, Weib und Kind, sollte man doch denken, stellten im Leben der Menschen und Völker den festen Punkt dar, wo die Vorstellungen auch der verschiedensten Völker durch die unwiderstehliche Macht der Thatsachen, die hier eine überzeugendere Sprache sprechen als irgendwo sonst, gezwungen wären so gut wie kongruent auszufallen. Und doch ist auch dies nicht der Fall. Alle Arten von „Lösungen“ z. B., die die Frauenfrage zu den verschiedensten Zeiten und bei den verschiedensten Völkern gefunden hat und findet, von der rohsten Form der Sklaverei des Weibes bis zu den verstiegensten
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Auffassungen unserer Zeit, die im Weibe nur noch den abstrakten Menschen oder andrerseits ein halb überirdisches Wesen sehen möchten: sie alle sind der Ausfluss [17] grundverschiedener Vorstellungen vom Weibe, und einer jeden entspricht als Kehrseite eine entsprechend verschiedene Vorstellung vom Manne. Wie wollten wir z. B. im Griechischen dem Unterschied gerecht werden, wenn wir im Deutschen von der Kaiserin sagen „die hohe Frau“ und von einer Königin Elisabeth „das stolze Weib“ oder „das schöne Weib“ von einer Bühnengrösse? Und doch könnten wir die Bezeichnungen „Weib“ und „Frau“ in diesen Fällen unmöglich vertauschen. Und wie wollten wir dem griechischen νύμφη im Deutschen gerecht werden? Und selbst das Kind, das an allen Menschen ausnahmslos sachlich ganz den gleichen Anteil hat, wie ganz verschiedene Vorstellungen bemächtigen sich in den verschiedenen Bezeichnungsweisen eines so allgemein und völlig gleichen Objektes! Unser „Kind“ und das griechische τέκνον haben im Grundbegriff des Erzeugten wenigstens die Vorstellung der Elternschaft festgehalten. Aber wie objektiv stellte sich der Römer seinen Kindern gegenüber, die er infantes oder liberi nennt, das letztere zur Unterscheidung von den andern pueri, die noch im Hause als res mancipii sind; indess Ausdrücke wie genitus und gnatus, die unserm „Kind“ entsprächen, niemals gangbare Münze geworden sind! Aber wo das etymologische Bewusstsein auch nicht mehr lebendig ist, wie grosse Verschiedenheiten zeigt da der Umfang und Inhalt der scheinbar parallelen Begriffe! Das lateinische pueri umfasst Knaben, Kinder und Sklaven, das griechische παῖδες dazu noch Mädchen; und wie wollten wir mit unserem „Kinder“ dem mittelhochdeutschen „Kint“ gerecht werden in Fällen wie in Nib. Av. 32, wo es von den Waffenknechten der Burgunderkönige heisst: Wie grimme sich dô werten diu ellenden kint! Und in der Anrede nennt Dancwart dasselbe Gesinde seiner Herrn Knechte; indess umgekehrt unsere Heerführer in der Anrede wohl metaphorisch „Kinder“ zu den Soldaten sagen könnten, nimmermehr aber im erzählenden Bericht. Das Verwandtschaftsverhältnis des Bruders scheint ja gleichfalls ein unabänderliches, und doch wäre dies Wort in viele Sprachen gar nicht zu übersetzen. Die hohe Wertung des älteren Bruders dem jüngeren gegenüber liess nicht selten zwei Ausdrücke für diese beiden als grundverschieden vorgestellten Arten von Brüdern entstehen. Dieselbe Vorstellung also von der viel höheren Bedeutung und Ehrwürdigkeit des älteren Bruders hat den Blick für das Verhältnis des Bruders an sich getrübt und liess den Gedanken an einen gemeinsamen Ausdruck für dies Verhältnis gar nicht aufkommen. Und wenn das selten vorkommende homerische ἠθεῖος wirklich ein Überrest ist einer ähnlichen Auffassung des brüderlichen Verhältnisses, wenn es wirklich den älteren Bruder bezeichnet und somit für den jüngeren Bruder den Inbegriff der brüderlichen Liebe und der freiwilligen sittlichen Unterordnung darstellt, dann erst hätte jenes Wort des Eumaios (Od. XIV, 147) ἀλλά μιν ἠθεῖον καλέω in seinem Zusammenhang einen völlig befriedigenden und überraschend schönen Sinn. Aber was könnte die Übersetzung einigermassen Befriedigendes dafür leisten? Nichts. Das blosse „Bruder“ träfe nur eine Seite des homerischen Begriffs und liesse den edeln Sauhirten im Lichte einer zudringlichen Unbescheidenheit erscheinen. Dass bei ferner liegenden Graden der Verwandtschaft die Vorstellungen noch weiter auseinandergehen und selbst zur blossen Bezeichnung des thatsächlichen Verwandtschaftsverhältnisses, ganz abgesehen von den
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Vorstellungen und Auffassungen desselben im Geiste des Volkes, schon ganz umständliche Umschreibungen nötig werden, sieht man schon aus avunculus und patruus, mehr noch aus dem homerischen ἐς γαλόων ἢ εἰνατέρων εὐπέπλων (Il. VI, 378). Und die Vorstellungen von dem Obdach, von Haus und Gemach, wie endlos variieren sie von Gau zu Gau, von Jahrhundert zu Jahrhundert, von Volk zu Volk! Wir behelfen uns mit „Palast“, „Männersaal“ für homerische Ausdrücke und suchen dem Schüler ein Bild von den Wohnungseinrichtungen der homerischen Zeit zu geben. So geben wir den einzelnen künstlichen Ersatzmitteln eine Vorstellung mit auf den Weg, die das entsprechende Wort der blossen „Übersetzung“ niemals bieten könnte. Was aber hat der Leser von Worten wie Palast und [18] Männersaal und vielen andern? Falsche Vorstellungen oder gar keine. Was wir aber hier vom Haus und seinen Teilen andeuten, gilt auch für alle Geräte innerhalb und ausserhalb des Hauses und ebenso für alle Gegenstände der Natur auf dem Festland und dem Meere. Entweder fehlt der andern Sprache der Gegenstand und damit die Vorstellung, oder das Aussehen des Gegenstandes ist ein anderes; und fast immer ist die Auffassung, die der Bezeichnung zugrunde liegt eine anders gerichtete, oft grundverschiedene. In keinem dieser Fälle ist daher eine streng deckende Übersetzung möglich. In allem ist es ein anderes, was an die Stelle des Originals tritt. Hier ist eine der Quellen für das Schwülstige und Bombastische, das man der Vossischen Homerübersetzung mit recht zum Vorwurf macht: wo die klare und einfache Vorstellung des Originals sich nicht wiedergeben lässt in unserer Sprache, da sind die künstlichen Ersatzmittel des Übersetzers dem Philologen und reiferen Schüler wohl verständlich; aber nicht weil er die deutschen künstlichen Ausdrücke besser verstünde, sondern weil er das entsprechende Griechisch versteht und das deutsche Wort mit der Vorstellung des griechischen erfüllt, das er kennt. Wer aber ohne Kenntnis des Originals Voss’ Homer liest, stösst auf Schritt und Tritt auf Worte, die lautlich anspruchsvoll genug sind, ohne durch entsprechende Fülle des Vorstellungsinhalts dem Vollklang des Wortes irgend zu genügen. Daher, wenigstens zum grossen Teil, der Eindruck des hochtönenden Schwulstes. In Zeiten, wo eine hohe Begeisterung für griechische Kunst ohnehin die gebildete Welt beherrschte, wie in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, da genügte die Wertung auch des unbekannten Originals und jene gehobene fast andächtige Stimmung, in der die Begeisterung ihren Idealen gegenübertritt, um über alle Unebenheiten, Trivialitäten einerseits und andererseits über die vielen leeren Schalen von Worten hinwegzuhelfen. Da mochte denn auch mancher, der nur den deutschen Homer lesen konnte, durch das trübe Medium seines Voss sich von der homerischen Welt berauschen lassen, – das Beste selber hinzubringend. Die Träger jener Begeisterung waren eben doch, die Griechisch verstanden. Wo aber die Begeisterung für das unbekannte Original nicht ohnehin schon vorhanden ist, da sieht der Leser des Voss eben nur das trübe Medium, und dies ist ihm dann Homer. Schon die Thatsache, dass das für poetische Schönheit ebenso empfängliche weibliche Geschlecht, das die Alten nur deutsch liest, für Homer im Vergleich zur Begeisterung der Leser des Originals doch nur eine sehr platonische Zuneigung hegt, die sichtlich mehr das Produkt der Achtung vor dem Urteil der Kenner ist als eigenes ursprüngliches
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Empfinden, sagt für den Unterschied von Original und Übersetzung für diesen Dichter genug. So steht es in Wirklichkeit mit dem festen Halt, den die umgebende sichtbare Welt und Natur ihrem lautlichen „Gegenbild“ in den Sprachen verleiht. Alles Wahrnehmbare geht durch das Medium der Subjektivität zum Zentrum aller Wahrnehmung. Die solchergestalt individualisierte und subjektiv gewordene Wahrnehmung wandelt sich zur besonderen festen Auffassung oder Vorstellung, und diese, nicht der Gegenstand selbst, wird in der Sprache benannt. Je nach der Auffassung des Gegenstandes werden schon vom Sprachschöpfer etymologische Elemente zur Bildung des Vorstellungsbegriffs verwendet. So war für die Germanen der Baum z. B. das Mittel zum Bauen seines Blockhauses, für den ältesten Römer arbos weit objektiver nur das Wachsende, und für den Griechen δένδρον, δρῦς, δόρυ und ebenso für die ältesten Germanen triu ursprünglich nur das Schälbare oder Geschälte, einerlei ob dabei an die Rinde gedacht wurde, mit der man in glücklicheren Zonen die Hütte deckte und bekleidete, oder ob man die geschälte Stange im Auge hatte, mit der man zum Kampfe auszog. Die ursprünglichen Anschauungen, die etymologisch nachweisbar sind, werden freilich meist vergessen. Neue Anschauungen kommen daneben auf und erzeugen neue Benennungen (triu–Baum). Wo nun das etymologische Bewusstsein noch lebendig ist, trägt es dazu bei, der Gesamtvorstellung des Gegenstandes noch [19] eine Nüance hinzuzufügen, die das Übersetzen noch schwieriger macht, als es ohnehin schon ist. Wo es verschwunden ist, da ist es die im Obigen näher dargelegte Verschiedenheit der Gesamtvorstellung auch von den sichtbaren Gegenständen, die eine Übertragung der einzelnen Begriffe und Vorstellungen durch Übersetzung der einzelnen Worte, man kann sagen, durchweg unmöglich macht. Wie steht es nun aber um die ganze unserer Wahrnehmung entzogene Welt, wenn schon die wahrnehmbare die grösste Divergenz der Auffassungen nicht zu verhindern vermag? Nicht besser, wie jedermann ohne weiteres zugeben wird. Ändern sich in der Welt des Sichtbaren die Gegenstände von Zone zu Zone und von Land zu Land, so sind zunächst auf dem Gebiet der menschlichen Geisteskräfte, des Denkens, Empfindens, Fühlens und Wollens die Gegenstände der sprachlichen Bezeichnung von klimatischen und Sprachgrenzen unabhängig allenthalben die gleichen, die Anschauungen und Auffassungen von denselben um so verschiedener. Die abstrahierbaren Grundkräfte unseres geistigen Wesens treten bekanntlich nirgends isoliert auf, sie sind auch in ihren primitivsten Äusserungen schon ein untrennbar Eines. Sie treten aber auch nicht einmal in dieser ihrer Kombination isoliert auf, sondern sind mit Beziehungen zur Aussenwelt gleichfalls untrennbar verbunden. Hieraus ergeben sich so viele Möglichkeiten einseitiger Auffassung und vielseitiger Zusammenfassung in der Vorstellung und deren sprachlichem Ausdruck, dass es überraschend wäre, wenn auch nur eine sprachliche Zusammenfassung in irgend einer Sprache sich fände, die ihr volles Aequivalent in einer anderen hätte. Die Beispiele sind mit Händen zu greifen. Wir erinnern an θυμός, μένος, νοῦς, an διάνοια, was z. B. bei Aristoteles den vierten der sechs wesentlichen Bestandteile der Tragödie ausmacht; an ratio, mens, ingenium, consilium u. s. w. Wie dehnbar alle derartigen Begriffe sind, wie fliessend ihre Grenzen, zeigt sich am besten darin, dass jeder unserer Philosophen z. B. sich immer erst genötigt sieht, genau zu
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bestimmen, in welchem Sinn er Ausdrücke wie Verstand, Vernunft u. a. gebraucht, und wie verschieden die Bestimmungen ausfallen. Da ist bei dem einen Vernunft die höchste Geisteskraft, die als spezifisch menschliche uns hoch über das Tier erhebt, der andere betont die sittlichen Qualitäten der Selbstbeherrschung, die er in diesem Wort mitbezeichnet findet, und ein dritter sagt wohl: Vernunft hat jeder Esel, weil er das blosse logische Vermögen des Urteilens und Schliessens darin erkennt. Und in der Sphäre des Fühlens und Wollens sind die Unterschiede von Sprache zu Sprache nicht minder gross. Unsere Dichter rühmen sich wohl, dass die Liebe nirgends reiner sei und nirgends in zärteren Tönen gesungen werde als in der deutschen Sprache; und auch die Religion der Liebe, sagt man, habe nirgends auf Erden einen fruchtbareren Boden gefunden als im deutschen Volke. Aber welche Serie von Begriffen hätten wir dem griechischen ἔρως, ἀγάπη, στοργή, χάρις, φιλία gegenüberzustellen? Setzt uns doch schon der nüchterne Römer in Armut durch seine amor, caritas, gratia, studium und pietas, die wir alle gelegentlich mit nichts als unserm „Liebe“ zu ersetzen vermögen. Oder sollte sich das Allumfassende der deutschen Liebe eben darin aussprechen, dass wir nur einen allumfassenden Ausdruck für die vielseitigsten Auffassungen und Formen der Liebe haben? Für die überlegene Reinheit derselben scheint aber das Schicksal des einst so edeln Wortes „Minne“ nicht zu sprechen, und das Wort „Liebe“ findet sich jetzt auf derselben abschüssigen Bahn. Aber mag das Vielumfassende des deutschen Wortes in diesem Falle wirklich dem deutschen Gemütsleben angemessen sein und mag es selbst eine rundere und einheitlichere, eine vollere Wesenheit der bezeichneten Sache an sich zum Ausdruck bringen: wie viele Nüancen, wie viele Wesensverschiedenheit entgeht dem Einsprachigen, der es nicht gelernt hat, seine Sprachanschauung nur zum Beispiel an jenen Anschauungen der Griechen und Römer zu messen und sie so erst eigentlich zu erwerben! Und doch decken sich die an[20]geführten griechischen und römischen Worte untereinander wieder in keinem einzigen Falle. Und was leistet da die blosse Übersetzung? Es ist als ob die Regenbogenfarben in ein Gebiet übertragen werden sollten, wo nur der ungebrochene Sonnenstrahl möglich ist. Wir haben das Gebiet der eigentlichen Abstracta noch nicht berührt. Denn bei den zuletzt besprochenen Begriffen handelt es sich um jedermann bekannte Realitäten, die nur nicht mit den Sinnen wahrnehmbar sind, nicht aber um von den sichtbaren und unsichtbaren Realitäten abgezogene Eigenschafts- und Beziehungsbegriffe, die nur durch das urteilende und beziehende Denken geschaffen werden und nur in ihm ihren Sitz haben. Denn dies sind die eigentlichen Abstracta. Es ist klar, dass auf den untersten Stufen der Abstraction eine ganze Reihe gemeinsamer Ausgangspunkte da sein müssen. Soweit diese in das Gebiet der Grösse, Lage und Zahl fallen, werden sie an anderer Stelle noch zur Sprache kommen. Auch von der rein wissenschaftlichen Abstraction sehen wir hier ab. Auf diesem Gebiet war es von jeher und ist es noch so, dass der wissenschaftliche Begriff innerhalb der Kulturvölker samt dem erstmals geprägten Wort dafür von Volk zu Volk wandert. So zuerst in grösserem Umfang von Athen nach Rom und von da über die ganze gebildete Welt. Es ist dies eine Sache für sich und hat mit dem Unterschied der Sprachen nichts zu thun, markiert vielmehr ein Gebiet, auf dem alle Kulturvölker des Westens mehr und mehr eine Einheit bilden, das Gebiet der
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wissenschaftlichen Internationale. Sonst baut auf dem Wege der Abstraction von ähnlichen Ausgangspunkten aus jedes Volk nach seiner Richtung und Neigung in das Reich des Unsichtbaren hinein weiter, jedes bevorzugt besondere Seiten und bildet sie reicher und individueller aus und vernachlässigt daneben andere. Am allermeisten aber macht sich auf diesem Gebiet der Unterschied der Kulturhöhe überhaupt geltend. Niedrig stehende Völker haben selbstverständlich wenige Abstracta. Dass also die grösste Divergenz der verschiedenen Sprachen im Zusammenhang mit dieser von der Aussenwelt nicht zwingend bestimmten, frei gestaltenden und individuell schöpferischen Thätigkeit des sprachbildenden Geistes der Völker sich ergeben muss, braucht kaum ausgeführt zu werden. Die Divergenz erstreckt sich auf einen sehr grossen Teil der Substantiva, Adjektiva, Verba und Adverbia. Inbezug auf die Verschiedenheiten schon der primitivsten Stufen der Abstraction weisen wir nur auf lateinisch altus hin, auf griechisch αἰσχρός, auf deutsch lang (longus und diuturnus). Ganz Individuelles höherer Stufen wurde oben schon Seite 5 ff. erwähnt. Wo aber eine Sprache anderen voraneilte in Bildung von Abstractionen, da haben alle andern grosse Not mit ihren Übersetzungsversuchen einigermassen nachzukommen. Bei Aristoteles und Plato ist reiche Gelegenheit, sich davon zu überzeugen. Die ganze platonische Ideenlehre, in deutscher Sprache vorgetragen, kommt Schülern und Studierenden nur dann befremdlich vor, wenn sie den Begriff εἶδος oder ἰδέα nicht völlig verstehen und keine Ahnung haben von der Bestimmtheit des Denkens durch die Sprache bei Einsprachigen; zumal auf dem Entwickelungsstandpunkt des menschlichen Geistes, wo eben die allerersten Versuche gemacht werden (Sokrates und Plato), die Sprache zum Objekt ernsten Nachdenkens zu machen; und wenn sie endlich nicht wissen, dass dem naiven Denken, und zwar wieder besonders der Einsprachigen das überlieferte Wort mit seinem Sinn an sich schon eine Wesenheit ist, an deren Dasein man glaubt, weil sich nur so ihre „Benennung“ zu erklären scheint.2 Man darf sogar ernstlich zweifeln, ob wir jene poesiereiche Idealwelt, jene auf dem Gebiet der Wissenschaft grossartigste Mythenbildung aus der Hypostasierung der Begriffe, ob wir den folgenreichen Irrtum der platonischen Ideenlehre erlebt hätten, wenn Plato mehr als eine Sprache gründlich gekannt hätte. Einsprachigkeit und eine Sprache, anschaulich und gedankenreich wie die griechische, und [21] endlich platonischer Idealismus scheinen die notwendigen Faktoren zur Entstehung einer solchen Weltanschauung.3 Was wir hier für die wichtigsten Gebiete der Sprache an einzelnen Beispielen gezeigt haben, könnte in jedem einzelnen Falle an beliebig vielen Beispielen, zu denen uns hier der Raum mangelt, gezeigt werden. Es würde sich dabei allenthalben die volle Selbständigkeit und durchgängige Eigenartigkeit der ganzen geistigen Welt gezeigt haben, die jede Sprache darstellt. Es würde sich zur Evidenz ergeben haben, dass die ganze Welt der Begriffe und Vorstellungen einer Sprache von der jeder andern auch _____________ 2 3
„Der eine ‚benennt‘ die Fremdwörter so, der andere so,“ sagt Onkel Bräsig, da er Physiologie und Physiognomie verwechselt. Es wird überhaupt eine der nächsten und wichtigsten Aufgaben historisch philosophischer Forschung sein müssen, den Einfluss festzustellen, den die Sprache und eventuell Einsprachigkeit auf die Ausbildung der einzelnen philosophischen Systeme ausgeübt hat.
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thatsächlich wesentlich verschieden ist, dass diese Verschiedenheit jeden Begriff oder jede Vorstellung der Sprache mit ganz unwesentlichen Ausnahmen ergreift, und dass dieselbe Verschiedenheit sich auch auf dieselbe Sprache erstreckt, sofern man sie auf wesentlich verschiedenen Stufen ihrer Entwickelung vergleicht. Aber dies alles bezog sich nur auf das Verhältnis der Sprachen zu einander und zur Welt des Wahrnehmbaren, in der wir leben. Wir können aber auf die Frage nach dem eigentlich Übersetzbaren nicht übergehen, bevor wir uns in Kürze mit dem Problem des Verhältnisses der Sprache zum Denken überhaupt vom Standpunkt unseres Themas aus auseinandergesetzt haben. Zu entscheiden brauchen wir diese Frage keineswegs. Es genügte für unsere Zwecke schon der Nachweis, dass es sich bei der Sprache nicht um Bezeichnungen von Gegenständen handelt, sondern nur um Lautzeichen von Vorstellungen und Begriffen, die der Sprechende von den Dingen, ihren Eigenschaften und Beziehungen hat. Aber ein Hinweis auf die Auffassung, die unsere Sprachwissenschaft von diesem Verhältnis hat, wird zeigen, dass die wachsende Erkenntnis der Sprache an sich unserer Ansicht vom Verhältnis der Sprachen zueinander in viel weitergehendem Masse, als wir es vielleicht zu beanspruchen brauchen, recht giebt. W. v. Humboldt hat zuerst wissenschaftlich erkannt, was andere vor ihm und gleichzeitig nur geahnt oder gefühlt hatten, dass Sprechen und Denken eine untrennbare Einheit darstellt. „Die Sprache der Völker“, sagt er, „ist ihr Geist und ihr Geist ist ihre Sprache, man kann sich beide nie identisch genug denken“, – „wenn wir Intellektualität und Sprache trennen, so existiert eine solche Scheidung in der Wahrheit nicht.“ Und während unsere ganze Philosophie bis herunter auf Lotze, der das menschliche Denken nur „an die Sprache gewöhnt“ findet, dem Wesen der Sprache, die doch auch das Organ alles philosophischen Denkens ist, noch recht unkritisch gegenübersteht und eine gründliche Prüfung der Sprache in ihrem Verhältnis zum Denken nicht für erforderlich zu halten scheint, ist man auf seiten der allgemeinen Sprachwissenschaft auf der Bahn, die W. v. Humboldt in den angeführten Worten vorgezeichnet hat, konsequent weitergegangen, bis man bei der Forderung einer durchgreifenden Reform aller Philosophie vom Standpunkt der Spracherkenntnis aus anlangte. In seinem Buche „The science of thought“ (in der Übersetzung von E. Schneider „das Denken im Lichte der Sprache“, Leipzig 1888) bringt Max Müller die ganze Entwickelung des Humboldtschen Gedankens zur Vollendung, in dem er die absolute Identität von Sprechen und Denken, von Wort und Begriff mit einer Fülle von Beweismaterial festzustellen sucht. Er macht dabei nicht den mindesten Unterschied zwischen den verschiedenen Begriffsarten und Wortarten. Worte, die fast nur als algebraische Lautzeichen angesehen werden können, wie die Zahlwörter, Worte für unsere Vorstellungen von der wahrnehmbaren Welt und Worte für das gesamte wissenschaftliche und unwissenschaftliche Gebiet der Abstrakta in allen Wortarten: ausnahmslos alles, was Wort heisst, ist ihm mit seinem Begriff absolut identisch. Wir müssen es uns in [22] diesem Zusammenhang versagen auf die interessante Beweisführung M. Müllers einzugehen, so verführerisch es wäre, auch für unsere Frage nicht nur Einzelheiten aus derselben zu benützen, sondern unseren ganzen Gedankengang auf diese neueste Phase der Spracherkenntnis zu stützen. Giebt es kein Denken ohne Sprache, keine Begriffe und Ideen hinter der Sprache, giebt es überhaupt nichts Selbständiges in der Welt des
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Geistes, das nur „bezeichnet“ wäre, in der einen Sprache so, in der andern anders, ist alles nur lebendiges Wort in derselben Einheit wie Geist und Materie im menschlichen Leibe: dann bedarf es des Nachweises der Besonderheit der Begriffsordnungen in den verschiedenen Sprachen nicht, auch nicht des Beweises, dass kein Wort einer Sprache mit irgend einem jeder andern sich deckt. Dann ist dies alles ebenso selbstverständlich, wie dass kein Individuum eines Volkes irgend einem einer andern Nation, das vielleicht in gleichem Beruf, Geschlecht und Alter stünde, absolut gleich ist. Übersetzbarkeit der einzelnen Begriffe im strengen Sinne des Wortes erwiese sich auf Grund dieser Anschauung von vorn herein als ein Ding der Unmöglichkeit. Wir lebten nach dieser Auffassung thatsächlich zugleich in zwei ganz verschiedenen Welten, in der des Wahrnehmbaren und in der des Gedankens, d. h. der Sprache; diese letztere aber stellte die geistige Errungenschaft unseres ganzen Volkes dar, die jedes Glied des Volkes als Erbschaft überkommt, in dem Umfang als die persönlichen und äusseren Verhältnisse es ihm möglich gemacht haben. Der einzelne ist also hinsichtlich des Anteils an jeder von diesen beiden Welten ganz in der gleichen Lage. Wie in der Kenntnis der sichtbaren Welt der Gesichtskreis des einzelnen ein ausserordentlich verschiedener sein kann, wie die wenigsten nur in der Lage sind, das ganze Land, in dem ihre Muttersprache erklingt, extensiv und intensiv völlig kennen zu lernen, genau genommen aber nicht ein einziger, so sind auch nur wenige und genau genommen ist gar niemand in der Lage, das geistige, d. h. sprachliche Erbe der Väter nach seiner ganzen Ausdehnung und alle Einzelheiten umfassend anzutreten. Nur das Volk als Ganzes ist Erbe des Ganzen. Und wie sich die Kenntnis der äusseren Welt ausserordentlich nach Lokalkunde jeder Art bei den einzelnen spezialisiert, so die Kenntnis des geistigen Erbes nach Dialekten und Sprachgebrauch in Berufskreisen. Und diese beiden Welten blieben selbständig neben einander. Aber mag es sich mit der Identität von Sprechen und Denken verhalten wie W. von Humboldt es will und die moderne Sprachwissenschaft, die nur nicht gerade die absolute Identität behauptet, oder mag M. Müller recht haben: sicherlich ist die Welt der Vorstellung in der Sprache durchgängig nicht minder verschieden von der sichtbaren Welt, als die Begriffswelten der einzelnen Sprachen selbst von einander verschieden sind. Und die Unmöglichkeit, den einzelnen sprachlichen Begriff als solchen zu übersetzen, ergiebt sich auch von diesem unangefochtenen und unanfechtbaren Standpunkt aus unumstösslich. Aber vielleicht ist M. Müller zu sehr immer nur, wie wir bisher auch, vom einzelnen Wort ausgegangen. Die Sprache, als Materie der Mitteilung betrachtet, besteht freilich nur aus Worten und ihren Formen. Die lebendige Sprache existirt nur im Satze, in der Aussage. Und für den Satz gilt, wenn irgenwo, das aristotelische τὸ ὅλον πρότερον τῶν μερῶν. Der Gedanke des Satzes heischt Ausdruck und findet ihn in den vorhandenen Sprachmitteln; allerdings existiert der Gedanke nicht ausserhalb der Sprachmittel, die ihm Ausdruck verleihen; doch aber sind diese Sprachmittel ebenso von dem Ganzen des Gedankens abhängig, wie dieser von jenen. Der Gedanke kann zwar durch die Beschaffenheit der sprachlichen Elemente, die ihn zusammensetzen, beeinträchtigt werden; und jeden Augenblick werden so im lebendigen Gespräch unsere Gedanken missverstanden. Ebenso ist ja zweifellos unsere ganze Gedankenbildung abhängig von dem überlieferten Sprachmaterial. Aber jene zahlreichen Missverständnisse haben
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ihren Grund eben doch nur darin, dass wir bei der Gedankenbildung den Schwerpunkt oder sagen wir den geistigen Mittelpunkt [23] jedes Begriffs beliebig verschieben können innerhalb seiner ganzen Peripherie. Der Hörer nimmt dabei entweder gar keine oder nicht die richtige Verschiebung des geistigen Mittelpunkts bei den vernommenen Hauptbegriffen vor, und das Missverständnis ist fertig. Aber eben die Thatsache, dass wir um des Ganzen unseres jeweiligen Gedankens willen nicht nur in der Art der Verbindung und zusammenstellenden Auswahl der Worte mit grosser Freiheit verfahren können, sondern auch in der Bestimmung der Bedeutung der Worte nicht absolut an den überlieferten Begriffsmittelpunkt gebunden sind, beweist die Herrschaft des Ganzen eines Gedankens über seine Teile, die Herrschaft des Satzes über das Wort. Wollten wir hier die Selbständigkeit menschlichen Denkens oder seine Herrschaft über die Sprache zum Ziel unserer Ausführungen nehmen, so würden wir hier noch hinzuweisen haben auf die Möglichkeit der Neubildung von Worten und Begriffen durch Zusammensetzung und Determination im weitesten Sinne des Wortes und auf die Möglichkeit der Erweiterung der Ausdrucksmittel durch metaphorischen Gebrauch. W. v. Humboldt musste von seinem keineswegs extremen Standpunkt aus inbezug auf die Frage der Übersetzbarkeit ganz konsequent zu dem Ergebnis gelangen die Möglichkeit des Übersetzens schlechthin zu leugnen. Und er ist thatsächlich zu diesem Ergebnis gelangt. In einem Brief an Schlegel schreibt er: „Alles Übersetzen scheint mir schlechterdings ein Versuch zur Auflösung einer unmöglichen Aufgabe“. Freilich hat er trotzdem selbst übersetzt und die Übersetzungsarbeit seiner Zeit mit Interesse verfolgt und gutgeheissen. Und seither wird in steigendem Masse hastig weiter übersetzt; und unser sprachlicher Unterricht ist fast ganz auf der Basis dieser unmöglichen Kunst aufgerichtet, und die Stimmen mehren sich, die zugunsten nationaler und sprachlicher Borniertheit einen Ersatz für das Studium der altklassischen Sprachen in der Lektüre der Übersetzungen empfehlen. Dies alles ist nur denkbar durch den naiven Glauben an die Möglichkeit einer Aufgabe, deren Lösung Humboldt für schlechhin unmöglich erklärt. Es muss also ein gewisses begrenztes Mass des Übersetzbaren geben, was neben der allgemein verbreiteten irrigen Ansicht, die Worte seien Bezeichnungen der Gegenstände, jenen Glauben erzeugt und ihm Nahrung giebt. Was kann ohne Rest von Sprache zu Sprache übertragen werden? Wir denken bei dieser Frage nur an die Aussage in der Form des Satzes. Mit dem Satze stehn wir in der Sprache auf gemeinsamem Boden mit dem Urteil der Logik. Und was hier sofort einleuchtet: die logischen Grundformen des Urteils können ohne Rest als solche von Sprache zu Sprache übertragen werden, aber nur als solche; im sprachlichen Kleid, und sei es das einfachste, ist die Kongruenz nicht zu erreichen. Nur das logische Verhältnis an sich kommt deckend zum Ausdruck. Einheit, Vielheit, Allheit, Bejahung und Verneinung der Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat, das sind Denkelemente, die mit jeder wünschenswerten Bestimmtheit aus einer Sprache in die andere übertragen werden können. Im Anschluss an die quantitative Bestimmung des Urteils sei hier noch ein Wort über die Zahlwörter gesagt. Sie kommen ohne Zweifel den Anforderungen der Wissenschaft an die Bestimmtheit ihres Begriffs am nächsten. Da sie nicht in der Welt des
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Sichtbaren, sondern nur in unserer Vorstellung von derselben existieren, und da sie es nicht mit Eigenschaften, die abweichende Auffassungen zuliessen, sondern mit Quantitätsbestimmungen zu thun haben, die für alle die gleichen sind, so ist hier die Übertragung am vollkommensten möglich; um so vollkommener, je höher die Zahlen sind; gleich vollkommen, sobald es sich um rechnerische Operationen im weitesten Umfang handelt. Sonst verbinden sich allerdings in den niedrigsten Zahlengebieten mit der einzelnen Zahl auch noch gewisse begleitende Vorstellungen, die nicht übertragbar sind; wo es sich aber ausschliesslich um die mathematische Größe dabei handelt, da stehen wir auf festem, allen Völkern – so weit sie zählen können – geimeinsamem Untergrund; und auf [24] dieser Basis scheint die Übersetzung in jedem nur wünschenswerten Umfang möglich. Die etymologischen Wege und Gänge, die jede Sprache sich gebahnt und gebohrt hat, um zu den einzelnen Zahlbegriffen zu kommen, sind meist verschüttet. Dass unserem „acht“ im indogermanische Sprachstamm ein Dual zugrunde liegt, der ein Wort für die Hand ohne Daumen voraussetzt, das empfindet niemand mehr unter den Millionen, die diesem Sprachstamm angehören. Wenn unser „zehn“ wirklich ursprünglich mit dem Begriff für Finger und Zehen zusammenhinge, niemand würde es empfinden. Wir haben in den Zahlwörtern nur noch algebraische Zeichen in Lautform zu sehen, Elemente der Sprache, die an sich allgemeingültige und absolute Begriffe darstellen, die daher von vornherein wissenschaftlicher Art sind. Selbst bei Formen wie quatre-vingt und soixante-onze dürfen wir annehmen, dass das etymologische Bewusstsein und gar der Gedanke an ein keltisches Vigesimalsystem im lebendigen Gebrauch der Zahl bei dem Franzosen doch nur eine recht untergeordnete Rolle spielt. Dass es sich mit den einfachsten geometrischen Grundbegriffen ganz ebenso verhält, versteht sich von selbst. Übrigens rechnen wir als zur lebendigen Sprache des Volks gehörig nur die allerprimitivsten Mass- und Formbestimmungen hierher; was sich darüber erhebt, ist Separatbesitz der Wissenschaft vom Raume. Da wir nun bereits gesehen haben und noch weiter sehen werden, dass die logischen Grundformen alle Gemeingut aller Sprachen in dem Sinne sind, dass sie einen unzweideutigen Ausdruck in ihnen finden können, so ergiebt sich, dass es vor allem mathematische und geometrische systematische Werke sind, die dem Ideal am nächsten sich übersetzen lassen werden. Hier kommt es nur auf Vermittelung rein wissenschaftlicher Gedanken an, und zwar innerhalb eines Systems von Begriffen, die keine Variation und subjektive Auffassung zulassen, und in logischen Formen, die gleichfalls allen Sprachen gemeinsam sind. Wer hier nur auf die Sache sieht, auf den zu vermittelnden wissenschaftlichen Gegenstand, den wird die Übersetzung befriedigen können. In der Form werden allerdings auch hier Unterschiede unvermeidlich sein, Unterschiede in der Gedrungenheit und Eleganz des Ausdrucks, dessen Ideal, möglichste Knappheit des Ausdrucks bei vollendeter Präcision des Gedankens, sich gewiss in jeder Sprache erreichen lässt; aber doch nur mit relativer Vollkommenheit andern Sprachen gegenüber, die für solche Anforderungen mehr vorgebildet sind. Also streng deckend ist die Übersetzung auch hier nicht möglich; da aber fast nur die Sache das Ziel ist, und da die Präcision des Ausdrucks innerhalb jeder Sprache ihr relatives Ideal erreichen kann, so wird man nicht allzuviel in der Übersetzung verlieren. Vielleicht ist diese Thatsache mit ein Grund,
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dass gerade die Vertreter der exakten Wissenschaften meist ohne weiteres an die Möglichkeit deckender Übersetzungen glauben, indess auf seiten der Sprachwissenschaft und der Philologie diese Möglichkeit um so mehr bis zur völligen Ablehnung angezweifelt wird, je intensiver sich der einzelne mit dem Wesen der Sprache und dem Geiste des Schrifstellers beschäftigt hat. Wie mit Quantität und Qualität des Urteils, so verhält es sich mit den übrigen Bestimmungen desselben. Was wir in unserer Sprache kategorisch, hypothetisch oder disjunctiv urteilen, lässt sich in jeder Sprache irgendwie wieder zum Ausdruck bringen, so verschieden die Mittel sein mögen, die die einzelnen Sprachen sich für diese logischen Kategorien geschaffen haben; ebenso verhält es sich selbstverständlich mit den Urteilsformen, die wir als assertorisch, problematisch und apodiktisch bezeichnen. Auch das logische Verhältnis des Grundes und entsprechend der Folge und des Gegengrundes lässt sich als solches in jede Sprache übertragen und damit die ganzen Methoden der Deduction und Induction, also des Beweises in jeder Form. Da sonach jede Sprache auch die Fähigkeit besitzt, eine logische Definition zu bilden, abgesehen von anderen allgemeineren Arten der Determination ihrer Begriffe, so liegen die Chancen für die Übersetzung verhältnismässig günstig für rein sachlich gehaltene systematische Werke der Wissenschaft, aller-[25]dings mit der grossen Einschränkung, dass das Fremdwort mit seiner Definition allenthalben da eintritt, wo die Sprache ein eigenes Wort für einen Begriff nicht besitzt. An dieses Mittel der „Übersetzung“ sind wir Deutsche längst schon gewöhnt und wenden es in solchem Umfang an, dass auf den verschiedensten wissenschaftlichen Gebieten das Eigene an Hauptbegriffen neben dem Fremden völlig verschwindet. Eine Übersetzung kann dies freilich nicht genannt werden. Aber mit der Definition eignet sich die Wissenschaft das Wort an und seinen Begriff. Bei der Tendenz, die jede eigentliche Wissenschaft verfolgen muss, ist diese Aufnahme doppelt berechtigt. Die Wissenschaft strebt nach allgemeinen Wahrheiten; und es liegt kein Grund vor, dass für Dinge der reinen Erkenntnis auf dem Boden allgemeiner Wissenschaft nach der zu erwartenden Ausbreitung der europäischen Kultur über die ganze Erde die dann noch vorhandenen Sprachen für das allgemeine Gleiche und Gemeinsame besondere Worte besitzen sollten. Hier bahnt sich eben etwas wie Weltsprache an, und die Quelle aus der hier alle Welt schöpft und schöpfen wird, sind die Sprachen der Griechen und Römer. Mit denjenigen Teilen der Sprache, die man unter dem Namen der Kategorien im aristotelischen Sinne zusammenfassen kann, verhält es sich ähnlich. Die einzelnen Kategorien an sich finden sich in allen Sprachen und schon in jeder einzelnen in den verschiedensten Formen wieder. Das Wo, das Wann und das Wie, die mannigfaltigen Arten der Beziehung der Begriffe zu einander, die verschiedenen Arten der verbalen Ausdrücke, sie alle haben in allen Sprachen ihre Stätte. Und wie es mit den Beziehungen der Begriffe zu einander steht, so verhält es sich ähnlich mit den Beziehungen der Sätze zu einander, wie sich dies schon aus unsern Bemerkungen über das Urteil ergiebt. Aber wir reden hier nur von dem Wesen der Kategorie an sich oder der Beziehung an sich. Denn in der Art wie diese Beziehungen sprachliche Form gewinnen, weichen bekanntlich die Sprachen aufs denkbar Weiteste von einander ab, besonders auf dem Gebiet der Beziehung der Sätze zu einander. Formale Mittel diese Beziehung auszu-
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drücken werden sich auch allenthalben finden, und beständen sie nur in Wortstellung und Satzaccent. Auch deiktische Elemente finden sich allenthalben, aber auch diese nur an sich. Übereinstimmungen im einzelnen sind selbst auf diesem eigenartigen Gebiet der Sprache kaum zu finden.4 Wir erinnern nur an is, hic, ille, iste, an οὗτος und ὅδε u. s. w., die alle eine deckende Prägung im Deutschen vermissen lassen. Aber neben diesen zahlreichen und weitgreifenden Denkformen und inhaltlichen Bestimmungen des Denkens, die an sich Gemeingut aller Sprachen sein müssen, und die daher in aller Übersetzung wieder zum Ausdruck kommen können, giebt es ein noch wichtigeres und ausserordentlich dehnbares Gebiet aller Sprache, das dem Übersetzen mächtigen Vorschub leistet. Wir meinen nicht ein besonderes Begriffsgebiet, das in gleicher Form Gemeingut alles Denkens und [26] aller Sprachen wäre, sondern ein Mittel, das die natürliche Begriffsform schon der einzelnen Sprache in der mannigfaltigsten Weise modifizieren kann und sich daher auch als sehr wichtig erweist, die Übersetzung der rein begrifflichen Seite der fremden Sprache ihrem Ideal, der strengen Kongruenz, näher zu führen. Wir meinen die Möglichkeit jeden Begriff zu determinieren, ihm die engeren Grenzen zu ziehen, innerhalb deren im einzelnen Falle sein Inhalt sich zu halten hat. Bekanntlich macht jede Sprache in einer vielstufigen Skala von diesem Mittel unablässig den reichsten Gebrauch. Das Attribut in seinen vielen Formen, der attributive Satz, das Adverb, das zusammengesetzte Wort: alles dient nur dazu, die Begriffsform für jeden einzelnen Fall der Aussage zu modifizieren, den Begriff für die Zwecke des einzelnen Urteils zu individualisieren. Und dieses Gebiet der Determination der Begriffe ist zugleich dasjenige, auf dem sich die Eigenständigkeit, die eigentliche Wesenheit unseres Denkens hinter der Sprache und auch hinter dem einzelnen Begriff am unverkennbarsten erweist; auf dem wir, gestützt auf die drei Grundgesetze alles Denkens und ununterbrochen mit ihnen operierend, unser Urteilen und Schliessen in jedem einzelnen Falle an der Welt der Erfahrung und Beobachtung innerer und äusserer Art messen. In dieser Determination vollzieht sich ununterbochen ein geistiger Vorgang, der im Grunde nur ein Correctiv darstellt der Übermacht der überlieferten Sprache und Begriffsordnung gegenüber. In der Art und dem Grade, wie der einzelne dieses Correctiv beherrscht, erweist sich seine Superiorität über das nur ererbte Denken, was die ererbte Sprache ist, und der Grad der _____________ 4
Als ich einmal in einer Obersekunda von der durchgängigen Verschiedenheit der Begriffsformen im Lateinischen und Deutschen gesprochen und schliesslich erklärt hatte, dass sich ausser den Zahlen kaum ein einziger deutscher Begriff finden lasse, der, wenn man es genau nehme, sein vollkommenes Äquivalent im Lateinischen habe, kam ein Schüler nach der Stunde noch in der Klasse zu mir und bat mich um den Unterschied von ego und ich. Es war ihm Ernst mit der Frage. Natürlich konnte ich ihm leicht das viel grössere Gewicht des lateinischen ego nachweisen. Aber der Schüler war so auf dem besten Wege zu einem Verständnis des Wesensunterschiedes der deiktischen Stämme von den eigentlich begrifflichen zu kommen, und hatte in seinem Streben, sich von meiner Behauptung, die ihm wohl paradox erscheinen mochte, zu überzeugen, mit richtigem Instinkt gerade einen Punkt im Gebiet der deiktischen Stämme herausgefunden, wo ähnlich wie bei den Zahlwörtern Unterschiede des Begriffs nicht mehr möglich sind, nur noch solche des Gewichtes, der Wertung; ein Wort, dessen logischer Inhalt so allgemein gehalten ist, dass er thatsächlich im vollsten Sinne des Wortes international sein muss, indess hier nicht das einzelne Volk oder die einzelne Sprache die leere Schale mit besonderem Inhalt erfüllt, sondern jedes einzelne Individuum.
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Selbständigkeit seines Denkens. Freilich setzt die selbständige Bethätigung dieses Correctivs eine entsprechend hohe Stufe inneren und äusseren Beobachtungsvermögens voraus. In diesem Ausgleich des ererbten Denkens in der Sprache oder der begrifflichen Form unserer Sprache mit der Aussenwelt durch Beobachtung und daraus erwachsende Determination der Begriffe vollzieht sich ohne Zweifel auch ein ununterbrochener Prozess der Annäherung der Begriffswelt der einzelnen Sprachen an diejenige inhaltliche Form der Begriffe, die von der wissenschaftlichen Erkenntnis der Dinge gefordert würde. Aber ebenso zweifellos ist der Weg bis zum letzten Ziele dieses Prozesses, bis zur völligen Ausmerzung aller subjectiven Auffassung und Anschauung in den Begriffen ein unendlicher. In diesem Mittel ist uns nun eine vielseitige Möglichkeit geboten, Begriffsformen einer fremden Sprache, die unsere Sprache nicht geprägt hat, doch irgendwie zur Anschauung, zum Verständnis zu bringen. Die ausführliche Erklärung eines unbekannten Begriffs fällt ja im Grunde auch in dieses Gebiet der Determination; selbstverständlich auch die Definition. Aber Erklärung ist nicht Übersetzung. Und mit der Möglichkeit der Übersetzung durch bloss attributive Bestimmung eines deutschen Begriffs zur deckenden Wiedergabe des fremden an sich unübersetzbaren hat es doch sehr seine Grenzen. Über die eigenen Sprachmittel kann man nicht hinaus, und diese sind auch für dieses ganze Gebiet der Determination sehr beschränkte, sobald es sich um fremdsprachliche Begriffsprägungen handelt; weniger beschränkt für die Zwecke des Ausdrucks neuer Erfahrungen und Beobachtungen innerhalb einer Sprache. Denn da ist der Fortschritt des Denkens in der Regel aus den Gedankenbahnen herausgewachsen, die unsere Sprache uns anwies, und somit die Wahrscheinlichkeit, durch Determination den annähernd richtigen Ausdruck des Gedankens zu finden, entschieden grösser. Dem fremden Begriff mit diesem Mittel völlig beizukommen wird sich in jedem Falle als unmöglich erweisen. Es kann sich auch da immer nur um einen Annäherungsversuch handeln. Aber immerhin wird die Möglichkeit des Übersetzens durch dieses Mittel nicht unerheblich gefördert. In das Gebiet der Determination im logischen Sinn fällt selbstverständlich auch die Beeinflussung des Begriffs eines Wortes durch den allgemeinen Zusammenhang, in dem es vorkommt. Allein dieser Zusammenhang dient nur dazu, den Übersetzer erkennen zu lassen, in welchem Sinne [27] der Schriftsteller der fremden Sprache das Wort gemeint hat. Der Zusammenhang in der fremden Sprache bestimmt also die Wahl des Ausdrucks in der Übersetzung. Das Übersetzen an sich wird durch diese Art der Determination der Begriffe nicht gefördert; denn der allgemeine Zusammenhang ist durch das Original unabänderlich gegeben, und somit eine nur der Übersetzung zugehörige Determination eines Begriffs durch den blossen Zusammenhang ausgeschlossen. Hiermit scheint erschöpft, was zugunsten der Möglichkeit des deckenden Übersetzens gesagt werden kann. Es ist im Vergleich zu dem eigentlich Unübersetzbaren nicht gar viel. Und auch bei diesem Wenigen mussten wir immer darauf hinweisen, dass es sich nur um die Denkformen und Denkinhalte an sich handeln könne, keineswegs um die sprachlichen Formen, in denen sie in die Erscheinung treten. Man kann vielleicht allgemein sagen, das eigentlich rein Erkenntnismässige im weitesten Sinne des Wortes kann als solches am besten übertragen werden, und dieses wieder um so voll-
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kommener, je mehr es sich bestimmter wissenschaftlicher Erkenntnis nähert. Und innerhalb alles Erkenntnismässigen die verschiedenen logischen Beziehungen der Begriffe wirklich deckend. Denn die logischen Operationen sind allenthalben die gleichen, die Begriffe um so verschiedener, je weniger sie wissenschaftlich gefasst und definiert sind, und je weiter sie sich von der Welt des sinnlich Wahrnehmbaren entfernen. Wir können die Gedankengänge und Zusammenhänge eines Platonischen Dialogs als solche ziemlich scharf wiedergeben in unserer Sprache, aber die Fundamentalbegriffe, um die sich der ganze Gedankengang dreht, in der Regel nicht. Wir erinnern nur an ὅσιον, φρόνησις, σωφροσύνη, εἶδος und unzählige andere. Aus der gedruckten Übersetzung also die geistige Welt, in der Plato sich bewegt, kennen zu lernen ist unmöglich; auch hier gilt im vollsten Masse das Humboldtsche Wort: Seine Sprache ist sein Geist und sein Geist ist seine Sprache. Was aber von dem Gedankengang eines wissenschaftlichen Werkes gilt, gilt ebenso von dem Gedankengang der Erzählung, des Berichtes, der Geschichte. Auch hier sind alle Zusammenhänge, alle Beziehungen, der Gesamtverlauf deckend wiederzugeben. Die Begriffe auch hier in der Regel nicht; doch überwiegt bei derartigen litterarischen Produkten das Interesse am Gesamtverlauf, und die Drehpunkte des ganzen sind oft Personen, Völker, Städte; also Namen, nicht Begriffe, so dass die Einbusse und Inkongruenz von Wort zu Wort weniger ins Gewicht fällt. Aber thatsächlich ist sie vorhanden, und thatsächlich muss manches Unübersetzbare mit der Erklärung als Fremdwort in die „Übersetzung“ aufgenommen werden; und mit einem grossen Teile des Übersetzbaren verbindet der Leser der Übersetzung notwendig ganz andere Vorstellungen als der Leser des Originals. Wir erinnern nur an forum-Markt, centurio-Hauptmann, tribuni-Offiziere, senatus-Stadtrat und vieles der Art. Auch bei der Beschreibung waltet der Zweck des Ganzen dermassen vor, dass man, da er erreichbar scheint, sich um das Wie im einzelnen nicht weiter kümmert. Es spricht vielleicht nichts so sehr für den allgemeinen Glauben an die Selbständigkeit und Allgemeinheit, d. h. allgemeine Gleichheit des Denkens bei allen Völkern als der allgemeine und kaum angefochtene Glaube an die Übersetzbarkeit womöglich aller sprachlichen Produkte in womöglich alle Sprachen. Denn das Bewusstsein, dass die Logik des Satzes und der grösseren Einheit sich immer wiedergeben lässt; dass alles im wissenschaftlichen Sinn richtig Erkannte, vielleicht kann man sagen überhaupt alles rein Intellektuelle in seinen grossen Zügen und Wegen, die es durch das Sprachmaterial oder den Inhalt des Geistes eines Volkes zurücklegt, sich ohne Verlust aus einer Sprache in die andere übertragen lässt: dies Bewusstsein ist ein so herrschendes, dass daneben alles andere, alle unsere Hülflosigkeit im einzelnen, alle unsere Mittel der Erklärung, die keine Übersetzung mehr sind, all unser Herübernehmen des fremden Wortes nicht mehr in Betracht zu kommen scheint. Und doch ist damit noch lange nicht alles [28] erschöpft, was die Möglichkeit des Übersetzens beeinträchtigt. Man vergisst in der Regel, dass jede Übersetzung, wenn sie gut ist, nicht fremden Geist in unsrer Sprache bringt, sondern dass sie fremden Geist in unsern Geist verwandelt, dass wir sonach den fremden Geist überhaupt nicht kennen lernen, sondern in den Banden des eigenen befangen bleiben. Also nicht etwa nur die lautliche Form des geistigen vermeintlich allen Völkern gemeinsamen Inhalts wird eine andere, sondern die innere, geistige Form, die
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geistige Struktur wird in der Übersetzung völlig umgewandelt; es wird das Übersetzte nicht aus der Sphäre einer Sprache in die andere übertragen, sondern in eine neue ganz anders eingerichtete geistige Sphäre, eine völlig heterogene geistige Welt. Derselbe Weg im ganzen wird zurückgelegt, aber er hat sich im einen Fall vielleicht mit völliger Freiheit durch eine pfadlose, bunte Wiese hingezogen, im andern durch Heideland; oder im einen durch einen üppig wuchernden Urwald und im andern durch einen beständigeren Tannen- oder Eichenwald; vielleicht auch im einen und dem andern Fall durch verschieden gepflegte und gruppierte, geregelte und zugestutzte Parkanlagen mit zahllosen schon ausgetretenen Pfaden und Wegen. Die Gesamtrichtung des Originals, und bewege sie sich auch in den wunderlichsten Kurven, wird mit ihrem Zielpunkt auf allen diesen Gebieten im allgemeinen festgehalten werden können; aber im einzelnen muss man sich allenthalben in kleineren oder grösseren Ausbeugungen um die ideale Richtung des Originals herumbewegen, je nachdem wucherndes Buschwerk, Stämme, Vertiefungen die vorgeschriebene Richtung hemmen; oder einer der vielleicht zahllos vorhandenen bequemen Pfade nötigt oder verleitet uns, die neue im Original vorgezeichnete Richtung zugunsten des seitwärts laufenden bequemen Pfades zu verlassen. Aber abgesehen von diesen unvermeidlichen fortwährenden kleineren und grösseren Umwegen und Abweichungen führt eben der eine Weg vielleicht durch Urwald, der andere durch Parkanlagen oder niedriges Gehölz. Wir haben übrigens von den Übersetzungsschwierigkeiten und -unmöglichkeiten bisher fast nur geredet, soweit sie den Begriffsstand, die blosse begriffliche Materie der Sprache betreffen. Wir stehen aber andern Erscheinungen der Sprache noch viel hülfloser gegenüber. Denn der völlige Mangel streng deckender Begriffe wird einigermassen ausgeglichen durch eine gewisse Auswahl von Worten, deren Begriffe an der Peripherie des fremden partizipieren; und vermöge eines ununterbrochenen pars pro toto helfen wir uns weiter und dürfen uns so weiter helfen wegen der grossen Beweglichkeit der begrifflichen Schwerpunkte, deren Lage in jedem Fall durch den Zusammenhang indiziert wird, jener Beweglichkeit, die auch die Hauptursache der constanten Verschiebung aller Begriffe bildet. Dieselbe Eigenschaft der Begriffe also, die eine begriffliche Kongruenz der Sprachen ein für allemal unmöglich macht, muss auch wieder dazu dienen und dient thatsächlich dazu, eine annähernde Übersetzung der begrifflichen Seite der Sprache zu ermöglichen. Aber diese Verschiebung des Schwerpunktes lebt thatsächlich nur in dem Ganzen des Satzes. Am einzelnen Begriff im Satze kommt sie dem Einsprachigen in der Regel nicht zum Bewusstsein. Sonst hätten wir nicht die viele Mühe dem Schüler begreiflich zu machen, wann er für das deutsche „erklären“ dicere und wann declarare zu gebrauchen habe; wann für „endlich“ postremo oder tandem oder denique, und so weiter bei allen sogenannten Synonyma. Erst in der Vergleichung der fremden Sprache kommt uns diese Verschiebung und meist auch nur während der Thätigkeit des Vergleichens zum Bewusstsein; bei der freien Bewegung in der Muttersprache oder in der vollkommen beherrschten Fremdsprache in der Regel nicht. Von den Schranken der Form haben wir noch nichts gesagt. Dass alles, was zur Wirkung des blossen Lautes gehört, in der Übersetzung verschwindet und durch ganz andre Lautwirkungen ersetzt wird, versteht sich von selbst. Dass dabei die Unter-
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schiede und ihre psychologischen Wirkungen ganz bedeutend grösser sind, als man gemeinhin annimmt, soll hier nur angedeutet werden. [29] Im Zusammenhang damit bleiben in der Regel auch die besonders erstrebten lautlichen Wirkungen unübertragbar, können höchstens durch mehr oder weniger enfernt analoge onomatopoetische Künsteleien ersetzt werden. Kleinere lautliche Abweichungen, wie der Dialekt sie bietet, die oft mit ihrer eigenartigen Wirkung in der Originalsprache sehr ansprechend sein mögen, sind in der Übersetzung kaum irgend einmal so wieder zu geben, dass man überzeugt sein könnte, die Wirkung der gewählten Dialektform sei der originalen ähnlich. Ich wüsste z. B. nicht, wie ich in unserem süddeutschen Dialektgebiet das boeotische ἴττω Ζεύς des Simmias im Phaedo wiedergeben sollte, geschweige denn die äolischen, dorischen und ionischen Färbungen der verschiedenen poetischen Gattungen der Griechen. Zur blossen lautlichen Abweichung kommt hier eben noch hinzu, was oben über die psychologische Seite der Dialektsprache und -dichtung gesagt ist. Hierher gehört auch das Wortspiel im weitesten Umfang des Begriffs. So sind zunächst die minder wichtigen Spielereien, die in Umkehrung von Worten, in Umstellung einzelner Silben und in Deutung der einzelnen Teile der Worte bestehen, durchweg unübertragbar. Daher sind Charaden und Rebus und dgl. unveräusserliches Gut der einzelnen Sprachen. Aber auch das Wortspiel, dessen Wirkung auf dem Kontrast lautlicher Ähnlichkeit und begrifflicher Verschiedenheit beruht, und das von Rednern und Dichtern oft mit dem packendsten Erfolg angewendet wird, ist in der Regel nicht übersetzbar. Die Surrogate dafür haben fast immer eine Verschiebung des Gedankens in dem Masse zur Folge, dass sie ihre Wirkung völlig verlieren. Man verzichtete meist besser auf den Nachahmungsversuch. Sind die Nachahmungen gesucht, so klingen sie regelmässig frostig. Die Shakespeareübersetzungen liefern die Beispiele in beliebiger Zahl. Wären die Wortspiele in Shakespeares Sprache so frostig, wie sie in der Übersetzung empfunden werden, so hätte sie jener geistsprühende Dichter nicht gemacht. Aber sie sind einem Sprachzustand entwachsen, wo die Sprache sich eben erst ihrer selbst und ihrer Herrlichkeit bewusst wird, wo Laut und Begriff zusammen noch völlig untrennbare Einheiten bilden und wo der Beherrscher eines solchen Sprachgebietes mit immer neuer Lust seine kecken Sprünge und seine kühneren Streif- und Eroberungszüge in dem neu erschlossenen und an interessanten Einzelheiten so fruchtbaren Reiche unternimmt. Den Ertrag dieser ergiebigen Eroberungszüge haben sicherlich Shakespeares Zeitgenossen mit dem Dichter selbst zu geniessen verstanden. Dreihundert Jahre später, wo die Worte mehr abgebraucht, andere vergessen, wieder andere im Begriff verschoben sind, und wo Konversation und Wissenschaft, jede von ihrer Seite aus und zu ihren Zwecken das Gewicht des Lautes zurücktreten liessen, die eine der raschen Verständigung und Mitteilung wegen, die andere wegen der Hervorkehrung der begrifflichen Seite des Wortes; und wo endlich der Reiz der ursprünglichen Frische und der kühnen Eroberung an sich geschwunden ist, – ist das Shakespeare’sche Wortspiel selbst dem Engländer grossenteils frostig geworden; wie viel mehr muss dies der Fall sein bei der Übersetzung in eine andere Sprache, die eine ähnliche Entwickelung durch Konversation und Wissenschaft genommen hat und nun auch noch irgend ein kümmerliches und den Sinn verschiebendes Surrogat für das ursprüngliche Wortspiel zu Hülfe nehmen muss! In die deutsche Sprache vor dem
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dreissigjährigen Krieg wären diese Dinge leichter zu übertragen gewesen. Die deutsche Sprachentwickelung war damals in mancher Hinsicht der englischen zu Shakespeares Zeit ähnlich, und die Schwingen des deutschen Sprachgeistes tummelten sich bei Fischart noch viel toller und mit der gleichen ursprünglichen Lust auf dem Gebiete des Wortspiels, als die des englischen bei dem ungleich grösseren Shakespeare. Selbstverständlich ist auch Fischart dem heutigen Deutschen, der sich nicht in die Sprachempfindung jener Zeit zu versetzen vermag, – frostig. Dass auch alle ursprüngliche Lautsymbolik hiermit wegfällt, ist selbstverständlich. Doch [30] ist unsere meist unbewusste Empfindung für diese Seite der Sprache derart dehnbar, dass eine parallele oder analoge Symbolik mit den verschiedensten Lauten in scheinbar unlösliche Verbindung tritt. Sicherlich hat der Lateiner mit dem Aussprechen des Wortes subito im blossen Laut das Rasche und Überraschende empfunden, was wir vielleicht nach der Seite des Unerwarteten hin verstärkt empfinden beim Aussprechen des Wortes „plötzlich“. Aber wie wollten wir an lautsymbolischen Wirkungen im Deutschen erreichen, was der homerische Grieche empfand bei Worten wie μελίγηρυς oder λιγυρή ἀοιδή, oder bei ganzen Versen wie: δεῦρ’ ἄγ’ ἰὼν, πολύαιν’ Ὀδυσεῦ, μέγα κῦδος Ἀχαιῶν? Aber man wird nicht geneigt sein, dieser lautlichen Seite der Sprache und ihren psychologischen Wirkungen allzuviel Gewicht beizulegen, obwohl man sich schwerlich dagegen verschliessen kann, dass die Unterschiede in der Wertung des lautlichen Elementes der Sprache in verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Völkern ausserordentlich gross sind. Inbezug auf den Inhalt der Übersetzung haben wir oben festgestellt, dass alle die verschiedenen logischen und realen Teile und Beziehungen der Rede nur an sich deckend oder annähernd deckend übertragbar seien. In ihrer sprachlichen Form erscheinen auch diese ihrer Innenseite nach gleichen Elemente der Sprache so mannigfaltig ausgeprägt, dass eben in dieser sprachlichen Form nicht mehr deckend übertragbar ist, was an sich deckend übertragbar sein zu müssen schien. Beim einfachen bejahenden Urteil gelingt es noch am vollkommensten; und ob die Sprache die sogenannte Copula besitzt und anwendet oder nicht, macht dabei nicht viel aus. Schon beim negativen Urteil treten wesentliche Modifikationen ein. Die Nachdrücklichkeit der mehrfach wiederholten Negation im Griechischen ist für andere Sprachen nicht leicht nachahmbar; die feineren Unterschiede der Stellung und Art der Negation noch viel weniger. Es ist kein bloss formaler Unterschied, ob die Negation aus einem Wort besteht, oder ob sie wie im französischen ne-pas oder im analogen ne-iht im Mittelhochdeutschen aus zwei getrennten Elementen sich zusammen setzt. Hätte z. B. Aristoteles nicht sein einfaches οὐκ gehabt, sondern etwa ein οὐ-τι, das er hatte anwenden müssen wie der Franzose sein ne-pas, so wäre er schwerlich in seiner Logik auf den seltsamen οὐκ ἄνθρωπος, den Nichtmenschen, verfallen, und es wäre so vielleicht das ganze sogenannte unendliche Urteil gar nicht in die Logik hineingekommen, um da sein unfruchtbares Dasein zwei Jahrtausende lang zu fristen. Ist aber erst das Urteil nicht nur einfach assertorisch, sondern handelt es sich um andere Bestimmungen desselben nach Relation und Modalität, so pflegen die sprachlichen Mittel zum Ausdruck dieser Bestimmungen um so mannigfaltiger zu werden, je reicher die Sprache sich entwickelt hat, je gelenker und geschickter sie sich allen Mög-
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lichkeiten der Auffassung des Gedachten und Geschauten anzupassen vermocht hat. Sprachen auf verschiedenen Stufen der Reife können sich da unmöglich gerecht werden. Und stehen sie auf gleicher Höhe der Entwickelung, so sind die subjektiven Neigungen und infolge davon Abweichungen im Ausdruck und in der Färbung der Rede gerade auf diesen Gebieten eben meist sehr gross. Man wird gewiss zugeben, dass unsere Sprache seit Goethe auf der Entwickelungsstufe der griechischen zur Zeit der Tragiker angelangt ist. Aber wo ist bei uns die Geschmeidigkeit und Leichtigkeit auch nur des griechischen Potentialis geblieben? Unsere dafür empfohlenen „dürfte, könnte, möchte wohl“ sind so gespreizt und klingen so maniriert, dass es unerträglich wäre, auch nur eine Seite Plato mit leicht einem Dutzend potentialer Behauptungen in dieser Weise übertragen zu lesen. Und andererseits ist unser potentiales Futurum wieder viel zu kahl, um dem griechischen ἄν mit Optativ zu entsprechen. Und mit dem ἄν beim Relativpronomen ist es nicht anders; es entzieht sich ebenfalls aller deckenden Übersetzung, wie jeder weiss, der es versteht. Wo ist überhaupt die Sprache, die sich ein Formwort wie das griechische ἄν geschaffen hätte? Dagegen könnte der Grieche [31] der römischen Vielseitigkeit auf dem Gebiete des Müssens und seiner verschiedenen Möglichkeiten nicht gerecht werden. Neben dem Gerundivum das necesse est, oportet, opus est, das debeo und non possum quin u. s. w. sind ebensoviele Arten der Auffassung des Unausweichlichen und Nötigen, wie sich vielleicht überhaupt unterscheiden lassen, wie sie aber weder der Grieche in seiner Sprache zu unterscheiden vermochte, noch wir es in der unsrigen vermögen. Die hypothetische Form des Urteils braucht man nur zu nennen, um sofort daran erinnert zu sein, dass auch hier jeder Versuch misslingen muss, in anderen Sprachen den so einfach und bestimmt ausgeprägten feinen Auffassungen, Unterscheidungen und Färbungen der griechischen Sprache beizukommen. Es häuft sich hier, was wir oben von dem potentialen Fall und dem Relativpronomen mit ἄν gesagt haben, und gestaltet sich noch weiterhin mannigfaltiger. Auch die Unterscheidung der thatsächlichen und logischen Folge, des subjectiven und objectiven Grundes und andere feinere Nüancierungen des kausalen Verhältnisses, alle die hypothetischen Modifikationen der temporalen Sätze, die verschiedenen Formen des finalen Verhältnisses und das alles eventuell in Verbindung mit einer von zwei sich völlig ausschliessenden Negationen: das sind durchweg Dinge, die sich entweder in unsere Sprache und selbstverständlich auch in andere entweder gar nicht übersetzen lassen oder doch nur mit gesuchten Mitteln, die ausserhalb der natürlichen Ausdruckswege unseres Idioms liegen. Dagegen haben wir und die lateinische Sprache das Koncessivverhältnis wieder mit einer Vielseitigkeit ausgestattet, die der Grieche nicht erreicht hat. Aber in dem sprachlichen Ausdruck des Realen sind die Unterschiede in den herrschenden Auffassungen der Sprachen womöglich noch tiefer greifend. Wie wollten wir die feinen Unterscheidungen der französischen Sprache in ihren Auffassungen der Vergangenheit ausdrücken? Und wie fundamental verschieden von den modernen Sprachen sind manche alte Kultursprachen und andere, die jenseits aller Kultur stehn, inbezug auf die Merkmale der Thätigkeit, des Handelns, die ihnen bei der formalen Ausgestaltung des Verbums massgebend waren! Auf keinem Gebiet hat man wohl eher empfunden, dass das Schema der lateinischen Grammatik, das man so gerne allen ande-
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ren Sprachen aufzwängen wollte, nicht passt, als auf dem Gebiete des „Zeitworts“. Wir erinnern nur an die hebräische Sprache mit ihrem von allen arischen Sprachen so grundverschiedenen Gesichtspunkten für die sogenannte Konjugation. Aber wir brauchen nicht so weit zu gehen. Das Grundprinzip für die hier fälschlich sogenannte Tempusbildung ist ja im Griechischen überhaupt nicht die Zeit, sondern die Bestimmungen der Handlung nach Einmaligkeit, Wiederholung oder Dauer und Vollendung. Darnach und nicht nach Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft bilden die Verba der griechischen Sprache ihre „Tempusstämme“. Noch spielt in unseren griechischen Grammatiken die Schablone der lateinischen zu sehr hinein, sonst würde man, statt die sogenannten Modi des Präsens nicht auch zum Imperfekt, die des Perfekt nicht auch zum Plusquamperfekt zu setzen, eher auf die Lücke in der Formbildung des griechischen „Zeitworts“ hinweisen, dass die Sprache es versäumt hat, auch für den Aoriststamm einen Indicativ ohne Augment, entsprechend dem Präsens, zu bilden. Aber was kann die deutsche Sprache z. B. dieser Anschauung der Thätigkeit gegenüber, wie sie die griechische Sprache darstellt, thun, um sie zu übersetzen? Nichts. Dass es übrigens auf dem Gebiet der Formenbildung in Declination und Konjugation in andern Sprachen noch eine lange Reihe von ähnlichen Dingen giebt, die gleichfalls nicht allgemein übertragbar, sogar in vielen Fällen allgemein nicht übertragbar sind, darauf soll hier nur hingewiesen werden. Nicht besser steht es mit der Syntaxis der Worte, den Ausdruck im weitesten Sinn genommen. Was einzelne Sprachen in zusammengesetzten Worten zu leisten vermögen, ist für andere ganz unersetzbar. Man braucht nur eine französische Homerübersetzung aufzuschlagen, um sich von der völligen Hülflosigkeit dieser Sprache den homerischen Composita gegenüber zu überzeugen. [32] Diese ewigen à und aux und de und des tragen eine Geschmacklosigkeit und Schwerfälligkeit in die homerische Diction hinein, die dem Franzosen sicherlich nur erträglich ist, wenn er sie in gleichzeitiger Vergleichung mit dem Urtexte aufnimmt. Für den, der kein Griechisch versteht, wäre eine französische Übersetzung Homers eine möglichst schlechte Empfehlung des alten Dichters. Die Umschreibung eines Compositums ist immer ein schlechtes Surrogat für das Compositum selbst. Die Geschlossenheit und Einheitlichkeit eines zusammengesetzten Wortes, das nur einen Schwerpunkt hat, wirkt als ein Gesamtbegriff; alle Umschreibung aber ist unschön; die für ein Compositum doppelt unschön für den, der den Originalbegriff kennt. Wir selbst können ja der homerischen Sprache auf diesem Gebiet leidlich nachkommen, stehn aber unsrerseits wieder dem Sanskrit noch hülfloser gegenüber, als der Franzose Homer. Auch ein grosser Teil, vielleicht der grösste der Wirkungen, die durch die Wortstellung hervorgerufen werden, geht in der Übersetzung verloren. Sprachen von fast unbeschränkter Beweglichkeit der Satzteile ihrer Anordnung nach, wie das Lateinische, verfügen über Schattierungen des Gedankens, die eine gebundenere Sprache, wie z. B. wieder die französische Sprache, niemals nachahmen kann; aber auch in andern Sprachen muss die Übersetzung auf derlei Verzicht leisten. Und nun erst die Syntax im engeren Sinn des Wortes. Wie wollte man z. B. die Ciceronianische Periode ins Mittelhochdeutsche übertragen! Es ist im Grossen mit den zusammengesetzten Sätzen ganz ähnlich, wie wir es im Kleinen bei den zusammengesetzten Worten gefunden haben.
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Die Geschlossenheit einer grossen Periode bildet für die Vertreter der betreffenden Sprache eine Einheit mit einem Schwerpunkt. Die Gedrungenheit des Gedankens bei compakter Gliederung ist eine Sache, die ihren besonderen Wert hat und von besonderen spezifisch ästhetischen und logischen Empfindungen begleitet ist. All dies geht in der Übersetzung verloren. Neues und andres tritt an seine Stelle, andre Form und andres Formgefühl. Auch hier tritt anstelle des Geistes einer Sprache der Geist der andern. Man irrt sich, wenn man glaubt, man habe bei Auflösung einer grossen Periode eines lateinischen Schrifstellers nur die Form geändert, wenn man 3 oder 4 deutsche Hauptsätze daraus gemacht hat. Und wie verschieden sind die Sprachen auf diesem Gebiet! Wie verschieden die lateinische Periode z. B. mit ihrer centralistischen Tendenz gegenüber der griechischen eines Thukydides oder gar eines Plato, wo die Periode oft zwar nicht minder ausgedehnt, aber im Innern frei und durchweg nach den Prinzipien der Dezentralisation gebaut, d. h. ganz lose aneinandergefügt ist. Und im Deutschen können wir beide Arten nicht nachahmen; leichter noch die griechische Periode; sie steht unserem Wesen näher. Aber während wir eine lateinische Periode als solche gar nicht übertragen können, ohne unserer Sprache gröblich Gewalt anzuthun, können wir die platonische z. B. vielleicht wohl übertragen; machen aber dabei die Erfahrung, dass dieselbe leichtgeschürzte Periode uns, auch dem Schüler schon, in griechischer Sprache fast leichter verständlich ist, als in deutscher. Die Sprache ist eben ein Urphänomen des nationalen Geistes; sie ist sogar der grösste und wichtigste Teil des nationalen Geistes. Und die Art der Syntax, die Art des Periodenbaus ist eine wesentliche Seite dieses Teils. Ein Volk, das politisch und militärisch mit concentrierter und concentrierender Kraft Organisationen schuf, die der Welt vorbildlich wurden, schuf die gleichen Organisationen im Gebiet seiner Sprache; eines ist vom andern nicht trennbar. Nur ein Volk, das in der Periode Cicero’s die vollendetsten Gebilde seiner Sprache anerkannte und bewunderte, konnte das Corpus iuris schaffen und der Welt in seiner Hauptstadt den Krystallisationspunkt politischer Organisation geben. Und der griechische Geist, der jeder grösseren einheitlichen politischen Organisation instinctiv widerstrebte, dem die Decentralisation und persönliche Ungebundenheit die einzige Lebensluft war, in der er gedeihen konnte; der alles in vorbildlicher Vollendung schuf, was allein „von der Freiheit gesäugt“ seine ungestörte und innerlich kräftige Entwickelung haben kann, Wissenschaft und Kunst: er lebt und gewinnt seine [33] adäquate sprachliche Gestalt nur in der leichtgeschürzten, zwanglos dahin schreitenden oder eilenden und doch einheitlichen und schönen platonischen Periode. Es ist ein Grundwesen des Geistes, das sich nach den verschiedensten Seiten immer conform giebt und äussert; und das wichtigste und umfänglichste Gebiet der Manifestationen des Geistes oder genauer, der wichtigste Teil des nationalen Geistes selbst ist die Sprache. Wir haben bei diesen letzten Ausführungen zunächst nur Sprachen auf ähnlicher Entwickelungsstufe im Auge gehabt. Dass alle erwähnten Schwierigkeiten der Übersetzung sich vervielfachen, wenn es sich um Sprachen sehr verschiedener Entwickelungshöhe handelt, ist ausser Frage. Aber wir haben auch die Bedingungen der Übertragbarkeit des sprachlichen Kunstwerkes als solchen noch nicht näher betrachtet. Bisher haben wir als völlig inkongruent die nach Sprachen sich sondernden Welten der geistigen Inhalte gefunden; als allgemein übertragbar das beziehende Denken inner-
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halb der verschiedenen Inhaltsgebiete. Als fast durchweg nicht übertragbar hat sich uns das spezifisch Formale im weitesten Sinne des Wortes vom blossen Laute an bis zur syntaktischen Gliederung der Formen und Gedanken herausgestellt; als förderlich andererseits das Fliessende der sprachlichen Begriffe und die Möglichkeit der Verlegung des Schwerpunkts innerhalb der Begriffssphären und die bestimmtere Fassung und Begrenzung der Begriffe in wissenschaftlichen Darstellungen. Es ist also nach unsern bisherigen Ergebnissen bei der Übersetzung nicht anders, als wenn man ein Tonstück nicht etwa nur von einem Instrument auf ein anderes übertragen wollte, sondern wenn es zugleich etwa aus unserem Tonsystem in ein völlig anders konstruiertes Tonsystem, etwa in ein indisches, übertragen würde; es lässt sich übertragen, aber es wird ein anderes nach Klang und Intervallsystem. Oder es ist als ob man eine bestimmte geometrische Figur, die z. B. in parischem Marmor uns vorläge, in Sandstein oder Granit nachbilden wollte. Die Form im grossen und ganzen kann ja nachgebildet werden, Farbe und Zeichnung der Flächen bleiben grundverschieden und vor allem auch der Bruch des Gesteins; denn eine völlige Glättung ist dabei ohnehin ausgeschlossen. Aber auch Kanten und Ecken könnten in der Regel nicht scharf genug nachgebildet werden. Beim sprachlichen Kunstwerk in der Schriftsprache tritt nun wieder etwas Ähnliches ein, wie wir es bei der Dialektdichtung schon konstatiert haben. Erwies sich diese als intensiv gefärbt mit allen Farben des individuellen Empfindungslebens einer kleinen Sprachgemeinschaft und infolge davon als unübersetzbar, so erweist sich die Poesie in der Schriftsprache zwar als viel objektiver, aber doch immerhin nur als der Ausdruck der spezifischen Empfindungsweise und Weltanschauung der grösseren sprachlichen Gemeinschaft. Auch da giebt das Volk nicht sachliche Inhalte, sondern sich selbst, wenigstens im Volksepos und im Volkslied; oder der einzelne Dichter giebt sich selbst, wie in der gesamten Lyrik; und beide Seiten, die Eigenart des ganzen Volks und die Eigenart des Dichters verbinden sich im Drama – auch im historischen, das eben in diesem Sinne nicht historisch ist, sondern national und Bild der jeweiligen Gegenwart. Wo aber ein Volk sich selbst, sein Erleben an sich und an der Welt und sein Empfinden ausspricht, da spricht sich ein Teil seines ureigenen Wesens aus, und dieses immer individuelle Wesen hat nur dies eine Volk selbst als Produkt seiner Naturanlage und seines Erlebens in Natur und Geschichte. Die Übersetzung kommt nun auch hier der logischen und rein intellektuellen Seite des Originals – dem „gerupften Vogel“, den wir bei der übersetzten Dialektdichtung kennen lernten – nah genug, weiss auch den äusseren Verlauf des Inhaltes, besonders wenn er erzählender Art ist, zur Darstellung zu bringen; aber gerade dasjenige, worin der spezifische Wert der Poesie liegt, nicht. Hier kann die Übersetzung naturgemäss über eine Art von Stammeln nicht hinauskommen; namentlich wenn sie „treu“ sein will. Denn es handelt sich hier nicht um die Nachbildung eines geometrischen Körpers in einem Material von ganz anderer Struktur, Consistenz und Färbung, [34] sondern um die Nachbildung einer viel complizierteren und ganz individuell gestalteten Sache, etwa eines ausdrucksvollen Menschenantlitzes, das natürlich den nationalen Typus darstellt und im Ausdruck die nationale Empfindungsart. Da ist nun entweder die Nachbildung in dem andern Material, das ganz andere immanente Gesetze des Bruches hat, wie man sagt – treu, dann ist sie eine Karikatur,
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und solche Übersetzungen können, wie v. Wilamowitz mit recht sagt, das Original denen, die es nicht kennen, nur – verekeln; oder die Nachbildung ist eine völlig freie und folgt den eigenen Gesetzen des neuen Materials, dann ist sie aber keine Übersetzung mehr; dann ist z. B. anstelle einer Athene eine Thusnelda getreten, anstelle einer Clytia ein Gretchen, und eine Venus von Milo trüge dann vielleicht die Züge einer Holbeinschen Madonna. Wer nun freilich das Original kennt, für den hat auch die schlechte Übersetzung ihr eigenes Leben; er sieht durch das trübste Medium eben immer das Original. Auch die mehr oder minder schlechte unmittelbare Übersetzung des Schülers kann dem Original nicht allzuviel Schaden bringen, da es immer zum Vergleich vorliegt. Daher ist diese Art, ein Original kennen zu lernen, fundamental verschieden von der Lektüre auch der besten gedruckten Übersetzung, bei der unter allen Umständen das Unzulängliche in jeder Zeile unvermeidlich ist – ganz abgesehen vom Wert der eigenen Arbeit, auf den die „Gelehrtenschule“ in erster Reihe und auf allen Gebieten zu halten hat. Und wenn der Lehrer nicht dogmatisch verfährt und meint, seine Übersetzung sei „die richtige“, sondern dem Schüler auf Schritt und Tritt die Unvollkommenheiten und schliesslich die Unmöglichkeit streng deckender Übersetzung aufweist, so wird er damit das Verständnis des fremden Schrifstellers weit mehr fördern, als wenn er den Wahn der deckenden Übersetzung gross zieht. Auch ein lebhaftes Interesse für eine Originalpoesie hilft über manche Unvollkommenheiten einer Übersetzung hinaus, zumal wenn dieses Interesse sich verbindet mit einer reichen Erfahrung auf dem Gebiet fremder Literaturen überhaupt und insbesondere, wenn die intuitive Kraft angeborenen Sprachgenies, wie sie der Dichter besitzt, hinzukommt. Wir denken hier an Goethe. Und wäre bei Schiller nicht eine Begeisterung von denkbar grösster Expansivkraft für die griechische Antike zum voraus dagewesen: aus den Übersetzungen hätte er sich dieselbe kaum geholt. Im Gegenteil, es wäre vielleicht der Mühe wert zu untersuchen, wie bei Schiller eine aus dem Allgemeinen der griechischen Kunst hergeholte und von aussen an die Lektüre der Übersetzungen griechischer Dichter herangebrachte Begeisterung seine Auffassung und Nachahmungen griechischer Poesien beeinflusste – sicherlich nicht zu deren Gunsten. Wem aber das starke Interesse und der aus reicher Erfahrung und Kenntnis hervorgehende Blick für fremde Individualität fehlt – und dies ist doch bei unsern Schülern der Fall –, dem wird die Übersetzung eines poetischen Werkes den Eindruck eines unerquicklichen oder gar schlechten deutschen Buches machen. Statt auf diesem Weg „den Geist des fremden Volkes in sich aufzunehmen“ wird er bloss den Eindruck des verstümmelten und verschnittenen Geistes der eigenen Sprache davontragen, und die fremde Litteratur würde ihm thatsächlich – wenn er glaubte ihr Äquivalent in der Übersetzung vor sich zu haben – gründlich „verekelt“. Aber wir haben nur von dem Inhalt der Poesie bis jetzt geredet und nicht von ihrer Form. Und doch haben die Völker und Sprachen ja meist auch ihre besonderen poetischen Kunstformen geschaffen und diese wieder mit oft ganz verschiedenen Mitteln. Nun ist es wirklich erstaunlich, mit welcher Geschäftigkeit wir Deutsche die poetischen Kunstformen aller Länder und Völker nachzuahmen und einzubürgern suchen. Und die Naivetät, mit der wir unsere Sprache meist in völliger Verkennung ihrer Eigen-
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art als ein Mädchen für alles behandeln und noch rühmen, lässt sich höchstens mit derjenigen vergleichen, die uns bis vor kurzer Zeit noch unsere staatlichen Einrichtungen aus aller Herren Länder zusammentragen hiess, statt sie aus deutscher Eigenart und dem auf deutschem Boden Gewordenen herauszuentwickeln. Wer sich einmal vollkommen [35] klar gemacht hat, was es heisst, dass die poetische Kunstform bei uns auf etymologischer Basis beruht; dass sie wesentlich der Rhythmus der Logik des Satzes oder der Rhythmus geradezu des Gedankens ist, dem wird alsbald die Erkenntnis kommen, dass z. B. der deutsche Hexameter etwas toto genere Verschiedenes vom lateinischen und griechischen Hexameter ist. Das ruhige und rein äusserliche Ausmass der Zeitdauer, wo der logische Wert der Silbe für das Metrum absolut irrelevant ist, wo zudem der Accent des Wortes, der ja ohnehin keinem etymologischen, also logischen Prinzip folgt, nicht den mindesten Einfluss auf die Gestaltung des Versmasses hat: dieses rein äusserliche Prinzip im Deutschen wiedergegeben zu sehen auf Grund eines rhythmischen Prinzips, das recht eigentlich nur Rhythmus des Sinnes und Gedankens ist, das in der geistigen Seite der Sprache fast ausschliesslich beruht und mit ihr abschliesst, das auf die Quantität an sich nur ganz nebensächliche Rücksicht nimmt, das war eine Selbsttäuschung, von der wir jetzt erst anfangen uns zu befreien, weil wir anfangen uns auf uns selbst zu besinnen. Es war eine Selbsttäuschung, die nur möglich war bei dem selbstvergessenen Aneignungstrieb des Fremden, der uns Deutschen im Übermass eigen ist, und bei der Verkennung der nationalen Beschränktheit aller wahren und grossen Kunst, insbesondere aber der Kunst des Worts; auch nur möglich, weil man den Umfang und die Tragweite der allgemein gültigen und massgebenden Vorbildlichkeit griechischer Kunst ebenso zu überschätzen sich gewöhnt hatte, wie früher die Allgemeingültigkeit des Systems der lateinischen Grammatik für alle Sprachen. Es war eine Selbsttäuschung, kaum geringer als die Gottscheds, der in dem deutschen Alexandriner den französischen der Corneille und Racine wiedergegeben sah; obwohl der erstere zum letzteren sich ungefähr verhält wie ein Skelett zu einem lebendigen Körper. Die geistigsinnliche Wucht unseres logischen Accentes zerhackt den französischen glatt und geschmeidig hinfliessenden Vers und macht ihn einfach unerträglich. Und wenn Sophokles den Alexandriner sich nicht vom Leibe hält, so kommt dies sicher daher, dass er bei dem quantitierenden System des griechischen Metrums eben ganz anders geklungen hat als in unserer Sprache. Dort erscheint er im Widerspiel mit dem Wortaccent und mit dem etymologischen und logischen Gewicht, im Widerspiel mit dem Gedanken des Verses. Bei uns fällt Wortaccent, logischer und rhythmischer Hauptton in eins zusammen. Daher die zerhackte Eintönigkeit des deutschen Alexandriners. Aber es ist mit dem Hexameter nicht viel anders. Auch bei Homer wirkt das Versmass nur im Gegengewicht zu Wortaccent und logischer Betonung. Und wie diese drei Betonungsarten zu Homers Zeiten zusammengewirkt und sich zum musikalischen Vortrag verhalten haben, ist uns versagt zu wissen. Zweifellos scheint nur soviel, dass Homer über unsere Art seine Verse zu lesen nicht weniger überrascht wäre als ein Franzose, dem wir seinen Racine nach dem deutschen metrischen Prinzip vorlesen wollten. Nun ist aber der Hexameter auch bei uns in gewissem Sinne eingebürgert; nicht übertragen aus dem griechischen Hexameter, denn der deutsche ist etwas ganz anderes;
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aber eingebürgert durch mehr oder minder glückliche Versuche fast aller Dichter. Aber auch so blieb und bleibt er ein fremdes Gewächs. Wer den antiken Hexameter nicht gelernt hat, muss den deutschen eben erst lesen – lernen. Der Grieche hatte dies sicher nicht nötig, sondern konnte seinen Hexameter nur als solchen lesen. Hier war er der Sprache adäquat, bei uns nicht. Aber wir ahmen ja auch die kunstvolleren metrischen Gebilde der Alten sklavisch nach bis zum kompliziertesten logaödischen System. Aber wer vermöchte diese „Übersetzungen“ richtig zu lesen, ausser er kennte das Original? Und wäre selbst dies „richtige“ Lesen nicht ein nur sehr relativ richtiges? Je künstlicher das metrische System in der nur messenden Sprache, um so weniger ist eine Übersetzung in eine Sprache möglich, die den Rhythmus des Gedankens ihren poetischen Gebilden zugrunde legt. Wenn die Griechen an den kunstvollen Strophen ihrer Dramatiker und Lyriker [36] nicht etwas ganz anderes gehabt hätten, als wir an den „metrisch treuen“ Übersetzungen derselben, dann hätten sie diese Strophen sicherlich nicht geschaffen. In einer Sprache, die Konversationssprache im modernen Sinn geworden ist, wo die Tendenz der Entwickelung dahin geht, mit einem Minimum von Zeit und Kraft sich mitzuteilen, und die Summe des Mitgeteilten möglichst zu mehren, hat auch die Alliteration keine naturgemässe Stätte mehr, wenigstens als poetische Form. Wo man sich mehr Zeit liess zu wenig Mitteilung, und wo man auf die Erzeugung der Sprachlaute an sich eine erheblich grössere Kraft verwendete, da ist die Alliteration am Platze. Heute kann sie nur noch bei Dauerlauten wie W, M, S u. a. ihre Wirkung thun oder bei Explosivlauten, die grösseren Kraftaufwand zulassen wie K, P, T. Aber auch dabei ist zu befürchten, dass wir in unserer Gewohnheit, nur rasch den Inhalt des Mitgeteilten an uns zu reissen, den Gleichklang der Laute überhören –oder dass dieser Gleichklang im Vortrag so aufdringlich zur Geltung gebracht wird, dass der Inhalt dabei verliert. So erscheint selbst eine so einfache poetische Form wie die des gleichen Anlauts der betontesten Stammsilben an ganz bestimmte Sprachen oder an bestimmte Entwickelungsstufen der Sprachen gebunden zu sein, und ihre beliebige Übertragung artet in Spielerei aus, weil die ursprüngliche Wirkung damit entfernt nicht mehr erzielt wird. Aber es ist nun einmal nicht anders: Wir Deutsche haben mehr als jedes andere Volk die Litteraturen aller Völker und Zeiten in unsere Sprache übertragen und unsern Ruhm darin gesucht. Und die Freude über die Aneignung des Fremden und über die einzelnen scheinbar gelungenen Erfolge der Übertragung liess uns völlig die Unterschiede von Original und Übersetzung verkennen. Dem Übersetzer selbst und jedem Kenner des Urtextes ist die Übersetzung ein leicht durchsichtiger Schleier, durch den er die Formen des Originals bis in alle Einzelheiten deutlich erkennt und geniesst. Für jeden anderen ist die verschleiernde Wirkung der Übersetzung so stark, dass Formen und Linien des Originals nur verschwommen und verschoben und teilweise gar nicht zum Vorschein kommen. Aber diese andern pflegen nicht inbetracht zu kommen; und sie selbst halten entsprechend der bei uns üblichen Überschätzung der bloss literarischen Bildung mit ihrem Urteil über den Eindruck, den sie von Übersetzungen poetischer Werke haben, zurück, schon um sich keine Blösse zu geben. So kommen wir selten über einen gewissen Schülerstandpunkt hinaus, der von dem Dogma der Übersetzbarkeit von allem in alles ausgeht; und statt dem Schüler selbst das
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Unübersetzbare auf Schritt und Tritt aufzuweisen und ihn so in das Zentrum und den Geist der fremden Sprache einzuführen als in etwas unserer Sprache durchweg Incommensurables, suchen wir alles möglichst „treu“ zu übertragen, unsere Sprache nach allem Fremden in Begriff und Formen aller Art umzugestalten, sie allem anzupassen, und verwechseln dabei ununterbrochen Versuch mit Vollendung, Stammeln mit Sprechen; und das Quidproquo in Dingen der Metrik kommt uns noch heute nicht viel mehr zum Bewusstsein als dem alten Gottsched bei seinen Alexandrinern. Noch haben wir den absoluten und relativen Zeitunterschied zwischen zwei Sprachen kaum gestreift. Es ist aber etwas ganz anderes, ob eine Poesie der ältesten indischen oder chinesischen Litteratur in eine moderne Sprache übertragen werden soll oder ein Erzeugnis einer modernen Kultursprache in die andere. Die Welt des Menschen damals war eine ganz andere; und diese andere Welt ist in der Sprache zum Ausdruck gekommen. Und wieder ist es etwas ganz anderes, ob ein Erzeugnis von der Entwickelungsstufe des Volksepos in eine Sprache übertragen werden soll, die im Zeichen des Romans steht, oder ob etwa jetzt ein englischer Roman verdeutscht werden soll. Die modernen europäischen Kulturvölker stehen im grossen und ganzen auf ähnlicher Stufe der sprachlichen und litterarischen Entwickelung; sie stehen alle auf dem Standpunkt der Massenproduktion von Romanen, Novellen und Feuilletons; sie haben alle die [37] vorausgehenden Stufen bis zur Vollendung des Dramas in allen seinen Formen durchlaufen. Sie stehen auf dem gleichen Boden der Religion und Philosophie, bewegen sich also auf dem gleichen Boden der Weltanschauung. Die Wissenschaften sind international geworden, ebenso der Verkehr in allen seinen Formen. Die gleichen Interessen herrschen auf allen Gebieten des sozialen und politischen Lebens. Die Sitten und Formen des persönlichen Verkehrs, die öffentlichen und privaten Einrichtungen des Lebens ruhen allenthalben auf den gleichen Grundlagen; und die Kunst wird durch die Mittel der Vervielfältigung gleichfalls in gewissem Sinne international, selbst wenn sie ganz nationales Gepräge hat. So bilden diese Kulturvölker auf dem Gebiet des geistigen Fortschritts eine grosse Volkseinheit, und der Prozess zunehmender Verähnlichung dauert ununterbochen fort. Daher sind auf diesem Sprachgebiet eine ganze Reihe von Übersetzungsschwierigkeiten weggeräumt. Die modernen Sprachen nähern sich wenigstens dem Zustand, den die vulgäre falsche Auffassung allgemein vorauszusetzen pflegt, dass sie nur verschiedene Bezeichnungen für die gleichen Dinge, die gleichen Begriffe enthalten, so ferne sie der Vollendung dieses Zustandes auch noch sind und auf unabsehbare Zeit bleiben werden. Wo nun eine besondere Kunstform fehlt und wo der Schriftsteller nicht sich selbst in der ganz individuellen nationalen Eigenart ausspricht; wo er erzählend auf dem Boden der allgemeinen europäischen Kultur und Weltanschauung sich bewegt, da mag ihm die Übersetzung in eine andere moderne Kultursprache mit verhältnismässig leichter Mühe folgen. Daher die mächtig anschwellende Übersetzungslitteratur auf dem Gebiet des Romans. Dass auch diese Übersetzungen sich selten über das Niveau des Schülerhaften erheben, liegt zumteil an Verhältnissen, die uns hier nicht interessieren. Die schlimmste Seite an diesen Verhältnissen ist aber nicht die Stellung des Übersetzers zum Verleger, sondern das ausschliesslich stoffliche Interesse der deutschen Leser, die gleichgültig gegen alle Mängel der Form nur den allgemeinen Inhalt hastig zu verschlingen pflegen, um möglichst rasch den
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Ausgang der Handlung zu erfahren. Freilich mögen auch die Originalprodukte manchmal derart sein, dass sie jede Nachlässigkeit und Formlosigkeit der Übertragung rechtfertigen. Aber im einzelnen sind auch auf diesem Gebiet des modernen Romans Begriffe, Redensarten, Bilder, Witzworte, volkstümliche Auffassungen in ihrer individuellen Sprachform und manches andere nicht übertragbar. Aber da der Leser meist nur nach dem Ganzen trachtet, so vermisst er nicht viel. Wenn wir unter den zahllosen deutschen Übersetzungen poetischer Werke der Shakespeareübersetzung von Schlegel und Tieck einen besonders hohen Rang zugestehen, vielleicht den höchsten, so kam den Übersetzern wesentlich zu statten, dass sie in eine Sprache übertrugen, die litterarisch in mancher Hinsicht genau auf der Stufe stand, auf der sich die Sprache des Originals bewegte. Die deutsche Sprache zur Zeit Schlegels stand wie die englische zu Shakespeares Zeiten auf der Stufe der eben errungenen Reife zur dramatischen Poesie und war gerade dabei, die höchsten Triumphe auf diesem Gebiet zu erringen. Darin liegt eine Verwandtschaft und Ähnlichkeit, die den Übersetzer sehr wesentlich unterstützt, die ihm eine gute Übersetzung erst möglich macht. Und man wird nach zweihundert Jahren mit dem deutschen Shakespeare der Schlegel und Tieck wohl die gleiche Erfahrung machen wie die Engländer jetzt mit ihrem originalen Shakespeare; er verliert bedeutend, in das moderne Englisch übertragen; und in einem weiteren halben Jahrtausend wird derselbe geistesgewaltige Dichter vielleicht so wenig in das Gewand jener englischen Zukunftssprache sich einkleiden lassen, wie das Nibelungenlied in die unsrige. Ein grosser absoluter oder relativer Zeitabstand bildet dem Übersetzer eine ebenso unübersteigliche Schranke, wie ein ganz heterogenes Sprachgebiet. Der relative Zeitabstand fällt dabei noch schwerer ins Gewicht als der absolute. Wir können z. B. mit der Sprache Schillers und Goethes dem Dialog des Sophokles und Euripides gerechter werden als dem Nibelungenlied. Es [38] ist die Entwickelungsstufe, auf der die einzelne Sprache steht, dabei das Ausschlaggebende. Auf jeder Entwickelungsstufe hat dieselbe Sprache ihre eigene geistige Welt, ihre besonderen Ideale und allgemeinen Anschauungen, ihre besondere Wertung der Sprache und ihre besonderen sprachlichen Neigungen; die ganze geistige Sphäre ist darnach eine grundverschiedene, und eine Übersetzung um so schwieriger innerhalb derselben Sprache, weil die Worte teilweise die gleichen geblieben sind oder sich nur wenig geändert haben, die Begriffssphäre aber, oder die Anschauung, die dem Begriff zugrunde liegt, sich verschoben hat, aber oft doch nicht so, dass ein total anderer Begriff daraus geworden wäre. Wenn nun v. Wilamowitz im Vorwort zu seiner Ausgabe von Euripides Hippolytos sagt, Voss habe es zu verantworten, dass Homer für zur Zeit noch unübersetzbar angesehen werden müsse, weil er uns gewöhnt habe, mit dem Stil seiner Homerübersetzung, dessen Hauptkennzeichen Trivialität und Bombast seien, den Begriff des Homerischen zu verbinden, so ist dabei doch wohl der relative Zeitabstand übersehen. Mit dem Bombast hat es ja seine Richtigkeit und wir haben oben schon davon gesprochen, dass dieser Schwulst sich mit einer gewissen Notwendigkeit ergeben musste; auch die Trivialität muss zugegeben werden, und es muss constatiert werden, dass kein Mensch die edle Einfalt und morgenfrische Anmut Homers aus den pathetischen Tiraden der Vossischen Hexameter kennen lernt. Aber zur Zeit Goethes, zur Blütezeit der Lyrik
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und des Dramas einen Stil für das Volksepos zu schaffen, scheint ein Ding der absoluten Unmöglichkeit; das hätte auch kein Dichter zur Zeit des Sophokles vermocht. Wenn wir also keinen epischen Stil haben, in den wir Homer übertragen könnten, so hat dies nicht Voss zu verantworten, sondern der Geist der Sprache, der vielleicht ein Jahrtausend über die Epoche des Volksepos hinausgeschritten und gewachsen war. Etwas anderes wäre es mit dem Kunstepos; dafür konnte der Stil geschaffen werden, und Goethe hätte besser gethan, ihn deutsch zu schaffen, statt mit dem vermeintlichen Hexameter seines Hermann sich von Voss und Klopstock abhängig zu machen und so seinem herrlichen Gedicht die wahre Popularität zu entziehen. Wenn gleichzeitig mit v. Wilamowitz’ absprechendem Urteil über Voss Mich. Bernays in seinem Vor- und Nachwort zum neuen Abdruck des Schlegel-Tieck’schen Shakespeare dem Voss’schen Homer eine so hohe Bedeutung beimisst, dass er sagt, ohne die Übersetzung der Bibel, des Homer und Shakespeare sei unsre Litteratur gar nicht zu denken, so spricht hier ausschliesslich der Litterarhistoriker. v. Wilamowitz kommt als gründlicher philologischer Kenner des Originals zu seinem vernichtenden Urteil über Voss; er empfindet bloss den weitklaffenden Abstand zwischen Original und Übersetzung, die durchgängige Verderbnis des griechischen Urbildes, und hat darin recht; M. Bernays betrachtet nur die Wirkung der Voss’schen Übersetzung auf die deutsche Litteratur und hat so, man darf vielleicht sagen – leider auch recht. Luthers Bibelübersetzung ist nicht unter dem Gesichtspunkt der Übersetzung an sich zu würdigen. In diesem Sprachwerk ist der mächtige Geist Luthers so tief fast jeder Zeile eingeprägt, dass da wirklich das Original völlig umgewandelt ist in den urdeutschen Geist des mehr selbst schaffenden als knechtisch übertragenden Reformators. So ist die Bibel ein deutsches Buch geworden und selbst ein Original, an dem alle Modernisierungen zugunsten der gegenwärtigen Sprache ebensoviele Verschlechterungen sind. So ist jede Sprache und jeder Dialekt, und beide wieder auf jeder Stufe ihrer Entwickelung eine besondere Form des Geistes, der Geist des Volkes selbst, das die Sprache gerade so geschaffen hat und weiterbildet. Und jede Sprache stellt einen besonderen und immer eigenartigen Versuch dar, die Welt der inneren und äusseren Erfahrung zu begreifen und auszusprechen. Ein jeder solcher Versuch ist bedingt durch die Eigenart der Umgebung im weitesten Sinn des Wortes, der [39] natürlichen Anlagen und Neigungen des Volkes und seiner bewussten und mehr noch unbewussten Geschichte. Aus der unendlichen Mannigfaltigkeit der Faktoren erwächst die Mannigfaltigkeit der Sprachen oder des Geistes der einzelnen Völkerschaften. Die menschlich richtige oder menschlich vollkommene Welterkenntnis spricht sich nur in allen Sprachen der Welt zusammen aus; sie sind der Geist des Menschen an sich. Jede einzelne Sprache leidet an ihrer Besonderheit, ihrer besonderen Trübung und Färbung der allgemeinen menschlichen Erfahrung und Erkenntnis. Der Übersetzung aus einer Sprache in die andere, sofern unter Übersetzung treue Wiedergabe des Originals verstanden werden soll, stellen sich eine Reihe von unübersteiglichen Hindernissen entgegen, in um so höherem Grade, je mehr der Schriftsteller die Eigenart seines persönlichen und nationalen Geistes zum Ausdruck zu bringen sucht; mehr also in der Poesie als in der Prosa. Diese unübersteiglichen Hindernisse bestehen nach der lautlichen Seite der Sprache in der
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Incommensurabilität der begleitenden Lautempfindungen und in der Unmöglichkeit, die Wirkungen, die mit dem Laut an sich erzielt werden, in der anderen Sprache treffend nachzuahmen; sie bestehen nach der geistigen Seite in der durchgängigen Inkongruenz der Begriffe, in der völligen Verschiedenheit der Weltanschauung, also der Welt selbst, in der verschiedene Völker und dieselben zu verschiedenen Zeiten leben, und die sie in ihrer Sprache darstellen, und in der Verschiedenheit des Naturells und der Empfindungsweise, die das Volk der Welt innerer und äusserer Erfahrung entgegenbringt und seiner Sprache aufprägt; sie bestehen ferner in der Unmöglichkeit, der spezifischen Formung des Gedankens in den sprachlichen Gebilden des grösseren Satzes nachzukommen, vor allem aber in der Unmöglichkeit der zutreffenden Übertragung der poetischen Kunstform; denn diese ist von der Sprache untrennbar; und sie bestehen endlich in der absoluten Unmöglichkeit, jene harmonische Einheit nachzubilden, zu der alle diese einzelnen Seiten der Sprache im literarischen und insbesondere im poetischen Denkmal zusammenwachsen. Im einzelnen wechselt das Bild dieser Schwierigkeiten und die Art der Hülflosigkeit des Übersetzers fortwährend; im ganzen ist, was er erreicht, immer etwas anderes, als was er erreichen wollte. Das Medium der neuen Sprache, in die er übersetzt, hat eine andere Farbe und eine andere Art der Trübung und zudem noch die Eigentümlichkeit, dass es unregelmässig lichtbrechend wirkt, sodass die Linien des Originals umsomehr verzerrt erscheinen, in je feineren Formen sie verlaufen. Der Übersetzer ist da wie ein ungeschickter Zeichner, der die gröberen Umrisse des Originals, auf die nicht viel ankommt, mit genügender Treue kopiert, also Landschaftliches, Gesamtumriss der Figuren u. dgl. leidlich trifft; wo es aber die Hauptsache gilt, das ausdrucksvolle Menschenantlitz, den Geist und die Seele des Originals wiederzugeben, da versagt seine Kunst, und die Copie wird im besten Fall ein anderes schönes Gesicht mit anderem Seelenausdruck, oder zur Karikatur. Dies letztere um so sicherer, je nationaler und individueller geprägt, je wertvoller und originaler das Original ist. Den Geist eines fremden Volkes und einer andern Zeit, soweit er sich in der Litteratur des Volkes ausspricht, aus der Übersetzung kennen lernen zu wollen heisst etwas Unmögliches unternehmen. Die Ansicht also, man könne z. B. die Literatur des griechischen Volkes aus der Übersetzung geniessen und ihre Bedeutung erfassen, ist bequem und wie alles Bequeme populär und vulgär, aber so falsch wie jemals eine vulgäre Ansicht war und für die höchsten Interessen unserer Geistes- und Gemütsbildung so verderblich wie nur irgend möglich. Diese Ansicht vertreten heisst das Verhältnis von Geist und Sprache und das Wesen der Sprache vollständig verkennen. Eine fremde Sprache erlernen heisst seinen Geist um den Geist des fremden Volkes erweitern, in der Vergleichung beider Sprachen seine Urteilskraft und sein ganzes logisches Vermögen steigern und einen souveränen Standpunkt über der eigenen Sprache gewinnen, einen Standpunkt ausserhalb derselben, von dem aus allein wir unsere Sprache und unsern Geist objectiv sehen und beurteilen lernen. Die Übersetzungen hochstehender [40] fremdsprachiger Werke lesen ohne die Originale zu kennen heisst in der Regel nur schlechte deutsche Werke lesen, und alles andernfalls mögliche Interesse an den Originalwerken selbst abstumpfen.
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Wir schliessen mit noch einigen aphoristischen Bemerkungen über den Betrieb der fremden Sprachen in der Schule und speziell über das Übersetzen daselbst. Es ist zweifellos, dass das mündliche Übersetzen in der Schule unmittelbar aus dem Urtext manchen Schwierigkeiten und Gefahren entgeht, denen die gedruckte Übersetzung unterliegt, und dass die in der Schule erzielte Verdeutschung, wenn sie einigermassen richtig geleitet ist, weit tiefer in den Geist des Schriftstellers einführt, sein Verständnis viel vollkommener vermittelt, als die Lektüre einer gedruckten Übersetzung dies vermöchte. Der wenn auch unvermeidlich ungenügenden Verdeutschung läuft die Erklärung des Lehrers parallel, und ergänzend und korrigierend tritt ununterbrochen neben die Übersetzung das verglichene Original. Das Denken und Vorstellen des Schülers umkreist dabei unwillkürlich das unzureichende deutsche Wort und ergänzt es zum richtigen oder annähernd richtigen Bilde. Es ist somit diese Art des Übersetzens immer ein Mittelding zwischen Übersetzung und Lektüre des Originals und dessen unmittelbarer Erfassung. Ist doch bei vorgerückteren Schülern und rascher Lektüre die Übersetzung oftmals für den Lehrer nur ein Mittel sich zu überzeugen, dass der Schüler das Original verstanden hat. Aber trotzdem erliegt das Übersetzen in der Schule einer andern gleichfalls schlimmen Gefahr. Das Übersetzen wird zum Selbstzweck statt wesentlich Mittel zum Zweck zu bleiben. Das Streben des Lehrers, ein prüfungsfähiges Können bei seinen Schülern zu entwickeln, hat einen Übersetzungsdrill im Gefolge gehabt, der auf der merkwürdigerweise nicht weiter angezweifelten Voraussetzung beruht, eine streng deckende Übersetzung sei nicht nur möglich, sondern müsse sogar vom Schüler geleistet werden. Verlangt dann der Lehrer bei der Wiederholung gar noch die von ihm angegebenen Ausdrücke und Wendungen, dann ist das schlimme Resultat da, das, wie uns scheint, recht weit verbreitet ist, dass der Schüler statt den Urtext verstehen zu lernen, die „Ausdrücke“ und „Wendungen“ sich anlernt, und dass dann eine Gesellschaft impotenter Köpfe von Klasse zu Klasse mitgeschleppt wird, die ihr Lebenlang nur mit solchen Ausdrücken und Wendungen gearbeitet haben. Daraus aber erwächst die weitere und für den Bestand des Gymnasiums schlimmere Gefahr, dass aus dem Gymnasium heraus die Meinung der Gebildeten sich allgemein bemächtigt, eine „gute“ Übersetzung ersetze das Original. So liefert das Gymnasium selbst den Gegnern das Material zu seiner Bekämpfung. Wie allgemein aber auf dem deutschen Gymnasium die Pflege dieses Irrtums war und ist, das beweist allein schon die Thatsache unseres litterarischen Stolzes auf unsere „guten“ Übersetzungen der klassischen Litteraturwerke, und die weitere Thatsache, dass die grosse Menge der sogenannten Gebildeten an das Axiom der äquivalenten Übersetzung thatsächlich glaubt. Von da ist dann allerdings nur noch ein Schritt zu der Forderung, dass die Erlernung der griechischen Sprache im Gymnasium wegfallen könne. Das Übersetzen auf der Schule kann nur zwei Ziele verfolgen, als erstes und Hauptziel das möglichst eindringende Verständnis des Originals und in zweiter Reihe die Förderung im deutschen Ausdruck. Das letztere Ziel steht heute vielleicht zu sehr im Vordergrund. Vieles hat dazu gedrängt. Abgesehen von der leidigen Arbeit so mancher Lehrer nur für ein glattes Prüfungsergebnis ist es vor allem das Streben, den zahlreichen vernünftigen und unvernünftigen Anforderungen ans Gymnasium Rech-
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nung zu tragen, wonach die Muttersprache in das Zentrum des Unterrichts treten soll. Und in der That giebt es kein Mittel, den deutschen Ausdruck gelenker zu machen, ihn zu bereichern, seine Eigenart dem fremden Idiom gegenüber erkennen zu lassen, den Sinn für bestimmte und geschmackvolle Ausdrucksweise zu bilden, als das richtig geleitete [41] Übersetzen. Wer nicht in der Lage ist auf ausgedehnte Erfahrung an Livius und Cicero, an Plato und Sophokles in dieser Hinsicht hinzuweisen, der sollte zu dieser ganzen Frage den Mund nicht aufthun. Aber Ziel und Basis zugleich alles Übersetzens muss das volle Verständnis des Originals sein. Und daran fehlt es. Wir geben für jedes fremde Wort so und so viele „Bedeutungen“ an, wir sagen meist kurzweg: hier hat das Wort diese „Bedeutung“. Den fremden Begriff an sich zu erfassen überlassen wir zu sehr dem Schüler oder der Massenlektüre. Wir arbeiten fast nur auf die Übersetzung zu. Wir sagen kurzweg οὐχ ὅπως heisst „nicht nur nicht“, oder οὐδέν τι μᾶλλον heisst „trotzdem nicht“. Die Folge ist, dass der Schüler in das griechische Wesen solcher Ausdrücke gar nicht eindringt, sondern sie, so oft er sie trifft, nur als eine Art Signal ansieht, dass er hier die und die deutsche Wendung zu gebrauchen habe. So geht es mit einer Menge von Dingen, die alle auf rasches Übersetzen zugespitzt sind. Und wenn jetzt eine Verkürzung des Unterrichts in den klassischen Sprachen eingeführt wird und man dabei immer und immer wieder die unverständige oder gar heuchlerische Wendung gebraucht, durch noch mehr verbesserte Methoden könne man auch so das bisherige Ziel erreichen, so wird aller Wahrscheinlichkeit nach diese Verbesserung nur darin bestehen, unter dem gleichen Axiom der Übersetzbarkeit nur immer den Drill zum raschen Übersetzen weiter zu kultivieren, natürlich auf Kosten des tieferen Verständnisses des Urtextes. Es wird alles beschleunigt werden, und das Anlernen mechanischer Fertigkeiten des Übersetzens und der angegebenen Wendungen wird noch mehr florieren als bisher schon. Was aber den Geist frei macht von den Banden der ererbten Sprache, was das Denken verselbständigt und zur Wissenschaft fähig macht, das ist nicht die Fertigkeit gewandter Übersetzung, auch nicht der sogenannte Geist des Schriftstellers, von dem man um so lieber spricht, je weniger man weiss, was man damit meint, sondern das ist der Geist der fremden Sprache. Fremde Begriffe und Vorstellungen, fremde Auffassung der Dinge und fremde Ordnung und Einteilung derselben, fremde Ausdruckweise, Sprachmittel und Bilder sind der einzige Masstab, an dem man die eigene Sprache nach ihren verschiedenen Seiten und das eigene sprachliche Denken messen und beurteilen kann. Und hierin besteht neben der Ausbildung des grammatischen Verständnisses die wichtigste Seite der sogenannten formalen Bildung. Aus dieser Quelle stammt das überlegene Sprach- und Denkbewusstsein und im Zusammenhang damit die überlegene Denkfähigkeit, die man von dem abgehenden Gymnasiasten erwarten sollte. Um aber dies Ziel zu erreichen, muss dem Schüler möglichst früh schon klar gemacht und dauernd im Bewusstsein erhalten werden, dass eine streng deckende Übersetzung undenkbar ist; er muss frühzeitig erfahren und immer wieder erleben, dass kein Begriff der Fremdsprache sein kongruentes Gegenbild in unserer Sprache hat; die Begriffe der fremden Sprache müssen ihm als solche fassbar gemacht und es dürfen ihm nicht nur die „Bedeutungen“ derselben angelernt werden. Er muss in der fremden Sprache die Dinge sich vorstellen und in ihr denken lernen. Erst wenn ihm so die fremde Sprache
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zum inneren Erlebnis geworden ist, hat er den wahren Gewinn für sein deutsches Denken davon. Wir scheuen uns auch keineswegs, den hier notwendig sich ergebenden Schluss zu ziehen, – so unpopulär dies auch heute ist –, dass der Schüler in dem bescheidenen Kreis seines Wissens frühzeitig in der fremden Sprache sich aussprechen lernen soll; aber unmittelbar, ohne Vorbereitung, weil eben die Sprache in ihm eigenes Leben gewinnen soll. Übertriebene Anforderungen an ciceronianische Stilreinheit haben diese Übungen mit recht diskreditiert. Und die ebensowenig verwerflichen freien schriftlichen Darstellungen in lateinischer Sprache, die sogenannten lateinischen Aufsätze, waren meist dem erbärmlichsten Scholasticismus verfallen und [42] mit ihren nach jeder Richtung für uns wertlosen Schablonen – cogitanti mihi saepenumero – atque primum quidem – quae cum ita sint etc. – zur geisttötenden Plage ausgeartet. In dieser Art der Erkenntnis der Sprache an sich liegt auch grossenteils das Verständnis für den wahren Geist des Schriftstellers. Die Worterklärung im richtigen Sinn, d. h. also nicht die lexikalische, ist in jedem einzelnen Falle ein Stück Kulturgeschichte, und sie wächst sich für ferner liegende Gebiete, z. B. für Homer, allenthalben zu einer Sacherklärung der vollkommensten Art aus, sofern sie angiebt, welche Vorstellungen und Auffassungen der älteste Grieche mit dem einzelnen Wort verband, welcher Weltanschauung die Vorstellung entsprang.5 Auf diese Weise wird der Schüler Schritt für Schritt erfahren, welche unüberbrückbare Schlucht sich zwischen dem Verständnis des Originals und der Übersetzung aufthut; die gedruckten Übersetzungen werden ihren Wert für ihn verlieren und damit der Aberglaube, man könne eine Litteratur wie die griechische aus der Übersetzung kennen lernen; im selben Masse aber wird das Interesse an der fremden Sprache selbst zunehmen. – Was der Schüler von diesen Dingen der allgemeinen Sprachwissenschaft erfahren hat, ist im Unterricht der Logik in Oberprima zusammenzufassen in Erörterungen über das Verhältnis von Sprechen und Denken, damit der Schüler den ihm erreichbaren Abschluss seiner Erkenntnis in dieser wichtigen Frage erhalte. Beim Übersetzen selbst ist möglichst früh von wortgetreuem Übertragen abzugehen und dem Schüler eine verhältnismässig grosse Freiheit zu gestatten, sobald er den fremdsprachlichen Satz versteht. Die Fälle sind selten, wo es nur eine beste Übersetzung giebt. Ist der Schüler auf dem Standpunkt, dass er den fremden Gedanken versteht, dann mag er ihn umdenken, und jede Form, in der ein unabhängiger deutscher Schriftsteller diesen Gedanken ausdrücken könnte, mag ihm erlaubt sein. In dieser Neuschöpfung des Gedankens lernt der Schüler mehr Deutsch und mehr Latein und mehr Denken als im wortgetreuen Übersetzen oder gar im sklavischen Wiederholen. Was aber im allgemeinen im sprachlichen Unterricht festgehalten werden muss, das muss auch nach allen Spezialitäten hin verfolgt werden. Der Schüler darf nicht in dem Wahne bleiben, der deutsche Hexameter sei dasselbe metrische Gebilde wie der griechische oder lateinische. Es muss ihm zum klaren Bewusstsein kommen, dass die _____________ 5
Natürlich wäre es pädagogisch und sachlich unmöglich, diese so ausserordentlich fruchtbaren Wortund Sacherklärungen an den deutschen Text der Übersetzung anzuknüpfen, falls diese statt des Originals in der Schule gelesen würde.
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metrischen Grundlagen etwas dem Volke und der Sprache Eigentümliches und vielfach absolut Unübertragbares sind. Die blossen Bezeichnungen Quantität und Qualität bleiben ihm leere Schalen, umsomehr als die totale Verkennung des heterogenen Wesens dieser metrischen Prinzipien in unserer Litteratur eine so hervorragende Rolle spielt. Es muss ihm auch selbstverständlich werden, dass ein Prinzip wie das Deutsche notwendig zum Charakteristischen hindrängt, oder vielmehr schon der Ausfluss einer einseitigeren Veranlagung nach der Seite des Charakteristischen hin ist, indess das klassische Prinzip in der Formschönheit abschliesst. – Es muss ihm ferner zum klaren Bewusstsein kommen, dass der grundverschiedene Satzbau z. B. der lateinischen und griechischen Sprache so gut ein Stück des griechischen und römischen Volksgeistes ist wie die politischen Ideale und Resultate bei beiden Völkern. – Er muss es als selbstverständlich begreifen, dass eine so nüchterne und sachliche und eigentlich gemütsarme Sprache wie die lateinische ganz natürlich zur Satire als ihrem ureigensten Gut selbständiger Litteraturentwickelung hinführen muss, und dass sie auf andern poetischen Gebieten, wie bei Vergil, durch pathetische Deklamation, durch geschraubten Ausdruck, künstliche Umschreibungen und metonymische Mittel, also mehr durch Mittel der blossen künstlichen Form zu erreichen sucht, was der Grieche durch schlichteste Natürlichkeit bei innerer Wärme und durch Wahrheit des Gefühlsausdrucks erreicht. – Er muss eine Empfindung dafür haben, dass das [43] Nibelungenlied einem Riesenbau gleicht, dessen Mauern aus unbehauenen Blöcken sich zusammensetzen, die ohne Mörtel übereinandergeschichtet sind, und dass ein solcher Bau sich nicht nachahmen lässt in einer Sprache, deren Versatzstücke handlichen und wohlgeglätteten Bausteinen gleichen, die ohne Mörtel kaum verwendet werden können. – Noch müssen wir darauf hinweisen, dass der weitverbreitete Mangel an Verständnis für die Meister des klassischen französischen Dramas seine Quelle gleichfalls darin hat, dass diese Dramen zu viel nur übersetzt statt im Original verstanden und gelesen werden. Auch hier kann das Verständnis nur aus der Originalsprache selbst erwachsen. Wer diese Sachen nicht französisch und unmittelbar zu lesen und zu empfinden lernt, wird sie nie verstehen lernen. Erklärung aus dem Französischen heraus und schönes französisch empfundenes Vorlesen durch den Lehrer erreicht da viel mehr als alles auch hier nur stümpernde Übersetzen. Selbstverständlich konnten im Umfang einer Programmarbeit die ausschlaggebenden Gesichtspunkte unserer Frage nur ganz kurz berührt werden und musste auf Beleuchtung des einzelnen durch Beispiele meist verzichtet werden. Besonders konnten die Hinweise auf die Bedeutung der allgemeinen Ergebnisse für die Schule und den Betrieb des sprachlichen Unterrichts nur nach den allgemeinsten Gesichtspunkten gegeben werden. Eine nähere Ausführung dieser Seite des Themas erforderte für sich allein eine Abhandlung dieses Umfangs, wenn alle Seiten der Sprache, wie wir sie hinsichtlich der Grenzen der Übersetzungskunst beigezogen und betrachtet haben, nun auch hinsichtlich ihrer Bedeutung für den Unterricht und ihrer Verwertung zur Spracherkenntnis auf den verschiedenen Stufen der Schule untersucht werden sollten. Dass auch dies unabweisbar ist und geschehen wird, scheint uns nicht weiter fraglich. Denn auch unser sprachlicher Unterricht muss zweifellos in allen Teilen weit mehr als bisher von dem bewussten Grundgedanken geleitet sein, dass im vollen Sinne des Wortes
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die Sprache eines Volkes sein Geist und sein Geist seine Sprache ist, und dass daher nicht die Fertigkeit des Übersetzens Ziel sein darf, sondern möglichst eindringendes und möglichst umfassendes Verständnis der fremden Sprache selbst.
Georg Lejeune Dirichlet Georg Lejeune Dirichlet (1858–1920), Philologe und Gymnasiallehrer, war nach dem Studium der Klassischen Philologie in Königsberg, Bonn und Leipzig seit 1885 als Oberlehrer, später als Direktor an Königsberger Gymnasien tätig. In seinem 1894 in den Jahrbüchern für Philologie und Pädagogik gedruckten Vortrag über „die kunst des übersetzens in die muttersprache“ greift Lejeune Dirichlet jeweils Einzelaspekte aus älteren und zeitgenössischen übersetzungstheoretischen Abhandlungen (W. v. Humboldt, Goethe, Tycho Mommsen, Wilamowitz, Cauer, Julius Keller) heraus und kommentiert sie vor dem Hintergrund seiner eigenen Lehrerfahrungen. Er verteidigt u. a. die Voss’schen Homer-Übersetzungen gegen die Angriffe von Wilamowitz und spricht sich für eine übersetzerische Modernisierung der Werke antiker Geschichtsschreibung und Rhetorik unter Berücksichtigung der im Deutschen neu ausgebildeten „Terminologie des öffentlichen Lebens“, d. h. der in den Bereichen der Politik, der Wirtschaft und der Jurisprudenz geläufigen idiomatischen Wendungen aus.
die kunst des übersetzens in die muttersprache Aus: Jahrbücher für Philologie und Pädagogik, 2. Abt., hg. v. Richard Richter, 40. Jg. (1894), 507–518.
vortrag, gehalten in der 20n generalversammlung des vereins von lehrern höherer unterrichtsanstalten der provinzen Ost- und Westpreuszen zu Königsberg i. Pr. am 15 mai 1894.
Es ist oft ausgesprochen worden, dasz alles übersetzen in die muttersprache eine gefahr für den eignen gebrauch der muttersprache enthält, dasz insbesondere der sogenannte color latinus oft genug auf den deutschen stil ‚bedenklich abgefärbt‘ hat. ebenso gewis ist es aber, dasz gerade dies übersetzen bei richtiger methode den, der sich darin übt, seine muttersprache besser kennen, ihre eigenart besser verstehen lehrt und ihm daher ein vortreffliches mittel gibt, sich in ihrem schriftlichen und mündlichen gebrauch zu vervollkommnen. je mehr nun durch die preuszischen gymnasiallehrpläne von 1882 und 1891 das übersetzen aus den alten sprachen ins deutsche in den vordergrund getreten ist, um so mehr zweischneidig ist das schwert geworden, und da gerade beim übersetzen aus den alten sprachen naturgemäsz die gefahr, aber auch der nutzen am grösten ist, so wird man diese aufgabe für eine der wichtigsten erklären müssen, die das gymnasium überhaupt zu leisten hat. daneben wird sie auch für eine der schwierigsten gelten müssen, wenn man zugibt, dasz für schulmäsziges übersetzen theoretisch im ganzen und groszen dieselben grundsätze bestimmend sind, wie für das übersetzen überhaupt, soweit man hier von allgemein anerkannten grundsätzen reden kann, und dasz sich
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praktisch der erfüllung dieser aufgabe eine menge von hindernden umständen in den weg stellt, nicht am wenigsten, wie Rothfuchs mit recht bemerkt hat,1 die verhängnisvolle neigung zur massenlectüre. diese seite der frage, die praktisch-didaktische, will ich aus dem kreise meiner ausführungen weglassen; es finden sich darüber in der Rothfuchsschen abhandlung manche trefflichen bemerkungen und winke. auf die andere seite, die theoretische, d. h. die aufgabe, die lediglich von dem leiter des übersetzens zu leisten ist, eingehend, bemerke ich, dasz es mir nicht darum zu thun ist, hier eine vollständige und systematische darstellung dieser aufgabe und ihrer lösung zu geben, wie ich sie mir denke; ich will vielmehr nur in aphoristischer weise einige punkte hervorheben, die mir besonders am herzen liegen, und dabei einiges einflieszen lassen, was mich die praxis gelehrt hat. Tycho Mommsen unterscheidet in seinem buche ‚die kunst des übersetzens fremdsprachlicher dichtungen ins deutsche‘ (s. 10) drei arten poetischer nachbildung: ‚wenn der fremde inhalt zwar ziemlich getreu, aber entweder ohne die form der dichtung, oder doch [508] nicht in einer gleichen oder analogen wiedergegeben ist, so haben wir eine stillose übersetzung. wenn ein deutscher inhalt in fremder, noch nicht eingebürgerter form dargestellt ist, die originaldichtung in fremdem stil. wenn endlich form und inhalt möglichst getreu, und doch schön und verständlich übertragen werden, die strenge oder stilhafte übersetzung.‘ von diesen drei arten der nachbildung kann für das schulmäszige übersetzen natürlich nur die erste in betracht kommen; die zweite kann es deshalb nicht, weil sie sich mit dem begriffe der übersetzung überhaupt nicht deckt; die dritte deshalb nicht, weil die verbindung zweier schon getrennt eigentlich unmöglicher aufgaben, die wiedergabe desselben inhalts und derselben form, in der schule selbstverständlich zur wirklichen unmöglichkeit wird. aber selbst die möglichkeit vorausgesetzt, sprechen doch psychologisch-pädagogische erwägungen gegen ein solches unternehmen. Goethe spricht im elften stück von dichtung und wahrheit von dem eindrucke, den die prosaische Shakespeare-übersetzung Wielands auf ihn und seinen Straszburger kreis gemacht hat, und sagt: ‚ich ehre den rhythmus, wie den reim, wodurch poesie erst zur poesie wird, aber das eigentlich tief und gründlich wirksame, das wahrhaft ausbildende und fördernde ist dasjenige, was vom dichter übrig bleibt, wenn er in prosa übersetzt wird. dann bleibt der reine, vollkommene gehalt, den uns ein blendendes äuszere oft, wenn er fehlt, vorzuspiegeln weisz, wenn er gegenwärtig ist, verdeckt. ich halte daher zum anfang jugendlicher bildung prosaische übersetzungen für vorteilhafter als die poetischen; denn es läszt sich bemerken, dasz knaben, denen ja doch alles zum scherze dienen musz, sich am schall der worte, am fall der silben ergötzen und durch eine art von parodistischem mutwillen den tiefen gehalt des edelsten werkes zerstören. deshalb gebe ich zu bedenken, ob nicht zunächst eine prosaische übersetzung des Homer zu unternehmen wäre.‘ Goethe erinnert dann zu gunsten dieses vorschlages an Luthers bibelübersetzung: ‚denn dasz dieser treffliche mann ein in dem verschiedensten stile verfasztes werk und dessen dichterischen, geschichtlichen, gebietenden, lehrenden ton uns in der muttersprache wie aus einem gusz überlieferte, _____________ 1
vom übersetzen in das deutsche und manchem andern. progr. des ev. gymnasiums zu Gütersloh ostern 1887, s. 5.
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hat die religion mehr gefördert, als wenn er die eigentümlichkeiten des originals im einzelnen hätte nachbilden wollen. vergebens hat man sich nachher mit dem buche Hiob, den psalmen und andern gesängen bemüht, sie uns in ihrer poetischen form genieszbar zu machen. für die menge, auf die gewirkt werden soll, bleibt eine schlichte übertragung immer die beste. jene kritischen übersetzungen, die mit dem original wetteifern, dienen eigentlich nur zur unterhaltung der gelehrten unter einander.‘ was die metrischen übersetzungen alttestamentlicher dichtungen betrifft, so hat vielleicht auch Tycho Mommsen recht, wenn er (a. a. o. s. 17) meint, dasz die abscheulichen laute und masze des semitischen stammes dem deutschen herzen nie zusagen werden, und dasz es wohl ein naturgesetz sein wird, wenn es sich in [509] hinsicht auf sprachliche physik auf seine indogermanischen schwesterherzen beschränken musz. Kann zwar für den schulgebrauch nur die erste der drei genannten arten poetischer nachbildung, und zwar nur die prosaische in frage kommen, so möchte ich doch nicht anstehen, auch der originaldichtung im fremden stil und der strengen oder stilhaften übersetzung an sich die volle berechtigung zuzuerkennen. Ulrich von WilamowitzMöllendorff hat seiner übersetzung von Euripides Hippolyt (Berlin 1891) eine abhandlung über die frage: was ist übersetzen? vorausgehen lassen, in der er in ganz unhistorischer weise gegen eins der köstlichsten erzeugnisse deutscher dichtung wegen seiner fremden form zu felde zieht und auf hohem tribunal mit einseitiger beurteilung über fast alle metrischen deutschen übersetzungen classischer dichterwerke zu gericht sitzt. wenn Wilamowitz meint, dasz übersetzungen der hellenischen poesie nur dann existenzberechtigt sind, wenn sie von philologen gemacht werden, so wird das der regel nach wohl zutreffen, wenn er aber jedem das übersetzen aus einer sprache verbieten möchte, der nicht belegen kann, dasz er in diese sprache stilgerecht zu übersetzen versteht, so legt er damit der übersetzungskunst fesseln an, in denen sie sich kaum noch wird rühren können. seine proben von übertragungen deutscher dichtungen ins griechische zeugen zwar von gewandtheit im gebrauch der griechischen sprache und metrik, aber die übertragungen von ‚über allen gipfeln‘ können beispielsweise auf die bezeichnung ‚übersetzung‘ nicht mehr anspruch machen, als Scheffels anmutige übertragung von ‚vides, ut alta stet nive candidum Soracte‘: schau, wie von hoher schneelast weisz der Wazmann steht, und wie der wald sich seufzend biegt, und wie zu eis die Salzach sich zusammenballt! usw.
sie können vielmehr, wie diese es auch nur beansprucht, als gelungene freie nachdichtung gelten. Die wahre übersetzung, meint Wilamowitz, ist metempsychose, die seele bleibt, aber sie wechselt den leib. aus dieser an sich richtigen forderung will er nun das recht herleiten, über alle stilhaften, d. h. in dem masze des originals geschriebenen übersetzungen classischer dichterwerke den stab zu brechen, vor allem über den altmeister dieser übersetzungsart Voss, ‚den schöpfer der saumnachschleppenden weiber, des helmumflatterten Hektor, des hurtig mit donnergepolter entrollenden marmors‘. er gibt zu, dasz Voss den stil geschaffen hat, mit dem der Deutsche wohl oder übel den
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begriff Homerisch verbindet, setzt aber hinzu, dasz trivialität und bombast seine hauptkennzeichen sind. hören wir nun dagegen, was Goethe sagt: in den noten und abhandlungen zum Divan unterscheidet er in dem capitel ‚übersetzungen‘ dreierlei arten übersetzung. obwohl er nun einräumt, dasz der übersetzer, der sich so fest an sein original anschlieszt, dasz er die übersetzung dem original identisch machen [510] möchte, mehr oder weniger die originalität seiner nation aufgibt, hält er doch diese art des übersetzens an sich für die vollkommenste, wenn sie sich auch den geschmack der menge erst bilden musz. ‚der nie genug zu schätzende Voss, sagt er, konnte das publicum zuerst nicht befriedigen, bis man sich nach und nach in die neue art hineinhörte, hineinbequemte. wer nun aber jetzt übersieht, welche versatilität unter die Deutschen gekommen, welche rhetorische, rhythmische, metrische vorteile dem geistreich talentvollen jüngling zur hand sind, wie nun Ariost und Tasso, Shakespeare und Calderon als eingefleischte fremde uns doppelt und dreifach vorgeführt werden, der darf hoffen, dasz die litteraturgeschichte unumwunden aussprechen werde, wer diesen weg unter mancherlei hindernissen zuerst einschlug.‘2 Wilamowitz freilich wird Goethe als autorität auf diesem gebiete nicht anerkennen, denn ‚wir können diesen stil nicht loswerden, weil Hermann und Dorothea die Vossische Ilias am leben erhält‘ und weil auch Goethe ‚für die irrwege und den falschen ruhm der deutschen übersetzungen stark verantwortlich ist‘. Paul Cauer, der in dieser frage zuletzt das wort ergriffen hat, macht einen schüchternen versuch,3 die anwendung des hexameters in Hermann und Dorothea gegen Wilamowitz zu verteidigen. auch der angriff gegen Voss geht ihm zu weit. ‚die starke wirkung‘, sagt er (s. 114), ‚die von ihm ausgieng, hat gemacht, dasz er veraltete.‘ gewis ist er im einzelnen veraltet, und dasz er verbesserungsbedürftig war, hat die Ehrenthalsche Odyssee gezeigt; sie hat aber auch gezeigt, dasz er verbesserungsfähig ist, und darin liegt die anerkennung seiner existenzberechtigung. ich meine, die bedeutung der Vossischen Homerübersetzung viel höher anschlagen zu müssen, als Wilamowitz. nicht das erscheint mir als die hauptsache, dasz er einen stil geschaffen hat, mit dem wir den begriff Homerisch verbinden, sondern dasz er eben jene versatilität unter die Deutschen gebracht hat, von der Goethe spricht, dasz er nicht nur eine für ihre zeit vollendete stilhafte übersetzung geliefert, sondern auch der originaldichtung im fremden stil ein weites gebiet erschlossen hat, dasz wir ihm nicht nur Goethes epos Hermann und Dorothea, sondern auch jenes herliche ‚also das wäre verbrechen, dasz einst Properz mich begeistert … ‘, dasz wir ihm Schillers Spaziergang zu danken haben. denn vergessen wir doch nicht, dasz aus jener versatilität, die die Deutschen durch Klopstock und Voss erhalten haben, auch der gebrauch des elegischen versmaszes hervorgegangen ist, den Wilamowitz folgerichtig ebenfalls verdammen müste, wogegen er sich freilich verwahrt. schon fünf jahre vor Wilamowitz4 schrieb Tycho _____________ 2
3 4
W. v. Humboldt sagt in der einleitung zu seiner übersetzung des Agamemnon (sämtl. werke I s. 15): ‚es ist nicht zu sagen, wie viel verdienste um die deutsche nation durch die erste gelungene behandlung der antiken silbenmasze Klopstock, wie noch weit mehr Voss gehabt.‘ die kunst des übersetzens (Berlin 1894) s. 70. [Dies bezieht sich auf die zweite Auflage von Mommsens Schrift (Tycho Mommsen, Die Kunst fremdsprachlicher Übersetzungen ins Deutsche, Frankfurt a. M. 1886); die Formulierung findet sich aber bereits in der 19 Jahre zuvor erschienenen Erstauflage (Tycho Mommsen, Die Kunst des deut-
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Mommsen (a. a. o. s. 14): ‚all das, sagt man, sind undeutsche formen, [511] nur der volksliederton oder die einfache gereimte und die Nibelungenstrophe sind uns natürlich. als ob die gelehrten zu bestimmen hätten, was uns natürlich sei! was unser ohr ergötzt und unser herz bewegt, das ist natürlich. und gelingt ersteres nicht ohne einige lehre und anleitung, so erinnere man sich, dasz die orange doppelt so lange zeit braucht, um zu reifen, als der holzapfel, oder dasz jene nicht darum ungenieszbar ist, weil vielleicht einer bei der ersten bekanntschaft in die bittere schale hineinbeiszt. in der that kommt es mir so vor, als wenn der Deutsche sich verbieten wollte, orangen und feigen zu essen, weil sie bei ihm nicht wachsen, und weil sie frisch vom baume besser schmecken, und weil doch eigentlich nur der Gravensteiner mit seinem zarten duft uns wohlschmeckt.‘ es ist ferner auch von Julius Keller richtig hervorgehoben worden,5 dasz der deutsche hexameter durchaus nicht dasselbe metrische gebilde ist, wie der griechische und lateinische, dasz die metrischen grundlagen etwas dem volke und der sprache eigentümliches und vielfach absolut unübertragbares sind. so bleibt auch bei stilhafter übertragung noch immer metempsychose genug. Gestehen wir somit der stilhaften übersetzung antiker dichtungen an sich ihre berechtigung zu, so werden wir, meine ich, auch den Vossischen Homer speciell in seiner bedeutung bestehen lassen können, die er für uns Deutsche bis jetzt gehabt hat. ob der Vossische stil sich mit dem deckt, was man einen idealen deutschen Homerstil nennen könnte, wird sich nie wirklich entscheiden lassen, das wird immer eine frage des geschmackes bleiben. ich musz gestehen, dasz, so viel ich auch Homer gelesen habe, für mich und mit den schülern, ich im Voss im allgemeinen das wiedergefunden habe, was ich mir als Homerischen ton vorstelle, natürlich ohne das fehlerhafte und veraltete im einzelnen zu verkennen. um den ton zu treffen und die schüler ihn treffen zu lehren, hat sich mir die Vossische übersetzung stets als ein wirksames mittel erwiesen, und ich würde glücklich sein, wenn ich für andere schriftsteller, griechische und lateinische, dichter und prosaiker, immer ein ähnliches hilfsmittel zur hand hätte, z. b. für die Aeneis. hier haben wir ja auch die Vossische übersetzung und daneben die Schillerschen übertragungsproben. aber beides hilft wenig oder nichts; und doch sind wir beim übersetzen der Aeneis der hilfe besonders bedürftig. unter allen in den bereich der schullectüre gehörenden classischen schriftwerken habe ich bei keinem die übersetzung schwieriger gefunden, bin ich mir bei keinem der unzulänglichkeit fremder und eigner übersetzung mehr bewust geworden, als bei der Aeneis. der grund mag sein, dasz, wie Julius Keller (a. a. o. s. 42) meint, ‚eine so nüchterne und sachliche, eigentlich gemütsarme sprache, wie die lateinische, ganz natürlich zur satire als ihrem ureigensten gut selbständiger litteraturentwicklung hin-[512]führen musz, und dasz sie auf andern poetischen gebieten, wie bei Vergil (oder, wie ich lieber sagen möchte, im epos), durch pathetische declamation, durch geschraubten ausdruck, künstliche umschreibungen und metonymische mittel, also mehr durch mittel der bloszen künstlichen form zu erreichen sucht, was der Grieche durch schlichteste natürlichkeit bei innerer wärme _____________ 5
schen Uebersetzers, 14. u. 15. Programm der Vorschule und höheren Bürgerschule zu Oldenburg, Oldenburg 1857/58).] die grenzen der übersetzungskunst, progr. des gymn. zu Karlsruhe 1892, s. 42.
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und durch wahrheit des gefühlsausdrucks erreicht‘. deshalb ist auch die Vossische Aeneis nie ein wirklicher teil der deutschen litteratur geworden wie sein Homer. Wenn nun Cauer von dem Vossischen Homer sagt ‚die starke wirkung, die von ihm ausgieng, hat gemacht, dasz er veraltete‘, so möchte ich bestreiten, dasz er mehr veraltet ist als andere übersetzungen aus sehr viel späterer zeit, wenn man nicht den ausdruck veralten in dem sinne fassen will, dasz viele einzelne ausdrücke von der späteren philologischen exegese als unrichtig erwiesen worden sind; das wäre doch mehr ein veralten der erklärung als der übersetzung; denn für diese verfehlten einzelheiten ist es leicht ersatz zu schaffen. ebenso bin ich ganz im gegensatz zu Cauer der ansicht, dasz man in der Lutherschen bibel nur das als veraltet betrachten und ausmerzen darf, was Luther wirklich falsch, d. h. sinnentstellend übersetzt hat. alles andere, also wesentlich das ganze ist doch wohl geblieben. hier trifft auch die theologen der vorwurf. mich hat es wenigstens unangenehm berührt, als ich von einem geistlichen hörte: ‚ehe die berge und die erde und die welt geschaffen worden sind.‘ was in solchem masze bestandteil der deutschen litteratur geworden ist, sollte man doch so viel wie möglich an seiner stelle lassen. Wo wir es dagegen mit wirklich veraltetem zu thun haben, das ist ein groszer teil der übersetzungen griechischer und lateinischer prosaiker. ausnehmen möchte ich allerdings von vorn herein neben manchen andern zwei Herodotübersetzungen, die Langesche und die Steinsche. beide treffen in verschiedener art und von verschiedener auffassung ausgehend, den ton des originals vortrefflich und sind, wie mich dünken will, vor dem veralten geschützt. das liegt eben auch an der eigenart des schriftstellers selbst, der den griechischen lesern des vierten jahrhunderts sicherlich ebenso altertümlich erschien als seine übersetzungen uns heute. ‚Übersetzungen‘, sagt W. von Humboldt,6 ‚sind doch mehr arbeiten, welche den zustand der sprache in einem gegebenen zeitpunkt, wie an einem bleibenden maszstab, prüfen, bestimmen und auf ihn einwirken sollen, und die immer von neuem wiederholt werden müssen, als dauernde werke.‘ demgemäsz stellt Cauer (s. 6) die forderung an den deutschen übersetzer, ‚einen deutschen text herzustellen, der auf heutige leser oder hörer denselben eindruck macht, dieselben gedanken und empfindungen in ihm weckt, die das original bei den zeit- und volksgenossen des autors hervorrief ‘. ich würde [513] dem rückhaltlos beistimmen, wenn Cauer nur volksgenossen gesagt hätte. mit den zeitgenossen steht es meines bedünkens anders. sie haben von jedem litteraturerzeugnis die empfindung, dasz es ihre sprache, geist von ihrem geist ist, was ihnen entgegentritt. versuchten wir nun beispielsweise Homer oder Herodot, Ennius oder Cato so zu übersetzen, wie sie ihren zeitgenossen erschienen sind, so müste naturgemäsz der eindruck des alten und ehrwürdigen, der uns in diesen schriftstellern entgegentritt und sie so wesentlich von allen späteren unterscheidet, verloren gehen. vielmehr müssen wir, wenn wir unsern volksgenossen ein naturgetreues bild geben wollen, einen eindruck hervorzubringen suchen, wie ihn schriftsteller vergangener zeiten auf sie machen, also einen deutschen text herstellen, der auf heutige leser dieselbe wirkung übt, wie jene alten schriftsteller auf die Griechen in der zweiten hälfte des fünften und im vierten _____________ 6
sämtl. werke III s. 21.
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jahrhundert, auf die Römer in den ersten jahrhunderten vor und nach Christi geburt; denn diese zeiten sind litterarisch und politisch den unseren am ehesten vergleichbar, und ihnen gehören auch, vornehmlich bei den Römern, die wesentlichsten und charakteristischen litteraturerzeugnisse an. anders verhält es sich mit den bewusten nachbildnern alter sprache, mit Sallust und Vergil; das archaistische läszt sich nicht wiedergeben, das archaische wohl. der übersetzer wird dann freilich zum archaisten, aber das sind ja, um von Dahn und Freytag gar nicht zu reden, unsere balladendichter, besonders Uhland, oft genug auch. deshalb aber sind eben auch Voss und die vorher genannten übersetzungen des Herodot vor dem veralten geschützt. Dasz sonst gedruckte übersetzungen griechischer und römischer autoren, so vortrefflich sie für ihre zeit gewesen sind, heute vielfach dem bedürfnis nicht mehr entsprechen, empfinden wir besonders lebhaft bei den rednern und historikern, und zwar deshalb, weil diese übersetzungen zum grösten teil zu einer zeit entstanden sind, wo der deutschen sprache etwas fehlte, was die sprache jener schriftsteller besasz und die deutsche sprache heute auch besitzt, was ich die terminologie des öffentlichen lebens nennen möchte. so sehr wir uns selbstverständlich bemühen müssen, alles unedle, allen stil- und sprachwidrigen jargon von unsern übersetzungen fern zu halten, ebenso sehr müssen wir, um die originale verständlich zu machen, die im volke lebendigen ausdrücke des politischen und wirtschaftlichen lebens und des gerichtswesens für die übersetzungen verwerten. denn da wir unzweifelhaft im verständnisse der alten grosze fortschritte gemacht haben, seitdem wir in Deutschland ein öffentliches leben besitzen, so musz sich dies verständnis auch in den übersetzungen der alten äuszern. speciell für das übersetzen in der schule hat die anwendung dieser terminologie des öffentlichen lebens auch den nicht zu unterschätzenden wert, dasz sie den schülern, wenigstens denen der oberen classen, mit zu der erkenntnis verhilft, dasz alles schon einmal dagewesen ist, einer er-[514]kenntnis, die stets einen gewissen reiz hat und zu freudiger mitarbeit beim übersetzungswerk anregt. ich gebe nunmehr einige beispiele, die zeigen sollen, dasz man ausdrücke der alten schriftsteller durch wendungen wiedergeben kann, die der sprache unseres öffentlichen lebens geläufig sind, ohne dasz man dabei ein falsches bild von den durch jene ausdrücke bezeichneten sachen hervorruft. Demosth. I 27 πλείον ἂν οἶμαι ζημιωθῆναι τοὺς γεωργοῦντας ὑμῶν ἢ ὅσ’ εἰς ἅπαντα τὸν πόλεμον δεδαπάνησθε
der schaden für eure heimische landwirtschaft würde gröszer sein als alle kosten, die euch der krieg bisher verursacht hat.
Dem. II 16 ὅσ’ ἂν ποιήσωσιν, διαθέσθαι
ihre productionsartikel umsetzen.
Dem. IV 28 τὰ τῶν χρημάτων
der geldpunkt.
Cicero pro lege Man. 19 haec fides atque haec ratio pecuniarum, quae Romae, quae in foro versatur, implicata est cum illis pecuniis Asiaticis et cohaeret
der credit und der geldmarkt, der hier in Rom die geschäftswelt beherrscht, steht im engsten zusammenhange mit den in Asien angelegten capitalien.
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Dem. II 29 κατὰ συμμορίας εἰσφέρειν
classensteuer zahlen.
ebd. κατὰ συμμορίας πολιτεύεσθαι
classenpolitik treiben.
Dem. III 29 οἱ ταῦτα πολιτευόμενοι
die vertreter dieser politik (politischen richtung).
Cicero in Cat. IV 19 mea vox, quae debet esse in re publica princeps
meine stimme, die in politischen fragen tonangebend sein musz.
Platon Apol. 19 ὅτι δημοσίᾳ οὐ τολμῶ ἀναβαίνων εἰς τὸ πλῆθος τὸ ὑμέτερον ξυμβουλεύειν τῇ πόλει
dasz ich, wo es sich um fragen des öffentlichen lebens handelt, nicht den mut habe, in eurer mitte zu erscheinen und die gesamtheit mit meinem rate zu unterstützen.
Cic. in Cat. II 6 Catilinae similes cum Catilina sentire
dasz leute vom schlage des Catilina auch seine politischen freunde sind.
Platon Apol. 19 ἰδιωτεύειν ἀλλὰ μὴ δημοσιεύειν
politisch nicht hervortreten.
Dem. III 26 σφόδρ’ ἐν τῷ τῆς πολιτείας ἤθει μένειν
strenge am geiste der verfassung festhalten.
Platon Apol. III Σωκράτης ἀδικεῖ καὶ περιεργάζεται
Sokrates handelt strafbar und treibt groben unfug.
Dann einige proben aus der debatte zwischen Cato und dem volkstribunen Valerius über die aufhebung der lex Oppia (Livius XXXIV 1–7), wo man so vieles von dem wiederfindet, was die freunde und gegner der frauenbewegung heute für und gegen diese zu sagen pflegen. [515] ego nullo modo abrogandam legem Oppiam censeo
ich kann unter keinen umständen für die aufhebung der lex Oppia stimmen.
ego tacitus suffragia vestra exspectavissem
ich hätte, ohne das wort zu ergreifen, das ergebnis der abstimmung abgewartet.
M. Catonem oratorem non solum gravem sed interdum etiam trucem esse scimus, cum ingenio sit mitis.
wir wissen, dasz Marcus Cato nicht nur wirkungsvoll, sondern zuweilen auch verletzend sprechen kann, bei aller seiner herzensgüte.
legem usus coarguit
die anwendung (praxis) hat das gesetz als schädlich erwiesen.
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omnes ordines mutationem in meliorem statum rei publicae sentient
alle stände werden die besserung unserer politischen verhältnisse verspüren.
patiendum huic infirmitati est, quodcunque vos censueritis
das schwache geschlecht musz sich alles gefallen lassen, was ihr beschlieszen wollt.
Eine stelle, die in ähnlicher weise zur vergleichung mit modernen zuständen und den für diese zustände gebrauchten ausdrücken herausfordert, ist der excurs in Ciceros rede pro Sestio (96 ff.), in dem der redner den begriff optimates definiert. diese definition zeigt in form und inhalt so viel übereinstimmendes mit einer definition von ‚conservativ‘, die graf Caprivi am 17 februar 1893 im deutschen reichstage gab, dasz man fast glauben könnte, der reichscanzler habe die Cicerostelle vor augen gehabt. auch aus dieser stelle gebe ich einige übersetzungsproben. als grundlagen einer ehrenhaften aufrechterhaltung der staatlichen ordnung (otiosae dignitatis fundamenta) führt Cicero unter anderem folgendes an: religiones (die staatsreligion), potestates magistratuum (die machtstellung der staatsbehörden), senatus auctoritas (die maszgebende stellung des senates), iudicia, iurisdictio (die handhabung des criminal- und civilrechts), imperii laus (die achtung der regierung [oder des reiches]), res militaris (die kriegsbereitschaft), aerarium (die staatsfinanzen), wie man sieht, lauter ausdrücke, die sich bei ungezwungener übertragung mit den landläufigen bezeichnungen der betreffenden modernen begriffe vollkommen decken. In engem zusammenhange mit der forderung, dasz der übersetzer antiker prosaiker sich die terminologie des öffentlichen lebens zu eigen mache, steht eine zweite, dasz er sich freihalte von der phraseologie des papiernen stils, also die ausdrucksweise der lebendigen, wirklich gesprochenen sprache zur anwendung bringe, und dasz er ferner ohne pedantisch-sklavische nachahmung des originals den verschiedenheiten der alten und der eignen sprache rechnung trage. Wilhelm von Humboldt hat einmal [516] gesagt:7 ‚alles übersetzen scheint mir schlechterdings ein versuch zur lösung einer unmöglichen aufgabe, denn jeder übersetzer musz immer an der einen der beiden klippen scheitern, sich entweder auf kosten des geschmacks und der sprache seiner nation zu genau an sein original, oder auf kosten des originals zu sehr an die eigentümlichkeit seiner nation zu halten.‘ bei diesem widerstreit der interessen sind wir es meiner ansicht nach dem deutschen geschmack und der deutschen sprache schuldig, ihr interesse mit aller entschiedenheit gegen das der fremden sprache zu vertreten, zumal sich oft durch ganz geringfügige änderungen ein ungezwungener deutscher ausdruck herstellen läszt. ich will auch dies durch einige beispiele zu belegen suchen, die sämtlich dem Demosthenes entnommen sind: I 14
φιλοπραγμοσύνη
thatendrang.
I 19
μὰ Δί’ οὐκ ἔγωγε
gott bewahre, fällt mir gar nicht ein.
_____________ 7
brief an Schlegel, abgedruckt bei Michael Bernays vor- und nachwort zum neuen abdruck der Schlegel-Tieckschen Shakespeare-übersetzung (preusz. jahrb. bd. 68 [1891] s. 560).
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I 28
καλῶς ποιοῦντες
III 18
ἀγαθῇ τύχῃ
II 3
οὐχὶ κακῶς ἔχει
ist nicht angebracht (angemessen).
οὐχὶ καλῶς πέπρακται
ist gerade keine ruhmesthat.
IV 38
ὡς οὐκ ἔδει
leider.
III 3
τὸ μὴ βούλεσθαι
mangel an willen.
τὸ μὴ συνιέναι
mangel an einsicht.
}in gottes namen.
Vor allem müssen wir uns vor der pedanterie gewisser älterer übersetzungen, sonst in ihrer art vortrefflicher, hüten, die für gewisse fremdsprachliche ausdrücke immer wieder dieselbe stereotype übertragung anwenden. die übersetzungen von ferox und ferocia, atrox und atrocitas sind oft besonders unglücklich. Vor solcher und ähnlicher pedanterie sollte uns schon die erwägung bewahren, dasz sich der ausdruck der einen sprache mit dem einer andern in inhalt und umfang niemals völlig deckt, namentlich nicht der ausdruck abstracter begriffe. hier lassen uns alle theoretischen lexikalischen und synonymischen unterscheidungen oft genug im stiche. ich habe mir einmal aus den ersten 20 capiteln von Sallusts Catilina eine zusammenstellung der ausdrücke animus und ingenium gemacht, die in mehrfacher beziehung lehrreich ist. das wort animus kommt dort 20 mal, das wort ingenium 9 mal vor. diese zusammenstellung und vergleichung lehrt erstens, dasz jedes dieser beiden worte, für sich betrachtet, oft nur durch wenige zeilen von einander getrennt, eine ganz verschiedene deutsche übersetzung verlangt, z. b. 20, 6 in dies magis animus accenditur (wächst meine begeisterung), 20, 16 neque animus neque corpus a vobis aberit (mit meinen gedanken und mit meiner person werde ich stets bei euch weilen), 20, 17 nisi forte me animus fallit (wenn mich die stimme [517] meines inneren nicht trügt). zweitens lehrt die zusammenstellung, dasz die bedeutung der wörter animus und ingenium so in einander übergeht, dasz alle synonymischen unterschiede verwischt, für uns wenigstens nicht erkennbar sind, das zeigt sich besonders bei der gegenüberstellung von animus oder ingenium und corpus, z. b. 1, 2 animi imperio, corporis servitio magis utimur, und gleich darauf, 1, 3 ingenii quam virium opibus gloriam quaerere, dann wieder 1, 5 vine corporis an virtute animi, 2, 1 pars ingenium, pars corpus exercebant und 2, 8 quibus corpus voluptati, animus oneri fuit. und das bei demselben Sallust, der in einem historienfragment (orat. Cottae ad pop. 9), wenn die handschriftliche überlieferung richtig ist, durch die verbindung ingenio corporis zeigt, dasz er ingenium auch von der körperbeschaffenheit des menschen braucht. diese zusammenstellung bestätigt auch, dasz die oft erhobene forderung, animus und corpus, als blosze umschreibung für die person, im deutschen wegzulassen, nur in vereinzelten fällen berechtigt ist, namentlich dann nicht, wenn animus noch eine nähere bestimmung bei sich hat, z. b. 11, 5 feroces militum animos, die rauhen kriegerseelen. Pedantisch also ist, wie wir gesehen haben, die forderung, ein wort, das sich auf engem raume mehrmals wiederholt findet, mit dem gleichen deutschen ausdrucke
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wiederzugeben. um noch ein schlagendes beispiel anzuführen, so zeigt uns wieder das wort animus, dasz das gegenteil richtig sein kann. bei Livius lesen wir (XXII 5) in der darstellung der schlacht am Trasimenischen see: animus suus cuique ante aut post pugnandi ordinem dabat; tantusque fuit ardor animorum, adeo intentus pugnae animus usw. (der eigne mut gab einem jeden seinen platz vorn oder hinten in der schlacht, und so grosz war die hitze der gemüther, so nur auf den kampf gerichtet die aufmerksamkeit usw.). Als pedanterie, die oft zu sprachwidrigen übersetzungen führt, möchte ich auch das vergebliche bemühen ansehen, die griechischen partikeln im deutschen durch worte zum ausdruck zu bringen. das wird nur in den seltensten fällen gelingen, z. b. Homer Il. XVII 142 μάχης ἄρα πολλὸν ἐδεύεο (so bleibst du im kampfe wahrhaftig weit hinten), oder Demosthenes II 13 καὶ δὴ περαίνειν (auch wirklich ausführen). darin hat Moritz Haupt, der feind des übersetzens, ganz recht, wenn er, wie Wilamowitz erzählt, zu den worten des zürnenden Achilleus über Briseis ἐπεί γ’ ἀφέλεσθέ με δόντες die bemerkung machte: ‚das übersetze mal einer, das particip und das γε. keine sprache kann das.‘ Alle diese erwägungen sind dazu angethan, zu bestätigen, dasz die natur der übersetzungskunst enge grenzen gezogen hat, und dasz es thorheit wäre, die grenzpfähle nach irgend einer richtung weiter vorschieben zu wollen. aber auch innerhalb dieser grenzen ist doch für frisches leben und freie bewegung noch immer raum genug; und so will ich zum schlusse Moritz Haupts vielcitiertem ausspruche: [518] ‚das übersetzen ist der tod des verständnisses‘ ein wort von Goethe entgegenhalten: Jüngst pflückt’ ich einen wiesenstrausz, trug ihn gedankenvoll nach haus; da hatten von der warmen hand die kronen sich alle zur erde gewandt. ich setzte sie in frisches glas, und welch ein wunder war mir das! die köpfchen hoben sich empor, die blätterstengel im grünen flor, und allzusammen so gesund, als stünden sie noch auf muttergrund. so war mir’s, als ich wundersam mein lied in fremder sprache vernahm.
Königsberg i. Pr.
G. Lejeune Dirichlet.
Rudolf Hunziker Rudolf Hunziker (1870–1946), Philologe und Gymnasiallehrer, hatte in Zürich Klassische Philologie und Vergleichende Sprachwissenschaft studiert und war nach der Promotion (1894) als Lehrer am Gymnasium Winterthur tätig. Hunziker, der leidenschaftlicher Sammler von Briefen und Briefwechseln, Lebenszeugnissen und Handschriften war, gab seit 1911 gemeinsam mit dem Berner Bibliothekar Hans Bloesch die Sämtlichen Werke Jeremias Gotthelfs in 24 Bänden heraus. Hunzikers Reflexionen zum Übersetzen fremdsprachlicher, insbesondere antiker Dichtung sind als Anhang zu der 1898 gemeinsam mit Emil Ermatinger, später Ordinarius für Germanistik in Zürich, herausgegebenen Übersetzungsanthologie Antike Lyrik in modernem Gewande erschienen. Das hier vertretene Konzept einer von ihm „poetisch“ genannten Übersetzung orientiert sich an den Interessen eines Leserkreises, dem für eine Lektüre der antiken Originaltexte die Voraussetzungen fehlen. Alle sprachlichen, formalen und inhaltlichen Elemente, die dem Zielpublikum fremd oder unverständlich erscheinen könnten, sollen entweder eliminiert, durch deutsche Äquivalente ersetzt oder durch kommentierende Textergänzungen verdeutlicht werden. Der Inhalt des Originals wird dabei, nach Hunzikers Vorstellung, aus seiner ursprünglichen sprachlichen und metrischen Form herausgelöst und in ein neues, deutsches Sprach- und Formen-„Gewand“ gekleidet. Auf diese Weise soll die Übersetzung beim Publikum den Eindruck einer deutschen Originaldichtung erwecken. Titel wie „Horaz in modernem Gewande“ u. ä. finden sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts mehrfach und bilden gewissermaßen den programmatischen Gegensatz zu dem in der ersten Jahrhunderthälfte favorisierten Zusatz „im Versmaß der Urschrift“. Interesse verdient Hunzikers Abhandlung auch wegen des beigefügten ausführlichen Anmerkungsteils, der die wohl ausführlichste Dokumentation zur Beschäftigung mit der Theorie der Übersetzung antiker Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts darstellt.
Die Kunst des Übersetzens fremdsprachlicher Dichtungen Aus: Antike Lyrik in modernem Gewande. Von Emil Ermatinger und Rudolf Hunziker. Mit einem Anhang: Die Kunst des Übersetzens fremdsprachlicher Dichtungen, Frauenfeld 1898, 55–81.
Wenn in unseren Tagen ein Dichter, der ein schöpferisch poetisches Talent und eine feine ästhetische Empfindungsgabe sein eigen hieße, der mit dem dramatischen Genie eines Shakespeare begabt wäre, nach dem erhabenen Vorbild des großen Briten eine Tragödie schriebe, so gewaltig wie Richard III. oder Macbeth, er würde bewundert, aber der Stern seines Ruhmes möchte bald erlöschen. Nicht die poetische Gestaltungskraft, nicht die grandiose Erfindung stempelt den Dichter zum Führer einer Nation; seines Herzens Schlag muß zugleich der Herzschlag seiner Zeit, seines Volkes, seines
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Landes sein. Sein Jahrhundert ist das Erdreich, in dem er wurzelt. Fremdländische Pflanzen ergötzen wohl unser Auge, aber sie gedeihen nicht bei uns; jede wahrhaft große Dichtung ist unnachahmbar, weil wir den Erdgeruch nicht nachahmen können, der sie würzt, und der uns ahnen läßt, daß ein ganzes Volk an dem Werke des einzelnen Menschen mitgearbeitet hat. Und diesen Erdgeruch können wir nicht näher bestimmen; er entzieht sich jeder genauen Definition, aber er steckt tief verborgen in dem Hauch [56] der überzeugenden Wahrheit, der das Kunstwerk durchweht, einer Wahrheit, der wir uns willenlos hingeben. Antike Lyrik in modernem Gewande! Dem Übersetzer ist ein dienendes Los gefallen. Ein Maler, der vor der Aufgabe steht, das verblichene Bild eines großen Meisters frisch zu beleben, hat die Intentionen, die ihn leiten sollten, genau vorgezeichnet. Nicht so der Übersetzer. Er muß die alte Form zerschlagen, um eine neue herzustellen, und der Wege, die zum Ziele führen, sind unendlich viele. Der Zweck, den er mit seiner Arbeit verbindet, ist offenbar der, auch anderen, Nichtkennern, den hohen künstlerischen Genuß zu verschaffen, den die Originaldichtungen ihm selbst bereiteten. Es ist daher vor allem seine Pflicht, daran zu denken, daß er ein Kunstwerk vor sich habe, und daß er ein Kunstwerk schaffen will. Denn das Übersetzen ist kein Handwerk,1 das jeder beliebige ausüben kann, und die große Mehrzahl der Übersetzungen antiker Dichter, die wir besitzen, zeigt, daß die klassisch-philologische Bildung an und für sich den Menschen noch nicht künstlerisch empfindend macht. „Alle Poesie, die ein Volk unbefangen genießen, an der es sich entzücken und erheben soll, muß ihm in seiner eigenen Sprache mächtig entgegenströmen.“2 Der moderne Leser soll durch nichts Fremdartiges in seiner Begeisterung gestört werden, trotzdem eine [58] neue Welt sich seinem geistigen Auge öffnet. Die Unmöglichkeit, dieser Forderung absolut gerecht zu werden, hat man allerdings zu allen Zeiten eingesehen, und wie viele haben schon darüber geklagt, daß das Zarteste, Duftigste und Eigenartigste jedem Dichtwerk in der Übersetzung geraubt sei; wenn wir aber die Aufgabe in rein künstlerischem Sinn auffassen, wenn uns nur darum zu thun ist, Poesie durch Poesie wiederzugeben, dann läßt sich manche Klippe meiden.3 Goethes Einteilung in drei Übersetzungsarten, in die schlicht prosaische, die parodistische und die identische, ist ebensowenig wie ähnliche geistreiche Scheidungen geeignet, die Übersetzungskunst selbst auf die richtigen Bahnen zu leiten. Mögen sie auch historisch einige Berechtigung haben, so treffen sie den Kern der Sache nur scheinbar und gelangen in mancher Beziehung, so z. B. in der Frage über das Metrum, zu falschen Resultaten.4 Inhalt und Form, beides in gleicher Weise Ausflüsse des Zeit- und Volkscharakters, sind in jedem Kunstwerk zu unlöslicher Harmonie verflochten. Beim Inhalt beginnend, der in letzter Instanz allein darüber entscheidet, ob eine Dichtung auch in fremdem Gewand unvergänglich wirkt, wollen wir kurz zu zeigen versuchen, wie wir uns die Verpflanzung poetischer Werke am erfolgreichsten denken. Wilamowitz5 sagt: „Es gilt den Buchstaben verachten und dem Geist [58] folgen, nicht Wörter noch Sätze übersetzen, sondern Gedanken und Gefühle aufnehmen und wiedergeben. Das Kleid muß neu werden, sein Inhalt bleiben. Es bleibt die Seele, aber sie wechselt den Leib; die wahre Übersetzung ist Metempsychose.“ Gewiß; wenn der poetisch gewaltige Inhalt
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rein und elementar auf unsere Zeitgenossen wirken soll, wenn sie das Gefühl erhalten sollen, ein Originaldichtwerk und keine Übertragung vor sich zu haben, dann muß der Übersetzer die poetischen Gedanken, den poetischen Inhalt der alten Dichtungen im Geist der Gegenwart neu empfinden. So allein wird Poesie poetisch übersetzt, so allein läßt sich die poetische Treue wahren. Die Alten besitzen viele Bilder, viele Wendungen, viele Anschauungen, die wir nicht mehr oder nur noch zum Teil als poetisch anerkennen,6 und die Kunst des Übersetzers, der nach poetischer Treue strebt, besteht darin, moderne Aequivalente zu finden. Wer hier etwas tiefer blickt, wird bald zur Überzeugung gelangen, daß sich überhaupt nicht allzuviele Dichtungen der antiken Lyrik in wirkliche deutsche Poesie übertragen lassen; denn oft ist die ewige Idee in der Zeitanschauung oder in der äußeren Hülle gleichsam erstickt. Wilamowitz ist der Ansicht, daß auch die alten Griechen jene unsere Lyrik kennzeichnende Gabe, sich ganz in die Natur zu versenken, und aus ihrem mitfühlenden Walten die Schwingungen der menschlichen [59] Seele herauszulesen, in vollem Maße besessen hätten, – eine Gabe, die Goethe im Prolog zum Faust in unsterblicher Weise charakterisierte. Zum Beweise für seine Ansicht übersetzt Wilamowitz Goethes „Über allen Wipfeln ist Ruh“ ins Griechische.7 Aber das Gedicht ist ein anderes geworden. Goethe macht die Natur zu seiner Vertrauten, die mit ihm sich sehnt und mit ihm leidet; kühler, aber plastischer, steht sie dem Griechen gegenüber, und was bei uns zum inneren Erlebnis wird, das bleibt beim Hellenen oft auf der Stufe des anschaulich durchgeführten Gleichnisses stehen. Der Grieche hat sich selbst unbewußt diese Schranke gezogen, da er die ganze Natur mit göttlichen Wesen bevölkerte, die er anbetet, vor denen er sich fürchtet. Seine Personifikationen sind daher sehr häufig nur auf mythologische und nicht auf poetische Gründe zurückzuführen. Selten wird der Bann ganz gebrochen, selten zieht der Hellene trotz seiner innigen Naturbeseelungen die letzte Konsequenz, selten vernimmt er seinen eigenen Pulsschlag in der Natur, und einige der etwas romantisch angehauchten Dichter Roms, die sich die alexandrinische Poesie zum Muster nahmen, sind in dieser Beziehung über die klassische Poesie der Hellenen hinausgeschritten und stehen dem modernen Empfindungsleben bedeutend näher.8 Wie Wilamowitz in der erwähnten Übertragung moderne Empfindungen antik darzustellen versucht, [60] so darf und soll ein Übersetzer den antiken Inhalt mit modern-lyrischen Empfindungen durchsetzen, denn nur so wirkt derselbe wieder in voller Lebenskraft, nur so ist uns ein Ersatz geboten für das Viele, was verloren gehen muß. Andernfalls bemühen wir uns umsonst, die Begeisterung des Übersetzers zu teilen, wir fühlen uns betrogen. Ich führe zwei Beispiele an. Die reizende Lamia-Ode des Horaz (I, 26) vermag uns nicht so recht zu erwärmen. Setzen wir aber an die Stelle des schönen jungen Freundes ein munteres Liebchen, dann scheint die Poesie des Liedes auch im Deutschen voll gewahrt zu sein (vgl. unsere Übertragung des Gedichtes S. 30). Ebenso haben wir in der „Frühlingsmahnung“ des Horaz (carm. I, 4; S. 26 f.) den schönen Lycidas mit einer Lydia vertauscht. Doch jetzt sind wir an der Grenze des Erlaubten angelangt. Die antiken Anschauungen dürfen wohl aufgefrischt, nicht aber weggewischt werden. Der Übersetzer soll die eigene Weisheit nicht zu stark in den Vordergrund drängen; ist er ein Dichter, so darf er wohl selbstschöpferisch nachempfinden, aber seine ureigenen Ideen müssen schweigen. Jede Übertragung wird als Kunst-
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werk unverkennbar die ausgeprägte Individualität ihres Schöpfers tragen, aber den Kenner soll sie gebieterisch an das Original erinnern.9 So schwer es für den Philologen ist, sich von unten her der Kunstgrenze zu nähern, ebenso schwer muß es für den [61] Dichter sein, sich von oben her den Intentionen seines Originals anzupassen; denn wir wollen nicht wissen, was er selbst zu leisten im stande ist, sondern wie er einem andern das Wort zu erteilen vermag. Hermann Stegemann hat „die schönsten Lieder des Horatius zu Nutz und Frommen der Poesie der Antike entrückt.“ Wenn wir sie lesen, vernehmen wir wohl die Stimme Stegemanns, wir bewundern seine Gewandtheit und sein poetisches Talent, aber an Horaz denkt selbst der Kenner nicht mehr im entferntesten. Der alte Tempel ist völlig niedergebrannt, und an seiner Stelle ist ein neuer errichtet worden. Kein Stein ist beiden gemeinsam, andere Götter sind eingezogen. Doch Stegemann sucht uns zu trösten: „Ich habe den Geist des Altertums vertrieben um des Geistes der Poesie willen, denn auch ich bin ein Dichter.“10 Als Originaldichtungen verdienen in der That diese hübschen Lieder alles Lob, aber Horaz hat es nicht nötig, so sehr aus seiner Sphäre herausgerissen zu werden, sein Genius durchstrahlt die Zeiten hell genug. Wie der dramatische Dichter den Charakter seiner Personen auch in der Sprache so viel als möglich – doch ohne die Grenzen, die ihm von der Ästhetik gesteckt sind, zu überschreiten – zu wahren sucht, aber stets über ihnen steht und sie mit seinem Geist durchtränkt, so wird sich der Übersetzer, der von [62] seinem Original durchdrungen und gesättigt ist, verhalten. – Wenn W. von Humboldt11 sagt: „So lange nicht die Fremdheit, sondern das Fremde gefühlt wird, hat die Übersetzung ihre höchsten Zwecke erreicht“, so ist dies nur bedingt zutreffend. Auch „das Fremde“ soll möglichst heimisch gemacht werden, der Dichter soll sich bei uns einbürgern, ganz der unsrige werden. So ist Shakespeare ein Deutscher geworden, so sind das zweite und vierte Buch der Aeneis in unsere Litteratur übergegangen. Wir finden es aber durchaus unrichtig, wenn man wie Stegemann die antike Mythologie ganz verbannt und durch moderne Anschauungen ersetzt; die Kunst des Übersetzers besteht vielmehr darin, dies uns an sich fremde Element uns in einer klaren und zugleich schönen Form zu bieten. Denn die Übersetzung soll ohne Kommentar gelesen und verstanden werden können. Abgesehen davon, daß Eigennamen und geographische Bezeichnungen selbstredend bisweilen einer kurzen erläuternden Notiz bedürfen, ist es unseres Erachtens besser, eine im Original knappe oder dunkle Anspielung etwas breiter auszuführen, einen erklärenden Vers hinzuzufügen, als den Leser zu zwingen, aus gelehrten Anmerkungen Weisheit zu schöpfen, die, wie der historische Hintergrund in einem Roman von Ebers, dem Ganzen nur lose angehängt sind und den Genuß stören. Einzig auf diese Weise kann der [63] Eindruck des Fremdartigen auf ein Minimum gebracht und die Begeisterung des Lesers erhalten werden, ohne daß man dem Original allzu nahe tritt.12 Wir müssen daher den Ausspruch Humboldts: „Eine Übersetzung kann und soll kein Kommentar sein“ durchaus zurückweisen und begreifen sehr gut, daß Wilamowitz betont, es sei fast unvermeidlich, daß die Übertragungen meist länger werden als das Original.13 Es ist schon als höchstes Ideal vom Übersetzer verlangt worden,14 daß er die spezifische Eigenart des alten Dichters wahre, und diese Forderung berührt einen sehr
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wichtigen Punkt. Selbstverständlich übertragen wir einen Satiriker durchaus anders als einen Tragiker, und Homer muß einfacher werden als Vergil; aber es gibt noch feinere, wir möchten sagen persönlich-stilistische Unterschiede, die in Frage kommen. Schon eine Prosaübersetzung stößt in dieser Hinsicht auf zum Teil unüberwindliche Schwierigkeiten, man denke z. B. an die Unmöglichkeit, Wortspiele, Witze u. dgl. in einer fremden Sprache nachzubilden. Alle feineren, individuellen Nuancen sind, besonders in der Poesie, so unlöslich mit der Sprache des Autors verknüpft, daß wir es wie eine Art unnötiger und erfolgloser Spielerei empfinden, wenn in einer poetischen deutschen Wiedergabe ähnliches versucht wird. Zudem scheint uns, daß wir bei einem Autor manche Schrullen und Sonderbarkeiten schön, originell und [64] charakteristisch finden, die wir bei einem Übersetzer belächeln und auf ein künstlerisches Unvermögen zurückführen.15 – Die poetische Diktion des Übersetzers muß weit eher ein tadellos schönes oder wenigstens ein konsequentes Gepräge aufweisen als der Stil des Originals, dessen charakteristisch-eigenartiger Grundton allerdings nicht allzusehr verschwinden darf. Es ist für den Übersetzer nichts Leichtes, am richtigen Ort auszulassen oder hinzuzufügen. Eine schon oft behandelte Frage betrifft das Metrum der Übertragungen, und der Streit um den Hexameter ist nicht von heute. Ein allgemein gültiges Versmaß gibt es nicht, und wer den Hexameter als das epische Versmaß schlechthin bezeichnet, gleicht dem Erfinder des Volapük. Hat man die Sprache eines Dichtwerkes einmal aufgegeben, dann erfordert die natürliche Konsequenz, daß dasselbe auch seine metrische Tracht wechsle. Damit sind wir aber über die S. 571 erwähnte „identische“ Übersetzung, die Goethe als höchste Stufe in der Übertragungskunst hinstellt, da sie zum Versmaß des Originals zurückkehre, hinausgelangt; die Vollendung muß höher gesucht werden. Bleiben wir zunächst beim Hexameter. Er ist so gut wie die Sprache selbst ein Kind des griechischen Volkes, nur dieses kann ihn voll verstehen; unbewußt klingt ihm beim Anhören desselben die Musik, die [65] das Metrum zu bilden geholfen hat, mit. Dem Hellenen ist der Hexameter sowohl der episch erzählende Vers als auch das Gold, in das er die Perlen seiner Lyrik einzufassen vermag. Jeder noch so glühende Verehrer des Hexameter wird jedoch zugeben müssen, daß wir uns in unserer Lyrik dieser Einfassung nicht bedienen können. Ein lyrisches Gedicht in Hexametern ist für uns ein Oxymoron, ein presto gespieltes Adagio. – Aber auch die in Hexametern abgefaßte Übertragung Homers krankt an einem inneren Zwiespalt. Die Gedanken sind die unsrigen geworden, die Form ist die fremde geblieben.16 Wilamowitz hat (a. a. O.) den genialen Versuch gewagt, einen kleinen Abschnitt der Ilias (III, 203–224) in die Nibelungenstrophe zu übertragen. Er zeigt, was für einen Eindruck Homer auf uns machen würde, wenn er ein mittelhochdeutscher Dichter wäre. Aber die Gegenwart harrt noch einer ihr angehörenden Ilias und Odyssee, und wir sind der festen Überzeugung, daß für einen deutschen Homer ein deutsches Versmaß, vielleicht der fünffüßige Iambus, zu wählen ist.17 Es ist sonderbar, daß es so schwer fällt, den Hexameter aufzugeben, wenn man einmal zur Überzeugung gekommen ist, er sei in der deutschen Sprache ein ganz anderes _____________ 1
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Gebilde als in der griechischen und lateinischen. So sagt der treffliche Gelehrte W. Hertzberg,18 daß man eher von der Worttreue etwas opfern, [66] als das Wesen der poetischen Stimmung verfälschen dürfe, die im Metrum ihren Ausdruck finde. Für die Gegenwart ist dies schon deswegen keineswegs zutreffend, da der deutsche Hexameter als solcher nicht eine bestimmte poetische Stimmung in uns zu erwecken vermag. Und welcher Originaldichter schreibt heutzutage noch in Hexametern? Daß man zur Zeit unserer Klassiker, als die wiedererwachende Antike aller Augen blendete, sich mit Begeisterung dieses Metrums bemächtigte, war begreiflich und in jeder Beziehung fruchtbringend. Da man aber damals nicht mit vollem Bewußtsein die Form vom Inhalt zu trennen vermochte, ist es historisch und psychologisch sehr wohl begründet, daß Bürger seine iambische Homerübersetzung später in eine hexametrische umwandelte, und Hertzberg will mit Unrecht aus dieser Thatsache Beweise für seine soeben von uns angeführte Ansicht schöpfen. Wir sind aber weit davon entfernt, aus dem unvergänglichen Lorbeerkranz des alten Voß auch nur ein Blatt herauszureißen oder gar Goethes Hermann und Dorothea schmähen zu wollen. Die Anwendung des Hexameter hat die Leichtigkeit und Versabilität deutscher Verse sehr erhöht, derselbe hat mitgeholfen, die deutsche Poesie zur höchsten Blüte emporzubringen; allein was Mittel zum Zweck ist, wird darum noch nicht zum Zweck selbst, und daß man zu allen Zeiten, [67] und heute mehr als je, den Hexameter als etwas Fremdes, der deutschen Sprache nur Angelerntes empfunden hat, beweist schon der Umstand, daß seit Goethes Tagen keine kleinere oder größere Schöpfung ersten Ranges mehr dieses Versmaß aufweist. – Man braucht nicht so weit zu gehen wie Wilamowitz, der den Hexameter in Bausch und Bogen verdammt und Vossens Ruhm von den Sternen herunterreißt; aber auch wenn man zugesteht, daß es in unserer Litteratur schöne, vollendete Hexameter gibt, muß immer daran erinnert werden, daß die deutsche Sprache den Widerstreit von Wort und Versaccent, der das Hauptcharakteristikum des antiken Hexameter ausmacht, auf die Dauer nicht erträgt. Es ist unseres Erachtens nichts als Täuschung, wenn Hertzberg und so viele andere mit ihm jubeln: „Voß haben wir es zu danken, daß der Hexameter, und was sonst von antiken Metren sich unserer Prosodie fügt, den deutschen Dichtern ebenso geläufig geworden sind, wie irgend andere Formen.“ Nein, jede Poesie verlangt gebieterisch, daß der Übersetzer auch in metrischer Hinsicht einen ästhetisch-absoluten d. h. modernen Maßstab an seine Produkte lege, nicht einen historisch-relativen d. h. veralteten.19 Schiller hat uns in seiner Vergilübersetzung im allgemeinen den Weg vorgezeichnet, den ein Übersetzer wandeln soll. Natürlich halten wir nicht eine [68] stanzenartige Strophe, wie sie Schiller anwendete, für die allein seligmachende Form; über das äußere Kleid entscheidet in letzter Instanz der jeweilige Stoff und das Individuum des Übersetzers. Immerhin scheint uns, daß der Iambus – aber nicht der sechsfüßige Alexandriner – das gegebene Versmaß sei. Sogar Hertzberg, der strenge Verteidiger des deutschen Hexameter, beugt sich vor der Muse Schillers und reicht ihr die Palme. Wenn je, so läßt sich angesichts einer solchen Übertragung das Wort Robert Schumanns anwenden: „Vielleicht versteht nur der Genius den Genius ganz.“20 Freie, wirklich poetische Übertragungen haben unseres Erachtens auch eine hohe pädagogische Bedeutung. Gerade die Lernenden sollten so bald als möglich in das Ge-
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heimnis einer solchen Nachbildung eingeweiht werden. Sie müssen die Überzeugung erhalten, daß ein poetischer Stoff gebieterisch eine poetische Übersetzung verlangt, und daß eine solche mit weit größerer Leichtigkeit den Kern der Sache erfaßt als eine mit vieler Mühe zusammengestoppelte Prosaübertragung. Nichts weitet den Blick des Lernenden so sehr, nichts vermag ihn eher aus der philologischen in die künstlerische Auffassungsweise hinaufzuheben, als wenn er die ewige Schönheit des Kunstwerkes zu ahnen beginnt, das er in sich aufnehmen soll. – Und es ist eine besonders glückliche Errungenschaft, daß wir [69] gerade für das zweite und vierte Buch der Aeneis eine solch klassische Übertragung besitzen; denn wenige Dichter bereiten dem Übersetzer ähnliche Schwierigkeiten wie Vergil.21 Was wir über den Hexameter vorgebracht haben, das gilt mutatis mutandis – und zwar in noch höherem Grade – für die komplizierteren antiken Versmaße. Unsere deutschen Dichter, vorab die Klassiker, haben in der Lyrik so viel Schönes geschaffen, daß es für einen Übersetzer nicht allzuschwer sein dürfte, für das Versmaß einer sapphischen Ode oder der Chorgesänge eines Aischylos ein deutsches Äquivalent zu finden, und unseres Erachtens wird die Feinheit und Prägnanz einer Übersetzung, sei es einer iambischen oder einer daktylischen, bedeutend erhöht, wenn auch der Reim verwendet wird. – Der Übersetzer will nichts Ewiges schaffen, er ist bestrebt, dem Ewigen ein vergängliches Kleid überzuwerfen, und wie die Zeiten, so müssen die Übertragungen sich umgestalten. Jedes Volk, jedes Jahrhundert hat seinen eigenen Horaz. Aber gerade dadurch ist er unvergänglich, daß jede Zeit ihn besitzen kann, daß er auf jedes Volk in seiner Weise wirkt. Der Wein bleibt derselbe, ob wir ihn aus einer goldenen Schale trinken oder ob er uns in einem Römer kredenzt wird. Soll Homer ein Deutscher werden, so muß er im deutschen Erdreich wurzeln, so gut wie Schiller. [70] Nur einmal strahlt die Sonne des Genius ungetrübt und unmittelbar, allen späteren Zeiten wandelt sie hinter Wolken, und ein Übersetzer darf sich glücklich schätzen, wenn ihre Flammenpfeile hie und da den Dunstkreis durchbrechen. H. Anmerkungen zum Anhang. 1
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Dieser Ansicht ist offenbar C. Beyer, doch bedeutet dessen dickleibige sog. Übersetzungskunst (Deutsche Poetik, III. Teil, Stuttgart2 1887, Seite 184–263) trotz der Selbstüberhebung des Verfassers nicht viel mehr als eine oft nicht unpraktische Stoffsammlung. Michael Bernays, Vor- und Nachwort zum neuen Abdruck des SchlegelTieck’schen Shakespeare (Preuss. Jahrb. 68, 1891 II., S. 524–569), S. 565. Bekannt ist z. B. der paradoxe Ausspruch Moritz Haupts: „Das Übersetzen ist der Tod des Verständnisses“ (Christian Belger, Moriz Haupt als akademischer Lehrer, Berlin 1879, S. 151). Julius Keller weist in seiner feinen und philosophisch durchdachten Abhandlung „die Kunst des Übersetzens“, (Progr. des Gymnasiums in Karlsruhe 1892) die
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Unmöglichkeit einer deckenden Übersetzung von einer Sprache in eine andere nach. Er sucht der Eigenart einer Sprache und ihren Schönheiten auf diese negative Art gerecht zu werden. Um aber besonders den poetischen Kunstwerken eines fremden Volkes zu ihrem Recht zu verhelfen, gibt es noch einen zweiten, positiven Weg: wir meinen die vom Standpunkt der Kunst ausgehende Übertragung. Mit deren Hülfe lässt sich die allgemeine Über-[72]einstimmung in der poetischen Empfindung zeitlich und örtlich getrennter Völker darlegen. Mit Beziehung auf diese ewig gleichen Stoffe und Bilder der Poesie sagt Rückert (Einleitungsgedicht zur Hamasa): Die Poesie in allen ihren Zungen Ist dem Geweihten eine Sprache nur.
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Goethe, Noten und Abhandlungen zum westöstlichen Divan (in Loepers Ausgabe, Berlin, Hempel, S. 359–362). – Eine ausführlich begründete Einteilung findet sich z. B. ferner bei Tycho Mommsen, die Kunst des Übersetzens fremdsprachlicher Dichtungen ins Deutsche, Frankfurt a./M.2 1886, S. 10 f. Mommsen scheidet – im Grund ähnlich wie Goethe – in die stillose Übersetzung, die Originaldichtung im fremden Stil und die strenge oder stilhafte Übertragung. Euripides Hippolytos, griechisch und deutsch von U. v. Wilamowitz-Moellendorff. Der erste Teil der Einleitung (S. 1–22) trägt den Titel: „Was ist übersetzen?“ Die citierte Stelle siehe daselbst S. 7. Im allgemeinen darf man wohl sagen, dass die antike Dichtung plastischere, markigere Bilder hat als die moderne Poesie, welche erstens quantitativ in dieser Beziehung mehr leistet und zweitens – der heutigen Kulturstufe entsprechend – seelisch tiefer dringt. Diesen Punkt berührt H. Frommann in seiner wenig gekannten Studie „Verschiedenheiten des Geschmacks im poetischen Ausdruck bei lateinischen und deutschen Klassikern“, Jena 1866 (S. 11). In seinen Beispielen geht er oft etwas zu weit, so, wenn er S. 10 sagt: „Es wird wohl jetzt schwerlich mehr einem deutschen Dichter einfallen, anstatt ‚Laub‘ zu sagen das ‚Haar der [73] Bäume‘ (nemorum coma), wie es bei den augusteischen Dichtern wiederholt vorkommt.“ Dies ist Täuschung. H. Koch gibt zu Homers Ilias 17, 677 (Hannover2 1874) für einen solchen Gebrauch des deutschen „Laub“ nicht weniger als zehn Beispiele aus unseren klassischen und modernen Dichtern an. Es liesse sich diese Sammlung mit Leichtigkeit noch vermehren, vgl. z. B. Ricarda Huch, Gedichte (Leipzig 1884) S. 183: Einmal vor manchem Jahre War ich ein Baum am Bergesrand, Und meine Birkenhaare Kämmte der Mond mit bleicher Hand.
Dass übrigens ganz besonders auf dem Gebiet der Metapher und des Gleichnisses der Weiter- und Neubildungsprozess der Sprachen ein sehr reger ist, liegt in der Natur eines jeden Volkes. Diese Erscheinung ist von Julius Keller eingehend begründet worden a. a. O. S. 14. Namentlich die Lyrik, welche Gefühle in Worte und Bilder umsetzen muss, kommt hier in Betracht. Ich citiere noch einen Aus-
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spruch A. Biese’s aus dessen scharfsinniger Schrift: „Das Metaphorische in der dichterischen Phantasie“ Berlin 1889 (S. 7): „Je mehr das Innenleben beteiligt ist in der Dichtung, desto innerlicher wird der Ausdruck in der Sprachform sein, d. h. desto reicher wird jene an Bildern in engerem Sinne, an Metaphern sein.“ Wilamowitz a. a. O. S. 16 f. – Goethe, Faust , I. Teil, S. 116–125: Wer ruft das Einzelne zur allgemeinen Weihe, Wo es in herrlichen Akkorden schlägt? Wer läßt den Sturm zu Leidenschaften wüten? Das Abendrot im ernsten Sinne glühn? [74] Wer schüttet alle schönen Frühlingsblüten Auf der Geliebten Pfade hin? Wer flicht die unbedeutend grünen Blätter Zum Ehrenkranz Verdiensten jeder Art? Wer sichert den Olymp, vereinet Götter? – Des Menschen Kraft, im Dichter offenbart.
Auf der im Gegensatz zu den antiken Völkern ganz von der Natur durchsättigten finnischen Volkslyrik (vgl. die Sammlung Kanteletar übersetzt von Hermann Paul, Helsingfors 1882) aufbauend, äussert der schwedische Dichter Finlands, J. L. Runeberg (1804–1877) in dem Gedicht „Der Barde“ (Ausgewählte Gedichte, deutsch von M. Vogel, Leipzig 1878, S. 18 f.) einen ganz ähnlichen Gedanken: Und unbekannt, nur in sich selbst gekehrt, War er mit einer Riesenwelt im Bunde, Der Strom hat ihn den Ton der Kraft gelehrt, Und Wald und Bach gab von Entbehrung Kunde. Ein Bild von Mannesmut, ein kühner Held, Sah er den Felsen fest in Stürmen stehen, In Blumen schlug die Liebe aus dem Feld, Aus Himmels Blau schien Frauenaug’ zu sehen.
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Mit Recht sieht W. S. Teuffel in seinem Vortrag „Zur Vergleichung antiker und moderner Lyrik“ (Studien und Charakteristiken, S. 76 ff., Leipzig 1871) einen Hauptgrund für den typischen Charakter der älteren griechischen Lyrik auch in dem Umstand, dass jeder Dichter zugleich der Komponist seines Liedes war. – Dagegen behandelt Teuffel (S. 79 f.) die Beziehungen des Menschen zur Natur rein äusserlich. Ihm ist das Verhältnis des modernen Menschen zur Natur überwiegend das des Gegensatzes, während bei den Griechen [75] zwischen Natur und Mensch eine herzliche Freundschaft bestehe. Im Gegenteil! Gerade die vielen Personifikationen der Natur weisen darauf hin, dass der Grieche den Gegensatz zwischen sich und der Natur nur zu gut empfand, und dass er ihn möglichst zu verwischen suchte. Aber vorhanden bleibt derselbe doch stets, denn die Naturgottheiten sind überirdische Wesen, und der Mensch muss darnach trachten, sich mit ihnen auf einen guten Fuss zu stellen. – Von solch hemmenden Vorstellungen frei, kann der moderne Dichter die Natur ganz anders in sich aufnehmen. Ob er sich dabei in
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einen Gegensatz zu ihr stellt, oder ob er sein Schicksal in ihrem Walten sich wiederspiegeln sieht, das bleibt sich in Bezug auf das Prinzipielle unserer Frage ganz gleich und ist etwas rein Zufälliges. In beiden Fällen – und darauf kommt es an – lebt die Natur im Menschen und dieser in ihr. – Sehr feine und im Grunde mit der von uns vorgetragenen Ansicht übereinstimmende Bemerkungen über dies Gebiet findet man in der Studie von Th. Plüß: „Die Entstehung und das Wesen griechischer und moderner Lyrik“ (Horazstudien, Leipzig 1882, S. 364 f.); namentlich das moderne Naturgefühl ist an der Hand von Goethes Lied: „Füllest wieder Busch und Thal“ vortrefflich charakterisiert. – Diese ganze Frage ist übrigens am eingehendsten und objektivsten von A. Biese behandelt worden in seiner Schrift „Die Entwicklung des Naturgefühls bei den Griechen und Römern“ (2 Teile, Kiel 1882–1884). Biese weist nach, wie viele Ansätze und Keime unseres modernen Natursinnes sich schon bei den Alten finden. In Biese’s Buch findet man die gesamte Litteratur über dies Thema verzeichnet und [76] besprochen. – Vgl. noch A. Biese, Die ästhetische Naturbeseelung in antiker und moderner Poesie, Zeitschrift f. vergl. Litteraturgeschichte I (Berlin 1887) S. 125–145, 197 bis 213 und 407–456; ferner L. Friedländer, Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms II3, S. 181–255 (Leipzig 1874). 9 Den Geist der Sprache eines Volkes können wir aus Übersetzungen nie oder nur ganz unvollkommen kennen lernen. Insofern hat Julius Keller recht, wenn er a. a. O. S. 28 sagt: „Man vergisst in der Regel, dass jede Übersetzung, wenn sie gut ist, nicht fremden Geist in unsere Sprache bringt, sondern dass sie fremden Geist in unseren Geist verwandelt, dass wir sonach in den Banden des eigenen Geistes befangen bleiben.“ Der poetische Geist eines Volkes aber kann uns durch poetische Übersetzungen näher gerückt werden, und insofern hat Keller unrecht; vgl. auch Anm. 10. Wenn man Kulturgeschichte studieren will, dann allerdings muss man sich an das Original oder an wortgetreue Verdeutschungen halten. 10 Des Horatius schönste Lieder. Der Antike entrückt und verdeutscht zu Nutz und Frommen der Poesie; Dichtungen von Hermann Stegemann, Berlin 1893, Einleitung S. 7. – Auf Stegemann passt vortrefflich, was Julius Keller S. 34 im allgemeinen von der freien Übersetzung sagt: „… oder die Nachbildung ist eine völlig freie und folgt den eigenen Gesetzen des neuen Materials, dann ist sie aber keine Übersetzung mehr: dann ist z. B. an Stelle einer Athene eine Thusnelda, an Stelle einer Clytia ein Gretchen getreten, und eine Venus von Milo trüge dann vielleicht die Züge einer Holbein’schen Madonna.“ Wenn man, wie [77] Keller, diese Worte auf jede freie (d. h. für unseren Fall poetische) Übersetzung anwendet, bedeuten sie eine starke Übertreibung. Man vgl. z. B. die Übertragungen der gleichen Oden des Horaz bei Stegemann und in unserer Sammlung (es sind I, 4; I, 9; I, 26; I, 38; II, 3) mit dem Original, so wird man sich leicht überzeugen können, dass eine freie Übersetzung noch lange nicht, wie Keller zu glauben scheint, mit einer völligen Aufgabe alles Fremdartigen identisch ist. Auch bei gänzlicher Abstreifung der Form kann der poetische Inhalt des Originals gewahrt bleiben, da es eben nicht eine „völlig heterogene geistige Welt“ ist, in welche übertragen wird.
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11 W. v. Humboldt, Gesammelte Werke Bd. III, Berlin 1843, S. 16. Die Stelle befindet sich in der Einleitung zur metrischen Übersetzung von Aischylos’ Agamemnon. 12 Dies ist z. B. H. Blümner ausgezeichnet gelungen in seiner „Satura“ (Ausgewählte Satiren des Horaz, Persius und Juvenal in freier metrischer Bearbeitung, Leipzig 1897). 13 Humboldt a. a. O. und Wilamowitz a. a. O. S. 16. 14 Vgl. z. B. Paul Cauer, Die Kunst des Übersetzens, ein Hilfsbuch für den lateinischen und griechischen Unterricht, Berlin2 1896, S. 6. 15 Dies hat schon Herder sehr wohl gefühlt, wenn er in der Nachschrift zu seinen Übersetzungen aus Balde (Werke, ed. Düntzer, Berlin, Hempel; Band III, S. 288) sagt, er habe Flecken hinweggethan, und wo dem Umriss eines Gedichtes etwas zu fehlen schien, mit leiser Hand – wie bei einer alten Zeichnung – die Linien zusammengezogen, damit er den Dichter seiner Zeit darstelle. – Je eigenartiger übrigens ein Dichter ist, desto mehr [78] Schwierigkeiten bietet er einer wirklich poetischen Übertragung, desto künstlerischer muss sein Übersetzer veranlagt sein. 16 Auch Wilhelm Jordan neigt dieser Ansicht zu; das sagen uns die fast resignierten Worte in der Einleitung zu seiner Odyssee (Homers Odyssee, übersetzt und erklärt, Frankfurt a./M.2 1889, S. XXXII): .. „Auch hat noch keine andere Übersetzung Homers, weder die prosaischen, noch die iambischen oder gar die gereimten und dadurch äusserst widerwärtig romantisierten, Anklang zu finden vermocht. So blieb es gleichwohl das natürlichste, dass auch ich mich zur Nachbildung der Odyssee dieses Enkels ihres Verses bediente.“ Der Umstand, dass noch keine freie Übersetzung Homers Anklang gefunden, beweist nichts gegen die Übersetzungsart an sich, wohl aber sehr viel gegen die Übersetzer. – Über die Verwendung eines modernen Versmasses für antike Epen äussert sich ferner treffend Constantin Bulle in der Einleitung (S. XV) zu seiner Übersetzung der Metamorphosen Ovids, vgl. Anm. 21. 17 Die etwas trockenen Versuche, die Hermann Grimm in seinen „Homer“ (Ilias, 2 Teile, Berlin 1890 und 1892) eingestreut hat, dürfen wir wohl übergehen, da Grimm nur „einen kahlen Auszug der betreffenden Homerverse“ bieten wollte. – Julius Keller ist wohl kaum im Recht, wenn er a. a. O. S. 38 behauptet, dass deswegen, weil unsere Sprache längst über die Epoche des Volksepos hinausgeschritten sei, ein deutscher Homer nicht gedacht werden könne. Einmal handelt es sich hier nicht um eine Originaldichtung, dann zeigt die Freude und die Verehrung unserer Zeit für Homer, dass er uns keineswegs zu fern liegt. Die Aufgabe eines [79] Übersetzers müsste darin bestehen, ihn in unserer modernen Sprache in relativer Einfachheit nachzubilden, denn auch heutzutage besitzen wir neben dem mehr rhetorischen einen einfachen Stil. Nur so können wir dazu gelangen, in Homer das zu sehen, was die Griechen in ihm erblickten. Denn jede Zeit versteht unter dem Einfachen, Schlichten wieder etwas anderes, und es ist das Los der Übersetzungen, zugleich mit dem ästhetischen Geschmack der Völker zu wechseln. 18 W. Hertzberg, Zur Geschichte und Kritik der deutschen Übersetzungen antiker Dichter, Preuss. Jahrb. Bd. XIII, 1864, S. 219–243 und S. 360–391. Die von mir citierten Stellen befinden sich im zweiten Teil.
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19 Für Voss und seine Bedeutung in litteraturhistorischer Beziehung ist M. Bernays a. a. O. eingetreten. Auch Julius Keller lässt ihm S. 38 mehr Gerechtigkeit widerfahren als Wilamowitz; doch haben wir zu seiner Ansicht schon Anmerkung 17 Stellung genommen. Wenn Julius Keller S. 35, um den Gegensatz des antiken, aus dem Geist der griechischen Sprache entstandenen Hexameter zu seinem deutschen Ebenbild zu erklären, sagt: „Wer den antiken Hexameter nicht gelernt hat, muss den deutschen eben erst lesen lernen“, so liegt hier doch eine kleine Übertreibung vor, die sich jedenfalls nicht auf die schwierigeren Versmasse der Griechen ausdehnen lässt. Jedes Kunstverständnis setzt eine gewisse Bildung voraus, einem Ungebildeten wird auch in der eigenen Sprache das Verselesen stets Mühe machen. Bei den Römern war der Hexameter ebenfalls eine Art Nationalmetrum, aber auf sie lässt sich der Ausspruch Kellers überhaupt nicht anwenden, er beweist daher im allgemeinen für unsere Frage wenig. [80] Wir können diese Gedankengänge nicht verlassen, ohne das auf den ersten Blick bestechende Bild anzuführen, mit dem Tycho Mommsen a. a. O. S. 14 f. den Hexameter und die antiken Metren fürs Deutsche zu retten sucht: „All das sind, sagt man, undeutsche Formen; nur der Volksliederton oder die einfache gereimte und die Nibelungenstrophe sind uns natürlich; als ob die Gelehrten zu bestimmen hätten, was uns natürlich sei! Was unser Ohr ergötzt und unser Herz bewegt, das ist natürlich. Und gelingt ersteres nicht ohne einige Lehre und Anleitung, so erinnere man sich, dass die Orange doppelt so lange Zeit braucht, um zu reifen, als der Holzapfel, oder dass jene nicht darum ungeniessbar ist, weil vielleicht einer bei der ersten Bekanntschaft in die bittere Schale hineinbeisst. In der That kommt es mir so vor, wie wenn der Deutsche sich verbieten wollte, Orangen und Feigen zu essen, weil sie bei ihm nicht wachsen, und weil sie frisch vom Baume besser schmecken, und weil eigentlich nur der Gravensteiner mit seinem zarten Duft uns wohl schmeckt.“ Uns scheint das tertium comparationis anderswo zu liegen: Mit Vergnügen geniesst der Deutsche die fremde Frucht, d. h. das Dichtwerk in der Ursprache und im Originalmetrum, aber gedeihen kann die Orange bei uns nur in Treibhäusern, im Freien erfriert sie; so ist auch der deutsche Hexameter nur ein künstliches Produkt. 20 Robert Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln (Reklamausgabe Bd. 3, S. 175). Wenn aber Tycho Mommsen a. a. O. S. 13 von einer Misshandlung der Aeneis durch Schiller redet, dann scheint er den Flügelschlag des Genius, der dieses Kunstwerk durch-[81]rauscht, nicht vernommen zu haben. – Aber Mommsen ist nicht der einzig blinde. G. Lejeune Dirichlet überträgt (Neue Jahrbücher f. Phil. und Päd. von Fleckeisen und Richter, Jahrgang 64, Bd. 21 [1894] S. 507–518) diese Auffassungsweise auf das pädagogische Gebiet. Er preist den Vossischen Homer, dessen historische Bedeutung er klar darlegt und fährt S. 511 fort: „ich würde glücklich sein, wenn ich für andere Schriftsteller immer ein ähnliches Hülfsmittel zur Hand hätte, z. B. für die Aeneis. Hier haben wir ja die Vossische Übersetzung und daneben die Schiller’schen Übertragungsproben. Aber beides hilft
Die Kunst des Übersetzens fremdsprachlicher Dichtungen
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wenig oder nichts.“ (!) Vgl. dagegen, was wir S. 68 über den erzieherischen Wert poetischer Übersetzungen sagen. 21 Oskar Brosins trefflicher Aeneiskommentar (5 Bändchen, Gotha, Perthes) hat sich ebenfalls ein hervorragendes Verdienst um eine wirklich poetische Auffassung und Übersetzung dieses Epos erworben. Durch Schiller und Brosin sind unseres Erachtens nicht nur für Vergil, sondern auch für andere antike Dichter alle Zweifel, wie Poesie zu übertragen sei, beseitigt worden. – Auch die Bucolica Vergils sind uns in der freien, ungereimten iambischen Übertragung von W. Kopp (die zehn Hirtenlieder des Vergil, Berlin 1873) in ausgezeichneter Weise nahe gerückt worden. Ovids Metamorphosen sind kürzlich in einer vortrefflichen Stanzenübertragung von Constantin Bulle erschienen (Ovids Verwandlungen, Bremen 1898). An und für sich ist wohl Ovid derjenige unter den römischen Dichtern, der es am wenigsten verdient, übertragen zu werden, da er mit seiner glänzenden rhetorischen Begabung oft den gänzlichen Mangel einer wirklich poetischen Empfindung zudecken muss. – [82] Dadurch dass Bulle die Ottaverime wählte, hat er sich grosse Schwierigkeiten auferlegt, die er aber meistens mit bewunderungswürdiger Gewandtheit überwindet. – Bulle hält es (Vorrede, S. III) für das richtige, ein solches Werk wie die Metamorphosen nicht teilweise, sondern in unverkürzter Gestalt zu übersetzen. Man vgl. dagegen, was wir S. 53 über die Übersetzbarkeit antiker Stoffe gesagt haben. Schon manchem deutschen Dichter ist damit ein schlechter Dienst erwiesen worden, dass man nach seinem Tod alle Werke, die er hinterlassen, veröffentlichte, auch diejenigen, die er selbst entschieden für sich behalten hätte; und mancher bedeutende Lyriker (ich erinnere an Geibel) hat seinem eigenen Ruhm dadurch geschadet, dass er zu viel edierte. Dies ist vielleicht auch ein Punkt, den ein Übersetzer ins Auge fassen sollte, der seinem Original die gewünschte Wirkung und eine richtige Würdigung verschaffen will. H.
Eduard Fraenkel Eduard Fraenkel (1888–1970), einer der herausragendsten Vertreter der Klassischen Philologie im 20. Jahrhundert, hatte an den Universitäten Berlin und Göttingen studiert und war von 1913 bis 1915 Mitarbeiter am Thesaurus Linguae Latinae in München. 1917 habilitierte er sich in Berlin und wurde drei Jahre später ebenfalls in Berlin auf ein Extraordinariat berufen. Von 1923 bis 1934 bekleidete er Ordinariate in Kiel, Göttingen und Freiburg. Von den Nationalsozialisten seiner Position enthoben, emigrierte Fraenkel nach Großbritannien. 1935 erhielt er den Lehrstuhl für Lateinische Philologie am Corpus Christi College in Oxford. In der Nachkriegszeit nahm er Gastprofessuren an verschiedenen italienischen und westdeutschen Universitäten wahr und war Mitglied zahlreicher Akademien. Von seinen Werken sei hier allein der monumentale dreibändige Kommentar zum Agamemnon des Aischylos erwähnt. Zum Stellenwert der Übersetzung äußert sich Fraenkel im Rahmen des 1919 (21921) erschienenen Sammelbandes Vom Altertum zur Gegenwart. Darin beurteilt er die Frage nach der grundsätzlichen Möglichkeit, literarische Werke aus den alten Sprachen in adäquater Weise ins Deutsche zu übertragen – im Unterschied zu seinem Lehrer Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff – sehr skeptisch. Solche Übersetzungen könnten in gewisser Weise dem Leser des Originaltextes als Interpretationshilfe dienlich sein, gleichwertigen Ersatz für das Original böten sie nicht. Vor allem sei die ursprüngliche komplexe Einheit von Stoff und Gattung, Inhalt und Form, die gerade der antiken Literatur eigen sei, in einer Übersetzung nicht nachzubilden. Fraenkel bekennt sich dezidiert zu einem Humanismus, für den sich eine Annäherung an die antike Literatur nicht durch Nachahmung sprachlichformaler Strukturen, sondern durch das Erfassen des immanenten schöpferischen Potentials erreichen lässt, wie es allein durch ein ausdauerndes Studium der Antike gelingen kann.
Vom Werte der Übersetzung für den Humanismus Aus: Vom Altertum zur Gegenwart. Die Kulturzusammenhänge in den Hauptepochen und auf den Hauptgebieten, Leipzig/Berlin 1919, 290–306.
An der Spitze aller Kultur steht ein geistiges Wunder: die Sprachen … Die Sprachen sind die unmittelbarste, höchst spezifische Offenbarung des Geistes der Völker, das ideale Bild desselben, das dauerhafteste Material, in welches die Völker die Substanz ihres geistigen Lebens niederlegen, zumal in den Worten großer Dichter und Denker. Jakob Burckhardt.
Die seit langem weithin herrschende Feindseligkeit gegen ein lebendiges Wirken derjenigen Kräfte, die man unter dem Namen des Humanismus zusammenfassen kann,
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zumal gegen ihre Beteiligung an der Bildung unserer Jugend, entstammt in der Hauptsache nicht einer eigentlich bilderstürmerischen Gesinnung. Die lag einem in jedem Sinne habgierigen und besitzstolzen, also auch seiner Gebildetheit eifersüchtig bewußten Geschlecht im Grunde fern. Als Ornament eines auf ganz andere Güter gerichteten Lebens ließ man vieles und Verschiedenartiges gelten, nur gegen tiefergreifende Ansprüche setzte man sich zur Wehr. Man dekorierte seine Wände und seine Bücherschränke mit den Werken aller Länder und Zeiten, man war und ist gern bereit wie an der Plastik und Baukunst der Griechen und Römer so auch an ihrer Dichtung und Philosophie, ihrer Geschichtschreibung und ihren Staats- und Rechtsgedanken sich zu erbauen und zu belehren, nur braucht man einen Königsweg, der breit, bequem und rasch zum Ziele führt. Zu langsamem Anstieg hat man wahrlich keine Zeit; da ist denn die Kunst des Übersetzens eben recht erfunden. Nicht an Menschen dieser Gesinnung kann der folgende Versuch sich wenden. Er sucht das Ohr derer, die dem Leben des Geistes Opfer zu bringen bereit sind, die, fern von Eigennutz und Ungeduld, seinem Wachstum weites Erdreich und Zeit zur [291] Reife gönnen wollen. Er hofft auf Deutsche, die, sollte auch die meisten unter uns das Elend dieser und der folgenden Zeiten in Sorge und Unrast hetzen die dringendste Notdurft zu befriedigen, dennoch gesonnen sind zum mindesten unserer Jugend Jahre ungestörter Entwicklung zu sichern, ihr eine Hingabe zu ermöglichen an das, was über den Tag und seine Nöte hinausweist. Aber auch unter diesen Ernsten gibt es nicht wenige, die immer wieder zweifelnd fragen, ob und warum es denn notwendig sei, daß man, um zu den literarischen Kunstwerken der Griechen und Römer zu gelangen, den beschwerlichen, weiten, oft nicht einmal zum Ziele führenden Weg über die Urtexte wähle, statt diese der gelehrten Forschung zu überlassen und sich im übrigen an getreue und künstlerisch wertvolle Übersetzungen zu halten. Diese Erwägung wird einem Deutschen, der ehrlich nachdenkt, geradezu aufgezwungen. Denn wohl bei keinem anderen modernen Volke stehen Übersetzungen fremder Werke innerhalb der eigenen Literatur so sehr an vorderster Stelle wie bei uns die Luthersche Bibel und der Schlegelsche Shakespeare, um nur diese zu nennen. Wohl weiß man, daß diese Meisterwerke nachdichtender Kunst nur in Zeiten stärkster seelischer Erschütterung dank einem Zusammentreffen vieler glücklicher Umstände von besonders begünstigten Individuen geschaffen werden konnten, fragt aber mit Recht, ob denn nicht für die Literatur der Griechen und Römer das gleiche zum Teil schon erreicht oder doch in Zukunft erreichbar sei. Auf diese Frage wird man eine kurze Antwort schwerlich geben können. Ich vermesse mich überhaupt nicht ihr Genüge zu tun; sie rührt an sehr zarte, zum Teil geheimnisvolle Zusammenhänge im Leben der Sprache und der redenden Künste, auch an Besonderheiten gerade der antiken Werke. Es sei jedoch versucht einige von den Phänomenen, die sich hier dem lange auf diese Dinge gerichteten Blicke auftun, möglichst rein zu beschreiben; vielleicht führt das hier und da zu einer Klärung oder zeigt doch wenigstens, daß hier ernste Schwierigkeiten liegen und daß nicht gedankenloses oder selbstherrliches Festhalten an einem ererbten Privileg für diejenigen [292] bestimmend ist, die behaupten, ohne Kenntnis der Originale sei eine wahrhafte humanistische Bildung nicht denkbar.
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Die Betrachtung darf nicht, wie es vielfach geschieht, auf den bereits literarisch gestalteten Sprachstoff, auf bestimmte Schöpfungen der Poesie und der Kunstprosa, eingeschränkt werden, als handelte es sich nur um die Frage, wie weit die Wirkung einzelner großer Werke durch Übersetzungen vermittelt werden kann. Freilich manifestiert sich in der Kunst wie jedes Vermögen des Menschen so auch die Sprachkraft erst in ihrer ganzen Tiefe, kommt erst dort zu ihrem geheimnisvollsten und zugleich klarsten Ausdruck, aber die Sprache lebt doch nicht nur in den Hervorbringungen der großen Einzelnen, sondern vor und neben ihnen, sie ist der Fluß der sie durchströmt, aber auch trägt. Selbst angesichts eines Volkes, das keinerlei Literatur hervorgebracht hätte, bliebe für den, der das Wesen des fremden Lebensgebildes zu erfassen, seiner Seele irgendwie sich zu nähern strebt, die Sprache der vornehmste Gegenstand der Betrachtung, auch hier noch in mehrfachem Sinne. Denn um vom Gröberen und gewissermaßen Äußerlichen auszugehen, stellt sie sich dar als eine ganz eigentümliche, unbewußte oder bewußte oder aus beiden Sphären des Seelenlebens stammende, Hervorbringung des betreffenden Volkes, so gut wie die Formen seines religiösen Lebens, Hausbau und Verzierung der Geräte, gesellschaftliche und staatliche Struktur usw. Zugleich aber bedeutet sie für ein Erschauen des fremden Wesens unendlich viel mehr als irgendeine dieser besonderen Hervorbringungen, und seien es auch die überwältigendsten Werke der bildenden Künste. Denn infolge des unlösbaren Zusammenhanges zwischen dem Sprechen und dem Denken nicht nur, sondern dem Gesamterlebnis des Menschen steht die Sprachgestaltung hinter und über allen jenen Einzelschöpfungen und zwar um so souveräner, je reicher das Leben einer Gemeinschaft ist. Ein hochstehendes Volk erlebt überhaupt nichts Geistiges, das nicht irgendeinen wenn auch verhüllten Ausdruck in seiner Sprache fände. Das Nacherleben der Sprache [293] bedeutet also nicht das Auftun eines beliebigen Zugangs zu dem fremden Sein; es schafft ein mit nichts zu vergleichendes, durch nichts zu ersetzendes Organ der Annäherung. „Die Sprache ist Träger der geistig gelebten Vergangenheit eines Volkes, und wer diese Sprache als solche, als lebendige Bewegung, erlebt, wer das Spracherlebnis hat, der erlebt durch ihr Medium den ganzen Umfang der in ihr ausdrückbaren Schicksale, ohne diese primär auf sich nehmen zu müssen“ (Gundolf ). Diese Erfahrung hat einen wunderbar schlichten und tiefen Ausdruck gefunden in einer Äußerung des Ennius: tria corda se habere dicebat, quod loqui graece et osce et latine sciret. Schon von hier aus läßt es sich einsehen, warum der Humanismus, um den es uns hier allein zu tun ist, das im Sinne unserer großen deutschen Meister verstandene, aus den seelischen Nöten unserer Zeit heraus erneute und weiter geführte Verhalten gegenüber dem Altertum, der Sprache der Griechen und Römer als seines Werkzeuges bedarf. Dieser Humanismus faßt sich nicht als Betätigung eines isolierten gelehrten Triebes auf, auch nicht als Spielart einer nach vielen Seiten schweifenden Liebhaberei oder Genußsucht und ebensowenig als Verlockung zur Imitation eines einmal gewesenen Vollkommenen, sondern als eine vorwärts weisende, richtunggebende geistige Haltung, als ein Fundament für den Aufbau einer stolzen und freien eigenen Welt. Der von dieser Gesinnung Erfüllte wird sich mit aller Kraft der Hingabe immer aufs neue in die großen Kunstwerke versenken, er wird aber neben ihnen, zum Teil in ihnen selbst, seinen Sinn auch auf eine andere Sphäre richten, auf das Leben des fernen Volkes, das Wort in
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seinem tiefsten Sinne genommen, auf seinen Bios, um es deutlich zu sagen. Er wird versuchen von den treibenden Kräften, ihrem Neben- und Gegeneinander in den Seelen der Menschen, die jene großen Werke hervorbrachten, ein Bild zu gewinnen, nicht aus Polymathie, auch nicht weil er sich etwa erkühnte, auf diesem Wege die Entstehung des Kunstwerkes zu „erklären“, sondern eben um seiner humanistischen Gesinnung willen. Seine tiefste [294] Sehnsucht weist ihn an die Griechen als an die, die ihm in wundersamen Bildungen zu verbürgen scheinen, daß der Mensch auf dieser Erde sein Leben lebenswert machen, jede Kraft in sich rein entwickeln und zu immer vollkommeneren Gestaltungen hinaufführen könne; um diesen Glauben fester wurzeln zu lassen und stärkere Impulse aus ihm zu ziehen als es bei der Betrachtung auch der größten Schöpfungen in der Isolierung zu geschehen vermöchte, bedarf es eines Eindringens in die seelischen Welten, aus denen jene Werke aufstiegen, auf daß man ahne, wie dort äußeres Schicksal und inneres Erlebnis, wie Schauen und Träumen, Tun und Denken zusammenhingen, wie das Volk den einsam Schaffenden nährte und der Schaffende das Volk, wie die tiefste Darlegung des Philosophen, das erhabene Lied des Dichters noch geheimnisvoll verknüpft ist mit irgendeiner Metapher in der Arbeitsrede des Alltags, einer Grußformel, einem alten Segensspruch. Es gilt ferner, keineswegs nur für den Forschenden, sondern gerade auch für den Nacheifernden, die geistigen Blickmöglichkeiten einer fernen Zeit, ihr seelisches Gesichtsfeld sich zu verdeutlichen, abzuschätzen, was damals überhaupt erlebbar und ausdrückbar war; nur so läßt sich ermessen, was der einzelne aus Maßhalten nicht geben wollte, was er nicht geben konnte aus Begrenztheit der geistigen Welt, nur so kann sich schließlich zeigen, was wir mit einer Vorzeit gemein haben, was nicht. In diese Sphäre führt nur die Sprache. Wie das Denken des Menschen vom Sinnlichen zum Übersinnlichen aufsteigt, das lehrt wohl jede höher entwickelte Sprache; im Lateinischen und vor allem im Griechischen tritt es uns mit wunderbarer Deutlichkeit vor Augen, jede Beobachtung auf diesem Gebiete führt tiefer in den Zusammenhang des gesamten Lebens und die Besonderheiten gerade dieser geistigen Welt hinein als es die ausführlichste Darlegung vermöchte. Und die Fruchtbarkeit schon der einfachsten Betrachtung dieser Art widerlegt den Einwand, daß den Weg zur Seele des Volkes durch die Sprache ja doch nur der Forscher finde, daß aber der, der nicht über die Fülle der Kenntnisse verfüge, also auch gerade der [295] junge Mensch in den Jahren da er Latein und Griechisch lernen könne, vor Äußerlichkeiten an das Wesentliche gar nicht heran käme. Es darf hier zur Verdeutlichung des Gesagten an Bekanntestes erinnert werden, wobei denn auch wieder die alte Erfahrung zu machen ist, daß die für griechisches und römisches Denken bezeichnendsten Ausdrücke vollkommen unübersetzbar sind. Materielles Gedeihen – geistig körperliche Leistungsfähigkeit – sittliche Tüchtigkeit auf begrenztem Bereich – sittliche Vollkommenheit schlechthin gemessen an den höchsten Forderungen des abstrakten Denkens: so ließe sich etwa vergröbernd die Entwicklung der Bedeutungen zusammenfassen, die, wie Wilamowitz oft dargelegt hat, ein zentrales griechisches Wort nach und nach angenommen hat und zwar so daß immer auf der folgenden Stufe die Werte der vorhergehenden mitgelten oder wenigstens als Untertöne vernommen werden können, vom homerischen ἀρετῶσι δὲ λαοί bis zur ἀρετή des Platon. Wem das lebendig geworden ist, den tragen Dichterworte wie diese τᾷ Σοφίᾳ παρέδρους πέμπειν Ἔρωτας
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(dies wiederum ganz zentral und ganz unübersetzbar) παντοίας ἀρετᾶς ξυνεργούς tief hinein in die Seele des Griechentums. Und stellt er dann daneben die römische virtus, die, ganz anderer Herkunft, ein grundverschiedenes, weit engeres Stück Sein zugleich und Ideal höchst kräftig spiegelt, so begreift er in zwei bedeutenden Symbolen einen Teil vom Wesen der beiden Völker. Er gehe dann einmal dem merkwürdigen Begriff der religio nach, bedenke, daß es im Griechischen (und auch im Deutschen) nichts auch nur von ferne Entsprechendes gibt, erwäge Ursprung und Geltung von νόμος und lex, von ἄρχων und magistratus und vieles der Art; er wird mit diesem bescheidenen, auch dem jungen Menschen zugänglichen Bemühen etwas erreichen, was keine Beschreibung und keine Wiedergabe zu leisten vermag. Ein anderes: bei der Betrachtung der sprachlichen Neubildungen des Ionischen und Attischen im 6. und 5. Jahrhundert, aber auch bei jeder anderen Beschäftigung mit einem Stück alter griechischer Rede wird man immer aufs neue darauf geführt, wie sehr dieses Volk, lange ehe [296] es die Philosophie geschaffen hatte, zu abstraktem Denken sich gedrängt fühlte, und wird die sichere Kühnheit bewundern lernen, mit der es Begriffe, die für das Denken der gesamten späteren Menschheit entscheidend geworden sind, aus der Tiefe der eigenen Sprache emporhob. Führt so schon die Betrachtung einzelner Wörter an grundlegende Denkformen des fremden Volkes heran, so kann sich doch das eigentliche Spracherlebnis nicht an diesen erst künstlich abstrahierten Partikeln der lebendigen Rede vollziehen, sondern nur am Satz, der Periode, der zusammenhängenden Gedankenreihe. Hier tut sich ein Kosmos auf, dessen Wirkungen in ihrem vollen Umfange zu schildern ich nicht wage; es bedarf dessen wohl auch nicht. Wer an Klang und Bau und Gehalt echter griechischer Rede, und sei sie ein Stück bescheidenster Prosa, einmal wahrhaft seinen Sinn hingegeben hat, dem ist eine der seltensten Offenbarungen des eingeborenen Adels der Menschenseele zuteil geworden. Hellhörig ist er von nun an für Würde der Sprache wo immer sie ihm entgegentritt, in ihm bleibt eine nimmer ruhende Sehnsucht auch das eigene Wort klar und rein zu gestalten, ein heilsamer Ekel wird ihn schütteln vor dem was heute die Spalten der Zeitungen füllt, was sich marklos und unkeusch breit macht überall wo Menschen reden und schreiben bis hinauf in den Bereich dessen, was Kunst zu sein vorgibt. In der Sprache des griechischen Redners und des Historikers, des Arztes und des Philosophen, im Dialoge der Komödie und in den Urkunden stellt sich wie in der Porträtstatue eines athenischen Mannes die kräftige Freiheit einer wunderbar begabten, ungebrochenen Natur dar, zu Maß und Haltung gebändigt durch die Euschemosyne einer formenstrengen Gesellschaft. Diesen Reichtum der Bewegung und diese Harmonie kann nie eine Übersetzung ahnen lassen. Die Fülle und Urbanität in der Rede eines Caesar, Cicero oder Horatius vermag wohl auch nur der ganz zu würdigen, der aus der Schule der Griechen kommt. Er wird dann auch ermessen, welch ein Verlust an Welt es wäre, wenn wir nicht neben dem Hellenischen noch jene einzigartige [297] Virilität vernehmen könnten, die uns aus irgendeinem altlateinischen Spruche so gut wie aus dem Verzeichnis der Taten des Augustus oder den Annalen des Tacitus entgegenklingt, jene zweckbewußte Energie, die wohl auch in drei Worte das schwerwiegendste zusammenzudrängen weiß, gemäß dem rem tene, verba sequentur. Nietzsche kritisiert einmal einen liederlichen und papiernen deutschen Satz, indem er
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ausruft: „Ich beschwöre Sie, das ins Lateinische zu übersetzen, um zu erkennen, welchen schamlosen Mißbrauch Sie mit der Sprache treiben.“ Wer jemals ernsthaft nachgedacht hat1 über diejenige Schulung des Sprachgefühls, die niemals die Muttersprache allein bieten kann, weil wir ihr viel zu nahe stehen, der wird immer aufs neue gerade uns Deutschen wünschen, das Lateinische, freilich nicht das unserer Übersetzungsbücher, sondern das echte Römeridiom, möge nie aufhören uns in seine strenge Zucht zu nehmen. Zusammenfassend läßt sich also sagen: der Humanismus sieht in den Sprachen der Griechen und Römer einmal das Medium, durch das das Gesamterlebnis der beiden Völker zu ihm spricht, er sieht in ihnen zweitens (und diese Orientierung ist ihm eigentümlich im Gegensatz zu einer rein wissenschaftlichen Einstellung) große Muster sprachlicher Gestaltungskraft, nicht im Sinne stofflicher Vorbilder, sondern als Potenz. Gerade diese potentielle Wirkung meint offenbar Goethes Distichon, bei dem an die Behauptung eines genetischen Zusammenhanges nicht gedacht werden kann: Tote Sprachen nennt ihr die Sprachen des Flaccus und Pindar – und von beiden nur kommt, was in der unsrigen lebt!
Wir sind bisher im wesentlichen der Frage aus dem Wege gegangen, ob denn nicht die großen Werke der griechischen und römischen Literatur oder einige von ihnen, wenn auch vieles ein-[298]zelne nicht geradezu wiederzugeben sei, doch im ganzen eine Umsetzung in unsere Sprache erfahren könnten, die auch dem, der auf das Spracherlebnis und alles was aus ihm fließt verzichten muß, einen reinen und starken Eindruck von den bedeutendsten Dichtungen und Prosaschriften vermittelte, so daß er durch sie und die Werke der bildenden Kunst in lebendigem Zusammenhange mit dem schöpferischen Geiste des Altertums bliebe. Hier ist zunächst an eine bekannte Tatsache zu erinnern. Wir besitzen keine Übersetzung eines antiken Werkes von dem Rang und der Wirkung des Schlegelschen Shakespeare oder des Tieckschen Don Quixote, keine die dem Original so nahe käme wie nicht wenige andere Übertragungen aus modernen Literaturen. Nun ist ja leicht zu sehen, daß hier grundverschiedene Bedingungen walten, denn in den neueren Sprachen „lebt derselbe Geist der modernen Kultur; die Weise des Denkens, Empfindens und Aussprechens ist in ihnen nicht viel stärker verschieden als zwischen Dichtern desselben Volkes“ (Wilamowitz). Daraus folgt jedoch nur, daß eine Übersetzung aus einer antiken Sprache unendlich viel schwieriger ist, daß sie vielleicht ganz andere Wege gehen muß als eine Nachdichtung neuerer Poesie, nicht aber, daß man nicht auch hier zu einer adäquaten Wiedergabe gelangen könne. Auch das dürfte nicht entscheidend sein, daß gemäß der Art und Verbreitung der griechischen Sprachstudien in Deutschland Übersetzungen gerade der wichtigsten Werke oft _____________ 1
Der Wunderapostel der neuen „Jugendkultur“ schlägt vor „einmal zehn möglichst verschiedene Sprachen je vierzehn Tage lang treiben, könnte vielleicht tiefere Erkenntnis vermitteln, stärkere Anregungen geben, als die 6–9jährige Einpaukerei jener beiden, unserer Sprache verwandten“. [Fraenkel spielt hier auf den Reformpädagogen und Mitbegründer der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, Gustav Adolf Wyneken (1875–1964), an. Der Begriff der „Jugendkultur“ geht auf Wynekens Abhandlung Schule und Jugendkultur, Jena 1913, zurück. Das oben angeführte Zitat findet sich in Wynekens Schrift Wider den altsprachlichen Schulunterricht, Jena 1916, 12 f.]
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nur von Philologen unternommen wurden. Allerdings ist zum Übersetzer immer nur der Dichter geschaffen (oder der, der an einer dichterischen Bewegung als an einem eigenen ursprünglichen Erlebnis Teil hat wie Schlegel an Goethe und der Romantik); die wissenschaftliche Erkenntnis, deren er freilich bedarf, ist für ihn sekundär, sein eigentliches Instrument ist die nachgestaltende Sprachkraft. Aber es wäre doch wohl denkbar daß, wie Stefan George Dantes schwere Sprache, so sich ein Dichter, unterstützt von den Hilfsmitteln der Philologie, auch ein Stück Griechisch eroberte, groß genug für seine Aufgabe. Vieles in Rudolf Alexander Schroeders Odyssee ist stark und schön, einheitlich durchflutet sie ein [299] wundervoller Rhythmus; wenn dennoch der Hörer oft in ganz andere Bereiche des Menschentums und der Dichtung abgedrängt wird (so durch die Wiedergabe bestimmter Epitheta in die Sphäre der mittelalterlichen ritterlichen Epik), wenn im ganzen auch hier die Sonne Homers nur dem leuchtet, der hinter den deutschen Versen das Griechische mithört, so liegt das gewiß nicht daran, daß der Nachdichter der Sprache seines Originals nicht genügend mächtig gewesen wäre. Wollte man von der Überwindung dieser sozusagen technischen Schwierigkeit das Gelingen der hier geforderten Leistung abhängig machen, so wäre damit das eigentümliche Problem der Unübersetzbarkeit antiker Dichtungen noch gar nicht bezeichnet. Es hilft nichts die Augen zu verschließen vor der ehernen Fessel die uns hier bindet. Ein moderner Mensch, und sei er der formengewaltigste Meister seiner Sprache, zugleich der vertrauteste Kenner des Griechischen – er käme doch nie und nimmer dem Ziele nahe, den Homer, ein attisches Drama, ein Stück Platon so nachzuschaffen, daß die Übertragung ihr eigenes freies Leben hätte und zugleich das Verständnis widerspiegelte, das nicht einmal ein idealer Leser, sondern auch nur wir kurzsichtigen Nachgeborenen aus dem Original gewinnen. Denn das Leben, das in den antiken Sprachen seinen Ausdruck gefunden hat, ist in entscheidenden Momenten, ja gerade in seinen elementaren Bedingungen dem gesamten Bereich des modernen Menschen unwiederbringlich entrückt. (Das gilt ganz stark auch vom römischen Wesen, so daß denn charakteristisch Lateinisches womöglich noch unübersetzbarer bleibt als Griechisches.) Komplizierend hinzu tritt das besondere Verhältnis von Tradition und Neugestaltung innerhalb der Literatur, wo uraltes, nicht selten bereits undurchsichtig gewordenes Sprachgut in langer Kunstübung immer noch mitgeführt oder von neuem aufgenommen wird, oft mehr um seines ehrwürdig feierlichen Schimmers willen denn als Ausdruck eines spontanen Erlebens. Im ganzen können wir, wenn wir der fremden Rede unermüdlich nachgehen, allmählich ein Gefühl für ihr besonderes Meinen in uns ausbilden, können die Er-[300]lebnisse, die dahinter liegen, durch Analogieschlüsse ausfinden oder, auf einer höheren Stufe, intuitiv erfassen; eine neue Form dafür gewinnen, sie nochmals aussprechen können wir nicht. Denn die Einfühlungsfähigkeit des Menschen umfaßt einen viel weiteren Bezirk als sein Vermögen sprachlicher Reproduktion: jene erreicht es, in einer Erhöhung der wundersamen Kraft, die überhaupt erst einen geistigen Verkehr von Mensch zu Mensch möglich macht, sich auch einem ganz fremden Sein zu nähern, dieses ist unentrinnbar eingeschlossen in den Kreis von Erlebnissen, die dem eigenen Volk zuteil geworden sind, deren Ausdruck es in seiner und seiner Dichter Sprachgestaltung gegeben hat. Es sei gestattet das an einem Beispiel zu verdeutlichen, das ich absichtlich einem räumlich
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und gedanklich engen Zusammenhang entnehme: Aischylos Agamemnon 217 … ἐπιθυμεῖν θέμις, Wilamowitz: „wär es denn Sünde, zu folgen?“ – 223 πρωτοπήμων „Zum Bösen ist’s der erste Schritt“ und am bezeichnendsten 182 δαιμόνων δέ που χάρις βιαίως σέλμα σεμνὸν ἡμένων. „Gott lenkt das Weltenregiment gewaltsam, doch Gott ist gütig.“ – „Die Sünde“, „das Böse“, der Spruch wie aus dem Munde des Psalmisten: all das trägt den Leser weit weg von Aischylos und von Athen. Und wenn es heißt: „Von Sorgen und von Sinnen und Zweifeln löst das Herze mir Zeus allein“, so klingt vernehmlich die Demut des Kirchenliedes da an, wo das Original in bedeutsamer Aktivität gehalten ist. Solche griechenfernen Stellen begegnen allerwärts innerhalb des großgedachten, zur Höhe strebenden Wilamowitzschen Versuches die griechische Tragödie in weitem Umfange unserer Literatur zu gewinnen. Es reicht nicht aus in diesen Gegentönen immer nur den Ausdruck bestimmter, zum Teil unbewußter seelischer Bindungen des Nachdichters zu sehen; dem steht entgegen, daß in seinen philologischen Erklärungen und in den herrlichen Einleitungen zu den Übersetzungen ein viel reineres Verhältnis zu der Welt der Originale, auch gerade zur Religiosität des Aischylos, sich zeigt. Mag immerhin ein einzelner heute, verborgenen Stimmen seines Blutes folgend, Tönen protestantischer [301] Frömmigkeit leichter verfallen; auf uns alle wirkt – und darauf kommt es in diesem Zusammenhange an – der Zwang, in der Gestaltung erhabener religiöser Rede irgendwie auf das Stärkste zurückzugreifen das uns die eigene Sprache in dieser Sphäre darbietet, also auf Luthers Deutsch des Alten und des Neuen Testaments und auf all das was von dort her, vielfach gebrochen, kommt; damit gerät ein von unserem Volke rezipiertes Stück jüdischer oder christlicher Welt in unsere Neugestaltungen hinein, ist eine Verfälschung des Hellenischen notwendig gegeben. (Das merkwürdigste Beispiel für die Gewalt des großen Musters religiöser Rede ist vielleicht Nietzsches Zarathustra.) So wie hier ist es auf allen seelischen Gebieten, immer sind wir in der sprachlichen Formung von modernen, von deutschen Erlebnissen, Vorstellungen, literarischen Gestaltungen abhängig und in deren Grenzen gebannt. So müssen wir gerade an den entscheidenden Stellen Duft und Farbe des Originals opfern; die Atmosphäre die es umgibt können wir in unsere Nachbildung nicht mit aufnehmen. Was übrig bleibt, sind Abstraktionen aus dem fremden Leben, nicht dieses Leben selbst. Aber auch abgesehen von dieser sprachlichen Gebundenheit ist jede Übersetzung in einem noch viel tieferen Sinne durch die geistige Lage des Nachschaffenden bedingt und kann nur für ihn und seinen nächsten Kreis Geltung haben. Die Aneignung eines Werkes der Vergangenheit geht niemals als ein einfaches und vollständiges Abbilden vor sich, gleich als könnte man an den Gegenstand ganz nah herantreten und ihn von allen Seiten abtasten um zu erkennen wie er eigentlich beschaffen sei. Immer liegt zwischen ihm und uns die umfärbende Luft weiter Räume, ist er uns gegeben nur in den optischen Bedingtheiten unseres inneren Sehvermögens. Unser Aufnehmen ist zugleich ein Neugestalten, Werten, Auswählen. Jede Generation entdeckt neue Züge, läßt andere weg, hält ganz Bestimmtes für wesentlich, jede setzt sich zugleich irgendwie mit dem Bilde ihrer Vorgänger auseinander. Es ist nicht ein Weiterdichten schlechthin wie am Mythos, immer hat das ja wirklich vorhandene ferne Gebilde an [302] seinem Abbild teil, in eigentümlicher Wechselbeziehung zu den besonderen Lebenskräften der
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Nachgeborenen, denen es seine Umgestaltung dankt und auf die es doch wiederum, ihren Bereich erweiternd, als eine schöpferische Macht von außen her einwirkt. Diese Bedingtheit jedes geschichtlichen Erfassens hat in einem begrenzten Zusammenhange Jakob Burckhardt angedeutet: „Die Quellen aber, zumal solche, die von großen Männern herrühren, sind unerschöpflich, so daß jeder die tausendmal ausgebeuteten Bücher wieder lesen muß, weil sie jedem Leser und jedem Jahrhundert ein besonderes Antlitz weisen und auch jeder Altersstufe des einzelnen. Es kann sein, daß im Thukydides z. B. eine Tatsache ersten Ranges liegt, die erst in hundert Jahren jemand bemerken wird. – Vollends ändert sich das Bild, welches vergangene Kunst und Poesie erwecken, unaufhörlich. Sophokles könnte auf die welche jetzt geboren werden schon wesentlich anders wirken als auf uns.“ Da gilt es mutig zu resignieren; die Hoffnung man könnte etwa von einer attischen Dichtung des 5. Jahrhunderts eine Übersetzung geben, die uns heute mindestens so verständlich sei wie den Athenern das Original war, ist ein Trugbild. Jederzeit unterliegt das Nachgestalten fremder Kunstwerke in sehr wesentlichen Stücken den gleichen Gesetzen der Stilisierung wie die freie Produktion der Epoche: Tischbeins Zeichnungen nach griechischen Vasenbildern, bei denen er sicherlich größte Treue erstrebte, muten uns heute an als ein Ausdruck der zeichnerischen Gesinnung der Empirezeit. Wie im gleichen Sinne selbst Schlegels Shakespeareübersetzung deutliche Spuren „eines vom Shakespearischen verschiedenen Lebenswillens“ trägt, wie sie, unter dem Zwange eines bestimmten Schönheitsideals, abrundet, glättet, verhüllt, das hat Gundolf wundervoll dargestellt. Unsere Gegenwart hat es in der Selbstentäußerung zugunsten dessen, was man geschichtliches Verständnis zu nennen sich gewöhnt hat, weiter gebracht als irgendeine Zeit vor ihr, tausendfach gebrochen ist ihr stilistisches Wollen; dennoch wird man einmal auch in den liebevollsten Nachzeichnungen unserer Vasenpublikationen, wird man, [303] noch weit mehr in jedem unserer Übersetzungsversuche das geheime Siegel ihrer Entstehungszeit zu finden wissen. Setzen wir eine Wiedergabe an die Stelle des Originals, so geben wir eine Deutung statt des zu Deutenden, einen Teil statt einer Totalität, und unterbinden so den Blutstrom schöpferischer Kräfte, der nur aus dem frei gestalteten Stück Leben, dem Kunstwerke selber, in die Adern aller kommenden Geschlechter rinnt. Das wäre tödlich, nicht für das wissenschaftliche Erkennen nur, sondern gerade für das Erlebnis des Humanismus, dessen Wesen Aktivität ist, immer erneutes Ringen mit dem lebendigen Leibe des fernen großen Seins. Verstümmelung ist jede Übersetzung; die eines alten griechischen Gedichtes muß es in einem so zentralen Punkte sein, wie das gegenüber keinem späteren Stücke europäischer Literatur der Fall ist. Man hat, gerade auch im Hinblick auf die Wiedergabe griechischer Poesie, gesagt, jede rechte Übersetzung sei Travestie, wo das Kleid neu werde, der Inhalt bleibe; sie sei Metempsychose: es bleibe die Seele, aber sie wechsele den Leib. Hier müssen wir an ein Besonderstes der Griechenkunst rühren, nur von ferne andeutend, was einer Klärung durch eindringendes Betrachten gar sehr bedarf. Alle nachhellenische abendländische Poesie (ja weithin die der Griechen selbst, zum Teil schon früh) hat gerade den Gattungen, die ihr die vornehmsten waren, Formen gegeben, die, auf welchen Wegen auch immer, irgendwie von altgriechischen herkommen, sie weiterführen und umbilden. Die hellenischen Bildner aber schufen das
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Epos und das Drama, die Elegie, die hohe Lyrik und den philosophischen Dialog als eine Einheit von Form und Gehalt; und wie dem Baume Mark und Rinde zugleich wächst, so stieg hier ein untrennbares Ganzes sich wechselseitig bedingender Kräfte ans Licht bis dahin wo ein jedes „seine eigene Natur erlangt hatte“. Gewiß entsteht zu allen Zeiten jedem wahren Dichter die Form immer aufs neue: er schmilzt sie um im Feuer des eigenen Lebensprozesses. Aber für Dante stand doch das Epos, für Shakespeare das Drama bereits da als ein Festes, das in sehr wesentlichen Stücken die [304] Spuren einer fernen Entstehung trug (man denke etwa, um nur eines zu nennen, an die Gleichnisse im Epos, den Monolog im Drama). In der klassischen Zeit der griechischen Poesie stand jeder Dichter, auch der eigenwilligste oder entfernteste, auch Euripides oder Menander noch, den gesamten seelischen Bedingungen, aus denen mit seiner Kunstgattung auch ihre Form erwachsen war, unendlich viel näher; weit mehr als irgendeinem nachantiken Menschen mußte ihm die Form als etwas Notwendiges, mit nichts anderem zu Vertauschendes erscheinen. Bei Archilochos und Aischylos, bei Sappho und Aristophanes, bei allen den Hellenen, die γόνιμοι ποιηταί sind, von Hülle und Inhalt sprechen ist unzulänglich, so unzulänglich wie von Leib und Seele vor dem echten griechischen Eros. Glaubt man, eine attische Tragödie sei in einer solchen Stufenfolge entstanden wie die Aeneis oder Schillers Demetrius? So wie nie wieder auf Erden schafft hier die mit allen Organen bildende ungeteilte Seele des Künstlers ein ungeteiltes Lebendiges: Handlung und Aufbau und religiöse Stimmung und Versmaß und Tanz und Musik, alles ist eine Geburt. Diese Kunst „hat weder Kern noch Schale, alles ist sie mit einem Male“. Der Kunstwille der Zeitgenossen richtete sich mühelos und naturhaft auf diese Einheit; das was uns als „Formales“ erscheint, war ihnen eine Funktion und ein Ausdruck der gesamten Lebenskraft, also auch des „Seelischen“, darum so wichtig; Aristophanes’ Frösche zeugen vernehmlich davon. Eine bestimmte sprachliche Stilisierung des Ganzen wie seiner einzelnen Teile war für die Konzeption primär gegeben. Wie den verschiedenen Gattungen der Literatur so fielen auch in einem einzelnen Drama den lyrischen und den Dialogpartien nicht nur eigentümliche seelische Sphären, sondern auch gesonderte Sprachgestaltung zu (bis in die Dialektform und die Prosodie hinein), wobei nicht eines das andere bedingte, sondern beides miteinander ging. Nie wieder war die Form so streng, weil sie nie wieder so wenig Hülle war; so ist eine Übersetzung, wenn sie denn „Metempsychose“ sein muß, nirgends so ohnmächtig wie angesichts solcher Schöpfungen. Die Abstraktion [305] einer analysierenden, nur noch unter dem Bilde von Gegensatzpaaren sich anschauenden Menschheit tragen wir in eine unerhört einige Welt hinein, wenn wir auch dort Leib und Seele finden; erlösen von dem Fluche – für die Kunst ist es ein Fluch – dieses Dualismus können uns nur eben die größten griechischen Werke, wofern wir der Totalität zustreben in der sie einst gegeben waren. Sie erreichen können wir niemals, immer fehlt ein Wesentliches an Bewegung, Klang, Zusammenfassen. Zerreißen wir auch das noch, was uns geblieben ist, so rauben wir den Resten gerade den einen Wert, den die Götter bisher nur den Hellenen gegönnt haben. Das aber ist das Verhängnis aller Übersetzungen; der Sehnsucht, die wir Humanismus nennen, können sie nimmermehr Genüge tun. Ich habe versucht einiges anzudeuten, was Sprache und Werk der Griechen und Römer dem zu leisten vermögen, der aus einer tiefen Not sich ihnen zukehrt. Nur des
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Ringenden gedachten wir bisher, der jene großen Geister nicht läßt, sie segneten ihn denn mit der ganzen Fülle ihrer unsterblichen Lebenskraft. Aber nicht ihm allein stehen die Tempel der Alten offen. Auch wer nur die Vorhallen betreten darf fühlt sich erhoben und beglückt. Auch die Aufnahme der Stoffe antiker Literatur und eines Teiles ihres Gehaltes vermag Starkes zu wirken. Das bedarf keiner Einzelausführung. Stets wird eine ehrlich unternommene Übersetzung auch für das Bild des Originals wertvoll sein als ein Versuch dessen Geheimnisse nachgestaltend, also in stärkster Anspannung aller Kräfte, aufs neue zu deuten. Das Leben aber unseres deutschen Humanismus hängt daran, daß abseits der Gelehrtenzunft immer noch Menschen unter uns leben, die den Weg zu den Originalen zu finden wissen. Ihnen den offen zu halten, soll eine Art unseres Jugendunterrichtes als Pflicht ansehen. Erst diese Menschen werden auch von Übersetzungen den rechten Gebrauch machen können, als von Interpreten dessen was sie zugleich in der Ursprache lesen, als Brücken zu Entfernterem, denn derjenige, der eine Sprache wirklich kennt, vermag [306] auch der Wiedergabe eines ihm unbekannten Originals etwas von dem echten Ton zu entnehmen. Daß es möglich ist, einen Teil unserer Jugend in ernster Arbeit einer ersten leidenschaftlichen Begegnung mit den großen Schöpfungen der Griechen und Römer entgegen zu führen, wissen andere und weiß ich. Auch daß hier in vielem eine Erneuerung von Grund auf not tut. Das Urteil über die Mittel, die da anzuwenden sind, steht Erfahreneren zu; man gebe nur den rechten Kämpfern auf diesem Felde Raum sich zu regen. Ihre tiefste Kraft kann auch diese Jugendbildung nur aus dem Grunderlebnis des Humanismus ziehen, der ehrfürchigen Versenkung in die Sprachen und in die Werke des in Wahrheit klassischen Altertums, nicht zu leerem Staunen und nicht zu müßigem Genuß, sondern zu neuem Gestalten des Lebens und der Kunst. Eine gewaltige Sehnsucht wollen wir wecken nach Menschenwürde, nach Einheit im Sein und Handeln, im Singen und Formen, flammenden Haß entzünden gegen die Barbarei, die uns umgibt, die alles Heilige zu schänden droht. „Das Beste, was wir von der Geschichte haben, ist der Enthusiasmus den sie erregt“, sagt ein vielberufenes Goethewort. Den nächsten Spruch pflegt man fortzulassen, der doch dazu gehört, „Eigentümlichkeit ruft Eigentümlichkeit hervor“. Auf diese fortzeugende Wirkung kommt es uns an. Das Eigentümlichste, die Kraft der in keine Nachbildung zu bannenden Urschöpfungen brauchen wir, damit uns das einst Geschaffene zu neuem Schaffen führe. Wir wollen nicht, daß der Geist bei uns zugrunde gehe. In leidenschaftlichem Vorwärtsstreben blicken wir auf die großen Gestalten Griechenlands und Roms. Je stärker wir selber kämpfen, um so größer ist unser Anspruch auf die Hilfe jener Ahnengeister. „Nur aus der höchsten Kraft der Gegenwart dürft ihr das Vergangene deuten.“
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1848–1931), bedeutendster Repräsentant der Klassischen Philologie im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, hatte nach dem Besuch von Schulpforta Klassische Philologie in Bonn (bei Jahn und Usener) und in Berlin (bei Haupt) studiert. Nach Promotion und Habilitation wurde er auf Ordinariate in Greifswald und Göttingen und 1897 an die Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität berufen. Zu seiner Lehrtätigkeit gehörten auch regelmäßig abgehaltene öffentliche Vorlesungen. Im gleichen Zusammenhang sind seine Übersetzungen griechischer Tragödien zu sehen, die zwischen 1899 und 1923 in vier Bänden publiziert wurden und in der Folgezeit zahlreiche Neuauflagen erlebten. Zwischen 1900 und 1910 wurden einige der Übersetzungen auch für Theaterinszenierungen (vor allem in Berlin und Wien) herangezogen. Zu seiner Übersetzungskonzeption äußerte Wilamowitz sich ausführlich in der Einleitung zu seiner bereits 1891 separat erschienenen zweisprachigen Ausgabe des Euripideischen Hippolytos. Diese Einleitung wurde später unter dem Titel Was ist übersetzen? in überarbeiteter Form in den Band Reden und Vorträge aufgenommen. Der Text weist in der Abfolge der verschiedenen Auflagen der Reden und Vorträge (1901, 1902, 1913, 1925/26 [nunmehr in zwei Bänden]) geringfügige Abweichungen auf. Textgrundlage des vorliegenden Nachdrucks bildet die vierte umgearbeitete Auflage von 1925/26. Ein kurzer, im wesentlichen die Argumente der früheren Abhandlung bündelnder Aufsatz mit dem Titel Die Kunst der Übersetzung erschien 1924 in dem Jahrbuch des Propyläenverlages Der Spiegel (jetzt in: Kleine Schriften Bd. 4, Berlin/Amsterdam 1972, 154–157). Weitere Aussagen zum Übersetzen finden sich in den Vorworten zu den Tragödienübersetzungen sowie in dem Werk Griechische Verskunst von 1921. Für Wilamowitz ist es allein der Philologe, der griechische Dichtung übersetzen kann. In der Übersetzung dokumentiere er sein auf dem Wege historisch-kritischer Forschung erworbenes Verständnis des Originaltextes; auf diese Weise könne die interessierte Öffentlichkeit an seinen Forschungsergebnissen partizipieren. Andererseits postuliert (und verwirklicht) Wilamowitz eine Form der Übersetzung, bei der es vor allem auf Wirkungsäquivalenz und Verlebendigung der Antike ankommt. Konsequenz ist, dass griechischer Text und deutsche Übersetzung oft weit voneinander entfernt erscheinen (woraus ein Spannungsverhältnis zu dem proklamierten philologischen Anspruch erwächst). Auch in metrischer Hinsicht plädiert Wilamowitz für Entfernung vom griechischen Original und die Verwendung von Versmaßen, die in der deutschen Literatur (besonders bei Goethe und Schiller) etabliert sind.
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Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff
Was ist übersetzen?1 Aus: Reden und Vorträge Bd. 1, 4. umgearb. Aufl., Berlin 1925, 1–36.
Die Übersetzung eines griechischen Gedichtes kann nur ein Philologe machen. Wohlmeinende Dilettanten versuchen es immer wieder, aber bei unzureichender Sprachkenntnis kann nur Unzureichendes herauskommen. Aber etwas Philologisches ist die Übersetzung darum doch nicht. Sie ist zuerst ein Ergebnis philologischer Arbeit, aber ein weder beabsichtigtes noch vorhergesehenes. Der Philologe, der sich pflichtmäßig mit aller Kraft daranmacht, das vollkommene Verständnis eines Gedichtes zu erreichen, wird unwillkürlich dazu getrieben, sein Verständnis auszusprechen, und wenn er zu sagen versucht, was der alte Dichter gesagt hat, so versucht er das in seiner eigenen Sprache, er übersetzt. So habe ich es erfahren. Dieselbe Erfahrung machen viele meiner Fachgenossen, und das geschieht nicht bloß an Dichtern von originaler Größe, sondern an vielen Schriftwerken, die wir erklären, vorausgesetzt, daß diese Werke einen festen Stil haben. Wir Philologen, die trocknen Schleicher, die am Buchstaben haften und grammatischen Haarspaltereien nachhängen, haben nun einmal auch die Verkehrtheit, daß wir mit ganzem Herzen die Ideale lieben, denen wir dienen. Diener sind wir freilich, [2] aber Diener unsterblicher Geister, denen wir den sterblichen Mund leihen: was Wunder, daß unsere Herren stärker sind als wir? Von solchen Versuchen bis zur Vollendung einer Übersetzung, die sich sehen lassen darf, ist freilich noch ein weiter Weg. Denn mit den Inspirationen des Moments ist es nicht abgetan; lange, besonnene Verstandesarbeit muß dazu treten, damit etwas Brauchbares herauskommt. Das ist dann nicht mehr Philologie, nicht mehr unser Handwerk. Wir können unsere Philologie dabei nicht entbehren, aber sie reicht nicht allein hin. Aber ich meine, das darf uns nicht abhalten. Nur wenn wir Philologen sie machen, können Übersetzungen der hellenischen Poesie, die existenzberechtigt sind, entstehen. Und daß den Deutschen die hellenische Poesie in solchen Übersetzungen dargeboten wird, ist nur eines der Mittel, die not tun, um dem sittlichen und geistigen Verfalle zu steuern, dem unser Volk immer rascher entgegen geht;2 es ist vielleicht nur ein schwaches Mittel, aber wir Philologen verfügen allein darüber: wir müssen das Unsere tun als Deutsche. Die Leute wollen von uns ja wenig wissen; das ist ihre Sache und beruht für viele auf Gegenseitigkeit. Aber sie wollen auch von den Idealen nichts wissen, denen wir doch deshalb unser Leben gewidmet haben, weil wir an sie glauben. Das kann uns nicht gleichgültig sein. Keineswegs wegen unserer Ideale; die sind ja göttlich und haben bewiesen, daß irdische Macht ihnen nichts anhaben kann, geschweige das wüste Geschrei des modernen Bildungspöbels. Aber wohl ist es traurig, wenn man sieht, daß das eigene Vaterland sich von dem Ideal abwendet, nicht bloß dem hellenischen, sondern überhaupt dem Ideal. Gold, Sinnengenuß, Ehren, das sind die Götter, an die sie glau_____________ 1 2
Vorwort meiner größeren Ausgabe des Hippolytos von Euripides, der die deutsche Übersetzung beigegeben ist. Berlin 1891. Ich habe viel geändert und zugefügt. Das ist 1891 geschrieben; leider habe ich unsere Zukunft richtig beurteilt.
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ben; [3] der Rest ist Phrase. Davon abzukehren, keineswegs bloß ästhetisch und intellektuell, sondern sittlich, ist das Hellenentum, oder vielmehr seine Seele, die nicht mit dem Leibe des Volkes gestorben ist noch sterben wird, sehr wohl imstande. Dazu bedürfen wir seiner: ich weiß nicht vieles, was das ebensogut könnte. Der echte Goethe, und alles was mit diesem Worte gesagt ist, kann es gewiß, und für viele besser; aber um den zu verstehen, ich meine nicht im Sinne der Goethephilologen, sondern so, daß wir seine Weisheit als eine Leuchte für unser Denken und Handeln annehmen können, brauchen wir das Hellenentum erst recht, weil es eine Voraussetzung für diese Weisheit ist. Das, was die Seele des Christentums ist, ist gewiß auch dazu imstande, und für viele besser. Aber auch das verträgt sich mit dem Hellenentume, sintemal dieses eine der Wurzeln des Christentums ist. Aber so lange die Kirchen statt des Brotes der Lehre Jesu die Steine des Katechismus und das Holz der Kernlieder schon den Kindern reichen, ist der Erfolg nur zu oft die Ertötung des dem Menschen eingeborenen Strebens nach dem Ideale, das jedes Symbol, aber keinerlei Unwahrheit erträgt. Vielleicht wird das besser werden, wenn die Wissenschaften, die, welche dem Hellenentume dient, und die, welche dem Christentume dient, erst begriffen haben, daß sie zueinander gehören, weil die Objekte ihrer Forschungen und die Methode ihrer Forschung dieselben sind, wahrer gesprochen, weil sie demselben Herrn in derselben Weise dienen sollen. Einigermaßen wenigstens wird es klar sein, wie ich es meine, daß das Hellenentum uns unentbehrlich ist und bleiben wird. Wenn ich das glaube, wie sollte ich nicht die Pflicht anerkennen, das Meine zu tun, um den Weg zu diesem Ideale zu öffnen? Aber wie das anfangen? Soll ich es anpreisen, damit hausieren gehn, soll ich ‚die Wissenschaft popularisieren‘, wie die Naturwissenschaftler gemeinen Schlages? Das sei ferne. Die ernsten Männer [4] dieser gleichberechtigten Forschungen denken und handeln natürlich so, wie es jeder tun muß, der weiß, was Wissenschaft ist: Sache der Arbeit, Sache der Männer, an der Anteil nur nehmen kann, wer selbst an der Arbeit teilhat. Das Ideal sollen die Menschen mit dem eigenen Herzen aufnehmen, sie sollen daran glauben und danach leben: dazu müssen sie es selbst sehen, selbst sich zu eigen machen. Etwas darüber zu hören, eine flüchtige Neugier damit befriedigen, ein paar tote Notizen im Gedächtnis behalten, das nützt zu gar nichts. Die Philologie für die Philologen; das Hellenentum, das, was darin unsterblich ist, für jedermann, der kommen, sehen, erfassen will. Nicht mit einem zweiten Aufguß unserer wissenschaftlichen Arbeit das Publikum tränken, nicht das saure Heu der allgemeinen Bildung in den Raufen seiner geliebten Monatsschriften vermehren, nicht bei den Journalisten unter den Strich kriechen, um wie sie durch fertige Urteile und bequeme Schlagworte das eigene Denken der Menschen in Fesseln zu schlagen; aber wohl das Ideal selbst denen, die es suchen, zugänglich machen, es vor sie hinstellen und allenfalls ihnen zeigen, wie man es ansehen, worauf man achten soll: das ist’s, was wir Philologen, wie ich meine, tun sollen. Damit geben wir unserem Volke das Beste, was wir haben: das ist gerade gut genug; und wir geben, was nur der hat, der das hellenische Volk, seine Sprache und seine Art wirklich verstanden hat. Daran haben wir unser Leben dahin gegeben, und um Geringeres ist es auch nicht feil. Wer aber einen solchen Besitz erworben hat, der soll davon mitteilen an jeden, der danach begehrt. Noblesse oblige. In dem Sinne bringe ich meine Übersetzungen vor das Publikum.
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Die griechische Poesie der großen Zeit ist zu ihrer Zeit volkstümlich gewesen, sie ist also eigentlich nicht schwer. Aber der moderne Mensch bedarf doch umfassender und tiefgehender Studien, um ein selbständiges Verständnis von ihr [5] zu gewinnen. Denn er muß durch Arbeit die Voraussetzungen zurückgewinnen, welche durch Raum und Zeit dem Dichter gegeben waren. Außerdem ist sowohl die Sprache wie die Verskunst der Dichter nicht ohne weiteres die ihres Volkes, sondern das Erzeugnis einer sehr langen Stilentwicklung, die also nur durch geschichtliche Arbeit recht verstanden wird. Aber von all dem abgesehen, was immer bleiben wird, ist die Philologie noch längst nicht zu reinlichen und allseits gesicherten Ergebnissen über die Sprache, die Verskunst, den Text fast aller griechischen Dichter gelangt. Ist doch das intensive Studium des Hellenentums wenig mehr als hundert Jahre alt, und sind der wirklich berufenen Bearbeiter aller Zeiten sehr wenige gewesen, auch durch die Vordringlichkeit der unberufenen Masse, die sich in guter und schlechter Absicht an die Dichtungen heranmacht, vielfach gehindert worden. Wenn man sich also auch einen Zustand denken kann, in welchem die Philologie ihr Vermittlergeschäft so weit gefördert hätte, daß an ihrer Hand jeder zu selbständigem und lebendigem Verständnisse der Gedichte durchdringen könnte, so ist dieser Zustand doch gegenwärtig noch fern, und es kann für einen Urteilsfähigen keinem Zweifel unterliegen, daß nur der Philologe übersetzen kann; wobei man nicht vergesse, daß der Besitz einer Lehrbefähigung für die oberen Klassen oder eine Professur der Philologie nicht zum Philologen macht. Der Professor sollte allerdings einer sein, der Lehrer braucht es nicht mehr zu sein als nötig ist, um das Ideal des Hellenentums zu predigen. Der Beruf in seiner Seele, den er aus freier Liebe durch wissenschaftliche Arbeit erfüllt, nicht die Berufung zu einem Lehramt macht den Philologen. Ein großer Gelehrter, ein Mann, der mit intuitiver Kraft den hellenischen Geist so richtig verstand wie wenige und zugleich ein großes Formtalent besaß, Johann Gustav Droysen, [6] hat den Aristophanes so übersetzt, daß man ihm meist mit wahrer Wonne folgt. Und doch fallen die meisten Lieder ganz ab, weil Droysen sich mit der Metrik nicht zu helfen wußte, und die Mißverständnisse des Textes sind weder wenig noch klein. Auch für Aischylos besaß Droysen, wenn einer, das poetische und geschichtliche Verständnis; aber hier ist der Text so schwer und so verdorben, daß die Übersetzung mißlungen ist, weil Droysen nicht die philologische Arbeit daran gewandt hat, sich den Text selbst zu machen. Auch bemerkt man leicht, daß er sich vom Schlendrian, das heißt hier von der wörtlichen Treue und von den Versmaßen der Urschrift, um so weiter entfernt, je sicherer er des Verständnisses ist, je mehr er wagen kann, des Dichters Gedanken, Empfindungen, Stimmungen frei aus sich zu geben, weil er sie ganz in sich aufgenommen hat.3 Das ist übersetzen; nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es ist kein freies Dichten (ποιεῖν); das dürften wir nicht, gesetzt, wir könnten es. Aber der Geist des Dichters muß über uns kommen und mit unseren Worten reden. Die neuen Verse sollen auf ihre _____________ 3
Lichtenberg, Vermischte Schriften I 324. „Ist es nicht sonderbar, daß eine wörtliche Übersetzung fast immer eine schlechte ist? Und doch läßt sich alles gut übersetzen. Man sieht hieraus, wieviel es sagen will eine Sprache ganz verstehen. Es heißt das Volk ganz kennen, das sie spricht.“
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Leser dieselbe Wirkung tun wie die alten zu ihrer Zeit auf ihr Volk und heute noch auf die, welche sich die nötige Mühe philologischer Arbeit gegeben haben. So hoch geht die Forderung. Wir wissen wohl, wie wenig wir sie erfüllen; aber auf Erden wird überhaupt das Mögliche nur geleistet, wenn das Unmögliche gefordert wird, und man muß das Ziel kennen, damit man den Weg findet. Das Publikum denkt freilich anders. Übersetzen muß ein Kinderspiel sein, die Kinder tun es ja. Um die Leistungen der Schule tiefer zu drücken, ist die Übersetzung aus dem [7] Griechischen an die Stelle der Übersetzung ins Griechische im Abiturientenexamen getreten. Wer Proben dieser Leistungen gesehen hat und die Erfolge der Maßregel beurteilen kann, weiß, daß von den Schülern auf dem Papier zu viel verlangt ist, damit sie ungestraft zu wenig leisten könnten. Manche geprüfte Lehrerin und manch ungeprüftes ebensoviel oder wenig sprachkundiges Mädchen, die sich in ehrlichem Kampfe um das liebe Brot abmüht, daß es einen Stein erbarmen könnte, erhält vom Verleger ein Spottgeld mit der Begründung ‚das sind Übersetzungen: die kann jeder liefern‘. Allerdings sind sie oft danach; aber das Publikum ist mit ihnen zufrieden. Mit Grammatik und Lexikon muß es gehen, denken sie, und wer die Vokabeln kann oder eine 2 in seinem Abgangszeugnis für die betreffende Sprache hat, kommt auch ohne Grammatik aus. Moriz Haupt begann mein Doktorexamen damit, daß er mich, den er persönlich gar nicht kannte, eine lange Reihe von Versen des Lucretius lesen ließ. Dann sagte er, als ich anfangen wollte zu übersetzen: ‚es ist gut. Verstehen tun wir’s beide, und übersetzen können wir’s beide nicht‘. Er pflegte auch im Kolleg nicht zu übersetzen, es sei denn ins Lateinische, streute aber Bemerkungen ein, wie zu den Worten des zürnenden Achilleus über Briseis ἐπεί μ’ἀφέλεσθέ γε δόντες: ‚das übersetze mal einer, das Partizip, und das γε. Keine Sprache kann das‘. Er hatte recht im einzelnen, aber im ganzen hatte er nicht recht. Es war ein gutes Teil seines Verständnisses, das er zurückbehielt, weil er nicht wie unvollkommen auch immer übersetzte. Und wenn wir den einen Ausdruck nicht wiedergeben können (in Wahrheit können wir ein einzelnes Wort fast nie übersetzen, weil abgesehen von technischen Wörtern niemals zwei Wörter zweier Sprachen sich in der Bedeutung decken),4 so kann man doch [8] auch im Deutschen einen verhaltenen Vorwurf, der darum nur tiefer verwundet, zum Ausdruck bringen, kann also den Gedanken nicht nur, sondern auch das Ethos der Rede wiedergeben. Es gilt auch hier, den Buchstaben verachten und dem Geiste folgen, nicht Wörter noch Sätze übersetzen, sondern Gedanken und Gefühle aufnehmen und wiedergeben. Das Kleid muß neu werden, sein Inhalt bleiben. Jede rechte Übersetzung ist Travestie. Noch _____________ 4
Darin liegt die Täuschung der Etymologie. Die lautliche oder wurzelhafte Identität zweier Wörter besagt für ihre Bedeutung zunächst gar [8] nichts. Wie lächerlich machen wir uns durch Latinismen und Gallicismen, wenn wir italienisch reden; wie täuschend sind die Bedeutungen, die wir in das Holländische hineintragen. Wenn man dann alles besondere abzieht und den Rest der Ursprache zuschreibt, als der gemeinsamen Wurzel aller Bedeutungen, so bleibt etwas so Blasses und Abstraktes übrig, daß man es den primitiven Menschen am wenigsten zutrauen kann. Wir können diese Urbedeutungen nicht entbehren, aber sie haben so wenig historische Realität wie das ganze Urvolk. Jede Wissenschaft bedarf solcher Fiktionen, keineswegs bloß die Rechtswissenschaft, aber sie soll sie als solche anerkennen.
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schärfer gesprochen, es bleibt die Seele, aber sie wechselt den Leib: die wahre Übersetzung ist Metempsychose. Es soll im Deutschen vortreffliche Übersetzungen der Griechen geben; so sagt man. Es ist eine gedankenlos oder böswillig nachgesprochene Unwahrheit. Wenn das die Feinde unserer Kultur sagen und damit begründen, daß man Griechisch nicht zu lernen brauchte, so ist das begreiflich. Sie erreichen so ihr Ziel: nichts ist geeigneter die Originale zu verekeln als die Übersetzungen. Aber ernsthafte Männer sollten sich schämen, so der Wahrheit ins Gesicht zu schlagen. Schleiermachern verdanken wir es, daß wir den wirklichen Platon wieder verstehen; aber ist etwa seine Übersetzung lesbar? liest sie jemand? Was hat den ehrlichen Menschen die attische Tragödie mehr verekelt als die Hobelbank Donners? es sei denn die Art, wie diese Übersetzungen auf der Bühne gespielt werden. Dichter von Beruf drechseln ihre Verse nicht auf der Hobelbank, aber Mörike und Geibel taufen den griechischen Wein mit ihrem Zuckerwasser, und [9] Wilbrandt beabsichtigt vielleicht mehr, jedenfalls etwas anderes zu liefern, als eine Übersetzung des Oedipus und des Kyklops. Aber wir haben ja unseren Johann Heinrich Voß, den Schöpfer der ‚saumnachschleppenden Weiber‘, des ‚helmumflatterten Hektor‘, des ‚hurtig mit Donnergepolter entrollenden Felsblocks‘.5 Es ist nicht wenig, was der Eutiner6 erreicht hat, er hat einen Stil geschaffen, mit dem der Deutsche wohl oder übel den Begriff homerisch verbindet, obwohl Trivialität und Bombast seine Hauptkennzeichen sind, Fehler, in die nur die geringsten Homeriden verfallen. Wir können diesen Stil nicht los werden, weil Hermann und Dorothea die vossische Ilias am Leben erhält, obgleich der falsche homerische Rock die Wirkung des einzigen Gedichtes so stark beeinträchtigt, daß es nicht sein kann, wozu es sein echt homerischer Geist befähigt, ein Buch für hoch und niedrig, jung und alt. Goethen kann der Vorwurf nicht erspart bleiben, daß er für die Irrwege und den falschen Ruhm der deutschen Übersetzungen stark verantwortlich ist. Nicht durch seine Praxis: wenn ihn die Schönheit einer Dichtung zur Reproduktion veranlaßte, schuf er Werke wie ‚ach gib vom weichen Pfühle‘, ‚was ist weißes dort am grünen Walde‘, ‚vom Olympos zum Kissavos‘. Aber wohl durch seine [10] Theorie.7 Er verlangte von der Übersetzung nur, daß sie seiner in allen Sprachen sehr ungenügenden Sprachkenntnis so weit nachhülfe, daß er das Original in seinem Stile verstehen _____________ 5
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Wem Tennysons Epigramm gilt, weiß ich nicht, aber ich zitiere es gern: These lame hexameters the strong-wing’d music of Homer! no – but a most burlesque barbarous experiment. When was a harsher sound ever heard, ye Muses in England? When did a frog coarser croak upon our Helicon? Hexameters no worse than daring Germany gave us, barbarous experiment, barbarous hexameters. ‚Mit Fleiß und Tücke webt’ ich mir ein eignes Ruhmgespinnste‘, lassen ihn die Paralipomena zum Faust als Blocksbergkandidaten sagen. Die Rede auf Wieland ist sehr lesenswert. Er erkennt mit voller Unparteilichkeit an; aber man merkt, daß er es mit der anderen Übersetzungsmaxime hält, die es doch bestenfalls zum umgedrehten Teppich bringt. Wieland hat gewiß das Richtige zu leisten versucht; aber er hat als der richtige Sohn des unhistorischen Jahrhunderts ohne Arg die eigene Weise in alles Fremde hineingetragen.
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konnte. Je mehr die Übersetzung ein Zwitterding war, je mehr sie an dem fremden Stile äußerlich festzuhalten schien, um so besser vermochte sie das zu leisten, wenigstens für ihn. Durch ihre Stillosigkeit hindurch sah er den fremden Stil oder glaubte ihn zu sehen. Er wollte die fremde Form vermittelt haben; die Seele erfaßte er selbst durch seine Intuition. Außerdem war Goethe sehr geneigt anzuerkennen, wo er auf ein überlegenes Können stieß. Was ihm W. v. Humboldt und F. A. Wolf als Übersetzerpflicht predigten, glaubte er, und er glaubte dann auch an die Übersetzungen seiner Freunde. Und Wolf verstand auch wirklich den Aristophanes anders als Voß, zum Teil vortrefflich zu übersetzen. Man braucht sich heutzutage nicht darüber zu verbreiten, daß die metrischen Theorien dieser bedeutenden Männer falsch sind, Konsequenzen des verhängnisvollen Schrittes, den Klopstock mit seinen Hexametern getan hatte. Unsere Sprache und Dichtung verdankt diesem Schritte sehr viel, und es ist Pedantismus und ohnmächtiger Nationalitätsdünkel, wenn man den Vers verbannen will, in dem Euphrosyne und der Spaziergang gedichtet sind. Große Dichter sind Könige und können einen Bastard legitimieren.8 Aber der Versuch, quantitierende und [11] akzentuierende Poesie gleichzusetzen, war dennoch nur möglich, weil man die griechische Sprache und Verskunst schlechterdings nicht verstand. Nicht Homer, sondern die Pförtner Sitte, lateinische Verse zu machen, hat dem Messias das hexametrische Kleid gegeben. In Wahrheit gehören Sprache und Vers zusammen, und es ist ein Unding, zu griechischen Versen deutsche Sprache zu verwenden. Das mangelnde Gefühl für das Wesen des Verses hat den Deutschen freilich den Stolz eingegeben, Ramayana und Kalewala, Firdusi und Dante, Pindar und Calderon in den Versmaßen der Urschrift wiedergeben zu können, und der Traum ist geträumt, das Deutsche zur Vermittlersprache für die sogenannte Weltliteratur zu machen, das heißt, goethisch zu reden, aller Welt Kupplerdienste zu leisten. Ob die Rolle zum Stolze Anlaß geben würde, stehe dahin. Tatsache aber ist, daß diese falschen Verse auch darin klopstockisch sind, daß sie mehr gelobt als gelesen werden. Allerdings besitzen wir Schlegels Shakespeare, Gildemeisters Byron und Ariost,9 [12] Heyses Giusti. Das sind Meisterstücke. Aber in den Sprachen, aus denen _____________ 8
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Man erkenne dann aber auch an, daß Goethe und Schiller die Gesetze für den Vers geben und nicht Ovid und Kallimachos, und man hüte sich, Ovid und Kallimachos in diese Verse zu übertragen, sintemal deutsche [11] Disticha ein ganz anderes Ethos haben als die griechischen und selbst die lateinischen. Nähere Auskunft über diese Dinge gibt das erste Kapitel meiner Griechischen Verskunst. Nicht so sein Dante. Wem gegeben ist, das Ethos des Orlando zu treffen, dem wird versagt sein, das Dantes wiederzugeben. Man kann nicht correggiesk und giottesk zugleich malen. Außerdem bedarf Dante der Umgestaltung, auch der metrischen. Im Deutschen wirken die Terzinen, da sie ein Kunststück bleiben, ermüdend, und man ruft bald ‚Geduld‘ – wie in Salaz y Gomez. Ottave rime mit Pochhammer an ihre Stelle zu setzen, ändert nach dieser Seite nichts, so groß die Formgewandtheit des Nachdichters ist. Andererseits klingen die Ottave rime Ariosts bei Gildemeister viel ernsthafter als im Original, während ihre englische Kopie durch die deutsche Kopie vollkommen getroffen werden kann. Der deutsche Reim bindet viel stärker, als der italienische, weil er bedeutungsvolle Silben treffen muß, und dann vermag der Italiener durch die Verschleifung der Vokale und den Sprung des Wortakzentes einen Reichtum von wechselnder Modulation zu erzielen wie der Grieche mit Auflösungen und indifferenten Silben: das fällt im Deutschen fort, das Maß wird ernsthaft und paßt für die Ge-
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und in die sie übersetzt sind, lebt derselbe Geist der modernen Kultur; die Weise des Denkens, Empfindens und Aussprechens ist in ihnen nicht viel stärker verschieden als zwischen Dichtern desselben Volkes. Die Aufgabe der Übersetzung war bei Giusti und Byron fast ganz eine formale, und ihre Reimkunst hat Gildemeister und Heyse offenbar am meisten Freude gemacht. Schlegel, der mit seinem Shakespeare uns einen Dichter schenkte, der vielen viel deutscher erscheint als Goethe, hat denselben Versuch mit derselben Meisterschaft an Calderon gemacht. Aber Calderon steht unserer Kultur fern, viel ferner als Euripides, und hätte zum mindesten eine Umkleidung erfordert wie dieser. Statt dessen mühte sich Schlegel mit der Assonanz und den ‚schrecklichen hiatusreichen Halbtrochäen‘: sie haben so wenig Berechtigung wie die Hexameter, und der Versuch ihrer Einbürgerung ist mißlungen. Trotz Schlegels überlegener Kunst mag ich kein spanisches Drama vorlesen außer den Schreyvogelschen Bearbeitungen der Donna Diana und von ‚das Leben ein Traum‘. Von einem Verse, der sich doch das Deutsche in früheren Zeiten erobert hatte und seinerzeit für die Bildung des poetischen Stiles auch das seinige geleistet hat, wird es nachgerade zugegeben, daß er nicht nachgebildet werden darf. Alexandriner mag man im Deutschen ruhig anwenden; nur wenn man französische Dramen übersetzt, sind sie verpönt, weil sie etwas ganz anderes sind als die französischen – und doch dasselbe scheinen wollen. Es ist sehr bezeichnend, daß die Romanen von den Verirrungen des Übersetzens in ausländischen Formen fast frei sind. Sie besitzen eben eine alte Kultur und gefestigte Stile für ihre Poesie. Als Klopstock den verhängnisvollen Schritt tat, Vergil und Horaz werden zu wollen, besaß der Deutsche weder Kultur noch gebildete Sprache noch einen [13] auch nur ungebildeten Stil. Das zu schaffen war die Aufgabe, und die Nachahmung war das notwendige Mittel, sie zu lösen. Sie ist gelöst. Eine Anzahl großer Männer schuf uns Sprache und Stil. Es war ihnen selbst zweifelhaft, ob die Deutschen das Geschenk verdienten; jetzt würden sie es, fürchte ich, ohne Besinnen verneinen. Aber verdient oder nicht, Sprache und Stil sind da. Ins Deutsche übersetzen heißt in Sprache und Stil unserer großen Dichter übersetzen. So steht es überhaupt: wer ein Gedicht übersetzen will, muß es zunächst verstehen. Ist diese Bedingung erfüllt, so steht er vor der Aufgabe, etwas, das in bestimmter Sprache vorliegt, mit der Versmaß und Stil auch gegeben sind, in einer anderen bestimmten Sprache neu zu schaffen, mit der wieder Versmaß und Stil gegeben sind. Nur insoweit, als das Original etwas in seiner Sprache Neues gab zu seiner Zeit, darf das gleiche in der Nachbildung geschehen. Ich weiß das nicht besser zu demonstrieren als an der Sprache, die in einem langen Leben unter starken Wandlungen, ohne doch je die Einheit zu verlieren, die verschiedensten, aber durchaus feste Stilformen ausgebildet hat und schon deshalb die Königin der Sprachen ist, am Griechischen. In das Griechische läßt sich alles übersetzen; aber ohne eine Umsetzung in einen festen Stil läßt sich in das Griechische nichts über-
_____________ heimnisse mehr als für das komische Epos, es sei denn, es erhalte die parodische Farbe wie im Don Juan.
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setzen.10 Ein Versuch, [14] griechische Sprache zu deutschen Versen zu verwenden, erscheint einem Menschen, der griechisch kann, einfach bestialisch.11 Wahrscheinlich wird jeder, der eine fremde Sprache mit originaler und fester Metrik und festen Stilformen versteht, über sie ähnlich urteilen, um so sicherer, je ferner unserer Weise die Sprache steht. Nichts ist mir bezeichnender, als daß Lachmann zwar den Shakespeare mit der schlimmsten ‚Treue‘ übersetzt hat, aber bei einer Übersetzung aus der Ilias in das Mittelhochdeutsche eine Umsetzung des Stils vorgenommen hat, weil er da mit festen Formen auf beiden Seiten zu rechnen hatte. Mich hat Lachmann zu einem Versuche in umgekehrter Richtung verlockt, und ich halte für erlaubt und nützlich, von beiden Proben zu geben. [15]
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τὴν δ’ αὖτ’ Ἀντήνωρ πεπνυμένος ἀντίον ηὔδα· ὦ γύναι, ἦ μάλα τοῦτο ϝέπος νημερτὲς ἔϝειπες· ἤδη γὰρ καὶ δεῦρό ποτ’ ἤλυθε δῖος Ὀδυσσεὺς σεῦ ἕνεκ’ ἀγγελίης σὺν ἀρηιφίλωι Μενελάωι. τοὺς δ’ἐγὼ ἐξείνισσα καὶ ἐν μεγάροισι φίλησα, ἀμφοτέρων δὲ φυὴν ἐδάην καὶ μήδεα πυκνά. ἀλλ’ ὅτε δὴ Τρώεσσιν ἐν ἀγρομένοισιν ἔμειχθεν, στάντων μὲν Μενέλαος ὑπέρεχεν εὐρέας ὠμούς, ἄμφω δ’ ἑζομένω γεραρώτερος ἦεν Ὀδυσσεύς. ἦ τοι μὲν Μενέλαος ἐπιτροχάδην ἀγόρευεν, παῦρα μὲν ἀλλὰ μάλα λιγέως, ἐπεὶ οὐ πολύμυθος οὐδ’ ἀφαμαρτοϝεπής, ἢ καὶ γένει ὕστερος ἦεν. ἀλλ’ ὅτε δὴ πολύμητις ἀναίξειεν Ὀδυσσεύς, στάσκεν, ὑπαί δὲ ϝίδεσκε κατὰ χθονὸς ὄμματα πήξας, σκῆπτρον δ’ οὔτ’ ὀπίσω οὔτε προπρηνὲς ἐνώμα, ἀλλ’ ἀστεμφὲς ἔχεσκεν, ἀιδρέι φωτὶ ϝεϝοικώς.
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Wenn man bei gewissen lyrischen Gedichten und bei den prosaischen Epen höheren Stiles, die wir Romane und Novellen nennen, schwanken kann, so liegt das daran, daß die entsprechenden griechischen Dichtungen verloren sind; ich denke an Archilochos, Stesichoros, Herakleides Pontikos, Phylarchos. Es ist für den, der die Griechen kennt, belehrender als die modernen Poetiken, wenn man sich die Analogien überlegt. Man sieht, wie alle die Grenzen der Gattungen, selbst die von Prosa und Poesie, in der Luft stehen. Der Gang nach dem Eisenhammer wird ein Epyllion in alexandrinischem Stile; [14] das muß aber die Hochzeit des Mönchs auch werden. Die Braut von Korinth zu übersetzen, müßte man Rhadina und Eriphanis lesen können. [Die würden nichts helfen; es waren einfache Volkslieder.] Pater Brey wird ein Mimos, Minna von Barnhelm muß sich in Trimeter kleiden, während für den Nathan der sokratische Dialog besser paßt. Wahrhaft erschreckend ist, auf wieviel sogenannte Poesie die Rhetorik ihre Hand legt. Heines Nordseebilder und Gellerts Kirchenlieder, den ganzen Scheffel und den ganzen Scherenberg holt die zweite Sophistik, die Aristides und Lukian, die Philostratos und Longos. Und belehrend ist doch auch, daß die stilisierte Stillosigkeit, die menippische Satire, ein weites Reich enthält: Jean Paul z. B. verfällt ihr rettungslos. Es steht ja wohl im Kommersbuch βασιλεύς ποτ’ ἦν ἐν Θούληι πιστός ἔστ’ εἰς ἅιδου, θνήσκουσα τῶι ἡ κούρη δῶκ’ ἔκπωμα χρυσοῦ. Ich bedaure, daß Lessing auch im Scherz so etwas hat vertragen können wie παρθένου δακτύλιτρον ἔστιν εῖς πάντα καλόν (XII 467 Lachm.). 1871 gab es das Kutschkelied in ich weiß nicht wieviel Sprachen ‚im Versmaße der Urschrift‘.
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φαίης κε ζάκοτόν τε τιν’ ἔμμεναι ἄφρονά τ’ αὔτως· ἀλλ’ ὅτε δὴ ϝόπα τε μεγάλην ἐκ στήθεος εἵη καὶ ϝέπεα νιφάδεσσι ϝεϝοικότα χειμερίηισιν, οὐκ ἂν ἔπειτ’ Ὀδυσῆι γ’ ἐρίσσειεν βροτὸς ἄλλος. οὐ τότε γ’ ὧδ’ Ὀδυσῆος ἀγασσάμεθ’ εἶδος ἰδόντες.12 [16] Antenor der wise da gein der frŏwen sprach: frowe daz ist dú warheit, des úwer munt im jach. wan man eteswenne den degen hinne vant, do was er und Menelas umb úch ze boteschefte gesant. Ich schůf in herberge und gab in gůt gemach. da ich ir beider räte und ir geläze ersach. daz mohte ich spehen rehte an den künen man, so ich si zer samenunge sach der Trojaere gan. Swenne sie uf stůnden, der herre Menelas mit sinen ahseln breiten ein teil hoher was. swenne aber si beide sazen, die edelen helde balt, so was der degen Ulixes verre herlicher gestalt. So si den rat erhůben und worhten spähú wort, da sprach der herre Menelas endeliche fort ein kleine und vil süze, die tumpheit er floch und unnútzú klafte, swie er was jare junger doch. Alse Ulixe der wise kom zer rede sider, er stůnt al fúr sich sehende, die blicke warf er nider, den stap er niender wegete fúr noch hinder sich. er hielt in do vil ebene eime tumben vil gelich. Swenne aber uz siner brúste dú stimme lute erdoz, dú rede sam ein winterschur uz sinem munde floz. do ne wäre da nieman lebender der im mit listen strite. do sahen wir nicht fúr wunder des herren Ulixis site. [17]
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Der vogt von dem Rîne cleidete sîne man, sehzec unde tûsent, als ich vernomen hân, und niun tûsent knehte, gên der hôhzît. die si dâ heime liezen, die beweinten ez sît. Dô truoc man daz gereite ze Wormez über den hof. dô sprach dâ vor Spire ein alter bischof zuo der schoenen Uoten ‚unser vriunde wellent varn gên der hôhzîte: got mueze sie dâ bewarn.‘
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Die Unechtheit des späten Verses hätte Lachmann nicht verkennen sollen. Er hat ihn umgedeutet. Die Übersetzung ist veröffentlicht von W. Wilmanns zur Erinnerung an die Philologenversammlung in Trier 1879. Derselbe hatte sie mir schon früher gezeigt, als ich das Glück hatte, sein Kollege zu sein und für die Beurteilung der geschichtlichen und stilistischen Probleme, welche Epos und Lyrik stellen, wertvolle Anregung von ihm zu empfangen.
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Dô sprach zuo zir kinden diu edele Uote ‚ir soltet hie belîben, helde guote, mir ist getroumet hînte von engestlîcher nôt, wie allez daz gefügele in disme lande waere tôt.‘ ‚Swer sich an troume wendet‘, sprach dô Hagene, der enweiz der rehten maere niht ze sagene, wenne es im zen êren volleclîchen stê. ich wil daz mîn hêrre ze hove nâch urloube gê. Wir suln vil gerne rîten in Etzelen lant: dâ mac wol dienen künige guoter helde hant, dâ wir dâ schouwen müezen Criemhilte hôhzît.‘ Hagne riet die reise, idoch gerouw ez in sît. Er hetez widerrâten, wan daz Gêrnôt mit ungefouge im alsô missebôt. er mant in Sîfrides, vroun Chriemhilte man. er sprach ‚dâ von wil Hagene die grôzen hovereise lân‘. [18] Ἔσπετε νῦν μοι Μοῦσαι Ὀλύμπια δώματ’ ἔχουσαι, πόσσοισ’ ἡρώεσσι ϝάναξ Ῥήνου πόρεν ὅπλα. χείλιοι ἥρωες μὲν ἔσαν, ἐπὶ δ’ ἑξήκοντα, ἐννέα χειλιάδες δὲ μενεπτολέμων θεραπόντων, τοῖσιν ἐὺς Ῥήνοιο ϝάναξ πόρε ϝείματα καλά σύν ϝοι στελλομένοισιν ἐπ’ εἰλαπίνην μετὰ Χῶνας. τοὺς δὲ λίπον ϝοίκοι δϝηρόν σφ’ ἔκλαυσαν ὁδοῖο. δμῶες δ’ εὖτ’ αὐλῆς διὰ Βωρμίδος ἔκφερον ὅπλα, ἦν τις ἀπὸ Σπείρης ἀρητὴρ γήραι κυφός, ὅς τότ’ ἐὺ φρονέων προσεφώνεεν Ὠτίδα καλήν. „μέλλουσ’ ἡμέτεροι φίλοι εἰλαπίνηνδε νέεσθαι· αἴθε θεὸς πρόφρων αὐτῶν τόθι χεῖρας ὑπέρσχοι.“ ἡ δὲ φίλους πάιδας προσέφη πεπνυμένη Ὠτίς· „ἀνέρες ἥρωες μένετ’ ἐνθάδε, καὶ γὰρ ἄμεινον. τοῖον ὄνειρον ἐγὼν ἔϝιδον δϝεινόν τε κακόν τε αὐτονυχί· πάντες γὰρ ὅσοι κατὰ γῆν πεπότηνται ἡμετέρην ὄρνιθες ἐπὶ χθονὶ νεκροὶ ἔκειντο.“ τὴν δὲ μέγ’ ὀχθήσας μετέφη Τρωνήιος Ἅγνων· „ὅς κ’ ἐπ’ ὀνείρασι πείθηται, ϝέπος οὔποτε κεῖνος κρήγυον οὐδὲν ἔϝειπ’, ἀρετῆς ὅτε καιρὸς ἐπέστη. ἦ μάλ’ ἐγὼ κέλομαι βῆναι μετὰ δαῖτα ϝάνακτα, ἡμεῖς δ’ Ἀττίλεω ἴομεν χθόνα πρόφρονι θυμῶι. πολλάκι γὰρ παρὰ Χωσὶ ϝάναξ ἐπιδεύσεται ἀνδρῶν ἐσθλῶν καὶ χεῖρας κρατερῶν. θηησόμενοι γὰρ
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ἐρχόμεθ’, Αἰνομάχη τοὺς θήσεται ἄμμιν ἀγῶνας.“ φῆ μὲν ἐπισπέρχων· μετὰ δ’ ὕστερον ἔστενε βουλῆς· καί κεν ἐρητύσασκε φίλους, εἰ μὴ Δορίμοχθος ἄκριτα κερτομέων Ἅγνων’ ἠνίπαπε μύθωι, μνῆσέ τε Νικοτέλευς, πόσιος φίλου Αἰνομαχείης „τοὔνεκα δὴ νῦν μέλλει ἐᾶν μεγάλην ὁδὸν Ἅγνων.“ [19] Es ist bezeichnend, daß beide Übersetzungen länger geworden sind als das Original; das ist unvermeidlich, wenn man nicht hier vom Stil, dort vom Gedanken etwas opfern will.13 Ich gebe auch eine Probe eines lyrischen Gedichtes, obwohl ich mich da an etwas Unübersetzliches gemacht habe, ‚über allen Wipfeln‘. Duft und Farbe kann der Wiesenstrauß nicht bewahren; aber Goethe hat uns selbst gesagt, daß ihm ein solches Experiment recht ist. Er hat das Gedicht lediglich aus der eigenen Seele und aus der Natur, die ihn umgab, geschöpft, wahrhaftig nicht aus einem bekannten Bruchstück des Alkman (das freilich schon dadurch vor der Philisterkritik, nur konventionelle Phrase zu [20] geben, geschützt sein sollte, daß man es mit Goethe vergleichen kann). Der moderne Dünkel bestreitet, daß die Hellenen dieses Naturgefühl, das Goethen das Lied eingab, gekannt hätten: das ist’s, was mich gereizt hat, zu zeigen, daß und wie man es griechisch ausdrücken kann. Es stehen sogar zwei Stilformen zur Verfügung. Im dritten Jahrhundert sprach man solche Empfindungen im Epigramme aus. Πρωιόνες εὕδουσιν καὶ ἐνὶ δρυσὶ νήνεμος αἰθήρ, πτηνῶν δ’ ἐν λόχμηι πᾶν κατέδαρθε γένος· τέτλαθι δὴ φίλε θυμέ· μετ’ οὐ πολὺ καὶ σὲ μέτεισιν ἠρέμα κοιμήσων ὕπνος ὁ παυσανίας.
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Die deutschen Übersetzungen des vorigen Jahrhunderts sind, soweit die Verfasser Philologen waren, deshalb veraltet, weil die Sprache überhaupt noch keinen Stil hatte. Unter ihnen befindet sich aber eine Leistung, die dem Philologen recht viel zu denken gibt, die Übersetzungen Reiskes. Er hat das thukydideische φιλοκαλοῦμεν γὰρ μετ’ εὐτελείας καὶ φιλοσοφοῦμεν ἄνευ μαλακίας so übersetzt: „Bei einem geringen Aufwande entgehen wir doch dem Ansehen einer kleinstädtischen Kargheit und Rohheit; vielmehr haben wir uns, unserer Gewohnheit zu Rate zu halten ohngeachtet, dennoch den Ruhm eines nicht filzig noch kleinstädtisch, sondern auf einem artigen Fuße zu leben gewohnten Volkes erhalten“. In dem Stil ist alles. Es ist sehr leicht, darüber zu lachen, und daß Reiske für das Künstlerische gar kein Organ hätte, würde man versucht zu behaupten, wenn er nicht im Griechischen sehr wohl empfände, wo durch die Schuld der Überlieferung ein Stilfehler steckt. Aber der Philologe soll sich doch klar machen, daß ein Reiske nur so viel Worte macht, weil er das gern ausschöpfen möchte, was er in den griechischen Worten findet. Für ihn sind das keine Vokabeln, für ihn lebt die Sprache. Das soll sie auch für uns. Die falsche Methode der ‚Treue‘, der ‚Versmaße der Urschrift‘ würde niemand mehr verurteilt haben als er, weil er griechisch konnte, also wußte, daß diese Treue die Tochter der Ignoranz ist. In der Vorrede zu seinem deutschen Demosthenes hat Reiske seine Prinzipien dargelegt; der Verständige kann viel daraus lernen. Dies zur Rechtfertigung dafür, daß die Übersetzungen breiter werden und, wo das nicht möglich ist, das Original nicht erschöpfen. Auf die prosaischen Übersetzungen habe ich sonst hier nicht eingehen wollen.
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Aber das dritte Jahrhundert und sein Stil hat alle Reize, nur nicht den der Goethischen Einfachheit. Wer die bewahren will, muß sich schon an Sappho halten, muß dann eine äolische Strophe bilden und äolisch dichten κορυφαὶς μὲν ἁπαίσαις κατέσχε σιγά· ἐπὶ δ’ ἀκρεμόνεσσι σίγαισ’ ἀῆται· ὀρνέων δὲ θρόος κατ’ ὕλαν εὕδει· σὺ δὲ βαῖον ὄμμεννον, ὁδῶτα, καὶ σὺ κοιμάσηι. Ein anderes kleines Gedichtchen stehe hier in lateinischer und griechischer Übersetzung:14 Dringe tief zu Berges Grüften, Wolken folge hoch zu Lüften, [21] Muse ruft zu Bach und Tale tausend, abertausend Male. So oft ein frisches Kelchlein blüht, es fordert neue Lieder, und wenn die Zeit verrauschend flieht, Jahrszeiten kommen wieder. Lateinisch hindert uns nichts, eine horazische Odenform zu wählen: das ist ja doch ebenso Buchlyrik wie die Goethes. Da kommen die Vierzeiler unschwer heraus: Ad ima terrae tu penetres licet, petasve nimborum aemulus aethera, Camena te ad fontes et umbras mille modis revocabit usque. Quicumque parvum flos caput extulit, novo sacrari carmine postulat; annique dum labuntur, horae quadriiugam repetunt choream. Ich glaube, das gibt kaum weniger als das Original; es stecken aber nicht nur die griechischen Lehnwörter aether, horeae, chorea darin: die ganze Vorstellungsform ist in Wahrheit so griechisch wie das Versmaß. Es kann auch nicht anders sein, denn die ganze römische Lyrik ist ja griechische Imitation, nicht allein in den Versen. Das deut_____________ 14
Daß ich das hier einfüge, geschieht, weil ich es gemacht habe, und gemacht habe ich es, weil es mein lieber Lehrer Wilhelm Corssen uns Primanern aufgegeben hatte: wir sollten uns ein passendes horazisches Maß dazu suchen. Was ich damals lieferte, konnte ich jetzt nicht brauchen; aber ich weiß es sehr gut, daß ich weder meine deutschen noch meine griechischen Verse machen würde, wenn ich nicht an den lateinischen das Handwerk gelernt hätte.
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sche Gedicht ist abgesehen von der Muse ohne alle fremde Gelehrsamkeit. Aber ganz natürlich scheint mir das dichterische Motiv erst im Griechischen herauszukommen. Da stellt wieder sich das Epigramm ein; die Anrede einer bestimmten Person muß wie in dem Liede an die Stelle der Goethischen Selbstanrede treten; es ist ziemlich einerlei, was man wählt. Ein Eigenname gefällt mir jetzt besser als ὠταῖρ’, was ich zuerst gesetzt hatte, und so mag der theokritische Nikias auch hier stehen, den Goethe ein andermal selbst gewählt hat. Und dann muß der Schmuck [22] reichlich gegeben werden, schon um den Raum zu füllen. Was herauskommt, scheint mir zwar mehr Ansprüche zu machen als das improvisierte Original, aber auch sie zu erfüllen: ἤν τ’ ἀρθῆις νεφέεσσιν ὁμόδρομος ἠεροφοίταις, Νικία, ἤν τ’ ὀρέων νέρτατ’ ἐς ἄντρα δύηις, μυριάκις σ’ ἄψορρον ἐς εὔροα ῥεῖθρα καλέσσει μοῦσα καὶ ἐς κομόωντ’ ἄλσεα μυριάκις. ὁππότε γὰρ καλύκεσσιν ἀνηβήσαι νέον ἄνθος, αὐτίκα ποιητὴν καινὸν ἔπρηξε μέλος. αἰὼν γὰρ φοράδην τε ῥέει καὶ ἀνόστιμος ἔρρει, ὧραι δ’ ἀενάους κυκλοσοβοῦσι χορούς. Wenn sich hier die schmuckvolle hellenistische Stilisierung als das rechte Mittel bot, den Stimmungswert des Gedichtes herauszubringen, stehe zum Kontraste ein Lied der Mignon daneben, das die Schlichtheit und Durchsichtigkeit einer altionischen Dichtung fordert, die im Gegensatz zu dem homerischen Reichtum erfunden ist. Ich habe das Lied einmal meinen Studenten gegeben, damit sie durch den eigenen Versuch lernten, wie viel auf die Wahl des Versmaßes ankommt. Disticha mißglückten ganz; aber auch die von den meisten gewählte, sicherlich nicht unbedacht gewählte sapphische Strophe ergab auch mir nichts Befriedigendes: der Widerstreit in Mignons Stimmung kommt in den sanft gleitenden Rhythmen nicht heraus. Ich denke, die archilochische Epode liefert ihn. Heiß’ mich nicht reden, heiß’ mich schweigen, denn mein Geheimnis ist mir Pflicht. Ich möchte dir mein ganzes Innre zeigen, allein das Schicksal will es nicht. Zur rechten Zeit vertreibt der Sonne Lauf die dunkle Nacht, und sie muß sich erhellen; der harte Fels schließt seinen Busen auf, mißgönnt der Erde nicht die tiefverborgnen Quellen. [23] Ein jeder sucht im Arm des Freundes Ruh, dort kann die Brust in Klagen sich ergießen; allein ein Schwur schließt mir die Lippen zu, und nur ein Gott vermag sie aufzuschließen.
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Δέσποτα μή με κέλευε λέγειν, σιγᾶν με κέλευε· ἄρρητα γὰρ τἄμ’ ἔστ’ ἐμοί. ὥς σοι πάντ’ ἐθέλουσ’ ἂν ἐδείκνυον ἐκ φρενὸς αὐτῆς· ἀλλ’ οὐκ ἐᾶι δαίμων ἐμός. ἠέλιος μὲν νυκτὸς ἐλᾶι σκότος, ἡνίκα καιρός, φαιδρόν τ’ ἐπαντέλλει φάος. καὶ στερρὴ βαθύριζον ἀνέρρηξεν λίβα πέτρη οὐδ’ ἐφθόνησ’ ἀγροῖς γάνος. πάρ δὲ φίλωι φίλος ηὗρε κακῶν λιμέν’, ἔνθα γαληνῶς στέρνων ἀπήντλησεν γόους. αὐτὰρ ἐμοὶ δεινὸς χείλη κατεκλήισεν ὅρκος, καί μοῦνος ἂν λύσαι θεός. In der Tat ist es erst die Fülle der Formen, die dem Liede zur Zeit des Anakreon und des Aristophanes zur Verfügung stand, ist es also die klassische Lyrik, natürlich nicht die Chorlyrik, sondern der Einzelvortrag, in der sich wiedergeben läßt, was wir als den unmittelbaren Ausdruck des Gefühles ganz besonders lieben und lyrisch nennen; das Distichon in der kunstlosen Form, wie es gleichzeitig angewandt ward, gehört dazu. Den Unterschied hellenistischer Stilisierung muß der Übersetzer freilich innehalten; dieser Epigrammatik bleibt daneben ein reiches Feld. Ein englischer Freund, selbst im Übersetzen erfahren, wies mich einmal auf die Worte, die Michel Angelo seine Nacht soll haben sprechen lassen: Grato m’ é il sonno e più esser di sasso, mentre che il danno e la vergogna dura. Non veder, non sentir m’ é gran ventura. Però non mi destar; deh, parla basso. [24] Hier ist es anakreontisch oder besser vielleicht timokreontisch: ἡδέως κεῖμαι κάθυπνος, ἥδομαι δὲ πέτρος οὖσα, πᾶσα γὰρ λύμη κατ’ ἄστυ, πᾶσα δ’ αἰσχύνη πέριξ. ὡς τὸ λῶιστον μήτ’ ἀκούειν μήθ’ ὁρᾶν ἤδη ‘στιν ἡμίν· τοιγαροῦν μὴ μ’ ἐξεγείρειν· λεπτὰ δ’ αὔδησον ξένε. In England allein wird das Übersetzen in griechische Verse als Kunst noch heute geübt, so daß sogar Gedichtsammlungen erscheinen, von denen ich einige meist als Gaben der Verfasser besitzte und hochhalte. Walter Headlam hat darin wohl das Vollkommenste geleistet. Natürlich reizt manches den Wetteifer, und eine Probe will ich geben. W. R. Hardie (Silvulae academicae London 1912 S. 89) hat ein Liedchen von Heine in lateinische Disticha gekleidet.
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Das Meer erstrahlt im Sonnenschein, als ob es golden wär’. Ihr Brüder, wenn ich sterbe, versenkt mich in das Meer. Hab’ immer das Meer so lieb gehabt, es hat mit sanfter Flut so oft mein Herz gekühlet. Wir waren einander gut. Aurea nunc Phoebo ridet maris unda sereno, cum moriar, comites, me tegat unda maris. pontum dilexi. dilexit me quoque pontus et gelidis fessum saepe refecit aquis. Darin ist die Stimmung verkannt; es handelt sich nicht um körperliche Abkühlung; aber auch sonst klingt das Latein fremd, rhetorisch. πόντος ὑπ’ αἰθερίας λάμπει φλογὸς ἠύτε χρυσός. ὦ φίλοι, ἐν πόντωι θάπτετέ μ’ εὖτε θάνω. τόν ῥ’ ἐφίλησα πάλαι, κραδίης δ’ ὅγε κύμασιν οἶστρον ἔψυχεν μαλακοῖς τὸν φίλον ἀντιφιλῶν. [25] Auch die Wiedergabe eines übrigens nichtigen Verschens dürfte nicht genügen, obgleich das Versmaß für die Antithese paßt. Ich trat in jene Hallen, wo sie mir Treue versprochen. Wo einst ihre Tränen gefallen, sind Schlangen hervorgekrochen. Atria temptabam, caelo qua teste Neaera in verba iuratast mea. qua lacrimae cecidere olim, reptare videbam per triste serpentes solum. Das verdient nur Hexameter, wie sie die rhetorischen Epiker der Kaiserzeit machen. ἐς θαλάμους ἐπανῆλθον, ἐν οἷς ἐπίορκον ἔρωτος ὤμοσέ μοί ποτε Μυῖα τέρεν κατὰ δάκρυ χέουσα. τῶν δὲ μυχῶν σπείρημα λυγρῶν ἐξεῖρπε δρακόντων. Im Goethe-Jahrbuch 27, 91 sind die lateinischen und griechischen Übersetzungen von zwei römischen Elegien abgedruckt, die Fr. A. Wolf sich getraut hat, an Goethe zu schicken. Sie stammen aus dem Jahre 1812, als Wolf das wirkliche Arbeiten schon aufgegeben hatte, aber um so anmaßlicher den Schein des großen Sprachkenners zu
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behaupten bestrebt war, fast so sehr wie Geld zu machen. Der treffliche Klöden erzählt in seiner Selbstbiographie, wie wegwerfend Wolf zu ihm von solchen Versuchen geredet hat, die andere ihm unterbreiteten. Er hat ja auch, fanatischer Klassizist wie er war, Übersetzungen ins Deutsche mit ängstlicher „Treue“ verfertigt. Aber im Deutschen verfügte er wirklich über bedeutendes Formtalent; wie jämmerlich es damit im Griechischen bei ihm bestellt war, verlohnt sich wohl dem durch Eitelkeit erst moralisch, dann auch intellektuell gesunkenen Manne vorzuhalten; aber es wird [26] die fünfte Elegie genügen, die allerdings der Übersetzung ungewöhnlich große Schwierigkeit bereitet: Wenn du mir sagst, du habest als Kind, Geliebte, den Menschen nicht gefallen, und dich habe die Mutter verschmäht, bis du größer geworden und still dich entwickelt, ich glaub’ es. Gerne denk’ ich mir dich als ein besonderes Kind. Fehlet Bildung und Farbe doch auch der Blüte des Weinstocks, wenn die Beere, gereift, Menschen und Götter entzückt. Das hat etwa so zu lauten: ›παῖδά μ’ ἐοῦσαν ἄμορφον ἔφαν καὶ ἀειδέα φῦναι πάντες, χἠ μήτηρ αὐτὴ ἀπεστρέφετο, ἠρέμ’ ἕως ἐπιδοῦς’ ἀναδέδρομα.‹ πείθομ’ ἔγωγε, κοῦρα· φύσις τοίη παιδόθεν ἦν ἰδίη. οὐδὲ γὰρ ἀνθούσηι χάρις ἀμπέλωι· ἀλλὰ πεπανθείς βότρυς καὶ θνητοῖς χάρμα καὶ ἀθανάτοις. Wolf macht daraus folgende Abscheulichkeit: ἤν σε βρέφος μὴ ἁδεῖν φῆις ἀνθρώποισι, φιλίστη, χὤς σ’ αὐτὴ μήτηρ ἤχθετο νηπίαχον, πρίν γ’ ἦχ’ ἡβήσασ’ ἐγένου κόρη, οὐδὲν ἀπιστῶ καὶ χαίρω νοέων παῖδά σε θαυμασίαν· μορφῆς γὰρ δέεται χροιᾶς τε τὸ βότρυος ἄνθος ὅς γε πέπων θνητοὺς θέλγει ἴδ’ ἀθανάτους. Metrisch falsch ist nur der fünfte Vers, aber die Masse Elisionen in 2, 3 und das homerische ἰδέ zeigen den Stümper. Viel schlimmer ist die Sprache. Falsch ist ἤν, ἁδεῖν, ἤχθετο, κόρη, ἐγένου, νοέων, θαυμασίαν, eigentlich auch μορφῆς καὶ χροιᾶς δέεται. Kein Grieche würde 4 καί, 6 ὅς γε gesetzt haben usw. Die ersten Versuche unserer Studenten, soweit sie sich an so etwas wagen, pflegen nicht schlechter zu sein. Treten wir nun der konkreten Aufgabe näher, für die griechische Poesie Formen und Stil in unserer Sprache zu bestimmen, so muß ich eins für zurzeit unübersetzbar er[27]klären, das alte Epos. Das hat Voß zu verantworten. Für nichts dagegen stehen die Chancen günstiger als für die attische Tragödie. Das verdanken wir Goethe: er liefert in
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Helena und Pandora Formen und Stil. Denn daß über deren lyrischen Stücken ein etwas fremdartiger Schimmer liegt, ist genau so mit den attischen Liedern der Fall, die weder im Versmaß noch in der Sprache rein attisch sind. In den Chören mußte allerdings noch etwas weiter ausgebaut werden, wozu Goethe nur Ansätze geliefert hat, da er meist in die ihm gewohnten Formen einlenkte und auch den Reim zuzog, den ich im Aristophanes von Droysen mit Recht verwandt glaube, in der Tragödie nach vielen Versuchen ganz verworfen habe, weil es uns nicht mehr möglich ist, so kunstvolle und umfangreiche Gebilde zu machen wie im Mittelalter: ich hatte damit begonnen, mir bei Walther Strophen zu suchen. Für lyrische Kleinigkeiten wird der Reim passen, im Epigramme häufig unentbehrlich sein, und volkstümlichen und lustigen Klang wird er wohl allein verleihen. Aber ein gereimter Pindar müßte entsetzlich sein, und entsetzlich sind mir die gereimten Chorlieder, die ich kenne, ziemlich alle.15 Dagegen in den freien Rhythmen, die Goethe in den schönsten Gedichten schon vor der italienischen Reise angewandt hat, und für die es auch sonst Vorbilder genug gibt, ist ein geschmeidiges Material vorhanden, das sich jedem neuen Vorwurfe anpassen läßt. Nur muß die Responsion hinzutreten, da sie ja nicht bloß in den Versfüßen, sondern in den Gedanken, ihrem Aufbau und Ausdruck vorhanden ist. Bei Pindar [28] habe ich die Responsion wieder aufgegeben, weil sie in so umfangreichen Gebilden unserem Ohre doch nicht wahrnehmbar sein würde; übrigens pflegt sie bei ihm auch nur selten dem Aufbau der Gedanken zu entsprechen. Von meinen verschiedenen Versuchen, epische Gedichte zu übersetzen, will ich schweigen; sie erheben theoretisch nur den Anspruch, zu zeigen, daß man nicht nach einem Maße suchen soll, das dem griechischen Hexameter überall entspräche. Es gebricht mir hier an Raum, darzulegen, daß das alles in Wahrheit rhythmische Prosa ist, was wir machen, wie sich auch der junge Goethe sehr oft nicht klar war, ob er Prosa oder Verse schrieb. Erst die Wiederkehr derselben Glieder setzt in Wahrheit Verse ab.16 Auch dies läßt sich erst ganz deutlich machen, wenn man die griechische Kunstprosa in Theorie und Praxis hinzunimmt; hoffentlich komme ich noch einmal dazu, das zu erläutern. Mich dünkt jetzt fast, daß wir selbst für erzählende Gedichte geschmeidige und ausdrucksvolle Formen haben können, wenn wir unsere alte Freiheit in der Behandlung der Senkungen wieder aufnehmen, Reim, Assonanz und Alliteration aber nur wie die Griechen als Schmuck, nicht als Bindemittel verwenden. Das brauche ich kaum zu sagen, daß es verkehrt wäre, für ein bestimmtes antikes Maß eine bestimmte Wiedergabe zu setzen: man steht in jedem einzelnen Falle vor einer ganz neuen Aufgabe. Nur wenn der antike Dichter in demselben Werke eine und _____________ 15
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Erich Schmidts Reimstudien, von denen ein äußerst belehrendes erstes Stück in den Sitzungsberichten der Berliner Akademie 1900 veröffentlicht ist, zeigen, wie mich dünkt, daß der Reim in der hohen Poesie zurzeit für den Deutschen überhaupt unbrauchbar ist: er ist eben ausgeleiert. – Das war ein falsches Urteil. Mehr als ein Dichter hat seitdem an Klangfülle reiner und neuer Reime selbst unsere Klassiker übertroffen. Wir kehren damit gewissermaßen zu den ersten Versuchen gebundener Rede zurück, als eine feste Metrik noch nicht erreicht war. Und anders angesehen, lassen sich unsere freien Rhythmen mit der strengen Kunstprosa der Griechen vergleichen, deren Kunst keinerlei Parallele neben sich hat. Ich habe darüber im zweiten Kapitel meiner griechischen Verskunst gemeinverständlich geschrieben, hätte aber den altgermanischen Versbau mehr heranziehen sollen.
Was ist übersetzen?
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dieselbe Gattung in gleicher Weise wiederholt anwendet, muß auch [29] die Nachbildung wiederholen; in einem andern mag sie sich anders entscheiden. So habe ich im Hippolytos des Euripides eine Szene in Anapaesten, zwischen Phaedra und der Amme, in sehr freien, nur die Hebungen, nicht die Silben zählenden Versen wiedergegeben; in der Orestie durchgehends das Maß gewählt, das Goethe am Schlusse der Pandora verwendet. Es stammt bekanntlich aus den serbischen Volksliedern: morlackische Trochäen sind es, keine spanischen. Von Wert ist an ihnen besonders, daß man die Katalexe nachbilden kann, und ich bereue meine Wahl nicht. Im Dialog hat Goethe den Trimeter nachgebildet, und dieses unserem tragischen Verse so nahestehende Maß hat große Vorzüge, wenn es richtig behandelt wird, d. h. nicht nach den Regeln des griechischen Trimeters, die es nichts angehen, sondern entsprechend unserer Sprache, so daß durch einen volltönenden Versschluß der Unterschied vom Blankverse betont wird, und nicht die letzte Hebung auf der drittletzten Silbe zu liegen scheint, wie in der versi sdruccioli der Italiener mit ihrem leichten, hüpfenden Gange. Die Wucht des vollen männlichen Schlusses gibt unserem Trimeter den Charakter von Kraft und Erhabenheit, und um diesen Eindruck zu erzielen, haben Schiller und Goethe den ansteigenden Zwölfsilbler (das ist er in Wahrheit) verwandt. Aber nur für diesen einen bestimmten Ton (oder seine Parodie) ist er geeignet, zumal er uns als eine Abart des allgemeinen dramatischen Dialogverses erscheinen muß. Er entspricht also vollkommen dem Charakter der aischyleischen Poesie, aber ich würde es für eine Zerstörung des eigentümlich euripideischen Tones halten, wollte man seinen Dialog in demselben Maß wiedergeben. Denn dadurch gerade hat Euripides die menschliche Tragödie geschaffen, daß er den Ton des Verses so weit herunterstimmte, daß er einen wirklichen Dialog wiedergeben konnte. [30] Dieser Dialog erhebt sich über die Prosa nur so weit, wie es die ernsthafte Poesie immer tun muß. Er entspricht also in jeder Sprache dem allgemein dramatischen Verse, und für die meisten Reden gilt dasselbe. Schillers tragische Verse fügen sich überraschend leicht in den Stil, dem Euripides seinen Stempel aufgedrückt hat. Daher haben sich seit Gottfried Hermann viele an Übersetzungen Schillerscher Verse versucht, und so gebe ich auch ein paar Proben, allbekannte Worte Attinghausens, die allerdings gesteigerte Rede verlangen; es ist wohl begreiflich, daß ich jetzt auf sie geriet. Ich hoffe, man wird fühlen, daß sie doch im Tone von den Trimetern grundverschieden sind, mit denen ich eine Versreihe der Pandora wiederzugeben versuche. Wer diesen Stilgegensatz in den griechischen Versen zu empfinden vermag, muß zugeben, daß die deutsche Nachbildung für Aischylos und Euripides denselben Vers nicht wählen durfte. Eine solche Wahl richtig zu treffen, erreicht der Verstand, wenn die nötigen Vorkenntnisse vorhanden sind. Verse kann man dann machen;17 ob Poesie dabei herauskommt, ist eine andere Frage, denn zum Dichten verleiht nur die Muse die Fähigkeit. _____________ 17
Daher war es nicht zuviel verlangt, wenn Gottfried Hermann die Befähigung zu der kritischen Behandlung eines griechischen Dichters an den Nachweis binden wollte, selbst in denselben Formen griechisch dichten zu können. Und so dürfte man jedem das Übersetzen aus einer Sprache verwehren, der nicht in sie stilgerecht zu übersetzen versteht.
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So stehe denn hier zunächst Tell II I Schluß. ATTINGHAUSEN.
Wahnsinniger Jüngling bleib! Er geht dahin, ich kann ihn nicht erhalten, nicht erretten. So ist der Wolfenschießen abgefallen von seinem Land, so werden andre folgen. [31] Der fremde Zauber reißt die Jugend fort gewaltsam strebend über unsre Berge. O unglücksel’ge Stunde, da das Fremde in diese still beglückten Täler kam, der Sitte fromme Unschuld zu zerstören. Das Neue dringt herein mit Macht, das Alte, das Würd’ge scheidet, andre Zeiten kommen. Es lebt ein anders denkendes Geschlecht. Was tu ich hier? Sie sind begraben alle, mit denen ich gewaltet und gelebt. Unter der Erde liegt schon meine Zeit. Wohl dem, der mit der neuen nicht mehr braucht zu leben. ὦ παῖ παράφρον μεῖνον. οἴχεται φυγών, οὐδ’ ἂν κατάσχοιμ’ αὐτόν, οὐ σώιζοιμ’ ἔτι. οὕτω γὰρ ἤδη Λυκοδάμας προδοὺς πάτραν βέβηκε, βήσονται δὲ χἄτεροι τάχα. τὰ γὰρ θύραθεν ἐξάγει κηλήματα νέους βιαίως χθονὸς ὑπερβάλλοντ’ ὄρη. φεῦ δύστηνον ἦμαρ, ἡνίχ’ ὁ ξένος τρόπος εἰς ἥσυχον τῆσδ’ ἦλθεν εὐεστὼ χθονός νόμων ἀπολλὺς σωφρόνων εὐηθίαν. καὶ νέα μὲν εἰσβιάζεται, τἀρχαῖα δέ καὶ σεμνὰ πίπτει. καινὸς ἀντέλλει βίος βροτῶν τ’ ἀνεβλάστησε καινόφρον γένος. τί δῆτ’ ἔτι ζῶ τῶν ἐμῶν ὁμηλίκων συνεργατῶν τε γῆι κεκρυμμένων πάλαι; δέδυκεν αἰὼν ἀμός· ὀλβίζω δ’ ὅτωι οὐ τῶι νέωι τὦιδ’ ἐστὶ συμβιωτέον. IV 2
ATTINGHAUSEN.
Hat sich der Landmann solcher Tat verwogen aus eignen Mitteln ohne Hilf ’ der Edlen, hat er der eignen Kraft so viel vertraut, ja, dann bedarf es unserer nicht mehr, [32]
Was ist übersetzen?
getröstet können wir zu Grabe steigen. Es lebt nach uns, durch andre Kräfte will das Herrliche der Menschheit sich erhalten — Aus diesem Haupte, wo der Apfel lag, wird auch die neue, bessre Freiheit grünen. Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit und neues Leben blüht aus den Ruinen. STAUFFACHER.
Seht, welcher Glanz sich um sein Haupt ergießt. Das ist nicht das Erlöschen der Natur das ist der Strahl schon eines neuen Lebens. ATTINGHAUSEN.
Der Adel steigt von seinen alten Burgen und schwört den Städten seinen Bürgereid. Im Üchtland schon, im Thurgau hats begonnen, die edle Bern erhebt ihr herrschend Haupt, Freiburg ist eine sichre Burg der Freien, die rege Zürich waffnet ihre Zünfte zum kriegerischen Heer. Es bricht die Macht der Könige sich an ihren ew’gen Wällen. Die Fürsten seh’ ich und die edlen Herren in Harnischen herangezogen kommen, ein harmlos Volk von Hirten zu bekriegen. Auf Tod und Leben wird gekämpft, und herrlich wird mancher Paß durch blutige Entscheidung. Der Landmann stürzt sich mit der nackten Brust, ein freies Opfer, in den Wald der Lanzen, er bricht sie, und des Adels Blüte fällt. Es hebt die Freiheit siegreich ihre Fahne. Drum haltet fest zusammen, fest und ewig. Kein Ort der Freiheit sei dem andern fremd. Hochwarten stellet aus auf euren Bergen, daß sich der Bund zum Bunde rasch versammle, seid einig, einig, einig. [33] εἰ δὴ γεωργὸς τοιάδ’ αὐτούργωι χερί λεὼς ἐτόλμησ’ ἱππικοῦ τέλους δίχα αὑτοῦ πεποιθὼς ἐγγενεῖ ῥώμηι τόσον, ἡμῶν μὲν οὐκέθ’ ἡ πατρὶς δεήσεται, ὥστ’ ἀσμένοισιν ἔστιν εἰς ᾍδου μολεῖν. ἄφθαρτα μὲν γάρ, ἀλλὰ σώιζεσθαι θέλει
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ἄλλαισιν ἤδη χερσὶ τἀν βροτοῖς καλά. κρατὸς δὲ τοῦδ’, ἐφ’ ὧι ποτ’ ἦν προκείμενον τὸ μῆλον, ἄλλ’ ἐκφύσεται κρεῖσσον φυτόν, νεωρὲς ἔρνος ἰσονόμου δήμωι κράτους. — ὅρα· τί φέγγος ἐν γέροντος ὄμμασιν στίλβει; μαρανθεῖσ’ ὧδ’ ἂν οὐ φθίνοι φύσις, ζόης δ’ ἄρ’ ἀκτὶς φαίνεται πρώτη νέας. — ἤδη κάτεισιν ἱππὰς ἐξ ὀρεικτίτων πύργων, πολιτείας δὲ τοῖς ἀστοῖς ἴσης νόμωι μεθέξουσ’ ὅρκι’ ὀμνύντες φίλα. ἦ γὰρ κατ’ Οἴαν Θουρίους τ’ ἦρξαν πόνου, κάρα τ’ ἀνέσχεν Ἀρκαδία στρατηγικόν, Ἐλευθεραί τ’, ἔρεισμα τοῖς ἐλευθέροις, καὶ δημιουργῶν θίασον ἐξασκεῖ Τόριξ εἰς ἔργ’ ἄρεια. Βασιλέων σφαλήσεται ὀρῶν ὑπ’ ἀρρήκτοισι τείχεσιν κράτος. ὁρῶ δ’ ἄνακτας καὶ πρόμους εὐπατριδῶν δεινῶι ῥέοντας χαλκοθώρηκι στρατῶι εὔηθες ἐξόλλυντι ποιμένων γένος. ἄσπειστος ἔσται πόλεμος, ἐκ δὲ πολυφόνων πολλοῖς ἀγώνων κλέος ἀειθαλὲς στενοῖς, ἐν οἷς τρόπαια στήσεται νίκης καλῆς. γυμνοῖς γεωργὸς ἄλοκα δουράτων ἀνήρ στέρνοισιν εἰσδύς, ἐκπροδοὺς ψυχὴν ἑκών, ῥήξει φάλαγγα δυσμενῶν εὐπατριδῶν, λώτισμά τ’ αὐτῶν πᾶν διαφθαρήσεται. δήμωι δὲ νίκης καὶ κράτους λάμψει φάος. πρὸς ταῦτ’ ἔχεσθ’ ἐς αἰὲν ἀλλήλων, φίλοι, [34] ἔχεσθ’ ἐς αἰὲν ἀσφαλῶς τε κἀδόλως, δήμωι τε δῆμος μὴ γένοιτ’ ἐχθρός ποτε. νῦν οὖν ἐπ’ ἄκροις φύλακες ἱστάντων πυρά ὁρκωμότας καλοῦντες εἰς ἐκκλησίαν. ὁμοφρονεῖθ’ ὁμοφρονεῖτε χαίρετε. Und nun folgte eine Szene der Pandora. EPIMETHEUS.
Wie süß, o Traumwelt, schöne, lösest du dich ab. Entsetzlich stürzt Erwachendem sich Jammer zu. Weiblich Geschrei? sie flüchtet, näher, nahe schon.
Was ist übersetzen? EPIMELEIA.
Ai ai weh weh mir weh weh weh ai ai mir weh. EPIMETH. EPIMEL.
Epimeleias Töne, hart am Gartenrand. Weh, Mord und Tod! weh Mörder! ai ai Hilfe mir!
EPIMEL. PHIL. EPIMETH. EPIMEL. EPIMETH. PHIL. EPIMETH. PHIL. EPIMEL. PHIL. EPIMEL. EPIMETH. PHIL. EPIMEL. EPIMETH.
Vergebens. Gleich erfass’ ich dein geflochtnes Haar. Im Nacken, weh, den Hauch des Mörders fühl’ ich schon. Verruchte, fühl’ im Nacken gleich das scharfe Beil. Her. Schuldig, Tochter, oder schuldlos, rett’ ich dich. O Vater du! ist doch ein Vater stets ein Gott. Und wer verwegen stürmt aus dem Bezirk dich her? Beschütze nicht des frechsten Weibs verworfnes Haupt. Sie schütz’ ich, Mörder, gegen dich und jeglichen. Ich treffe sie auch unter dieses Mantels Nacht. Verloren, Vater, bin ich. O, Gewalt, Gewalt. Irrt auch die Schärfe, irrend aber trifft sie doch. Ai ai weh weh mir. weh uns weh weh weh Gewalt. Geritzt nur? weitre Seelenpforten öffn’ ich gleich. O Jammer, Jammer! weh uns, Hilfe, weh uns, weh. [35]
PHILERUS.
PROMETHEUS. EPIMETH. EPIMEL. PHIL. PROM. PHIL. PROM.
Welch Mordgeschrei? im friedlichen Bezirke tönt’s. Zu Hilfe, Bruder, Armgewalt’ger, eile her. Beflügle deine Schritte, Rettender, heran. Vollende, Faust, und Rettung schmählich hinke nach. Zurück, Unsel’ger, töricht Rasender, zurück. Phileros, bist du’s? Unbänd’ger, diesmal halt’ ich dich. Laß Vater los, ich ehre deine Gegenwart. Abwesenheit des Vaters ehrt ein guter Sohn. ΕΠΙΜΗΘΕΥΣ
ὡς ἡδέως μ’ ἐπεστράφητ’, ὀνείρατα. καὶ μὴν ὕπαρ μοι δεινὸν ἐμπίπτει κακόν· θήλει’ ἀυτὴ φυγάδος· ἔστι δ’ οὐ πρόσω. ΕΠΙΜΕΛΕΙΑ ΕΠΙΜΗΘ. ΕΠΙΜΕΛ.
αἰαῖ ἰώ μοι. ἤυσεν Ἐπιμέλεια τοῖσδ’ ἐφ’ ἕρκεσιν. φεῦ φεῦ ἀποκτενεῖ με, φεῦ φονῶν, ἀρήξατε.
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Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff ΦΙΛΕΡΩΣ
ΕΠΙΜΕΛ. ΦΙΛ. ΕΠΙΜΗΘ. ΕΠΙΜΕΛ. ΕΠΙΜΗΘ. ΦΙΛ. ΕΠΙΜΗΘ. ΦΙΛ. ΕΠΙΜΕΛ. ΦΙΛ. ΕΠΙΜΕΛ. ΕΠΙΜΗΘ. ΦΙΛ. ΕΠΙΜΕΛ. ΕΠΙΜΗΘ.
μάτην ἔφευξας· κρωβύλου δεδράξομαι. κτείνοντος, οἴμοι, πνεῦμα θιγγάνει δέρης. ὦ μῖσος, ἤδη πέλεκυς εἰ δέρη τύχοι. ἔσωσά σ’, εἴθ’ ἥμαρτες εἴτε μή, τέκνον. ἰὼ πάτερ μοι. θεὸς ἀεὶ παισὶν πατήρ. τίς δῆθ’ ὑβριστὴς δεῦρό σ’ ἐξέμην’ ὅρων; μὴ τῆς ἀναιδοῦς σῶιζε μισητὸν κάρα. σώιζω φονεῦ νιν, σοῦ τε καὶ πάντων ἄπο. ἐγὼ δὲ κακκτείνω γε, κἀν πέπλων σκότωι. ἀπωλόμην, ὦ πάτερ, ἀπωλόμην βίαι. ἥμαρτεν ἔγχος· καιρίως δ’ ἁμαρτάνει. αἰαῖ πέπληγμαι. δεινὰ δείν’ ὑβρίσμεθα. [36] οὔπω πρὸς ἧπαρ; εὐρυνῶ ψυχῆι θύραν. οἴμοι, μάλ’ οἴμοι. δεῦρο δὴ βοηθόοι. ΠΡΟΜΗΘΕΥΣ
ΕΠΙΜΗΘ. ΕΠΙΜΕΛ. ΦΙΛ. ΠΡΟΜ. ΦΙΛ. ΠΡΟΜ.
τίς ἐξ ἀσύλων τερμόνων βοᾶι φόνον; ὦδέλφ’ ἄρηξον, σπεῦσον ὦ κρατιστόχειρ. πόδα πτέρωσον, εἴπερ ἐκσώσων πάρει. ἀλλ’ ὑστερείτω – πρᾶσσε χείρ – σωτηρία. δύστην’ ἀπόστηθ’, ὅστις εἶ, λυσσῶν μάτην. Φίλερως; σὺ δῆτ’ εἶ; μάργον ἀλλὰ νῦν σ’ ἔχω. ἄφες μ’ ἄφες· παρόντα σ’ αἰδοῦμαι πάτερ. ἀπουσίαν παῖς ἐσθλὸς αἰδεῖται πατρός.
Endlich eine Probe davon, wie sich jene morlackischen Trochäen in griechischen Anapästen machen: Fahre wohl, du Menschenvater, merke. Was zu wünschen ist, ihr unten fühlt es. Was zu geben sei, die wissen’s droben. Groß beginnet ihr Titanen. Aber leiten zu dem ewig Guten, ewig Schönen ist der Götter Werk: die laßt gewähren. σὺ δὲ χαῖρε, πάτερ τῶν πηλογόνων, ταῦτα διδαχθείς. ὑμᾶς μὲν ὅσων ἐπιθυμῆσαι θέμις ἐστὶ καλῶν ἐδίδαξεν ἔρως
Was ist übersetzen?
τοὺς κατὰ γαῖαν. τί δὲ χρὴ δοῦναι τίνα τ’ ἐστὶ τυχεῖν λώιονα θνητοῖς, μάκαρες κατ’ Ὄλυμπον ἴσασι. μεγαληγορίαι δ’ ἐμβαίνεθ’ ὁδὸν τιτανογενεῖς· τὸ δ’ ὁδηγῆσαι πρὸς τὸ δίκαιον τό τε κάλλιστον τέλος ἐστὶ θεῶν· οἷς χρή σε θέλοντα πιθέσθαι.
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Wolfgang Schildknecht Wolfgang Schildknecht (geb. 1909; Todesjahr unbekannt), Germanist, hatte seit 1930 an den Universitäten Tübingen, Halle, Berlin, Bern und Bonn studiert. 1935 promovierte er bei dem Germanisten Carl Enders in Bonn mit der Arbeit Deutscher Sophokles. Beiträge zur Geschichte der Tragödie in Deutschland. Weiteres ließ sich nicht ermitteln. In seiner Dissertation vertritt Schildknecht Positionen Rudolf Borchardts und des GeorgeKreises (George, Gundolf, Hellingrath), die sein Urteil über Übersetzungen des Sophokles bestimmen: So lehnt er etwa Wilamowitz’ Übersetzungen ab und lässt einzig Opitz, Hölderlin und Hofmannsthal als wirkliche Erneuerer gelten. Das Problem der Übersetzung antiker Literatur thematisiert Schildknecht aus wirkungsgeschichtlichem Interesse, wobei der zeittypische Gedanke der „Verwandlung“ als „Renaissance“ deutlich spürbar wird. Schildknecht vertritt hier ein Ideal der dichterischen Erneuerung des antiken Originals durch passende „Umstilisierung“ des antiken Textes in neue Formen, wobei sich das Eigene und das Fremde auf neuer Stufe vereinigen sollen. Deutlich zeitgebunden sind dabei die Ablehnung objektiven Verstehens zugunsten irrationalen Fühlens sowie die Betonung des „Germanisch-Deutschen“. Der folgende Text ist dem Einleitungskapitel der Dissertation entnommen.
Deutscher Sophokles. Beiträge zur Geschichte der Tragödie in Deutschland (Auszug) Aus: Wolfgang Schildknecht, Deutscher Sophokles. Beiträge zur Geschichte der Tragödie in Deutschland (Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde, genehmigt von der philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn), Würzburg 1935, 25–33.
[25] Es ist jedoch sehr unwesentlich, ob ein schiefes Antikebild in einer Renaissance herrscht, aber es ist eminent wesentlich, ob dies Antikebild zeugungsfähig ist. Vielleicht ist die mißverstandene Antike es immer mehr als die historisch recht gesehene, trotz mancher Einzelheiten ist hier meist ein wirklich innerer Kontakt lebendig vorhanden. In unserer Klassik war es jedenfalls so, und die Meinung Nietzsches von der Antike ist für die moderne Geistesentwicklung wesentlicher als die gesamte historisch-objektive Forschung. (Daß es sich auch für Opitz und Hofmannsthal so verhält, werden wir im einzelnen noch zu zeigen haben). Für eine Erneuerung einer Tragödie des Sophokles ist es gleichermaßen unwesentlich wie Sophokles eigentlich zu verstehen, ob etwa diese oder jene Verse echt oder unecht sind, es ist allein maßgeblich, ob der tragische Geist des Sophokles in der Erneuerung lebendig ist, und es ist weiter maßgeblich wie der Dichter, der die Tragödie erneuert, Sophokles allgemein aufgenommen, was er zu eigener Schöpfung verwandelt hat und was für eine Wandlung das Fremde erfahren hat.
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Aus der Entzweiung des Eigenen mit den fremden, oft feindlichen Mächten gebiert sich das Neue. (Wir werden später noch zu zeigen haben, daß eine solche Wandlung (Umstilisierung) auch Verfälschung sein kann). Sich selbst in der Entzweiung nicht verlieren, sondern sich wiederfinden in der Verwandlung, das ist wahrhafte Erneuerung. „Sieger bleibt, wer sich wandeln kann“ (Stefan George).1 Diese Wandlungskraft aber besitzen nun eben nicht Zeiten und Menschen des historischen Relativismus, die alles verstehen, und eben dadurch keines erfassen, sondern allein die großen starken Menschen, die eine Sicherheit im Eigenen besitzen, aus der heraus sie annehmen und verwerfen. Diese Sicherheit aber liegt vor und diesseits allen objektiven [26] Forschens. Und in ihr allein liegt die Kraft der re-naissance. Der aufgeklärte Nikodemus, der über das Problem der Wiedergeburt grübelt, wird sie nicht erleben können. Der Unterschied von ‚Kontakt mit der Antike‘ und ‚objektiv historischem Verstehen der Antike‘ ist nur der von ‚Geist‘ und ‚Intellekt‘. Rein der Kenntnis nach hindert diesen weniger als jenen einen Tempel zu bauen, eine Tragödie zu erneuern, aber wenn er es tat, es wurde, wir sagten es schon, Klassizismus, d. h. es fehlte die innere Notwendigkeit, ohne die nur äußerliche Wiederholung wird. Wirkliche Wiedergeburt solcher Art wurde vielleicht nur in Goethe. Er dichtete nicht irgendeine bestimmte griechische Tragödie nach (wie Opitz, Hölderlin und Hofmannsthal). Aber seine „Iphigenie“ ist die grandioseste Verwandlung griechischen Wesens zu Deutschem. Von Euripides, seinem ‚Vorbild‘ ist er weit entfernt und doch ist er der eigentlichen Wesenheit der Tragödie auf eine unerklärbare Art nahe (näher an Sophokles Art als an der des Aufklärers Euripides). Und wiederum ist sein Drama so eminent Deutsch, daß wir unsere eigenste Sehnsucht darin lebendig finden: „Das Land der Griechen mit der Seele suchend“. Eben das ist es: Unsere Sehnsucht; und nur so, als Geburt unserer Sehnsucht, ist das Wunder der Helena in Deutscher Kunst verstehbar. Immer drängt der Norden zur Antike. Wie die germanischen Heerscharen, die gen Süden fuhren ihn zu erobern und ihn erwarben um ihn zu besitzen, so drängt noch stets der Deutsche Geist hin zur Vollendung der Antike. Deutsche Klassik wächst aus einer idealen Forderung an sich selbst. Ethos, Zucht, Disziplin und Entsagung sind die Führer zu dieser Vollendung. Man sage nicht, dass dies einen schmerzlichen Zug mit sich bringe, den die antike Klassik nicht besessen (vergl. Einl. S. 20). Hölderlin wußte schon2, daß der Wunsch ‚sich zu fassen‘, die ‚Sophrosyne‘ den Griechen seine eigentliche natürliche Anlage „das Feuer vom Himmel“, die Leidenschaft, habe überwinden lassen, und habe ihn ernüchtert. Auch in Griechenland also eine Lösung zur Harmonie aus Ethos, und immer von dem Wissen um die dunklen Mächte, von der ‚Angst‘ getragen. Beide Male beruht Klassik auf einer Begrenzung zur Form aus Ethos. In dieser Sehnsucht nach Griechenland ist Goethe der repräsentativste Deutsche. Er schrieb griechische Verse in Deutscher Sprache. Seine _____________ 1 2
[Diese Zitate sind aus dem Gedicht Der Krieg (1917) von Stefan George montiert: „… Sieger/Bleibt wer das schutzschild birgt in seinen marken/Und Herr der zukunft wer sich wandeln kann.“] Hölderlin: Brief an Böhlendorff v. 4. 12. 1801, vgl. Höld. Werke: B, II, S. 432; vgl. auch S. 56 f. [Hölderlins Werke, kritisch durchges. u. erl. Ausg., hg. v. Hans Brandenburg, Leipzig 1924.]
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griechischen Verse sind nicht immer richtig nach den Gesetzen der Metrik, nicht so richtig wie die Verse Platens, aber Andreas Heusler hat mit großem Recht bemerkt, er schreibe Deutscher und so auch schöner und richtiger. Es sind griechische Verse die Trimeter der „Pandora“ und des „Faust II“ und ebenso seine Distichen, obwohl man ihnen nach den Gesetzen der Metrik Fehler ankreiden könnte, wenn man nämlich Metrik als etwas Allgemeines aufstellt diesseits allen Sprachrhythmus‘. Der Trimeter [27] wird ein Trimeter sein auch im Deutschen, aber anders im Rhythmus als der Griechische. Wobei man noch nicht einmal die berechtigte Forderung zu erheben braucht, daß der Trimeter der Tragödie in der Deutschen Erneuerung durch den Blankvers zu ersetzen sei, da dem Griechen der Trimeter leicht klang, was uns der Blankvers, während der Trimeter uns steif und schwerfällig erscheine. Am eindeutigsten ist der Unterschied in der Aufnahme eines Verses wohl beim trochäischen Tetrameter, der den Griechen als leicht und beschwingt (laufend!) klang, während er uns immer gewichtig und feierlich-gravitätisch ertönt. Aus der Nachbildung antiker Metra werden durch den schöpferischen Geist neue Formen; und nur sie sind Leben, nicht aber die sklavisch nachgemessenen Formen. Der Grundunterschied der Metrik der Griechen und der Germanen lag in den verschiedenen Systemen3 hier der „Wägung“ (nach dem Sinntonaccent) dort der „Messung“ (nach dem Lautbestand der Silben). Wenn die Ansicht richtig ist, daß der antike Vers iktenlos ist, also nicht dynamisch, so ist er in aller germanischen Sprache nur entfernt wiederzugeben. Wesentlich aber ist, daß in Germanien sich unter dem Einfluß der Antike der Rhythmus wandelt zu einem geregelten Wechsel ähnlich dem der Griechen. Ob man nun für Länge und Kürze, Hebung und Senkung setzt (oder es etwas verdrehter sagt, aber zum selben Ende kommt), oder ob man im Germanischen Längen und Kürzen erfindet, entscheidend ist, daß man einen Wechsel formte von verschiedenen Silbenqualitäten in einem geregelten Ablauf, den man aus eigenem Sprachgesetz nicht entwickeln konnte. Wir halten unseren ganzen Rhythmus seit Opitz für einen gewandelten, aus der Antike aufnehmend, aber zu uns hin verwandelt: Hebung und Senkung als den Wechsel, den die germanische Sprache gesetzmäßig in sich trägt, gesetzt an die Stelle des Wechsels von Länge und Kürze. Daß solcher Vers dann doch ein anderer geworden, ist klar, und daß manche Versformen, die nur mit Längen und Kürzen bildbar, nun nicht zu bilden sind, weil das Gesetz von Hebung und Senkung es nicht ohne Verkrampfung zuläßt, leuchtet ebenso ein. Und Opitz hatte schon ein rechtes Empfinden, wenn er nur Jamben und Trochäen für die Deutsche Sprache zu bilden möglich glaubte. Es bleibt fraglich, ob man bei Nachdichtung einer griechischen Tragödie den Trimeter als unbedingt festzuhalten ansieht. Er ist schon deshalb unglücklich, weil er meist nur durch allerlei Flickwörter aufrechtzuerhalten ist, (wenn Vers für Vers übersetzt ist) die im Griechischen dazugehören mögen, aber bei uns gekünstelt klingen, besonders wenn dann noch die Satzkonstruktion genau nachgeahmt wird. Vielleicht aber ist es nur deshalb, weil wir noch keine wahrhafte Nachdichtung der Tragödie in Trimetern ha-[28]ben, denn von den Trimetern Goethes sagt niemand, daß sie geküns_____________ 3
wir folgen hier Andreas Heusler.
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telt seien. Zur Erneuerung ist wesentlich, daß das Werk mit gleicher Gewalt auf uns eindringt, wie vor 2000 Jahren auf den Griechen. Wenn dies auch der Blankvers, oder gerade er erreicht, so ist Erneuerung. Daß wir den Jambus überhaupt haben, ist schon an sich griechischer Einstrom: Renaissance. Und ebenso scheint es uns mit manchen anderen Äußerlichkeiten zu sein. Schließlich auch, daß wir überhaupt Tragödie haben, war nur möglich durch ‚Kontakt mit der Antike‘, denn unsere eigene Kunstform zur Gestaltung tragischen Erlebens war das Lied (frühgermanisches Heldenlied!). […] Wie die Lyrik, so hatte auch das griechische Drama nicht ein persönliches Erlebnis. Die Frage nach dem persönlichen Erlebnis zum „König Ödipus“ ist an sich schon sinnlos, aber garnicht bei Goethes „Iphigenie“. So kann sehr wohl und vielleicht gehört gerade dies zum Wesen einer Deutschen Erneuerung ein in einer attischen Tragödie gestalteter überpersönlicher Mythos zum Ausdruck persönlichen Erlebens werden. So nur wird man „Iphigenie“ als Tragödie verstehen. Man wird wohl nur von Renaissance und Klassik reden können, wenn nicht nur eine bestimmte Tragödie erneuert ist, sondern das gesamte Schaffen von der Begegnung mit der Antike Befruchtung erfuhr. Wo das nicht eingetreten, wird man bei allem Großen, was da sein kann, nicht von Erneuerung sondern stets nur von Übersetzung zu reden haben, auch wenn sie von einem Dichter getan wurde. Erneuerung nun in diesem Sinne sind uns von den SophoklesÜbersetzern einzig Opitz, Hölderlins und Hofmannsthals Gestaltungen. Sie allein: Renaissance-Dichter. Opitz, Hölder-[29]lin und Hofmannsthal erneuern, d. h. nun nicht, daß hier vollkommen Sophokles als Sophokles dasteht, sondern daß ein Deutscher Dichter von Sophokles’ Werk so beeindruckt war, daß er ihm für sich Leben gab. Das Wesen der Tragödie des Sophokles liegt im tragisch gesehenen Verhältnis ‚GottMensch‘, und diese tragische Gesinnung ist erhalten in den Erneuerern und ihrem Werk. Daß ihr Werk sonst eigenständig, macht, daß sie Dichter, Schöpfer und nicht ‚treue Übersetzer‘ waren. Es liegt an ihrer eigenständigen Schöpferkraft, daß Sophokles bei Opitz rhetorisch abgewandelt, bei Hölderlin „orientalisch verbessert“ und bei Hofmannsthal psychologisch erfahrbar wurde4. Es ist an dieser Stelle zu fragen, ob denn überhaupt Übersetzung möglich? Denn es entsprechen sich weder das Wort dem Wort noch der Satz dem Satz noch das Bild dem Bild und schon garnicht entsprechen sich die erweckten Gefühlsassoziationen. Und ist scheinbar der Satz genau wörtlich übertragen, so ist durch den Klang der Vokale und Konsonanten die Sprachsatzmelodie verändert, damit ein anderes Hören und so ein anderes Fühlen geschaffen. Allgemein anerkannt ist die Unübersetzbarkeit gewisser Worte, die Eigenschaften aussagen, die eminent und nur dem Volke angehören, das das Wort prägte: καλοκἀγαθία virtus; Gemüt; l’esprit; gentleman; u. s. f. und so scheint es denn unmöglich zu übersetzen, wenn gerade diese Kristallisationspunkte des eigenen Wesens unübersetzbar sind. Oder aber wir helfen uns negativ, indem wir gerade die besten der Übersetzungen, die Erneuerungen, als stillos bezeichnen, worunter dann Schillers „Macbeth“ fällt. Daß eben Schiller hierher gehört, ist daran sichtbar, daß er _____________ 4
auch bei Hölderlin liegt eine Verwandlung des Sophokles vor, was seit Hellingrath gern übersehen wird.
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die Prosastellen des Macbeth in Verse brachte. Nur der einheitliche Rhythmus war ihm gemäß. „Es war eine Übersetzung aus dem barocken in den klassischen Stil“5. Jede wirkliche Übersetzung schließt notwendig eine Umstilisierung in sich. Zum völligen Ebenbild des Originals kann sie nicht werden, denn es bedeutet schon Veränderung des Sprachgewandes. Der Geist der Sprache ist notwendig wie der Leib einer Sprache, hier wie dort ein anderer. Selbst „wenn Form und Gehalt des Originals nur in anderer Sprache“6 erschienen, so würde dies ‚nur‘ schon den abgründigen Unterschied offenbaren. In ihm liegt die ganze Schwierigkeit aller Übersetzungen, die sich in den Faktoren: völkischer Raum, und Zeit, und Person des Dichters vereinfachen lassen. „Je ferner uns eine Nation immer gestanden hat, um desto schwerer können wir ihre Dichtung verstehen.“7 Das ‚ferner‘ gilt auch vom zeitlichen Abstand und auch die verschiedene individuale und soziologische Struktur der Dichter wird nicht ohne Einfluß auf die Übersetzung sein. ‚Treue‘ einer Übersetzung ist nur der Niederschlag des irratio-[30]nalen Verhältnisses von Raum und Zeit der Übersetzung zu Raum und Zeit des Originals8. Da ist nun Treue etwas sehr Schwankendes, nicht mehr eindeutig gültig Festliegendes geworden. Man wird Übersetzungen unserer Zeit vielleicht schon morgen nicht mehr als ‚treu‘ gelten lassen. Die ‚Treue‘ ist etwas, das dem Willen des Übersetzers und seinem Wissen nicht allein unterworfen ist, weshalb man sagen kann, daß gemeinhin eine ‚treue‘ Übersetzung ein Unding ist. Wie es sie in einem höheren Sinn doch noch gibt, soll das Folgende zeigen. Wir unterscheiden grundsätzlich zwei Arten von Übersetzungen, einmal die sogen. ‚treuen‘ Übersetzungen, bei denen sich nun das Phänomen zeigt, daß sie von Jahrhundert zu Jahrhundert (oder schneller) neu übersetzt werden. Sie sind nicht ‚treu‘, nicht philologisch-exakt, wie sie selbst glaubten, so sagt man mit Recht und übersetzt von neuem. Die andere Art der Übersetzung ist die, die gültig feststeht auch über Zei_____________ 5
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Strich: K-R S. 262. [Fritz Strich, Deutsche Klassik und Romantik oder Vollendung und Unendlichkeit. Ein Vergleich, 3. Aufl., München 1928.] R L: Artikel: Übersetzung. [Rupprecht Leppla, „Übersetzungsliteratur“, in: Reallexikon der Deutschen Literaturgeschichte, Bd. 3, hg. v. Paul Merker/Wolfgang Stammler, Berlin 1929, 394–402.] Mommsen S. 21. [T. Mommsen, Die Kunst des deutschen Uebersetzers; Progr. Oldenburg 1857 (Teil 1); o. S. 179–181.] vgl. Schadewaldt: Problem des Übersetzens. [Wolfgang Schadewaldt, „Das Problem des Übersetzens“, in: Die Antike 3 (1927), 287–303. Der Aufsatz wurde später wiederabgedruckt in: Hellas und Hesperien. Gesammelte Schriften zur Antike und zur neuen Literatur. Zum 60. Geburtstag v. Wolfgang Schadewaldt, hg. v. Ernst Zinn, Zürich/Stuttgart 1960, 523–537 (2. Aufl., 1970, Bd. II, 608–62). Schildknecht bezieht sich hier auf folgende Äußerung Schadewaldts (S. 288 f. [= Hellas und Hesperien1 525; Hellas und Hesperien2 II, 609]): „Welcher Grad aber und welche Art der Erhaltung und Erneuerung des Originals durch die Mittel der eigenen Sprache Treue ist, darüber denkt der einzelne Übersetzer und dachte das jeweils übersetzende Zeitalter verschieden. Denn was wir treffend im Deutschen (wie der Lateiner) die ‚Treue‘ der fertigen Übersetzung nennen, das ist eben die einzelne Verwirklichung des allgemein geistigen Verhältnisses, welches das Individuum oder den Geist der Zeit mit den Originalen verbindet.“]
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ten hinweg, wie die eigenen Werke des Dichters selber, weil aus ihnen in der Aneignung des Fremden eine ‚Neue Form‘ geworden ist9. Den Übersetzungen und den Erneuerungen einer Zeit haften dieselben zeitlichen Eigenschaften an, und doch geht die eine verloren, die andere lebt trotz aller neuen Versuche. Man denke an den „Sophokles“ Stolbergs (1787) und den Hölderlins (1804) (um eine Übersetzung zu nehmen, die den Vergleich zu Hölderlin besser aushält, als die Versuche der Ast Fähse Solger, die gleichzeitig mit Hölderlin hervortraten10). Wie oft ist Stolbergs Übersetzung seitdem schon überholt, fast in jedem Jahrzehnt, das folgte. Die Übersetzung Stolbergs ist zu sehr Umstilisierung im Sinne seiner Zeit und deren Bildungsideals. Sophokles wird hier schäferlich-empfindsam. Statt des Dämons, der ruft „Triff noch einmal“ (Elektra 1416) übersetzt (!) Stolberg: „Ende, wenn du kannst“. Man hat das Gefühl, als ob Stolberg beim Lesen der furchtbaren griechischen Worte (παῖσον διπλῆν)11 gezittert habe. Und man höre einmal weiter, wie er die mächtige Zeichnung des Eros in einen RokokoGobelin verwandelt: „Unbesiegter, der du, Eros, in blühender Mädchenwange verschanzt, lauschend im Grübchen liegst. Zähmer aller Gewalten Herr des Meeres und der Heerdentrift“12.
Hier liegt sicher eine Umstilisierung vor, aber das ist ja nicht das allein Wesentliche. Es ist bei solcher Umstilisierung Sophokles verfälscht worden. Diese „verfälschende Umstilisierung“ ist dann eine dritte Art der Aufnahme eines fremden Kunstwerkes. Eine solche Umstilisierung ist etwa noch Wolfhart Spangenbergs „Aias“ (1608), hier ist nicht nur eine dem Zeitgeschmack angepaßte poetische Form [31] gewählt (wie das auch bei Opitz und Hofmannsthal der Fall ist), sondern auch ist verändert worden nach anderen künstlerischen Blickpunkten als sie das Original gab, wobei das Tragische zersetzt und aufgehoben wurde. Eine fälschende Umstilisierung kann mit großer Genialität geschehen, aber dann ist im besten Falle ein neues Werk entstanden, das den Stoff gemein hat mit dem alten Werk, nicht aber ist Erneuerung geworden. Dies letztere geschah zuletzt in der „Antigone“ Walter Hasenclevers (1917). Die Umstilisierung ging hier so vor sich, daß von den Grundlagen der Tragödien des Sophokles, die in seiner Religion liegen, nichts blieb. Es entstand in Hasenclevers „Antigone“ ein Drama, dem man Schönheit und Gewalt nicht absprechen kann, und es ist sicher einer der genialsten Würfe des Ex-
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vgl. S. 27 f., wie aus der Aneignung fremder Metra: „Neue Formen“ werden. vgl. Zeittafel. [Schildknecht hat seiner Dissertation eine Liste der von ihm erfassten Sophokles-Übersetzungen zwischen 1608 und 1932 vorangestellt.] [Soph. El. 1389.] Soph. Antig. Vers 781 f., Stolberg Bd. 14 S. 51 (das Elektra-Zitat steht Stolberg Bd. 13 S. 87). [Christian Graf zu Stolberg, Sophokles, Tragödien, in: Gesammelte Werke der Brüder Christian und Friedrich Leop. zu Stolberg, Hamburg 1823.]
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pressionismus. Aber mit der attischen Tragödie des Sophokles hat es gerade noch den Stoff gemein13. Die Art der verfälschenden Umstilisierung (lieber möchte man ihr nicht einmal mehr diesen Namen geben) ist die Art der Amelung (1917)14 und Prellwitz (1898)15. Dies ist geradezu beispielhaft für entartete literatenhafte Überheblichkeit eines Übersetzers. Man will nicht übersetzen, denn man besitzt nicht die achtenswerte Demut des Übersetzers und wohl auch nicht seine Fähigkeiten. Hier fehlt jede Achtung und Ehrfurcht vor dem Werk des Sophokles, einzig der persönlichen Eitelkeit wird gefrönt unter Mißachtung des alten erhabenen Kunstwerks. Und, kein Wunder, bei solcher Gesinnung, man dichtet schnell etwas dabei (Amelung z. B. einen „Laios“ als Vorspiel). Sophokles ist zu wenig! Die Überheblichkeit des Literaten bricht vor, die da meint, der alte Künstler habe eben das nicht so gekonnt, wie der eitle Spätling. Man muß den Sophokles „verbessern“! Sophokles verbessern nun ist auch die Art der philologischen Übersetzer, indem sie ihn klar machen, rationalisieren, leicht verständlich, biedermännisch im Tonfall, als ob Sophokles ein Biedermann des ausgehenden 19. Jahrhunderts gewesen wie diese Übersetzer selber. Ich denke besonders an Wilamowitz. Rudolf Borchardt hat es sehr hart aber richtig so gesagt16: „Ein Kunstwerk, das Form hat, ist inkommensurabel bis in jede äußerlichste Vereinzelung hinein. Übersetzungen wie die, von denen wir hier ausschließlich sprechen, sind es garnicht und nirgend und unter keinem Gesichtspunkte. Man kann sich an einem Menschen nicht schwerer vergehen, als indem man ihn glauben macht, es gäbe leichte Wege zum Schweren, oder, das Schwere sei eigentlich leicht, oder: das Inkommensurable lasse sich eigentlich doch irgendwie unter eine Mensura bringen. Und jetzt sagen sie mir: Was gibt es leichteres als die Wilamowitzische Übersetzung einer griechischen Tragödie? Man liest das nach Tische, schläft dabei ein, liest weiter, wo man stehen geblieben ist – oder [32] ungefähr da, wo man stehen geblieben ist – es liegt so viel daran nicht – und überschlägt gegen Ende entschlossen alle Chorlieder, denn so unverdorben ist niemand, daß er Wilamowitzische Chöre vertrüge. Nun, man ist schließlich fertig, klappt das Buch zu, gähnt einmal, und sagt zu sich selber: ‚Ja, die Griechen! Merkwürdig, wie modern sie doch eigentlich waren‘.“ Die Erneuerung, wir sprachen da wohl von Umstilisierung, die Erneuerung mutet uns nie „modern“ an. _____________ 13
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wir werden anderenorts diese Aufnahme des Sophokles durch Walter Hasenclever noch genauer behandeln. Hier könnte darüber nur anhangsweise gehandelt werden, da sie keine wirkliche Erneuerung darstellt, den Erneuerungen aber sich diese Arbeit widmet. (Auch Richard Wagners Versuch, das griechische ‚Gesamtkunstwerk‘ zu erneuern, hat uns beschäftigt, aber da auch es nicht Erneuerung wurde, blieben auch die Arbeiten darüber außerhalb der Arbeit.) [Walther Amelung (1865−1927) hatte Klassische Altertumswissenschaften studiert und war nach der Promotion (1888) zunächst Privatgelehrter, bevor er 1921 Leiter des Deutschen Archäologischen Instituts in Rom wurde. Seine Übertragung Sophokleischer Dramen aus dem Jahre 1916 erschien bei Diederichs in Leipzig; sie umfasst ein Vorspiel Laios und die Tragödien Antigone, Oidipus auf Kolonos und König Oidipus.] [Die Schriftstellerin Gertrud Prellwitz (1869−1942) veröffentlichte im Jahre 1898 Ödipus oder das Rätsel des Lebens. Tragödie in fünf Akten.] Borchardt S. 17 f. [Rudolf Borchardt, Das Gespräch über Formen und Platons Lysis deutsch, 2. Aufl. Berlin 1918.]
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Der große Erneuerer ist Dichter genug um die Dunkelheiten des Sophokles wiederzugeben, er fügt nicht erklärend etwas hinzu. Hölderlin: „Doch, Kinder, schnell steht von den Stufen auf, Und nehmet hier die bittenden Gezweige. Ein andrer sammle Kadmos Volk hieher“. Wilamowitz: „Auf schleunigst auf, ihr Kinder, nehmt die Zweige von den Altären fort, des Bittgangs Zeugen, Und gehe jemand, die Thebaner her Zur Volksversammlung zu bescheiden …“17 Ein anderes Beispiel. Wir geben nebeneinander Solger, Thudichum und Hölderlin18: Solger: „Weichend dem Eide wirf nimmer mit trübem Grund in die Beschuldigung, verunehrt den Freund!“ Thudichum: „O wirf auf den Freund, der durch den Fluch sich band nicht ehrlose Schuld in grundlosem Wahn“. Hölderlin: „Du sollst den Heiliglieben Niemals in Schuld Mit ungewissem Wort’ Ehrlos vertreiben“. Solger ist unklar, verworren, Thudichum: klar aber langweilig, Hölderlin: dunkel, tief eindeutig. Das Streben zu leichter Verständlichkeit, was die andern haben, hat nie der Erneuerer, so wie es der Dichter nicht hat. Daß sehr oft gerade die Erneuerungen von Dichtern sind, die sicher weniger Griechisch konnten als die Philologen gleicher Zeit (etwa Hofmannsthal und Wilamowitz) mag auffallen. Erklärend mag dazu dies dienen, daß der Dichter dem Dichter und dem dichterischen Wort nachzufolgen imstande ist, der Philologe aber dem rationalen Wort nur folgen kann. Und hier schließen wir uns wieder Rudolf Borchardt an19: „Das unvollkommenste Verständnis eines antiken Kunstwerks in seinen eigenen Formen ist fast immer mindestens ebenso viel, meist aber unendlich viel mehr wert, als das scheinbar vollkommene, das solche Übersetzungen wie die Wilamo-[33]witzischen hergeben“. Mit der bloßen rationalen Wort-treue ist man nun eben noch nicht in den ‚eigenen Formen‘ des alten Werks geblieben. Die Paradoxie der Erneuerung liegt darin, daß einmal die ‚eigenen Formen‘ gewahrt bleiben, dann aber auch eine Umstilisierung vor sich geht und eine ‚neue Form‘ wird. Hölderlin sagt es so: „Das Eigene muß so gut gelernt sein wie das Fremde. Deswe_____________ 17
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Soph. OT Vers 142 f., Höld.: Hell. V S. 103 Verse 141 f., Wilam. Bd. I S. 34. [Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, hist.-krit. Ausg., beg. durch Norbert v. Hellingrath, fortgef. durch F. Seebass u. Ludwig v. Pigenot, 2. Aufl. 1922; Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff, Griechische Tragödien, Bd. 1, 10. Aufl. Berlin 1926.] Solger Bd. I S. 36 Verse 655 f., Thudichum: Verse 657 f., Höld.: Hell. V S. 129 Verse 667 f. [Karl Wilhelm Friedrich Solger, Des Sophokles Tragödien, Berlin 1808; Georg Thudichum, Sophokles Tragödien, hg. v. Otto Güthling, Lepizig 1927; Höld. vgl. Anm. 15. Solgers Vorrede zur SophoklesÜbersetzung s. o. S. 39–57.] Borchardt S. 17. [Vgl. Anm. 14.]
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gen sind uns die Griechen unentbehrlich“. Und zugleich wußte er, daß „wir nicht wohl etwas gleich mit ihnen haben dürfen“20. Zu den ‚eigenen Formen‘ für die Erneuerung des Sophokles gehört zuerst und vor allem, daß die religiöse, die tragische Gesinnung nicht verfälscht werde und umgebogen, aus der heraus er seine Tragödien schuf. Bloße Übernahme von Stoffen, Motiven, Kunstformen ist noch nicht Erneuerung und eben auch nicht die sogenannte (historisch-kritisch-philologisch-objektive) Treue! Die Erneuerung besitzt in einem höheren Sinn Treue. Erneuerung ist wesenhafte Aneignung des Fremden, als einem Fremden, zu neuer Formwerdung, durch eine nach Zeit und Raum eigenständige schöpferische Persönlichkeit. Nur die Erneuerung ist Leben und wirkt als solches fruchtbar und zeugend in der eigenen Kultur. Man vergleiche: die eine Übersetzung im 17. Jahrhundert und die zahllosen im 19. Jahrhundert! (Zeittafel). Nicht genügt ein kühler Intellekt, der dem Fremden gegenüberstehend, es versteht, das bringt allenfalls Übersetzung hervor. Die hinströmende Verschwendung an das Fremde, indem man sich aber dort selbst bewahrt, gebiert die Erneuerung. Aber, rational zu ergründen ist dies so wenig wie der dichterische Schöpfungsakt. „Nur aus dem fernsten her kommt die erneuung – So braust der große sang zur frühlingstrift … Und eine hochzeit heilt von zwein: zerstreuung Und zuviel kosten von dem süßen gift.“ (Stefan George.)
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Brief an Böhlendorf: 4. 12. 1801 (vgl. Nr. 55). [Hier: Anm. 1.]
Richard Newald Richard Newald (1894–1954), Literaturhistoriker, war nach dem Studium der Germanistik in München (Promotion 1921) und der Habilitation (1926) in Freiburg i. Br. seit 1930 außerordentlicher und seit 1933 ordentlicher Professor für Deutsche Literaturgeschichte in Freiburg in der Schweiz, aus der er jedoch 1945 ausgewiesen wurde. Seit 1951 lehrte er an der Freien Universität Berlin, zuletzt (seit 1954) als persönlicher Ordinarius. Die Basis für seine – auch philologisch fundierte – Beschäftigung mit antiken Texten war bereits in der Gymnasialzeit gelegt worden. Zusammen mit Helmut de Boor gab er Die Geschichte der deutschen Literatur von ihren Anfängen bis in die Gegenwart heraus, deren Bände 5 und 6/1 er selbst erarbeitete. Ein weiteres großes Forschungsgebiet Newalds war der Humanismus. Von den Beiträgen Newalds zur Übersetzungsthematik wird im Folgenden der 1936 erschienene Aufsatz Von deutscher Übersetzerkunst wieder vorgelegt. Newald weist darin der Sprache, in die übersetzt wird, größeren Einfluss zu als der Sprache, aus der übersetzt wird. Er betrachtet das Übersetzen als ein Phänomen des „Nachlebens“ und betont, dass der Stil des Originals durch das Übersetzen zwangsläufig umgedacht, umgedichtet und verzeitlicht werde („Umstilisierung“).
Von deutscher Übersetzerkunst Aus: Zeitschrift für Geistesgeschichte 2 (1936), 190–206.
Es gibt kaum eine literarische Tätigkeit, über welche die Werturteile in Vergangenheit und Gegenwart so auseinander gehen, wie über das Uebersetzen. Alle Stufen, die zwischen der Feststellung der Unmöglichkeit einen Text aus einer Sprache in eine andere zu übertragen, und der Behauptung, eine Uebersetzung sei besser und lesbarer als das Original selbst, liegen, müßte man durchlaufen und dann schließlich feststellen, daß die Auffassung, Uebersetzen sei eine schöpferische Tätigkeit, überwiege. Es gibt Zeiten, in denen die Uebersetzung dem Original gleichgeachtet wird, und andere, in denen man Uebersetzen als untergeordnete, schulungsmäßige Beschäftigung auffaßt; denn dadurch, daß das ganze Sprachstudium darauf beruht, wird das Problem der Uebersetzung der Pädagogik überwiesen. Aber alle Schulmänner und Philologen, die sich von ihrem Standpunkt aus mit der Frage des Übersetzens beschäftigen, sehen darin eben doch beinahe ausschließlich ein Schulungsmittel. Sie müssen den größten Wert auf die Denkarbeit, die Fehlerlosigkeit und sinngemäße Wiedergabe des Originals legen. Die geistige Aneignung des fremdsprachigen Textes kommt dabei erst in zweiter Linie in Betracht. Die Kenntnis der fremden Sprache ist die unmittelbare Voraussetzung für den Uebersetzer. So wird jeder, der eine fremde Sprache lernt, zum Uebersetzer, der
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sich nach dem Grundsatze schult oder an ihm geschult wird: Lerne die Worte, die Flexionslehre und Syntax der fremden Sprache und dann geht es mit dem Uebersetzen rein handwerksmäßig vor sich! Auf diese Weise wird das Bildungsziel für den Durchschnitt der Lernenden zurechtgelegt, weil nur Wenige in der Schule so weit kommen werden, in den Geist einer Sprache einzudringen. Davon hat eine Theorie der Uebersetzung auszugehen; denn letzten Endes geht es dem Uebersetzer darum ein Werk aus einer fremden Literatur seinen Zeitgenossen lebendig zu machen. Er glaubt, daß Stoff, Stimmung, Naturauffassung, Menschendarstellung, einzelne Motive des Originals auf seine Zeit wirken müssen und deshalb überträgt er sie in seine Sprache. Es ist dabei von untergeordneter Bedeutung, ob das Original vor dreitausend Jahren entstand, ob es in einer alten Form der eigenen Sprache vorliegt oder ob es der gleichen Epoche angehört, also eine allgemeine miterlebte Zeitstimmung wiedergibt, die aus der Sprache der einen Nation in die der anderen übertragen werden soll. Das heißt also: die Uebersetzer der Bibel, des Nibelungenlieds, Galsworthys gehen von der gleichen Voraussetzung aus, ihren Zeitgenossen die Schönheiten fremder Literaturen zu übermitteln, ihnen das Original zu ersetzen. Handelt es sich um ein Werk der Weltliteratur, das dauernd geistiger Besitz des Uebersetzervolkes werden soll, so ist es freilich nicht mit einer Uebersetzungsleistung getan. Das Original ist zeitlos, es verewigt gleichsam den Sprachzustand, aus dem heraus es geschaffen wurde, die Uebersetzung ist zeitgebunden, sie stellt sich als Mittlerin zwischen das Original und ihren Leser, sie verkennt ihre Aufgabe, wenn sie ihrem Sprachzustand Dauer verleihen möchte. Der Uebersetzer muß sich dessen bewußt sein, daß seine Arbeit nur eine Phase in der Geschichte des [191] Nachlebens des Originals ist und daß seine Sprache eben nur den Sprachgeist seiner Zeit vermitteln kann, daß sie also den Späteren nie von absolutem, sondern nur von relativem Werte sein kann, insofern sie Belege dafür bietet, daß viele Stellen im Sinne des Geistes einer gewissen Epoche, ja des Einzelnen selbst – denn auch die Uebersetzungen der gleichen Vorlage von Vielen werden nie den gleichen Wortlaut haben können – interpretiert wurden. Das Original verewigt und die Uebersetzung verzeitlicht, sie läßt das Persönliche durchschimmern. Uebersetzen ist somit eine ewige Aufgabe. Das wird deutlich, wenn man etwa deutsche Horazübersetzungen aneinander reiht, wie dies Imelmann1 mit der Ode Donec gratus eram getan hat. Uebersetzen ist im Grunde ein Entwurzeln des Originals aus den Bedingungen, durch die es allein lebt und existiert, in andere, in denen es nur ein Schattendasein führen kann. Diesen Wandel in der Gestalt des gleichen Inhalts bestimmt ein Wort von Weck:2 „Denn Uebersetzen heißt ja nicht bloß ein Kleid von der rechten auf die linke Seite wenden oder alle Steinchen eines Mosaikbildes durcheinanderwerfen, um das nämliche Bild mit den nämlichen Steinchen wiederherzustellen, sondern es heißt, das Vorhandene wirklich zertrümmern und wenn man will in seine Atome auflösen, sodaß nichts übrigbleibt als die im Geiste haftende Gestalt und dann von Neuem den _____________ 1 2
J. Imelmann, Donec gratus eram. Berlin 1899. G. Weck, Prinzipien der Uebersetzungskunst. Zugleich praktisch nachgewiesen an einer Uebertragung des „Damon“ von Lermontoff. Programm. Breslau. 1876.
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Schöpfungston zur Hand nehmen, um der Existenz begehrenden Seele einen lebendigen Leib zu wirken.“ Das ist im Grunde das gleiche, was Wilamowitz3 fordert: „Der Geist des Dichters muß über uns kommen und mit unseren Worten reden.“ Beide sprechen von der Gestalt einer Uebersetzung, weniger von ihrer Aufgabe in das Verständnis eines Werkes einzuführen. Das will auch die bei Beiden nachklingende Aeußerung Ciceros,4 daß er als Uebersetzer „non ut interpres sed ut orator“ gearbeitet und daß er nicht „verbum ex verbo“ wiedergegeben habe „sed genus omnium verborum vimque servavi“. Auch da türmen sich die Schwierigkeiten; denn eine Dichtung ganz verstehen, d. h. sie aus ihren Bedingungen erfassen und sie so aufnehmen, wie es der Dichter gewollt hat, ist unmöglich. Wir können es höchst selten sogar in unserer Muttersprache und bei zeitgenössischen Werken, deren Voraussetzungen wir miterlebt haben. Um wieviel schwerer wird es bei zeitlich weiter zurückliegenden Werken. Wie oft wird eine Stelle vieldeutig und unsere Interpretation versagt, wenn wir jedes Wort des Originals in seiner speziellen Bedeutung erklären können, wir wissen doch nicht, wie es den Zeitgenossen erklang und welche Gefühle sie damit verbanden. Immer wieder schleichen sich unsere zeitgebundenen Begriffe in die Erklärung des Vergangenen ein und lassen uns zur vollen Erkenntnis nicht durchdringen. Das ist der letzte Sinn jeder Wissenschaft: sie ist unerschöpflich und je tiefer der Einzelne in sie einzudringen meint, [192] desto größere Weiten eröffnet sie. Das Verstehen oder Andersverstehen eines Textes, vielleicht auch nur eines Wortes hat die Geister oft in Bewegung gesetzt und neuen Zeiten den Weg zu ihrer Entfaltung frei gemacht. Auch da herein würde das Problem des Uebersetzens und Interpretierens fallen und uns plötzlich in weltgeschichtliche Entscheidungen stellen, wenn wir es nicht vorzögen beim Leisten der Philologie zu bleiben. Es gibt eine große Zahl von Aufätzen und Definitionen, die das Problem der Uebersetzung behandeln, von der klaren Prägung Wilamowitz-Möllendorffs: „Uebersetzen ist Metempsychose“5 bis zu den dithyrambischen Aeußerungen des Georgekreises6 und der straffen Zusammenfassung Lepplas.7 Dabei ist von lehrhaft-praktischen Winken, die Beyer8 und Gruppe9 zu geben versuchen, abzusehen; denn sie glaubten _____________ 3 4 5 6
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U. v. Wilamowitz-Möllendorff, Was ist übersetzen? Reden und Vorträge, Bd. 14. Berlin 1925. S. 1–36. [Das Zitat: ebd., 6, s. o. S. 328.] Cicero, De opt. gen. oratorum 5, 14. Op. rhet. vol. II. rec G. Friedrich. Leipzig 1893. [S. o. S. 330.] W. Schildknecht, Deutscher Sophokles. Beiträge zur Geschichte der Tragödie in Deutschland. Würzburg 1935. [Eine Partie aus der Einleitung o. S. 351–359.] Reallexikon III, 394–402. [Rupprecht Leppla, „Übersetzungsliteratur“, in: Reallexikon der Deutschen Literaturgeschichte, Bd. 3, hg. v. Paul Merker/Wolfgang Stammler, Berlin 1929.] C. Beyer, Deutsche Poetik. Theoretisch-praktisches Handbuch der deutschen Dichtkunst, Bd. 33. Berlin 1900. S. 184–263. O. F. Gruppe, Deutsche Uebersetzungskunst mit besonderer Rücksicht auf die Nachbildung antiker Maße, nebst einer historisch begründeten Lehre von deutscher Silbenmessung. Ein Supplement zu jeder deutschen Literaturgeschichte. 1858. Neue verm. Auflage. Hannover 1866.
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durch systematische Schulung ein neues Geschlecht von tüchtigen Uebersetzern heranzuziehen, ohne eine Vorstellung davon zu haben, daß der Uebersetzer ebensowenig gemacht werde wie der Dichter. Beide werden geboren. Gefühl für die eigene und fremde Sprache ist Vorbedingung und das muß angeboren sein, ehe es Schulung und Uebung entfalten. Natürlich wird der Unterricht in den klassischen Sprachen vornehmlich und die Schulübersetzung mit ihrer strengen Methode die notwendige Uebung und Einführung am besten besorgen können. Die zahlreiche theoretische Literatur über das Uebersetzen in der Schule gibt auch wirklich hervorragende methodische Hinweise.10 Sie zeigt die reinen Lernvoraussetzungen, daß die Worte in der übersetzten und übersetzenden Sprache sich ihrem Begriffsinhalt nach nicht decken, daß einzelne Konstruktionen nur durch Umschreibung sinngemäß wiedergegeben werden können, daß wörtliche Wiedergabe oft ein blühender Unsinn sein kann, wie ja jeder Sprachunterricht als letztes Ziel vor Augen hat, den Lernenden in den Sprachgeist einzuführen und das gelingt leichter bei der fremden als bei der eigenen Sprache. Man kann aber die „Uebersetzerregeln“ noch so genau beobachten, [193] die Sprache noch so meistern und über das handwerksmäßige Rüstzeug virtuos verfügen: wenn das Uebersetzerorgan, das Stilempfinden für die Ausdrucksfähigkeiten und – möglichkeiten in der eigenen Sprache fehlt, geht die Seele verloren und das entstandene Produkt ist ein Tragelaph. Die letzte Voraussetzung für den Uebersetzer ist eben eine Form von Genialität, die der dichterischen naheliegt, aber bescheidener, einfühlender, weiblicher und entsagender ist. Der Uebersetzer ist Sprachrohr, Vermittler, Interpret des Originaldichters, er muß mit seinen Mitteln die gleiche Wirkung zu erzielen suchen, die das Original auslöst. Die Frage, die hier ergänzend gestellt werden muß, hat nun meines Erachtens nur Schleiermacher aufgeworfen. Welches Ziel hat der Homerübersetzer vor Augen? Schreibt er für den kleinen Kreis, für den Homer seine Epen schrieb und wünscht er von den Griechen so wie Homer verstanden zu werden, wenn diese Griechen seine Sprache, das ist die des Uebersetzers verstünden, oder schreibt er für seine Zeitgenossen in einer Form, die etwa jener entspricht, in der Homer heute dichten würde, wenn er die Sprache des Uebersetzers redete? Unbewußt stellen sich natürlich die meisten Uebersetzer und Theoretiker auf den zweiten Standpunkt. Selbst die äußerst ansprechende Formung von Petersen,11 die im Wesentlichen _____________ 10
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P. Cauer, Die Kunst des Uebersetzens. Ein Hilfsbuch für den lateinischen und griechischen Unterricht. 2. Aufl. Berlin 1896. – G. Lejeune-Dirichlet, Die Kunst des Uebersetzens in die Muttersprache. Vortrag, gehalten in der 20. Generalversammlung des Vereins von Lehrern höherer Unterrichtsanstalten der Provinzen Ost- und Westpreußen zu Königsberg i. Pr. am 15. Mai 1894. in: Neue Jahrbücher für Philologie und Pädagogik, 2. Abt. (1894), S. 507–518 [o. S. 287–297]. – J. Keller, Die Grenzen der Uebersetzungskunst. Kritisch untersucht mit Berücksichtigung des Sprachunterrichtes im Gymnasium. Beil. z. Progr. des großherz. Gymnasiums 1891/92. Karlsruhe 1892 [o. S. 237–285]. – J. Lattmann, Die Kombination der methodischen Prinzipien in dem lateinischen Unterrichte der unteren und mittleren Klassen. Progr. kgl. Gymnasium. Clausthal 1881/82. – L. Döderlein, Uebersetzungsproben aus griechischen und lateinischen Schriftstellern. Jahresbericht von der kgl. Studienanstalt zu Erlangen 1833. – W. Münch, Vermischte Aufsätze über Unterrichtsziele und Unterrichtskunst an höheren Schulen. 2. Aufl. Berlin 1896. J. Petersen, Die Wesensbestimmung der deutschen Romantik. Eine Einführung in die moderne Literaturwissenschaft. Leipzig 1926. S. 64.
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Schleiermachers Gedankengut wiedergibt, übersieht die Möglichkeit des ersten Standpunktes: „Das Kunstwerk der Uebersetzung kann niemals Ebenbild des Originals werden; als Wiedergeburt aus fremdem Sprachgeist in eigenem Sprachleib bedeutet es immer eine Umstilisierung. Das Ringen um treue Wiedergabe ist Liebeskampf und Vermählung zweier Sprachen, wobei der einen die zeugende Vaterschaft, der anderen die mütterliche Empfängnis und Austragung zufällt. Das Kind aber, das die Züge des Vaters und der Mutter trägt, ist ein unvergleichliches tertium comparationis; es gibt kein besseres Mittel, die charakteristischen Züge der mütterlichen Familie zu erkennen, als im Unterschiede des Kindes vom Vater. Die beiden Sprachen erscheinen in der Uebersetzung, die ihre Vermählung bedeutet, als Individualitäten; die Sprache des Dichters und die des Übersetzers repräsentieren jedes eine eigene Nation und unter Umständen jedes eine andere Zeit. Nationalgeist und Zeitgeist erscheinen also im Stil einer Uebersetzung systematisch gleichsam durch ein Subtraktionsexempel erreichbar.“ Die Uebersetzer werden sich nicht immer bewußt, daß ihr Werk sehr viel von der Ursprünglichkeit des Originals einbüßen muß, indem sie den Stil des Epos in den Stil ihrer Zeit umdenken, umdichten, also wie gesagt verzeitlichen. Bei der ersten Form, die viel seltener ist, geht es um eine Umstilisierung in eine konstruierte Formenwelt, die Dichtung wird in die Ferne gerückt und bleibt uns vielleicht fremd, gewinnt aber dadurch an Hoheit und Größe. Allerdings wird sich bei dieser Form eine größere Vergewaltigung des ursprünglichen Sinnes einstellen und man wird hier vielleicht weniger von Uebersetzung als von Bearbeitung sprechen müssen. Aber im Grunde sind beide Formen Uebersetzungen, die von einem Original ausgehen und dieses eben ihren Volksgenossen geistig erschließen wollen. Die eine steht auf dem Standpunkt, daß der Weg zur Erschließung des fremden [194] Dichtwerks nur möglich ist, indem man es neu dichtet; die andere meint, daß eine Neudichtung unmöglich sei und daß eine Uebersetzung sich nicht so geben dürfe, sondern eine Form zeigen solle, durch die das fremde Original gleichsam durchschimmere. Der Schulmeister entscheidet für ja oder nein. Aber eine Entscheidung ist ganz unmöglich, weil die Standpunkte nicht vereinbar sind; denn die Voraussetzungen sind wesentlich andere. In beiden Fällen wird die Souveränität der Sprache als Forderung aufgestellt, aber das eine Mal ist die Sprache des Uebersetzers, das andere Mal die des Originals die Siegerin. Einen harmonischen Ausgleich auf einer Ebene zwischen beiden zu finden, in einer Uebersetzersprache, ist unmöglich. Wenn Schleiermacher12 eine solche Uebersetzersprache gemeint hätte, dann wäre Schäfer13 durchaus im Recht. Sie ist gedacht als das Ergebnis einer individuellen Sprachmischung, indem versucht wird Konstruktionen des Originals in die Übersetzung hinüberzuleiten, Fremdwörter einzuführen, die Wortstellung des Originals _____________
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[Der Literaturwissenschaftler Julius Petersen (1887–1941) beginnt in dieser einflussreichen, stilgeschichtlich ausgerichteten Arbeit bezeichnenderweise mit dem Phänomen des Übersetzens, um sich dem Stilproblem zu nähern (ebd., 64–67).] F. Schleiermachers Akademierede vom 24. Junius 1813. „Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens“ später in: Philosophische und vermischte Schriften. Berlin 1838. S. 207–245 [o. S. 59– 81]. K. Schäfer, Ueber die Aufgabe des Uebersetzens. Jahresbericht von der kgl. Studienanstalt zu Erlangen 1839 [o. S. 127–143].
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nachzuahmen, Vorteile der eigenen Sprache aufzugeben und Nachteile der anderen zu übernehmen, also die Grenzen zwischen zwei Sprachen zu verwischen. Besonders deutlich wird diese Erscheinung in der gesprochenen Uebersetzung, der Dolmetschung, der es auf eine möglichst schnelle Zweckwiedergabe, weniger auf die Form ankommt. Der Dolmetscher, der beide Sprachen gleich gut beherrscht, versucht sich auf eine mittlere Ebene zwischen den zwei Sprachen zu stellen, aus einer gewissen Bequemlichkeit, die die letzten Folgerungen nicht zieht. Zeiten, in denen viel gedolmetscht wird, sind stärkste Einbruchstellen für Fremdwörter und über die Sprachgrenzen, an denen sich ein ständiger Austausch vollzieht, greifen gewisse Konstruktionen über. „Das ist mir!“, „Es macht kalt“ im Schweizerdeutsch, „il tire“ vom Luftzug in der französischen Schweiz, „eine Botschaft übergeben“ für ausrichten im baltischen Gebiet, das universale Reflexivum „sich“ für alle drei Personen (z. B. „wir haben sich gefreut“) im Wienerischen und zahllose derartige Wendungen, die im Sprachgebrauch dieser Grenzgegenden aus der lebendigen Uebersetzung übernommen wurden, gehören hierher. Sie zeugen für ein schwankend gewordenes Sprachgefühl.14 Eine für den Uebersetzer erhobene selbstverständliche Forderung ist die Sprachenkenntnis. Den höchsten Anforderungen entspricht hier nur jener, der die beiden Sprachen so beherrscht, daß er in jeder der beiden denken kann, daß es ihm also nichts ausmacht, ob er von dieser in jene oder von jener in diese Sprache übersetzt, nicht nur weil er sich in beiden gleich vollendet ausdrücken kann, sondern eben weil er für jede von Beiden ein ausgeprägtes gleich starkes Sprachgefühl besitzt. Aber wer kann diese ideale Forderung erfüllen? Und wenn er sie erfüllt, wird er die beiden Sprachgefühle von einander trennen können, daß sie nicht doch ineinander übergreifen? Wird nicht in gewissen Zeiten, wenn er mehr in der Kultur und Sprache des einen Gebietes lebt, das Sprachgefühl dafür überwiegen? Und wird ihm dann [195] nicht leichter, aus der anderen Sprache, die ihm jetzt ferner steht, in die näherstehende zu übersetzen? Die Voraussetzung zweier gleicher Sprachgefühle wird in der Wirklichkeit höchst selten eintreten. Sie widerspricht dem Begriff der Muttersprache. Die weitaus größte Anzahl der Menschen hat eben doch nur für eine Sprache ein ausgeprägtes Gefühl, und das ist die Sprache, die den Einzelnen aus dem dämmernden Zustand des Unbewußten in das Reich der Erkenntnis geführt hat. Die Unterscheidung von Sprachkenntnis und Sprachbeherrschung betont bereits Schottelius,15 für den „eine rechte gute untadelhafte verteutschung“ nimmer erfolget, „es sey dann der Dolmetscher beider Sprachen / überzusetzenden recht kundig und in die übersetzet wird / recht mechtig“. Die Stärke des Sprachgefühls ist unberechenbar wie die Fähigkeit, Gedachtes auszudrücken eben auch durch Gradmesser nicht zu bestimmen ist. Es ist selbstverständlich, daß der Uebersetzer am sichersten aus der fremden in die Muttersprache überträgt. Er muß natürlich ein Gefühl für die fremde Sprache haben, aber dieses ist eben passiv, d. h. empfänglich für Schönheit, Eigentümlichkeit und Ausdrucksfähigkeit, es bewundert. Das Gefühl für die eigene Sprache ist intensiver, selbstbewußter, es wurzelt auf der Ueberzeugung: „Ich kann keinen Fehler machen“, es meistert die Sprache. Der Träger _____________ 14 15
H. Schuchardt, Slavodeutsches und Slavoitalienisches. Graz 1885. J. G. Schottelius, Ausführliche Arbeit von der Teutschen Hauptsprache. Braunschweig 1663. S. 1225.
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dieses Sprachgefühles weiß, daß er sich ihm untrüglich anvertrauen kann, daß er sich nie am Sprachgeist versündigen kann. Ob ihm eine Kenntnis der Sprachgeschichte, der älteren deutschen Formen oder der Gebrauch einer Mundart dabei förderten, ist für das Ergebnis, die gute Uebersetzung, völlig gleichgültig; denn das alles sind rein technische Vorbedingungen und Voraussetzungen, die lediglich Möglichkeiten ins Auge fassen, niemals aber die Aufgabe haben einen Lehrgang anzudeuten, den der gewiegte Uebersetzer absolvieren sollte. Sie gehen von der Voraussetzung Cauers16 aus: „Der Uebersetzer darf nicht klüger sein wollen als der Autor.“ So wird die Uebersetzung zu einer formalen Auseinandersetzung zweier Sprachen, in der die übersetzende Siegerin bleibt. Die Auseinandersetzung wird auf den Fronten: Wort, Wortgewicht und Satzbildung geführt. Wir wenden uns jetzt ausschließlich Problemen zu, die die Uebersetzung aus anderen Sprachen ins Deutsche betreffen. Es wird in den meisten Fällen gelingen ein Wort der fremden Sprache in seiner Bedeutung mit einem deutschen Wort oder einer Wortverbindung wiederzugeben, man wird also consilium je nach seinem Sinnzusammenhang mit Rat, Beratung, gefaßten Beschluß, Ausschuß, Kriegsrat, Entschluß, Maßnahme, Grundsatz, Absicht, Eingebung usw. übersetzen. Schwieriger verhält es sich schon mit der Verteilung des Gewichtes, das den einzelnen Redeteilen innerhalb eines Satzes zukommt. Hier äußert sich die Verschiedenheit der Denkweise zweier Sprachen. Das könnte nur eine Fülle von Beispielen zeigen. Eines für viele: die romanischen Sprachen denken vom Substantivum aus, sie haben die Tendenz ihre Verben zu Hilfsverben zu machen, indem sie sie mit einem Substantivum verbinden. Es gibt gerade im Französischen eine Menge von farblosen Verben wie donner, [196] faire, mener, mettre, poser, porter, transférer, die nur in der Verbindung mit Substantiven einen besonderen Sinn bekommen. Daß unsere Sprache diese Wendungen in der Verbindung von wenig ausgeprägten Verben mit Verbalsubstantiven heute unter dem Einfluß des Journalismus sehr häufig anwendet (zur Darstellung, zur Anschauung, zur Anwendung bringen, einen Vorschlag machen, für darstellen, zeigen, anwenden, vorschlagen), hat damit nichts zu tun, daß sie dem Geiste der Sprache fremd sind, daß das tragende Prinzip des germanischen Satzes das Verbum ist, daß wir in der Umgangssprache viele Sätze mit einem Verbum beginnen, daß es also zur Achse und Trägerin des Satzes wird. Der Uebersetzer muß hier ausgleichen, in den deutschen Sprachgeist umdenken, er wird Objekte zu deutschen Subjekten, Passives in deutsches Aktives umsetzen. Seine Tätigkeit hat eine Aehnlichkeit mit der des Musikers, der ein Stück in eine andere Tonart transponiert. Erst recht offenbart sich die Verschiedenheit des Satzgefüges in der schon oft beobachteten Erscheinung,17 daß das Lateinische zur Unterordnung, das Deutsche zur Beiordnung neigt. Der Periodenbau, der Abschluß einer Gedankenreihe ist in der lateinischen und anderen Sprachen kunstvoller geregelt als im Deutschen, das die Neigung hat kürzere Sätze und Satzteile wie gleichberechtigt nebeneinander zu stellen, woraus sich die deutsche Abneigung gegen die indirekte Rede ergibt. Für den Ueber_____________ 16 17
a. a. O., S. 54. Bes. klar bei C. Bardt, Zur Technik des Uebersetzens lateinischer Prosa. Leipzig-Berlin 1904. S. 3.
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setzer gilt es also im vorliegenden lateinischen Text Bindungen zu entfernen, die den Aufbau der Periode tragen, und neue einzuführen, die ohne sinnstörend zu wirken, sich organisch in den deutschen Sprachbau einfügen lassen. Soweit also die immerhin im Bereich der Möglichkeit liegende Wiedergabe des Gehaltes des Originals in der Uebersetzung! Dabei mag sich der einzelne Moralist bei der Wiedergabe antiker Gewohnheiten und Anschauungen, die im Original wie in einer Art Verhüllung wirken, in seiner „keuschen“ Sprache entrüsten,18 er wird es nicht ändern. Und die Gestalt? Kann es gelingen, Rhythmus, Klangschönheit, Reime des Originals in das geliebte Deutsch zu übertragen? Können nicht wiederzugebende Schönheiten des Originals durch andere im Deutschen ersetzt werden? Niemals, besonders wenn es sich eben um die gebundene deutsche Wiedergabe handelt. Hier geht nun freilich die Praxis der Uebersetzer weit auseinander. Die einen wollen zeigen, daß man nur in deutsche Prosa übertragen dürfe, von vornherein auf den Vers verzichten, also zum Surrogat greifen müsse. Es kommt hier darauf an, ob Chichorie, Malz oder Eicheln dem Leser nun wirklich den echten Kaffee des Originals vortäuschen oder ob beobachtet werden kann, daß der Uebersetzer in sein Gebräu nicht auch noch verdünnendes Wasser gemischt hat. Die anderen gehen bis zur völligen Aufgabe des deutschen Sprachbewußtseins, indem sie unserem Sprachstoff fremde, aus einem anderen Geist geborene Formen aufzwingen wollen. Von hier aus entscheidet sich wie von selbst der Streit um den deutschen Hexameter, die lyrischen antiken Metren und die zahllosen europäischen und asiatischen Metren, die vor allem das 19. Jahrhundert uns beschert hat. [197] All dieser Ballast gelangt in unsere Literatur durch die Uebersetzung, aus einer geistigen Einstellung heraus, die sich nach dem Herzen des Famulus Wagner in den Geist der Zeiten versetzt. Denn daran, daß die deutsche Literatur durch Uebersetzungen zu einem „Museum einer allgemeinen Weltliteratur“ oder „Pantheon für das größte und schönste, was andere Sprachen und Völker hervorgebracht haben“,19 werden könne, glaubt heute doch niemand ernstlich. Als Mumienkabinett muten uns ja schon heute viele Erzeugnisse des 19. Jahrhunderts auf diesem Gebiete an. „Was haben sie nicht schon alles übersetzt und was werden sie noch übersetzen!“ seufzt Lessing20 und einig mit ihm Nicolai.21 Dennoch wird der geniale Uebersetzer auch hier eine Lösung finden ohne den Geist der deutschen Sprache zu vergewaltigen. Jeder Uebersetzer, der bis in rhythmische Einzelheiten die strenge Form des Originals nachahmen will, legt seiner Sprache einen unnatürlichen Zwang auf, der besonders stark wird, wenn es um die Wiedergabe von Texten geht, deren Sprache von ganz anderen Voraussetzungen getragen wird. Das tritt vorab bei der Uebernahme messender _____________ 18 19 20
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Weck a. a. O., S. 12. Gruppe, a. a. O., S. VI; D. F. Strauß, Gesammelte Schriften. 1. Bd. Bonn 1876. S. 124. Sämtliche Werke. Lachmann-Muncker. 8. Bd., S. 5. [Gotthold Ephraim Lessing, Sämtliche Werke, hg. v. Karl Lachmann/Franz Muncker, Bd. 8, Stuttgart 1892.] F. Nicolai, Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothauker. 1. Bd. BerlinStettin 1173. S. 80, 98 ff.
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Grundsätze in eine wägende Sprache22 hervor. Die deutsche Rhythmik mit ihrer gipfelnden Betonung wird sich nie der gleitenden Ausgeglichenheit des Romanischen anpassen können. Das lehrt die ganze deutsche Versgeschichte. Doch mit der Aufzählung der Schwierigkeiten, die eine gute Uebersetzung überwinden soll, ist die Frage nach den Bedingungen ihrer Entstehung und Wirkung nicht gelöst. So werden wir auf das Problem geführt: Können wir Rechenschaft darüber ablegen, warum uns von allen Uebersetzungen einer und derselben Ode des Horaz nur zwei oder drei gefallen und wir die anderen als mittelmäßig einschätzen? Oder: warum finden wir, daß eine Uebersetzung aus einem stilistisch-einheitlichen Raum dem Sinn und Geist des Originals am nächsten kommt und fast alle anderen Uebersetzungen hinter dem Ideal viel weiter zurückbleiben, daß oft einem mittelmäßigen Dichter eine Uebersetzung glänzend gelang und ein großer sich in der Uebersetzung einzelner Stellen als ziemlich schwach erwies? Das sind nun freilich Fragen, deren völlige Klärung uns in Regionen führt, die mit dem Schleier des Bildes von Sais umhüllt sind, in das Geheimnis des künstlerischen Schaffens, des schöpferischen Genius, dessen Voraussetzungen wir vielleicht durch die Uebersetzung leichter ergründen können, weil der Gegenstand, an dem sich der Geist entzündete, klarer in unser Blickfeld gerückt ist. Warum übersetzt Fischart Rabelais,23 Seckendorff Lukan,24 Wieland Horaz,25 Schiller Vergil,26 Schlegel Shakespeare,27 Hölderlin Sophokles,28 Schleiermacher Platon,29 Droysen Aristophanes,30 Stephan George Baudelaire31? Aus einem inneren Drang, einem Verständnis, das tiefer geht als das der vorhergehenden Generation, einem Gefühl geistiger Verwandtschaft und [198] innerer Verbundenheit über Zeit und Raum hinweg. Der geistige Zugang ist da und die Fähigkeit zu übersetzen erfüllt die _____________ 22 23 24
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Wann werden sich diese schönen Bezeichnungen Andreas Heuslers für quantitierend und akzentuierend endlich durchsetzen? [Johann Fischart (1546/7−1591) veröffentlichte im Jahre 1575 seine freie Übersetzung von François Rabelais’ Gargantua und Pantagruel.] [Veit Ludwig von Seckendorffs (1626−1692) Übersetzung trägt den Titel Politische und moralische Diskurse über M. Ann. Lucani 300 auserlesene, und dessen heroische Gedichte genannt Pharsalia. Auf eine sonderbare Manier ins Deutsche gebracht. Sie erschien 1695 in Leizig.] [Christoph Martin Wieland (1733−1813) übersetzte in den Jahren 1780−1789 die Briefe und die Satiren des Horaz.] [Friedrich Schiller (1795−1805) veröffentlichte im Jahre 1792 in der Zeitschrift Thalia (Bd. 1 und 2) seine Übersetzung von Passagen aus dem zweiten, dritten und vierten Buch der Aeneis in Stanzen.] [August Wilhelm Schlegels (1767–1845) Übersetzung von Dramen Shakespeares erschienen 1797– 1810. Seine Rezension zur Homer-Übersetzung von Johann Heinrich Voss o. S. 3–38.] [Friedrich Hölderlins (1770–1843)Übertragung der Sophokleischen Dramen König Ödipus und Antigone erschien im Jahre 1804.] [Friedrich Schleiermachers (1768–1834) Übersetzungen Platonischer Dialoge erschienen 1804, 1805, 1807, 1809 und 1828. Schleiermachers Akademierede zur Problematik des Übersetzens o. S. 59–81]. [Johann Gustav Droysen (1808−1884) hatte in den Jahren 1835−1838 seine Übersetzung der Komödien des Aristophanes veröffentlicht.] [Stefan George (1868−1933) brachte 1901 seine „Umdichtungen“ (so der Untertitel) von Baudelaires Les Fleurs du Mal (Blumen des Bösen) heraus.]
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Forderung, die von der Zeit gestellt wird, gleichsam in der Luft liegt. Von hier aus, d. h. also von der historischen Betrachtung einer vollendeten Uebersetzung her nähert sich unsere Problemstellung der des Nachlebens und -wirkens eines antiken Dichters in den europäischen Literaturen, sowie der Frage nach den Wegen des Nachruhms, der Werturteile in der Folgezeit, der receptio und restitutio, ja des Renaissanceproblems überhaupt; denn eine Uebersetzung will ja doch letzten Endes das Original zum Leben wiedererwecken. Die neuste Renaissanceerklärung Drerups,32 der das spätere seelische Erfassen der griechischen Kultur nur durch blutsverwandte Völker des europäischen Lebensraumes für möglich hält, kann hier kaum angewendet werden, weil sie die Möglichkeit eines Erfassens der Bibel und aller morgenländischen Dichtung völlig ausschließt. Glückliche Zeitumstände, die in der Vergangenheit nach dem suchen, was sie nötig haben, können die Entstehungsbedingungen einer Uebersetzung fördern. Ganze Generationen haben sich um den deutschen Homer bemüht und eine feste Tradition bilden die Terenzübersetzer der Tübinger Universität.33 Die Bedingungen, die eine vollendete Uebersetzung entstehen lassen, sind: Kongenialität von Autor und Übersetzer, Mitschwingen des Zeit- und Formgefühls, gleichgerichteter Zeitstil, Kairos. So habe ich dieses Zusammentreffen aller günstigen Umstände, aus denen sich eine Uebersetzung entfalten kann, genannt.34 Und wie selten erlebt ein Dichter auf seinem Leidensweg des Nachlebens einen solchen Kairos, wie vielen unwürdigen Händen ist er wehrlos ausgeliefert, wie viele nehmen ihn für ihr persönlichstes Wollen in Anspruch ohne Gefühl für seine wirkliche Größe und Bedeutung. Ein Blick auf die historische Entwicklung der deutschen Uebersetzungskunst kann aus Mangel an Vorarbeiten auf weite Strecken35 nur einen fragmentarischen Charakter tragen, er will auch nur eine Problemstellung ins Gedächtnis rufen, die Michael Bernays36 und August Sauer als Herausgeber der Bibliothek älterer deutscher Uebersetzungen37 klar erkannt haben, soweit es sich um die Entwicklung seit der Buchdruckerkunst handelt. Das 15. Jahrhundert aber bildet bloß einen Wendepunkt; denn vom Humanismus ab werden auch Werke der Geschichte, Philosophie, [199] Naturwissenschaft und Kriegskunst übersetzt, es weitet sich das Stoffgebiet der übertragenen Werke und der Buchdruck beschleunigt das Tempo ihrer Verbreitung. Triebfeder ist der Bildungsdrang Einzelner und das Streben, das Wissen allgemein _____________ 32
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E. Drerup, Kulturprobleme des klassischen Griechentums II. Der Humanismus in seiner Geschichte, seinen Kulturwerten und seiner Vorbereitung im Unterrichtswesen der Griechen. Studien zur Geschichte und Kultur des Altertums. XIX. Bd. 2. Heft. Paderborn 1934. S. 83–88. M. Herrmann, Terenz in Deutschland bis zum Ausgang des 16. Jahrhunderts. Ein Ueberblick. Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte 3 (1893), S. 1–28. R. Newald, Die Antike in den europäischen Literaturen. Germ.-Roman. Monatsschrift 22 (1934), S. 106–115. Eine Ausnahme bildet die hervorragende Leipziger Dissertation: W. Fränzel, Geschichte des Uebersetzens im 18. Jahrhundert. Beiträge zur Kultur- und Universalgeschichte, Heft 25. Leipzig 1914. M. Bernays, Vor- und Nachwort zum neuen Abdruck des Schlegel-Tieck’schen Shakespeare. Preußisches Jahrbuch 68 (1891), S. 524–569. Nr. 1–6. Weimar 1894–1899.
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zugänglich zu machen. Ein demokratischer Zug geht mit einer nationalen Grundstimmung Hand in Hand: Wir müssen uns erst die Erkenntnisse der Anderen uns Ueberlegenen, sei es der Antiken, sei es der Modernen zunutze machen, ehe wir Eigenes produzieren. So spricht die Achtung vor dem Fremden im Humanismus, nicht aber eine devote Unterwerfung. Man darf keineswegs dem Uebersetzer einen Mangel an nationaler Gesinnung vorhalten, er will die Bildung seiner Zeit erweitern und Quellen eröffnen, durch die er dem geistigen Leben seines Volkes frische Zufuhr zu bringen hofft. Und seither steht nicht selten eine Uebersetzung an der Schwelle einer neuen Zeit. Die Vorahner des Irrationalismus im 18. Jahrhundert übersetzen Ossian und vermitteln englische Kulturwerte. Sie hatten Erfolg, weil ihnen ihr Gefühl sagte, was der Zukunft am nötigsten sei, sie sahen die Zeit voraus und doch mußten sie sich mit der Erkenntnis begnügen, Wegweiser, nicht Führer gewesen zu sein. Oder wie Bernays38 sagt: „Entscheidende Wandlungen der geistigen Zustände lassen auch für den Uebersetzer den Augenblick herbeikommen, da er seinem Volke, seiner Zeit geben kann, was beide in Wahrheit bedürfen.“ Ruhig und gleichmäßig scheint die Uebersetzertätigkeit des Mittelalters gewesen zu sein. Hier geht die Entwicklung von der Glosse über das Wörterbuch39 zur Interlinearversion und Uebersetzung. Aber wie schwer hat die junge Sprache zu kämpfen mit der raffiniert gebildeten klaren lateinischen, die für die Verstandesäußerungen über eine Fülle von Ausdrucksmöglichkeiten verfügt, deren Wortfügung nicht nachzubilden war. Seither, seit Isidor, Tatian, dem Trierer Capitulare und Notkers grandiosem Werk, das man keineswegs mit dem Ausdruck „interlineare Exerzitien“ abtun kann,40 schult sich die deutsche Prosa am Lateinischen. Dabei gibt sie viel von ihrer Ursprünglichkeit preis, muß es der ausgebildeteren Sprachschwester opfern, aber sie gewinnt an geistiger Ausdruckfähigkeit.41 Ohne die ständige Bindung an das Lateinische hätte sich die deutsche Prosa anders entfaltet und hätte sie die Ursprünglichkeit ihrer Wortfolge und die Einfachheit ihrer Satzgefüge, wie wir sie jetzt noch in der Mundart beobachten,42 freier gewahrt. Die Schultradition der Klöster und der Kanzeleien nahm die Pflege der deutschen Prosa in die Hand und da liegen die Anfänge der deutschen Schriftsprache.43 Zur Erforschung dessen, wie sich die [200] deutsche Urkunde aus der lateinischen formt und entwickelt, wie die Kanzlei zur Hüterin der deutschen Grammatik wird, hat Friedrich Wilhelm44 den Grundstein gelegt, und wie die _____________ 38 39 40 41 42 43
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a. a. O., S. 567. G. Baesecke, Der deutsche Abrogans. Halle 1930. Der Vocabularius St. Galli. Halle 1933. W. Hertzberg, Zur Geschichte und Kritik der deutschen Uebersetzungen antiker Dichter, Preußisches Jahrbuch 13 (1864), S. 219–243, 361–391. J. Trier, Der deutsche Wortschatz im Sinnbezirk des Verstandes, die Geschichte eines sprachlichen Feldes. I. Heidelberg 1931. Z. B. A. Staedele, Syntax der Mundart von Stahringen. Diss. Freiburg i. Br. 1927. R. Newald, Probleme der neuhochdeutschen Schriftsprache. Zeitschrift für deutsche Bildung 8 (1932), S. 177–185. Vgl. F. Maurer, Geschichte der deutschen Sprache. Germanische Philologie. Festschrift für Otto Behagel. Germ. Bibliothek, 1. Abt., 1. Reihe, 19. Bd. Heidelberg 1934. S 222 f. Corpus der altdeutschen Urkunden. Lahr. Vorrede zum 1. Band.
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Bibelübersetzung nach Formvollendung strebt, das zeigen die zahlreichen Veröffentlichungen des deutschen Bibelarchivs in Hamburg. Es gibt auf weite Strecken überhaupt kein Werk in deutscher Prosa, dessen geistiger Gehalt nicht vorher in lateinischer Sprache gedacht wurde. Niemand kann mit Gewißheit sagen, welcher Schriftsteller zum ersten Male deutsche Originalprosa schrieb. Vielleicht der Ackermann aus Böhmen, aber auch bei diesem Werk können wir es kaum mit Bestimmtheit behaupten, ob es nicht doch zuerst lateinisch gedacht war; denn das lernte man an den Universitäten und daran hielt man bei Formulierung schwieriger Probleme bis ins 18. Jahrhundert hinein fest, schon um seine Kenntnisse international zugänglich zu machen. Selbst sprachgewaltige Former wie Luther stehen unter diesem Zwang des Lateinischen. Man kann einzelne Stellen aus Luthers frühesten deutschen Schriften ihrem Sinne nach erst dann ganz erfassen, wenn man sie ins Lateinische, aus dem sie kommen, zurückübersetzt. Nachher wird der große Praktiker und Theoretiker mit seinem „Sendbrief vom Dolmetschen“, dessen Wesen er später in den Satz preßt:45 „Nam vere transferre est applicare suae linguae“. Die Entwicklung wird uns greifbarer vom 14. Jahrhundert an, wo uns wohl zuerst in Heinrich von Mügeln eine starke sprachgewaltige Uebersetzerpersönlichkeit entgegentritt. Und sicher haben die neuen Universitäten in Prag und Wien das Uebersetzen gefördert, indem sie durch eine aus dem lateinischen übersetzte Erbauungsliteratur für Verbreitung theologischer Kenntnisse in Hofkreisen und unter Gebildeten sorgten;46 denn was an deutscher Prosa – ich überblicke hier nur einigermaßen die Handschriftenbestände der österreichischen Klöster47 und der Münchner Staatsbibliothek – vorliegt, ist Uebersetzungsliteratur. Meist haben die Autoren selbst ihre Traktate ins Deutsche übersetzt. Hier haben wir es mit Männern zu tun, die Lateinisch und Deutsch in gleicher Weise beherrschen, die für ihre wissenschaftlichen Zwecke sowie für das Aufsetzen ihrer Predigten und Traktate und ihre Niederschriften zum Gebrauche für spätere Kollegen sich des Lateinischen bedienen, weil sie es leichter und schneller schreiben mit all den Kürzungen und Zusammenfassungen. Wenn sie aber auf weitere Massen wirken wollen, so bedienen sie sich der Sprache des Volkes in Predigt und Erbauungsbuch. Hand in Hand wirkt die deutsche Schulpraxis.48 Oft sind die beiden Richtungen gar nicht zu trennen; denn fast jeder literarische Uebersetzer ist durch die Schultradition gegangen und ihr verpflich_____________ 45 46 47
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[Corpus der altdeutschen Originalurkunden bis zum Jahr 1300, Bd. 1: 1200–1282, hg. v. Friedrich Wilhelm, Lahr 1932.] Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe. Tischreden II, Nr. 2771 b. Die Mitteilung von einer Aufforderung Herzog Albrechts, möglichst viel Erbauungsliteratur zu übersetzen, verdanke ich Herrn Kollegen Konrad Heilig. Nach meinen Aufnahmen der deutschen Hss. in den österreichischen Klöstern und Freiburg i. Br. 1922–1930 in den Berichten der deutschen Kommission an der preußischen Akademie der Wissenschaften. [S. die entsprechenden Jahresberichte der Deutschen Kommission in den Sitzungsberichten der Preußischen Akademie der Wissenschaften, philologisch-historische Klasse.] R. Franke, Peter van Zirns Hs. German. Studien, Heft 127. Berlin 1932 oder 1933. [Ruth Franke, Peter van Zirns Handschrift, Berlin 1932 (= Germanistische Studien 127).]
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tet. Es gilt also für den Uebersetzer den strengen logischen Bau, die kristallene Syntax, die absolute Eindeutigkeit, das Rationale zu übertragen in seine irrationale, ungebändigte, [201] Höhen und Tiefen umspannende, unendlich freie Sprache. Allein schon die Wortbetonung, das rhythmische Prinzip des Stabreims, die freie Wortstellung, die kurzen aneinandergereihten Satzteile: das ist der Sprachstoff, der sich dem Lateinischromanischen auf der Ebene der Uebersetzung anpassen soll. Die ausgebildete, kulturell höherstehende Sprache mit ihren größeren Ausdrucksmöglichkeiten ist dabei in einem ungeheuren Vorteil. Aber nicht nur das: die Gleichmäßigkeiten der lateinisch-romanischen Sprache, die festliegende Wortbedeutung, die Freude am Abstrakten läßt sich schwer umgießen in die wortschöpferische deutsche Sprache mit ihrer Freiheit der Wortzusammensetzung und ihrem ungebändigten Schwung der Erstbetonung. Was Andreas Heusler in seiner unvergleichlichen deutschen Versgeschichte als die metrisch treibende Kraft gesehen hat, das gigantische Ringen zweier entgegengesetzter Formprinzipien, tritt uns auch in der Uebersetzung und ihrer Geschichte entgegen. Freilich ist die Uebertragung viel enger an das Original gefesselt als die frei sich entwickelnde Dichtung, aber auch in ihr wird sich das Dilemma des Uebersetzers zeigen, der entweder seine Arbeit in den Dienst des Originals stellt und sie diesem anzugleichen bestrebt ist, er handelt gleichsam unter dem Zwang der Sprache des Originals und überträgt fremde Konstruktionen sogar in die freie Sprache wie den accusativus cum infinitivo, der doch in Lessings Laokoon49 wie unmittelbar aus dem Lateinischen übersetzt anmutet, oder aber er gewöhnt die innere Form seiner Sprache dem Sinne nach an den fremden Stoll, es ist ihm also darum zu tun, seinem Werk die Gestalt eines deutschen Originals zu geben. Vom Humanismus bis zur Aufklärung ist die Stellung der Uebersetzung gegenüber gleich: sie bringt uns neue Anregung, neues Geistesgut, ihre Bedeutung liegt im Stofflichen, in der Erschließung neuer Quellen; sie sorgt für unsere formale Schulung und es wird für den Dichter für besser gehalten, ein Werk aus einer fremden Literatur lesbar zu übersetzen, weil er sich für seine spätere Tätigkeit übt, als zu früh selbständig zur Leier zu greifen. Die gesamte klassizistische Auffassung50 von der Dichtung, die ihre Regeln aus ewigen Vorbildern ableitet, muß das Uebersetzen beinahe so hoch bewerten wie das originale Schaffen. Und doch hat gerade die Barockzeit die deutsche Schulung an einem fremden Vorbild innerhalb der Geschichte der Uebersetzung gelockert, indem sie aus vielen Sprachen übersetzt. Bis weit ins 16. Jahrhundert herein geht die größte Anzahl an Uebersetzungen auf lateinische Originale zurück, das Französische spielt daneben eine recht geringe Rolle. Wenn in der Folgezeit auch noch immer viel aus dem Lateinischen übersetzt wird, so mehren sich doch die Uebersetzungen aus dem Französischen, Italienischen, Spanischen, Englischen und Griechischen, um nur die
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1. St. „hierin, wo ein Halbkenner den Künstler unter der Natur geblieben zu sein … urteilen dürfte.“ Wird der Satz nicht erst verständlich, wenn man ihn übersetzt in „paulum peritus artificem sub natura mansisse putet“? R. Unger, Klassik und Klassizismus. Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung 8 (1932), S. 527–548.
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wichtigsten Sprachen zu nennen. Immerhin möchte ich gegen Tycho Mommsen51 bezweifeln, daß „unsere eichelfressende Sprache“ [202] damals und im 19. Jahrhundert dem Italienischen eine solche Fülle von Wohllaut verdankt. Es fehlen die Anhaltspunkte, die das Verhältnis der Originale zu den Uebersetzungen auf dem Büchermarkt annähernd bestimmen lassen, doch wird man mit der Vermutung kaum fehlgehen, daß sie sich in manchem Jahr die Waage halten. Freilich dienen die meisten dieser Uebersetzungen der Vermittlung neuen Wissens und künstlerische Grundsätze treten dabei zurück. Selbst dann, wenn die Lehrer der Dichtkunst wie der etwas verstaubte Bohemus,52 ihre Schüler dazu anleiten, die Oden des Horaz in deutsche Verse umzugießen: es bleibt doch Handwerk, Anwendung erlernter Regeln und Kunstgriffe auf einen besonderen Fall. Nur in seltenen Ausnahmen bemüht sich ein Uebersetzer aus einem inneren Drang darum ein seinen Fähigkeiten liegendes Werk zu übertragen. Veit Ludwig von Seckendorff ist einer der wenigen, der die enge stilistische Beziehung und geistige Verwandtschaft seiner Zeit mit der der römischen Bürgerkriege erkennt und Lukans Pharsalia übersetzt.53 Die Strenge, mit der Justus Georg Schottelius54 vom „rechten Verteutschen“ spricht, das eben keine „altages“- oder „gemein Pobel Kundikeit der Land-Sprache“ erfordere, zeugt für die hohen Ansprüche, die das 17. Jahrhundert an den Uebersetzer stellte. „Zeit, Fleiß und Arbeit erwirbt dieses gründliche wissen / und machet Meisterstücke und Kunstgriffe“. Die deutschen Wörter dürfen nicht „verfrömdet“ werden. „Wer transferieren und verdeutschen wil / muß derjenigen Sprache, / die er zu übersetzen bemühet ist / recht und gründlich kündig seyn / auch daneben einen großen Vorraht Teutscher Wörter / wie Lutherus davon reet / in bereitschaft / und es so weit in der Teutschen Sprache gebracht haben / daß er dieselbe nach jhren gründen und vermögen anzusehen / und rechte Teutsche geredschaft / nach dem es sein dolmetschbau erfordert mit milder Hand herauszulangen wisse.“ Nach Schottelius, der sich immer wieder auf Luthers Sendbrief vom Dolmetschen bezieht, muß der Uebersetzer den fremden Sinn „nach der Teutschen Sprache Eigenschaft und Vermögen“ verdeutschen; damit ist der Teutschen Sprach wol gedienet / und trit / wegen der hohen Ausländischen Erfindungen / die also auch bey uns mit echten und rechten Teutschen Worten und Reden zutage kommen / zu jhrem Reichtum / Wolwesen und Vollkommenheit eine Staffel hinan.“ Nur durch ständige Uebung, Schleifen, Feilen, Polieren sind bei den Griechen _____________ 51 52
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T. Mommsen, Die Kunst des deutschen Uebersetzers aus neueren Sprachen. Leipzig 1858. S. 42. Des Hochberühmten Lateinischen Poetens Q. Horatii Flacci vier Bücher Odarum (oder Gesänge) in Teutsche Poesie übersetzet. Dresden 1656. Die Uebersetzung des ersten Buches erschien selbständig schon 1643. Das Urteil von Fränzel a. a. O., S. 21 f., ist stark übertrieben, ebensowenig zuverlässig sind die schnell hingeworfenen Behauptungen von F. Gundolf, Seckendorffs Lucan. Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie d. Wissenschaften, phil.-hist. Kl. 1931. 2. Abh. Eine eingehende Würdigung des Werkes wird die 1933 unter mir gemachte, leider noch nicht erschienene Diss. von Walter Fischli bringen. [Die Dissertation wurde im Jahre 1945 publiziert: Studien zum Fortleben der Pharsalia des M. Annaeus Lucanus, Luzern.] a. a. O., S. 1216–1268, im 5. Traktat des 5. Buches, einem Dialog zwischen Wolrahm und Siegraht „Wie man recht verteutschen soll.“
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und später den Römern die „unausgearbeiteten Landwörter gleichsam in eine Zier jhrer rechten deutung angekleidet / und auf richtigen Grund jhren Vermögens gepflanzet worden“. Dem Beispiele der griechischen solle die deutsche Sprache folgen. [203] Von Schottelius ab wird das Uebersetzen wirklich Problem. Die ganze Aufklärung schlägt sich damit herum und legte die Theorie fest, nach der im Wesentlichen bis Lessing übersetzt wurde.55 Sie pflegt ein über den Schulbetrieb nicht wesentlich erhobenes Uebersetzerdeutsch, eine Sprache, die alles ihr Vorliegende nach dem gleichen Schema handwerksmäßig übersetzt ohne Gefühl dafür, daß die persönliche Art im Stil der Uebersetzung durchschimmern sollte. Omne tulit punctum, wem das gelungen ist. Das innere Stilgefühl, das die Gemeinsamkeiten im eigenen Wollen mit dem der zu übertragenden Dichtung sieht, findet hier eben die Grundlage, mögen beide Gemeinsamkeiten nun persönliche sein oder einer ganzen Epoche angehören. Wie merkwürdig nimmt sich die Prosaübersetzung von Butlers Hudibras durch den biederen Züricher Waser aus, der das Unmögliche tat, eine aus dem Geiste des 17. Jahrhunderts geschaffene Dichtung in kecken Reimen, in die halb philosophische, halb pastoral-lehrhafte Prosa des 18. Jahrhunderts zu übertragen. Auch in der Geschichte der Uebersetzung beginnt eine neue Auffassung mit Herder. Ihm verdanken wir die Erkenntnis vom lebendigen Organismus der Sprache. Er ist Philologe und was an seinen Fragmenten so revolutionär wirkt, ist das Wissen um den dichterischen Stil. Auch in seinen frühen kritischen Schriften geht es wie in denen der Aufklärer um das Problem des Uebersetzens, aber sein Standpunkt ist nicht mehr der Regelhaftigkeit verwurzelt. Der Uebersetzer ist von da ab weder Handwerker noch Gelehrter, sondern Künstler. Seither kann man mit Tycho Mommsen56 von einer stilhaften Uebersetzung und einer engeren Verquickung von Literatur und Uebersetzung sprechen. Die Auffassung der Geniezeit vom Dichter, der die Regeln in sich selbst trage und nicht erlernen könne, der wie die Natur schafft, mußte auch befreiend auf den Uebersetzer wirken und jetzt mehren sich wirklich die guten Uebersetzungen, weil die Uebersetzer ihre Arbeit nicht mehr als Schulpensum erledigen, sondern aus innerem Drang. So kamen wir zu einem deutschen Homer – die Ilias freilich stößt in Friedrich Stolberg auf einen verwandteren Geist als in Voß –, einem deutschen Shakespeare, einem deutschen Cervantes. Erst das Gefühl für den eigenen Stil des großen Kunstwerkes erhob den Uebersetzer über seine Vorgänger. Dabei tritt der rationale Zug des Uebersetzens jedenfalls stärker zurück, als es D. F. Strauß wahrhaben will mit seiner Behauptung:57 „Die herdersche Universalität und Objektivität also mit genauerer Ausarbeitung des Einzelnen zu verbinden und dadurch sich und die Muttersprache auch zur Nachbildung eigentlicher und größerer poetischer Kunstwerke zu befähigen, die war es, worauf Schlegel hinarbeitete.“ – Daß Uebersetzen wirklich künstlerisch Gestalten heißt, ist nunmehr ins allgemeine Bewußtsein gedrungen. Sprachen die _____________ 55 56 57
G. Fuchs, Studien zur Uebersetzungstheorie und -praxis des Gottsched-Kreises. Versuch einer Wesenbestimmung des nachbarocken Klassizismus. Diss. Freiburg i. d. Schweiz 1936. a. a. O., S. 14 [o. S. 183]. a. a. O., S. 125.
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früheren Rezensionen der Uebersetzungen – Lessing ist dafür ein klassisches Beispiel – von den Fehlern, so sprechen die späteren von der Vermittlung des Geistes. [204] Darum geht es auch in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhundert. Es ist kein Zufall, daß wohl die drei bedeutsamsten Aeußerungen über das Uebersetzen zeitlich so nahe beisammenstehen. Novalis weitet den Begriff gleichsam ins Unendliche.58 Er unterscheidet grammatische Uebersetzung „im gewöhnlichen Stil“; „sie erfordern sehr viel Gelehrsamkeit, aber nur diskursive Fähigkeiten“, verändernde, zu denen, „wenn sie echt sein sollen, der höchste poetische Geist“ gehört; vom Uebersetzer dieser Art, der leicht ins Travestieren fällt, verlangt er, das „der Künstler selbst der Dichter des Dichters“ sein müsse, „und ihn also nach seiner und des Dichters eigener Idee zugleich reden lassen könne“ und mythische, die den höchsten Stil verkörpern und „den reinen vollendeten Charakter des individuellen Kunstwerkes“ darstellen. „Sie geben uns nicht das wirkliche Kunstwerk, sondern das Ideal desselben.“ Er weiß dafür kein Beispiel anzugeben, glaubt jedoch, „im Geiste mancher Kritiken und Beschreibungen von Kunstwerken holde Spuren davon“ anzutreffen. Die völlige Durchdringung von Poesie und Philosophie ist die Voraussetzung des Zustandekommens einer solchen Uebersetzung. Wenn Novalis die griechische Mythologie die Uebersetzung einer Nationalregion nennt und seine Erläuterung mit dem Satz abschließt: „Nicht bloß Bücher, Alles kann auf diese drei Arten übersetzt werden“, so dehnt er den Begriff auf die künstlerische Wiedergabe überhaupt aus und beschränkt sich nicht mehr auf Sprache und Dichtung allein. Seine mythische Uebersetzung bleibt ideale Forderung, auch bei Schadewaldt,59 der diesen Begriff aufnimmt, aber ebenfalls kein Beispiel angeben kann, in dem diese hohen Ansätze erfüllt sind. Erst die selbstbewußte, „der eigenen Art und eigenen Form gewisse“ Hingabe ist die Voraussetzung für die schöpferische Uebertragung. „Symbolgestaltung das ist alles wahre Uebersetzen.“ Aus der Forderung nach Treue entspringt für ihn die ganze Problematik des Uebersetzens. Und da setzt auch Goethe60 mit seiner „zwar Bekanntes doch nie genug zu Wiederholendes“ bietenden Erörterung ein, indem er die Entwicklung der Uebersetzungen von der „uns in unserem Sinne mit dem Ausland bekanntmachenden“ prosaischen ableitet. Sie „leistet für den Anfang den größten Dienst, weil sie uns mit dem fremden Vortrefflichen in unsere nationellen Häuslichkeit, in unserem gemeinen Leben überrascht und, ohne daß wir wissen, wie uns geschieht, eine höhere Stimmung verleihend, wahrhaft erbaut. Eine solche Wirkung wird Luthers Bibelübersetzung jederzeit hervorbringen.“ Dann folgt die parodistische mit Wieland als Meister, die im Wesentlichen mit der _____________ 58
59 60
Novalis, Fragmente. Erste vollständige, geordnete Ausgabe, hrsg. von Ernst Kamnitzer. Dresden o. J. S. 617 f. Nr. 1929. C. S. Gutkind, Novalis als Uebersetzer. German.-Roman. Monatsschrift 20 (1932), S. 437–445. [Beim oben zitierten Fragment handelt es sich um Nr. 68 der Blüthenstaub-Sammlung, s. Novalis, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hg. v. Paul Kluckhohn (†) u. Richard Samuel, Bd. 2: Das philosophische Werk I, hg. v. Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl u. Gerhard Schulz, 3. verb., nach den Hss. erg., erw. u. verb. Aufl., Stuttgart u. a. 1981, 438–441.] W. Schadewaldt, Das Problem des Uebersetzens. Ein Vortrag. Die Antike 3 (1927), S. 287–303. Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des west-östlichen Divans. Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe 5, S. 303–306.
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verändernden von Novalis übereinstimmt. Die höchste Stufe sieht Goethe in Voß, sie möchte „die Uebersetzung dem Original identisch machen.“ Zu ihr müsse sich erst der Geschmack der Menge heranbilden. Sie erfüllt auch die von Schadewaldt61 [205] aufgestellte höchste Forderung: „Sie soll das lebendige Organ sein, durch das die Geister der Nationen miteinander Zwiesprache halten.“ Goethe legt sich die historische Entwicklung selbst zurecht, er sieht am Stilproblem völlig vorbei und mit ihm fast das ganze aus allen Sprachen übertragende 19. Jahrhundert, in dem sich so Viele am gleichen Gegestande versuchen. Aus wenigen Jahrzehnten z. B. liegen etwa 23 Uebersetzungen von Tennysons Enoch Arden vor. Es bleibt doch wertvoll, neben den reinen Theoretikern auch den Praktiker Schleiermacher zu Worte kommen zu lassen, dessen Ausgangspunkt die Sprache bleibt. Er unterscheidet zwischen dem mechanischen Dolmetscher und dem für Wissenschaft und Kunst arbeitenden Uebersetzer, der sich dessen bewußt bleibt, daß die Irrationalität durch alle Elemente zweier Sprachen geht. Eine Lösung sei möglich durch die Paraphrase auf dem Boden der Wissenschaften in mechanischer Weise, durch Nachbildung auf dem Boden der Kunst im Sinne einer Beugung unter die Irrationalität der Sprachen. Ein überaus feines Stilgefühl läßt ihn Herders Ahnen auf die Formel bringen, daß jede Rede aus dem Geist der Sprache und dem Gemüt des Redenden erfaßt werden müsse. Die Uebersetzung steht zwischen Autor und Leser, je nachdem der Ueberstzer dem einen oder anderen mehr entgegenkommt, richtet sich seine Methode. Ist der Autor der unverrückbare, dann ist das Verstehen seiner Sprache das Problem und dafür glaubt Schleiermacher eine Uebersetzersprache anwenden zu müssen,62 „die nicht nur nicht alltäglich ist, sondern die auch ahnen läßt, daß sie nicht ganz frei gewachsen, vielmehr zu einer fremden Aehnlichkeit hinübergebogen sei; und man muß gestehen, dieses mit Kunst und Maß zu tun, ohne eigenen Nachteil und ohne Nachteil der Sprache, dies ist vielleicht die größte Schwierigkeit, die unser Uebersetzer zu überwinden hat.“ Hier läßt sich Novalis’ grammatische und Goethes prosaische Uebersetzung einordnen. Ist der Leser der unverrückbare, dann muß der Autor ihm entgegengebracht werden. Darauf hat Schleiermacher eine treffende Antwort:63 „Ich bin dir ebenso verbunden, als ob du mir des Mannes Bild gebracht hättest, wie er aussehen würde, wenn seine Mutter ihn mit einem anderen Vater gezeugt hätte. Denn wenn von Werken, die in einem höheren Sinne der Wissenschaft und Kunst angehören, der eigentümliche Geist des Verfassers die Mutter ist, so ist die vaterländische Sprache der Vater dazu. Das eine Kunststücklein wie das andere macht Anspruch auf geheimnisvolle Einsichten, die niemand hat, und nur als Spiel kann man das eine so unbefangen genießen wie das andere.“ Diese Art von Uebersetzungen umschließt Goethes parodistische und Novalis verändernde Uebersetzung. Schleiermacher leugnet die Möglichkeit einer dritten Methode, schließt also des Novalis mythische und Goethes höchste Stufe völlig aus, er hält die mythische für unmöglich und würde Voß wohl in seiner zweiten Methode untergebracht haben. Seine, wenn auch treffendsten Bilder, der Mangel an Beispielen, die _____________ 61 62 63
a. a. O., S. 292 f. Schleiermacher a. a. O., S. 226 [o. S. 71]. Ebenda, S. 238 [o. S. 77].
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kaum gezogenen Folgerungen, und die mißverstehende Polemik, der er sich dadurch aussetzte, sind vielleicht der Grund, daß seine Erkenntnisse, die zutiefst in das Wesen [206] der Sprache geblickt haben, so wenig Widerhall fanden, und daß nur die Symbole, unter denen er das Wesen sieht, als einprägsam empfunden wurden, z. B. bei Petersen. Es mag auch daran liegen, daß die ganze folgende Entwicklung ausschließlich Schleiermachers erste Möglichkeit in die Praxis umsetzt und sich bemüht, den Autor möglichst nah an den Leser heranzubringen. Sehr selten sind Versuche nach der anderen Art, wie ich schon oben, ohne auf die Zwischenstufen, die in Schleiermachers „Heranbringen“ eingeschlossen sind, hingewiesen zu haben, ausgeführt habe. Seine einschränkende letzte Bemerkung läßt ihn beinahe an der Möglichkeit einer Uebersetzung verzagen und das ist der Weisheit letzter Schluß, zu dem auch die Väter der vergleichenden Sprachwissenschaft kommen. Wilhelm von Humboldt schreibt an August Wilhelm Schlegel:64 „Alles Uebersetzen scheint mir schlechterdings ein Versuch zur Lösung einer unmöglichen Aufgabe; denn jeder Uebersetzer muß immer an einer der beiden Klippen scheitern, sich entweder auf Kosten des Geschmacks und der Sprache seiner Nation zu genau an das Original oder auf Kosten des Originals zu sehr an die Eigentümlichkeit seiner Nation zu halten.“ Das ist Schleiermachers Standpunkt, der aber immerhin noch die Möglichkeit in sein Blickfeld faßt. Humboldt läßt den Uebersetzer „scheitern“. Rein gefühlsmäßig urteilt Jakob Grimm in einem Brief vom 14. August 1825 an die Uebersetzerin der serbischen Volkslieder Therese v. Jacobs (Talvi):65 „Was Uebertragungen insgemein betrifft, so gestehe ich ihnen heimlich, daß mir die meisten nicht gefallen. Ich mache mich zwar nicht anheischig, alles das bündig zu widerlegen, was sich für gute Uebersetzungen sagen läßt, aber meinem Gefühl widerstrebt vieles von dem, was sich selbst in den allerbesten findet. Sie machen mir etwas von dem beengenden Eindruck, den ich in der Gesellschaft eines Blinden oder Tauben empfinde. Kurz ich begreife nicht, warum viel oder alles verdeutscht werden muß, und meine, daß unsere Nationalität dadurch verdünnt wird; wenigstens was von deutscher Universalheit zu rühmen ist, hat uns in der Poesie den geringsten Nutzen gestiftet.“ Mag die Forderung, die an die Uebersetzer gestellt wird, noch so hoch sein, die Ausführung erfüllt sie nicht. So ist weniger aus der Theorie zu lernen als aus dem, was die Vergangenheit geleistet hat und das ist nur durch eine Bibliographie zu erreichen, die möglichst erfaßt, was ins Deutsche übersetzt wurde. Sie wird die Einbruchstellen fremden Geistes aufzeigen können und einen regen Ameisenhaufen, der viel in die Scheuer bringen will, wenig Edelsteine, viel Eisen und noch mehr wertloses Blech, wie es immer bei Sprenglerarbeiten abfällt. Und doch wird sich das Mühen einer Nation um Verbreiterung ihres Wissens daraus ergeben. Entwicklungsgeschichtlich wird dann eine solche scheinbar tote Sammlung aus Titeln ausgewertet werden können in einer Geschichte der deutschen Uebersetzungskunst, ihrer Theorie und Praxis. Welche Fülle von Vorbildern, Kräften und Gestalten floß unserem Geistesleben durch Uebersetzungen zu! sie zeigen uns unmittelbar als Lernende an den Leistungen der anderen, als Suchende nach dem nutzbar zu machenden Fremden, als ewige Schüler und Strebende. _____________ 64 65
Zit. nach O. Weise, Aesthetik der deutschen Sprache. Leipzig-Berlin 19052. Zit. nach Euphorion I (1894), S. 462.
Horst Rüdiger Horst Rüdiger (1908–1984), Germanist und Komparatist, hatte nach dem Studium der Germanistik, Klassischen Philologie und Romanistik in Hamburg und Heidelberg 1932 bei Friedrich Gundolf mit der Arbeit Sappho. Ihr Ruf und ihr Ruhm in der Nachwelt promoviert. Zwischen 1938 und 1957 war er an verschiedenen italienischen Universitäten tätig. Seit 1958 hatte er eine Professur für Vergleichende Literaturwissenschaft in Mainz inne (seit 1959 als Ordinarius), von der er 1962 auf den entsprechenden Lehrstuhl in Bonn wechselte. Rüdiger sah das Übersetzen als ein zentrales Thema literaturwissenschaftlicher Forschung an, mit dem er sich seit seiner Dissertation wiederholt beschäftigte. Er gab auch mehrere Übertragungen antiker Literatur heraus und übersetzte selber griechische Lyriker. Im folgenden Aufsatz arbeitet er – in Auseinandersetzung mit Schleiermacher, Humboldt und besonders Wilamowitz – heraus, dass jede Übersetzung „Stilisierung“ bedeutet.
Zur Problematik des Übersetzens Aus: Neue Jahrbücher für Antike und deutsche Bildung 1 (1938), 179–190.
Im Jahre 1891 schrieb Wilamowitz zu seiner Ausgabe und Übersetzung von Euripides’ Hippolytos eine Einleitung, die in einer Zeit des allgemeinen künstlerischen Verfalls die Besinnung eines verantwortlichen Kopfes darstellte. Der Aufsatz wurde dann unter dem programmatischen Titel „Was ist übersetzen?“ verändert und erweitert unter die „Reden und Vorträge“ aufgenommen.1 Da der Aufsatz eins der entscheidenden Probleme aller Übersetzungskunst aufgreift, mag er auch heute noch geeignet sein, den Ausgangspunkt für eine erneute Auseinandersetzung über [180] die Problematik des Übersetzens zu bilden, die der geschichtlichen Entwicklung Rechnung trägt. Wilamowitz beginnt seine Ausführungen mit dem lapidaren Satz: „Die Übersetzung eines griechischen Gedichtes kann nur ein Philologe machen. Wohlmeinende Dilettanten versuchen es immer wieder, aber bei unzureichender Sprachkenntnis kann nur Unzureichendes herauskommen.“ Was ein Philologe in diesem Sinne sei, erläutert Wilamowitz einige Seiten später, wo er nochmals feststellt, es könne „für einen Urteilsfähigen keinem Zweifel unterliegen, daß nur der Philologe übersetzen kann; wobei man nicht vergesse, daß der Besitz einer Lehrbefähigung für die oberen Klassen oder eine Professur der Philologie nicht zum Philologen macht. Der Professor sollte allerdings einer sein, der Lehrer braucht es nicht mehr zu sein als nötig ist, um das Ideal des Hellenentums zu predigen. Der Beruf in seiner Seele, den er aus freier Liebe durch _____________ 1
I4. Bln. ’25, 1 ff. [o. S. 325–349].
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wissenschaftliche Arbeit erfüllt, nicht die Berufung zu einem Lehramt macht den Philologen.“ Obwohl es kurz vorher heißt, daß „die Philologie für die Philologen“ sei, wird es dem genauen Leser nicht entgehen, daß Philologie nicht nur eine esoterische Sprachkenntnis, sondern zugleich die Liebe zum Ideal des Hellenentums – mit anderen Worten: Humanismus bedeutet. Nur der Sprachkenner und der Humanist vermag also ein griechisches Gedicht zu übersetzen – denn allein über griechische Dichtung spricht Wilamowitz hier. Was aber heißt nach Wilamowitz übersetzen? Es ist „Schlendrian“, wie es bei der kritischen Betrachtung von Droysens Aischylosübersetzung heißt, dem Original mit „wörtlicher Treue“ und in den „Versmaßen der Urschrift“ zu folgen; das bedeutet eine „falsche Methode“. Dagegen heißt übersetzen, „des Dichters Gedanken, Empfindungen, Stimmungen frei aus sich zu geben,“ weil man sie ganz in sich aufgenommen hat. „Es gilt auch hier, den Buchstaben verachten und dem Geiste folgen, nicht Wörter noch Sätze übersetzen, sondern Gedanken und Gefühle aufnehmen und wiedergeben. Das Kleid muß neu werden, sein Inhalt bleiben. Jede rechte Übersetzung ist Travestie. Noch schärfer gesprochen, es bleibt die Seele, aber sie wechselt den Leib: die wahre Übersetzung ist Metempsychose.“ Wie steht es nach diesem Maßstab mit den vorhandenen Übersetzungen? „Es soll im Deutschen vortreffliche Übersetzungen der Griechen geben; so sagt man. Es ist eine gedankenlos oder böswillig nachgesprochene Unwahrheit.“ Mörike und Geibel wirft Wilamowitz vor, sie hätten „den griechischen Wein mit Zuckerwasser“ versetzt; Voß habe einen Stil geschaffen, dessen Hauptkennzeichen „Trivialität und Bombast“ sind. Goethe sei für den „falschen Ruhm“ der deutschen Übersetzungen mit verantwortlich, weil er in seiner Theorie allein verlangte, daß die Übersetzung ihm die fremde Form vermittle, um „seiner in allen Sprachen sehr ungenügenden Sprachkenntnis“ aufzuhelfen. Humboldt und Wolf trugen zu diesem Irrtum bei. [181] Halten wir hier zunächst ein, um die Voraussetzungen zu untersuchen, die Wilamowitz zu diesen Forderungen und Feststellungen veranlassen. – Ein Übersetzer sieht sich einem fremden Sprachwerk gegenüber und beabsichtigt, es in seiner Muttersprache wiederzugeben. Diese Absicht läßt sich in verschiedener Weise rechtfertigen und ist im Laufe der deutschen Übersetzungsgeschichte tatsächlich in der verschiedensten Art gerechtfertigt worden. Luthers Anlaß, die Bibel zu verdeutschen, lag zweifellos im Bedürfnis weiter Schichten, das Wort Gottes unverfälscht in der Muttersprache kennenzulernen. Das Barockzeitalter rechtfertigte seine Übersetzungsarbeit dadurch, daß es nach der deutschen Bibel auch weltliche deutsche Sprachwerke zu schaffen galt. Denn der allgemeine geistige und gesellschaftliche Verfall verhinderte das Entstehen eines selbständigen deutschen Schrifttums; also versuchte man dieser Not durch Übersetzungen abzuhelfen. Auch die weitverbreitete Kenntnis fremder Sprachen hat dieses Bedürfnis nicht zu unterdrücken vermocht. Erst mit den Vorläufern des Sturmes und Dranges, mit Bodmer und Breitinger, ist das Übersetzen wiederum in grundsätzlich neuer Weise gerechtfertigt worden. In
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Bodmers Miltonübertragung2 geschah es das erstemal, daß „einer einen fremden Dichter aus reiner Bewunderung seines dichterischen Genies“ verdeutschte.3 Bodmer ging es nicht mehr um die deutsche Sprache wie noch den Übersetzern der barocken Sprachgesellschaften, sondern um den Dichter, den Schöpfer als solchen. Es braucht kaum besonders darauf hingewiesen werden, wie nahe sich diese Auffassung mit dem Verständnis berührt, welches das „Original“, das „Genie“ gerade damals fand. Diese typisch deutsche Entdeckung des dichterischen wie überhaupt des schöpferischen Individuums mußte zu allem Paraphrasieren oder „Nachahmen“, das besonders in Frankreich üblich gewesen war, in entschiedenen Gegensatz führen; mit innerer Notwendigkeit mußte die Bewegung des Sturmes und Dranges auch hier in Widerspruch zum französischen Kunstverständnis geraten. Freilich ist diese französische Manier in gewisser Weise viel nationalbewußter als die deutsche Forderung der Treue gegen die Urschrift: Denn sie überträgt in einen fertigen, durch die nationalen Klassiker gefestigten literarischen Stil und geht darum viel weniger historisch befangen, aber auch viel „gewissenloser“ vor als die originaltreue Übersetzung. Die Entdeckung der schöpferischen Individualität zieht unweigerlich die Forderung der wort- und sinngetreuen Übersetzung nach sich. Indem aber die originale Leistung höher geschätzt wird als die nachgeahmte und indem auf die unverfälschte und durch Zutaten oder Abstriche unentstellte Wiedergabe dieser Leistung gedrängt wird, entsteht zugleich eine Minderbewertung aller unoriginalen Leistung überhaupt: Übersetzen erscheint als Schwäche. Hier hat erst die Romantik Wandel geschaffen, indem [182] sie an ihrer stärkeren Sprachgewandtheit zeigte, daß Übersetzen eine durchaus originale Leistung sein kann. Die Rechtfertigung der treuen Übersetzung, bei welcher der Vermittler nicht mehr beliebig paraphrasierend mit dem Original verfährt, führt unmittelbar zur Rechtfertigung der philologischen Übersetzung hin, wie sie von Wilamowitz vertreten wird. Der Ausgangspunkt für den Vermittler fremden Sprach- und Gedankengutes liegt jetzt nicht mehr im Bedürfnis und in der Nachfrage, sondern im Dienst am Original. Der Philologe ist in erster Linie der Urschrift und ihrer genauen Interpretation verpflichtet; er ist es um so mehr, je größer in seiner eigenen Kultur der historische Sinn wird, je mehr das Verständnis für die Andersartigkeit der zu interpretierenden Sprachwerke wächst. Es ist dabei nur natürlich, daß er den philologischen Gesichtspunkt übermäßig betont, indem für ihn die Philologie nicht nur Mittelpunkt der wissenschaftlichen Betätigung, sondern der menschlichen Existenz überhaupt steht. Der vorhistorisch denkende Philologe der Aufklärungszeit konnte in seinem unspezialistisch und ganzheitlich empfindenden Zeitalter auch in den Mittelpunkt seiner speziellen wissen_____________ 2
3
[Die Miltonübersetzung des Schweizer Philologen Johann Jakob Bodmer (1698−1783) Johann Miltons Episches Gedichte von dem verlohrnen Paradiese stammt aus dem Jahre 1732. Mit Johann Jakob Breitinger zusammen vertrat Bodmer Gegenpositionen zu Johann Christoph Gottsched (1700−1766), dem bedeutenden deutschen Litarturtheoretiker der Aufklärung. Auch in der Übersetzungstheorie differieren sie: In dem Kapitel „Von der Kunst der Übesetzung“ in seiner 1740 verfassten Kritischen Dichtkunst tritt Breitinger im Vergleich zu Gottsched deutlicher für die Berücksichtigung der Form des Originals ein.] Walter Fränzel, Geschichte des Übersetzens im XVIII. Jahrh. Lpg. ’14, 49.
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schaftlichen Betätigung das Ziel stellen, das damals allen Gebildeten am Herzen lag und das der Epoche das Gesicht der Einheitlichkeit verleiht: die Erringung menschlicher Glückseligkeit. Dieser Eudämonismus greift in alle Teilgebiete literarischer Betätigung ein; er hat auch den Charakter der Übersetzungen bestimmt, indem der Übersetzer nach Belieben mit dem Original schaltete, indem er die „guten Stellen“ auswählte, indem etwa noch Venzky in seinem „Bild eines geschickten Übersetzers“ (1734) neben der „Vertrautheit mit beiden Sprachen, zureichender Wissenschaft anderer Sprachen, die im Original vorkommen, einer hinlänglichen Erkenntnis der nötigen Wissenschaften, Verständnis der Sache“ usw. auch die heute absurd anmutende Forderung stellte, der Übersetzer müsse mit den „Gnadengaben des heiligen Geistes, einer brennenden Liebe Christi, einem göttlichen Licht“ begabt sein.4 Diese Voraussetzungen mußte er aber erfüllt haben, um für seine Arbeit recht vorbereitet zu sein, das heißt, um die Partien übersetzen oder bearbeiten zu können, die dazu angetan waren, das Ziel aller Aufklärung zu verfolgen: den Menschen in seiner Existenz zu bessern und damit zu beglücken. Auf derartige außerhalb seiner Aufgabe liegenden Ziele kann der historisch denkende Philologe nicht mehr Rücksicht nehmen. Er hat Ehrfurcht vor dem Original und zwar nicht in erster Linie hinsichtlich seines etwa vorhandenen ethischen Wertes, sondern vor dem Original als Sprachwerk. Deswegen forderte schon die Romantik die Übersetzung aller vorhandenen Sprachwerke ins Deutsche; der Philologe kann diese Forderung nur billigen. Aber indem er auf das Original als Sprachwerk [183] und auf seine treue Wiedergabe bedacht ist, kann es ihm entgehen, daß das Original, gerade wenn es sich um ein griechisches Gedicht handelt, gar nicht im engeren Sinne als Sprachwerk konzipiert und gemeint ist. Der Dichter hat ja gar nicht in erster Linie ein Sprachwerk mit bestimmten grammatischen oder dialektischen oder metrischen Eigenschaften schaffen wollen, sondern er hat einem inneren Erlebnis durch künstlerische Sprache Gehalt geben wollen. Er hat, indem er sich vom Druck seines Erlebnisses befreite, ein Kunstwerk in sprachlichen Formen geschaffen. Jede philologische Interpretation, die diese elementare Tatsache übersieht, ist mit Notwendigkeit beschränkt; sie umfaßt nicht die Gesamtheit des Objektes, sondern nur einen Ausschnitt. Jede Übersetzung eines griechischen Gedichtes, die in diesem beschränkten Sinne angefertigt wird, ist demnach Stückwerk. Sie erfüllt zwar die Voraussetzungen, aber sie liefert keinen richtigen Schluß. Um ein griechisches – oder auch lateinisches oder neusprachliches – Gedicht zu übersetzen, genügt es nicht, Sprachkenner und Humanist zu sein. (Es sei dabei von der in diesem Zusammenhang nebensächlichen Frage abgesehen, inwiefern sich der Begriff des „Humanisten“ seit Wilamowitz’ Umschreibung als eines Predigers des hellenistischen Ideals heute schon gewandelt hat.) Das griechische Gedicht ist also, ehe es philologisches Objekt war, gerade durch seine sprachliche und metrische Form Kunstwerk. Dabei vergessen wir nicht, daß wir es als Kunstwerk erst durch die Arbeit des Philologen wieder genießen können. Aber seinen Charakter ändert es durch die philologische Arbeit keineswegs - wenigstens _____________ 4
Zitiert nach Fränzel 34 f.
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nicht für den, der ihm unvoreingenommen gegenübertritt. Auf diesen Unvoreingenommenen aber kommt es dem Übersetzer gerade an. Denn der wissenschaftlich Interessierte bedarf ja der Übersetzung nicht, oder er braucht bestenfalls eine Interlinearversion, die ihm Gedächtnishilfe ist. Jener Unvoreingenommene im weitesten Sinne ist aber jeder Sprachgenosse des Übersetzers, ist sein Volk, soweit es literarisches Publikum ist. Es bedarf hier keiner ausführlichen Begründung, warum eine moderne Übersetzung gerade nach dieser Seite hin zu rechtfertigen ist; die Notwendigkeit dieser Rechtfertigung wird heute niemand bestreiten, der offenen Sinnes in der Gegenwart lebt. Wilamowitz hat diese Rechtfertigung vom entgegengesetzten Standpunkt aus vorgenommen: Er wollte das hellenische Ideal dem deutschen Volke „gepredigt“ wissen; darum mußte er die Philologen für die einzig rechtmäßigen Übersetzer halten. Wenn wir nach unserer Erwägung den Sprachkenner und Humanisten im Sinne Wilamowitz’ als den einzig berechtigten Dolmetscher antiken Geistesgutes ablehnen müssen, so wäre es doch verfehlt, seine Vermittlung grundsätzlich aufzugeben, wie es der umgekehrte Radikalismus fordern würde. Vielmehr ist die Vermittlung des Philologen als des berufenen sprachlichen Interpreten unbedingt er-[184]forderlich, und ohne seine mittelbare oder unmittelbare Mitwirkung wird in der Tat keine genügende Übersetzung entstehen. Aber da es gilt, Gedichte, also Kunstwerke, zu verdeutschen, ist es entscheidend, daß allein der Dichter den Dichter in einer anderen Sprache wiederzugeben vermag, daß Kunst zunächst durch Kunst und erst in zweiter Linie durch Gelehrsamkeit vermittelt werden kann, daß also die künstlerische Übertragung am Ende auch die treueste ist, wenn sie nicht geradezu gegen den Sinn des Originals verstößt. Das Ideal des Übersetzers wird also der philologisch geschulte oder beratene Dichter sein. Denn allein der Dichter vermag das Ideal der Treue in seiner Tiefe, das heißt in seiner Doppelsinnigkeit zu fassen. Das will sagen, daß „Treue“ nicht nur Pflichten gegen das Original, sondern auch gegen die eigene Sprache einschließt. Dieser doppelten Treupflicht gegen die Muttersprache und gegen den künstlerischen Charakter des fremden Sprachwerkes vermag allein der Philologe zu genügen, der Künstler ist. Ideales Übersetzen bedeutet also ein Sowohl-Als-auch, ein Kompromiß: möglichste Treue gegenüber dem ursprünglichen Kunstwerk bei möglichster Treue gegen die Muttersprache. Wilamowitz ist dieser Einsicht nahegekommen, wenn er am Schluß seiner Abhandlung meint, wer die nötigen Vorkenntnisse habe, könne vermittels des Verstandes die richtige stilistische Wahl bei der Übertragung eines griechischen Dichters treffen. „Verse kann man dann machen; ob Poesie dabei herauskommt, ist eine andere Frage; denn zum Dichten verleiht nur die Muse die Fähigkeit.“ Ohne hier auf die Frage einzugehen, inwieweit Wilamowitz’ eigene Übersetzungen poetische Qualitäten haben, bleibt es bemerkenswert, wie hier eine grundsätzlich bedeutsame Einsicht in das Geheimnis aller Übersetzertätigkeit, in den Stil, worin übertragen wird, durch ein rationalistisches Vorurteil zerstört wird. Denn stilistische Fragen werden niemals primär durch den Verstand gelöst, auch wenn die besten Vorkenntnisse vorhanden sind; und „Versemachen“ führt unter allen Umständen nur beim Dichter zur Dichtung. Um die Vermittlung von Dichtung aber kann es dem Übersetzer eines griechischen Gedichtes allein gehen; darum ist der Nachdichter allein der berufene
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Übersetzer unter der Voraussetzung, daß er das Original verstanden hat. Denn nur er vermag jener doppelten Treupflicht zu genügen, von der wir sprachen. Im weiteren Gange seiner Abhandlung bemerkt Wilamowitz mit Recht, daß man um 1800 „die griechische Sprache und Verskunst schlechterdings nicht verstand“. Diesem Mißverstehen verdanken wir den Versuch, in den Versmaßen der Urschrift nachzudichten, der von Voß nach Klopstocks Vorbild ausging und dann nicht allein die Übersetzungen aus dem Griechischen und Lateinischen betraf, sondern auf die Verdeutschung der gesamten Weltliteratur sinngemäß übertragen wurde. „In Wahrheit gehören Sprache und Vers zusammen, und es ist ein Unding, zu griechischen Versen deutsche Sprache zu verwenden. Das mangelnde Gefühl für das [185] Wesen des Verses hat den Deutschen freilich den Stolz eingegeben, Ramayana und Kalewala, Firdusi und Dante, Pindar und Calderon in den Versmaßen der Urschrift wiedergeben zu können, und der Traum ist geträumt, das Deutsche zur Vermittlersprache für die gesamte Weltliteratur zu machen, daß heißt, goethisch zu reden, aller Welt Kupplerdienste zu leisten.“ Am Beispiel des Alexandriners macht Wilamowitz klar, daß dieses Versmaß zwar nicht grundsätzlich gegen die deutsche Sprache verstoße, daß es jedoch bei der Übertragung französischer Dramen zu verpönen sei, weil deutsche Alexandriner etwas ganz anderes als französische sind – „und doch dasselbe scheinen wollen.“ Die Romanen sind von diesen Verirrungen beim Übersetzen frei; „sie besitzen eben eine alte Kultur und gefestigte Stile für ihre Poesie.“ (Wir wiesen oben schon auf die nationalbewußte, freilich vom Standpunkt der Originaltreue auch „gewissenlosere“ Manier der klassischen französischen Übersetzungskunst hin.) Der deutsche Stil im Schrifttum wurde durch die deutschen Klassiker geschaffen; „ins Deutsche übersetzen heißt in Sprache und Stil unserer großen Dichter übersetzen.“ Der Übersetzer muß also das Original zunächst verstehen und hat danach „etwas, das in bestimmter Sprache vorliegt, mit der Versmaß und Stil auch gegeben sind, in einer anderen bestimmten Sprache neu zu schaffen, mit der wieder Versmaß und Stil gegeben sind.“ Wilamowitz macht diese Forderung am Griechischen klar, indem er zeigt, wie sich alle deutsche Dichtung in einen festen griechischen Stil übersetzen läßt, aber auch nur in diesen schon geformten Stil. Darauf wendet er sich der konkreten Aufgabe zu, den deutschen Stil für griechische Gedichte zu finden. Das Epos hält er infolge der falschen Vorstellungen, die wir seit Voß vom Hexameter fest in uns tragen, „für zur Zeit unübersetzbar“. „Für nichts dagegen stehen die Chancen günstiger als für die attische Tragödie. Das verdanken wir Goethe: er liefert in Helena und Pandora Formen und Stil.“ Wilamowitz geht dann auf Einzelheiten der praktischen Ausführung, besonders auch auf die Verwendung des Reimes ein. Auf jeden Fall wäre es verkehrt, „für ein bestimmtes antikes Maß eine bestimmte Wiedergabe zu setzen: man steht in jedem einzelnen Falle vor einer ganz neuen Aufgabe. Nur wenn der antike Dichter in demselben Werke eine und dieselbe Gattung in gleicher Weise wiederholt anwendet, muß auch die Nachbildung wiederholen; in einem anderen mag sie sich anders entscheiden.“ – Ehe wir auf diese Ausführungen eingehen können, ist noch eine andere Frage zu beantworten, die Wilamowitz nur kurz berührt, die aber jenseits des philologischen das eigentliche sprachphilosophische Problem jeder Übersetzung darstellt. Wilamowitz bemerkt in einer Parenthese: „In Wahrheit können wir ein einzelnes Wort
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fast nie übersetzen, weil abgesehen von technischen Wörtern niemals zwei Wörter zweier Sprachen sich in der Bedeutung decken,“ und führt diese Beobachtung in einer An-[186]merkung zu diesem Satz auf die „Täuschungen der Etymologie“ zurück. „Die lautliche oder wurzelhafte Identität zweier Wörter besagt für ihre Bedeutung zunächst gar nichts. Wie lächerlich machen wir uns durch Latinismen und Gallizismen, wenn wir italienisch reden; wie täuschend sind die Bedeutungen, die wir ins Holländische hineintragen.“ Der erste systematische Versuch über diesen Gegenstand findet sich bei dem englischen Bibelübersetzer Campbell, der folgende Wortgruppen unterscheidet:5 1. Words to which there are other words perfectly corresponding in other languages; hierzu zählt er im wesentlichen alle Konkreta. 2. Words which but imperfectly correspond to any of the words of other languages, das heißt die Abstrakta. 3. Words to which there is nothing in some other language in any degree corresponding, das heißt nationale Eigentümlichkeiten wie Maß, Gewicht, Ritus, Titel. So äußerlich und vordergründig diese Einteilung und besonders die dritte Klasse der Wörter heute erscheint, so zeigt sie doch, daß die Erkenntnis der nationalen Unterschiede und dadurch die Idee der treuen Übersetzung zum Bewußtsein dieser inneren Schwierigkeiten des Übersetzens durch die Inkongruenz der Bedeutungen führen muß. Schleiermacher erfaßte diese „Inkommensurabilitäten“ viel tiefer und führte sie darauf zurück, daß jemand nur das verstehen könne, was der Struktur seines Bewußtseins entspreche und zwar auch nur dann, wenn er es in einer Ausdrucksform mitgeteilt erhalte, deren Bedeutung ihm geläufig sei.6 Mit dem einfachen Vertauschen von Vokabeln ist die Schwierigkeit zwar nicht behoben – das ist nur bei geläufigen Ideen oder bei Konkreta möglich, die selbst bei ungenauem Ausdruck sofort begriffen werden – aber der Dolmetscher kann völlige Übereinstimmung erreichen, wenn er nicht nur Wort für Wort übersetzt, sondern ganze Wortexemplare austauscht. Diese Unterschiede sind aber für Schleiermacher nur äußerlicher Natur. Hingegen sieht auch er ernstliche Schwierigkeiten, wo es um das Verdeutschen von Unbekanntem oder innerlich Fremdem, also eigentlichen Nationaleigentümlichkeiten, geht. Hier tritt das „Übersetzen“ an die Stelle bloßen „Dolmetschens“; denn das billige Mittel der Paraphrase lehnt Schleiermacher entschieden ab. Er kommt dann zu der Lösung einer besonderen Übersetzersprache, die den Charakter des Fremdartigen beibehält. Ihr Ideal ist etwa dann erreicht, wenn man sagen könnte, daß der Autor, hätte er deutsch geschrieben, ebenso wie der Übersetzer geschrieben haben würde, und wenn man aus der Eigenart der einzelnen Übersetzersprachen nicht nur die verschiedenen Ursprachen, sondern sogar die verschiedenen Autoren bestimmen könnte. Die Künstlichkeit dieser Konstruktion leuchtet ohne weiteres ein, und soviel wir auch Schleiermacher für das Verständnis Platons danken, so ist er doch gerade an [187] der konsequenten Durchführung seiner Idee beim praktischen Übersetzen gescheitert. Entscheidend bleibt, daß er durch eine Erkenntnis sprachphilosophischer Art zur Forderung einer besonderen Übersetzersprache, das heißt zur Forderung eines besonderen _____________ 5 6
Zitiert nach Fränzel 164 f. [o. S. 62 f.].
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Sprachstiles gekommen ist, wie sie auch Wilamowitz in den Mittelpunkt seiner Betrachtung stellt. Dasselbe hat der eigentliche Sprachphilosoph unter den deutschen Übersetzern, Wilhelm von Humboldt, gefordert, und wie Schleiermacher ist er auf diesem Gebiete gescheitert. Beider Übertragungen aus dem Griechischen haben zwar den Beifall bedeutender Zeitgenossen gefunden, beider Werke haben unbestreitbaren historischen Wert – aber sowohl Schleiermachers Platon wie Humboldts Pindar und Aischylos sind nicht in jenem Sinne „lesbar“ geworden wie – trotz allen Mängeln – Voß’ Homer oder gar Schlegels Shakespeare. Auch die Übertragungen Wilamowitz’ gehören, wie sich schon heute deutlich erkennen läßt, ganz und gar seiner Zeit und ihrem Stilgefühl an; denn obschon entsprechend seiner eigenen Forderung der Inhalt geblieben ist und zwar in besserem Verständnis als bei fast allen seinen Vorgängern, so läßt doch das „neue Kleid“ den Schnitt der Jahrzehnte erkennen, in denen es entstand. Um unsere Ausführungen zu verdeutlichen, wird es richtig sein, an einem konkreten Beispiel den Unterschied der philologischen von der dichterischen Übersetzung aufzuzeigen. Absichtlich wählen wir dabei die Übersetzung eines Philologen hohen Ranges, eben Humboldts, der gewiß nicht nur eine Übersetzung „im Versmaß der Urschrift“ schaffen wollte, und stellen sie derjenigen eines Dichters, Hölderlins, gegenüber. Beide verdeutschen das bekannte Skolion auf Harmodios und Aristogeiton, wobei Hölderlin auf die letzte Strophe verzichtete. Humboldts Versuch lautet: Mirten will ich um das Schwerdt mir winden, Wie Harmodios that und Aristogeiton, Da ihr gezükter Stahl, den Tirannen mordend, Freiheit Athen gab und den Bürgern Gleichheit! Du Geliebter Harmodios starbst nicht; nein Du Weilst noch, trau’ ich der Sage, in den Gefilden Wo in der Seligen Schaar auch Päleus Sohn noch Lebet und Diomädäs der Tüdeide! Mirten will ich um das Schwerdt mir winden, Wie Harmodios that und Aristogeiton, Da ihr Arm am Athenischen Opferfeste Muthig Ipparchos mordete, den Tirannen!
Schon die Schreibung der griechischen Namen, noch mehr die Anlehnung an die Versform des Originals, die leicht antikisierende Wortstellung, kurz die historische Befangenheit gegenüber dem ursprünglichen Gedicht zeigen die Grenzen dieser [188] Übersetzung, die im Grunde eine vorzügliche Interlinearversion darstellt. Wie anders verfuhr dagegen der Dichter: Schmüken will ich das Schwerdt! mit der Myrthe Ranken! Wie Harmodios einst, und Aristogiton, Da sie den Tyrannen Schlugen, da der Athener Gleicher Rechte Genosse ward.
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Liebster Harmodios, du starbest nicht! Denn sie sagen, du seiest auf der Seel’gen Insel n, Wo der Renner Achilles, Wo mit ihm Diomedes Tydeus treflicher Sprosse wohnt. Schmüken will ich das Schwerdt! mit [der] Myrthe Ranken! Wie Harmodios einst, und Aristogiton, Da sie bei Athenes Opferfest den Tyrannen, Hipparch den Tyrannen ermordeten.
Gewiß handelt es sich hier um keine Paraphrase, sondern um eine wirkliche Übersetzung. Aber hier ist entschieden deutlicher als bei Humboldt jener doppelten Treupflicht Genüge getan, von der wir sprachen. Die fremden Namen sind in der üblichen Weise geschrieben, das Versmaß ist in der Richtung der „freien Rhythmen“ aufgelockert, die Diktion vermeidet bewußt das Fremde und hält sich ähnlich den Herderschen Verdeutschungen an das Heimisch-Vertraute. Wieviel mehr entspricht statt des kalten „Tüdeiden“ das „Tydeus trefflicher Sprosse“ unserem Sprachgefühl, wieviel natürlicher mutet uns die Anrede „Liebster Harmodios“ an als Humboldts „Du Geliebter Harmodios“! Hier zeigt sich klar die Überlegenheit des Dichters vor dem Sprachphilosophen und Philologen. Hölderlin schaltet souverän mit den Möglichkeiten der deutschen Sprache und schafft eben dadurch ein deutsches Gedicht, das dennoch „griechisch“ erscheint, während selbst Humboldts Übersetzung nicht den zwitterhaften Charakter verleugnen kann, der jeder Übersetzung anhaftet, die vom Interlinearprinzip ausgeht. Aber auch Humboldts philologischer Versuch zeigt nicht minder als die Hölderlinsche Ausdeutung, daß jede Übersetzung einer Dichtung in eine andere Sprache Stilisierung bedeutet. Luther hat bewußt und entschieden stilisiert, wenn er die hebräischen Nationaleigenschaften im Alten Testament unterdrückte und den „Eseln und Buchstabilisten“ zeigte, daß das Wort „also dringe und klinge ins Herz durch alle Sinn, wie es tut in unser Sprache.“ Oder ein Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit: George, der als Übersetzer von empfindlichem historischen Bewußtsein Teile aus Dantes Komödie durchaus „treu“ ins Deutsche zu übertragen bemüht war, übersetzte ihn doch in eine andere Sprachschicht mit anderen geistigen und persönlichen [189] Voraussetzungen als die ursprünglichen.7 Entscheidend aber bleibt, daß der Stil sowohl dem originalen Kunstwerk wie auch dem Volke zu entsprechen hat, in dessen Sprache die Übersetzung vorgenommen wird. Bei dieser Frage ist es nahezu gleichgültig, ob der Stil original oder „nachgeahmt“ ist, ob er auf historischen Mißverständnissen oder auf wissenschaftlichen Einsichten beruht. Das Fruchtbare ist auch hier allein das Wahre. So wenig man um 1800 griechische Sprache und Verskunst verstand, so lebenskräftig hat sich der Vossische Homer bewiesen. So sehr der deutsche Shakespeare romantisiert ist, so sehr er dramaturgische Eigenschaften vermissen läßt, so wenig hat er sich von den Bühnen verdrängen lassen. Gerade die wirklichen Eindeutschungen lehren, gleich_____________ 7
Vgl. Lorenzo Bianchi, Dante und Stefan George – Einführung in ein Problem. Bologna ’36.
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gültig unter welchen theoretischen Voraussetzungen sie entstanden sind, daß allein diejenige Übersetzung Aussicht auf Dauer und Widerhall hat, deren Stil nach Luthers Wort „der Art unserer deutschen Sprache“ folgt. Wohl ist es richtig, daß die Metren und der Stil der „Helena“ und der „Pandora“ günstige Chancen für die Übertragungen attischer Tragödien liefern; aber verpflichtend können sie für den Übersetzer in dem Sinne, wie wir ihn oben beschrieben haben, ebensowenig sein wie der Stil des deutschen Homer von Voß. Denn Stilisierung bedeutet im Deutschen – anders als in den romanischen Kultursprachen – nicht allein die Nachahmung eines von den Klassikern geschaffenen (aber schon von den Romantikern in Zweifel gezogenen) Literaturstiles, sondern es heißt, wie auch Wilamowitz erkennt, daß der Übersetzer „in jedem einzelnen Falle vor einer ganz neuen Aufgabe steht“. Übersetzung ins Deutsche bedeutet in gewisser Weise immer die Neuschöpfung eines bestimmten Stiles. Der Vergleich, den Wilamowitz zum Griechischen zieht, ist in dieser Hinsicht nicht gerechtfertigt. Denn das Griechische ist eine abgeschlossene Sprache und kann darum philologisches Objekt sein; man vermag bei genügender Kenntnis und sicherem Geschmack jede moderne Dichtung in einen bestimmten griechischen Stil zu übersetzen. Das Deutsche hingegen ist für den Übersetzer kein philologisches Objekt, sondern lebendige Sprache, und die deutsche Dichtung verfügt trotz der Leistung unserer Klassiker über keinen so festen und traditionellen Literaturstil wie die romanischen Sprachen. Darum kann ins Deutsche übersetzen keineswegs bedeuten, „in Sprache und Stil unserer großen Dichter übersetzen.“ Diese Definition des Übersetzens würde tatsächlich nur eine Einschränkung der lebendigen Sprachkräfte, eine Minderung der schöpferischen Aufgabe des Übersetzers bedeuten. Seine Aufgabe aber besteht darin, im Sinne der Treupflicht gegen die ursprüngliche Dichtung wie gegen seine Muttersprache einen Stil zu formen, der sich philologisch und künstlerisch vor dem Original und sprachlich vor dem Volke rechtfertigen läßt, in dessen [190] geistige Welt übersetzt wird. Auch von diesem Standpunkt aus ist die Übertragung „im Versmaß des Urschrift“ keineswegs immer ideal zu nennen. Maßgebend für die Entscheidung wird aber nicht allein das philologische Bedenken sein, daß etwa ein deutscher Hexameter gar nicht dasselbe „ist“ wie ein griechischer, sondern daß der deutsche wie der griechische Hexameter nur unter der Hand eines Dichters die Eigenschaften gewinnen kann, die wir unter Stil verstehen. Die Schöpfung des Stiles für die deutsche Übersetzung eines fremden Sprachwerkes aber ist eine Leistung lebendiger geistiger Energie, und seine Beurteilung gehört zu den Fragen des Geschmackes. Diese schon von der Romantik erkannte Tatsache ist die Ursache davon, daß alle Theorien vom Übersetzen nur insofern brauchbar sind, als sie sich am praktischen Übersetzungswerk rechtfertigen lassen. Dabei ist es durchaus nicht erstaunlich, daß die Theorien einander widersprechen; denn auch die Übersetzungen, die das gleiche Original wiederzugeben bemüht sind, widersprechen einander oft in ihrem stilistischen Charakter, wie wir gezeigt haben. Diese Erscheinung überrascht nur dann nicht, wenn die Übersetzung als selbständiges sprachliches Kunstwerk einer besonderen Art aufgefaßt wird, das seine endgültige Rechtfertigung in sich selbst trägt. Allein von diesem Standpunkt aus läßt sich aber auch der Gebrauch der Übersetzungen gerade antiker Sprachwerke für die Schule billigen, der sich ja bei der
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Einschränkung der Stundenzahl trotz allen berechtigten Bedenken wenigstens für den privaten Nutzen nicht wird umgehen lassen. Die Interlinearversion bietet dann immer nur einen schlechten Ersatz des Originals, während die künstlerische, bewußt stilisierende Übertragung die Auseinandersetzung des deutschen Geistes mit der Antike viel tiefer und gründlicher zeigt, als es jede Übersetzung zu tun vermag, die ihr Ziel nur im Philologischen findet. Vom Original aus gesehen, ist jede Übersetzung ein unzulänglicher Behelf. Warum aber sollte die Betrachtung vom Original aus die einzig mögliche sein? Führt nicht die Auffassung, daß es sich bei der Übersetzung um ein selbständiges sprachliches Kunstwerk handelt, viel tiefer zur Erkenntnis des eigenen Wesens und über die Theorie von der möglichst „treuen“ (und doch in jedem Falle stilisierten) Nachahmung eines Fremden hinaus? Hier ist über die Anschauung des klassischen Humanismus hinaus ein entscheidender Schritt in die Zukunft möglich. Ihn zu verwirklichen, kann gerade die Schule berufen sein, indem sie die pädagogische Aufgabe aufnimmt, die hier verborgen liegt. Erst dann wird das Übersetzen nicht mehr als zweitrangige Kärrnerarbeit verstanden werden, wenn seine Entwicklung als Bestandteil der nationalen Geistesgeschichte begriffen wird. Denn gerade dort hat es seine höchsten Leistungen gezeitigt, wo künstlerische Meisterhände am Werke waren. In allen Zeiten geistiger Blüte ist es als nobile officium gewertet worden, weil es der Erweiterung der nationalen Sprache und des nationalen Geistes durch die befruchtende Wechselwirkung mit den geistigen Erzeugnissen anderer Völker dient.
Rudolf Alexander Schröder Rudolf Alexander Schröder (1878–1962), Architekt, Schriftsteller und Übersetzer, hatte nach dem Besuch eines altsprachlichen Gymnasiums in München Architektur, Musik und Kunstgeschichte studiert. Zunächst arbeitete er vor allem als Architekt, betätigte sich aber bereits früh auch literarisch. Er war 1899 Mitbegründer der Literaturzeitschrift Die Insel und 1911 – zusammen mit Hofmannsthal und Borchardt – des Verlages der Bremer Presse. Seit 1931 widmete er sich ausschließlich literarischer Tätigkeit, aus der ein umfangreiches lyrisches und essayistisches Werk hervorging. Hinzu tritt Schröders Übersetzertätigkeit, die sich neben niederländischen und flämischen Dichtern, neben Racine und Molière, Shakespeare, Eliot und Pope auch auf antike Autoren erstreckte (Homer, Vergil und Horaz). In dem hier wiederabgedruckten Nachwort Schröders zu seiner Ilias-Übersetzung aus dem Jahre 1943 entfaltet Schröder anhand ausführlicher Stellungnahmen zu einzelnen Übersetzungsentscheidungen sein Verfahren einer „Repristination“ der deutschen Sprache auf dem Wege der Übersetzung.
Nachwort des Übersetzers Aus: Rudolf Alexander Schröder, Homer deutsch, in: Gesammelte Werke in fünf Bänden, Frankfurt a. M. 1952, Bd. 4, 591–637.
„Wes das Herz voll ist, des gehet der Mund über.“ Das Wort würde ein Wahrwort sein, auch wenn’s bloßes Sprichwort wäre. Trotzdem erleidet es Ausnahmen. Es gibt Leiden und Freuden, die das Herz bis an den Rand füllen aber den Mund zum Verstummen nötigen. Es gibt Zweifel und innere Bedrängnisse, die uns zeitweilig voll in Beschlag nehmen, aber die dennoch aus allerhand Gründen nicht recht über die Lippe wollen. So geht es dem Schreiber dieser Zeilen. Er hat sich entschlossen, eine Arbeit vorzulegen, die seit langem gefordert, seit langem versprochen war, und die er doch durch Jahrzehnte mit sich herumgetragen hat, immer wieder um innerer und äußerer Ursachen willen den Abschluß hinauszögernd. – Ich sage mit Willen Abschluß: eine Arbeit wie die vorliegende kann wohl abgeschlossen aber niemals voll zu Ende gebracht werden. Immer wird ihr vieles anhaften, das bei gereifterer Erkenntnis, ausgedehnterem Wissen und entsprechend gewachsenem Können sich besser, klarer, richtiger, befriedigender ins Werk hätte setzen lassen. Die Last des nicht für alle Zeiten und für jede Forderung endgültig zu Leistenden und Abzurundenden liegt auf jedem derartigen Versuch. Hängt er doch in beträchtlichem Maße von dem jeweiligen Stand wissenschaftlicher Erkenntnis ab, der seiner Natur nach ein gleitender ist. Nun ist dieser Umstand bei weitem nicht der einzige, der Leistung und Anspruch des Übersetzers in einem zweifelhaften Licht erscheinen läßt. Er soll, bildlich gespro-
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chen, ein aus unvergänglichen, den Absichten seines Erbauers in jeder Hinsicht gemäßen Baustoffen errichtetes Prachtgebäude, dessen ursprüngliche Planung zum Teil nur noch vermutungsweise [592] zu erschließen ist, mit anderem – und das heißt hier auf alle Fälle weniger geeignetem – Material noch einmal aufführen und baut dabei in viel verfänglicherem Sinne „an der Straße“ als irgend sonst jemand. Er errichtet das nachgeahmte Bauwerk nicht etwa in weiter Ferne von seinem Urbild, sondern, sowohl bildlich gesprochen wie faktisch, unmittelbar daneben: jedermann kann seiner Kopie das Original zur Seite legen. Da dürfen denn nicht nur Meister und Lehrer, sondern jeder Schüler darf ihn bei jeder beliebigen Stelle am Ärmel zupfen mit der Frage: „Männlein, was treibst du da?“ Ihm bleibt in jedem solchen Fall keine triftigere Antwort als die, daß er hier wie überall nach bestem Wissen und Gewissen verfahren sei. Wenn nun betreffs der Gesamtanlage und der Einzelheiten des alten Baues erfahrungsgemäß Meinung gegen Meinung steht, wie soll es erst dem Kopisten ergehen, dem schon das fremde Material, in dem er zu arbeiten gezwungen ist, mit Notwendigkeit zur Fehlerquelle wird? Es wäre nicht verwunderlich, wenn dem, dessen Unterfangen nicht das erste, sondern das jüngste Glied einer langen Reihe ist, angesichts so vieler vergeblicher Versuche, den allzu hoch aufgehängten Kranz zu ergreifen, ein „vestigia terrent“ das Herz bedrücken, und wenn er sich zum Schluß fragen würde, ob er nicht fehl daran getan habe, so viel von seiner Schaffenskraft in eine Arbeit zu stecken, die, wie immer er selber von ihr denken, wieviel Mühe er auf sie gewandt haben mag, dennoch nie als ein Werk völlig eigenen Rechtes sich wird behaupten können. So mag ihm am Ende langer Mühen und Bedenken der Entschluß naheliegen, das Zwittergeschöpf seiner Künste und seines Unvermögens lieber ohne Begleitwort den Weg in die Welt antreten zu lassen. Müssen doch die Vorbehalte, Verwahrungen und Entschuldigungen, die er beizubringen hätte, letzten Endes darauf hinauslaufen, dem Leser einen ihm zugedachten Genuß im voraus fragwürdig erscheinen zu lassen. Trotzdem haben grade aus der Erkenntnis der angedeuteten [593] Umstände heraus Freunde und Berater dem Übersetzer nahegelegt, seiner Arbeit diesmal ein Wort der Rechenschaft nachfolgen zu lassen. – Ein grundsätzliches Wort wurde gewünscht. Das kann er nun allerdings nicht oder doch nur zu einigen wenigen Punkten geben. – Erfahrung hat ihn gelehrt, an Arbeiten wie die vorliegende nicht mit Grundsätzen heranzugehen, die doch bei der besonderen Lage des jeweiligen Problems immer eine fatale Nähe zu vorgefaßten Meinungen haben würden. So wird es sich denn bei dem, wovon er zu berichten haben wird, wesentlich um Nötigungen handeln, denen er begegnet ist, auch vielleicht um Abwege, in die er hätte geraten können, und die er zu vermeiden gesucht, so gut oder so schlecht es gehen wollte. Vorweg sei bemerkt, daß es sich im Folgenden nicht um eine allgemeine Stellungnahme zu Form und Wesen der homerischen Gedichte handeln soll. Ich habe mich anderen Ortes dazu kurz geäußert und lasse trotz vorgerückter Jahre die Hoffnung nicht fahren, einmal in größerem Zusammenhang von dem Nachricht zu geben, was ich hinsichtlich ihrer nicht etwa zu wissen meine – wirkliches Wissen über derlei verbietet uns neben dem Mangel an beweiskräftigen Zeugnissen der nun bald dreitau-
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sendjährige Abstand von diesen Gedichten und ihrer Welt –, wohl aber, was ich im Umgang mit ihnen an Erfahrungen und Einsichten gewonnen. Auch etwas wie einen Kommentar oder Ansätze zu einem solchen wolle man von diesen Vorbemerkungen nicht erwarten. Ein ernsthafter Versuch dazu würde, abgesehen von dem Raum, den er beanspruchen müßte, sich fast allenthalben sehr bald in die Verlegenheiten aller Homerkritik verwickelt sehen und Gefahr laufen, das Schiff, dem er erwünschten Tiefgang verleihen wollte, zum Sinken zu bringen. Zu einem sogenannten Trivial-Kommentar ist – anders wie bei Vergil oder Horaz – grade beim Homer wenig Anlaß. Homer ist bei aller Feinheit und Strenge seiner Kunst und ihrer Stilmittel kein „gelehrter“ Dichter wie schon Pindar, wie Euripides und [594] vor allem die Späteren. Bei ihnen, die wiederum ein entsprechend geschultes Publikum voraussetzen, ist derlei erwünscht, ja notwendig. Wenn es daher bei der Lückenhaftigkeit unsrer Kenntnisse schon ohnehin unmöglich ist, den heutigen Leser ohne weiteres zu einem Teilhaber an der Welt allgemeiner Sagenfreude, Sagenkenntnis und Sagenbildung zu machen, die der Dichter der Ilias und Odyssee als ihm und seinen Gedichten zugeordnet voraussetzen durfte, so wäre es vollends verfehlt, wollte man ihn anleiten, die schönsten und in sich selber geschlossensten Gedichte unsrer Welt mit dem Finger auf beigegebenen Erläuterungen oder gar Karten zu lesen. Schliemann und Dörpfeld in gebührenden Ehren: aber die Troas und das Ithaka Homers liegen, wie nahe immer ihre Schilderung sich mit einer längst vergangenen Wirklichkeit berühren möge, mit allem, was in den homerischen Gedichten auf ihnen und um sie herum geschieht, irgendwo „im Lande der Dichtung“. Und so ist es denn dem nachdichtenden Übersetzer unter anderem aufgegeben, in seinen eigenen Text den eigentlich nötigen Teil solchen Kommentars hineinzuarbeiten, indem er bei schwierigen Stellen sich der ihm zustehenden Freiheiten bedient. – Gelingt es ihm nicht, seinen Vers und den Fluß seiner Erzählung so zu gestalten, daß sie den Leser über unvermeidliche Anstöße hinwegtragen, einfach um des Reizes willen, der ihm schon in der nächsten Zeile winkt, so ist seine Mühe von vorneherein verfehlt. Zudem: es sind noch nicht ganz drei Menschenalter her, seit Ilion und Mykene wieder aufgedeckt und zu Stätten geworden sind, um deren ausgegrabene Denkmäler das antiquarische Rätselraten kreist. Das Altertum hat sich um diese Ortschaften nicht groß gekümmert, ebensowenig wie um die meisten andern Fragen, die manchem heutigen Homerleser den Kopf heiß machen. Immerhin kann man den erbrechtlichen Nachfahren des Ältervaters Homer gewiß nicht vorwerfen, sie hätten seiner schnöde vergessen. – Man muß weit suchen, um [595] einer Ehrfurcht und Treue zu begegnen, die der seinen Gedichten innerhalb seines Volkes und darüber hinaus innerhalb einer ganzen Bildungswelt (der hellenistischen) erwiesenen gleichkäme. Waren sie es doch, die den überall sonst längst verschollenen Formen seiner Sprache durch mehr denn anderthalb Jahrtausende (bis in die letzten Sterbezeiten des epischen Hexameters hinein) nicht nur im Gedächtnis unzähliger Leser und Hörer sondern auch in ständig erneuter dichterischer Übung ihr Leben bewahrten. Ich kann mir die Bemerkung nicht versagen, wie vorteilhaft ein so treuer und beharrlicher Formwille von der unter uns beliebten sprachlichen Neu- und Gleichmacherei absteche. – Nicht einmal an ihrem eigenen Ort meint man heute noch Luthers Sprache verstehen und ertragen zu sollen, trotzdem sie
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vergleichsweise weit weniger veraltet und obendrein für unser heutiges Lesen und Schreiben weitaus ausschließlicher grundlegend ist als die Homers in ihrem Verhältnis zum späteren Gemeingriechisch. So begibt man sich leichten Herzens einer unentbehrlichen Voraussetzung für das Verständnis unserer Klassiker. Klage darüber muß, wie die Dinge schon einmal liegen, die Stimme eines Rufers in der Wüste bleiben; sie soll trotzdem immer wieder erhoben werden. – Auf alle Fälle sehen wir, daß eine Aneignung der homerischen Gedichte möglich sei, die sich unberührt von archäologischer Wißbegier an die Gedichte selber hält. Solche Aneignung wird ohnehin aus naheliegenden Gründen auch heut die häufigere bleiben. Uns Deutsche angehend, hat sie sogar nicht bloß die Bewährung mehrtausendjährigen Brauches für sich: wir sind gegenüber Ilias und Odyssee in einer besonderen Lage. Sie gehören, wenn auch in andrer Art als Luthers Bibel, durch eigentümliche geschichtliche Fügung ebenfalls zu den Grundurkunden unsrer eigenen klassischen Dichtung, und zwar nicht etwa in der ebenfalls damals zuerst ihnen aufgenötigten Rolle fragwürdiger Zeugen für allerhand letzten Endes doch nicht zur Evidenz nachweisbare Tatbestände, sondern ohne allen [596] Umschweif als lebendiges Vorbild dichterischen „Kunstgebrauchs“. Somit wäre durch eine möglichst eindrückliche Wiedergabe des aus allen Teilen beider Gedichte jeden Empfänglichen auch heute noch unmittelbar anblickenden dichterischen Lebens die wesentliche Pflicht des Nachdichters erfüllt. – Sollte es ihm bei diesem Anlaß gelingen, deutschen Lesern einen erweiterten und vertieften Begriff ihrer Muttersprache sozusagen praktisch vorzuführen, so würde auch das, wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf, auf homerischer Linie liegen. Belehrung und Genuß – nach Horaz die Zielpunkte alles dichterischen Bemühens – würden in diesem Fall organisch miteinander verbunden sein, beide freilich auch auf eng miteinander verbundene Schwierigkeiten stoßen. Die Übertragung eines Gedichtes aus einer Sprache in eine andere bietet ein zwiefaches Problem. Man könnte es ein materielles und ein formales nennen, insofern seine eine Seite sich auf die möglichst wort- und sinngetreue Wiedergabe seines Inhaltes bezieht, die andre auf die gewählte oder übernommene Form. – Bei Gedichten so hohen Altertums wie das unsrige kommt ein Drittes hinzu, nämlich die Nötigung, sich mit dem Geist und den Gesinnungen einer Zeit auseinanderzusetzen, die der unsrigen fremd ist, und von der uns zudem anderweitige sichere Nachricht fehlt. Damit ist eigentlich schon gesagt, daß ein näheres Eingehen grade auf dies Problem sich insofern erübrigt, als es von vorneherein deutlich ist, daß seine Lösung immer nur eine annähernde, dem Ahnungs- oder Einfühlungsvermögen des jeweiligen Interpreten anheimgegeben sein kann. – Daß auch dies den beiden andern Problemen bei jeder ihrer Lösungen jeweils zugrunde liegende Dilemma seine eigene, für den Geistesstand ganzer Epochen aufschlußreiche Geschichte habe, sei nur bei Wege lang bemerkt. Wir brauchen nicht einmal auf die frühesten Versuche einer Aneignung Homers zurückzugehen, wir brauchen uns nur an den Unter-[597]schied unsres heutigen Homerverständnisses von dem Johann Heinrich Vossens und seiner Zeit zu erinnern, um uns darüber klar zu werden, daß die Sentenz:
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Anders lesen Knaben den Terenz, anders Grotius
nicht nur von dem innerhalb eines einzelnen Menschenlebens möglichen Gewinn, sondern auch von dem Entwicklungsgange ganzer Epochen gelten könne. – Auch innerhalb seiner befindet sich ein Problem wie das unsre in ständigem Fortschreiten, wobei freilich die Linie dieses Fortschrittes nicht nur den Aufstieg zu eindringlicherer und fruchtbarerer Betrachtungsweise, sondern auch das gelegentliche Absinken zu beschränkterer Ansicht nachzuzeichnen hätte. Daß auch die beiden anderen Seiten unsres Problems, die materielle und die formale, in jedem Punkte eng miteinander verquickt seien, braucht ebenfalls kaum der Erwähnung. Trotzdem tun wir aus Gründen der Übersichtlichkeit gut daran, beide nach Möglichkeit gesondert zu betrachten. Die materielle Forderung, die Nötigung also, den Inhalt eines in fremder Sprache niedergelegten dichterischen Berichtes möglichst treu in die eigene zu überführen, ist im Grunde zu allen Zeiten und allerorten die gleiche geblieben. Selbst in so abgeleiteten und freien Aneignungen wie der Eneit des Heinrich van Veldecke spielt sie noch eine Rolle, und schon in den frühesten Gesamtübertragungen homerischer oder vergilischer Gedichte erscheint grade dies Problem bei begreiflichem Versagen auf vielen Punkten in einigen auf eine erstaunliche Höhe schlichter und treffender Entsprechung gefördert. Die an sich nicht unerhebliche Frage nach der Notwendigkeit jenes Versagens und dem Zufall des Gelingens lassen wir unerörtert, wie wir überhaupt die Fragen der Wortwahl und der Interpretation zunächst hinter die nach der Form zurückstellen, weil diese zwar auch zu vielen Erwägungen Anlaß gibt, aber im ganzen sich doch bündiger abtun läßt. [598] Die Formfrage hat früheren Zeiten weniger Sorge gemacht als uns. Wie jene die Gestalten der eigenen und der zugeeigneten Sage und Geschichte sich innerhalb der Sphäre ihres eigenen Tagesbrauchs zu vergegenwärtigen suchten, so haben sie auch für die Wiedergabe lateinischer oder griechischer Dichtung ohne Bedenken sich der ihnen zugewachsenen und vertrauten Formen bedient. Für alles erzählende Gedicht war das, nachdem die Nibelungenstrophe und die ihr verwandten langzeiligen Maße verschollen waren, bis auf Opitz’ Tage der kurze, vier- oder dreihebige Reimvers. Dann folgte die Zeit, in der das Vorbild der Plejade alle deutschen dichterischen Bemühungen fast ausschließlich beherrschte. Den deutschen Hexameter als „epischen“ Vers haben wir bekanntlich erst seit Klopstock, und wer sich mit der Geschichte dieses Verses befaßt hat, weiß, mit wie vielen Fragen sie belastet ist. Noch ein so später Homerübersetzer wie Bürger hat für herrliche Bruchstücke den jambischen „Blankvers“ vorgezogen und beredt verteidigt. Wäre es ihm vergönnt gewesen, sie zu vervollständigen, so hätte vielleicht die Problematik unserer Übersetzungen ein anderes, dem englischen ähnliches Gesicht bekommen. Aber auch er hat dem Drängen der Zeit seinen Zoll gezahlt und einen zweiten – leider ebenfalls unvollendeten – Versuch in Hexametern begonnen. Mit dem Triumph der Vossischen Odyssee hat sich dann ihr Vers für alle Späteren durchgesetzt, so überwiegend, daß man auch hier sagen muß: Ausnahmen bestätigen die Regel.
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Wir haben die Lage unseres Problems in England gestreift. Es lohnt sich in der Tat, einen Blick auf benachbarte Länder zu werfen. – Nur aus einer uns nächstverwandten Sprache wüßte ich von einer hexametrischen Homerübersetzung hohen Stils und Anspruches zu berichten. Es ist die vor fünf Jahren erschienene Odyssee des holländischen Dichters P. C. Boutens. Das Problem selbst hat sich ihm, wie aus den kurzen Worten der Vorrede hervorgeht, in aller Schärfe gestellt. Es mußte sich dem Niederländer innerhalb seiner eigenen literarischen [599] Tradition wohl von vorneherein deutlicher und drohender stellen als den Deutschen, die seit Generationen gewohnt sind, mit dem schwierigsten ihrer Versmaße recht rittermäßig umzuspringen. – In England haben Matthew Arnold und die Seinen eine Schlacht zugunsten der Einführung englischer Hexameter für die Wiedergabe der Ilias und Odyssee geliefert, von der man nicht eigentlich sagen kann, sie sei gewonnen worden. Im ganzen hat doch wohl Tennysons Angriff auf die „barbarous hexameters“ den Sieg behalten in einem Lande, in dem noch heut das Drechseln lateinischer oder griechischer Verse zur höheren Schulbildung gehört oder doch bis vor kurzem zu ihr gehörte. Wenn es für den deutschen Übersetzer Homers von höchstem Interesse ist, aus der Ferne jenen Diskussionen beizuwohnen und sich einen Begriff von den Widerständen zu machen, denen die Einführung eines modernen Hexameters in eine der unsern immerhin halb verschwisterte Sprache begegnet, hat er vom Beispiel romanischer Länder so belangreiche Anfechtung oder Belehrung nicht zu erwarten. Die französische Sprache, ihrer konstitutionellen Schwäche bewußt, hat sich mit dem Schalenpanzer künstlicher Regeln umgeben und ist – eigenwillig von allem freinachbarlichen Gastverkehr abgeschlossen – das ungeeignetste Instrument für die Künste des Übersetzers. Wo sie sich nicht – schon in der bloß materiellen Übernahme fremder Mitteilungen seltsam behindert – mit prosaischen Umschreibungen begnügt, steht ihr für das Epos eigentlich nur ihr Alexandriner zur Verfügung. Der Name des wegen langer Fremdherrschaft bei uns immer noch übel angesehenen Verses stammt zwar nicht aus dem hellenistischen Alexandrien, sondern von jenem Alexanderlied, das ihn im zwölften Jahrhundert zum erstenmal mit nachhaltigem Erfolg in Gebrauch genommen. Aber seit ihn Ronsard zum „heroischen Vers“ ernannt und er begonnen hat, sich auf seine Verwandtschaft mit dem vergilischen Hexa[600]meter zu besinnen, haftet an ihm doch ein „alexandrinischer“ Verdacht. Er bleibt zudem in die Form seiner „couplets“ mit dem obligaten Wechsel männlicher und weiblicher Reime gebannt, ohne den er nicht recht klingen will, und die geschlossene Vierzeiligkeit leiht ihm ein sententiöses Wesen, das zu homerischer Art nicht paßt. Denn wunderlich genug, als reimloser Einzelvers bringt er es nicht zu eigenständigem Leben, trotzdem grade an ihm das eigentümlich schwebende und zwitterhafte Wesen moderner Prosodie deutlich wird, Zwitterhaftigkeit, die sich sogar einer entfernten Ähnlichkeit mit dem zwiefachen Werte des antiken Verses rühmen könnte, und die denn auch allen melodischen und rhythmischen Vorteil, der aus so labilem und gleitendem Stand entspringt, aufs reichste entfaltet. Könnte man nicht – unter Vorbehalt – auch bei ihm von einem harmonischen Widerstreit zwischen Wortakzent und VersIktus reden? Freilich spricht man von ihm als von einem „gezählten“ Verse und verlegt somit das Problem seiner rhythmischen „Schwebungen“ in den Gegensatz von streng
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gezählten Silben und der innerhalb ihrer obwaltenden Freiheit der Betonung und Taktierung. Doch stimmt das auch wieder nicht ganz. Richtiger wäre es vielleicht, vom französischen Alexandriner als von einem halbakzentuierten, halb gezählten Vers zu sprechen, dessen rhythmischer Bau der überwiegenden Regel nach durch den, wenn auch noch so schwachen Hochton am Schluß des ersten Halbverses zusammengehalten würde. Ich habe mich einen Augenblick beim klassischen Vers der Franzosen aufgehalten, weil von ihm meiner Meinung nach ein Licht auch auf den metrischen Stand des deutschen Hexameters fällt. Italien und Spanien kommen für unser Problem ohnehin nicht in Betracht. Wer weiß, wie der heutige Italiener die Versmaße seiner lateinischen Altvordern lesend und rezitierend mißhandelt, der begreift, daß Carduccis „Odi barbare“ ein Einzelfall geblieben sind und wird von seinen Landsleuten keinen Beitrag zu unserm Problem erwarten. [601] Mit uns Deutschen steht es seit Klopstock anders. In der Verbindung christlicher und antiker – besser gesagt „antikischer“ – Elemente war seine Tat eine echte Humanistentat; und die humanistische Woge, die sich in unserm klassischen Schrifttum neben der romantischen, sie zeitweise übergipfelnd, emporhob, hat seinen deutschen Hexameter mit auf ihre leuchtendsten Höhen getragen. – Neben „Hermann und Dorothea“ hat Voßens „Luise“ geraume Zeit sich zu behaupten gewußt und fast noch mehr als seine Odyssee, jedenfalls mehr als seine Ilias oder seine Aeneis dazu beigetragen, den künstlichsten aller unsrer Langverse unter uns heimisch, ja so volkstümlich zu machen, daß bald jeder sich getraut, einen deutschen Hexameter zustande zu bringen. Wobei zu bemerken wäre, daß nichts leichter sei, als einen schlechten Hexameter zu schreiben, nichts schwerer, als eine lange Reihe dieser Verse kunstgerecht zu bauen. – Trotzdem sieht sich der heutige deutsche Homerübersetzer gewissermaßen zwangsläufig auf den durch Goethe, Schiller und Hölderlin für uns geheiligten Vers verwiesen. Dringend erhebt sich somit die Frage, was es denn mit dem „kunstgerechten“ Wesen des deutschen Hexameters auf sich habe. Sie gehört jedoch leider zu denen, die leichter gestellt als beantwortet sind. Grade nämlich mit dem Ausdruck „kunstgerecht“ haben wir uns gewissermaßen selbst eine Falle gestellt. – Goethe umschreibt das Wesen unsres Verses in der Überschrift für eine Abteilung seiner Distichen mit den Worten: Antiker Form sich nähernd. Man kann sich nicht zarter und treffender ausdrücken. Der Spott, der sich gerade an diese Goetheschen Formulierungen immer wieder hat heften wollen, hat mit seiner eigenen Blindheit seine Strafe dahin. Angesichts dieser Formel muß unsre Frage nunmehr lauten: Wie weit geschieht diese Annäherung, wie weit kann sie geschehen, und wie weit geschieht sie eben nicht? In dem Worte „nähern“ liegt ja immer noch ein gewisses Fernbleiben, ein Nicht-Erreichen des Gegenstandes der Annäherung beschlossen. [602] Dabei brauchen wir nun nicht etwa zu fragen, ob, oder inwieweit es gelingen könne, deutsche Hexameter genau nach den gleichen Gesetzen zu bilden wie die griechischen oder lateinischen. Als Grund- und Ansatzfrage bleibt die Frage bestehen, aber wir benötigen nicht erst des Beispiels dahinzielender Versuche aus unsrer frühhumanistischen Zeit, um einzusehen, daß derlei nicht angängig sei, sondern daß es sich auf alle Fälle bei der deutschen Nachahmung nicht um ein identisches, sondern um ein
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ähnliches Gebilde handeln müsse. Auch nach dem mehr oder minder hohen Grade der Ähnlichkeit brauchen wir nicht grundsätzlich zu fragen, er bestimmt sich, wo es sich, wie in unserm Falle, um verwandte Sprachen handelt, einmal nach dem näheren und ferneren Grad ihrer Verwandtschaft, dann aber nach den innerhalb ihrer selbst geschichtlich entwickelten Gesetzmäßigkeiten. Damit würde unsre Frage nun eine doppelte sein: Ist ein deutscher Hexameter denkbar, der innerhalb des Regelstandes und der unaufgebbaren Gepflogenheiten unsrer Sprache ein in allen Teilen befriedigendes Äquivalent des antiken Verses darbieten würde, oder ist auf alle Fälle, auch bei völligem Einverständnis über seinen grundsätzlich anderen Aufbau, mit einem mehr oder minder großen Restbestand unvermeidlicher Unstimmigkeiten zu rechnen? Die erste Frage ist zu verneinen, die zweite zu bejahen, und zwar rein erfahrungsmäßig. Bei der Übertragung eines Marmorbildwerks in Erz oder Holz wird innerhalb veränderter Bedingungen die Rechnung nie völlig aufgehen. Für unsern Fall bleibt uns demnach nur noch die Frage nach dem Mehr oder Minder dieses Restbestandes, die Frage also, ob der in ihm beschlossenen Willkür und den mit ihr gegebenen Anfechtbarkeiten in unserm Vers ein so breiter Raum gelassen sei, daß das Stichwort „barbarisch“ auch auf ihn passe, oder ob die verbleibende Diskrepanz so geringfügig sei wie etwa die allenfalls dem Gehör des Hochmusikalischen anstößige gleichschwebende – und das heißt also gefälschte – Stim-[603]mung der Tonleiter, die Bach für unsre Tasteninstrumente eingeführt hat. So gestellt, zeigt unsre Frage deutlich, daß auf sie eine apodiktische Antwort nicht möglich ist. Was dem Unbedenklichen leidlich dünkt, wird den Empfindlicheren ärgern, was der eine für einen Gewinn hält, wird der andere als Entgang brandmarken. Da tut denn schon eine Untersuchung unsres Verses not, seiner Eigenständigkeit wie seiner Abhängigkeit, seiner Regeln wie seiner – ja wiederum einem außerhalb seiner selbst liegenden Zwang entfließenden – Freiheiten, um auch nur eine subjektiv begründete Stellungnahme zu ermöglichen. Von einer gründlichen Untersuchung der weit verwurzelten und vielfach verästelten Problematik unsres Verses kann nun auf diesen Blättern schlechterdings nicht die Rede sein. Wir müssen uns damit begnügen, einzelne Züge dieser Problematik so weit herauszuheben, daß sich ein paar zweckdienliche Bemerkungen an sie knüpfen lassen. Wir gehen dabei von der Voraussetzung aus, daß der griechische Vers einen in gewissem Sinne zwieläufigen oder, wenn man so will, zweistimmigen Charakter trage. Gebildet ist er aus Worten, die ihren organischen, ihren innerhalb ihres so oder so gefügten Zusammenhanges unaufgebbaren Akzent haben. Gemessen wird er nach Silbenlängen; und diese rein äußerliche, nach äußerlichen Übereinkünften bestimmte Messung langer und kurzer Silben hat wiederum mit dem Akzent nichts zu tun. So haben wir in allen griechischen Versen ein doppeltes System; das der betonten Worte (Akzent) und das der gemessenen Silbenlänge (Iktus). In dieser Zwieläufigkeit beruht ein besonderer Reiz und Reichtum des antiken Verses. Späteren Versuchen (namentlich der Lateiner), auch dies Widerspiel nach Regeln zu bestimmen, brauchen wir hier nicht nachzugehen, da derlei für den homerischen Hexameter nicht in Frage kommt. Von unserm deutschen Vers sagen wir, er sei seit Opitz ein skandierter, das heißt, ein nach betonten und unbetonten [604] Silben geregelter Vers. Das würde, wenn wir
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die Behauptung uneingeschränkt gelten lassen müßten, von vorneherein gegenüber der antiken Zweistimmigkeit eine gewisse Verarmung bedeuten. – Nun steht es freilich um jene Opitzsche Regel nicht ganz einfach. Opitz’ Regel bedeutet eigentlich die Zusammenwerfung zweier prosodischer Systeme, nämlich des nach Hebungen gezählten und des nach Silben gezählten Verses. Der deutsche epische Vers (Lang- oder Kurzvers) war seit je ein Vers der betonten Hebungen, unser Knittelvers ist sein letzter Ausläufer. – Der deutsche Liedvers war dagegen unter den Händen der Meistersänger seiner ursprünglichen Art entfremdet und zu einem Vers gezählter Silben geworden. Das Geschäft der Rhythmisierung seiner rhythmisch vielfach amorphen Reimzeilen besorgte der grade in jenen Jahrhunderten überaus kunstreich entwickelte vielstimmige Gesang. – Er gab also seinerseits dem gesungenen lyrischen Gebilde etwas von der Zwieläufigkeit des antiken Verses. Ihr Reiz ist meines Erachtens von den hochbegabten Anonymis, die um die Wende vom sechzehnten zum siebzehnten Jahrhundert unsern Kontrapunktikern den Text ihrer Madrigale und Villanellen geschrieben, ohne Frage als ein „antikisches“, ein „humanistisches“ Element empfunden worden. Schon Luther hat sich über seine eigene Methode des Sagens und Singens unter Bezugnahme auf Vergil in diesem Sinne charakteristisch geäußert. Das klassische Muster Opitzischer Regelrechtheit ist gegenüber solchem Doppelspiel von Wort und Weise sein deutscher Alexandriner mit den unverbrüchlichen sechs Hebungen und dem paarweisen Wechsel von je zwölf oder dreizehn Silben, ein gegenüber der Freiheit des französischen Vorbildes dürftiges und enges Schema. – Nun hat sich zwar unser heutiger deutscher Vers im allgemeinen der Forderung Opitzens anbequemt, gestattet sich aber im einzelnen recht erhebliche Freiheiten. Ich zitiere das klassischeste Beispiel unseres klassischen Dramenverses, die Eingangszeilen von Goethes „Iphigenie“: [605] Heraus in eure Schatten, rege Wipfel Des alten, heil’gen, dicht belaubten Haines, Wie in der Göttin stilles Heiligtum, Tret’ ich noch jetzt mit schauderndem Gefühl…
Wie steht es mit dem dritten und vierten dieser Verse? Lesen wir da wirklich „jambisch“ „Wie ín der Góettin“, „Tret’ ích noch jétzt“? Oder nicht vielmehr: „daktylisch“: „Wíe in der Góettin“, „Trét ich noch jétzt“? – Und wie verhält es sich mit dem „schaudernden Gefühl“? Auch da sprechen wir nicht jambisch „schaúderndém, sondern „scháuderndem“. So weit die einzelnen Gruppen. Aber lesen wir in der Tat die ganzen Verse genau nach Hebungen? Also: Heráus in éure Schátten, rége Wípfel usw.?
Sicher nicht. Wir werden etwa lesen: Heraús in eure Schátten, rege Wípfel Des álten, heíl’gen, dícht belaubten Haínes Wie in der Góettin stilles Heiligtum Tret’ ich noch jétzt mit schaúderndem Gefúehl, Als wenn ich sie zum érsten Mál betráete…
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So etwa, oder auch vielleicht ein wenig anders; denn man kann die Hochtöne, um die es hier geht, auch ein wenig anders verteilen und immer noch sinngemäß betonen. Das wäre demnach ein ganz fließender, in Regeln nicht einzufangender, melodisch abwechselnder Rhythmus, der in diesen Hochtönen lebt. So hätte unser Vers also auch sein doppeltes rhythmisches Leben, einmal das des „geforderten“, und wie wir gesehen haben, nicht immer genau eingehaltenen Wortakzents, dann das der Hochtöne. Die Silbenzählung, die trotz gelegentlicher Anomalien doch auch sehr beträchtlich mitspricht und eigentlich eine dritte rhythmische Stufe bezeichnen würde, haben wir sogar außer acht gelassen. Dabei ist grade sie trotz aller Akzentbewertung für die Bindung unsrer reimlosen Verse, das heißt also für das innere Bild ihrer rhythmischen Gleichwertigkeit von größter Bedeutung. Grade auf [606] ihrer mit geringen Ausnahmen gleichbleibenden Grundlage kann die rhythmische Polyphonie unsrer reimlosen Verse sich gewissermaßen freischwebend bewegen, viel freier als die des griechischen Verses, dem, was wir mit einem Oxymoron „freie Rhythmen“ nennen, ebenso nah wie dem festen Schema. So ist also unsre dichterische Rede, ihrer rhythmischen Konstitution nach, viel mehr „Wildfang“ als die griechische. Woher das komme, und nach welch innerem Gesetz sich dieser Zustand entwickelt habe, steht hier nicht zur Untersuchung. Nur so viel, daß auch wir mit guten Gründen in unsrer dichterischen Rede gern den Reim als die starke und eindeutige Bindung, die er ist, vorwalten lassen. Beide nämlich, Wortakzent und Hochton, haben als Regulative dichterischer Rede ihr Bedenkliches. – Beim Hochton ist das ohne weiteres klar. Seine richtige und verständnisvolle Anwendung ist sehr weitgehend in das Ermessen des Sprechers gestellt. Nicht umsonst haben Vortragslehrer und Spielleiter so oft über verfehlte Betonung zu klagen. Man kann dergleichen bei hochberühmten Schauspielern erleben. Wohnt demnach der Austeilung des Hochtones als der sittlichen Bewertung, die er, kurz gesagt, darstellt, immer ein gewisses Moment der Willkür bei, so ist für die Gliederung des Verses auch der Wortakzent bei weitem nicht der unfehlbare Maßstab, den die Quantität, das heißt der – freilich mit Einschluß mannigfacher Übereinkünfte und Auskünfte – festgelegte Lautwert der einzelnen Silben für den Vers der Alten abgibt. – Gewiß, unser grammatischer Akzent ist fest. Niemandem wird es einfallen, etwa habén zu betonen statt háben. Aber selbst er ist nicht durchaus feststehend. Einzelne Wörter, wie zum Beispiel „lebendig“ oder „Elend“, haben im Lauf der Zeit ihre Betonung geändert. Bei den zusammengesetzten Wörtern beginnt schon eine gewisse Unsicherheit. Wir betonen bekanntlich nicht das Grundwort, sondern das Zusatzwort. Wirtshaus sagen wir. Aber wer in dem Satz: „Wirtshaus und Wirtsstube waren beide in erbärmlichem [607] Zustand“, den Akzent auf „Haus“ und „Stube“ legen würde, den wird niemand einer unerlaubten Willkür zeihen. Bei weiteren Zusammensetzungen zeigt sich die Sicherheit regelmäßiger Betonung schon deutlicher bedroht. Es bleibt mir überlassen, ob ich zum Beispiel sagen will únwillkürlich oder unwillkürlich, únbillig oder unbíllig. – Noch schwankender wird innerhalb des Verses das Problem der Akzentsetzung bei den vielen, zum Teil einsilbigen Partikeln. Sie folgen manchmal in langer Reihe; Reihen wie etwa diese: „Als ich dann aber doch wohl auch“ kommen vor. Ihre Gliederung nach betont und unbetont ist keineswegs immer eine ausgemachte Sache. Die Hinweise mögen genügen, um den gegenüber der Unfehlbarkeit der Silben-
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messung auf alle Fälle wesentlich unsichereren Stand der Akzentsetzung zu kennzeichnen. Bei unserm Jambenvers, der mit seinen fünf Hebungen gewissermaßen die Mitte zwischen Kurzvers und Langvers hält, bildet diese Ungewißheit noch keine ernsthaft bedrohliche Klippe. Die alles in allem doch regelmäßige Wiederkehr der gleichen Silbenzahl vermag das Ohr noch ohne Mühe fortlaufend zu registrieren. Sie bildet im Verein mit dem, was an Hebungen der Regel ungezwungen folgt, die feste Grundlage, auf der das unserm Gehör so sehr gemäße freie Spiel der rhythmischen Gegensätzlichkeiten sich unbedenklich entfalten kann. Ganz anders steht es bei dem ausgesprochenen Langvers, der unser Hexameter nun einmal ist. Zunächst mag freilich grade er ein viel „freierer“ Vers dünken als der Jambenvers, kommt er doch dem Bedürfnis nach Abwechslung von vorneherein dadurch entgegen, daß er grundsätzlich weder ein Vers der gezählten Silben noch ein Vers genau gleicher oder in genau vorgeschriebenem Wechsel sich ablösender Gruppen von betonten und unbetonten Silben ist. Die Versfüße können drei- und zweisilbig sein, die Silbenzahl kann wie beim antiken Vers zwischen zwölf und siebzehn Silben beliebig wechseln je nach dem Vorwalten der Spondeen oder der Daktylen. Auch die Zäsur, der Einschnitt, den jeder Langvers schon des Atems [608] wegen fordert, ist bei ihm nicht unbedingt festgelegt, wenn er auch begreiflicherweise in der Hauptsache auf die Mitte fällt. – Diese scheinbaren Freiheiten sind es ja auch, die dem Dilettanten das Schreiben von deutschen Hexametern so leicht erscheinen lassen. Aber grade diese Freiheiten sind seine Klippen. Sie sind nämlich ein sehr ungenügender Ersatz für die Freiheit, an die deutscher dichterischer Gesang seinem eigentlichen Wesen nach gewohnt ist, und die er fordert, um sich ungehemmt zu entfalten. „Sing, o Muse“ redet der griechische Epiker seine Göttin an, und er darf es; denn sein Vers ist voll natürlichen Gesanges. Schon die lateinische Muse hat das nicht mehr vermocht. Vergil, der große Dichter, ist über den versifikatorischen Mühsalen seiner Aeneis gealtert und gestorben und hat die ungezeitigte Frucht jahrzehntelanger Mühen testamentarisch dem Feuertode bestimmt. Und nun die Muse des deutschen Hexameters, wie selten singt sie freien Gesang, wie häufig schiebt sie ihren Sachbericht mühsam vorwärts durch ein System von Fallgruben und Verhauen hindurch, ängstlich bemüht, wenigstens nicht anzustoßen! Dieses Anstoßen nun ist zwar auf die Länge unvermeidlich, ist jedoch zugleich der Tod alles frei singenden, dichterischen Berichtes. Woran liegt das? Die Frage ist nicht mit drei Worten beantwortet. – Der griechische Vers läuft in einem zwar unverbrüchlich festen, zugleich aber von plastischen Kräften und Möglichkeiten erfüllten Rahmen. Die gemessene Quantität ist eindeutig, aber vielfache Hilfen lockern diese Eindeutigkeit, und zudem hat der Vers, unverbrüchlich wie seine Bindungen sind, innerhalb ihrer eine staunenswerte Fülle der Bewegungsmöglichkeiten, alle dem Material angepaßt und zugedacht, das in ihnen und durch sie seine höchsten und lockendsten Formen gewinnen soll. Dies Material ist nun wiederum jeder der ihm innerhalb des Verses gebotenen Möglichkeiten auf jede Weise gerecht. Es ist ein flüssiges Material: in beweglicher Schmiegsamkeit bildet es alle vorgezeichneten Schemata nach, füllt es [609] alle zugemessenen Räume des Versgebäudes aus. Es läßt sich ungezwungen, oder doch scheinbar ungezwungen, was
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hier auf dasselbe hinausläuft, von außen her, in seiner Materie selbst, formen und wenden. Gegenüber der Wendigkeit seines noch unverkümmerten Flexionsreichtums ist schon das Latein eine Sprache der kompakten Wortblöcke. Und nun erst unsre, in ihrem Angewiesensein auf Artikel, auf Präposition und Hilfszeitwort sich der Greisenstarre des Englischen nähernde Sprache! Was ihr von dem Formenreichtum der griechischen Beugungen und Bindungen nach eigenem Recht zusteht, sind neben der Möglichkeit von Partizipialkonstruktionen, die ihr aber in der hier geforderten Fülle ungemäß und unbehaglich sind, eigentlich nur die zwei niedrigsten Formen der Wortklitterung: das Häufelwort, dessen skurrile Gipfelungen wir nun freilich weniger beim Homer als beim Aristophanes finden, und die gehäuften Appositionen. Versehen mit so ungenügendem Rüstzeug, soll der deutsche Versifikator den Gang des griechischen Verses nachzeichnen – nicht den Gang, den Fluß, nicht nachzeichnen, sondern ausfüllen die vielfach, die unübersichtlich gewundenen Räume seines Strombetts. Damit ihm das gelinge, soll er die Starre seines eigenen Materials am griechischen Feuer so weit aufschmelzen, daß sie mit plastischen Kräften in alle gewiesenen und geforderten Formen einströme. Kann ihm das gelingen, auch nur einigermaßen? Große Beispiele schrecken ab. Vergils haben wir schon gedacht, und wird den deutschen Hexametristen nicht auf Schritt und Tritt Goethes aus ähnlicher Qual geborene Frage begleiten: Stehn uns diese weiten Falten Zu Gesichte wie den Alten?
Weite Falten! – Wir erinnern uns hier der Geschichte vom Prokrustesbett. Das war einmal zu weit, einmal zu eng, oder wenn man’s genauer will, einmal zu lang, einmal zu kurz. Mit dem zugemessenen Bett des Hexameters geht es dem Deut-[610]schen ähnlich. Soll er’s von außen her mit Wortstoff füllen, wird es ihm leicht zu weiträumig erscheinen, er wird der Hilfs- und Flickworte benötigen, und sie werden ihm angesichts seiner sonstigen dichterischen Gepflogenheiten nicht so natürlich zu Gesichte stehen wie dem Griechen die seinen; denn auch sie werden weniger biegsam, flüssig und wendsam sein: tausend Tautropfen langweilen niemand, tausendmal die gleiche, geschliffene Facette widert uns schließlich an. So werden die vielen „aber“, „fürwahr“, „traun“, „freilich“ und so weiter unsres Hexameters aus den Mitteln der Fortbewegung, die sie sein sollen, oft genug zu Steinen des Anstoßes, während ihre griechischen Äquivalente Lazerten gleich durch das blühende und regsame Wortgerank blinken und schlüpfen. Möchte der Deutsche dagegen der ihm eigenen Freiheiten und Künste gebrauchen, so wird ihn jenes schmale Strombett oft erdrückend eng dünken. Hier kann er nicht, was er sonst vermag, über einer fest gegebenen, übersichtlichen Grundlage frei phantasieren, kann nicht ein einzelnes Wort von innen her so mit Sinn und Gehalt belasten, daß es über weite Versräume hinweg dominiert, kann nicht von Hochton zu Hochton in freiem Bogen die Rede schwingen, den niederen Pöbel der erforderlichen Hebungen und Senkungen unter sich lassend. Grade die Vielgestaltigkeit, grade die äußerliche Freiheit des Hexameters hindert ihn daran. Seine vielfachen Möglichkeiten sind zugleich unaufhebbare Grenzen. Und da diese Möglichkeiten nicht unmittelbar aus dem Geist und Wesen unsrer Sprache heraus geboren, sondern ihr von außen her
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vorgezeichnet sind, so kommt es immer wieder zu schmerzhaften Reibungen, zu schwerwiegenden Verzichten oder Verstößen. Will der Deutsche auch in diesem Vers seiner alten Freiheit nicht entraten, will er auch hier sein Wortbild lediglich von innen her gestalten, so tritt die horazische Mahnung in ihr Recht: Flucht vor Fehlern gebiert, wo Kunst fehlt, größeres Unheil. [611]
Denn es wird ihm in diesem Falle nur allzu leicht geschehen, daß sein Vers entweder leer, schleppend und überdehnt, oder stockend und überfüllt erscheint, oder gar, daß gegenüber allzu achtloser oder gewaltsamer Skandierung den Leser und Hörer eine Art Schwindel ergreift, und sein rhythmischer Gleichgewichtssinn ins Wanken gerät. Auf der andern Seite gerät er bei allzu ängstlicher Regelrechtheit leicht in jenes hexametrische Holterdipolter, das wir alle kennen, und für das Vossens berühmte aber durchaus unhomerische Zeile: Hurtig wie Donnergepolter entrollte der tückische Marmor
das „klassische“ Beispiel ist. Ist auf solche Weise der Mops ein paar hundert- oder gar ein paar tausendmal mit der Wurst über den Rinnstein gesprungen, was wunder, wenn Schreiber und Leser schließlich ein Bedürfnis überfällt, das ganze versifikatorische Gewölle wie eine Unverdaulichkeit aus dem Munde zu speien; denn nichts steht deutschem Gedicht von Natur weniger an als solch ständiges an der Leine laufen. Und doch hilft es nichts, der Mops muß immer wieder über den Rinnstein und darf dabei die Wurst nicht fallen lassen. Fehler und Anstöße wie die eben beregten sind in längeren hexametrischen Versreigen nie völlig zu vermeiden. Skylla und Charybdis fordern ihren Zoll; Sprache und Versmaß werden sich’s immer wieder gegenseitig zu fühlen geben, daß sie nicht auf dem nämlichen Baume gewachsen sind. Ist das schon bei einem Gedicht eigenes Rechtes der Fall, wie erst bei einer Übersetzung, die fremde Bewortungen und Bewertungen den einheimischen angleichen soll. Da wird’s nur zu oft heißen: „Friß Vogel oder stirb“, und das Ergebnis wird mutatis mutandis ein: „Reim dich, oder ich freß dich“ sein. Wir haben dabei im vorigen vom Akzent gesprochen, als sei er in der Tat ein ebenso sicherer rhythmischer Wertmesser wie die antike Quantität, hatten aber freilich uns schon längst darüber geeinigt, daß er das nicht sei. Grade dies Schwanken des Akzentes erhöht für Leser und Schreiber die Schwierigkeit [612] unsres Verses. Es ist eben nicht immer möglich, zugleich natürlich und dabei so scharf betont zu reden, daß eine Unsicherheit über den gewollten und geforderten Akzent nie und nirgend eintritt. Noch eines anderen, hochwichtigen Umstandes ist hier zu gedenken. Wir haben bislang bei der Betrachtung des deutschen Versbaus nur von Gegensatz und Ausgleich der Silbenzählung und der Silbenbetonung geredet, haben jedoch die Frage, ob nicht etwa auch bei uns in irgendeiner Form von Silbenmessung die Rede sein könne oder gar müsse, außer Augen gelassen. – Nun ist das in der Tat der Fall; nicht ohne Grund reden auch wir von kurzen und langen Silben. Niemand liest oder spricht die betonte und die unbetonte Silbe in dem gleichen Zeitmaß; die betonte hat mit Notwendigkeit die längere Dauer. So „quantitieren“ also auch wir, genau genommen, unsern Vers, nur daß dies Quantitieren bei uns nicht auf dem äußeren, dem „ästhetischen“, sondern auf
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dem sittlichen, dem inneren Wert der betonten Silbe und das heißt – wir haben es gesehen – auf einer wesentlich ungewisseren Grundlage beruht. Auch das bringt ein Moment der Fragwürdigkeit in das System unsres Hexameters. Wir haben eine Reihe von Partikeln, die, rein lautlich genommen, den Wert einer langen Silbe beanspruchen müßten, die aber in dem System unsrer Betonungen oft genug zu den unbetonten, das heißt also dem Zeitwert nach kurzen Silben gehören. Oft, nicht immer. Es sind unter diesen Formworten nicht wenige, die eigentlich zweisilbig wären, und die ihre Einsilbigkeit der Elision oder Kontraktion verdanken. Worte, wie „nichts“, „durchs“, „im“, „vorm“ usw. gehören in diese Klasse. Werden sie unbetont, daß heißt also kurz gelesen, und das geschieht oft genug, so belasten einige von ihnen den kurzen Taktteil durch ihre Schwerleibigkeit in einer für das empfindliche Ohr peinlichen Weise, auch ein schlechterdings unvermeidlicher Übelstand. Wir hätten hier noch des Spondeus zu gedenken, also eines Fußes, der eigentlich aus zwei gleichwertigen Silben bestehen [613] sollte. In unsern Hexametern führt er eine Art doppelter Existenz. Wir haben nämlich, wenn man so sagen darf, „echte“ und „unechte“ Spondeen. Hinsichtlich der „unechten“ gehen unsre Klassiker – Hölderlin eingeschlossen – und auf ihrer Spur alle Neueren so weit, daß sie reine Trochäen, das heißt zweisilbige Gebilde, deren zweite Silbe ein tonloses e ist, als Spondeen lesen und also die wertloseste, oft genug völlig verschluckte Tonlänge unter unsern unbetonten Silben zum Wert einer langen Silbe erheben. Das gibt wieder ein Moment der Unsicherheit und des Fragwürdigen für unsern Vers. Häufung derartiger Quasi-Spondeen macht ihn ohne Frage leer und lahm. Ich habe mir auf diesem Punkt einigermaßen zu helfen gesucht, indem ich mir solche völlig tonlosen und offenen Silben für den Spondeus verbot und sie nur in drei, vier Fällen mir erlaubt habe, unter rund 15 000 Hexametern gewiß eine verschwindende Zahl. Tonlose Silben, die auf Konsonanten ausgehen oder von ihnen eingeschlossen sind, also etwa die Vorschläge „er“ oder „ver“ habe ich auch als zweite Silbe eines Spondeus in den Kauf nehmen müssen. Mein Behelf ist demnach durchaus unbefriedigend, auch ich habe unter meinen Spondeen viele Konzessionsschulzen. Etwas besser ist die Sache trotzdem geworden. – Es ist mir freilich nicht verborgen, daß man unter gewissen Voraussetzungen (Hochton auf der ersten Silbe und ihre entsprechende Mehrbewertung) auch den „unechten“ Spondeus im deutschen Hexameter verteidigen könne. Aber alle solche Theorien schließen ein Moment der Willkür und Unsicherheit ein, weshalb ich vorgezogen habe, mir auf meine Art zu helfen. Echte Spondeen besitzt übrigens unsre Sprache in beträchtlicher Anzahl. Die meisten Doppelworte, also Worte wie „Hausfrau“, „Geldschein“, etwa auch noch „Antwort“ können wir als echte Spondeen ansprechen. Ihre Verwendung im Daktylus wird sich für den deutschen Vers nicht immer vermeiden lassen, ist aber jedesmal ein Schönheitsfehler. Ich würde hier beim Spondeus nicht verweilen, wenn sich an ihm [614] nicht die einzige Möglichkeit einer wirklichen Koinzidenz unsres Metrums mit dem griechischen ergäbe. Wir können nämlich in freilich nur seltenen Fällen unsern „echten“ Spondeus gegen den Strich des Akzentes bürsten und in diesem einzigen Falle jene Zwiefalt von Akzent und Iktus herstellen, die das Wesen des griechischen Verses ausmacht. Wo der Schreiber sich derlei erlauben darf – und das ist, wie gesagt, selten genug
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–, mag ihn jedesmal ein Gefühl der Beglückung überkommen. – Was hier gemeint sei, sehen wir am deutlichsten an einem Beispiel Platens, das freilich nicht aus einer daktylischen, sondern aus einer anapästischen Reihe genommen ist. Es sind berühmte Verse: Keusch lehnt Klopstock am Lilienstab, Und um Goethes erhabene Stirne Blühn Rosen im Kranz…
Der ungewarnte Leser wird die ersten Silben als Spondeus lesen, sie sind es aber nicht, sondern nach dem Gang des Versmaßes müßte betont werden: Keusch léhnt Klopstóck…
Da hat der versierte Rhythmiker Platen mit der deutsch-griechischen Möglichkeit gleichwertiger Zweisilbler ein fast übermütiges Spiel getrieben. Aber auch in unserm klassischen Hexameter finden sich Beispiele einer solchen rhythmischen Inversion, und wir dürfen unserm Vers diese seltene Freiheit nicht um pedantischen Akzentuierens willen rauben wollen; wir würden eine Perle aus seinem ohnehin schwer errungenen und unter jedem Aspekt brüchigen Krongeschmeide rauben. Aus Eigenem führe ich nur ein Beispiel an. Ich habe öfters den Versanfang: Antwort gab und sprach…
Das ist eine spondeische Reihe, sogar eine ziemlich echte, wenn wir dem Formwort „und“ hier den Wert einer echten Länge [615] zusprechen wollen. Muß es doch oft genug um der bitteren Notwendigkeit willen sogar den Wert einer betonten Silbe in Anspruch nehmen. An geeigneten Orten habe ich hie und da die Stellung der Worte geändert und schreibe: Gab Antwort und sprach…
Da ist also „Antwort“ gegen den Strich gebürstet und damit das Recht des deutschen Hexameters auf „echte“ Spondeen behauptet. Nach diesem Lichtblick hätte ich noch von einer letzten Mißlichkeit zu reden, nämlich davon, daß der Hexameter durchgehends auf einer unbetonten Silbe endet. Wir sind nun zwar gegenüber dieser Forderung nicht ganz in der Lage der Engländer, die mit ihren vielfach auf die bloßen Stammsilben zurückgeschrumpften Wörtern männlichen Versausgang fast zur Regel haben. Aber wer unsre deutschen Jamben durchgeht, wird doch auch bei Goethe auf ein Verhältnis von knapp einem Drittel weiblicher zu zwei Dritteln männlicher Endungen stoßen. – Es ist nun sicher nicht nur mir aufgefallen, daß Reihen deutscher Distichen sich unserm Ohr wesentlich anmutiger einsingen als eine Reihe von Hexametern. Das kommt daher, daß der Pentameter in seiner Zäsur und in seinem Ausgang männlich schließt und damit jenes Zweidrittelverhältnis automatisch herstellt. Damit sei des Fachsimpelns über den deutschen Hexameter genug. Als Ganzes geben meine Äußerungen eher ein negatives als ein positives Bild. Das mag unter anderm daher rühren, daß ich weniger von den Freuden als von den Leiden des Übersetzers zu schreiben beabsichtige. Da liegt es nahe, zu fragen, ob angesichts solch schwerwiegender Bedenken man nicht in Zukunft besser aufhöre, ein so bedenkliches Gebilde weiter
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zu pflegen. Die Frage ist ihrem Wert nach als billig, ihrer Tendenz nach als unbillig zu bezeichnen. – Ausführliche Lehre vom deutschen Hexameter hätte ohnehin einen Blick auf die eigentümliche und unter gewissen Ge-[616]sichtspunkten tragische Lage des deutschen prosodischen Wesens zu werfen. Es ist uns nicht vergönnt worden, einen eigenen versus herous auszubilden, jedenfalls nicht, ihn über die großen Brüche in unsrer Sprachgeschichte hinüberzutragen. Stabreim und Nibelungenstrophe, an sich gewiß großartige Formgebilde, haben es, romantischer Versuche ungeachtet, nicht vermocht, sich wirklich unter uns Heutigen wieder einzubürgern. Der deutsche Kurzvers, durch Jahrhunderte Alleinherrscher, hat sich sozusagen aufs Altenteil zurückgezogen. In Anbetracht dieser Lage war Klopstocks Unterfangen eine gewaltige Tat; und die rasche, allen ihm anhaftenden Mängeln zu Trotz sich durchsetzende Einbürgerung unsres Verses hat ihr recht gegeben. Zudem hängt an ihm die liebevolle Bemühung unsrer Größten. Das ist nicht mehr wegzuschelten. Er bleibt freilich und wird bleiben ein Gebilde von der Art, die Goethe „bockselephantisch“ (tragelaphisch)1 genannt hat, eine Chimaira also: Vorn ein Leu, von hinten ein Lindwurm. Seine Sprache wird immer eine erzwungene und abseitige bleiben, er wird ungewöhnlicher Wendungen benötigen; das bis zum Überdruß gehende Vorwalten partizipialer und adverbialer Adjektivformen wird zum Beispiel eines seiner unerfreulichen Charakteristika bleiben. – Es wird um ihn immer etwas sein, als sei sein Problem von einem Kenner des Griechischen dem deutschen Könner zugeschoben worden unter der Losung: Den lieb ich, der Unmögliches begehrt.
Aber grade darin liegt vielleicht ein Teil seiner Berechtigung, ein Teil seiner Beliebtheit unter uns. Denn das Begehren des Unmöglichen ist uns Deutschen in allen Räumen unsres Daseins von Anfang mitgegeben, beides, als Mißgeschick und Hochgeschick. Fausts Vermählung mit Helena wird unter uns immer wieder gefeiert werden, Euphorion immer wieder aufschweben und stürzen. – Singen wir also dem deutschen [617] Hexameter keinen verfrühten Grabgesang, sondern wünschen wir ihm lieber eine lange, pflegliche, kunstgeübte Behandlung durch viele Folgegeschlechter hin auf dem Wege der fortschreitenden Annäherung an das Unerreichliche. Denn auch das dürfen wir uns zugestehen: wo es diesem Vers gelingt, zu „singen“, tönt auch unter uns sein Gesang voller und reicher als der irgend eines anderen Verses. Das materielle Problem der Übertragung, das Problem also der Wortwahl, stellt sich in vielem ähnlich wie das formale Problem der Verswahl und Versübertragung. Freilich erleidet es gewissermaßen eine Umkehrung. Die Versübernahme hat es mit einem nach unverbrüchlich festen Gesetzen bestimmten Gebilde zu tun, Gesetzen, denen sie innerhalb des Herkommens aller neueren Sprachen nirgend ein ähnlich festes, eindeutig bestimmtes Konstruktionsprinzip entgegenzusetzen hat. So wird, wie wir gesehen ha_____________ 1
[In Briefen an Schiller spricht Goethe bisweilen vom Tragelaphen (mit Bezug auf Jean Pauls Hesperus am 10. und 18. Juni 1795, mit Bezug auf sein eigenes Faust-Projekt am 6. Dezember 1797). Ein Tragelaph (‚Bockshirsch‘) ist ein mythisches Mischwesen, das meist in theoretischen Diskursen für NichtExistentes, künstlerisch Dargestelltes eingesetzt wird.]
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ben, die sichere und klare Regelrechtheit des antiken Verses in jeder modernen Nachahmung wesentlich ungenaueren, willkürlicheren und deshalb fragwürdigeren Bestimmungen zu weichen haben, der hybride (Misch-) Charakter des neuen, künstlichen Gebildes wird durchgehends spürbar bleiben. Zwei Geisteswelten, die nie ganz miteinander zu vereinigen sind, treffen sich in ihm. Umgekehrt ist es mit der Wortübertragung. Hier steht der Übersetzer innerhalb seines eigenen Sprachbereichs auf festem Boden. Er ist oder sollte doch als gebildeter Mann, als Dichter (und dieser Beruf schließt, wo er meisterlich ausgeübt wird, immer ein Stück Forschung, zum mindesten Kennerschaft ein) ein Kenner seiner Sprache sein, soweit innerhalb billiger Voraussetzungen von einer solchen Kennerschaft überhaupt die Rede sein darf. So weiß er innerhalb seiner eigenen Sprache im allgemeinen sehr wohl, was er sagt, sollte auch durchgehends Rechenschaft davon geben können, warum er so und nicht anders gesagt. Der hybride (das heißt [618] Mischungs-, ja Fehlmischungs-) Charakter wird seiner Wortwahl von der Seite des Vorbildes her aufgenötigt. Aus fremdem Volk, fremden Landen, fremder Zeit ruft den Heutigen in den Homerischen Gedichten eine Sprache an, die schon veraltet, schon bei den Erben ihres eigenen Wortschatzes zum Gegenstand wissenschaftlicher Sprachforschung geworden war, längst ehe seine eigene Mundart geschichtlich überlieferte Formen gewonnen hatte. Was das zu bedeuten hat, ist klar. Ohnehin ist es nur unter unwahrscheinlich günstigen Bedingungen möglich, auch nur einen Satz aus einer fremden Sprache völlig wort- und sinngetreu in die eigene zu überführen. Jede Sprache hat ihre eigene Luft des Herkommens, der geistigen Haltung, der bevorzugten sittlichen und sachlichen Antriebe und Anreize und infolgedessen ihre besondere Art der Begriffs- und Wortbildung. – Wäre dem nicht so, so hätte die Menschheit nicht aus der verhältnismäßig geringen Anzahl der ihr zur Verfügung stehenden Laute die unübersehbare Fülle von Idiomen („Eigen-Sprachen“) entwickelt und würde nicht, wie sie es doch tut, täglich und stündlich mit diesem Geschäft fortfahren. – So wird also ein Rest des Nichteinverständnisses jeder Übertragung auch zwischen nahverwandten, zeitlich und örtlich eng benachbarten Sprachen anhaften. Gefährlich wird der Mangel an genau entsprechenden Wort- und Begriffsbildungen freilich erst, wo, wie in unserm Falle, die verbindenden Elemente des Einverständnisses nicht nur über Jahrtausende hinweg mühsam aufgesucht werden müssen, sondern auch der faktisch nicht mehr vollziehbare Übergang aus einer spätgeschichtlichen in eine frühgeschichtliche Welt der Schilderungen und Mitteilungen wenigstens fiktiv vollzogen werden soll. – Ihre eigenen Reichtümer werden der heutigen Sprache für dies Unterfangen oft eher hinderlich als nützlich sein; gegenüber dem Reichtum und der lebendigen Fülle der alten wird sie oft ratlos dastehen und sich mit einem aus Vermutung hinter Vermutungen geschöpften Ersatz be-[619]gnügen müssen. So wird man grundsätzlich sagen dürfen, das Dilemma der Wortübernahme sei bedenklicher als das der Versübernahme. Auch angesichts seiner sehen wir uns Gegebenheiten gegenüber, die die Aufgabe des Übersetzers scheinbar erleichtern, in Wirklichkeit erschweren, da grade von ihnen her die Forderung nach genauer Entsprechung ihren besonderen Nachdruck erhält. Bei Übertragungen aus einer völlig fremden Sprache wissen wir von vorneherein, daß es
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sich nur um eine ganz allgemeine, dem Einfühlungsvermögen des Übersetzers weitgehend anheimgestellte Wiedergabe handeln kann. – Deutsch und Griechisch sind jedoch verwandte Sprachen, so nah verwandt, daß gewisse lautmalerische Kunststücke der einen hie und da mit sehr ähnlichen Mitteln der anderen Sprache wiederzugeben sind. Die Verwandtschaft beider Sprachen geht so weit, daß den, der mit dem Altertum seiner eigenen auch nur ein wenig vertraut ist, bisweilen das Gefühl anwandeln mag, als habe in glücklichen Momenten seine Arbeit eigentlich nur der Übertragung von Worten und Begriffen aus einem jüngeren in einen gealterten Sprachzustand zu gelten. Das sind seltene Momente, aber sie kommen vor. Um sie her liegt die leider unvergleichlich größere und mächtigere Welt dessen, das im Lauf räumlichen und zeitlichen Auseinanderstrebens beide Sprache voneinander entfernt hat. Das geschichtliche Auseinandertreten stamm- und sprachverwandter Völker spiegelt sich im Auseinandertreten ihrer Sprachen. Je höher man also in das Altertum unsrer eigenen Sprache hinaufsteigt, je eher wird man bei dieser Rückwanderung, die ja auch ein Hinaufsteigen zu altertümlicheren Formen unsres geschichtlichen Daseins in sich schließt, auf verwandte Wortstämme und Begriffsbildungen stoßen. Es wird daher dem Homerübersetzer naheliegen und ist ihm auch in jeder Hinsicht anzuraten, daß er sich fleißig in der Sprachwelt unsrer eigenen, ähnlich wie die homerische auf vorgeschichtli-[620]chem Grund erwachsenen Epik umsehe. Manche homerische Wendung, manche homerische Schilderung wird ihm aus den dort gewonnenen Einsichten her lebendiger und deutlicher entgegentreten. Zweierlei Verwandtschaften, Stammverwandtschaften und Sinnverwandtschaften, werden ihm auf diesem Wege, der ja für ihn sehr wesentlich ein Weg der Wortsuche sein wird, in nicht unerheblicher Menge begegnen; aber freilich, bei der Verwertung des Gewonnenen tut Vorsicht not. Zwar ist der Rückstieg vom Boden unsrer heutigen Denk- und Sprechweise in das Altertum unsrer eigenen Sprache und Sitte in vielem dem vom Boden der spätgriechischen Gemeinsprache ins homerische Altertum nicht unähnlich. Hier wie dort bewegen wir uns aus den Niederungen einer weltumspannenden Gemeinwirtschaft zurück gegen die Einfalt heroischer Zeiten. Von den unsren geben noch so späte Gebilde wie das Nibelungenlied oder die Lieder des Heldenbuches beredte Kunde. Kein Wunder, daß da manches Gemeinsame, aus altem deutschen Sprachgeist für den griechischen Aufschlußreiche zu finden ist. Aber es bleibt freilich bei Einzelheiten; eine durchgehende Gemeinsamkeit der Anschauungen und des aus ihnen entfließenden Berichtes findet nicht statt. Liegt doch zwischen beiden Niederschriften die Frist von zwei Jahrtausenden und in ihrer Mitte die Zeitwende, die wie eine Wasserscheide die Welt der christlichen Abendländer von der vorchristlichen Welt trennt. Trotzdem ist die Ausbeute nicht gering, die Verlockung direkter Übernahme groß. – Alte Worte wie „Weigand“ für „Held“, „freidig“ für „kühn“, „fron“ (heilig, ehrwürdig) für das unübersetzbare „dios“ bieten sich an, und wenn man ratlos mit unserm einzigen „Schwert“ vor den vielen entsprechenden Worten Homers steht und unter ihnen dem Wort „Aor“ begegnet, fühlt man sich wohl versucht, unser altes, noch von Arndt angewandtes: „Schwertes Ort“ (Schwertes Spitze, Schwertes Schneide) wie-[621]der einzuführen. Noch ein Beispiel solcher Versuchungen. Für das schöne und energische Wort Homers „Alke“ und sein Derivativ „alkimos“, für deren eigenstämmige Wucht unsre
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Lexika nur Worte wie „Wehrkraft“ und so weiter anzubieten wissen, gibt es im älteren Deutsch ein auch formal dem Griechischen nahes, aus eigener Wurzel gewachsenes Wort: „Ellen“. Würde man einen Helden Homers als „ellenthaften Degen“ (Degen = junger Held) kennzeichnen, so wäre man seiner Rede damit sicher wesentlich näher als mit dem abgeblaßten Wortstoff, der uns heut für derlei zur Verfügung steht. Die Frage liegt freilich nicht so einfach. Als Einsprengsel in eine im übrigen moderne Sprachwelt wirken derartige Worte leider doch wie erratische Blöcke. An eine systematische Rekonstruktion mittelalterlicher deutscher Redeweise zugunsten einer gemäßeren Entsprechung zur mittelalterlichen Rede Homers ist jedoch nicht zu denken. Selbst wenn sie – was keineswegs der Fall ist –, „technisch“ durchführbar wäre, wo wäre das Publikum für dergleichen? Übersetzungen geschehen „im öffentlichen Dienst“, außer ihm haben sie keinen Sinn. Aus ähnlichen Erwägungen heraus habe ich im Lauf der Arbeit meine Pflöcke immer weiter zurückgesteckt, habe auf manche sich mir dem ersten Anschein nach ungezwungen darbietende alte Form verzichtet, und mit der neuen vorlieb genommen. Wer sich die Mühe nehmen würde, die paar im Lauf der Jahre an verschiedenen Orten abgedruckten Proben älterer Fassung mit der hier vorgelegten zu vergleichen, könnte das leicht feststellen. Zwei weitere Bedenken melden sich. Zunächst der Vers. – Gewiß, der Hexameter Homers ist, zeitlich gesehen, ein mittelalterlicher Vers. Geschichtlich betrachtet ist er’s nicht. Er hat sein Leben über Jahrtausende hinweg geführt als der klassischeste aller Verse, man darf sagen als der klassische Vers „an sich“. – Als solchen haben wir ihn übernommen, als solcher lebt er seit noch nicht zweihundert Jahren unter uns Deut[622]schen. Er ist also für uns ein sehr junges Versgebilde, die Worte und Wendungen unsres Mittelalters haben in ihm geschichtlich keine Heimat. Gastrecht dürfen sie in dem neuen Vers hie und da genießen, wie sie es auch in den Versen Goethes und der Romantiker genießen, Hausrecht haben sie keines. „Stilvolle“ Repristination müßte auf die alten Versformen unsrer epischen Dichtung zurückgreifen, und wie dieser Weg formal ein Weg aus der Weite in die Enge sein würde, so würde er es notgedrungen auch geistig sein. In der Bindung durch Reim oder gar Strophe würde kein Raum sein für die besondere Homerische humanitas, die sich hinter und über allen mittelalterlichen Bedingnissen seiner geschichtlichen Vordergründe mit dem siegreich durchgefochtenen Anspruch auf unbedingte, auf „klassische“ Geltung erhebt. – Echte Wiederbelebung etwa des Stabreimverses als unsres eigentlich „heroischen“ Maßes, an die hier theoretisch auch zu denken wäre, verbietet sich schon deshalb, weil das entsprechende Sprachmaterial nicht mehr zu Gebote steht. – Nicht einmal ein Urteil darüber, wie weit es an sich zureichen würde, ist erlaubt. So bleibt alles in allem der neue Vers trotz aller ihm inhärenten Verfälschung und Verneblung immer noch das geeignetste Gefäß für die Aufnahme des eigentlichen dichterischen Gehalts der uralten Vorbilder. Ich würde diesen zum Teil offenbar chimärischen Gedankenwegen hier nicht nachgegangen sein, wenn sie uns nicht vor eine andere Tatsache führten. – Die heutige Homerwissenschaft hat auf Grund reicher Ausgrabungen und der auf ihnen fußenden Arbeit des Archäologen, des Historikers und des Philologen uns das frühgeschichtliche Mittelalter der homerischen Sagenwelt weit näher gebracht, als es unsern Klassikern
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und ihrer Homerinterpretation gewesen ist. Wir wissen beispielsweise heut, daß in den Versen der Ilias und der Odyssee weder eine „lockichte“ Thetis noch „hauptumlockte“ Achäer ihr Wesen treiben, sondern daß so Männer wie Frauen jener Zeit sich in Haartrachten gefallen haben, über deren [623] ästhetischen Wert der an klassischer Plastik gebildete Geschmack möglicherweise nicht allzu günstig urteilen würde. Das ist nur einer von vielen Einzelzügen, über die wir heut anders unterrichtet sind als unsre Vorfahren. Dennoch: reich, wie die archäologische Ausbeute schon jetzt ist, reicher wie sie im Verlauf der Generationen zu werden verspricht, sie hat uns im Verein mit dem, was sich an Wort und Wendung unsrer Gedichte mit ihr verknüpfen läßt, doch nicht zu einem vollständigen und nach allen Seiten gesicherten Bild jener versunkenen Welt verholfen und wird das auch wohl niemals zu tun vermögen. Überdies haben wir guten Grund zu der Annahme, daß der Dichter nicht überall Brauch und Art seiner eigenen, unmittelbaren Umgebung und Zeit dargestellt, sondern sich von seinen Gegenständen schon in einem gewissen – und das heißt nach dem wunderlichen Brauch unsrer Sprachen in einem für uns ungewissen – geschichtlichen Abstand befunden habe. Zu einer genauen Bestimmung dieses Abstandes werden wir voraussichtlich niemals gelangen, auch nicht zu einem Urteil darüber, wie weit solches Abstandnehmen und die mit ihm verbundene Übernahme gewisser Inkongruenzen bewußt, wie weit sie im Zuge einer Zeit geschehen sei, deren geschichtliches Denken noch in den Windeln lag, und der das helle Licht eigenen Erlebens die Erinnerung an das überlebte Beiwerk vergangener Begebenheiten verblassen ließ. Übelwollendes Urteil wird sonach den Dichter der Ilias willkürlicher oder unwillkürlicher Fälschung zeihen dürfen, verständige Meinung ihm freilich – eben als Dichter – das Recht solcher Fälschung zubilligen. Ist das aber eingeräumt, wer will den Folgezeiten das Recht einer weiter fälschenden Entgegennahme der schon von vorneherein dichterisch gefälschten Überlieferung absprechen? Schon die nächsten Erben haben sich dieses Rechtes ausgiebig bedient. An Hand der Vasenbilder und Skulpturen bis hin zu den auf uns gekommenen Überresten späthellenistischer [624] Wandmalerei können wir das Fortschreiten dieser in eigener Machtvollkommenheit nach dem Recht des gelebten Tages verfahrenden Fälschung betrachten. Auf uns sind die Gestalten jener Gedichte in einem sehr späten Vorstellungsbilde gekommen; die Homerinterpretation Vossens, Goethes, Hölderlins trägt, ob auch ungewollt, vielfach vergilische, wenn nicht gar noch spätere Züge, auch wo wir von allem absehen, was der schon erwähnte kalendarische Nullpunkt unsrer geistigen Welt an neuen Fähigkeiten, Bedürfnissen und Forderungen eingetragen hat. Das ist nun für uns von allergrößter Bedeutung. Die Begegnung unsrer Klassiker mit Homer ist ein geistesgeschichtliches Ereignis von so tief und weit reichenden Folgen gewesen, daß auch die Formen dieser Begegnung für alle deutschen Folgezeiten irgendwie bestimmend bleiben werden. – Der heutige Homerleser mag auf der Schulbank allerhand von dem erfahren haben, was heutiges Geschichtswissen und die an seinem Weiterausbau beteiligten Vermutungen uns über die „wirkliche“ Welt der homerischen Gedichte zu sagen haben. Er mag beispielsweise wissen, daß Homers Helena vielleicht ein Frauenzimmer mit mittelalterlich steifem Schlepprock gewesen sei, daß sie ihre Haare in archaischen Zöpfen gestrählt und durchwunden, mit Haube, „Ge-
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bende“, und orientalischem Kopftuch bedeckt getragen habe. Versucht er die Gestalt der märchenhaft schönsten Frau nach Maßgabe seiner imaginativen Kräfte sich in einem „dichterischen“ Bilde zu vergegenwärtigen, so wird es trotz allem nicht jenes fremd-altertümliche Geschöpf sein, das vor seinem geistigen Auge erscheint, sondern immer noch das aus naturalistischen und spätklassischen Elementen zusammengewobene Zauberwesen, das unsern größten Dichter zu seinem Helena-Akt begeistert hat; hinter ihm werden sich in diesem Falle nicht die zyklopischen Mauern von Tiryns oder Mykene, sondern der Tempel erheben, dessen Säulenschaft und Triglyphe „klingt“. Daneben bleibt selbstverständlich bestehen, was wir von den [625] geschichtlichen oder mythischen Hintergründen der Halb-Göttin und des um ihre Gestalt versammelten Heroen- und Heroinenkreises heute wissen oder doch vermuten. So wird sie, die schon in der späteren Sage mit vielen ihresgleichen ein – nebst anderem in den Bereichen des Mythos einheimischem Widerspruch unbesehens hingenommenes – Doppeldasein führt, auch in der Vorstellung der Heutigen ein zwiefaches Gesicht tragen: einmal das des Vor- und Urbildes aller klassischen Griechenschönheit; dann aber das in Märchenferne verdämmernde, vom fremden Prunk archaischer Hoftracht und Hofsitte umgebene, halb-dämonische, halb-königliche der „Argeierin“ Helena. Dem heutigen Übersetzer fällt die Aufgabe zu, seinen Lesern etwas von jenem, uns seit einigen Generationen bedeutsam nähergebrachten Zwitterwesen, das schon in Homers Gedichten seinen Ursprung nimmt, zu vermitteln. Im Vordergrund seines „klassischen“ Verses und der ihm gemäßen Diktion führe die klassische Tradition mit unverjährbarem Recht ihr Leben weiter. Aber in und hinter seinen Worten soll sich im schattenhaften Halblicht von Hinweis und Andeutung ein Bild der uralt dunklen Herkunft jener Gestalten und ihres Zubehörs erheben, von dem unsre Tage mehr wissen als die hinter uns liegenden Jahrzehnte und Jahrhunderte. Das Mittel einer solchen dichterischen „Einflüsterung“ wird nun weniger in der Beibringung oder Auswertung archäologischen Materials (obschon auch das hie und da von Wert sein mag) beruhen als in dem von uns schon empfohlenen Hinaufsteigen ins Altertum beider Sprachen, der griechischen wie der deutschen, oder wenn man es anders lesen will, in dem Hinabsteigen zu ihren Wurzeln. Denn auch das bleibt unweigerlich bestehen: nur im Rätsel der homerischen Worte und Wendungen selbst haben wir die eigentlich maßgebende Möglichkeit ihrer Ausdeutung. Für die deutsche Diktion bedeutet das eine genaue Überprüfung des zur Verfügung stehenden Wortvorrates. Möglichst [626] „gut“ und das heißt hier „alt“ bezeugte Worte und Wendungen wären wegen der ihnen innewohnenden urtümlichen Kraft und geschichtlichen Beziehungsfülle zu bevorzugen, Worte neuesten Ursprungs, offenkundige Lehn- oder gar Fremdworte, bloße „Kunst“- oder „Zweck“-Worte wären tunlichst zu vermeiden, volkstümlichen Wendungen wäre, soweit sie sprachgeschichtlich wohlbezeugt und dem „gehobenen“ Wesen des Verses nicht allzu abträglich sind, bei Gelegenheit Raum zu geben. – Das wäre so einiges Grundsätzliche. Aber das „möglichst“ und „tunlichst“ weist schon darauf hin, daß bare Nötigung den Übersetzer oft genug zwingen wird, die selbstgezogenen Schranken zu durchbrechen und den Weg des Kompromisses zu beschreiten. So wird also auch in dieser Hinsicht seine Arbeit ein hybrides, ein Misch-Produkt zeitigen. Es bleibt seinem Kunstverstand überlassen, die
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unvermeidlichen Anstöße des gemischten Verfahrens auch hier nach Möglichkeit auszugleichen und zu überbrücken. Das Hinabsteigen zu den Wurzeln der griechischen Sprache sollte für den gewissenhaften Übersetzer wenigstens bei schwierigeren Worten ohnehin eine Selbstverständlichkeit sein. Solch schwierige Stellen finden sich nun bei Homer die Menge. Nicht daß etwa seine Rede an sich dunkel wäre; sie ist im Verhältnis zu der Pracht und Fülle des Verses sogar von erstaunlicher Simplizität. Aber da sie eine uralte Rede ist, begegnen in ihr immer wieder Worte und Wendung, für die unsre Sprache kein gleichwertiges Gegenbild, sondern nur ungenaue Umschreibungen hat, deren von Fall zu Fall wechselnde Auswahl ins jeweilige Belieben gestellt ist. Darüber hinaus gibt es eine beträchtliche Anzahl von Worten, die schon den späteren Griechen nicht mehr deutlich waren, und über deren Erklärung heute noch das gelehrte Gespräch zu keinem verpflichtenden Ergebnis gelangt ist. Daß in solchen Fällen der Weg zu den Wortwurzeln das sicherste, meist sogar das einzige Mittel zur Erlangung eines eigenen, verantwortlichen Urteils sei, leuchtet ein. Aber der Weg wird oft genug eine via crucis sein. [627] Man darf sagen, je tiefer man sich mit der Frage nach der eigentlichen Bedeutung homerischer Redeformen einläßt, desto größer wird die Zahl der Worte und Wendungen werden, an deren exakter Wiedergabe man verzweifelt. Das Luthersche „pecca fortiter“ („sündige dreist“) wird da oft die einzige Auskunft bleiben. Um die Auslegung dunkler Worte hat sich zum Teil das Altertum schon bemüht. Daß seine, der systematischen Grundlage entbehrenden Deutungen nicht immer das Rechte treffen werden, liegt auf der Hand. Aber es ist bei der relativen Unsicherheit auch unserer heutigen sprachwissenschaftlichen Verfahren durchaus nicht von vorneherein gesagt, daß das jeweils neueste Rätselraten das Richtige getroffen haben werde. So sieht sich der dichterische Interpret der betreffenden Stelle manchmal wie Buridans Esel zwischen zwei Bündeln Heu, ungewiß, wo er anbeißen solle. Vielleicht entschließt er sich sogar kurz gefaßt, von beiden zu naschen und je nach Gutdünken einmal die eine, ein nächstes Mal die andere Deutung zu bringen, da ihn ohnehin die Möglichkeit „richtiger“ Lösung unsicher deucht. Mag ihm das als unwissenschaftlicher Eklektizismus angekreidet werden. Er wird mit Horaz erwidern, daß den „Malern und den Poeten“ „seit alters die Freiheit, alles zu sagen“, eigne. Wie weit übrigens so verschiedene Deutungen auseinanderführen können, dafür wenigstens ein Beispiel. Das Wort „paréoros“ bedeutet bei Homer „Beipferd“, das heißt also ein Pferd, das nicht wie die beiden Rosse des eigentlichen Gespanns im Joch, sondern lose angeseilt danebenläuft. Adjektivisch wird das Wort in sinnlicher und übertragener Bedeutung gebraucht. Daß die übertragene Bedeutung einen „aus dem Gleis gebrachten“ Seelenzustand bezeichne, leidet keinen Zweifel. Aber an der einzigen Stelle, wo das prädikativ gebrauchte Beiwort einen äußerlichen Zustand bezeichnet, scheiden sich die Geister. Homer läßt an der betreffenden Stelle einen erschlagenen Riesen daliegen „lang und breit“, „hier [628] und dort“ und setzt hinzu „paréoros“. Neuere lesen das Wort nach Ausweis der Vokabularien als „zappelnd“ oder „zuckend“, die Älteren lasen es als „seitwärts hingestreckt“. Beide Deutungen lassen sich aus dem Kennwort „Beipferd“ herleiten, beide mit dem übertragenen Wortsinn vereinbaren. Bei mir heißt es nun nach Anleitung der Älteren in freilich etwas gewagter Wendung:
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Riesig lag er und sperrte den Heerpfad hüben und drüben.
Jene Neueren lassen ihn „zappeln“, wobei denn das „hier und dort“ etwa mit „an Armen und Beinen“ wiederzugeben wäre. Derartige Erwägungen und Entschlüsse stellen natürlich nur einen Bruchteil auch nur der rein interpretatorischen Problematik dar, vor die seine Wortwahl den dichterischen Übersetzer stellt. Wohl trifft es zu, daß jedes geredete Wort, auch das im Lauf der Geschichte am weitesten von dem geistigen Ort seines anfänglichen Lebens hinweggewanderte, immer noch aus dem verborgenen Quellpunkt seiner Ursprünge sein eigentliches Licht und seine wirksamste Kraft empfängt. Aber es kann einem solchen Wort auf langer Reise durch Zeiten und Zungen geschehen, daß es schließlich an einer seinem Ausgangsort entgegengesetzten Stelle Wohnrecht erwirbt und Nachkommenschaft zeugt. – Nun wird dem Übersetzer, der sein Geschäft als „musicus“, soll heißen als „Hörer“ für „Hörende“ betreibt, nichts angelegener sein, als jede Möglichkeit lautlicher Annäherung an das Vorbild auszunutzen. Da kann es ihm denn begegnen, daß er ein griechisches und ein deutsches Wort gleichen Klangs und gleichen Ursprungs zur Verfügung hat, daß aber der Sinngehalt beider nicht mehr der nämliche ist. Ein hübsches, weil „glückliches“ Beispiel sei auch hierfür gegeben. Das griechische Wort „augé“ bedeutet bei Homer ausschließlich „Licht“, „Strahl“, „Blendung“ und so weiter, bei Späteren (namentlich Euripides) nimmt das Wort dann vereinzelt die Bedeutung unseres gleichlautenden „Auge“ an. – Da [629] durfte ich nun, um für meinen Vers den eindrucksvollen Vokalklang zu retten, seinen Sinn dahingehend beugen, daß aus der „fernhin leuchtenden Lohe“ Homers eine „den fernesten Augen erkenntliche“ wurde. – Noch ein Beispiel aus dieser Sparte. Homer verwendet häufig ein aus der Wurzel „dam“ abgeleitetes Verbum für „überwältigen“, „bezwingen“, „töten“ und so weiter. Des Gleichklangs halber habe ich für seine Wiedergabe das alte Luthersche „dämpfen“ bevorzugt, ohne daß ich eine Wurzelverwandtschaft beider Wörter behaupten wollte. Aber auch da, wo das griechische Wort und sein deutscher Stellvertreter an sich gleichwertig sind, bleibt für den Leser bisweilen eine nicht völlig zu beseitigende Möglichkeit des Mißverstehens. Ich denke an das von mir durchgehend mit „bunt“ wiedergegebene Wort „poikilos“. Seine Wurzel entspricht der deutschen Wurzel „vech“, die der Bedeutung nach etwa dem lateinischen „varius“, „buntgefleckt“, „buntgestreift“ entspricht. Wir haben sie noch in dem Namen eines ausländischen Eichhörnchens und seines Pelzes „Feh“. Pelzwerk hieß im älteren Deutsch „Buntwerk“; der Niederländer trägt heute noch seinen „Bunt-Mantel“, wo wir Pelzmäntel tragen. – So wäre, falls die Herleitung stimmt, die Übersetzung „bunt“ auch sprachgeschichtlich und sinngeschichtlich im Recht, und wo das Wort von Geweben gesagt wird, läßt sich nichts dagegen vorbringen. Nun braucht es aber Homer von Waffen, vor allem auch von Schilden, und da läßt unser „bunt“ den Eindruck aufkommen, als handele es sich um in unserm Sinne bunt bemalte Schildflächen, während wir anzunehmen haben, daß es nur dem Unterschied zwischen der Farbe des Leders und der des bestenfalls zwiefarbenen Metallbeschlags gelte. Da müßten wir also, um antiquarisch genau zu sein, etwa von „schwarz-(oder braun-)gold-silberner“ Farbe des Schildes reden. Da für
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derlei im Vers kein Raum ist, muß es denn doch wohl beim „bunt“ und bei der Möglichkeit des Mißverständnisses bleiben. Wir sind mit dem Wort „poikilos“ bei den Farbbezeichnungen [630] Homers angelangt, über deren energetischen, durch unsre statischen Farbwerte kaum irgend entsprechend wiederzugebenden Charakter ich mich schon an anderer Stelle ausgelassen habe. Es scheint wirklich, als kennten unsre Gedichte den Begriff des „Lokaltones“ nicht. – Ich greife aus den schwebenden Farbangaben nur die Reihe „zyanfarben“ (kyaneos) heraus. Sie geht vom Lasurblau der heiteren Luft und des Meeres bis zum Schwarzblau oder Blauschwarz eines Trauergewandes, dem „keine andere Schwärze“ gleichkommen soll. Da werden wir auf der ganzen Linie nirgend den richtigen Ton treffen. Die Wörterbücher überanstrengen sich denn auch ohne Erfolg. Für die „zyanfarbenen“ Füße eines Tisches bringt ein neues Schulvokabular: „dunkel gebeizt“, als ob die Tischler Homers ihre Möbel auf „antik“ hergerichtet hätten. Ich habe innerhalb dieser Reihe mir erlaubt, den Poseidon nach Anleitung unsres „Ritter Blaubart“, dem wir ja auch keinen veilchen- oder vergißmeinnichtblauen Haarwuchs anmuten, „blaubärtig“ zu nennen, in Erinnerung an das für alle Meergottheiten gebrauchte „caeruleus“ der Lateiner, das ebenfalls vom Meer- und Himmelsblau bis zur Schwärze geht, in Erinnerung auch an Rubens, der seinen Meergöttern als „kundiger Thebaner“ gern einen blauen Reflex auf die dunkle Mähne gemalt hat. So hat auch das Malerauge des „Maler Müller“ in einer seiner Idyllen den Neptun zum Blaubart gemacht. Wen’s ärgert, der mag an den betreffenden Stellen „schwarz“ statt „blau“ sehen und lesen, das kostet und verschlägt nichts. Eine weitere crux bilden die Worte, die, im Griechischen volkstümlich, bei uns durch Kunstworte wiedergegeben werden. Ich habe selbst einige auf dem Gewissen, so ein (einmaliges) „Stierhautschneider“ für den Mann, der das Leder für die großen Turm- oder Sturmschilde bearbeitet. Die Übersetzung ist wörtlich und ergibt wenigstens einen echten Spondeus in den beiden ersten Silben, das ist alles, was man zu ihren Gunsten sagen kann. Aber was tun? Berufsnamen wie [631] „Lederer“, „Riemenschneider“ kennen wir nur noch als Eigennamen. Der „Lederschneider“ gehört bei uns unter die Gevatter Schneider und Handschuhmacher. Das alte Wort für den Schildmacher: „Schilderer“ würde völlig mißverstanden werden; und nach dem Vorgang eines verehrten Meisters einfach zu setzen: „Sattler“ durfte ich in dem Gedicht, in dem weder Sattel noch Sporn (daher auch kein „spornen“) vorkommen, meines Erachtens nicht wagen. Gegen andere Schreibstubenworte wie „Leibrock“ (für Chiton: Hemd), „Wagenlenker“, „Mischkrug“ haben sich die Herausgeber des Krönerschen „Wörterbuchs der Antike“ ziemlich grob ausgelassen. Für „Leibrock“, das immerhin ein Lutherwort ist, hab’ ich denn auch, wo mir’s angängig erschien, schlicht und ehrbar „Hemd“ gesagt, für den „Lenker“ an einigen wenigen Stellen neben der wörtlichen Übersetzung „Zügelbewahrer“ das einzige hier in Frage kommende „gewachsene“ Wort unsrer Sprache „Fuhrmann“ gesetzt, das immerhin durch seine Aufnahme unter die Sternbilder geadelt ist, in beiden Fällen freilich nicht ohne mich dem Naserümpfen derer auszusetzen, die meinen, Homer habe sich ausschließlich „gehobener“ Ausdrücke bedient. Wenn aber die Trias jenes Wörterbüchleins für „Lenker“ „Kutscher“, für „Mischkrug“ gar „Bowle“ empfiehlt, darf man wohl, salva reverentia, von grobem Unfug reden.
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Bedauern darf und muß ich es freilich in diesem Zusammenhang, daß mir für den von Voß übernommenen „Aigiserschüttrer“ während der langen Arbeit an der Ilias keine erfreulichere Wendung hat einfallen wollen. Es ist mir durchaus gegenwärtig, daß der Relativsatz, in den ich dies „schmückende“ Beiwort gefaßt habe, eine wesentliche Verbesserung nicht darstelle. Aber ein Schelm gibt mehr, als er hat. Und die gelehrte Glosse, die in einem meiner Lexika den „Aigisschwinger“ in einen „Wolkensturmwalter“ verwandelt, durfte ich aus naheliegenden Gründen dichterischer Enthaltsamkeit mir nicht zu eigen machen. [632] Jene Beiwörter sind ohnehin ein Kapitel für sich. Ihre genaue Übertragung gelingt nur in einzelnen Fällen, zudem gehören sie vielfach unter die Wendungen, die bei Homer selbst Versfüllsel sind. Daß ich es mit ihnen nicht immer allzu genau genommen, wird man mir hoffentlich nicht verargen. Gewisse Schwierigkeiten bereitet die Frage der Synonyma und Halbsynonyma. Für einzelne Sachgruppen hat Homer deren eine reiche Fülle, so für Speer, Schwert und Schild. In allen drei Fällen gebrechen sie uns. Das Wort „Ger“, das ich hie und da in Gebrauch genommen, ist schon eine nicht völlig einwandfreie Repristination; „Spieß“ hat bei uns längst seinen ritterlichen und heroischen Klang verloren. „Lanze“ ist ein zwar unentbehrliches, aber als deutliches Lehn-, wo nicht gar Fremdwort, wenig erfreuliches Wort; da haben denn noch allerhand andere Behelfe herangezogen werden müssen. Bei Schwert und Schild bleiben auch sie aus. Niemand würde heut noch die alte „pars pro toto“ „Rand“ als „Schild“ verstehen, und auch bei dem Gebrauch von „Schirm“ muß größte Vorsicht walten. (Des zweifelhaften Wortes „Tartsche“, das für die leichteste Art des Schildes, von Luther übernommen, durch unsre Wörterbücher geistert, habe ich mich freilich auch bedienen müssen.) Dagegen haben wir für „Pferd“ und „Hund“ eine Reihe schöner und eindruckvoller Namen, wo der Grieche nur einen hat. Da ist es denn keine Fälschung, wenn der Deutsche von seinem Reichtum unbedenklich Gebrauch macht. Denn – abgesehen von allem andern – wie vielgestaltig präsentieren sich schon nach ihren Möglichkeiten der Dehnung, Kontraktion, Elision, Flexion die Worte des Griechen gegenüber den deutschen! Nehmen wir beispielsweise das Wort für Schiff. Homer hat nur eines; die zwei Stellen, an denen in der Odyssee ein besonderer Terminus für „Frachtkahn“ eintritt, zählen nicht mit. Aber dies eine Wort ist ein tönendes Wort, seine Formen sind mannigfache. Unser deutsches Wort ist vergleichsweise starr und klanglos. So habe ich denn unser mit dem homeri-[633]schen aus gleicher Wurzel stammendes „Nachen“ hinzugenommen und mich außerdem des altes Wortes „Naue“ erinnert, das, dem griechischen fast gleichlautend, von Schiller im ersten Akt des Tell gebraucht wird. Wegen seines mutmaßlichen Lehnwortcharakters brauchte ich mir schon deshalb keine Gedanken zu machen, weil auch hinsichtlich des Wortes Schiff die diesbezügliche Diskussion noch nicht abgeschlossen ist. – Das eine, aber vielgestaltige, griechische Wort für Schiff wird noch vielgestaltiger durch die Fülle der ihm zugegebenen Beiwörter, von denen wir mit den Mitteln unsrer Sprache grade die eigentlich „schmückenden“ nur unvollkommen wiederzugeben vermögen. Eine häufige Wendung bezeichnet das Schiffslager der Griechen einfach als „die Schiffe der Achaier“; das gibt nun bei Homer mit dem entsprechenden Beiwort einen klingenden und eindrucksvollen Halbvers. Um eine
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ähnlich „klingende“ Wendung herbeizuführen, habe ich hie und da statt des Beiwortes die Stätte des Lagers, den „Staden“, „Helgen“, „Werder“, auf dem die Schiffe zu Land gezogen waren, namhaft gemacht, so ist der Halbvers: „im Holm achaischer Nauen“ entstanden, der sich mir zwar nicht durch Wörtlichkeit, wohl aber durch festlichen Wohllaut zu empfehlen schien. Das niederdeutsche Wort „Holm“, „erhöhtes Ufer“, „Halbinsel“, „Insel“, wird durch sein öfteres Vorkommen auch für den oberdeutschen Leser sein zunächst vielleicht Befremdliches verlieren. Zu gedenken wäre neben den Beiwörtern wohl noch der sogenannten „etymologischen Figur“ („eine Rede reden“, „einen Schlag schlagen“ und so weiter), die bei Homer eine beträchtliche Rolle spielt. Sie versteckt sich bei ihm vielfach unter stark abgewandelten Flexions- und Ableitungsformen; ihre Nachahmung im Deutschen, die mit Notwendigkeit gröber und einförmiger ausfallen wird, hat daher mit Vorsicht zu geschehen. Anders steht es mit dem viel eindrucksvolleren, häufigeren und wichtigeren Stilmittel der Parallelverse und Parallelwendungen. Sie durchziehen die ganze Breite des Gedichtes, über [634] die Hälfte seiner Verse hat an ihnen Teil. Dabei geschieht die Verwendung dieser architektonischen Werkstücke mit so königlicher Kunst, daß genaues Aufmerken nottut, um ihr überall auf die Spur zu kommen. Moderner Zeitgeschmack hat sich oft grade an diesem Kunstgebrauch gestoßen, abwegige Homerkritik an ihm ein Kriterium für ihre Verwerfungen und Restaurationsversuche zu haben gemeint. So ist es nicht zu verwundern, daß manche Übersetzer es grade auf diesem Punkt fehlen lassen, teils aus mangelnder Einsicht, teil aus Nachlässigkeit, zum Teil aber freilich auch um unüberwindlicher Schwierigkeiten willen. Denn wenn auch hinsichtlich seiner die vollständige Nachahmung ein Ziel, des Schweißes der Edlen wert wäre, so setzt doch schon die verschiedene Struktur beider Sprachen ihr unüberschreitbare Grenzen. Auch meine Übertragung läßt es hier in manchem fehlen. Aber neben dem Beneficium des Verum operi longo fas est obrepere somnum (Aber die Länge des Werks rechtfertigt freilich den Schlummer)…
das auch der Nachahmer Homers in Anspruch nehmen darf, darf ich doch hoffen, daß der aufmerksame Leser mir hier ein Fleißzeugnis nicht versagen werde. Zwei andere Mittel dichterischer Rede, der Stabreim und der Silbenreim, sind uns Deutschen geläufig. Silbenreim findet sich bei Homer nicht eben häufig, aber doch auch nicht ganz vereinzelt. Wo er – als Binnen- oder Endreim – auftritt, tut er es freilich durchweg als durch gleiche Flexionsform gegebener (grammatischer) Reim, kann also als zufällig angesprochen werden. Doch finden sich nicht wenige Stellen, an denen seine absichtliche Herbeiführung deutlich ist. Gelegentliche Nachahmung dürfte daher nicht unberechtigt sein. – Dem Stabreim gibt Homer nicht ganz so breiten Raum wie etwa die Lateiner. Aber er verwendet ihn doch oft genug mit deutlicher Absicht. Aus dem Umstand, daß er uns Deutschen ge-[635]wissermaßen als Urvätererbe im Blut steckt und zudem für den Aufbau unsres Verses einen erwünschten Mörtel abgibt, mag seine häufigere Anwendung im deutschen Text ihre Berechtigung herleiten. Einiger dem Leser vielleicht weniger vertrauter Wendungen bliebe noch zu gedenken. Rechne ich die ab, die ohnedies bei unsern Klassikern belegt sind, so bleibt aller-
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dings kaum eine Handvoll übrig. Von Partikeln habe ich „weil“ hie und da nach alter Art temporal gebraucht. In der Odyssee ist mir das vor dreißig Jahren unbemäkelt durchgegangen, heut von verschiedenen Seiten als „störend“ angemerkt, ohne daß ich mich zu durchgreifender Änderung veranlaßt fühle. „Zwar“ und „fast“ habe ich einige Male ihrem alten, beteuernden Gebrauch wenigstens angenähert. Das Wort „freudig“ vertritt manchmal die Stelle von „kühn“ („freidig“), wobei ich mich zwar auf Schillers: „freudig wie ein Held zum siegen“ berufen könnte, das wiederum auf Luther fußt. „Freude“ setze ich hie und da für das unübersetzbare „Kydos“ ebenfalls nach Schillers: „Freude hat mir Gott gegeben“, hinter dem meines Erachtens der alte Terminus steht. – Daß ich aus Gründen der „etymologischen Figur“ einmal das alte „wesen“ statt „sein“ eingeführt, wird man mir vielleicht verzeihen. Wenn ich aus versifikatorischen Gründen an andrer Stelle „wesen“ gleich „verwesen“ setze, so könnte ich mich allenfalls auf den von Adelung wegen so „falschen“ Gebrauchs bespöttelten Lichtwer berufen. Aber da heutige Etymologen geneigt sind, dem Wort eigenes Recht und eigenen Ursprung zuzuschreiben (vgl. Kluge, „Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache“ unter „verwesen“), kann ich der ohnehin ein wenig entlegenen Referenz entbehren. Von wirklich veralteten Wendungen wüßte ich eigentlich nur das gelegentliche „sich einer Sache gebrauchen“ anzuführen, allenfalls den ein oder zweimaligen Gebrauch des Simplex „klagen“ für „beklagen“. Ein Wort wie „Sucht“ für „Seuche“ erklärt sich dem Leser wohl ohne weiteres aus seinen noch im [636] täglichen Gebrauch befindlichen Kompositis: „Wassersucht“, „Fallsucht“ und so weiter. Der Erklärung bedarf vielleicht noch das an einer Stelle auftretende „Waldrechten“ für „Holzfällen“. Es ist ein noch heute übliches forstliches Fachwort, im übrigen ein schönes altes Wort, von Luther gern gebraucht, der sich wohl einmal im Vergleich zu Melanchthon einen alten, groben Waldrechter genannt hat. – Ausdrücke von der Wasserkante wie „Helgen“ für die Unterlage der auf Land gezogenen Schiffskiele, „Achtersteven“ für „Stern“, Schiffshinterteil, „Remen“ für „Riemen“ (d. h. Ruder) dürften in den ihrer maritimen Umwelt so durchaus pflichtigen Gedichten Homers wohl am Platze sein. Mit der Erwähnung sei die Liste geschlossen, die auf Vollständigkeit keinen Anspruch macht. Alles hier Vorgebrachte gibt ohnehin nur einen Ausschnitt aus dem Feld der formalen und materiellen Probleme, die jeden beim Antritt einer solchen Arbeit von der Schwelle ab begleiten. Genug, wenn dem Leser ein ungefähres Bild dieser Problematik und darüber hinaus das Vertrauen vermittelt wurde, der Übersetzer habe ihr seine Aufmerksamkeit nach Kräften zugewendet. Die Absicht allein hätte ihm allerdings wohl kaum den Mut zu seinen Mitteilungen gegeben, wenn ihn nicht nebenbei die Hoffnung geleitet hätte, der Leser könne aus ihnen mittelbare Fingerzeige für das Verständnis der Gedichte selbst gewinnen. Deutlich ist es hoffentlich geworden, daß die Übertragung des uralten Gedichts, wo sie gewissenhaft geschieht, trotz allem Streben nach Sinnfälligkeit und Lesbarkeit, niemals einen „leichten“ Lesestoff darreichen wird, deutlich auch, daß es sich gegenüber so schwieriger Materie nie um wörtliche, immer nur um annähernde Wiedergabe handeln kann. Ein vor einigen Jahren mit bedeutendem Talent unternommener Versuch wortwörtlicher dichterischer Übertragung ist ein literarisches Kuriosum geblie-
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ben und mußte das auch wohl bleiben, da bei dem Stande unsrer Sprach- und Sachkenntnis nicht einmal der Wiedergabe in ungebundener Rede erlaubt [637] ist, so hoch zu greifen. Wie die Zwieläufigkeit des homerischen Verses dem unsern, so bleibt auch das eigentümliche Doppelleben seiner Sprache der unseren weithin unnachahmbar: archaisch zeremoniöser Prunk der Beiwörter und Wendungen, der zahllosen Parallelismen, der formalen und syntaktischen Entsprechungen und daneben und darunter alle „freien“ Künste der Beredsamkeit, mitreißender Schwung der Leidenschaft, durchsichtiger Fluß der Erzählung, voll lieblicher und geistvoller Einfalt wie die spätere Geschichtsschreibung des Herodot, klar und ausgewogen wie die Blume attischer Rede. Alles in allem ein Spiegelbild des königlichsten Dichtergeistes unsrer Welt, der, an das Gesetz seiner eigenen Epoche gebunden, in jedem Augenblick sich über sie hinaus erhebt in die Ätherhöhen freiester Betrachtung, sich unter die „nahrungsprossende Scholle“ ihres gelebten Tages hinabläßt in die Dämmergründe traumsicherer Seelendeutung. Damit wären wir nun freilich aus dem Felde präliminarer Erwägungen zurückgetreten auf das hinter und über ihm liegende einer Verantwortlichkeit, für die keine Regel, kein Ratschlag, keine methodische Anleitung dem Übersetzer wesentliche Hilfe zu leisten vermag. Auf diesem Felde der eigentlich dichterischen Nötigung und ihres Anspruches sieht er sich allein gelassen vor der Frage, wie weit seine eigene Dichterkraft gegenüber dem großartigsten aller Vorbilder zu einer Aneignung ausreiche, die der Weitergabe lohnt. Wohl ihm, wenn neben dem Gefühl des „in magnis voluisse“ das Bewußtsein seiner Unzulänglichkeit ihn den Erfolg seines Wagnisses mit gefaßter Bescheidenheit erwarten läßt. Dennoch wird es ihm niemand verargen, wenn ihn hie und da während des einmal angetretenen Abenteuers der Wunsch nach einem Frundsberg überkommen sein sollte, der ihn mit freundschaftlicher Ermunterung auf die Schulter klopfen würde. Ich habe mich so freundlicher Hilfen zu erfreuen gehabt und darf für sie an dieser Stelle nahen und fernen Freunden und Helfern, den Lebenden wie den Toten, meinen Dank aussprechen.
Emil Staiger Emil Staiger (1908–1987), Germanist und Übersetzer, hatte von 1926 an Klassische Philologie und Germanistik in Zürich studiert. Nach der Promotion (1932) und der Habilitation (1934) ebenfalls in Zürich hatte er dort seit 1943 einen Lehrstuhl für Germanistik inne. Staiger war einer der bedeutendsten deutschsprachigen Literaturwissenschaftler; er war Hauptvertreter der werkimmanenten Interpretation (Grundbegriffe der Poetik [1946], Die Kunst der Interpretation [1955]), die nicht zuletzt durch ihn bis in die siebziger Jahre die führende Methode der Germanistik war. Seiner ablehnenden Einstellung gegenüber manchen Spielarten der Gegenwartsliteratur, die 1966 zum „Zürcher Literaturstreit“ führte, entspricht seine vorrangige Beschäftigung mit den Klassikern, darunter auch mit antiken Autoren. Staiger war auch als Übersetzer griechischer Tragödien und anderer griechischer Dichtung tätig. Aus dem Italienischen übertrug er Tasso und Poliziano. Staiger hat sich wiederholt auch zu Fragen des Übersetzens geäußert. Der folgende Text gibt sein Referat auf dem Artemis-Symposion 1960 „Das Problem der Übersetzung antiker Dichtung“ wieder, auf dem er und Wolfgang Schadewaldt die Hauptredner waren. Staiger vertritt die Gegenposition zu Schadewaldt, indem er darlegt, dass ein Übersetzer sich an geeigneten Vorbildern aus der literatursprachlichen Tradition des Deutschen orientieren müsse.
Das Problem der Übersetzung antiker Dichtung (I) Aus: Das Problem der Übersetzung antiker Dichtung (Artemis-Symposion), Zürich 1963, 13–21.
Herr Rektor! Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es geschieht durchaus nicht aus freien Stücken, daß ich hier den Mund auftue und ein sogenanntes Symposion über das Problem des Übersetzens mit einem Kurzreferat einleite. Als ich vor mehr als dreißig Jahren mit dem Übersetzen begann,1 war ich gesonnen, dieses Geschäft allein nach Lust und Laune zu meinem Privatvergnügen zu betreiben. Ich machte mir keine Gedanken darüber, ich verfuhr ganz unbekümmert um alle Prinzipien und Theorien und war vergnügt, doch wenigstens auf einem Gebiet noch naiv sein zu dürfen, unbelastet von aller kritischen und historischen Reflexion, die sonst zu meinem Beruf gehört. Allein, wir wissen es zur Genüge: „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“ Böse Nachbarn waren in diesem Fall aber alle, die sich für meine Übersetzungen interessierten, die ersten wohlwollenden _____________ 1
[Emil Staigers erste publizierte Übersetzung war Sophokles: König Ödipus. Deutsch mit einem Nachwort von Emil Staiger. Vorwort von Rudolf Alexander Schröder, Berlin 1936.]
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Zuhörer schon, denen ich unvorsichtigerweise meine Versuche unterbreitete, dann die Verlage, denen sie mich zu empfehlen so rührend beflissen waren, dann die Kritiker und schließlich alle, die gleichfalls übersetzten und es anders machten als ich, also Sie, meine Damen und Herren, in Ihrer eindrucksvollen Zahl und imponierenden Autorität. Sie alle haben mich längst um meine Übersetzerunschuld gebracht, zum Zweifel und zum Nachdenken genötigt und meinen Schlafwandel gründlich gestört, wobei es nur ein schwacher Trost ist, und ein Trost, den ich nicht einmal [14] glaube, daß ich vielleicht auch einigen unter Ihnen den Schlaf gestört haben könnte. Ja, nun ist es sogar soweit, daß ich dem Verlag zuliebe, der sich seltsamerweise ich weiß nicht was davon zu versprechen scheint, mehr oder weniger öffentlich eine Art Rechenschaftsbericht ablegen soll. Ich sträube mich, aber ich tue es dennoch, denn wer dürfte sich einem Wunsch der Göttin Artemis entziehen? „Οὐ γὰρ ἀνημέρους ποιμαίνεις πολιήτας.“ Damit zur Sache! Ich fasse mich kurz. Übersetzungen werden vor allem im Hinblick auf das Original beurteilt. Die Kritiker fragen und lassen es meist bei dieser einen Frage bewenden: Hat der Übersetzer den Text verstanden und genau übersetzt? Niemand wird die fundamentale Bedeutung des rechten Verstehens verkennen, und wenige werden sich über die hier verborgenen Schwierigkeiten täuschen. Indes, es ist ein Problem, das bereits den Philologen als solchen und nicht erst den Übersetzer angeht. Wir lassen es also hier beiseite, nehmen das philologische Wissen als Condicio sine qua non und wenden uns dem eigentlichen Problem der Übersetzung zu. Hier gilt es noch einmal, eine meines Erachtens schief gestellte Frage beiseitezuräumen: die Leser möchten wissen, ob eine Übersetzung „wörtlich“ sei. Darüber geben die Sachverständigen hin und wieder die seltsamste Auskunft. Sie sind imstande, sich zu beschweren, wenn etwa das griechische „Eros“ auf deutsch mit „Liebe“ wiedergegeben wird. „Eros“, sagen sie, hat doch eine ganz andere Aura als unsere „Liebe“. Nun wohl: auch der Übersetzer, der Griechisch kann, wird sich darüber im klaren sein. Doch worauf läuft der Vorwurf hinaus? Doch nur darauf, [15] daß der Text nun eben deutsch und nicht immer noch griechisch ist. Der Kritiker stelle uns ein deutsches Wort für „Eros“ zur Verfügung. Er kann es nicht; genau genommen entspricht kein einziges Wort der fremden Sprache restlos einem deutschen. Darüber wissen wir alle Bescheid. Und manchmal bleibt wirklich nichts anderes übrig, als das fremde Wort unübersetzt in die Übersetzung eingehen zu lassen, so etwa den Heraklitischen „Logos“. In Dichtungen ist das aber nicht möglich. Da müssen wir uns schon entschließen, überall deutsche Vokabeln zu brauchen, und es gibt keine andere Rettung, als im Zusammenhang der Rede die leidigen Unzulänglichkeiten des einzelnen einigermaßen auszugleichen oder unschädlich zu machen. Denn über allem Bemühen, dem Wortlaut des Originals gerecht zu werden, vergesse man doch das eine nicht, daß eine Übersetzung ins Deutsche in erster Linie deutsch sein muß, daß also der Übersetzer neben den Eigenschaften, die er mit dem gediegenen Philologen teilt – oder, besser gesagt, mit ihm teilen sollte –, noch über eine verfügen muß, die mindestens ebenso wichtig ist, nämlich über die Meisterschaft im Gebrauch der eigenen, angestammten Sprache, die Fähigkeit, mächtige Verse zu schreiben und deutsche Sätze so zu modeln, daß sie ins Gemüt eindringen und jene Erregung bewirken, die vom Satzgefüge des Urtextes ausgeht. Meines Erachtens kommt dieses Kriterium in der Beurteilung meist zu kurz.
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Gestatten Sie mir deshalb, in der anderen Richtung zu weit zu gehen und die Behauptung aufzustellen: Höchstes Gebot ist, daß der Übersetzer die eigene Sprache beherrscht, daß er sich frei, souverän, virtuos in ihren Möglichkeiten bewegt und alles ihm zu Diensten steht, was er für sein [16] Geschäft benötigt, die hohe und die niedere Schreibart, das Glatte und Rauhe, das Leichte und Schwere, das Liebliche und das Ungeschlachte, denn was er zu schaffen sich herausnimmt, das ist ein deutsches Sprachkunstwerk. Ich setze mich damit in Widerspruch zu einer anderen Auffassung, die zweifellos der Redner, der mir folgt, mit Kraft vertreten wird, der Meinung nämlich, es gelte nicht so sehr, ich zitiere wörtlich, „den Sophokles ins Deutsche zu übertragen als umgekehrt das Deutsche in den Sophokles“.2 Ich muß gestehen, daß mir dieser Rat ganz unverständlich ist. Wenn ich mir, im Interesse einer lebendigen Diskussion, eine kleine Bosheit gestatten darf, so würde ich sagen: Das Deutsche in den Sophokles, den Vergil übertragen, das geschieht, von wenigen löblichen Ausnahmen abgesehen, in unseren Gymnasien leider täglich in einem solchen Ausmaß, daß die Schüler beim Übersetzen griechischer und lateinischer Autoren unfehlbar alles wieder verlernen, was ihnen der Deutschlehrer mühsam genug in langen Jahren beigebracht hat. Griechische und lateinische Konstruktionen und Wortstellungen auf deutsch? Was soll das? Wir dürfen doch nicht erwarten, daß eine griechische Wortstellung im Deutschen dieselbe Wirkung habe, die ihr vermutlich im Griechischen eignet! Was im Griechischen eine ungeheure Spannung erzeugt, das wirkt im Deutschen vielleicht nur ungelenk. Was im Griechischen lapidar ist, kann im Deutschen plump und hilflos, was subtil ist, gekünstelt aussehen. Nicht Wortstellungen und Konstruktionen also gilt es nachzuahmen, sondern einen dem Griechischen analogen Effekt hervorzubringen, und zwar mit deutschen Äquivalenten, mit Mitteln, die durch und durch nur deutsch [17] sind. Sonst haftet der Übersetzung ein Geschmack an, der Philologen zwar ähnlich erregen mag wie der Geruch von Leder und Pferdeschweiß einen Rennstallbesitzer, der aber für Außenstehende nicht ebenso angenehm sein dürfte. Und eine Übersetzung ist ja gerade für Außenstehende und nicht für Philologen bestimmt. Auch die Fragen der Metrik gilt es unter diesem Gesichtspunkt zu sehen. Ich rede nicht davon, daß der Ersatz von Länge und Kürze durch Hebung und Senkung an sich problematisch ist. Er hat sich eingebürgert, wir lassen uns die Analogie gefallen und empfinden heute Hexameter, Odenstrophen und Trimeter, wie sie die Dichter der Goethezeit geschaffen haben, als griechische, als antike Maße. Doch dieser Analogie sind offenbar gewisse Grenzen gesetzt. Eine in allen Teilen analog gebildete PindarStrophe als sinnvolles Verssystem aufzufassen, sind unsere Ohren nicht geeignet. Platen hat uns dergleichen zugemutet, doch seine pindarischen Hymnen empfinden wir als ungefüg, als um so ungefüger sogar, je kunstvoller, je analoger sie sind. Wie haben wir uns hier zu verhalten, wenn wir wirklich deutsche Übersetzungen auszuarbeiten gedenken? Wir führen die Analogie so weit durch, als sie für uns noch faßbar, für unsere Rhythmik nachvollziehbar ist. Wir werden asklepiadeische, sapphische und alkäische _____________ 2
[Das Zitat stammt aus Schadewaldts Nachwort zu Sophokles: König Ödipus. Deutsch von Wolfgang Schadewaldt, Berlin/Frankfurt a. M. 1955, 94.]
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Strophen im Deutschen wiedergeben, wie Klopstock und Hölderlin sie ausgestaltet haben. Daran ist unser Ohr gewöhnt; und die Ausrede, daß der Wortlaut bei genauer Beachtung der metrischen Regeln leide, lassen wir nicht gelten. Grundsätzlich ist es immer möglich, beidem zugleich gerecht zu werden. Für die Reden und Dialoge der attischen Tragödie werden wir trimeterähnliche Verse, [18] Verse zumal von gleicher Länge schaffen. Insbesondere beachten wir die genaue Folge der Stichomythien. Dergleichen als „äußere Form“ beiseite zu schieben erscheint mir unstatthaft. Das Bewußtsein einer festen Ordnung ist unentbehrlich als Schutzwehr gegen die Schauer des tragischen Vorgangs. Und wenn wir auch nie die rigorose Gesetzlichkeit griechischer Metrik erreichen, das Menschenmögliche müssen wir tun, wenn die Tragödie nicht in ein vollständiges Chaos ausarten soll. Aber nun die Strophen der Chöre? Da, meine ich, bleibt nichts anderes übrig, als neue, für unser deutsches Empfinden wahrnehmbare Strophen zu bilden. Strophen zum Beispiel mit gleicher Zahl von Hebungen in den entsprechenden Zeilen, mit deutlich ausgeprägtem Einsatz und einer scharf markierten Kadenz. Auch andere Lösungen lassen sich denken, Strophen aber müssen es sein. Sonst kommt nur ein Geraune, ein ordnungsloses Gestammel zustande, das meines bescheidenen Erachtens mit griechischem Geist nichts zu schaffen hat. Auch für Pindar wären solche im Deutschen hörbare Strophen zu schaffen. Mit alledem rede ich keineswegs einer klassizistischen Glätte das Wort. Jeder, der schon in Jamben oder auch in Trimetern übersetzt hat, weiß, daß es ungleich leichter ist, glatte als eindrucksvolle Verse zu schreiben. Die Alternative zu klassizistischer Glätte darf aber doch keineswegs Anarchie und Willkür heißen. Nur aus der Spannung zwischen der Regel und einem im Innern gärenden Aufruhr entsteht die gefährdete, aber auch siegesgewisse Magie der tragischen Sprache. Innerhalb der Regel also gilt es, für Beschwerungen und Stauungen, Widerstände und Lasten zu sorgen, damit sich die Regel erweise als das, was sie sein soll: als grandioser [19] Triumph. So bei den Tragikern. Bei den Lyrikern und im Epos wird ein anderes Widerspiel erzeugt werden müssen. Doch wenn wir auf den Versuch verzichten, etwas den griechischen Formen wenigstens Analoges herauszubringen, geht viel verloren, was nicht minder bedeutsam ist als der genaue Wortlaut. Dann liefern wir nur Übersetzungshilfen, doch keine Sprachkunstwerke, die auch ohne den Urtext sinnvoll sind. Ich streite damit den Übersetzungshilfen ihren Wert nicht ab. Wie sollte ich, da ich Ihnen von allen anwesenden Übersetzern wohl am meisten zu Dank verpflichtet bin! Nur leisten sie eben gerade nicht, was der des Griechischen unkundige Leser sich von ihnen verspricht. Er ist der Meinung, Homer, Euripides, Sophokles seien Dichter, und zwar formenstrenge Dichter gewesen, und erwartet, auch der Übersetzer biete ihm Dichtung, und zwar formenstrenge Dichtung an. Ich habe mich darauf berufen, daß unser Ohr durch Hölderlin an Odenstrophen gewöhnt worden ist. Durch Goethe, Voß und Schiller sind wir mit Distichen und Hexametern, durch Goethe und Schiller mit dem jambischen Trimeter vertraut geworden. An diese Bemerkung schließe ich eine weitere Überlegung an: Es gibt Übersetzer, die Sprachschöpfer sind, Opitz gehört zu ihnen mit seiner Übersetzung der „Troerinnen“ von Seneca und der „Antigone“, Voß mit seiner „Odyssee“, die auf die Sprache der Goethezeit einen ungeheuren, nur mit der Lutherbibel vergleichbaren
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Einfluß gehabt hat. Hölderlins Sophokles war keine so breite, aber schließlich eine um so tiefere Wirkung beschieden. Niemand unter uns wird sich mit solchen Schöpfern messen wollen. Doch wenn uns schöpferische Kraft versagt ist, wenn wir nicht [20] hoffen dürfen, mit unseren Verdeutschungen des antiken Schrifttums den Ton und die Fügungen deutscher Sprache auf Jahrzehnte hinaus mitzubestimmen, dann drängt sich uns gebieterisch eine ganz entscheidende Konsequenz auf. Was wollen wir, worauf kommt es uns an? Wir sind bestrebt, antikes Schrifttum in unseren Sprachraum einzuführen, ihm Heimatrecht zu gewähren bei uns. Soll antikes Schrifttum aber im deutschen Sprachbereich heimisch werden und trauen wir uns nicht zu, die deutsche Sprache in einer für künftige Zeiten gültigen Weise selber zu prägen – so wie es Opitz, Voß und einige wenige andere wagen durften –, dann können wir unser Ziel nur erreichen, wenn wir uns in der Geschichte der deutschen Dichtung und der deutschen Prosa nach geeigneten Vorbildern umsehen, nach Vorbildern, die als Äquivalente für das Original in Frage kommen. Ich zähle einige Beispiele auf: Mörikes Distichen kommen als stilistisches Vorbild für griechische Epigramme, Goethes „Römische Elegien“ für Properz in Betracht. Die Trimeter in Goethes „Helena“ dürften als Vorbild für die Sprechpartien der attischen Tragödien gelten, an Hölderlins späte Hymnen wird der Pindar-Übersetzer denken. Nicht als ob das Muster jeweils sklavisch nachgeahmt werden sollte. Nur im Sinne einer ungefähren Ausrichtung, einer vagen Annäherung ist der Rat gemeint. Er scheint mir aber beherzigenswert, weil einzig auf diese Weise das Gefühl von Vertrautheit geweckt werden kann, auf das der Leser doch wohl Gewicht legt, weil nur so die Aneignung, die doch stattfinden soll, zu erzielen ist. Daß ich lauter Dichter der Goethezeit nenne, ist ein persönliches Urteil. Ich meine, damals habe die legi-[21]timste Begegnung mit dem Geist des griechischen Altertums stattgefunden. Für die lateinische Prosa, für Horaz, Vergil, Lukrez, könnten freilich andere Muster geeigneter sein. Ich würde jedem Lukrez-Übersetzer raten, die großen Lehrgedichte Albrecht von Hallers gründlich zu studieren. Ist es Epigonentum, was ich da zu empfehlen mich anheischig mache? Ja, es ist Epigonentum. Ich scheue den Vorwurf keineswegs. Der Übersetzer – von jenen größten abgesehen – ist Epigone, und wohl ihm, wenn er sich zu dieser bescheidenen, dienenden Rolle bekennt. Die alten Autoren sind mir zu gut, als daß ich mir irgendwelche Experimente mit ihnen gestatten möchte. In ihrer vollkommenen Gültigkeit verlangen sie eine gültige Fassung, und gültig ist für uns, was durch große Tradition geheiligt ist. Dies ungefähr ist es, was ich mir allenfalls gezwungen zum Problem der Übersetzung abnötigen lasse. Im übrigen will ich weder andere noch mich selbst auf Lebenszeit auf diese meine Sätze verpflichten. „Sehe jeder, wie er’s treibe!“ Am Ende zeigt uns die fertige Leistung, welche Prinzipien etwas taugen. Von einer politischen Verfassung sagt man, sie tauge genau soviel wie die Herrschertugenden ihres Souveräns. So taugt wohl auch jedes Prinzip der Übersetzung nicht mehr und nicht weniger als der Übersetzer, der es befolgt.
Wolfgang Schadewaldt Wolfgang Schadewaldt (1900–1974), Klassischer Philologe, Germanist und Übersetzer, hatte seit 1919 in Berlin, unter anderem bei Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Werner Jaeger, Gustav Roethe und Eduard Spranger studiert. Nach der Promotion 1924 (Monolog und Selbstgespräch) und der Habilitation 1927 (Der Aufbau des Pindarischen Epinikion) war er seit 1928 Ordinarius in Königsberg, dann in Freiburg i. Br. (1929), Leipzig (1934), Berlin (1941) und Tübingen (1950). Schadewaldt war einer der herausragenden Gräzisten seiner Zeit. Die Hauptgebiete seiner Forschung, aber auch seiner Übersetzertätigkeit waren Homer, die frühgriechische Lyrik und das attische Drama. Schadewaldts Übersetzungen griechischer Dramen, vor allem der Tragödien des Sophokles, wurden in den fünfziger und sechziger Jahren an zahlreichen Bühnen aufgeführt. 1965 erhielt er den Übersetzerpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Wichtige Beiträge widmete Schadewaldt seit 1927 auch der Übersetzungstheorie. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte er dann sein Konzept des dokumentarischen Übersetzens, das sich als Gegenentwurf gegen das transponierende Übersetzen versteht. Es bedeutet eine Erneuerung der Traditionen Schleiermachers und Humboldts und stellt den wichtigsten Beitrag der Klassischen Philologie zur Theorie der literarischen Übersetzung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar. Der folgende Text gibt sein Referat auf dem 1960 veranstalteten Artemis-Symposion zum Problem der Übersetzung antiker Dichtung wieder (vgl. o S. 419).
Das Problem der Übersetzung antiker Dichtung (II) Aus: Das Problem der Übersetzung antiker Dichtung (Artemis-Symposion), Zürich 1963, 22–41.
Herr Rektor, Herr Präsident, sehr verehrter Herr Vorredner und Mitkämpe, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ja, ich könnte vielleicht am besten mit dem Schluß von dem anfangen, was Herr Staiger eben gesagt hat, und ich gestehe, daß ich mir diesen Schluß auch notiert hatte, und zwar als Schluß. Ich wollte auch sagen – am Schluß, nachdem man sich die Köpfe ordentlich beklopft hätte –, daß das Reden über Prinzipien eigentlich keine sehr wichtige Rolle spielt. Man kann über Prinzipien auf allen Gebieten eine mächtige Klopffechterei veranstalten, und schließlich kommt es eben doch nicht so sehr auf die Prinzipien, sondern darauf an, wie man es macht. Es ist bekannt, daß man – nicht nur in der Politik, auf die Sie mit Recht hingewiesen haben, Herr Staiger – mit guten Prinzipien unter Umständen im einzelnen schlecht handeln kann. Und es ist auch möglich, mit schlechten Prinzipien unter Umständen ganz Gutes zu leisten. Tatsächlich also glaube ich – und das stelle ich nun an den Anfang meines Referates –, daß eine solche Ausspra-
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che über Prinzipien an dem Entscheidenden, an unserem eigenen Tun, nur wenig ändert, und so glaube ich auch kaum, daß allzuviel Aussicht besteht, daß, wenn ich die Prinzipien, die ich für richtig halte, hier entwickelt haben werde, sie eine allzu große Wirkung auf das praktische Übersetzen Herrn Staigers haben werden, so wie ich meinerseits gestehen darf, daß das, was er an Prinzipien mir entwickelt hat, in praktischer Hinsicht verhältnismäßig wenig Eindruck auf mich macht. In prinzipieller Hinsicht selbst-[23]verständlich ist es außerordentlich interessant. So, glaube ich, wird man vielleicht am Anfang sagen müssen: Was wir hier verhandeln, ist ein Problem an sich selbst, ein interessantes Problem, das man als solches besprechen kann und soll und zu dem dann wohl noch andere in diesem Symposion sprechen werden. Und so möchte ich nun auch nicht solche kleine „Bosheiten“, wie sie mir eben gesagt wurden, zur Belebung des Gesprächs zurückgeben. Zwar ist mir immerhin nachgesagt worden, daß meine Übersetzungen nach Leder und Stallgeruch röchen. Dazu kann man natürlich nichts sagen. Eines möchte ich aber doch richtigstellen. Herr Staiger meinte, daß meine sehr zugespitzte Forderung, man solle nicht den Sophokles ins Deutsche, sondern das Deutsche in den Sophokles übersetzen, auf unseren Gymnasien täglich praktiziert würde. Da falle allerdings ich von einem Staunen in das andere. Doch haben wir ja zum Beispiel meinen Freund Erich Haag hier, der vielleicht darüber berichten kann, ob auf seiner vorzüglichen Schule, dem Uhland-Gymnasium in Tübingen, das Deutsche in den Sophokles übersetzt wird. Ich glaube nicht. Und das Negative, was Sie, lieber Herr Staiger, da im Auge hatten, das ist doch nicht der Sophokles, sondern das ist eine bestimmte Vorstellung von Sophokles, und zwar eine Vorstellung von vor- und ehegestern, die freilich unter Umständen und vielleicht manchmal gerade in den Schulen so hartnäckig fortlebt, daß sie oftmals eine Norm des Übersetzens geben mag, aber eben doch nicht den Sophokles. Ich selbst habe einige Zeilen später – in dem von Staiger zitierten Nachwort – die Sache etwas anders und richtiger ausgedrückt; ich sagte dort, es gäbe eine feine, schwer zu treffende Mittellinie [24] zwischen der eigenen Sprache und der fremden Sprache, und es sei das höchste Ziel einer Übersetzung, diese feine, schwer zu treffende Mittellinie zu erreichen, wo das Deutsche noch deutsch und doch auch schon griechisch ist. Diese Formulierung war die sachgemäßere und vorsichtigere, und sie ist es, die ich anstelle einer anderen pointierten Formulierung schließlich vertreten möchte. Aber ich glaube wirklich, wir sollten nicht so sehr auf diese einzelnen Dinge eingehen, sondern Sie erlauben mir vielleicht zunächst einmal, ganz von mir aus zu entwickeln, wie ich zu diesen meinen Vorstellungen gekommen bin. Ich gestehe, daß da auch bei mir am Anfang des Übersetzens die Unschuld steht, von der Staiger gesprochen hat – ich habe mich besonders darüber gefreut –, die Unschuld, die Naivität, mit der man eine solche Tätigkeit beginnt. Schon als ich meine Habilitationsantrittsrede hielt, im Jahre 1927, habe ich angefangen, mich mit diesen Dingen abzugeben. Doch merkt man dann ja erst nach Jahren, wenn man solchen Weg begeht, wo man eigentlich hinkommt und in was für eine höchst gefährliche Angelegenheit man sich eingelassen hat. Ich will einmal versuchen, es einfach von mir aus kurz darzustellen. Wenn ich da sehe, wie Menschen übersetzen, so tritt mir in unserer Öffentlichkeit, in allen Ländern eine merkwürdige Diskrepanz zweier völlig verschiedener Forderun-
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gen entgegen. Beim Übersetzen nämlich von Dokumenten, welcher Art es auch sein mag, vor allen Dingen zwischenstaatlich-politischen, aber auch wissenschaftlichen, technischen, verlangt man vom Übersetzer die aller-[25]größte Genauigkeit und Sorgfalt in der Wiedergabe des originalen Wortlauts. Würde der Übersetzer bei einem technischen oder medizinischen oder auch politischen Werk auf die Idee kommen, frei zu übersetzen, so könnte er das allergrößte Unheil anrichten. Aber nun haben wir das Merkwürdige, daß auf dem Gebiet der poetischen Übersetzung diese Genauigkeit gar nicht oder nicht in erster Linie gefordert wird. Es geht hier – so sagt man – gar nicht darum, daß der Übersetzer nur ein tüchtiger Kenner der Sprache und der Sache ist, sondern er muß schön, ansprechend übersetzen, er hat eine verhältnismäßig große Bewegungsfreiheit, die ihm die Öffentlichkeit ohne weiteres zugesteht. Er darf beim poetischen Übersetzen kürzen, er darf hinzufügen, er darf die Vorstellungen, die Bilder ändern, wenn sie in der eigenen Sprache ungewöhnlich sind, und wenn er das alles mit Geschmack und Geschick tut und es kommt dabei eine gut lesbare, ansprechende deutsche Übersetzung heraus, dann, so heißt es, hat er nicht trocken, leblos, philologisch, „akademisch“, dann hat er frisch, lebendig, kongenial übersetzt. Nun habe ich mir Namen gesucht, um diese beiden Übersetzungsarten, die im öffentlichen Bewußtsein einfach bestehen, zu beschreiben. Weil die zweite das Transponieren zu ihrem Prinzip macht, nenne ich sie transponierende Übersetzung, während ich die erste nicht die wörtliche nennen möchte – wörtlich ist eine etwas mißverständliche Vorstellung –, sondern die dokumentarische Übersetzung. Es ist bekannt, daß das transponierende Übersetzen überall und gerade in der Schule propagiert wird. Zum Beispiel erinnere ich mich noch mit einem gewissen Unbehagen, wie ich als Schuljunge vor nun bald fünfzig [26] Jahren Hunderte von lateinischen sogenannten Phrasen mit ihren Transpositionen in gutes Deutsch auswendig lernen mußte, und als ich vor ein paar Jahren das Schulbuch meines Sohnes durchsah, fand ich teilweise die gleichen altbekannten Phrasen wieder, zum Beispiel: „Hekuba flens inquit“ heißt nicht „Hekuba sagte weinend“, sondern es heißt „Hekuba sagte unter Tränen“, „Alexander moriens“ heißt nicht „Alexander, als er starb“ oder „der sterbende Alexander“(„der sterbende Gallier“, sagen wir im Deutschen ganz gewöhnlich), nein, auf deutsch heißt es „Alexander auf dem Totenbett“, und „memento te moriturum esse“ heißt nicht „denke daran, daß du sterben mußt“ oder „sterben sollst“, vielmehr auf gut deutsch, empfohlen von den Pädagogen, „denk an dein letztes Stündlein“. Ich gestehe, daß mich das anfing gegen das transponierende Übersetzen doch mit Verdacht zu erfüllen. Nun weiß ich zwar, der englische Dichter John Dryden hat schon vor zweieinhalb Jahrhunderten das Wort gesprochen, Vergil müsse in einer englischen Übersetzung so reden, wie Vergil als Engländer zu Engländern gesprochen haben würde. Dieses Wort wurde dann im deutschen Klassizismus aufgenommen und ewig wiederholt. Auch Wilamowitz, mein Lehrer, hat es aufgegriffen und mit größter Entschiedenheit gesagt, den Buchstaben gelte es zu verachten und den Geist zu bewahren, das Kleid müsse neu werden, der Inhalt bleiben, eine jede Übersetzung sei Travestie, Umkleidung – oder noch schärfer, es bleibe die Seele, aber sie wechsle den Leib.1 _____________ 1
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Wenn ich nun noch einmal von den Nöten sprechen darf, die mir persönlich dieses Geschäft immer wieder machte, so haben gerade die eben geschilderten mir viel [27] Kopfschmerzen bereitet, als ich vor jetzt so ungefähr fünfzehn Jahren ernster an das Geschäft des Übersetzens ging.2 Wenn ich über den Gegensatz der beiden in unserem öffentlichen Bewußtsein lebenden Normen des Übersetzens – des dokumentarischen und des transponierenden – nachdachte, so gelang es mir beim besten Willen nicht, einzusehen, warum der Übersetzer eines politischen, wissenschaftlichen, technischen Dokuments zu einer größeren Genauigkeit verpflichtet sein soll als der Übersetzer eines Dichters, der Übersetzer eines Dichters aber dem Dichter gegenüber soviel Freiheit haben darf. Wenn Dryden gesagt hat, Vergil solle in seiner Übersetzung so sprechen, wie er als Engländer zu Engländern gesprochen haben würde, so erschien mir dies als eine vollkommene Unmöglichkeit; denn wäre Vergil nicht Römer, sondern Engländer gewesen, so kann man Gift darauf nehmen, daß Vergil niemals die Äneis geschrieben hätte. Und wenn Wilamowitz sagt, die Übersetzung sei ein Umkleiden, das Kleid werde neu, der Leib aber bleibe bestehen, so gestehe ich, daß mir dieses ganze Kleiderbild, diese Kleidervorstellung, die hier in der Auffassung des Dichterischen lebt, etwas Unbehagen bereitet, wenn ich mir mit lebendiger Phantasie vorstelle, Sophokles solle seines attischen Chitons entkleidet und in einen modernen Sakkoanzug gesteckt werden. Und wie soll – nach Wilamowitz – bei wechselndem Leibe die Seele dieselbe bleiben? Leib und Seele bilden doch eine Einheit! Was von der „Antigone“ des Sophokles übrigbleibt, wenn man sie ihres Leibes entkleidet, ist nicht die Seele, sondern ist bestenfalls das Knochengerüst, das heißt die Allerweltsbegebenheit Antigone, die doch zu dem Drama „Antigone“ erst gewor-[28]den ist, als Sophokles sie mit dem Fleisch seines Wortes bekleidet hat. Was aber nun die Forderung angeht, von der ich schon wußte, daß gerade mein Freund Staiger sie vertritt: man solle einen fremdländischen Dichter mit der Bescheidenheit, von der Staiger eben sprach, geradezu in eine bestimmte, uns gegebene Konvention hineintransponieren – mit aller Liebe, mit aller Sammlung und Hingabe – , doch so, daß man sich klarmacht, für dieses Versmaß sei Mörike, für dies Goethe usw. das Richtige, nun, da habe ich gerade in diesem Punkte meine ganz persönlichen Erfahrungen gemacht, die ich rein als Erfahrung doch auch hier nicht verschweigen möchte. Als ich mein Buch über die Sappho machte, kümmerte ich mich im Verlauf der Arbeit auch um die Lyrik anderer, verschiedenster Zeiten und Völker auf der Erde und stieß dabei auf das chinesisch-kanonische Buch der Lieder Schi-king. Es interessierte mich, was ich davon zunächst äußerlich erfuhr, und ich wollte nun gern genauer wissen, wie’s damit steht. Ich kann kein Chinesisch, und so griff ich zu der berühmten deutschen Übersetzung des Schi-king von Victor von Strauß. Da geschah mir nun etwas äußerst Merkwürdiges: ich las Victor von Strauß’ Übersetzungen von jenem altchinesischen Schi-king und fand – ich fand ständig Geibel und Heinrich Heine und nochmals Geibel und auch wohl mal Mörike und Eichendorff. Da habe ich mich ge_____________ 2
[Die Übersetzung von Sophokles’ König Ödipus (für die Aufführung am Staatstheater Darmstadt 1952 unter der Regie von Gustav Rudolf Sellner) war die erste konsequent dokumentarische Übersetzung Schadewaldts.]
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fragt, was ist denn hier bloß los, sollten die alten Chinesen des Schi-king alle schon Heinrich Heine und Geibel und Eichendorff präformiert haben? Was machte ich? Ich griff zu dem großen Kommentar des Schi-king von dem Engländer Waley und dann nach dem des französischen Jesuiten Couvreur, [29] die nach dem chinesischen Text eine Transkription, eine ganz genaue Interlinearversion geben und dazu dann noch in lateinischer Sprache, wo es besonders gut geht, eine Übersetzung, die durch die lateinische Form dem Chinesischen in der Einfachheit nahebleiben kann. Ich sah mir eine ganze Reihe von Gedichten in diesen Werken an, und da fing ich an, eine Vorstellung zu haben, was ungefähr ein chinesisches Gedicht ist. Ja, und so will ich es denn ganz offen sagen, wenn ich eine Übersetzung lese von Sophokles oder von Aischylos, und es passiert mir – bei Wilamowitz kann man das sehr oft erleben –, daß, wenn ich das lese, ich auf einmal auf Goethe stoße im Sophokles und ein anderes Mal auf Schiller – jetzt, lieber Herr Staiger, gebe ich Ihnen doch die kleine „Bosheit“ zurück –, dann, in diesem Augenblick ist es mir so, als ob ich einen lädierten Zahn hätte und plötzlich beiße ich auf den Nerv. So schrecklich ist mir das, ich kann mir nicht helfen. Und so überlege ich mir, wie es denn eigentlich mit den Dingen steht. Der Genius, die Seele, der Geist eines Dichters drückt sich doch nun einmal nirgendwo anders aus als in seinen Vorstellungen und Gedanken, und diese Vorstellungen und Gedanken, das heißt seine Bilder von der Welt, Aspekte von der Welt, der sichtbaren wie der unsichtbaren Welt, sie realisieren sich doch nirgendwo anders als im Wort. Wie sollte es da möglich sein, das Wort des Dichters zu verachten, wie Wilamowitz sagt, und seinen Geist zu bewahren, welch merkwürdige Trennung! Der Dichter realisiert sich in seinem Wort, das nicht Vokabel ist, sondern „logos“, um griechisch zu sprechen, ja, der Logos, der am Anfang war. Logos in seinem eigentlichen Sinne [30] als Proportion, als ein riesiges System von mannigfaltigen lebendigen Verhältnissen und Bezügen, das ist doch das, was Sprache im eigentlichen Sinne des Wortes ist: nicht das Klingende und dann irgendwie auf unser Ohr Treffende, das ist nur das Mittel, sondern dieses Gesamte von wohlabgemessenen, in einer Sprache ganz charakteristischen, lebendig aufeinander bezogenen Verhältnissen und Bezügen mannigfaltigster Art. Das habe ich mir zunächst erlaubt, meine Damen und Herren, in der Schilderung der Nöte, in denen ich mich befand, nun einfach so wiederzugeben. Doch gestehe ich nun ganz offen, daß ich von dichterischen Übersetzungen – zumal wenn ich sie benutze in Sprachen, die ich nicht kann – nicht rein ästhetischen Genuß verlange, sondern wo auch immer ich mit Dichtung zu tun habe – ich spreche hier ganz persönlich, und persönlich sprechen soll heißen, ich spreche ohne jeden Anspruch –, also wo ich auch immer mit Dichtung zu tun habe, gilt Dichtung, ich meine jetzt die große Dichtung, für mich als eine Dokumentation. Homer ist eine riesige Dokumentation von etwas, was sich ereignet hat, Aischylos’ „Perser“ sind eine riesige Dokumentation von etwas, das sich einmal ereignet hat, und – so könnte ich fortfahren – die „Antigone“ ist eine Dokumentation von etwas, was sich einmal ereignet hat. Und weil die griechischen großen Dichter diese Kraft haben, etwas Wort werden zu lassen, was sich ereignet hat und was dann auch als Wort noch den Ereignischarakter hat, deswegen leben diese Dinge ja noch heute für uns. Deswegen zwingen uns ja diese Dinge immer wieder,
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uns neu ihnen zu stellen und schließlich sie auch zu übersetzen. Ich würde also sagen, wenn ich von diesem [31] eigentümlichen Dokumentationscharakter auch der Dichtung ausgehe, dann kann keine Rücksicht auf modernes Publikum, auf Leute von heute, auf Theater, auf Leser, selbst keine Rücksicht auf eine von einem ehrenwerten, mir lieben Verlag herausgegebene Reihe der Alten Welt mich veranlassen, von dem einen abzugehen, was mich beim Übersetzen bestimmt: daß ich auf dieses Ereignishafte im Wort blicke und auf nichts anderes, und daß ich mich diesem Ereignishaften im Worte mit Haut und Haar verpflichtet fühle, und daß ich versuche, dieses Ereignishafte, was die Dichtung mir da im Wort darstellt, nachzulallen – mehr ist es ja nicht. So verschwindet also alles andere an Rücksicht, alle Überlegungen, ob ich das lieber so oder so mache, alles das verschwindet unter dem einen, was ich als die allerstärkste an mich gestellte Forderung empfinde: mich dieses da zu bemächtigen, was ja so zu mir spricht, und eben zu versuchen, es schlecht und recht in meinem Deutsch wiederzugeben. Das alles betrifft, wie ich gestehe, die große Dichtung, und ich will gleichfalls sagen: selbstverständlich gilt auch hier, daß man nicht eine einzige allgemein seligmachende Methode hat. Wie Wilamowitz so nett zu sagen pflegte, wenn die Leute zu ihm kamen und von ihm die philologische Methode in kurzen Worten dargelegt haben wollten: „Ja, meine Herren, es gibt keine philologische Methode. Es gibt ebensowenig eine philologische Methode, wie es keine Methode gibt, Fische zu fangen oder zu jagen. Man jagt eben die einzelne Tiere auf ganz verschiedene Weise, das eine wird geschossen, das andere wird gespießt, manche Fische werden getreten, wie die Butten, andere werden im Schleppnetz, andere mit Har-[32]punen gefangen. Und schließlich“, pflegte er noch hinzuzufügen, „meine Herren und Damen, es ist doch ein Unterschied, ob ich Löwen jage oder Flöhe fange.“ Das über die Methode. Ich habe dies Wort von Wilamowitz nie vergessen. Es ist auch hier für unsere Frage sehr bemerkenswert, denn es gibt große Bereiche von Literatur, wo, wie ich mich auszudrücken pflege, das Wort redensartlich ist, was nichts Schlechtes sein soll. Aber man könnte sagen, es gibt fast eine Entwicklung jeder Literatur hin zum Redensartlichen. Plutarch zum Beispiel, ein glänzender Schriftsteller, stellt dieses redensartliche Griechisch dar. Auch in der Dichtung des Hellenismus gibt es eine bestimmte konventionelle Art der Glätte. Und so gibt es noch viele Beispiele. Ich wäre immer der Meinung, daß Plutarch auch im Deutschen transponierend übersetzt werden muß. Und so darf ich vielleicht auf die Homerlegende verweisen – ich habe sie ja eben im Artemis Verlag zu meiner Freude herausbringen dürfen: Die Homerlegende habe ich ganz normal transponierend übersetzt,3 es wäre unsinnig gewesen, eine solche Schrift der Kaiserzeit anders als transponierend zu übersetzen, und die eingestreuten Verse in Hexametern habe ich sogar in Hexametern übersetzt, weil das hier der besondere Reiz des Gegensatzes von Prosa und Vers verlangte. Und auch die Komödie _____________ 3
[Legende von Homer dem fahrenden Sänger. Ein altgriechisches Volksbuch, übersetzt und erläutert von Wolfgang Schadewaldt, Leipzig 1942. Es handelt sich um die Übersetzung eines aus der sog. Vita Herodotea und dem Certamen Homeri et Hesiodi kompilierten Textes. Die Schrift wurde 1947 und 1959 wiederaufgelegt, allerdings ohne den Anmerkungsapparat der Erstausgabe.]
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muß natürlich transponierend übersetzt werden. Wenn man einen Witz nicht transponierend übersetzt, ist er ja oft gar nicht übersetzt, ist er gar kein Witz mehr, falls der Witz eben nur in der Transposition als Witz herauskommen kann. Und so habe auch ich „Lysistrata“ transponierend übersetzt. Selbstverständlich muß der Dialog mit der Tragödie, in der Komödie des Aristophanes auch im [33] Deutschen einfach „laufen“ wie gewöhnliches Deutsch. Es dürfen nicht irgendwie Wortstockungen kommen, Wortstauungen und derartiges. Aber es ist doch nun einmal etwas ganz anderes, wenn ich es mit jener großen Dichtung zu tun habe, mit jener Dichtung von einzigartig ursprünglicher Bedeutung, wo wir beobachten können, daß hier das Wort im höchsten Sinne original seinsträchtig, weltenthaltend ist. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich eine solche Dichtung, wie ich einen solchen Status des Wortes in irgendeine gängige Konvention hineinnehmen soll. Hier geht es nicht um Wortschöpferisches und nicht um Anmaßung von Wortschöpfung, sondern hier geht es um ein ganz einfaches Ich und Du zwischen jenem großen Phänomen und meiner Fähigkeit, es einigermaßen deutsch nachlallen zu können. Das ist also kurz der Weg, den zu gehen ich für richtig halte. Nun noch einige Dinge, um nicht allzu lang zu werden. Für alles das kann man Autoritäten anführen, wir könnten Goethe, Humboldt, Schleiermacher, wir könnten sogar Martin Luther anführen. Martin Luther wird ja oft angeführt für das transponierende Übersetzen mit dem bekannten Wort „Aufs Maul geschaut“. Ja, aber wenn man weiter in seinem Sendschreiben „Vom Dolmetschen“ liest, dann kommt man an eine Stelle, da sagt Luther: „Wenn es auf das Wort der Schrift ankam, da hab ich’s nach den Buchstaben behalten und bin nicht so frei davon abgewichen, dann“ – so sagt er – „habe ich lieber der deutschen Sprache Abbruch tun wollen, als vom Wort zu weichen.“ Das ist genau die Einstellung, die ich auch für die richtige halte. Es gibt gewisse Weisen des Wortes, wo man nicht vom Worte weichen kann, [34] wo man sogar unter Umständen beim Worte bleiben muß, auf die Gefahr hin, der deutschen Sprache, wie Luther sagt, Abbruch zu tun. Aber nun meine ich, was heißt Abbruch tun? Wenn mir doch einer sagen könnte, was Deutsch ist. Die deutsche Sprache wird immer gleichgesetzt mit dem gegebenen Deutsch, das heißt nicht mit dem heutigen, sondern man muß sagen, mit dem Deutsch von gestern. Das Deutsch bildet sich ja an jeder Straßenecke, wo es gesprochen wird, im Vollzug entsteht ständig das Deutsch neu. Eine Sprache ist nicht nur ein riesiger Besitz, der in der Literatur bereits fest geworden ist, eine Sprache ist vor allen Dingen auch eine umfassende Potenzialität, eine riesige Potenz, und sie ist voll von unerhörten Potenzen. Ich würde jene wirkliche Sprachbeherrschung, von der Sie, Herr Staiger, gesprochen haben, darin sehen, daß man nicht nur den Besitz der Sprache beherrscht, sondern daß man auch etwas über die Potenzen verfügt. Und wenn man über die Potenzen des Deutschen verfügt, dann meine ich, kann es vielleicht sein, daß man durchaus deutsch bleibt, ohne doch die Sprache von gestern und vorgestern zu sprechen. Natürlich, im allgemeinen läßt sich das leicht sagen, aber im einzelnen ist es jeweils eine Frage der Entscheidung. Da muß man sehen: wie hast du’s gemacht, und da müßte man in der Diskussion über eine einzelne Stelle sprechen. Aber im Theoretischen, von dem wir jetzt im Augenblick reden, scheint mir doch diese Möglichkeit
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gegeben zu sein, und das ist es auch, was ich meine, wenn ich sage: dem Deutschen Abbruch tun. „Dem Deutschen Abbruch tun“ darf nie in dem Sinne gemeint sein, daß dabei das Wesen des Deutschen ver-[35]letzt wird. Aber, was haben wir nicht alles gesehen, das dem Deutschen an Sprachmöglichkeiten schon hinzugewonnen worden ist, aus der Antike zum Beispiel. Wenn ich hier vor Germanisten spreche, dann wissen diese das ja alles, und ich brauche nur an unsere Klassik zu erinnern. Was hat Voß nicht dem Deutschen an Sprachmöglichkeiten zugefügt, Worte, die heute jeder Vertreter gebraucht. Wenn ein Autovertreter zu mir kommt, wie es vor kurzem geschah, und er sagt: „Der Volkswagen ist ein sehr schaltefreudiger Wagen“, dann weiß der Mann nicht, daß er einen Ausdruck gebraucht, den er nicht gebrauchen könnte, wenn nicht Johann Heinrich Voß den Homer übersetzt hätte. Schaltefreudiger Wagen: typischer Homerismus, über Voß zu uns gekommen, jetzt wird er von einem Vertreter gebraucht. Voß hat zehn Jahre und länger gebraucht, ehe er anerkannt wurde damals. Voß wurde zuerst ganz abgelehnt wegen dieser undeutschen Dinge. Also, ich meine, es geht hier nicht um Unbescheidenheit, es geht hier um Riskieren. Man muß es eben riskieren mit der Gefahr, entweder in einiger Zeit verworfen zu werden als ein manieristisch verstiegener Mensch, der etwas versucht hat, was Unsinn ist, oder auf die andere Gefahr hin, daß es vielleicht unter Umständen nicht ganz so unsinnig ist, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat. Wenn ich, um nun auf meine Übersetzungsart zu sprechen zu kommen, bei Homer gemeint habe, ich müßte aus wohlerwogenen Gründen diese eigentümlichen nachgestellten Adjektive wiedergeben, dann glaube ich nicht, etwas Undeutsches getan zu haben. Mir ist ein deutscher Dialekt vertraut, das Bayrische, wo diese kräftig nachgestellten Adjektive unmittelbar vom Volk gebraucht werden. Ich [36] hörte einmal auf dem Bahnhof von Nürnberg, wie ein Vater zu seinem Kind, das an eine Kiste mit Eisenzeug ging, sagte: „Geh weg da, Max, von dem Gelumpe, dem rostigen!“ Das hörte ich auf dem Bahnhof in Nürnberg und sagte mir: na also, das darfst du schreiben. Doch das sind Einzelheiten, die zum Teil sehr lustig sind – wir können ja vielleicht nachher noch davon reden –, es gibt viel Derartiges. Ich will, um zu Ende zu kommen, nur noch folgendes sagen: Es scheint mir deutlich zu sein, daß dieses Binden an das, was der Logos aufgibt, möglich ist. Übersetzen wäre also dann in unserem Sinn zu definieren: nicht als ein Umsetzen eines dortigen Sinninhalts in einen deutschen mit den mir eigenen deutschen Mitteln, sondern erstens: als das möglichst sachgerechte Verstehen und Erfassen und Sichbemächtigen des Logos, des griechischen Logos, und dann: als die Neuverwirklichung dieses Logos in der eigenen Sprache. Was nun aber diese Neuverwirklichung in der eigenen Sprache betrifft, kann ich gestehen, daß ich hier in einem Punkte in gewissem Sinne noch staigerischer als Staiger bin, nämlich wenn ich bei der Metrik, und nicht nur bei ihr, sage: wir müssen uns von diesen Dingen der äußeren Form befreien. Ich denke hier etwa an den Dialog. Wenn man nämlich im Dialog der Tragödie sich den Blankvers erst einmal gewählt hat und sich nun streng an den fünffüßigen Blankvers und dann auch noch streng an die gleiche Verszahl wie im Original hält, dann kann man nicht so übersetzen, daß man das wirklich herübernimmt, was dort steht, das ist unmöglich. Ich habe es immer wieder versucht, es ist unmöglich. Nimmt man den sechs-[37]füßigen Vers, der ja kein jambischer
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Trimeter ist, wirkt der Vers leer, und wirkt der Vers schwerfällig. Ich habe dann schließlich nach sehr, sehr langen und harten Erfahrungen das alles über Bord geworfen. Ich habe mich befreit von dem übermäßigen Zwang der äußeren Form. Ich habe Jamben geschrieben, aber ganz freie Jamben, vor allem stark synkopisierte Jamben, und ich habe mich nicht an dieselbe Verszahl gehalten, und ich sehe auch nicht ein, warum das so nötig ist. Wenn man sich entscheiden muß, einerseits dem eigentlichen Wort des Dichters unrecht zu tun, indem man zuviel wegläßt und es verbiegt, oder andererseits die genaue Verszahl aufzugeben, dann kann ich nicht den Vers als ein Prokrustesbett betrachten, wo ich entweder den Gedanken im Deutschen dehnen muß – das muß man dann bei Homer immer – oder dem Gedanken die Füße oder den Kopf abhacken muß, um ihn kleiner zu machen. Ich meine, daß man in diesem Fall lieber das Bett nach dem Gedanken, nach dem Leib des Gedankens streckt, als den Leib des dichterischen Gedankens nach dem äußeren Bett dieses Verses, dieses äußeren Verses, dieser äußeren Norm des Verses, verstümmelt. Und so habe ich mich also entschlossen, den Dialog metrisch frei zu behandeln: der jambische Fall fällt immerhin auch noch so in die Ohren, wie es zumal beim Hören uns doch ohnehin einzig und allein gegeben ist. Und was die Chorlieder angeht, da bin ich ganz der gleichen Meinung mit Staiger: es hat gar keinen Zweck, diese Dinge im deutschen Versmaß möglichst genau wiederzugeben; es genügt, wenn man sich ungefähr an den Grundrhythmus hält und dann eben im Deutschen die Dinge so laufen läßt, wie sie dann eben [38] laufen. Ich will jetzt hier nicht noch auf einzelne Beispiele kommen, die ich an sich vorgesehen hatte, sondern möchte nur noch auf eine einzige Erscheinung hinweisen, die allerdings allmählich, nachdem ich sehr zögernd mir die Dinge klargemacht hatte, symbolische Bedeutung für mich gewann. Ich meine nämlich die Schreie. Es ist so, daß, wer die griechische Tragödie kennt, weiß, daß eine unendlich reiche Skala von Schreien dort vorkommt, das mindeste ist „pheu“, was wir eigentlich sprechen müßten „pä-u“, dann „öa“, dann „ïoä“, dann „oii“, dann „oioi moii“, dann „a-i a-i“, dann „otototoi“, dann „ä ä“, auch „hä“, dann „ hä ää“, dann auch „ä-u-oii“, „ä-u-aii“ und schließlich das Furchtbarste, das qualvolle „iuu“. Und wenn man nun die Übersetzungen sich ansieht, dann wird das alles, diese ganz reiche Skala von Ausdrücken der elementaren Seele, transponiert in drei deutschen Möglichkeiten: „o, ach und weh“. Der einzige, der es anders gemacht hat, ist Hölderlin, Hölderlin ist hier vorgestoßen – man macht ihn leider nicht nach. Ich habe lange gebraucht, wie ich gestehe, um mich allmählich davon zu überzeugen, daß das so, mit diesen drei deutschen Möglichkeiten nur, nicht geht. Der antike Mensch, der da tragisch handelt und tragisch leidet, ist kein moderner Europäer, er ist kein nordischer Mensch, er ist auch kein Mensch, der durch eine bestimmte Weise unserer Erziehung so geformt ist, daß er eben nicht schreit, sondern er schreit. Das Unerhörte des Geschehens setzt sich in eine so gewaltige Emotion in ihm um, daß dieses Mächtige aus ihm dann so herausbricht. Ich weiß von Beispielen, zumal im Süden, in Spanien etwa, die Darstellung eines schreienden Jesus in der Osterprozession – ich habe das auf Band gehört, Orff [39] zeigte es mir – da gibt es heute noch so etwas. Und so frage ich mich: ist dies Schreien so etwas Fremdes, daß wir es im Deutschen unseren Theaterbesuchern nicht zumuten dürfen, ist nicht umgekehrt das Nichtbegreifen dieser großen emotionalen, elementaren Kräfte in einem tragischen Menschen eine Konvention, die nur auf
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uns gekommen ist, weil wir einen Klassizismus hatten? Sind wir nicht hier thorwaldsensch gestimmt, wenn wir die Schreie nicht dulden wollen? Und sind wir nicht, nachdem wir eine Lebensphilosophie haben, und daran anschließend andere Philosophien, über die ich nicht zu sprechen brauche, heute so weit, daß wir uns darüber klarwerden, was ein Schrei für eine Bedeutung hat? Das aber habe ich mir erst alles hinterher überlegt. Erst habe ich mir aus reiner Naivheit und Unschuld gesagt: Du setzt jetzt die Schreie ein, nicht ach und weh, sondern päu und oä und oii und oimoii und äi; äi vor allen Dingen, dieser ganz herrliche, dieser ächzende Laut, und wie wundervoll das otototoi; das otototoi ist ja ein stilisiertes Schluchzen. Wenn jemand schluchzt – so entsteht dieser Ruf aus dem Schluchzen. Und ebenso dieses großartige äei und ääe bis zu dem iuu. Ich habe also dies alles eingesetzt, und ich kann nur berichten: die Wirkung auf der heutigen Bühne ist eine ganz mächtige. Kein Mensch hat in den verschiedenen Aufführungen meiner Übersetzungen gerade dieses befremdend empfunden. Im Gegenteil: das Publikum ging mit, die Schreie „kamen an“, wie kaum etwas „ankam“. Daß ich jetzt in Deutschland und sogar schon Im Ausland als der Spezialist für Schmerzensschreie gelte, mag auf einem anderen Blatt stehen. Aber ich setze mich in der Tat ernstlich [40] für diese Übernahme der Schreie ein; denn ich meine, daß sich hier etwas sehr Wesentliches entscheidet, symptomhaft für das, von dem wir hier sprechen. Wir sehen heute die Tragödie anders, wir erleben sie nach Nietzsche anders, wir sehen, daß dieses elementare Grundwesen, das hier in der Tragödie der Mensch ist, etwas ist, das wir nicht irgendwie wegwaschen können. Die Urtümlichkeit des Elementaren, ja das Primitive, das sich unmittelbar in Geist umsetzt, es ist etwa so, wie man es in Griechenland beim Tempel von Phigalia erleben kann: man geht in einer wilden Felseneinsamkeit, und auf einmal steht ein Tempel in edelster Form vor einem. Dieses Unmittelbare, wie das Edelste auf dem Urtümlichsten aufsitzt, das ist griechisch, und eben dieses müssen wir ertragen, auch im Übersetzen, wenn wir sonst so stark davon sprechen. Schließlich will ich denn auch noch eines sagen und dann abschließen. Wenn ich glaube, daß man sich auch von den genauen Verszahlen entfernen darf, von den Versen von genauer Länge (Vorgänger Kleist, „Hermannsschlacht“), dann glaube ich, hat auch das vielleicht etwas mit unserer Zeit zu tun. Auf allen Gebieten darf man wohl sagen – der Dichtung, der Plastik, der Malerei und vor allem der Musik: wir leben in unserem Jahrhundert, wenn ich es so ausdrücken darf, im Zeitalter der gebrochenen Form. Ich gestehe, daß auf mich persönlich eine gewisse Weise von Klassizismus, etwa Hebbel, und die Glätte dieser Formen sehr unangenehm, ja in höchstem Maße unheimlich wirkt, wenn ich sie heute auf der Bühne erlebe. Das ist ein persönliches Urteil, aber vielleicht doch nicht rein persönlich. Es scheint, daß die gebrochene Form – zu der im Engli-[41]schen James Joyce übergegangen ist und bei uns vor allen andern Rilke in den „Duineser Elegien“ – die Form ist, die für uns heute das eigentliche Formgesetz offenbar erst erfüllt. So kann man, wenn man dieses alles sich überlegt, vielleicht doch meinen, daß, wenn solche gewagten Versuche, wie ich sie gewagt habe, in der Öffentlichkeit nicht als Schulmeistereien, als Pedantismen empfunden wurden – sie wurden vielmehr öfters auf der Bühne gespielt und sind im Rundfunk gekommen und sind dabei, wie ich schon sagte, eigentlich immer richtig angekommen –, daß das viel-
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leicht doch damit zusammenhängt, daß diese Dinge, die ich da versuche, nicht ganz irrwegig sind. Andere Wege sind selbstverständlich auch möglich, und ich möchte sie durchaus anerkennen. Aber vielleicht hält doch auch mein Weg sich in irgendeiner Weise tastend in dem großen Zusammenhang, der dieses eigentümliche Heute ausmacht, das wir alle zu kennen meinen und das uns doch mit uns selbst, die wir in dem Heute stehen, ein Rätsel ist.
Rudolf Schottlaender Rudolf Schottlaender (1900–1988), Philosoph, Klassischer Philologe und Übersetzer, hatte 1918–1923 in Freiburg i. Br., Berlin, Heidelberg und Marburg studiert und danach zunächst als Privatgelehrter gearbeitet. Aufgrund seiner jüdischen Herkunft im ‚Dritten Reich‘ diskriminiert, konnte er erst nach dem Zweiten Weltkrieg berufliche Positionen bekleiden, wobei er im Wechsel auf beiden Seiten der sich herausbildenden innerdeutschen Grenze tätig war: zunächst als Professor für Philosophie an der Technischen Hochschule in Dresden (1947–1949), dann als Gymnasiallehrer in West-Berlin, zuletzt (seit 1959) als Professor der Klassischen Philologie an der Humboldt-Universität im damaligen OstBerlin. Er trat von Anfang an auch als Übersetzer hervor: Bereits 1926 publizierte er die erste deutsche Proust-Übersetzung (Der Weg zu Swann). Sein späteres übersetzerisches Werk umfasst Sophokles, griechische und römische Komödien, eine Auswahl aus Plutarchs Moralia sowie Petrarcas De remediis utriusque fortunae. Schottlaender vertrat das Prinzip des „wirkungsgetreuen Übersetzens“, das er auch in dem hier wiederabgedruckten Beitrag darstellt. Übersetzungen, so fordert er, sollten auf heutige Rezipienten wie das Original auf das antike Publikum wirken. Schottlaender steht in mancher Hinsicht Staiger nahe, ohne sich allerdings dessen übersetzerische Orientierung an den Metren der klassischen deutschen Dichtung zu eigen zu machen.
Zur Aktualisierung antiker Dramatik. Der Grundsatz des wirkungsgetreuen Übersetzens Aus: Übersetzungsprobleme antiker Tragödien (Görlitzer Eirene-Tagung 1967), hg. v. Janos Harmatta/Wolfgang O. Schmitt, Berlin 1969, 89–93. Der Auszug ist um den „Anhang: Zum Problem der Umdichtung“ gekürzt.
Unter „Wirkungstreue“ verstehe ich eine Art von Analogie, die wir uns am Schema der mathematischen Proportionengleichung verdeutlichen können. In der Forderung, c solle sich zu d so verhalten wie a zu b, sei mit c die Übersetzung, mit der der Übersetzungsempfänger, mit a das antike Original, mit b dessen zeitgenössische Hörer- und Leserschaft gemeint! Dementsprechend heiße die Übersetzung „wirkungsgetreu“, wenn sie auf ein buchlesendes oder theaterbesuchendes Publikum von heute analog zu wirken vermag, wie das Original auf die seinerzeitigen Griechen oder Römer gewirkt haben muß. – Hiergegen ließe sich einwenden: Was wissen wir denn von b? Ist nicht die spezifische Empfänglichkeit eines zeitgenössischen antiken Publikums in unserer historischen Proportionengleichung eine Unbekannte? Sich in die ganze Mannigfaltigkeit der Empfindungen und Reaktionen einer damaligen Buch- oder Theatergemeinde zurückversetzen zu wollen, könnte hoffnungslos scheinen angesichts der viel zu spärli-
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chen, viel zu summarischen, viel zu vagen Angaben darüber aus dem Altertum. Um zu erweisen, ob eine Analogie stimmt oder nicht, müßten in historischer anders als in algebraischer Relation alle vier Proportionsglieder bekannt oder doch erforschbar sein. Es käme also im Hinblick auf den Grundsatz des wirkungsgetreuen Übersetzens alles darauf an zu beweisen, daß das Proportionsglied b nicht so schlecht erkennbar ist, wie es zunächst scheinen mag. Ich beginne mit dem einzelnen Ausdruck. Der Übersetzer sieht sich auf Schritt und Tritt vor die Frage der Wortwahl gestellt. Meist sind es mehrere Ausdrücke, die sich zur Auswahl anbieten, da sie sowohl mit dem fremdsprachlichen Wort als auch mit anderen muttersprachlichen Worten synonym sind. Wir können sehr wohl etwas darüber aussagen, wie ein bestimmter griechischer oder lateinischer Ausdruck auf einen Athener oder Römer gewirkt haben muß. Ich gebe ein Beispiel. Antigone beruft sich auf ἄγραπτα κἀσφαλῆ θεῶν || νόμιμα (454 f.). Während für ἄγραπτα nur das Wort „ungeschrieben“ in Frage kommt, stehen für ἀσφαλῆ mehrere Adjektive zu Gebote. Ich habe in meiner Antigone-Übersetzung das Wort „unumstößlich“ gewählt und möchte das nun mit dem Grundsatz der Wirkungstreue rechtfertigen. Der attische Hörer muß die Wiederholung des alpha [90] privativum am Anfang der unmittelbar aufeinanderfolgenden Attribute ἄγραπτα und ἀσφαλῆ als starken Eindruck empfunden haben. Das können und sollen wir analog wiedergeben. Also empfiehlt sich ein Synomym für den Begriff der Sicherheit, das mit der deutschen verneinenden Vorsilbe „un-“ beginnt. Es muß aber auch ein Wort sein, das so wie ἀσφαλῆ vom Sprachgebrauch her nicht zu fern liegt, also weder ein ungewöhnlich gehobener noch ein künstlich neugebildeter Ausdruck. Denn darin waren die alten Athener gewiß nicht anders als wir, daß ihnen das schlichte Wort den Eindruck der ruhigen Evidenz, das gehobene ein Gefühl von Erhabenheit, das neugeprägte ein leichtes Befremden ebenso unreflektiert wie unwiderstehlich einflößte. Vergleiche ich nun die Äquivalente, zu denen sich meine zeitlich letzten Vorgänger, Ernst Buschor1 1954 und Wolfgang Schadewaldt 1964 entschlossen haben, so bemerke ich, daß ihre Übesetzung hier dem Grundsatz der Wirkungstreue zuwiderläuft. Buschor sagt „ungeschriebenes ehernes Gesetz || der Götter“. „Ehern“ ist ein gehobener metaphorischer Ausdruck, von dem etwas Hartes, Beengendes ins Gefühl des Hörers übergeht, nicht aber die stille Unangreifbarkeit, die mit ἀσφαλῆ gemeint ist. Schadewaldt hat es, in Anwendung des von ihm selbst genannten Grundsatzes der „dokumentarischen“ Treue darauf abgesehen, den Wortstamm σφαλ- im Deutschen zu treffen, und so kommt er zu einem völlig neuen Kompositum: Er spricht von „ungeschriebenen || und wankenlosen Satzungen der Götter“. „Wankenlos“, „unwankend“, „unschwankend“ oder wie auch immer man dem griechischen Wortstamm gerecht werden will – es kommt immer etwas Gezwungenes heraus. Das unvermeidlich daraus folgende Gefühl des Befremdens beim deutschen _____________ 1
[Der Archäologe Ernst Buschor (1886–1961) hatte zwischen 1942 und 1961 sämtliche 31 erhaltenen Tragödien von Aischylos, Sophokles und Euripides übertragen. Zu Buschor als Übersetzer vgl. Hellmut Flashar, in: Übersetzung und Transformation (= Transformationen der Antike 1), hg. v. Hartmut Böhme, Berlin u. a. 2007, 23 f., sowie ders., Inszenierung der Antike, 2. überarb. u. erw. Aufl., München 2009, 195 f.]
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Hörer oder Leser entspricht ganz gewiß nicht der Empfindung des athenischen Theaterbesuchers beim Erklingen des Wortes ἀσφαλῆ. So meine ich, am relativ wirkungsgetreuesten übersetzt zu haben, wenn ich der Stelle die Fassung gab: „ungeschriebnes, unumstößliches || Göttergesetz“. Ein weiteres Beispiel, das ich der gleichen Rede der Antigone entnehme, diene zur Veranschaulichung einer ganz anderen Seite der Wirkungstreue, nämlich der wirkungsgetreuen Wortstellung! Bezüglich der Wörterfolge will Schadewaldt in besonders hohem Grade „dokumentarisch“ genau sein. Das bekundete er in knapper Form im Nachwort zu seinem Übersetzerband „Griechisches Theater“ (1964), ausführlicher aber bereits beim Symposion des Artemis-Verlages in Zürich (1960). Dieses Artemis-Symposion, das unter dem Titel „Das Problem der Übersetzung antiker Dichtung“ ein Vorgänger unserer heutigen Veranstaltung war, brachte dem Verfechter der „dokumentarischen“ Treue von seiten des schweizerischen Germanisten und Sophoklesübersetzers Emil Staiger die folgende Kritik ein: „Wir dürfen doch nicht erwarten, daß eine griechische Wortstellung im Deutschen dieselbe Wirkungs habe, die ihr vermutlich im Griechischen eignet!“2 Staigers Einwand trifft zwar ins Schwarze, macht aber in seiner Negativität gewissermaßen vor der Schwelle zum Grundsatz der Wirkungstreue halt. Fällig wäre hier die Antwort auf die Frage, mit welchen spezifischen sprachlichen [91] Mitteln man im Deutschen eine analoge Wirkung erzielen kann wie der antike Autor im Griechischen, gibt es vielleicht spracheigene Möglichkeiten, die einen vergleichbaren Eindruck hervorbringen, ohne daß man zur syntaktischen Nachahmung greifen müßte? Hiermit komme ich auf mein Bespiel, das am Schluß des ersten Verses der Rede Antigones (450) stehende Wort τάδε. Man muß es im Zusammenhang mit der drohenden Frage Kreons verstehen, die mit dem Wort νόμους schließt. Hier, in Vers 449, führt mein Grundsatz der Wirkungstreue zu der gleichen Konsequenz wie Schadewaldts Prinzip der „dokumentarischen Treue“: Ich stelle in Nachahmung der griechischen Wortstellung das Wort „Gesetz“ ans Ende und unterstreiche es noch emphatisch: „Und trotzdem wagtest du, zu brechen dies Gesetz?“ Merkwürdigerweise befolgt Schadewaldt gerade hier sein eigenes Prinzip nicht, denn er übersetzt: „und hast gewagt, dieses Gesetz zu übertreten?“ Offenbar schien die Leistung, ὑπερβαίνειν wortgetreu mit „übertreten“ wiederzugeben, wichtiger als die Bewältigung der Aufgabe, das Wort „Gesetz“ so wie νόμους stellungsgetreu ans Versende zu rücken. Aber die wörtliche Treue ist hier Wirkungsuntreue, denn „übertreten“ ist im Deutschen die schwächste Form der Gesetzesverletzung; das griechische ὑπερβαίνειν hingegen ist etwa so stark wie der deutsche Ausdruck „das Gesetz brechen“. Es lohnt sich also nicht, hier auf wirkungsungetreue Weise wortgetreu zu sein und dafür die durchaus mögliche Wortstellungstreue zu opfern. Aber worauf ich hinauswill, das ist die Wiedergabe der Entsprechung von Frage und Antwort. Im Griechischen geschieht das beide Male durch die wirkungsvollen Versenden. Dem despotisch selbstgerechten Nachdruck in νόμους antwortet der pflichtbewußt verachtungsvolle Nachdruck in τάδε. Symmetrisch ans Versende verschieben läßt sich das deutsche Äquivalent nicht, das ist syntaktisch _____________ 2
S. Staiger, Das Problem der Übersetzung antiker Dichtung (1963), 16 [o. S. 421].
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Rudolf Schottlaender
unmöglich, und auch Schadewaldt versucht es nicht. Aber wir haben ein anderes Mittel zum Ausdruck der Emphase, wie sie im Griechischen und Lateinischen durch die Stellung am Anfang oder am Ende eines Satzes bewirkt wird, nämlich den dynamischen Akzent, der notfalls typographisch hervorzuheben ist. Ich habe für τάδε „das da“ gesagt und das Wörtchen „das“ noch unterstrichen. Die Verachtung, die das Versschlußwort τάδε spitz zum Ausdruck bringt, kommt dann so heraus: „Ging doch das Gebot da nicht von Zeus an mich.“ Am Versanfang, wo οὐ γάρ steht, helfe ich mir zur Wiedergabe der durch die Wortstellung erzielten Emphase anders. Was dem οὐ γάρ wörtlich entspräche („denn nicht“ oder „nicht nämlich“), wäre schwach und geschraubt. Aber wir haben als spracheigene Mittel des Nachdrucks einer Antwort das Ja und das Nein, Partikeln, die nicht nur gebräuchlicher, sondern in ihrer Kürze auch wirkungsvoller sind als die entsprechenden Formen der Bejahung und Verneinung im Griechischen und Lateinischen. Also ist hier – und nicht nur hier und auch nicht nur im Deutschen – die knappe Antwortpartikel einzusetzen. Frage und Antwort lauten dann so: [92] „Und trotzdem wagtest du, zu brechen dies Gesetz?“ „Ja! ging doch das Gebot da nicht von Zeus an mich.“
Besonders heikel ist das Problem der metrischen Übersetzung. In Schadewaldt und Staiger standen sich beim Artemis-Symposion ein extremer Gräzist und ein extremer Germanist gegenüber. Schadewaldt will Übereinstimmung im Rhythmus immer dann opfern, wenn ihm die Treue zum antiken Wortlaut und Satzgefüge das zu erfordern scheint.3 Staiger möchte für die Wiedergabe antiker Metren alle solche, allerdings nur solche Strophenformen zulassen, die von deutschen Klassikern nach antiken Mustern geschaffen wurden und sich seitdem eingebürgert haben. Da stellt sich zunächst die Frage nach dem Dialogvers, dem jambischen Trimeter. Von der deutschen wie von der englischen Bühne her vertraut ist der Blankvers, der Fünfheber. Darin sehen manche, unter ihnen auch Buschor, einen durchschlagenden Einwand gegen den Gebrauch des antiken Sechshebers in Übersetzungen. Schadewaldt behauptet sogar ganz willkürlich, der sechsfüßige Vers wirke „leer und schwerfällig“. Hiergegen würde schon der Hinweis auf Goethes durchaus gelungene Sechsheberpartien im Helena-Akt von Faust II genügen. Aber das Wichtigste scheint mir hier, daß man erkennt, welches Mittel wir gegen Überlänge haben. Dies von Goethe bereits angewendete Mittel ist die Zäsur. Gleich die ersten beiden Verse jenes dritten Aktes von Faust II sind durch solche Zäsuren belebt: „Bewundert viel || und viel gescholten, || Helena, Vom Strande komm’ ich, || wo wir erst gelandet sind.“
Ich habe in den Dialogpartien meiner Sophoklesübersetzung bei der großen Mehrzahl der Verse für solche Zäsuren gesorgt. Im Hinblick auf die Metrik scheint mir die Wirkungstreue eher Anlehnung an das Original als Abweichung von ihm zu erfordern, aber so, daß durch zusätzliche Kunstmittel unerwünschten Nebenwirkungen der Metrumsübernahme vorgebeugt wird. Wenn man wie Buschor der muttersprachlichen _____________ 3
[S. o. S. 432 f.]
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Literaturtradition zuliebe auf dem Blankvers besteht, muß man der geringen Silbenzahl wegen immerfort etwas weglassen. Gegen Kürzungen aus bloßer Treue zum Blankvers wehrt sich Schadewaldt mit Recht. Buschors Sophoklesübersetzungen entbehren denn auch oft der Nuancen und Abrundungen des Originals. Nur ergibt sich daraus nicht Schadewaldts Schlußforderung, sich metrisch überhaupt nicht festzulegen. Hier scheint mir Staiger recht zu haben mit seiner auf das Metrische bezügliche Warnung: „Die Alternative zu klassisitischer Glätte darf aber doch keineswegs Anarchie und Willkür heißen… Wenn wir auf den Versuch verzichten, etwas dem griechischen Original wenigstens Analoges herauszubringen, geht viel verloren, was nicht minder bedeutsam ist als der genaue Wortlaut.“ Nicht gutheißen allerdings kann ich es, wenn Staiger sich ausdrücklich zum „Epigonentum“ bekennt, was hinsichtlich der Rhythmen bedeutet, ein deutscher Übersetzer dürfe ausschließlich die von deutschen Klassikern eingeführten und dadurch autorisierten antiken Metren verwenden. Als Beispiel dafür, daß solche Bescheidenheit zu weit geht, wähle ich [93] den Dochmius. Aus der deutschen Literatur kennen wir keine Dochmien. Weder Hölderlin noch Goethe noch Schiller scheinen uns zu diesem Versmaß zu ermutigen. Statt aber der Einschüchterung nachzugeben, die Staiger so formuliert: „Die alten Autoren sind mir zu gut, als daß ich mir irgendwelche Experimente mit ihnen gestatten möchte“, sollten wir solch ein Dochmiusexperiment doch einmal prüfen. Von zahlreichen Stellen in melodramatischen Partien der Tragödie wähle ich wiederum aus der „Antigone“ eine aus: des zusammenbrechenden Kreon Todessehnsucht, die ich so wiedergebe: „Empor steige, Tod, Ans Ziel bringe mich,
Mein Tod, Schönster du, Mach heut, heut ein End!“
Ekstase der Verzweiflung teilt sich uns durch diesen tragischen Rhythmus mit – anderwärts auch einmal Ekstase des Jubels, in der sophokleischen „Elektra“ nach der Wiedererkennung der Geschwister –; darum sollten wir sogar dieses ungewohnte Versmaß (möglichst mit Hilfe gedruckter Betonungspunkte unter den Vokalen) um der Wirkungstreue willen nachbilden.
Dietrich Ebener Dietrich Ebener (geb. 1920), Klassischer Philologe und Übersetzer, war nach dem Studium der Fächer Russisch, Latein, Griechisch und Geschichte von 1946 bis 1951 an der Humboldt-Universität Berlin von 1952 bis 1957 als Assistent, später als Dozent an der Universität Halle tätig (1956 Habilitation; die Promotion war 1953 noch in Berlin erfolgt). Er übernahm 1957 eine Professur für Klassische Philologie in Greifswald, machte dann aber von 1967 an als freier Autor das Übersetzen antiker Texte zu seinem Beruf. Ebener leistete in dieser Funktion einen wesentlichen Beitrag zur Verbreitung antiker Literatur, besonders der griechischen Dichtung, in der DDR: Homer (1971), Euripides (1972), Theophrast (1972), Theokrit (1973), Aischylos (1976), Griechische Lyrik (1976), Lukan (1978), die Griechische Anthologie (1981), Vergil (1984), Nonnos (1985), Terenz (1988), Lukrez (1989); die Sophokles-Übersetzung (1995) gehörte bereits in ein neues Zeitalter. Seine Dramenübersetzungen wurden und werden wegen ihrer Sprechbarkeit und Verständlichkeit vielfach für Theaterinszenierungen verwendet. Ebener hat sich wiederholt zum Problem des Übersetzens geäußert, am systematischsten in dem Aufsatz, der hier wiederabgedruckt ist. Er grenzt sich darin einerseits von Schadewaldt und dessen Konzept des dokumentarischen Übersetzens ab, doch auch von Schottlaenders Ziel einer wirkungsgetreuen Übersetzung.
Blick in die Werkstatt. Zu einigen Problemen der Übersetzung griechischer Tragödien Aus: Helikon 13/14 (1973/74), 584–602.
Über die Grundprobleme des Übersetzens schlechthin, weiter über die besonderen Schwierigkeiten des Übersetzens von Werken der griechischen und römischen Literatur1 und unter diesen der griechischen Tragödie2 ist bereits vieles Vortreffliche und _____________ 1
2
Eine historisch fundierte Begriffsdeutung bei Schadewaldt, W., Das Problem des Übersetzens, in: Die Antike 3 (1927), S. 278 ff. Eine gründliche Erörterung mit weiteren Literaturangaben bietet Kusch, H., Einführung in das lateinische Mittelalter, Bd. I: Dichtung, Berlin 1957, in der Einleitung, Abschnitt 3: Das Problem des Übersetzens, S. XXIX ff. Hierzu vor allem Schadewaldt, W., u. a. in: Antike Tragödie auf der modernen Bühne, Heidelberg 1957 (Sonderdruck aus „Jahresheft 1955/56“ der Heidelberger Akademie der Wissenschaften), S. 45 ff. und im Nachwort zu seinen Übersetzungen in: Griechisches Theater, Frankfurt a. M. 1964. Frey, H., Deutsche Sophoklesübersetzungen. Grenzen und Möglichkeiten des Übersetzens am Beispiel der Tragödie „König Ödipus“ von Sophokles, Winterthur 1964. Schottlaender, R., in der Einleitung zu seiner Sophoklesübersetzung (Sophokles. Werke in einem Band, Berlin-Weimar 1966), S. XXXV ff. Ebener, D., im Nachwort zu seiner Euripidesübersetzung (Euripides. Werke in drei Bänden, BerlinWeimar 1966), Bd. III S. 379 f. Zahlreiche Rezensionen erschienener Tragödienübersetzungen bieten,
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Dietrich Ebener
Nützliche gesagt worden. Wenn der Verfasser es wagt, seinerseits einen kleinen Beitrag zu dieser Thematik zu leisten, so keinesfalls, um das Gesagte zu ergänzen, zu erweitern oder gar zu verbessern. So wie die Übersetzung einer griechischen Tragödie stets, mag das Ergebnis der Bemühungen mehr oder weniger anfechtbar sein, eine eigenständige [585] wissenschaftliche und künstlerische Leistung darstellt, ebenso wird auch jeder Versuch eines Übersetzers, die von ihm durchgeführte Arbeit verallgemeinernd nach ihren methodischen, ästhetischen, „technischen“ Voraussetzungen zu erklären, als eine Art von Selbstverständigung über Weg und Ziel des von ihm Erstrebten gewertet sein müssen, aus der sich weder Regeln noch Vorschriften im Sinne eines allgemein verbindlichen Falsch-Richtig gewinnen lassen. Mit dieser Feststellung ist der sehr weite Begriff der Übersetzung zusammengezogen auf jenen Raum, innerhalb dessen er hier Anwendung finden soll. In diesem Raum findet keinen Platz das – darum keineswegs gering geschätzte, für die Praxis des Lebens erforderliche, freilich heute in nicht wenigen Bereichen schon mit kybernetischen Methoden durchführbare – Übertragen fachwissenschaftlicher Artikel, technischer Aufzeichnungen, der Darstellungen bestimmter Verfahren, Handlungsabläufe, Qualitätsmerkmale und ähnlicher Vorlagen. Ausgeschlossen bleibt auch die Übertragung zeitgenössischer oder einer jüngeren Vergangenheit angehörender literarischer Werke, eine Tätigkeit, die im sprachlichen Material wie vor allem im Bereich des Inhaltlichen, im ganzen gesehen, eine verhältnismäßig große, wenn auch in ihren Maßen entsprechend der unbegrenzten Vielfalt der Gegenstände und Gestaltungen vielfach wechselnde Nähe des Übersetzers gegenüber dem zu Übersetzenden aufweist. Indessen ist dieses Ausschließen nicht absolut zu verstehen. Schon wenige verbindende, überleitende oder zusammenfassende Zeilen etwa zwischen Komplexen mathematischer oder chemischer Formeln fordern von dem Übersetzer nicht allein grammatische Genauigkeit und die Beherrschung der sprachlichen Elemente, sondern auch ein angemessenes ästhetisches Empfinden und höchstes Verantwortungsbewußtsein überall dort, wo er zwischen nur zwei möglichen Ausdrucksvarianten eine Entscheidung zu treffen hätte. In diesem Sinne hat ein Übersetzer auch auf der gewissermaßen niedersten Stufe des sprachlichen Übertragens, für die eine Bezeichnung wie das oft derart gebrauchte „Dolmetschen“ angemessen erscheint, im Grunde bereits eine schöpferische Arbeit zu leisten. Diese schöpferische Komponente steigert sich naturgemäß mit den Anforderungen, die der Gegenstand gemäß seiner dichterisch gehobenen und individuell geprägten Aussage nach Inhalt und Form stellt. Wenn der Verfasser die genannten Stufen übersetzerischer Tätigkeit hier ausklammert, so tut er dies aus der Überzeugung heraus, einen Gegenstand vor sich zu haben, der aufgrund seiner Besonderheiten von _____________ indem sie Urteil und Erörterung der Probleme verbinden, wertvollste Anregungen. Aus ihrer Zahl seien als kennzeichnende Beispiele genannt Snell, B. (Tragödien des Euripides, übersetzt von H. v. Arnim, Wien-Leipzig 1926), in: Gnomon 6 (1930), S. 191 ff. Kraus, W. (Euripides: Medea. Hippolytos. Herakles, übertragen und erläutert v. E. Buschor, München 1952. Aischylos: Die Perser. Die Orestie, übertragen und erläutert v. E. Buschor, München 1953), in: Gnomon 27 (1955), S. 6 ff. (Sophokles: Antigone. König Oidipus. Oidipus auf Kolonos, übertragen und erläutert von E. Buschor, München 1954), in: Gnomon 27 (1955), S. 134 f. (Sophokles: König Ödipus. Deutsch von W. Schadewaldt, Berlin u. Frankfurt a. M. 1955), in: Gnomon 30 (1958), S. 6 ff.
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dem Übersetzer die Voraussetzungen, die zur Bewältigung jener Stufen nötig sind, ohnehin fordert, andererseits aber in seinen Forderungen über sie hinausgeht. Die griechische Tragödie als historisches Phänomen ist durch zweieinhalb Jahrtausende von uns getrennt, durch eine Zeitspanne, in der die gesellschaftliche Struktur der Menschheit mehrfachem Wechsel unterlag. Dieser Umstand bedingt nicht allein im Sprach-[586]lichen und Lautlichen, auf den Gebieten der Syntax, der Metrik, der Ausdrucksbreite zahlreicher Begriffe die Notwendigkeit eines „Umdenkens“, wie es im Verhältnis der gegenwärtigen Weltsprachen zueinander nicht annähernd vorgenommen zu werden braucht; er bedingt, was viel schwerer wiegt, ein solches Umdenken nicht selten im Bereich der Vorstellungswelt überhaupt. Diese unumgängliche Aufgabe des Übersetzers wird um so gewichtiger, als er in der altgriechischen Sprache nicht über ein „Verständigungsmittel“ verfügt – man kann sich manchmal kaum des Eindrucks erwehren, daß die derzeitigen Weltsprachen im Zeitalter des Utilitarismus sogar bei manchen Trägern ihrer Literaturen zu einem solchen herabzusinken drohen –, sondern über ein Instrument des Ausdrucks, das infolge seines außergewöhnlichen Formenreichtums ungezählter Nuancierungen fähig ist und eine beispiellose Schmiegsamkeit in der Wortbildung und Begriffsklärung besitzt. Nicht zufällig stellt das Altgriechische ja einen unerschöpflichen Born für die Bildung stets neuer und für alle Bereiche der Wissenschaften international gültiger Begriffe dar. Angesichts eines derartigen Sachverhalts drängt sich die Frage auf, inwieweit denn eine Übersetzung der griechischen Tragödie möglich sei, mit ihr verbunden sogleich eine zweite, wie denn bei solchen Umständen eine Übersetzung für uns Heutige erwünscht oder sogar notwendig sein könne. Eine Antwort auf die erste Frage setzt eine Klärung des Zieles der Übersetzung voraus. Der attische Bürgerchor, der einst unter dem Himmel Attikas in die Orchestra am Südhang der Akropolis einzog, ist nicht weniger in die Vergangenheit zurückgesunken als sein Publikum; er wird niemals in das Leben zurückkehren. Die einmalige historische Situation, in der die Tragiker Athens ihre Werke schufen, mit der Fülle ihrer die Gesellschaft und das ihr angehörende Individuum formenden ökonomischen, sozialen, politischen Bedingungen ist unwiderruflich dahin. Andererseits befindet sich der Übersetzer selbst in einer einmaligen historischen Situation, deren Voraussetzungen ihn mit seinen Möglichkeiten nicht weniger formen, als es den Schöpfern der ihm vorliegenden Werke widerfuhr. Es wäre ein von vornherein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen, durch das Mittel der Übersetzung jene versunkene Zeit gleichsam erneut beleben und eine jener vor zweieinhalb Jahrtausenden gültigen gesellschaftlichen Wirklichkeit voll entsprechende, nur mit der Firnisschicht einer modernen Sprache als eines rein technischen Werkzeuges überzogene Tragödie schaffen zu wollen. Selbst einem heutigen Fachgelehrten, der das Original zu lesen und zu verstehen vermag, gelingt es lediglich, sich annähernd adaequat die Wirkung zu vergegenwärtigen, die einst bei der Aufführung von der Tragödie ausgegangen sein mag. Die zahlreichen Einzelzüge, die er mit wissenschaftlichen Methoden mehr oder weniger klar herausarbeitet, ergeben ein Gesamtbild, aber noch längst nicht jenes von Form und [587] Gehalt geprägte Erlebnis, das die Aufführung des Stücks damals den antiken Zeitgenossen bedeutete. Auch der Fachgelehrte übersetzt bei seiner Tätigkeit, sei es,
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daß er innerhalb der überlieferten Lesarten entscheiden, sei es, daß er Sachverhalte klären und erklären muß, und er fertigt zuweilen bei seinem Ringen um das Verständnis des Textes geradezu eine Übersetzung an, die in der Regel eine prosaische sein wird und bei ihrem Bestreben, mit größtmöglicher philologischer Exaktheit den Sinn dessen, was da steht, wiederzugeben, ihm selbst und anderen Fachleuten großen Nutzen stiften kann. Ja, eine philologisch solide, im Ausdruck geglättete Übersetzung dieser Art vermag manchmal über den Kreis der Fachgenossen hinaus Leser und Liebhaber zu gewinnen. Dem Übersetzer aber, von dem hier die Rede sein soll, geht es nicht um das erarbeitete Gesamtbild allein, sondern um jenes Erlebnis, zu dem sachliche Richtigkeit und ästhetisch genießbare Form sich vereinen. Seine Einsicht in die Unmöglichkeit, die Tragödie in der oben genannten Weise zu beleben, bedeutet keineswegs die Verpflichtung, sie zu aktualisieren oder zu modernisieren. Im Gegenteil, er muß sich bemühen, das Wesen ihrer Aussagekraft historisch zu begreifen und eine Form zu entwickeln, die dem Höchststand der Ausdruckmöglichkeiten seiner eigenen Sprache gerecht wird, sich dabei aber der originalen Form der Tragödie so weit, wie die Gesetze seiner Sprache es gestatten, nähert. Beschreitbare Wege solchen Verfahrens seien weiter unten erörtert – für hier genüge die Feststellung, daß in dem dargelegten Sinne die Übersetzung einer Tragödie durchaus möglich ist und je nach der Leistungsstärke des Übersetzers das Erlebnis, das sie in der Antike vermittelte, in einer zwar nicht im historischen Blickwinkel gleichen, aber den Bedingungen der Zeit des Übersetzers entsprechenden Weise auch einem modernen Publikum schenken kann. Und nicht allein das. Eine gute Übersetzung vermag Eingang in die Literatur ihrer Sprache zu finden und in ihr einen ehrenvollen Platz zu behaupten. Darf somit die erste Frage bejaht werden, darf es die zweite auch. Die großen Meister der griechischen Tragödie haben, als die Humanisten und Realisten, die sie waren – hier sollte mancher moderne Literaturkritiker dem mythischen Gewand, das ihn täuscht, seine historische Stellung zuerkennen! –, Werke geschaffen, die ihrem Wesen nach den Menschen unserer Zeit kaum weniger bewegen als ihre eigenen Zeitgenossen. Ein flüchtiger Blick nur auf ihr Nachleben mag den Zweifler belehren. Die Meister haben bewiesen, daß künstlerische Höchstleistungen zum unvergänglichen Besitz der Menschheitskultur gehören, über die Grenzen verschieden gearteter Gesellschaftsordnungen hinweg, und jede Generation erneut zur Auseinandersetzung mit ihnen verpflichten. Der Übersetzer griechischer Tragödien sieht sich also einer Aufgabe gegenüber, deren Lösung möglich und deren Ziel von hohem gesellschaftlichen Wert ist. [588] An diesem Punkt sei zweier Tätigkeiten gedacht, die keinesfalls mit der Übersetzung in engerem Sinne verwechselt werden dürfen, der Tätigkeit eines Bearbeiters, die in der Regel der Aufgabe gewidmet ist, eine Tragödie entsprechend den jeweiligen zeitlichen Bedingungen der Aufführung „für die Bühne“ vorzubereiten, und der eines Nach- bzw. Neudichters, der einen Tragödienstoff aufgreift und entweder, unter Beibehalten des antiken Rahmens, sich ihm gegenüber Freiheiten im einzelnen erlaubt, oder ein eigenes dramatisches Werk daraus gestaltet. Weder der Bearbeiter noch der Nachdichter brauchen ein Wort Griechisch zu verstehen, es ist ihr Recht, sich nach eigenem Ermessen vorliegender Übersetzungen zu bedienen. Das schließt natürlich nicht aus,
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daß es Regisseure gab und gibt – und man möchte hoffen, daß es sie auch geben wird –, die aufgrund eigener Kenntnis des Griechischen und seiner Kultur Tragödienaufführungen in ihrer Bearbeitung in Szene setzen können, wie es z. B. der langjährige Direktor des Wiener Burgtheaters, A. Wilbrandt,3 tat, und daß uns auch Dichter, die das philologische Handwerk verstehen, geschenkt sein mögen, wie J. H. Voß, freilich nicht auf dem Gebiet der Tragödie, einer war, dessen Übersetzung der Odyssee einen Platz in unserer Literatur beanspruchen darf. Das Feld der Bearbeitung und Nachdichtung ist weit, zuweilen geht die eine Tätigkeit in die andere über. So berichtet J. Tralow4 aus seiner frühen Bühnenzeit, wie er mit U. v. WilamowitzMoellendorff über eine Aufführung der Medeia in der Übersetzung des großen Philologen verhandelte. „Als ich dann“ – nach Aufführungen des Stückes in der Bearbeitung Tralows in Nürnberg und Köln – „noch einmal besinnlich vor meinem Regiebuch saß und kaum ein Viertel des Wilamowitzschen Textes erhalten fand, versprach ich mir eine neue, völlig freie Nachdichtung, falls das Stück noch einmal aufführungsheischend an mich herantreten sollte. Es geschah wirklich …“ Die Nachdichtung wurde mehrmals, u. a. in Frankfurt a. M. und in Hamburg, aufgeführt. Aber nicht allein zwischen Bearbeitung und Nachdichtung kann es fließende Übergänge geben, sondern auch zwischen Übersetzung und Nachdichtung. Man wird sie dankbar anerkennen, wenn sie, wie etwa im Fall der „Iphigenie in Aulis“ Schillers, zu einem Werk von hohem literarischen Rang führen. Trotz seiner zweifellos nicht – im philologischen Sinne – sicheren Kenntnis der griechischen Sprache hat der dichterische Genius Schillers, dessen Einfühlungsvermögen ihm tiefe Einsicht in das Wesen des Originals ermöglichte, nicht nur ein im ganzen bedeutendes Werk geschaffen, sondern mit dem Mittel der Übersetzung zu [589] nicht wenigen einzelnen Stellen wichtige und anregende Interpretationen geliefert. Weitere unverächtliche Werke dieser Art liegen für das Deutsche noch vor etwa in den „Troerinnen“ Werfels, für das Französische in der Übertragung der Orestie des Aischylos durch P. Claudel, für das Russische in der die Mehrzahl der euripideischen Stücke umfassenden Übersetzung durch den Dichter J. Annenskij. Schließlich sei noch der Neudichtung gedacht, die in manchen Fällen dem antiken Werk lediglich die Namen und bestimmte Teile der Fabel entnimmt, mit ihnen aber völlig frei schaltet und auch die – nach Meinung des Verfasser hier zu billigenden – Möglichkeiten der Aktualisierung und Modernisierung ausschöpft. Als Beispiele für solche Behandlung antiker Tragödienstoffe in neuerer Zeit lassen sich Sartres „Les mouches“, Anouilhs „Antigone“ und „Médée“ sowie Brechts „Antigone“ nennen. Aus dem Versuch, die Fragen nach der Möglichkeit und nach dem Ziel einer Übersetzung griechischer Tragödien zu beantworten, und dem Bemühen, die Tätigkeiten des Bearbeiters und des Nach- und Neudichters abzugrenzen, beginnt sich nunmehr der Begriff der Übersetzung herauszuschälen, wie er dem Verfasser vorschwebt. _____________ 3 4
[S. o. S. 205–215.] In seiner autobiographischen Skizze „Gelebte Literatur“, in: Der Beginn, Berlin 1958, S. 37 f. Das Stück liegt heute vor in: Medea des Euripides. Eine Nachdichtung von J. Tralow. Manuskript des Henschelverlages Berlin 1961.
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Erstes Gebot einer Übersetzung sollte größtmögliche philologische Exaktheit sein. Der Verfasser hält es für bedenklich, um einer für den Menschen unserer Tage ästhetisch wirksamen Form willen wesentliche Abstriche an dieser Grundforderung vorzunehmen. Innerhalb der philologischen Genauigkeit sollten nur jene Freiheiten zulässig sein, die mit Rücksicht auf die Forderungen der Muttersprache unerläßlich sind. Zu ihnen gehören etwa der grundsätzliche Vorrang des in der Sprache des Übersetzers üblichen Satzbaues einschließlich der Wortstellung gegenüber dem des Originals, was nicht das Bemühen ausschließt, letzteren überall dort beizubehalten, wo gerade durch ihn, der freilich der eigenen Sprache keine Gewalt antun darf, wertvolle Stimmungs- und Betonungsgehalte bewahrt würden; die mögliche – nicht in jedem Fall obligatorische – Auflösung der Partizipialkonstruktionen, wobei größter Wert auf eine sinngemäße Wiedergabe gerade dort zu legen ist, wo sie nicht durch griechische Konjunktionen und Partikeln zweifelsfrei vorgezeichnet wird; der Verzicht auf die jedesmalige vokabelmäßige Wiedergabe der zahlreichen griechischen Partikeln, deren Sinn sich in vielen Fällen mit entsprechenden Stilmitteln syntaktischer Art, auch ohne direkte Übersetzung durch ein oder mehrere Worte, erzielen läßt; die gelegentliche Ersetzung rhetorischer Fragen – deren verhältnismäßige Vielzahl im Original dem modernen Sprachgebrauch kaum geläufig ist – durch die dem Sinn entsprechende Aussage; [590] die im Einzelfall vorzunehmende Wiedergabe der zuweilen gegenüber der modernen Sprache zu inhaltsreichen und gedrängten Nomina durch kurze, gleichsam erläuternde Nebensätze, deren „Gewicht“ jedoch das des Nomens nicht übersteigen darf; schließlich die – allerdings mit großer Behutsamkeit vorzunehmende – Teilung überlanger Perioden. Gerade auf letzterem Gebiet sollte man Vorsicht walten, sich nicht von dem in einem Großteil der modernen Literaturen üblich gewordenen Telegrammstil dazu verführen lassen, die von dem antiken Dichter bewußt auch syntaktisch gestalteten und fast immer im Dienste eines wesentlichen Sinn- und Stimmungsgehaltes geformten Zusammenhänge zu zerreißen. Die „Medeia“ beginnt nach der Übersetzung E. Buschors5: _____________ 5
Zitiert nach: Griechische Tragödien (Aischylos, Die Orestie. Sophokles, König Oidipus; Oidipus auf Kolonos. Euripides, Medeia), übertragen und erläutert von E. Buschor. Frankfurt a. M. 1961. [Zu Buschor s. o. S. 438.]
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O unseliges Schiff, das durchs dunkle Tor Der Zwillingsfelsen nach Kolchis flog! Unselige Axt, die im Pelionwald Die Fichte traf und die Ruder schuf Für verwegene Jagd der erlesenen Schar Nach dem goldenen Vließ! O unseligste Fahrt Meiner Herrin Medeia zu Pelias’ Burg, Unseliges Glühen für Jasons Herz, Unseliges Drängen zum Vatermord!
Man gestatte dem Verfasser, seinen eigenen Versuch als Gegenbeispiel anzuführen. Er tut es wahrlich nicht, weil er sich einbildet, „es besser gemacht“ zu haben, sondern lediglich, um die gebotenen Möglichkeiten und die beschreitbaren und beschrittenen Wege zu zeigen6: O wäre doch die Argo nicht geflogen bis zum Land der Kolcher, durch die dunklen Symplegaden, und niemals unterm Beil im Tal des Pelion gestürzt die Fichte – hätte sie auch Ruder nicht verschafft der Faust der Helden, die das Goldne Vlies für Pelias gebracht: Dann wäre meine Herrin Medeia nicht zur Burg des Landes von Iolkos gefahren, blind in ihrer Liebe zu Iason; auch hätte sie die Töchter nicht des Pelias zum Vatermord bewogen… [591]
Bewußt hat Buschor das Gefüge des Satzes durch eine Aneinanderreihung von Ausrufen ersetzt, die des Dichters Gedankenführung im einzelnen nicht mehr erkennen lassen, genau so bewußt der Verfasser sich bemüht, den syntaktischen Aufbau des Originals beizubehalten. Nicht auf die Frage der Qualität soll es hier ankommen, sondern auf das Streben des Verfassers, die eigenen Versuche zu begründen und zu erläutern: Nach seiner Definition wäre Buschors Übertragung eine Nachdichtung. Der Verfasser täuscht sich nicht darüber hinweg, daß die Vorstellung, die er sich von einer Übersetzung gebildet hat und der er in seiner Arbeit zu folgen sucht, ein peinliches Risiko für ihn einschließt: Das Risiko, sich der Einsicht in die von ihm zweifellos begangenen und aufgrund seines Verfahrens nicht schwer konkret nachweisbaren Fehler – nicht Freiheiten – beugen zu müssen, ohne sich mit Begründungen wie: Verzicht auf „hausbackene“ Wörtlichkeit – Bewahrung des Sinnes auf Kosten des Buchstabens – Vorrang des gefühlsmäßig erfaßten „Dichterischen“ gegenüber dem in kleinlicher Beschränktheit befangenen Handwerklichen – herausreden zu können. Nicht, als ob er im grundsätzlichen die Richtigkeit der genannten Einwände abstritte; er tut das ihm Erreichbare, um die in ihnen zu Recht angeprangerten Mängel zu vermeiden. Aber er meint, einem Übersetzer, der diesen Namen verdient, stünde es schlecht an, sie als Vorwand zu gebrauchen für ein Ausweichen vor der Pflicht, das überlieferte Wort so ernst wie irgend möglich zu nehmen. Und die beste Methode, solchen Verdacht zu _____________ 6
Zitiert nach: Euripides. Werke in drei Bänden. Aus dem Griechischen übertragen, eingeleitet und erläutert von D. Ebener, Berlin-Weimar 1966.
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beseitigen, sieht er in einer Arbeitsweise, die es dem fachmännisch Prüfenden erlaubt, den Weg des Übersetzers auch dort, wo er sich einmal die Freiheit eines Abweichens gestattet, im Auge zu behalten, d. h. den Übersetzer bei seinem Wort zu packen. Nicht fern steht dem hier gemeinten ersten Gebot einer Übersetzung das von W. Schadewaldt betriebene „dokumentarische“ Übersetzen. Schadewaldt fordert eine vollständige Wiedergabe des Originals, d. h. ein Vermeiden von Auslassungen oder Hinzufügungen, und ein annähernd genaues Beibehalten der griechischen Wortfolge; auf diese Weise sollen die im Original lebendigen Sinngehalte vor jeder Entstellung und Verfälschung bewahrt bleiben.7 Als Beispiel seien die ersten beiden Strophen des Chorliedes im „König Oidipus“ 863 ff.8 angeführt: O wäre mit mir Moira, daß ich trüge Die heilige Reinheit in Worten und Werken allen, Darüber Gesetze bestehen, Hochwandelnde, im himmlischen [592] Äther geborene, denen der Olympos Vater allein ist, und nicht hat sie Die sterbliche Natur von Menschen Hervorgebracht, und nicht, daß jemals Vergessen sie einschläfert. Groß ist In diesen Gott und altert nicht. Unmaß pflanzt den Tyrannen, Unmaß Wenn sichs mit vielem überfüllt hat eitel, Was an der Zeit nicht ist und nicht zuträglich: Zum höchsten Grat hinaufgestiegen, Stürmt aufwärts bis in die abgeschnittene, die Not, Wo es den Fuß nützlich nicht gebraucht. – Doch das zum Guten ist der Stadt, das Ringen: Daß niemals auflöse der Gott es, bet ich. Gott, werd ich niemals aufhören, Als den, der sich vor mich stellt, zu behalten.
Kein Kenner des Griechischen wird daran zweifeln, daß hier mit einer elementar anmutenden Kraft dem Wort des Originals sein Recht zugestanden wird. Freilich erhebt sich die Frage, ob nicht solch ein Bemühen in gewissem Sinne exklusiv bleiben muß, ob nicht allein derjenige, dem ohnehin der Zugang zum Original offensteht, dem Ergebnis einen inhaltlichen Gewinn und einen ästhetischen Genuß entnehmen kann. In einer Zeit, die nur wenigen noch die Möglichkeiten zum Genießen des Originals eröffnet, wird auch die Forderung erhoben werden müssen, Übersetzungen zu schaffen, die, ohne auf philologische Ehrlichkeit zu verzichten, dem weiten Kreise der nicht fachlich vorgebildeten Interessenten die Schätze der griechischen Tragödie einigermaßen zu erschließen vermögen. _____________ 7 8
[S. o. S. 427.] Zitiert nach: König Ödipus. Deutsch von W. Schadewaldt. Berlin u. Frankfurt a. M. 1955.
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Solchem Ziel verschreibt sich R. Schottlaender als Schöpfer einer „wirkungsgetreuen“ Übersetzung. Unter Wirkungstreue versteht er „die jeweilige Erzielung eines spezifischen Effekts, der einen Eindruck reproduziert, wie ihn die Wörter, Sätze und Rhythmen des Originals auf das Publikum gemacht haben müssen“. Solcher Wirkungstreue gibt er nötigenfalls den Vorrang vor der „dokumentarischen“ Treue, ohne diese im Prinzip abzulehnen. Ihm kommt es dabei vor allem darauf an, dem ungezwungenen und anmutigen Stil des Originals auch im Deutschen zu entsprechen und jede Gezwungenheit zu meiden. Er überträgt das soeben angeführte Chorlied wie folgt9: [593] O fiele mir Heiligstrenge Reinheit zu In jedem Wort und jeder Tat, Für die in aller Welt Gesetze gelten, Erhabene, himmlischen Orts Im Äther geborene, deren Vater Allein der Olymp! Sie hat Kein sterblicher Menschengeist Erzeugt, noch wird Vergessenheit je Kommen, die sie Einlullt. Groß zeigt sich in ihnen der Gott, der nie Altert. Der Frevelmut Brütet den Tyrannen aus. Wenn Frevelmut sich üppig bläht Zur Unzeit und zu niemands Nutzen, Versteigt er sich, bis er zuletzt Vom Gipfel herabstürzt in das Elend, Wo keiner den Ausweg sieht. Doch daß ein edles Bemühn Der Stadt zulieb nicht scheitre, darum Bitt ich den Gott Innigst. Ich lasse vom Gott nicht, er ist mein Schutzgeist.
Unschwer sind die Eingriffe in die syntaktische Ordnung des Originals zu erkennen. Hier etwa wird das Prädikat eines Hauptsatzes durch Einführung eines Relativsatzes hervorgehoben; dort ergibt sich aus der Unterordnung eines Prädikats in der Form eines temporalen Nebensatzes unter das zum finiten Verb aufgelöste Partizip ein pointierendes Spannungsfeld. Schottlaender hat sich mit der Darlegung seiner Methode freie Hand gelassen. Er weiß, daß weder er noch seine Leser identisch sind mit dem Publikum, das einst am Hang der Akropolis die Tragödienaufführung auf sich _____________ 9
Zitiert nach: Sophokles. Werke in einem Band. Aus dem Griechischen übertragen, eingeleitet und erläutert von R. Schottlaender. Berlin-Weimar 1966.
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„wirken“ ließ.10 Das subjektive Element seiner Wirkungstreue kann zu einer Gefahr erwachsen, ist aber prinzipiell sein gutes Recht. Keine Übersetzung einer Tragödie, die jenes vorerwähnte Erlebnis mit den ihr gemäßen Mitteln erzielen möchte, kann der subjektiv gefärbten Entscheidung ihres Schöpfers, einer der wichtigsten Voraussetzungen jeder künstlerischen Leistung, entraten. Nunmehr ist der Punkt erreicht, an dem der Blick sich auf das, wie der Verfasser es zu bezeichnen vorschlägt, zweite Gebot einer Übersetzung griechischer Tragödien richten muß. Die Forderung des ersten Gebots ließ sich in ihrer allgemeinen Fassung auch [594] auf Prosatexte anwenden. Aber es wird an den gebrachten Beispielen deutlich geworden sein, in welchem Umfang die erörterten Wege des Übersetzens gerade von den spezifischen Anforderungen, die eine Tragödie stellt, gewiesen worden sind. Und diese gipfeln in der Notwendigkeit, eine der Metrik des Originals angemessene Bindung der Sprache vorzunehmen. Wie kann aber der Übersetzer dieser Notwendigkeit gerecht werden? Die Antwort scheint zunächst nicht allzu schwer zu sein. Sie klingt wider in den zahlreichen Übersetzungen aus älterer und neuer Zeit, die sich gleichsam selbst empfehlen durch den Hinweis, sie böten die „Versmaße des Originals“. Nun gründen sich aber diese Versmaße, bei dem vorwiegend musikalischen Akzent der Griechen damaliger Zeit, auf eine quantitierende Metrik, während unser heutiges Deutsch, bei einem vorwiegend exspiratorischen Akzent, nur eine akzentuierende Metrik kennt, die, wenigstens für die Praxis des mündlichen Vortrags, auf die Silbenquantität keine Rücksicht zu nehmen braucht. Eine Übernahme der originalen Versmaße durch unsere Sprache ist also, streng genommen, gar nicht möglich, und es hat auch keine der genannten Übersetzungen das Unmögliche geleistet. Sie haben das getan, was in natürlicher Weise von unserer Sprache gefordert wird: Sie haben, im ganzen gesehen, die in einer Hebung stehenden Längen des Originals den akzentuierten Silben der Übersetzung gleichgestellt. Dieses Verfahren, dem auch der aus dem antiken Erbe erwachsene Blankvers Shakespeares und der deutschen Klassik seine Entstehung verdankt, ist völlig gesetzmäßig. Nur sollte man in ihm vielleicht weniger eine Wiedergabe der Versmaße des Originals als vielmehr ein der Struktur unserer Sprache gemäßes Umsetzen quantitierender Metrik in akzentuierende erblicken. Hiermit ist die mögliche Behandlung der antiken Form zwar grundsätzlich geklärt. Aber nunmehr heischen weitere Fragen Antwort. Wenden wir uns zuerst dem Sprechvers zu, dem jambischen Trimeter. Er stilisierte die Umgangssprache, d. h. er stellte eine der Umgangssprache nahestehende, maßvoll über sie hinausgehobene Redeweise dar, die im Vortrag gewählt, aber keinesfalls unnatürlich wirken sollte. Letzteres wäre eingetreten, wenn der jambische Trimeter ausschließlich aus reinen Jamben bestanden hätte. Die Tragiker wirkten der Eintönigkeit entgegen einmal durch Zäsuren, ein Mittel, dessen Anwendung auch im Deutschen ohne weiteres möglich ist, zum anderen aber durch die zugelassene Freiheit, den jambischen Fuß zu den Formen eines Spondeus, eines Tribrachys, eines Anapäst, eines „scheinbaren“ Daktylus aufzulösen. Aischylos machte von dieser Möglichkeit noch in geringem Umfang und nur unter jeweils _____________ 10
[Zu Schottlaenders Ausführungen zum Grundsatz des wirkungsgetreuen Übersetzens o. S. 437–441.]
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besonderen, selten eintretenden Bedingungen Gebrauch, Sophokles schon in stärkerem Grade, relativ oft dagegen Euripides. Der Blankvers entspricht der gleichen Forderung durch seinen [595] freien Ausklang, der es gestattet, auf die betonte Schlußsilbe des fünften jambischen Fußes noch eine unbetonte folgen zu lassen. Hierdurch kann sich bei dem Übergang von einem Verse zum anderen die Folge zweier nicht akzentuierter Silben ergeben, somit eine Abwechslung in der Diktion, die bei einer ausschließlichen Verwendung von Versen mit Endhebung selbst bei lebendigstem Vortrag auf längere Zeit hin ermüdend und weniger natürlich wirken müßte. Das in seiner Art klassische Vorbild der Behandlung des jambischen Trimeters im Deutschen ist wohl J. J. C. Donner mit seiner Euripidesübersetzung11, der an die Stelle des Originals einen steigenden Sechsheber mit stumpfem Schluß setzte, den er, vorwiegend allerdings bei Eigennamen, die er vielfach gleichsam aus dem Vers herausnahm, selten durch die Folge zweier nichtakzentuierter Silben im Versinneren belebte. Das Verhängnis dieses Sechshebers ist jedoch eben der gleichbleibend stumpfe Schluß, der bei der akzentuierenden Metrik auf die Dauer ungleich schwerer wiegt als in der quantitierenden. Hierauf zielt das harte Urteil über die „Donnersche Hobelbank“, das U. v. Wilamowitz-Moellendorff aussprach und mit dem er der imponierenden Gesamtleistung des Altmeisters der Tragödienübersetzung sicherlich nicht gerecht wurde, die entscheidende Schwäche seines Sechshebers aber treffend gekennzeichnet hat. Der gleichen Gefahr setzt sich Buschor mit seinem Blankvers ohne freien Ausklang aus, den er bei Aischylos und Sophokles verwendet. Für Aischylos, dem auch im Original eine gewisse „archaische Strenge“ der Form nicht abzusprechen ist, mag dieser Vers angehen, und der Verfasser glaubt auch, daß Buschor bei dem ältesten der drei Tragiker, zu dem er wohl auch das engste persönliche Verhältnis gefunden hat, sein Bestes leistete. Bei Sophokles aber droht der stumpfe Schluß zu einer Entfernung von der natürlichen Rede zu führen, die der schmiegsamen und anmutigen Sprache des Dichters schwerlich entspricht. Bei Euripides endlich hat Buschor – vgl. das obige Zitat aus seiner „Medeia“ – u. a. eine Art anapästischen Dimeters verwendet, die der Würde und Festigkeit der Tragödiensprache kaum gerecht wird, sich aber dafür von der natürlichen Rede noch weiter entfernt. Die Mehrzahl der übrigen Übersetzer, wie etwa U. v. WilamowitzMoellendorff, E. Staiger, L. Wolde, C. Woyte, K. Reinhardt, H. v. Arnim, F. Stoeßl, wendet vorwiegend – wobei auf die teilweise bedeutenden individuellen Unterschiede hier nicht eingegangen werden kann – den Blankvers mit freiem Ausklang oder den Sechsheber nach Donner an, während Schadewaldt, gemäß seiner im grundsätzlichen gewiß richtigen Maxime, Laut, Klang, Betonung, Rhythmus seien ohnehin nicht übersetzbar, die Sprech-[596]verse durch verschieden lange, meist steigend nach jambischer Art rhythmisierte Zeilen wiedergibt. Auf diese Weise geht sicherlich Entscheidendes von der geschlossenen Form der Tragödie verloren; Schadewaldt selbst spricht von der „Kunst des richtigen Opferns“. Wenn trotzdem seine lockeren Verse ihren Eindruck nicht verfehlen und im Sinne seiner „dokumentarischen“ Treue zu Interpretationen hohen Ranges erwachsen, so beweisen sie damit nur, wie zweitrangig im Grunde das _____________ 11
Erstmalig 1841 in drei Bänden erschienen, wiederholt aufgelegt, neuerdings in zwei Bänden in der Bearbeitung von R. Kannicht, mit Anmerkungen von B. Hagen und W. Jens. Stuttgart 1958.
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rein technisch wertbare Rüstzeug überall dort wird, wo, wie hier, eine überragende Übersetzerindividualität sich ausprägt. Eine insgesamt bedeutende Leistung scheint dem Verfasser auch Schottlaenders Sprechvers darzustellen, der, als Sechsheber mit stumpfem Schluß, die Schwächen Donners durch oftmaligen glücklichen Einsatz von Zäsuren vermeidet, aber auch zuweilen behutsam die Aufeinanderfolge zweier nicht akzentuierter Silben im Versinneren zuläßt. Hiermit sollen nicht jene Akzentverschiebungen gemeint sein, die sich wohl meist unfreiwillig einschleichen und jedem nur zu bekannt sind, der sich einmal um die Lösung ähnlicher Aufgaben bemüht hat, wie etwa in der „Antigone“ 453 ff. (vgl. Anm. 7): Auch schien Gebot, das du erläßt, mir so stark nicht, daß über ungeschriebnes, unumstößliches Göttergesetz hinweggehn könnt, wer sterblich ist.,
wo ja eigentlich sinnwidrig „Göttérgesétz“ betont werden müßte. Der Verfasser war gleichfalls bemüht, derartige Verschiebungen auf ein Mindestmaß zu beschränken und sie, wenn überhaupt, nur in Fällen relativ leichter Überschaubarkeit zu dulden, wie in seinem Versuch der Wiedergabe des ersten Verses der „Iphigenie im Lande der Taurer“ (vgl. Anm. 5): Pelops, der Sohn des Tantalos, gewann zu Pisa…,
wo der Vortrag selbstverständlich „Pélops“ verlangt. Nicht derartige Akzentverschiebungen also – von denen im übrigen nicht einmal unsere Klassiker frei sind –, seien gemeint, sondern das Bemühen, im Versinneren Auflösungen nach Art der von den Tragikern selbst angewandten zuzulassen. Schottlaender übersetzt z. B. „Elektra“ 644 f. (vgl. Anm. 7): Gesehn hab ich in dieser Nacht ein Traumgesicht Zweideútiger Árt,…
oder „Oidipus auf Kolonos“ 1 (vgl. Anm. 7): Antígone, Kind des blinden Alten,… [597]
nicht anders als v. Arnim „Die Phönikerinnen“ 28 f.12: Des Pólybos Hírten trugen ihn ins Haus des Pólybos heím,…
Hier erwächst aber auch eine Gefahr, auf die mit Recht schon Br. Snell hingewiesen hat13 und die auf der nun einmal unabdingbaren Verschiedenheit der quantitierenden und akzentuierenden Metrik beruht. Wo der Grieche in natürlicher Weise Länge und Kürze unterschied, folglich dem Wort des Dichters ohne den geringsten Anstoß zu folgen vermochte, betont der akzentuierende Deutsche ohne Rücksicht auf die Quantitäten jedes Wort nach seinem eingebürgerten Akzent, wobei dieser durchaus auch auf einer Kürze liegen kann. Das bedeutete in einem jambisch rhythmisierten Vers _____________ 12 13
Zitiert nach: Zwölf Tragödien des Euripides, übersetzt von H. v. Arnim. Wien-Leipzig 1931. Gnomon 6 (1930), S. 192 f.
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in natürlicher Betonung Antígoné, Pólybós u. a., wie auch C. Woyte „Oidipus auf Kolonos“ 114 wiedergibt: Antígoné, du Kind des blinden Greises, sprich:…
Bei deutschen drei- und mehrsilbigen Worten liegen die Verhältnisse etwas anders. „Die weínende Mútter“, „das schámlose Láchen“, „ein unerho΅ rtes Geschéhnis“ sind uns betonungsmäßig geläufig. Hier läßt sich Schottlaender die gleiche Freiheit wie fast alle Übersetzer – freilich auch nach dem Vorbild unserer Klassiker – und übersetzt etwa „Elektra“ 439 f. (vgl. Anm. 7), durchaus im Einklang mit deutschem rhythmischem Empfinden: Allein schon dies: wär sie nicht auf der ganzen Welt Das frechste Weib, sie täte, die Gehässigé,…
verzichtet aber wenige Verse danach 457 f. auf die bei ihm, wie soeben dargelegt, zugelassene Folge zweier unbetonter Silben: Damit wir künftig unsre Opfergaben ihm Aus vollern Händen schenken,…
mit der Unterdrückung des e in „vollern“, einem Vorgang, der eine Parallele in jener sicherlich nicht völlig vermeidbaren, aber manchmal wohl doch zu bedenkenlos angewandten Elision von Vokalen drei- und mehrsilbiger Worte besitzt, mag nun der Apostroph im [598] Schriftbild erscheinen, wie bei Woyte „Oidipus auf Kolonos“ 966 ff. (vgl. Anm. 11): Denn an mir selber fändest du doch nimmermehr auch nur die Spur von einer Schuld, für die zur Buß’ ich so mußt sünd’gen an den Meinen und an mir…
oder unterdrückt sein, wie es der Verfasser u. a. im „Herakles“ 5 (vgl. Anm. 5) glaubte zulassen zu dürfen: …dort, wo der Sparten erdentsproßne Saat erwuchs,…
Die Gefahr liegt in der Inkonsequenz, mit der von einem und demselben Übersetzer die Folge zweier unbetonter Silben hier zugelassen, dort durch Elision ausgemerzt, an anderen Stellen voll in den Wechsel der jambischen Hebungen und Senkungen eingegliedert wird. Bei solcher Inkonsequenz kann das, was für die quantitierende Metrik eine willkommene Auflockerung bedeutet, bei der akzentuierenden den rhythmisch mitgehenden Leser oder Hörer zum „Stolpern“ zwingen. Bei seinem eigenen Versuch, das Werk des Euripides zu übertragen, hat nun der Verfasser sich in der Wiedergabe des Sprechverses für einen steigenden Sechsheber mit freiem Ausklang entschieden. Den denkbaren Einwand, ein solcher Vers sei zu lang und infolgedessen „schleppend“, hält er für nicht stichhaltig, weil er nur von jemandem ausgesprochen werden dürfte, der ohne Rücksicht auf die Zäsuren lediglich skandiert und jeweils am Versende die Atempause einlegt. Die akzentuierende Metrik des Deutschen aber verlangt in noch wesentlich stärkerem Grade als die quantitierende des Originals ein sinngemäßes Lesen, also ein „Hinwegsprechen“ über das Versende, sofern _____________ 14
Zitiert nach: Sophokles. Oidipus auf Kolonos. Übertragen von C. Woyte. Leipzig 1961.
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dieses nicht mit dem Ende eines Satzes oder Sinnzusammenhanges zusammenfällt, und durchgehende Berücksichtigung der Interpunktion. Im Versinneren hat der Verfasser jegliche Folge zweier unbetonter Silben streng gemieden, dieselbe vielmehr auf die Versübergänge als mögliche Form der Abwechslung beschränkt. Gemieden ist am Versende die Folge zweier einsilbiger Wörter, von denen das erste betont ist. „Troerinnen“ 867 f. (vgl. Anm. 5) hat sich ein Druckfehler eingeschlichen, die Verse müssen lauten: Der ist mit Götterhilfe nun bestraft, er und sein Reich, das unter Griechenspeeren niederstürzte.
Zäsur vor dem Versende ist nicht gemieden, selbst dann nicht, wenn sie vor einem einsilbigen Wort liegt, das dann allerdings betont ist, z. B. „Iphigenie in Aulis“ 1166 f. (vgl. Anm. 5): Und fragt man dich: „Weshalb willst du sie töten?“ – sprich, was sagst du? [599]
Elisionen sind nach Möglichkeit allgemein eingeschränkt. Wo sie vorkommen, beschränken sie sich auf unbetontes e, betreffen aber nie die letzte Silbe eines auf n ausgehenden Wortes; bei zweisilbigen Verbformen wie „habe“, „hätte“, „wäre“ sind sie vorwiegend vor vokalischem Anlaut zugelassen. Beschränkt zugelassen wurden umgangssprachlich (lt. Duden) eingebürgerte Kürzungen wie „unterm“ u. ä. Ganz selten vorkommende Formen wie „ewge“ empfindet der Verfasser als fehlerhaft, hat aber bisher an diesen Stellen noch keine bessere Lösung gefunden. Die der akzentuierenden Metrik gemäße Wiedergabe des trochäischen Tetrameters durch einen fallenden Achtheber mit stumpfem Schluß bedarf keiner besonderen Erörterung, da dieses Versmaß relativ selten erscheint und keinerlei Probleme aufwirft, die sich von denen des Sprechverses prinzipiell unterschieden. Die Aufeinanderfolge zweier betonter Silben am Versübergang bei durchlaufendem Satz wird dem Ethos wie dem Pathos des Originalverses etwa entsprechen. Das Umsetzen quantitierender in akzentuierende Metrik, das beim Sprechvers durchführbar ist und der deutschen Sprache gute Wirkungsmöglichkeiten erschließt, läßt sich in entsprechender Weise auf die lyrischen Partien ausdehnen. Zwar gesteht der Verfasser offen, daß er Verselemente wie etwa die sogenannten äolischen Versgeschlechter u. a. für letzthin sinnvoll und ästhetisch rein genießbar lediglich im Bereich einer quantitierenden Metrik ansieht und aus diesem Grunde schon auf ihre akzentuierende Wiedergabe verzichten möchte. Aber er erkennt an, daß es Meistern der Übersetzung gelungen ist, in ihrem Bemühen um das Festhalten der „Versmaße des Originals“ (bzw. annähernd entsprechender) und ihrer Responsion eindrucksvolle Ergebnisse zu erzielen. Er zitiert als Beispiel die erste Strophe des berühmten Chorliedes aus dem „Oidipus auf Kolonos“ 668 ff. in der Übersetzung von Buschor15: Rossetummelnden Lands Lieblichste Hütten,
_____________ 15
Zitiert nach: Sophokles. Oidipus auf Kolonos. Übersetzung und Nachwort von E. Buschor. Stuttgart 1960.
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Kolonos’ schimmernde Hügel, Nahmen, Fremder, dich auf. Nachtigall liebt dieses Tals Dunkelschattend Gebüsch, Singt die klagenden Lieder, Unter dem Weinlaub des Efeus versteckt, Im strenge verwehrten Hochheiligen Garten, Wo im ewigen Schatten, [600] Im Frieden der Lüfte, Tausend Früchte gedeihen. Dionýsos der Tänzer Kommt selbst mit dem Chor der Göttlichen Ammen.
Die Übertragung Schottlaenders schließe sich an (vgl. Anm. 7): Fremder Mann, dich empfängt ein Land, Roßberühmt, in der Welt die beste Heimstatt. Hellweiß Glänzt der Kolonosfels; Süßdurchdringende Klage schluchzt So reich Nirgends die Nachtigall Aus dem grünenden Waldgrund; Ihr Sitz Efeu, wie Wein fast schwarz, Ihr Flug, Wo zu gehen der Gott Wehrt, im belaubten Gezweige von Früchten schwer, Kein Strahl verbrennt’s, kein Sturmwind Durchtobt’s; Er nur, vom Wein entflammt, Bakchos, schweift dort mit Nymphen – ihnen dankt’ er Als Knäblein die Milch des Lebens.
Aber in der Tat: Die dokumentarische Treue tritt hinter der Wirkungstreue zurück! Bezeichnenderweise sind sich beide Übersetzer darin einig, von vornherein die syntaktische Struktur des Originals umzustoßen, indem sie anstatt des schlichten „…du kamest in…“ die Zielangabe in Verbindung mit einer gewählten Umschreibung zum Subjekt erheben. Allenfalls einzelne Wortgruppen des Originals sind im folgenden noch wiederzuerkennen. Umgekehrt vermag Woyte (vgl. Anm. 11), unter Verzicht auf das „Versmaß des Originals“ und mit Einführung eines freien Rhythmus, den syntaktischen Aufbau des griechischen Textes zu wahren: Zu den rossereichen Fluren, zu der wonnesamsten Stätte, zu Kolonos’ weißer Erde kamst du, Fremdling,…
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Was Schadewaldt seinerseits bewußt im Dienste der von ihm erstrebten dokumentarischen Treue von der antiken Metrik opfert, ist an der vorhin gebotenen Probe seines Schaffens abzulesen. Es ist also offenbar nicht möglich, ein auch nur annäherndes Beibehalten der antiken metrischen Form mit einem diskutablen [601] Grad von philologischer Exaktheit in der Übersetzung zu vereinen. Ein Opfer wird in jedem Fall gebracht werden müssen. Der Verfasser bekennt, daß er, im Sinne seiner oben gegebenen Einschätzung der griechischen lyrischen Versmaße, hier lieber bereit ist, dasjenige preiszugeben, was ihn, auch bei silbenmäßig genauestem Umsetzen, doch bei der Verschiedenheit der vorliegenden metrischen Systeme im Ergebnis in seiner Muttersprache nicht befriedigen kann, als das Element der weitgehend grammatisch treuen Übersetzung, die, unerbittlich am Original nachprüfbar, wenigstens in diesem Punkte dagegen gefeit ist, der heilsamen wissenschaftlichen Strenge zu entgleiten. Und unsere Sprache bietet vielleicht die Mittel, durch sparsamen Einsatz der Möglichkeiten in Wortwahl und Wortstellung und damit verbundener behutsamer freier Rhythmisierung, dem soliden Unterbau solcher Übersetzung lyrische Töne abzugewinnen. In diesem Sinne hat sich der Verfasser an den Chorliedern des Euripides versucht und darf unter die Beispiele, die er anführte, nun auch einen Vorschlag aus eigener Feder setzen, „Bakchen“ 386 ff. (vgl. Anm. 5). Auch hier ist unendlich viel geopfert worden, mehr als eine bestimmte Folge von Längen und Kürzen; man denke nur an das zugespitzte τὸ σοφὸν δ’ οὐ σοφία, das herauszuarbeiten ein würdiger Gegenstand der dokumentarischen Treue wäre und dem eine entsprechende Pointierung zu leihen der Verfasser sich außerstande sah, wenn er nicht wiederum anderes, nach seiner Meinung gewichtigeres, hätte preisgeben sollen: Loser Mund und gesetzverachtende Torheit führen zu bitterem Ende. Ein Leben im Stillen und klarer Verstand stehen fest im Sturm und schirmen die Häuser; denn wohnen die Himmlischen fern auch im Äther, sie sehen der Sterblichen Tun. Klügelei und ein Streben hinaus über irdische Ziele sind Weisheit nicht. Kurz ist das Leben; drum erntet, wer allzu Hohes erstrebt, kaum die Früchte des Tages. Menschen, die derart handeln, sind töricht in meinen Augen und übel beraten.
Der Verfasser steht am Ende seines Bemühens, sich im Kreise derer, die gleich ihm um die Weitergabe eines der kostbarsten Teile unseres kulturellen Erbes ringen, durch
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Diskussion einiger Haupt-[602]probleme über seinen eigenen Standpunkt klarzuwerden. Er möchte wenigstens eine „liebe Last“ des Übersetzers noch genannt haben, die seiner Arbeit innewohnende Verpflichtung zur Interpretation. So selbstverständlich sie ist, so bedarf sie doch wohl besonderer Erwähnung. Der Übersetzer, der auch nach Befriedigung bescheidener literarischer Ansprüche strebt, ist gehalten, zu interpretieren allein durch das vom ihm gestaltete Textwort. Umfangreiche Kommentare, Abwägen des Für und Wider sind nicht äußerer Bestandteil seiner Arbeit; die Entscheidungen, die er zu fällen, die zuweilen verwirrend vielen Möglichkeiten sprachlicher Formung, die er zu durchdenken hat, treten nicht in Erscheinung, wenn er sie auch an anderer Stelle veröffentlichen mag: Sie schmelzen ein in das Wort, dessen Prägung er wagen muß, oft im quälenden Bewußtsein seiner kaum zureichenden Mittel, bedrängt von der Sorge, ob es ihm wenigstens gelinge, das, was er sagen will, unmißverständlich zu bieten, mag es auch objektiv falsch sein16. Unstreitig lastet die Bürde, die doch zugleich höchste Freude ist, auf jedem Übersetzer; nur wird eine literarische Gattung vom Rang der griechischen Tragödie dem, der ihr Wort ernst zu nehmen sucht, das wenigste ersparen. Doch solange es auf der einen Seite den Willen gibt, solchen Ernst walten zu lassen, und auf der anderen Seite die Bereitschaft, das Ergebnis anzunehmen und zu würdigen, braucht die Zuversicht in den Fortbestand und die Höherentwicklung der Menschheit auch in dunklen Stunden nicht zu schwinden.
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Vgl. aus der Fülle der Probleme etwa die Übersetzung von „Andromache“ 1074 f. und 1116, die der Verfasser vorgeschlagen hat, mit den Interpretationen einerseits von Lesky, A., Der Ablauf der Handlung in der ‚Andromache‘ des Euripides, Anz. Österr. Ak. d. Wiss. 84, 1947, S. 99 ff., und Erbse, H., Euripides’ ‚Andromache‘, in: Hermes 94 (1966), S. 276 ff., andererseits von Aldrich, K. M., The Andromache of Euripides, Nebraska 1961, S. 53 f., und Garzya, A., Euripide. Andromaca, a cura di A. G., Napoli 19632, S. XXIX und seinem Kommentar zu den genannten Stellen. Der Verfasser gesteht, bis heute noch zu keiner Entscheidung gelangt zu sein, die ihn voll zufriedenstellte.
Volker Ebersbach Volker Ebersbach (geb. 1942), Klassischer Philologe, Germanist und Schriftsteller, unterrichtete nach Studium (1961–1966) und Promotion in Jena (1967) von 1967 bis 1976 Deutsch als Fremdsprache in Leipzig, Bagdad und Budapest. Seit 1976 lebt er als freier Autor. In seinem schriftstellerischen Werk nahm er verschiedentlich auf die Antike Bezug, so in dem Erzählungsband Der Verbannte von Tomi (1984), dem Jugendbuch Gajus und die Gladiatoren (1985), dem Essayband Rom und seine unbehausten Dichter (1985) sowie den Romanen Tiberius (1991) und Die Weinreisen des Dionysos (1999). Daneben stehen Übersetzungen lateinischer Texte aus Antike, Mittelalter und Neuzeit; zu nennen sind Catull, Vergil, Ovid, Petron, das Waltharilied, der ungarische Humanist Janus Pannonius und der polnische Renaissance-Dichter Jan Kochanowski. Im folgenden Beitrag arbeitet Ebersbach als Ziel die Erreichung von „historischer Textparallelität“ zwischen Original und Übersetzung heraus. Es gehe darum, die „gewesene Modernität“ des antiken Textes dem heutigen Leser durch die Übersetzung erfahrbar zu machen, ohne ihn andererseits über die Distanz hinwegzutäuschen.
Römische Antiquitäten Erfahrungen und Anregungen aus der Werkstatt Aus: Literarisches Übersetzen. Kritik und Probleme von Literaturübersetzern (Werkstattheft 1979 der Übersetzersektion im DDR-Schriftstellerverband), 9–25.
„Es ist so schwer, den falschen Weg zu meiden“ (Mephistopheles)
1. Probleme der Textparallelität Gemeint sei zunächst eine philologische Parallelität, nach der jede Übersetzung für die lexischen, syntaktischen und, bei Lyrik, auch metrischen Mittel des Originals eine weitestgehend richtige Entsprechung in der Sprache finden muß, in die übersetzt wird. Die Übersetzung soll insoweit, als sie eine Art Kopie darstellt, das Original richtig kopieren. Das klingt selbstverständlich und ist es auch, solange es sich um Gegenwartsliteratur handelt. Die Übersetzung von Gegenwartsliteratur, aus welcher Sprache auch immer, hat ihre eigenen diffizilen Probleme. Die Probleme, von denen hier die Rede sein soll, werden um so schwieriger, je älter die Texte sind, mit denen es der Übersetzer zu tun bekommt. Schon wer heute Schriftsteller des 19. oder 18. Jahrhunderts übersetzt, kann bei seiner deutschen Textgestaltung nicht uneingeschränkt von seiner primären gegenwartssprachlichen Kompetenz ausgehen. Er würde sonst nicht nur aus
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einer Sprache in die andere übersetzen, sondern auch aus einer Epoche in die andere. Ein triftiges Argument, dies prinzipiell abzulehnen, läßt sich schwer finden. Aber der Übersetzer kann sich auch durch das Studium der parallelen deutschen Literatursprache dieser Zeit eine sekundäre Übersetzerkompetenz für den Sprachstand der Epoche aneignen, aus der das zu übersetzende Werk stammt. Wie weit dies gehen darf, wie weit es überhaupt möglich ist, das könnte hier höchstens gestreift werden. Es gibt Auffassungen, die sich um dieses Problem eben wegen seiner Verzweigung und Verwinkelung be-[10]wußt nicht kümmern. Wer so vorgeht, muß aber ebenso bewußt vertreten, daß er seiner eigenen Übersetzersprache immer den Vorrang gibt gegenüber der Sprache des Autors, den er übersetzt. Besonders eigenwillige, temperamentvolle, literarisch auch selbst produktive Übersetzer neigen in diese Richtung. Wer Stefan Georges Baudelaire-Übersetzung liest, genießt vorwiegend Stefan George, weniger Baudelaire. Die Frage bleibt, ob eine akademisch-philologisch stubenreine Baudelaire-Übersetzung überhaupt genießbar ist. Heinrich Mann, der sich als junger Romanautor mit voll ausgebildetem, eigenständigem Erzählertalent noch durch Romanübersetzungen etwas hinzuverdiente, trafen postum für seine Übersetzung der ‚Liaisons dangereuses‘ von Choderlos de Laclos vernichtende Vorwürfe: „Heinrich Manns Verdeutschung der „Liaisons dangereuses“ ist ein Musterbeispiel für eine Übersetzung, die mit offenkundig unzulänglichen Mitteln angefertigt ist. Heinrich Mann gab sich zufrieden mit Annäherungswerten, mit dem erstbesten Wortsinn, den er – so sieht es aus – einem Taschenwörterbuch entnommen hatte. Er kümmerte sich nicht im geringsten um den horrenden Unsinn, der dabei herauskam.“1 Die Textbelege aber erweisen nicht mangelnde Sprachkompetenz Heinrich Manns im Französischen – ein Taschenwörterbuch hat er wohl nicht nötig gehabt – , sondern ein Umschmelzen der Sprache des Choderlos de Laclos aus dem 18. Jahrhundert in die um 1900 individuell ausgeprägte Literatursprache des Übersetzers. Hier soll nicht über die beiden angedeuteten Wege bei der Übersetzung relativ neuzeitlicher literarischer Texte entschieden, sondern darauf hingewiesen werden, daß der Haltung beispielsweise Heinrich Manns oder Stefan Georges eine gewisse Logik und Konsequenz innewohnt, die um so deutlicher [11] wird, je weiter wir die philologische Textparallelität literaturgeschichtlich zurückverschieben wollen. Wir erreichen dann nämlich unweigerlich einen Punkt, an dem die Forderung einer sprachlich-philologischen Textparallelität absurd wird. Man müßte schon schwere Bedenken tragen, Cervantes etwa in das Deutsch Grimmelshausens oder einen beliebigen europäischen Dichter des 16. Jahrhunderts ins Lutherdeutsch zu übertragen. Der Individualstil eines Autors tritt um so kräftiger hervor, je weiter seine Epoche zurückliegt. Geht man noch weiter in die Vergangenheit, gerät man in einen Bereich, wo selbst deutsche Texte für den heutigen Leser „übersetzt“ werden müssen: die Minnesänger, die mittelalterlichen Epiker, das Nibelungenlied, die althochdeutsche Dichtung. Dann verliert sich sogar die Spur einer Sprache, die wir noch „Deutsch“ nennen dürften. Auf welche Textparallelität wird es also dem Übersetzer antiker Texte aus dem Griechischen und Lateinischen ankommen? Das scheint mir der Kern des Problems, _____________ 1
Walter Widmer, Fug und Unfug des Übersetzens, Köln 1959, S. 48 ff.
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das mit der Übersetzung aus einer antiken, sogenannten „toten“ Sprache in eine sogenannte „lebende“ verknüpft ist. Das wirft aber auch etwas mehr Licht auf die Problematik der Textparallelität zwischen Sprachen der Neuzeit. Die Römer oder die Griechen waren natürlich niemals „antik“. Sondern sie sind es nur heute für uns, sie sind es nur insoweit, als das Wort „Antike“ einen klaren begrifflichen Hintergrund hat. Wer die philologische Textparallelität zwischen einer Vorlage und der angestrebten Übersetzung abzuwägen hat mit der literatursprachlichen Kompetenz seiner Leser, wird noch mit einem literaturgeschichtlichen Hintergrund von 150, höchstens 200 Jahren rechnen dürfen. Voll ausschöpfen kann er ihn nie, denn die „Patina“ einer Übersetzung wird nie mit dem Individualstil des übersetzten Autors völlig synchron verlaufen und immer etwas Gekünsteltes an sich haben. Der Leserkreis, der erreicht werden kann, verengt sich. Immer tritt bei derartigen Erwägungen eine andere, nicht weniger [12] wichtige Textparallelität hinzu, die hier die historische genannt sei. Die historische Textparallelität gewinnt an Bedeutung, je weiter die Möglichkeit einer philologischen abnimmt. Schon in den oberen Grenzbereichen des Frühneuhochdeutschen ist die Möglichkeit einer philologischen Textparallelität zu zeitlich gleichen fremdsprachlichen Texten praktisch auf Null gesunken, wird die historische Textparallelität die entscheidende. Sie hat generell den Vorrang für Texte aus nichteuropäischen Kulturkreisen. Sie ist auch das handwerkliche Grundgesetz dessen, der aus antiken Sprachen übersetzt. Das hatte bisher zur Folge, daß alle bedeutenden antiken Autoren ihren Jahrhundertübersetzer brauchten, aber nicht immer bekamen. Jede Zeit brauchte nun eigentlich ihren Übersetzer Homers, Vergils, Horaz’, Ovids. Und die Übersetzungen veralten immer schneller. Das ist auch die Ursache dafür, daß die zu ihrer Zeit viel gerühmten Homer- und Vergil-Übersetzungen des Johann Heinrich Voß, die sogar einen Einfluß auf die deutsche Literatursprache seiner Zeitgenossen ausüben konnten, heute den Zugang zu Homer und Vergil eher versperren. Sie sind selbst schon antiquiert. Sie divergieren vom heutigen Sprachgefühl und Sprachgebrauch im lexikalischen und syntaktischen Bestand bereits so weit, daß der Leser gezwungen ist, zusätzlich zum inhaltlichen Erfassen der Epen auch noch die Herstellung einer sprachlichen Parallelität über rund 200 Jahre literatursprachlicher Entwicklung hinweg selbst zu leisten. Das Primat der historischen Textparallelität hat aber auch zur Folge, daß der Übersetzer zugleich die Rolle des Interpretators in einem Maß übernimmt, dessen er sich bewußt werden und das er voll verantworten muß. [13] 2. Parallelitäten der Lexik und der Syntax Gehen wir davon aus, daß bei Übersetzungen literarischer Texte mit zunehmendem Alter der Originale die historische Parallele gegenüber der philologischen einen Vorrang gewinnt, so müssen wir auch beachten, daß beide Parallelen dialektisch miteinander korrespondieren. Die historische Parallele ist selbst an Wort und Satz geknüpft, wie Satz und Wort historischen Verschiebungen unterliegen. Hier sollen nur einige der wichtigsten Fragen angerissen werden, mit denen es der Übersetzer antiker Texte zu tun
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bekommt. Ich beziehe mich dabei im wesentlichen auf Erfahrungen mit lateinischen Texten. Der Wortschatz aller Sprachen hat sich im Lauf der Jahrhunderte beträchtlich erweitert, häufig, aber nicht immer, zugunsten von Deutlichkeit und Eindeutigkeit der Aussage. Diese Erweiterung beruht zumeist auf der historisch bedingten Vermehrung von Gegenständen, Aktionen, Begriffen und Verhältnissen, die sprachlich artikuliert werden müssen. Sie wirkt sich für den Übersetzer auf die Synonymik aus, mit der er arbeitet. Einem lateinischen Wort stehen heute oft mehrere neuhochdeutsche Wörter gegenüber, manchmal jedoch gibt es gar keine Entsprechung, weil es das Ding nicht mehr gibt. Die Interferenzen der Wortfelder erweitern und verschieben sich. Schließlich sind die Wörter, da sie zu jeder Zeit Ausdruck eines bestimmten Denkens und Wertens waren, einem historischen Wandel der mit ihnen verbundenen Denkweisen und Wertvorstellungen unterworfen gewesen. Ein Beispiel sei hier nur genannt: Im klassischen Latein gibt es für die zwei im Deutschen verbal streng verschiedenen, nur psychologisch einander nahestehenden Emotionen Neid und Eifersucht ein einziges Wort: ‚invidia‘. Das selten gebrauchte ‚rivalitas‘ für Eifersucht bezieht sich mehr auf die Existenz eines Nebenbuhlers als auf das Gefühl, das er im Liebenden hervorruft. Es bedarf heute schon einiger psychologischer Überlegung, um eine derartige begriffliche Identität nach-[14]zuvollziehen. Max Frisch gelangt in seinem Tagebuch 1946 bis 1949 erst in langem Nachsinnen zu einem ähnlichen Befund. Dem Übersetzer ist in den meisten Fällen der Kontext bei der Entscheidung behilflich. Und doch ist es nur die deutsche, nicht aber die lateinische Sprache, die ihm die Entscheidung überhaupt erst auferlegt. Und wie entscheidet er in Grenzfällen, wo die im antiken Liebesgefühl tatsächlich gegebene, nur in unserer heutigen Sicht ungewöhnlich anmutende Identität von Neid und Eifersucht gemeint ist? Und wenn der Lateiner schon nur das eine Wort für beides hatte, meinte er dann nicht grundsätzlich immer annähernd beides? Wie kann der Übersetzer dies aber ausdrücken? Das Beispiel soll zu einer Erklärung beitragen, warum die Semantik des Wortschatzes einer Übersetzung gegenüber dem Original, besonders bei hohem Alter der Originale, einem mehr oder weniger starken Farbstich nicht entgehen kann. Wie weit dieser Farbstich von den Farben des Originals abweicht, hängt davon ab, wie weit der Übersetzer mit den außersprachlichen Faktoren vertraut ist, die beim Zustandekommen des lateinischen Textes mitgewirkt haben. Er muß also über Kenntnisse der Geschichte, Kunst und Kultur, der Religion, Philosophie und Wissenschaft der Antike verfügen, er muß sich in die Psychologie der Menschen dieser Zeit vertiefen und ihr Verhältnis zu Grundtatsachen der menschlichen Existenz wie Liebe und Tod erschließen, um die Wahl der Wörter im Deutschen treffen zu können, er muß die historische Parallelität genau herausarbeiten, indem er die historische Divergenz berücksichtigt. Denn jeder lateinische Autor war zu seiner Zeit „modern“, und wenn es schon unmöglich ist, eine philologische Parallelität im Deutschen zu erzielen, wenn es überdies fragwürdig ist, mehr oder weniger geschmackvoll künstliche „Patina“ aufzusetzen, dann sollte man lateinische Autoren auch konsequent in einem modernen Deutsch wiedergeben, allerdings ohne sie gewaltsam zu modernisieren. [15]
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Denn diese Entscheidung birgt ein neues Risiko. Sie verführt leicht zu mehr oder weniger unfreiwilligen, den Farbstich aber wieder intensivierenden Anachronismen. Auf Vokabeln bestimmter gegenwärtiger Jargons oder gar auf territoriale Varianten, zu denen die vulgär-lateinischen Partien beispielsweise eines Petron scheinbar berechtigen, sollte der Übersetzer strikt verzichten. Sie engen den zeitlichen und räumlichen Geltungsbereich seiner Übersetzung viel weiter ein, als es ein Werk der Weltliteratur verdient hätte. Schlimm ist es, wenn in der Übersetzung eines Schwaben römische Provinzler zu schwäbeln beginnen. Ein ähnliches Risiko besteht bei der Behandlung fremdsprachiger Elemente in einem lateinischen Text. Bei Petron wimmelt es von griechischen und zum Teil gar nicht mehr dechiffrierbaren orientalischen Einflüssen. Wenn eine neuere Übersetzung des „Satyricon“2 diese Vokabeln französisch wiedergibt, stellt der Übersetzer für diesen Fall eine historische Parallele auf, nach der griechische Einsprengsel im Munde eines Lateiners etwa eine ähnliche Rolle gespielt hätten wie französische im Munde eines Deutschen. Er überträgt „tricliniarches“ mit „Arrangeur“ (22,6), „frigidum schema“ mit „frostiges Aperçu“ (126,8) und sogar das schlichte lateinische „cena“ (Gastmahl) mit „Souper“ (26,7). Den Leser, der ja weiß, daß er die Romanfragmente eines Römers aus der Zeit des Kaisers Nero gekauft hat, werden diese Wörter in einem im übrigen von zahlreichen antiken Requisiten gekennzeichneten Milieu einigermaßen befremden. Er ahnt, daß die angestrebte historische Parallelität nur gewaltsam hergestellt worden ist, und wäre sicher zufriedener, wenn die griechischen Einsprengsel im lateinischen Text entweder verdeutscht oder als griechische Einsprengsel im deutschen Text erschienen, vielleicht durch sparsame, kulturgeschichtlich informative Anmerkungen erklärt, denn das Wort „Arrangeur“ hilft ihm [16] gewiß nicht weiter als etwa „Trikliniarch“. Das Beispiel zeigt, daß gerade das Bestreben nach Modernität der Lexik auf anachronistische Abwege führen kann. Besonders delikate Probleme gibt nicht nur Petron, sondern auch Catull dem Übersetzer zu lösen auf. Der „antike“ Mensch hatte zur Sexualität und allem, was dazugehört, ein zwar niemals schamloses, aber doch im Vergleich zu uns sehr unverklemmtes Verhältnis. Daß wir im Deutschen für die Bezeichnungen der Geschlechtsteile und dessen, was man damit tut, meistens nur entweder obszöne oder medizinisch neutralisierte, noch dazu häufig aus dem Lateinischen genommene Wörter vorfinden, ist ein sprachliches Erbteil jahrhundertelanger christlich-europäischer Prüderie. Der Übersetzer kann sich in einem belletristischen Text aber nicht mit medizinischen Termini ausdrücken, er kann unmöglich die klinisch weißen und sterilen Begriffe der sexuellen Aufklärungsliteratur verwenden, sonst macht er seinen Autor lächerlich. Aber er muß es auch vermeiden, obszön auszudrücken, was der Autor lediglich freimütig beim Namen genannt hat. Unter den zahlreichen Problemen der Syntax scheint mir das wesentliche, daß die deutsche Grammatik jahrhundertelang auf der Schulbank der lateinischen Grammatik gesessen und sich erst in jüngster Zeit daraus befreit hat. Es war eine Schulbank, aber es waren auch spanische Stiefel. Das akademisch gestelzte Gelehrtendeutsch des 19. Jahrhunderts ist ein erschreckendes Beispiel dafür, wie diese Gefangenschaft sich ausge_____________ 2
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wirkt hat. Die Gefahr für den Übersetzer besteht zum einen darin, daß sich lateinische Texte tatsächlich am leichtesten in dieses lederne Schartekendeutsch übersetzen lassen, weil die Eigenheiten der lateinischen Grammatik genau in die Wundmale der noch nicht emanzipierten deutschen passen und weil einem die überalterten Wörterbücher auch schon die Lexik in dieser Färbung aufdrängen. Zum anderen sind die tiefen Spuren der lateinischen Grammatik in der deutschen auch nicht mit einem Federstrich wegzuwischen. Ohne [17] das Vorbild des Lateinischen hätte das Deutsche niemals die Fähigkeit entwickeln können, so lange, symmetrische, architektonisch durchgebildete und ausgewogene Perioden zu bilden, wie sie in der Prosa Thomas Manns anzutreffen sind. Aber die Entscheidung zwischen hypotaktischer und parataktischer Ausdrucksweise unterliegt zunächst in jeder Sprache eigenständigen, zum größten Teil nicht einmal in Ansätzen erforschten Gesetzmäßigkeiten. Der Übersetzer wird nicht jede lateinische Periode in voller hypotaktischer Staffelung ins Deutsche hinüberheben können. Er darf aber auch nicht bedenkenlos jede lateinische Periode in parataktische Einzelteile zertrümmern. Er muß abwägen zwischen dem gedanklichen Gebäude, das sich im syntaktischen Gebäude des lateinischen Autors vergegenständlicht, und den syntaktischen Möglichkeiten, die ihm die deutsche Gegenwartssprache zu einer möglichst getreuen, kongruenten Kopie an die Hand gibt. Er muß die Emanzipation der deutschen Grammatik von der lateinischen voll respektieren, darf aber auch nicht die Schulung der einen an der anderen verleugnen. Er darf keine Konzessionen an parataktische Zertrümmerungserscheinungen der Gegenwartssprache machen, die im Grunde nur Ausdruck hektischer Oberflächlichkeit und Konzentrationsschwäche sind und auf erschöpfte Gehirne schließen lassen. Dem Betrachter zweisprachiger Textausgaben lateinischer Prosa wird immer auffallen, daß der deutsche Text mehr Raum beansprucht als der lateinische. Das hat teils orthographische Ursachen – der Lateiner benutzt keine Dehnungszeichen und wenig Konsonantenverdoppelungen –, teils auch lexische: Das Deutsche erfordert sowohl bei den Verben als auch bei den Substantiven häufig Komposita bei einem Begriff, für den das Lateinische noch ein Simplex hat. Es hat aber auch syntaktische Gründe. Das Lateinische operiert mit verbal gegenüber dem Deutschen viel kürzeren Konstruktionen wie ablativus absolutus, participium coniunctum, AcI. Der Übersetzer hat sie als syntaktische Komprimate zu behandeln und [18] muß bei ihrer Auflösung in deutsche Syntagmen nicht nur einen größeren Aufwand an Wörtern treiben, sondern oft auch noch zwischen kausalem und temporalem Zusammenhang oder anderen Modalitäten, die das Lateinische manchmal in der Schwebe hält, entscheiden. Das Gerundium ist ein Punkt, wo sich Lexik und Syntax durchdringen: im Lateinischen ein Wort, ist es im Deutschen oft ein Satzteil. Waren diese syntaktischen Komprimate für den Römer Werkzeuge seiner knappen, präzisen, stets durchdachten Ausdrucksweise, so läuft ihre streng schulmäßige Auflösung in deutsche „Nebensätze“ oft Gefahr, den Ausdruck zu zerfasern und zu zerfransen. Der Übersetzer muß unter Umständen den Mut haben, sich syntaktisch weit von schematischen Entsprechungen zu entfernen, wenn er die Lakonik des Originals im Deutschen nachvollziehbar machen will. Er hat der semantischen Kongruenz den Vorrang gegenüber einer rein syntaktischen zu geben. Dazu ist er aber wiederum nur be-
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fugt, wenn er das Wesen der Aussage im Original erkannt hat und in der Lage ist, eine weitestgehend historische Parallele im Deutschen zu finden. Ein syntaktisches Sonderproblem ist der Satzbau in deutschen Übersetzungen lateinischer Versdichtung. Die antiken Versmaße erlauben im deutschen Gewand, das ihnen nicht überall gleich gut sitzt, nur in außerordentlich geringem Maß die Verwendung zusammengesetzter Zeiten, besonders des Plusquamperfekts. Die Koppelung von Partizip Perfekt Passiv und Hilfsverb paßt fast nirgends ins metrische Schema. Aber die im Lateinischen gerade so ungemein genaue Zeitenfolge, die consecutio temporum, erfordert es immer wieder. Der Nachdichter muß hier zuweilen tiefe syntaktische Eingriffe wagen, um das Plusquamperfekt zu vermeiden, die zeitliche Abfolge aber doch richtig und ohne Verkrampfungen darzustellen. [19] 3. Parallelitäten der Metrik Mit dem deutschen Gewand der antiken Metrik hat es seine besonderen Eigenheiten. Hier hilft die historische Parallelität nichts. Man kann weder Catull in Knittelversen noch Horaz in freien Rhythmen als authentische Nachdichtungen lateinischer Versdichtung ansehen, obwohl das Mittelalter instinktiv gerade an dieses Problem bereits mit historischer Parallelität herangegangen ist: die ersten deutschen Übertragungen antiker Versepen erschienen in teutschen Knittelversen. Das 18. Jahrhundert hat antiken Versmaßen ein Heimatrecht in der deutschen Dichtung verschafft. Deutsche Dichter und Nachdichter, allen voran Klopstock, Voß, Goethe, Schiller und Hölderlin, schufen deutsche Entsprechungen des Hexamters, des elegischen Distichons, der Strophenformen Sapphos, Alkaios’ und Archilochos’. Sie mußten dabei mehr oder weniger bewußt und konsequent den tiefen Abgrund zwischen antiker und deutscher Metrik überbrücken: Die antiken Versmaße verfahren konsequent quantitierend, d. h. der Versrhythmus unterwirft sich den Längen und Kürzen im Lautbestand des Wortmaterials, dem Gewicht der Silben, und unter Umständen verschiebt sich der Wortakzent im Vers zugunsten der Quantität. Das liegt in der Natur der antiken Sprachen, in denen sehr genaue vokalische Quantitäten bestehen. Die Quantitäten hängen sogar von der konsonantischen Umgebung der Vokale ab. Ein Vokal vor Konsonantenhäufung wird „gelängt“, er erhält „Positionslänge“. Auf derlei Abhängigkeiten baut die relative Freizügigkeit der antiken Metren auf. Das Ungarische, das ebenso genau die Vokallängen differenziert, bietet das paradoxe Beispiel, daß gerade eine nicht indoeuropäische Sprache unter den Gegenwartssprachen am ehesten in der Lage ist, die quantitierenden antiken Versmaße zu kopieren. Das Deutsche dagegen besitzt einen festen, unverrückbaren Wortakzent, der zu den Quantitäten der Silben in keiner [20] lenkbaren Beziehung steht. Folglich waren und sind alle deutschen Versmaße konsequent akzentuierend, d. h. der Rhythmus stellt sich nur unter konsequenter Einhaltung der einzelnen Wortakzente ein. Der deutsche Vers ist, gemessen an den ästhetischen Bedingungen des antiken, nur rhythmisch arrangierte Prosa. Er bedurfte deshalb lange noch des Reims zur Legitimation als Vers, während sich reimende Versschlüsse in der Antike unter die „Kakophonien“ zählten, unter
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die Mißklänge. Wer ein deutsches Gedicht in antikem Versmaß liest, hat es also mit einem Gebilde zu tun, das sich in seinem ästhetischen Mikrokosmos grundlegend vom Original unterscheidet. Er liest eine akzentuierende Kopie quantitierender Verse. Kein deutscher Dichter hat es jedoch für nötig befunden, vor diesem Dilemma zu resignieren. Im Gegenteil: Klopstocks und Hölderlins Oden, Goethes Elegien und Brechts Versuch, das Kommunistische Manifest in Hexameter zu gießen, sind berühmte Beispiele dafür, daß die akzentuierenden Kopien quantitierender Metren zu einem ganz eigenständigen Mittel der deutschen Literatursprache geworden sind und in deutschen Ohren einen vertrauten Klang erworben haben. Hat sich der Nachdichter aber nun einmal damit abgefunden, daß er den quantitierenden Gesetzlichkeiten des antiken Verses nur akzentuierende Entsprechungen gegenüberstellen kann, so sollte er auch den Ehrgeiz über Bord werfen, außer dem Wortakzent in seinem deutschen Vers auch noch die Quantitäten schulgerecht zu verteilen. Das gliche dem Versuch einer Quadratur des Kreises. Ein beträchtlicher Teil des deutschen Wortschatzes, nämlich alle Wörter, die den Akzent auf kurzem Vokal tragen oder eine lange unbetonte Silbe haben, fiele für die Versdichtung unter den Tisch. Der Nachdichter würde nur noch über einen ausgeplünderten, mit erzwungenen Synonymen und unnötigen Füllseln notdürftig wiederhergestellten Wortschatz verfügen und, wie manche professoral gebastelte Übersetzung antiker Autoren aus dem vorigen Jahrhundert zeigt, [21] am Ende doch einen langen Katalog von Inkonsequenzen aufweisen. Ein solches Vorgehen wird schließlich dadurch gründlich frustriert, daß der Leser, der die Gesetze quantitierender Versmaße meist gar nicht kennt, keine der metrischen Finessen nachvollzieht, aber stattdessen über die lexischen und syntaktischen Sturzäcker solcher Übersetzungen stolpert und sich über ihre gelegentliche unfreiwillige Komik wundert, wenn er nicht gleich aufgibt. Die unausweichliche Grundentscheidung des Nachdichters für den Akzent eröffnet ihm hingegen ganz neue Möglichkeiten. Er braucht sein metrisches Geschick nicht allein auf den Wortakzent zu beschränken, sondern er darf und soll es auf die Satzintonation ausdehnen. Nimmt man nämlich den Satz als rhythmisch-metrisches Ganzes, wird das Akzentgefüge seines Wortbestandes wieder variabler, die Verse werden geschmeidiger, eine natürliche Wortstellung wird erreichbar, das Plusquamperfekt läßt sich gelegentlich doch unterbringen, der Rhythmus muß nicht mehr vom Leser bewußt hineinskandiert werden, sondern er stellt sich durch den bewußten Einsatz der natürlichen, syntaktisch bedingten Rhythmik der deutschen Sprache von selbst ein: Auch wer das Schema des Verses gar nicht kennt, liest ihn im optimalen Fall von allein richtig. Der Rhythmus selbst kann wiederum rückwirkend die Satzintonation durch Hervorhebung einzelner, besonders einsilbiger Wörter so regulieren, wie es der Satzsinn erfordert. Damit hat der Nachdichter sich bei scheinbarer Entfernung vom Originaltext in höchstmöglichem Grad seinem Wesen genähert.
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4. Episches Versmaß und epische Prosa Es wurde behauptet, daß jede Zeit ihre eigenen Übersetzer antiker Texte brauchte. Es muß hinzugefügt werden, daß weder die Zahl der vorhandenen Übersetzer noch deren Lebenszeit noch die Honorare, die dafür bereitgestellt werden, ausreichen, um die antike Literatur, wie es erforderlich wäre, insgesamt für unsere Zeit neu zu übersetzen, damit die [22] vielen verkrampften, gestelzten, verstaubten Übersetzungen sprachlich zwar kompetenter, künstlerisch aber untalentierter Gymnasialprofessoren aus dem vorigen Jahrhundert endlich aus dem Verkehr kommen. Diese Prokrustesbetten der deutschen Sprache, aus deren Lektüre man mit dem Gefühl von verdrehten Gelenken und verbogenen Wirbeln entlassen wird, haben leider uns Heutigen den Zugang zu weiten Teilen der antiken Literatur verstellt. Auch Meister Voß entging nicht immer unfreiwilliger Komik. Die Originale kann aber nur noch eine verschwindende Minderheit lesen. Dabei ist es noch gar nicht so lange her, daß Heinrich Heine einen gewissen Maßmann, Gegenstand seiner literarischen Verachtung, in der deutschen Öffentlichkeit unmöglich machen konnte, indem er ihm bei jeder sich bietenden Gelegenheit nachsagte, er könne nicht Latein ( – was übrigens, wie Heine später selbst gestand, nicht einmal stimmte). Heute ist die Leserschaft bei der Erschließung antiken Kulturgutes, das doch einen wesentlichen Bestandteil der allseitig gebildeten sozialistischen Persönlichkeit ausmachen sollte, fast ausschließlich auf Übersetzungen angewiesen. Und da es vor allem auch gilt, Interesse zu wecken, Enttäuschungen abzubauen, wäre das Beste gerade gut genug. Zahlreiche Autoren der DDR haben sich bemüht, antike Literatur durch Nacherzählungen einem breiten Leserpublikum zu erschließen. Aber bei allem kulturpolitischen Verdienst können diese Arbeiten in unserem Kulturbewußtsein die Originale bzw. originalgetreue Nachdichtungen nicht ersetzen. Sie sollten vielmehr zu ihnen hinführen. Sie leisten viel bei der Weitergabe der Substanz antiker Literatur, befrachten sie aber unwillkürlich mit individuellen Interpretationen. Sie ersetzen allenfalls die Leistung Gustav Schwabs, dessen Nacherzählungen das Schicksal des Veraltens mit den Übersetzungen, auch den gelungensten, seiner Zeitgenossen teilen müssen. [23] In dieser Situation stellt sich die Frage, wie weit die Nachdichtung antiker Versepen in epischer Prosa vertretbar ist. Sie soll hier nicht beantwortet werden. Die Wirklichkeit hat sie mit ihren gegenwärtigen ökonomischen Relationen von Aufwand und Nutzen im Grunde schon beantwortet. Hier sollen nur die Möglichkeiten und Risiken dieser Arbeitsweise umrissen werden. Vergils „Äneis“ beispielsweise in Prosa: das bedeutet Verzicht auf einen wesentlichen formal-ästhetischen Stützpfeiler dieses Kunstwerkes, auf das von Homer überlieferte heroisierende epische Versmaß des Hexameters. Der Nachdichter kann aber nicht einfach Verse in Prosa auffädeln. Er muß beachten, daß der eigengesetzlichen Syntax der Versdichtung eine syntaktische Eigengesetzlichkeit der Prosa gegenübersteht. Er muß auch die lexischen Entsprechungen, die er wählt, daraufhin überprüfen, wieweit sie verstypisch sind oder auch in der Prosa, ohne Befremden zu erregen, ihren Platz finden. Es stellt sich heraus, daß der eine formale Eingriff, der Verzicht auf den Vers,
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weitere Eingriffe nach sich zieht. Ob ein lesbarer Text dabei herauskommt, der es noch verdient, als Vergils „Äneis“ bezeichnet zu werden, hängt von dem Geschick ab, mit dem der Nachdichter hier von Fall zu Fall entscheidet. Vergil kommt ihm aber auch entgegen. Was das epische Versmaß mit einer epischen Form verbindet, ist eben das gemeinsame Epische. Vergil schildert Abläufe, Zustände, Gefühle und Reden so meisterhaft, seine Vergleiche und Bilder sind so farbkräftig und stimmig, daß sie auch in Prosa noch ihre Leuchtkraft bewahren. Außerdem hält den Nachdichter nichts davon ab, seine Prosa daktylisch zu rhythmisieren, um ihr den heroisierenden Klang, wo er ausschlaggebend ist, wiederzubringen. Unterlag doch die Eindeutschung des Hexameters selbst zu großen Konzessionen, als daß daraus ein formaler Fetisch gemacht werden dürfte. Schließlich hat eine Prosafassung auch einen entscheidenden Vorteil, dessen Gewicht durch die Pro-[24]blematik der historischen Parallelität von Lexik und Syntax festgelegt ist: Wenn der Verszwang wegfällt, der ja bei der Nachdichtung immer auch eine Begrenzung der Silbenzahl für eine bestimmte Aussage darstellt, gewinnt der Nachdichter die Freiheit zu höherer lexischer Genauigkeit. Er braucht nicht mehr unter metrischem Zwang auf Synonyme auszuweichen, die semantisch mehr oder weniger abweichen und den Farbstich erzeugen. Er kann lexische Schichten aufdecken. Dasselbe gilt für die Syntax, die durch den Verszwang immer in ihrer Beweglichkeit eingeengt ist. Diese Beobachtungen beziehen sich allerdings nur auf Nachdichtungen lateinischer Versepen, da das Lateinische sich oft einer so gedrängten Diktion bedient, daß der Nachdichter fast immer seine Not hat, die ganze Aussage im Deutschen mit der gleichen Silbenzahl wiederzugeben. Das Griechische schafft mit seinen mehrsilbigen Endungen an den Nomina mehr Raum, so daß mitunter der umgekehrte Fall eintritt: der Nachdichter ist darum verlegen, die Zeile voll zu bekommen. Die Entscheidung für eine Nachdichtung in Versen stellt das Produkt von vornherein unter die Vorherrschaft der Metrik. Das bedeutet zumeist gewisse Zugeständnisse an die Genauigkeit von lexischer und syntaktischer Parallelität. Bei kleineren Gebilden wird die Entscheidung auf Grund der dominanten ästhetischen Funktion des Verses immer zu dessen Gunsten ausfallen. Bei den großen Epen hingegen scheint mir ein Umschmelzen von Versepik in epische Prosa vertretbar, wenn alle Faktoren, die dabei eine Rolle spielen, gebührend beachtet werden. 5. Die Römer waren nicht antik Dieser Erfahrungsbericht bleibt notwendig fragmentarisch. Bei der Begrenztheit des Raumes mußte auf erhärtende Beispiele weitgehend verzichtet werden. Dies soll nicht mehr sein als eine Sammlung von Überlegungen, die demjenigen entschlüpfen, der sich bei seiner Arbeit in der Werkstatt ein Weilchen auf [25] die Finger sehen läßt. Immer würde er das nicht dulden, schon um arbeiten zu können. Aber aus dem spezifischen Bereich, mit dem er es zu tun hat, gehen gewiß Anregungen für andere Übersetzer hervor, gerade weil verschiedene Übersetzungsprobleme sich an seinem Gegenstand extrem zuspitzen.
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Wie jeder Dichter von weltliterarischer Bedeutung, so waren auch die Römer zu ihrer Zeit keineswegs „antik“, sondern jedesmal modern und aktuell. Wer sie übersetzt, muß sie möglichst leicht, aber auch möglichst unverfälscht ins Bewußtsein der Leser bringen. Er muß fühlbar machen, wie aktuell der Autor zu seiner Zeit wirkte, darf aber auch nicht darüber hinwegtäuschen, wie alt er ist und wie grundverschieden die Welt, in der er lebte, von der unseren war. Er muß die gewesene Modernität des antiken Autors davor bewahren, zur Antiquität zu werden. Er kann nicht wie in der bildenden Kunst oder im Kunstgewerbe mit einem nostalgischen Interesse für Antiquitäten rechnen. Aber gerade das ermöglicht es ihm, mit seiner nachschaffenden Tätigkeit an seinem Autor das herauszuarbeiten, wodurch er über Jahrtausende hinweg modern geblieben ist.
Manfred Fuhrmann Manfred Fuhrmann (1925–2005), Latinist und Übersetzer, hatte von 1947 bis 1953 Klassische Philologie und Jura in Freiburg i. Br. und Leiden studiert. Nach Promotion (1953) und Habilitation (1959) in Freiburg war er seit 1962 Ordinarius in Kiel, bevor er 1966 an die neugegründete Universität Konstanz überwechselte. Seit dieser Zeit war er Mitglied der interdisziplinären Forschergruppe „Poetik und Hermeneutik“. In seiner Konstanzer Antrittsvorlesung Die Antike und ihre Vermittler (1969) trat Fuhrmann für Reformen innerhalb der Klassischen Philologie ein. Eine klare Abgrenzung von Gräzistik und Latinistik sollte sich mit der Ausweitung des jeweiligen Zuständigkeitsbereiches über die Antike hinaus verbinden. Sein Engagement für die Vermittlung der Antike über Universität und Wissenschaftsbetrieb hinaus fand einerseits in seinen vielfältigen Kontakten zu Schule und Lehrerschaft Ausdruck, andererseits in seiner wissenschaftlichen Produktion, in der Einführungen (Dichtungstheorie, Rhetorik), Biographien (Cicero, Seneca) und eben Übersetzungen vor allem lateinischer, aber auch griechischer Literatur einen wichtigen Platz einnahmen (Aristoteles’ Poetik, Platons Apologie und Kriton, Ciceros Reden, Tacitus’ Germania, sowie Texte von Prudentius, Hieronymus und Heinrich Bebel). Für seine Cicero-Übersetzung wurde er 1990 mit dem Johann-Heinrich-Voß-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet. Fuhrmann äußerte sich in zahlreichen Vorträgen und Aufsätzen zu Fragen der Übersetzung antiker Literatur. Im folgenden Aufsatz unternimmt er eine Kategorisierung von Schreibweisen antiker Texte, denen er verschiedene Übersetzungsmaximen zuordnet, und wirft die Frage auf, inwieweit das Konzept der dokumentarischen Übersetzung, das Schadewaldt an Dichtung entwickelt und erprobt hatte, auf Kunstprosa übertragen werden könne.
Die gute Übersetzung. Was zeichnet sie aus, und gehört sie zum Pensum des altsprachlichen Unterrichts? Aus: Der Altsprachliche Unterricht 35, 1 (1992), 4–20.
Der Titel dieser Betrachtung könnte auch lauten: „Das ausgangs- und das zielsprachenorientierte Übersetzen antiker Autoren vom 18. Jahrhundert bis heute“. Die eine Überschrift hebt hervor, wozu, was hier gesagt wird, in der Praxis des altsprachlichen Unterrichts dienen soll, die andere versucht, die Sache zu umschreiben, um die es dabei vor allem geht, um das uralte Problem des sei es ‚wörtlichen‘, sei es ‚freien‘ Übersetzens. Der Argwohn scheint nicht unbegründet, daß hier noch eine Lücke im sonst recht dichten Netz der altsprachlichen Didaktik und Methodenreflexion besteht, eine Ni-
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sche gleichsam für jemanden, der das Übersetzen eher aus dem Blickwinkel des Verfertigers von Übersetzungen, weniger aus dem eines Lehrers in den alten Sprachen zu betrachten gewohnt ist. 1 Übersetzen als Gegenstand der Didaktik Daß die altsprachliche Didaktik die Probleme des Übersetzens schlechtweg unerörtert ließe, wäre ein arges Fehlurteil und soll somit keineswegs behauptet werden – sie hat sie schon immer erörtert und erörtert sie heutzutage mit besonderem Eifer. Hierbei ging und geht es ihr allerdings nicht um das, was ein Übersetzer meint, wenn er vom Übersetzen spricht; es geht ihr vielmehr um das Verstehen altsprachlicher Texte im Medium der [5] deutschen Muttersprache, darum also, wie den jungen Adepten der alten Sprachen das Eindringen in die dunklen Chiffren, in die gehüllt sich ihnen die antiken Texte zu präsentieren pflegen, erleichtert werden kann. Mit einem Wort, die Aufmerksamkeit der Didaktiker konzentriert sich auf die Schwierigkeiten, welche altsprachliche Texte den Lernenden bereiten; man führt Techniken oder Methoden vor, die ihnen dazu verhelfen sollen, dieser Schwierigkeiten durch schrittweis vorgehendes Entschlüsseln Herr zu werden. Hierzu dienen das Konstruieren, das Analysieren, das ‚wortwörtliche Übersetzen‘ und ähnliche Prozeduren1; hierzu dienen weiterhin Verfahren, die den Dechiffrierprozeß optisch zu unterstützen suchen, wie die ‚Buchstabenmethode‘ und anderes, bis hin zur ‚Kästchenmethode‘.2 Die Übersetzungstheorie der altsprachlichen Didaktik bleibt mit alledem – was ja auch ihrer Aufgabe, dem Schulalltag förderlich zu sein und für die dort auftretenden Probleme Hilfen bereit zu halten, nur gemäß ist – sozusagen der Infrastruktur der eigentlichen Übersetzungsarbeit verhaftet, und sie pflegt dort aufzuhören, wo für den geübten oder gar professionellen Übersetzer die Schwierigkeiten erst richtig anfangen: für ihn ist ja nicht der Verstehensvorgang die Hürde, die ihm ernstlich Sorge macht, sondern das deutschsprachige Produkt, das er herstellen und das bestimmten Ansprüchen genügen soll. Kurz, die altsprachliche Didaktik, die doch ständig um das Übersetzen kreist, gibt kaum Hinweise, was eine wahrhaft gute Übersetzung sei, und kaum Rezepte, die den Schüler anleiten, selber eine gute Übersetzung anzufertigen. Diese Enthaltsamkeit scheint, jedenfalls bei einem Teil der Didaktiker, auf gewolltem Verzicht zu beruhen. „Erst jetzt, nachdem alle Einzelheiten geklärt sind, also Inhalt, Sinn und logische Verknüpfung aller Satzteile und Nebensätze erfaßt sind, können wir uns die Aufgabe stellen, den gesamten Text in deutscher Sprache wiederzugeben. Es fragt sich allerdings, ob das noch nötig ist.“3
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S. R. Nickel: Altsprachlicher Unterricht, Darmstadt 1973, s. 119 ff., und: Die Alten Sprachen in der Schule, Kiel 1974, S. 130 ff. Fr. Maier: Lateinunterricht zwischen Tradition und Fortschritt, Bd. 1, Bamberg 1979, S. 205 ff. N. Wilsing: Die Praxis des Lateinunterrichts, Bd. 1, Stuttgart 19642, S. 144.
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„Nicht das Übersetzte, d. h. der Text ist das Bildende, sondern das Übersetzen, nicht die Grammatik, sondern das Verstehen fremder Strukturen.“4 „Der Übersetzungs-Vorgang ist der produktive Prozeß, bei dem gedacht, verstanden und dazugelernt wird; die fertige Übersetzung selbst kann zwar dem Schüler Befriedigung darüber gewähren, daß dieser Prozeß erfolgreich abgeschlossen wurde … einen Eigenwert hat das Endprodukt um so weniger, als für alle Texte deutsche Übersetzungen leicht zu erhalten sind, mit denen die Schülerleistungen nicht konkurrieren können.“5
Auf das Verstehen, nicht auf das Übersetzen kommt es an, und: den gedruckten Übersetzungen vermag der Schüler es doch nicht gleichzutun – diesem wohl vorherrschenden Tenor stehen zwar Stimmen gegenüber, die auf die Untrennbarkeit von Sinnerschließung [6] und Übersetzung hinweisen6 (es sei denn, jemand beherrsche die alten Sprachen derart, daß er in ihnen wie in seiner Muttersprache zu ‚denken‘ vermöchte), gleichwohl: zu einer Rezeption der wichtigsten Kategorien und Maximen der gegenwärtigen und zugleich uralten, auf Cicero und Hieronymus zurückgehenden Übersetzungstheorie und zu ihrer Anwendung im altsprachlichen Unterricht ist es offenbar bis jetzt noch nicht gekommen. Die Essentialien der heutigen Übersetzungstheorie verdienen noch aus einem anderen Grunde die Aufmerksamkeit des Lehrers der alten Sprachen: Die gedruckten Übersetzungen antiker Literaturwerke haben, sei es in zwei-, sei es in einsprachigen Ausgaben, längst Eingang in den altsprachlichen Lektüreunterricht gefunden, nicht als quasi illegitimes, allenfalls geduldetes, sondern als durchaus vollwertiges Element neben der Lektüre und Interpretation im Original. Eine nicht geringe Anzahl von Abhandlungen7 erörtert die Verwendungsmöglichkeiten, unter denen offenbar – neben der motivationsfördernden Wirkung – zwei ein besonderes Gewicht haben: 1. Nur mit Hilfe von Übersetzungen läßt sich ein wesentlicher Aspekt großer Literaturwerke – eines Dramas, eines Epos, einer historischen Schrift im Umfang mehrerer Bücher – noch zulänglich bewältigen: die Makrostruktur, die Komposition des Ganzen, auf der ein gut Teil der Absicht und Wirkung des betreffenden Werkes zu beruhen pflegt. 2. Der Vergleich einer oder mehrerer Übersetzungen mit dem Original veranschaulicht nachdrücklicher als jedes andere Verfahren die Kluft, welche die alten Sprachen durch ihre Semantik und Phraseologie, durch ihre Syntax und ihre stilistischen Möglichkeiten vom modernen Deutsch trennt; er macht die Möglichkeiten und Grenzen allen Übersetzens deutlich und bestätigt die Richtigkeit des bekannten Wortes von Schadewaldt, daß Übersetzen die Kunst des richtigen Opferns sei.8 _____________ 4 5 6 7 8
E. Hermes: Latein in unserer Welt, Gymnasium 73, 1966, S. 115, mit Berufung auf A. Mitscherlich, Auf dem Wege zur vaterlosen Gesellschaft. D. Lohmann: Die Schulung des natürlichen Verstehens im Lateinunterricht, AU XI/3, 1968, S. 37. So z. B. R. Nickel, Altsprachl. Unt. (s. Anm. 1), S. 106. S. das Literaturverzeichnis bei R. Nickel: Die Arbeit mit Übersetzungen, in: W. Höhn/N. Zink (Hg.): Handbuch für den Lateinunterricht, Sekundarstufe II, Frankfurt/M.-Berlin-München 1979, S. 203 ff. W. Schadewaldt: Antikes Drama auf dem Theater heute, Pfullingen 1970 = Hellas und Hesperien, Zürich/Stuttgart 19702, Bd. 2, S. 650–671, hier S. 658.
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Auch diese durchaus zutreffenden Feststellungen lassen eine gewisse Beschäftigung mit der heutigen Übersetzungstheorie als geraten erscheinen: eine Übersetzung und ihr Verhältnis zum Original vermag nur zu beurteilen, wer die Pflicht und die Kür des Übersetzers kennt, d. h. wer weiß, was ein Übersetzer in jedem Falle leisten muß und was er, je nach seinen besonderen Absichten, sei es so, sei es anders wiedergeben kann. Es kommt hinzu, daß zwar die semantischen Differenzen zwischen antikem Original und moderner Version jedem sofort in die Augen springen, der mit der Sache, der Kultur der Griechen und Römer, vertraut ist (weshalb denn in den einschlägigen Betrachtungen gerade dieser Aspekt hervorgehoben wird), daß sich indes die stilistischen Eigenheiten von Original und Übersetzung offenbar erst dem richtig bemerkbar machen, der sich ein wenig mit dem theoretischen Handwerkszeug des Übersetzers vertraut gemacht hat. [7] 2 Theorie der literarischen Übersetzung Die Übersetzungstheorie, anspruchsvoller auch Übersetzungswissenschaft genannt, ist vornehmlich eine Domäne der Linguisten, zumal derer, die an Dolmetscherschulen lehren. Dort hat man sich allerdings, nicht selten mit einem etwas übertriebenen Aufwand an Terminologie, hauptsächlich den Gebrauchstexten der Lebenswirklichkeit gewidmet und die dort praktizierte Routine in Regeln gefaßt – was nicht hindert, daß auch der auf Literatur spezialisierte Philologe einiges daraus lernen kann.9 Auch die neueren Philologien befassen sich nicht wenig mit dem Geschäft des Übersetzens und den dabei geltenden Regeln, wobei sie sich, wie es ihnen zukommt, vor allem der ‚literarischen Übersetzung‘ in Geschichte und Gegenwart annehmen. Als herausragendes Ereignis auf diesem Felde sei die Ausstellung erwähnt, die das Deutsche Literaturarchiv im Schiller-Nationalmuseum Marbach (Neckar) im Jahre 1982 veranstaltet hat: „Weltliteratur – Die Lust am Übersetzen im Jahrhundert Goethes“; der Katalog, der sie begleitete10, ist eine Fundgrube zumal für Altphilologen. Erwähnt sei weiterhin, daß sich an der Universität Göttingen ein Sonderforschungsbereich „Die Literarische Übersetzung“ etabliert hat, der inzwischen mit einer erklecklichen Anzahl von einschlägigen Monographien an die Öffentlichkeit getreten ist. Der Klassischen Philologie steht, da sie sich der ältesten und folgenreichsten Literaturwerke innerhalb der antik-europäischen Kulturtradition annimmt, Material von schier unübersehbarer Fülle zu Gebote.11 Sie hat dieses Material auch durchaus zur Kenntnis genommen und in zahlreichen Einzeluntersuchungen beschrieben; insbesondere gehört das Verhältnis der römischen Literatur zur griechischen, das ja weithin _____________ 9 10 11
Dem Verfasser ist dies insbesondere durch das Studium des Buches von W. Wilss: Übersetzungswissenschaft. Probleme und Methoden, Stuttgart 1977, widerfahren. Hrsg. von R. Tgahrt u. a., Marbach 1982. Für die griechische Literatur sei auf den Überblick von H. Flashar: Formen der Aneignung griechischer Literatur durch die Übersetzung, Arcadia 3, 1968, S. 133–156 = Eidola. Ausgewählte Kleine Schriften, hrsg. von M. Kraus, Amsterdam 1989, S. 486–508, verwiesen; für die lateinische Literatur scheint etwas Ähnliches noch nicht zu existieren.
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unter die Kategorie Übersetzung fällt, seit langem zu den bevorzugten Gegenständen des Faches. Die Impulse indes, die von der neueren Rezeptionstheorie und -geschichte ausgehen könnten, haben dort einstweilen nur wenig Resonanz gefunden, und so fehlt es an autoren-, gattungs- und epochenübergreifenden Untersuchungen in antikeuropäischem Rahmen: über die jeweils vorherrschenden Techniken des Übersetzens und über die je maßgeblichen Zielgruppen von Übersetzungen, über den Einfluß der jeweils herrschenden Anstandsbegriffe auf die Wiedergabe freizügiger Texte, über die Probleme, die Dialekte oder Fachterminologien aufgeben, und anderes mehr.12 Mit der heutigen Übersetzungstheorie schließlich hat die Klassische Philologie offenbar noch so gut wie nichts anfangen können, obwohl deren Kategorien und Modelle gewiß nicht nur dem Anfertigen neuer, sondern auch der Analyse vorhandener Übersetzungen dienlich sein können. [8] Wolfgang Schadewaldt ist, jedenfalls im deutschen Sprachgebiet, die herausragende Ausnahme auf dem Felde der Übersetzungstheorie. Er hat sich nicht nur praktisch als Übersetzer betätigt (das taten und tun viele Altphilologen, wohl nicht zuletzt deshalb, weil sich die professionellen Verfertiger literarischer Übersetzungen an antike Werke nur selten wagen), er hat hierüber auch wiederholt Rechenschaft abgelegt – mit Reflexionen und Maximen, an denen kein Übersetzer und kein Kritiker von Übersetzungen antiker Texte vorübergehen sollte. Für die Zwecke der vorliegenden Skizze ist vor allem die letzte einschlägige Studie Schadewaldts von Belang, der Heidegger gewidmete Essay „Antikes Drama auf dem Theater heute – Übersetzung, Inszenierung“ (s. Anm. 8). Schadewaldt geht dort von dem berühmten Dilemma allen Übersetzens aus, von der Frage, ob ‚wörtlich‘ oder ‚frei‘ oder, wie er sich ausdrückt, ob ‚dokumentarisch‘ oder ‚transponierend‘ übersetzt werden solle. Das dokumentarische Übersetzen sei für Dokumente aller Art und insbesondere für wissenschaftliche Werke angemessen: dort komme es zuallererst auf die möglichst exakte Wiedergabe des originalen Wortlauts an. Das transponierende Übersetzen hingegen finde nach allgemeiner Meinung zu Recht auf literarische oder poetische Texte Anwendung: dort dürfe der Übersetzer ein erhebliches Maß an Bewegungsfreiheit beanspruchen, um ein gut lesbares, angenehm klingendes Deutsch herzustellen; wem derlei gelinge, dessen Erzeugnis gelte als ‚kongenial‘. Schadewaldt distanziert sich sodann von der Auffassung, daß transponierendes Übersetzen die antiken Dichtungen ‚kongenial‘ wiedergebe – in Wahrheit verfälsche es sie, und zwar in zweifacher Weise: zum einen lasse es einen Aischylos oder Sophokles in buntem Wechsel wie Goethe, Schiller, Hebbel oder einen anderen deutschen Dichter der jüngsten Zeit reden, zum anderen aber sei der Versuch, antike Fremdheit durch Transponieren zu beseitigen, mit dem Risiko belastet, daß beim heutigen Leser oder Hörer völlig falsche Assoziationen hervorgerufen würden. Schadewaldt fordert daher auch und gerade für die Werke der hohen Dichtung dokumentarisches, wort-adäquates _____________ 12
Rezeptionsgeschichtlich orientierte Einzeluntersuchungen hingegen sind durchaus vorhanden; als Beispiel sei die vorzügliche Arbeit von G. Häntzschel: Johann Heinrich Voss. Seine Homer-Übersetzung als sprachschöpferische Leistung, München 1977, genannt.
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Übersetzen, wobei es dreierlei zu beachten gelte: erstens dürfe nichts weggelassen und nichts hinzugefügt werden: zweitens seien die dem Dichter eigentümlichen Ideen und Bilder getreulich zu bewahren; drittens müsse die Übersetzung die Wortfolge des Originals soweit wie möglich beizubehalten suchen. Schadewaldt nimmt allerdings bestimmte Texte von seinem Postulat des dokumentarischen Übersetzens aus (der Passus sei, da er für die folgenden Betrachtungen von besonderer Bedeutung ist, vollständig zitiert): „Unleugbar allerdings, daß das transponierende Übersetzen unter gewissen Umständen sein sachliches Recht hat. Es ist überall dort am Platz, wo die Sprache des Originals den Charakter des Redensartlichen hat. Weithin durchsetzt von Redensartlichem pflegt die alltägliche Umgangssprache gerade einer kultivierten Gesellschaft, wie der athenischen, zu sein. Und redensartlich in dem gemeinten Sinne sind auch die literarisierten Schriftsprachen kultureller Spätepochen. In solchen Fällen ist es nur im Sinne des dokumentarischen Übersetzens, daß man die abgegriffene oder elegante Redensart des Originals in eine entsprechende Redensart der eigenen Sprache umsetzt. So mag das literarisierte Griechisch der Kaiserzeit und der Spätantike die Umsetzung in die glatte Redewendung unseres ja auch längst literarisierten Deutsch verlangen. Und so erfordert auch, in anderer Weise, der Witz in der Komödie, der auf dem Umgangssprachlichen beruht, in vielen Fällen das transponierende Übersetzen, wenn er als Witz auch in der Übersetzung wirken soll.“ (s. Anm. 8 – S. 654) [9]
3 Drei Texttypen und ihre Übersetzung Eine Untersuchung von Katharina Reiss zur Übersetzungskritik unterscheidet im wesentlichen drei Texttypen: inhaltsbetonte, formbetonte und appellbetonte Texte.13 Inhaltsbetont sind Gebrauchstexte wie Urkunden und Briefe, ferner die Fachliteratur. Zu den formbetonten Texten gehören Gedichte, Dramen, Romane usw., zu den appellbetonten Reden und Satiren. Hier sollen in ähnlicher Weise drei Schreibweisen von Texten unterschieden werden: - die normale Schreibweise, die sich an das Übliche, Konventionelle hält und dazu bestimmt ist, klar und ohne Umschweife Inhalte zu vermitteln; - die rhetorische Schreibweise, die sogenannte Kunstprosa, die besondere – sei es typische, sei es individuelle – sprachliche oder argumentative Mittel verwendet, um die Zuhörer- oder Leserschaft durch Überredung und Mobilisieren von Affekten zu bestimmten Zielen zu lenken; - die poetische Schreibweise, ans Versmaß gebunden, in Wortwahl und Satzbau größte Freiheit beanspruchend, bestimmt, dem Inhalt der Dichtung, der ‚Botschaft‘, durch Originalität zu möglichst reiner und starker Wirkung zu verhelfen. Nun gibt es gewiß für die Übersetzungspraxis keine schärfere Grenze als die zwischen Poesie und Prosa: selbst der Jambus als das bequemste Versmaß pflegt das Übersetzen _____________ 13
K. Reiss: Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzungskritik, München 19863; s. auch dieselbe: Textbestimmung und Übersetzungsmethode. Entwurf einer Texttypologie, in: Übersetzungswissenschaft, hrsg. von W. Wilss (Wege der Forschung 535), Darmstadt 1981, S. 76–91. Vgl. auch R. Nickel: Die Arbeit mit Übersetzungen (s. Anm. 7), S. 196.
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derart zu erschweren, daß sich hierfür kaum noch feste Regeln angeben lassen.14 Die folgende Betrachtung beschränkt sich daher auf die normale und die rhetorische Schreibweise. Normale oder Sachprosa sowie Kunstprosa: diese beiden Textbereiche sollen nunmehr auf die Frage hin erörtert werden, was dort jeweils als ‚gute Übersetzung‘ gelten kann. Die Untersuchung bedient sich hierbei einer ähnlichen Alternative wie Schadewaldt: sie bezeichnet das dokumentarische Übersetzen als ‚ausgangssprachenorientiert‘ und das transponierende Übersetzen als ‚zielsprachenorientiert‘. Unter der erstgenannten Kategorie wird ein Übersetzungsverfahren verstanden, das die Wortwahl, die Wortstellung und die syntaktischen Strukturen des Originals zu kopieren sucht, soweit dies die Zielsprache zuläßt, selbst um den Preis einer ungewohnten oder gar schroffen Diktion; die andere Kategorie zielt auf Übersetzungen, die – um den Preis des Verzichts auf rigorose Genauigkeit – ein glattes, gefälliges Deutsch anstreben. Das Ergebnis der Betrachtung sei vorweggenommen; es scheint paradox zu klingen. In den beiden Bereichen gelten je verschiedene Regeln, so daß dort auch je verschiedene Übersetzungen als ‚gut‘ angesehen zu werden verdienen. Im Bereich der normalen Texte ist die zielsprachenorientierte Übersetzung im allgemeinen die angemessene Lösung: hier kommt es auf eine exakte Wiedergabe der Wortstellung oder der syntaktischen Strukturen [10] weniger an als auf eine möglichst eingängige Vermittlung des Inhalts; ausgangssprachenorientierte Übersetzungen können allerdings bei philosophischen oder stark mit Termini durchsetzten fachwissenschaftlichen Texten als Hinführung zum Original den Vorzug verdienen.15 Im Bereich der Kunstprosa wiederum ist, insbesondere was die dort verwendeten künstlerischen Mittel angeht, zielsprachenorientiertes Übersetzen nicht einmal als Ausnahme möglich: je stärker ein Prosatext künstlerisch geformt ist, desto mehr muß sich die Übersetzung in Diktion, Wortstellung und Satzstruktur an das Original anzuschmiegen suchen.16 In Sachtexten ist es somit die Pflicht des Übersetzers, in lexikalisch-idiomatischer und in syntaktischer Hinsicht nach analogen Lösungen zu suchen; in Kunstprosatexten hingegen muß er auf eine möglichst genaue Abbildung dessen bedacht sein, was er vorfindet. Dem Grundpostulat der Äquivalenz oder, schlichter ausgedrückt, der Treue genügen beide Übersetzungsverfahren, wenn sie in der angegebenen Weise verwendet werden, gleichermaßen: die zielsprachlich orientierte Version läßt den normalen Text als normalen Text erscheinen, weil ihre Sprachform in demselben Maße Funktion des Inhalts ist wie die des Originals (hier wie dort ist alles unscheinbar und nur um der Vermittlung des Inhalts willen gesagt); die die künstlerischen Mittel des rhetorischen Textes nach Möglichkeit abbildende Version wiederum erzielt per se in etwa dieselben _____________ 14
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Schadewaldt schlägt daher vor, auf metrische Strenge zu verzichten, und in diesem Zusammenhang fällt das Wort von der Kunst des richtigen Opferns. Über die Richtigkeit dieser Maxime läßt sich streiten; sie ist jedenfalls zeitgebunden. Diese Bestimmung entspricht der These Schadewaldts, daß umgangssprachliche, stark durch idiomatische Wendungen geprägte Texte transponierend zu übersetzen seien; allerdings wird hier der Umkreis, der gewöhnliche, nicht auffällig durch Termini geprägte Texte einbezieht, etwas weiter gezogen. Es bedarf kaum des Hinweises, daß hiermit auch für die Kunstprosa reklamiert wird, was Schadewaldt für die Dichtung fordert: dokumentarisches Übersetzen.
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Wirkungen wie das Original – Voraussetzung hierfür ist allerdings, daß die Rezipienten einer derartigen Übersetzung in einem ähnlichen Ambiente sprachlicher Kultur leben.17 4 Normen der Sachprosa – zwei Beispiele Wie kann man, sei es originalnah und relativ weit von der Zielsprache entfernt, sei es relativ originalfern, aber im Geiste der Zielsprache übersetzen, ohne sich blanker Willkür schuldig zu machen? Daß dies möglich ist, daß jede Zielsprache für diese Alternative von Übersetzungsverfahren Spielräume darbietet, soll nunmehr an Hand von zwei lateinisch-deutschen Beispielen gezeigt werden, an Hand von Beispielen in einigermaßen normaler Schreibweise.18 Beispiel 1 (Cicero) Zunächst sei ein Satz aus einem Brief betrachtet, aus einem Kondolenzschreiben, das der Jurist Servius Sulpicius Rufus im Jahre 45 v. Chr., also unter Caesars Diktatur, an Cicero [11] gerichtet hat (Ad fam. 4,5); es sollte Cicero Trost spenden, der in jener schweren Zeit seine einzige Tochter verloren hatte. Der Satz (§ 3) lautet im Original wie folgt: Quotiens in eam cogitationem necesse est et tu veneris et nos saepe incidimus, hisce temporibus non pessime cum iis esse actum, quibus sine dolore licitum est mortem cum vita commutare!
Dieser Satz sei zunächst im Stile einer mittelalterlichen Interlinearversion wiedergegeben, weil so die Ausgangsposition für die beiden Arten des Übersetzens schärfere Konturen gewinnt – hierbei werden lediglich die Wörter der Ausgangssprache durch möglichst bedeutungsgleiche Wörter der Zielsprache ersetzt, unter Mißachtung aller Regeln der Zielsprache: Wie oft auf diesen Gedanken unvermeidlich ist sowohl Du gekommen seist als auch wir häufig sind verfallen, in diesen Zeiten nicht am schlechtesten mit denen zu sein gehandelt worden, denen ohne Schmerz erlaubt gewesen ist, den Tod mit dem Leben zu vertauschen!
Wenn man nun aus diesem Gebilde, bei dem die deutschen Wörter als eine Art dünner Tünche die Konturen des Originals noch überall durchschimmern lassen, einen korrekten deutschen Satz herstellen will, dann muß man sich zunächst vor Augen halten, daß das Lateinische und das Deutsche – wie alle Sprachen – zwei Grundtypen von Normen kennen: (1) zwingende Regeln, d. h. Gebote oder Verbote, die keine oder kaum eine Ausnahme zulassen; (2) Regeln des ‚guten Stils‘, d. h. allerlei Konventionen, die fast immer oder meist befolgt werden, von denen man jedoch auch, und sei es um den Preis einer unbeholfenen oder sonstwie befremdlichen Ausdrucksweise, von Fall zu Fall abweichen kann. _____________ 17 18
Wer nur über einen ‚restringierten Code‘ verfügt, vermag dergleichen ebensowenig zu verstehen wie der Held der bekannten Erzählung Plenzdorfs die Sprachform des goetheschen „Werther“. Das Folgende nach meiner Skizze: Vom Übersetzen aus dem Lateinischen, Sonderdruck der Stiftung „Humanismus heute“, Freiburg Br./Würzburg 19882, S.12 ff.
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Die jeweiligen Normen aber sind in den beiden Sprachen nicht deckungsgleich: einem zwingenden Gebot im Lateinischen kann ein zwingendes Verbot im Deutschen gegenüberstehen (eine im Lateinischen obligatorische Konstruktion z.B. ist dem Deutschen fremd), und vieles, was im Lateinischen fast immer oder meist befolgt wird, ist im Deutschen gerade eben noch zulässig, wenn auch unter Verletzung des ‚guten Stils‘. Und exakt diese verschiedenen Grade von Inkongruenzen, von sei es stets, sei es in aller Regel erforderlichen Abweichungen sind die Voraussetzung dafür, daß man beliebige Texte sei es ausgangssprachen-, sei es zielsprachenorientiert übersetzen kann. Denn die ausgangssprachenorientierte Übersetzung nimmt lediglich auf die Inkongruenzen des ersten Typs, auf die Differenzen im Bereich der zwingenden Normen Bedacht; die zielsprachenorientierte Übersetzung hingegen trägt darüber hinaus noch der Tatsache Rechnung, daß in den beiden Sprachen auch die Regeln des ‚guten Stils‘, des Üblichen und Gewöhnlichen, voneinander abweichen. Die soeben vorgeführte Interlinearversion des Satzes aus dem Sulpicius-Brief verstößt offensichtlich mehrfach gegen zwingende Normen der deutschen Grammatik. Sie verletzt die Grenzen des bei der Wortstellung Erlaubten: die Ausdrücke „auf diesen Gedanken“ und „ohne Schmerz“ erscheinen zu früh. Vor allem aber enthält sie syntaktische Erscheinungen, die das Deutsche nicht kennt: den Konjunktiv „gekommen seist“ in Abhängigkeit von „unvermeidlich ist“ sowie das Infinitivgefüge „in diesen Zeiten … zu sein gehandelt worden“. Alle diese Verstöße muß auch derjenige vermeiden, der lediglich eine der Ausgangssprache nahestehende Übersetzung herstellen will: an den zwingenden Normen der Zielsprache findet nach heutzutage allgemein anerkannter Auffassung das Bestreben, den fremden Text im Medium der Zielsprache zu kopieren, eine unüberschreitbare Grenze. [12] Hieraus resultiert, daß eine nach heutigen Begriffen zulängliche ausgangssprachenorientierte Version des Satzes – eine Version also, welche die zwingenden grammatischen Normen der Zielsprache respektiert – folgendes Aussehen haben muß: Wie oft war unvermeidlich, daß sowohl Du auf diesen Gedanken gekommen bist, als auch wir häufig darauf verfallen sind, daß in diesen Zeiten nicht am schlechtesten mit denen gehandelt worden ist, denen erlaubt gewesen ist, ohne Schmerz den Tod mit dem Leben zu vertauschen!
Auch diese Fassung knirscht noch etwas in den Scharnieren: weil die eigentlich nur im Lateinischen mögliche Verklammerung von „ist unvermeidlich“ mit dem hiervon abhängigen Satz durch „wie oft“ bewahrt geblieben ist und weil der Satz „als auch wir häufig darauf verfallen sind“ schon im Original etwas aus der Konstruktion heraustritt. Doch weiter, zur zielsprachenorientierten Version, die ja, wie schon festgestellt, auch auf Inkongruenzen im Bereich des ‚guten Stils‘ Bedacht nehmen muß. Das lateinische Original (diese Tatsache ist Voraussetzung für die Anpassungen an das im Deutschen Übliche, die nunmehr vorgenommen werden sollen) enthält nirgends eine ungewöhnliche, vom Konventionellen spürbar abweichende Ausdrucksweise; der Satz ist klar aufgebaut und zeugt bei allem Pathos von schlichter Eleganz. Es gilt somit, die doch reichlich mechanische Form-für-Form- und Wort-für-Wort-Gleichheit der bisher erreichten Stufe in eine Formulierung umzuwandeln, welche die Ausdrucksmittel des
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Originals durch entsprechend übliche und häufige Ausdrucksmittel der Zielsprache ersetzt – etwa so: Wie oft mußte sich dir der Gedanke aufdrängen (und auch ich bin häufig darauf verfallen), es sei in unseren Zeiten mit denen nicht am schlechtesten bestellt, die ohne Schmerz ihr Leben mit dem Tod vertauschen durften!
Diese Fassung enthält gegenüber der vorigen eine erkleckliche Anzahl von syntaktischen und phraseologischen Veränderungen. So hat der schwerfällige Ausdruck „war unvermeidlich, daß Du … gekommen bist“ dem schlichten „mußte sich dir … aufdrängen“ den Platz geräumt. So ist weiterhin das umständliche „sowohl … als auch“ (für die Wörtchen et … et) einem bündigen „und auch“ gewichen. Ferner erscheint anstelle des im Deutschen hier mißverständlichen „wir“ (es hat im Original weder die Funktion eines Pluralis maiestatis, noch steht es für „man“) das eindeutig gemeinte „ich“. Außerdem wurde für das steife „in diesen Zeiten“ die geläufigere Wendung „in unseren Zeiten“ eingesetzt; das klobige „gehandelt worden ist“ verschwand, und schließlich nehmen nunmehr „Leben“ und „Tod“ die im Deutschen üblichen Positionen ein. Diese Fassung enthält durchweg Formulierungen, die ebenso üblich sind wie die des lateinischen Originals; sie hat somit hier, bei einem normalen Text, als dessen angemessene, ‚gute‘ Verdeutschung zu gelten. Beispiel 2 (Caesar) Das zweite Beispiel dieser Art, das hier untersucht werden soll, entstammt Cäsars „gallischem Krieg“, dem Helvetier-Feldzug im ersten Buche; es lautet (B. G. 1,7,1): Caesari cum id nuntiatum esset, eos per provinciam nostram iter facere conari, maturat ab urbe proficisci …
Auch hier sei der – eigentlich nicht erlaubte – Extremfall einer ausgangssprachenorientierten Übersetzung an den Anfang gestellt, einer Übersetzung also, die lediglich das Wortmaterial der Ausgangssprache durch bedeutungsgleiches Wortmaterial der Zielspra-[13]che ersetzt, unter Mißachtung nicht nur des in der Zielsprache Üblichen und Gebräuchlichen, sondern auch der dort herrschenden zwingenden Normen: Dem Cäsar als das gemeldet worden wäre, sie durch Provinz unsere den Weg zu machen versuchen, eilt von der Stadt aufzubrechen …
Eine weniger radikal am Original orientierte Version, eine Version also, die wenigstens die zwingenden Regeln der Zielsprache beachtet, würde dann etwa so lauten: Cäsar, als ihm gemeldet worden war, daß sie durch unsere Provinz den Weg zu machen versuchen, eil von der Stadt aufzubrechen …
Da sich das Original auch in diesem Falle einer Diktion befleißigt, die nirgends erheblich von der schlichtesten und üblichsten Redeweise abweicht, muß, wer nunmehr noch eine zielsprachenorientierte Version herstellen möchte, abermals die Ausdrücke des Originals durch entsprechend häufige und konventionelle Ausdrücke der Zielsprache zu ersetzen suchen, er muß in den Bereichen der Syntax (in diesem Falle: der Tempusgebung), der Wortstellung und der Phraseologie nach den treffendsten Analogien Ausschau halten.
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Um mit der Tempusgebung zu beginnen: es ist zwar möglich zu sagen „als ihm gemeldet worden war“, aber es ist nicht üblich. Der Originaltext hingegen bedient sich der im Lateinischen üblichen, ja beinahe schon zwingend vorgeschriebenen Ausdrucksweise; der Römer unterschied ja streng die Zeitschichten, und wenn eine Handlung A einer Handlung B vorausgegangen war, dann wurde das meist durch je verschiedene Tempora ausdrücklich hervorgehoben, und zwar sowohl in der Zeitsphäre der Vergangenheit als auch in der der Zukunft. Das Deutsche jedoch pflegt in dieser Hinsicht weniger genau zu sein, und das Plusquamperfekt zumal hat dort zuallererst die Aufgabe, den Vollzug oder Abschluß eines Geschehens in der Vergangenheit festzustellen – die bloße Relation der Vorzeitigkeit bleibt im allgemeinen unausgedrückt. Da es im Cäsar-Beispiel auf den Abschluß der Handlung nicht ankommt, verfahren wir ganz korrekt, wenn wir das lateinische Plusquamperfekt durch ein Imperfekt ersetzen: „als ihm gemeldet wurde“ – es gibt eben nicht nur zwingende Normen, sondern auch allerlei mehr oder weniger verbindliche Konventionen des Gebrauchs. Außerdem sind im Deutschen Passivformen meist schwerfällig, da sie stets aus mehreren Elementen bestehen; sie werden daher, wenn möglich, vermieden. Das Lateinische hingegen kennt in dieser Hinsicht keine Skrupel: das Passiv ist dort genauso selbstverständlich wie das Aktiv. Und schließlich ist das Präsens historicum im Deutschen in diesem Falle wegen des vorausgehenden als-Satzes unschön; es wird daher besser durchs Imperfekt wiedergegeben. Der Beispielsatz lautet, wenn man diese Einsichten aus ihn anwendet, wie folgt: Cäsar, als man ihm meldete, daß sie durch unsere Provinz den Weg zu machen versuchten, eilte von der Stadt aufzubrechen …
Nun zur Wortstellung: auch in diesem Punkte hält sich der Beispielsatz im wesentlichen an das Übliche – man könnte allenfalls erwägen, ob die betonte Anfangsstellung von Caesari (der Name kommt an dieser Stelle zum ersten Male in dem ganzen Werke vor) eine besondere Ausdrucksfunktion haben soll. Man wird gleichwohl an der holprigen Wortfolge „Cäsar, als man ihm meldete“ nicht festhalten wollen, und wenn man nun noch, wie [14] heutzutage wohl üblicher, Subjekt und Prädikat des daß-Satzes zusammenrücken läßt, dann ergibt sich folgende Fassung: Als man Cäsar meldete, (daß) sie versuchten, den Weg durch unsere Provinz zu machen, da eilte er, von der Stadt aufzubrechen …
Endlich die Phraseologie: eine jede Sprache ist in den einzelnen Sinnbereichen und Wortfeldern unterschiedlich reichlich mit Wörtern versehen; jede Sprache hat eine andere Idiomatik, hat andere typische Wendungen und Ausdrucksweisen. Nunmehr soll auch auf diese Tatsache Bedacht genommen werden: die typischen Ausdrücke der Ausgangssprache werden durch typische Ausdrücke der Zielsprache ersetzt. So kann man in unserem Beispiel statt „man meldete Cäsar“ sagen: „Cäsar erhielt die Nachricht“ (womit man sich überdies den Vorteil einhandelt, daß Neben- und Hauptsatz dasselbe Subjekt bekommen); außerdem genügt für iter facere, „den Weg machen“ oder
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besser „den Weg nehmen“, das eine Wort „(durch)ziehen“, und „eilte“ drücken wir als Modalität der Handlung gern durch ein Adverb aus, etwa durch „eilends“ oder „schleunigst“. Unser Satz lautet nunmehr so: Als Cäsar die Nachricht erhielt, sie versuchten, durch unsere Provinz zu ziehen, da brach er eilends von der Stadt auf.
Diese Fassung dürfte keinerlei syntaktische oder phraseologische Reminiszenzen an die Ausgangssprache mehr erhalten. Gleichwohl könnte man hier noch einen Schritt weitergehen: man könnte die Kompetenzen des Übersetzers gelinde überschreiten und zugleich die Rolle des Interpreten, des den Text erklärenden Philologen wahrnehmen. Denn was bedeutet „von der Stadt“? Für den Römer verstand sich von selbst, daß Rom gemeint war. In solchen Fällen darf sich der Übersetzer weiter vorwagen: er darf, wenn er sich Fußnoten wie „die Stadt: das heißt Rom“ sparen will, sofort schreiben (wobei er noch, der Deutlichkeit halber, den Begriff „Helvetier“ wieder aufnimmt): Als Cäsar die Nachricht erhielt, die Helvetier versuchten, durch unsere Provinz zu ziehen, da reiste er eilends aus Rom ab.
Soviel zum Unterschied zwischen ausgangs- und zielsprachenorientiertem Übersetzen. Als Demonstrationsobjekte dienten zwei Sätze, die sich eines den Konventionen ihrer Zeit und ihrer Schicht verhafteten Stils befleißigen und jedenfalls keine auffälligen rhetorischen Mittel enthalten; bei ihnen ist daher eine zielsprachenorientierte, transponierende Wiedergabe am Platze. Von der Möglichkeit einer deratigen Übersetzung sollte auch der heutige Unterricht in den alten Sprachen eine gewisse Vorstellung vermitteln: durch Konsultation einer hierfür geeigneten vorhandenen Übersetzung oder besser noch durch eigene Anstrengung – wer das für zu schwierig hält, dem fehlt es an Mut und an der Bereitschaft zu hartnäckiger Suche, der obersten Tugend eines jeden Übersetzers. 5 Kunstprosa – zum Beispiel Tacitus Es wurde bereits angedeutet, daß bei rhetorischen Texten, die ihre Form gleichsam zur Schau tragen und durch ihre auffällige Stilisierung eine besondere Absicht zu erkennen geben, zielsprachenorientiertes Übersetzen nicht in Betracht kommt: ungewöhnliche [15] Metaphern und andere bildliche Ausdrücke, unüberhörbare rhythmische und klangliche Effekte, die sogenannten Stilfiguren, zumal Wiederholungsfiguren wie die Anapher, oder Sequenzen von offenkundig parallel gebauten Sätzen: alle diese sei es rhetorischen, sei es poetischen Erscheinungen müssen stets in strenger Anlehnung an das Original wiedergegeben, müssen möglichst vollständig in die Version hinübergerettet werden. Was der Autor eines relativ kunstvollen, eines manierierten, pathetischen oder sonstwie markant vom Alltäglichen abweichenden Textes frei, d. h. unbeengt durch zwingende Regeln oder durch Konventionen seiner Sprache ausgewählt hat, um seinem besonderen Stilwillen, seiner besonderen Wirkungsintention Ausdruck zu verleihen, ist für den Übersetzer in dem Sinne verbindlich, daß er nicht nach einer
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analogen Wiedergabe suchen darf, sondern einzig und allein eine möglichst ähnliche Wiedergabe anstreben muß. Er ist also überall dort, wo sich der Autor des Originals unter mehreren Möglichkeiten für eine Formulierung entschieden hat, die nicht am nächsten lag, zu rigoroser Wörtlichkeit verpflichtet, und zwar gerade dann, wenn sein Produkt das Original ersetzen soll, wenn es also dieselben Wirkungen zu erzielen sucht, wie sie das Original beim ursprünglichen Publikum erzielt haben mag. Denn Stilistika zielen stets auf bestimmte künstlerische Wirkungen, und um der Wirkungsäquivalenz willen darf der Übersetzer die Stilmittel, die seine Vorlage verwendet, nicht verwischen und nicht einebnen. Ein Beispiel aus dem Bereich der Kunstprosa, aus der mit den Stilmitteln der Rhetorik durchtränkten Geschichtsschreibung – das Anfangskapitel der „Germania“ des Tacitus –, möge das hier Gemeinte veranschaulichen: ein Vergleich dreier Versionen (aus den Jahren 1932, 1929 und 1971) soll zeigen, in welchem Ausmaß eine jede Version die besonderen Stil- und Ausdrucksmittel des Originals bewahrt hat. Das Original lautet wie folgt: Germania omnis a Gallis Raetisque et Pannoniis Rheno et Danuvio fluminibus, a Sarmatis Dacisque mutuo metu aut montibus separatur; cetera Oceanus ambit, latos sinus et insularum immensa spatia complectens, nuper cognitis quibusdam gentibus ac regibus, quos bellum aperuit. Rhenus Raeticarum Alpium inaccesso ac praecipiti vertice ortus modico flexu in occidentem versus septentrionali Oceano miscetur. Danuvius molli et clementer edito montis Abnobae iugo effusus pluris populos adit, donec in Ponticum mare sex meatibus erumpat; septimum os paludibus hauritur.
Die erste der hier ausgewählten Übersetzungen gibt den taciteischen Text so wieder: „Von den Galliern, Rätern und Pannoniern trennen Rhein und Donau, von den Sarmaten und Dakern gegenseitige Furcht und Gebirge die Germanen. Das übrige Germanien begrenzt das Meer, das breite Buchten und weit ausgedehnte Inselflächen umfaßt. Von den Königen und Völkern, die dort zu Hause sind, haben wir erst vor kurzem einige kennengelernt, der Krieg hat uns den Zugang zu ihnen erschlossen. Der Rhein entspringt auf einem unbesteigbaren und steilen Gipfel der Rätischen Alpen, wendet sich in mäßiger Biegung nach Westen und mündet in die Nordsee. Die Donau kommt von einer sanft und allmählich ansteigenden Höhe des Schwarzwaldes; sie durchfließt mehr Länder als der Rhein, ehe sie sich in sechs Armen ins Schwarze Meer ergießt. Der siebente Arm verliert sich in Sümpfen.“19 [16]
In der zweiten Übersetzung nimmt sich der Text so aus: „Germanien in seiner Gesamtheit wird von den Galliern, Rätern und Pannoniern durch die Flüsse Rhein und Donau, von den Sarmaten und Dakern durch gegenseitige Furcht und durch Gebirge geschieden. Das übrige Germanien umgibt der Ozean, der umfangreiche Landzungen und ungemessen große Inselgebiete umspannt. Doch sind neuerdings einige Völkerschaften und Könige bekannt geworden, die der Krieg erschlossen hat.
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Tacitus, Germania, übersetzt von H. Ronge, München 1932.
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Die dritte Übersetzung schließlich sucht das Original folgendermaßen zu verdeutschen: „Germanien insgesamt ist von den Galliern, von den Rätern und Pannoniern durch Rhein und Donau, von den Sarmaten und Dakern durch wechselseitiges Mißtrauen oder Gebirgszüge geschieden. Die weiteren Grenzen schließt das Weltmeer ein, breite Landvorsprünge und Inseln von unermeßlicher Ausdehnung umfassend: erst unlängst wurden einige Völkerschaften und Könige bekannt, zu denen der Krieg den Zugang eröffnet hat. Der Rhein, auf unzugänglicher und schroffer Berghöhe der Rätischen Alpen entspringend, wendet sich in mäßiger Biegung nach Westen und mündet sodann in das Nordmeer. Die Donau, einem sanften und gemächlich ansteigenden Rücken des Abnobagebirges entströmend, berührt eine Reihe von Völkern, ehe sie mit sechs Armen ins Schwarze Meer eindringt; eine siebte Mündung verliert sich in Sümpfen.“21
Das Original ist im Aufbau und in den Formulierungen des Details von größtem Raffinement. Die beiden ersten Wörter spielen offensichtlich auf den Anfang von Cäsars „Gallischem Krieg“ an: Gallia est omnis divisa in partes tres. Kühn ist die Verbindung der verschiedenartigen Substantive mutuo metu aut montibus; fast schon preziös klingen die Partizipialkonstruktionen, die, weit ausladend, an das Sätzchen cetera Oceanus ambit angehängt sind. Die beiden an erster Stelle genannten und für die Römer wichtigsten Grenzen, Rhein und Donau, werden im zweiten Absatz des näheren erläutert – dort finden wir eine wohldosierte Mischung von Parallelismen und Variationen. Immerhin enthält auch dieser Text einiges Konventionelle. So pflegten die Römer bei geographischen Eigennamen die jeweilige Gattung hinzuzufügen: flumen Rhenus, mons Abnoba. Im Deutschen fehlt es an einer derartigen Konvention; folglich ist es bei bekannten Eigennamen unnötig, die Gattungsbezeichnungen wiederzugeben. Doch hier kommt es vor allem auf die Behandlung an, welche die drei Versionen den individuellen Merkmalen, den Stilmitteln des taciteischen Textes angedeihen lassen. Da zeigt sich sofort, daß die Übersetzung 1 den kunstvoll arrangierten Anfang durch eine in diesem Falle ganz unangebrachte Transformation ins Aktiv zerstört hat – Germanien, das [17] Titelwort des ganzen Werkes, rückt in die Endposition. Richtig verfahren hingegen die Übersetzungen 2 und 3, wobei allerdings die Übersetzung 2 das unscheinbare Wort omnis durch die schwerfällige Formel „in seiner Gesamtheit“ wiedergibt – auch Länge und Gewicht der einzelnen Satzelemente gehören zu den Faktoren, die ein auf Äquivalenz erpichter Übersetzer beachten muß. Dann, bei der durch cetera eingeleiteten zweiten Hälfte der Periode, setzen alle drei Versionen neu ein: die Version 1 zerhackt den Rest in drei selbständige Sätze; die Versionen 2 und 3 kommen mit zwei Sätzen aus, wobei die Version 3 deren enge Zusammengehörigkeit _____________ 20 21
Tacitus, Germania, übersetzt von E. Fehrle, München 1929. Tacitus, Germania, übersetzt von M. Fuhrmann, Stuttgart 1971.
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durch einen Doppelpunkt andeutet. Hierbei hat nur die Version 3 das lateinische Partizip complectens zu bewahren gewagt, und zwar offensichtlich nach der Maxime, daß ein preziöses Original auch übersetzt preziös klingen sollte. Was hingegen statt dessen die Versionen 1 und 2 bieten, nimmt sich eher nüchtern und hausbacken aus. Der zweite Absatz bestätigt das bisherige Bild. Tacitus kennzeichnet die beiden Ströme jeweils durch drei Daten, durch Ursprung, Verlauf und Mündung; hierfür hat er im Falle des Rheines die Folge Partizip-Partizip-Hauptsatzprädikat (ortus – versus – miscetur), im Falle der Donau hingegen die Folge Partizip – Hauptsatzprädikat – Nebensatz (effusus – adit – donec … erumpat) gewählt. Die Übersetzungen 1 und 2 nehmen auf dieses Filigranwerk keinerlei Rücksicht: sie transformieren sämtliche Partizipien in Hauptsatzprädikate und stellen so ein spannungsloses Nebeneinander gleichartiger Satzelemente her. So viel zu den Grenzen zielsprachenorientierten Übersetzens. Kunstprosa darf nicht in Alltagsdeutsch transponiert, sondern muß – wie, nach Schadewaldt, auch alle Dichtung – ausgangssprachenorientiert, dokumentarisch übersetzt werden; wer, sei es aus Unachtsamkeit, sei es um Fremdartigkeit zu eliminieren, anders verfährt, raubt dem Text seine künstlerische Eigenart und stuft ihn zu einem bloßen Vermittler von Inhalten herab. Eine derartige abbildende Übersetzung sollte von Zeit zu Zeit auch im Unterricht anwesend sein: die Beschäftigung mit Kunstprosa darf sich nicht in grammatischen und inhaltlichen Fragen erschöpfen (wozu beschäftigte man sich sonst mit ihr), und die Analyse einer schon vorhandenen oder die Verfertigung einer neuen Version ist ein gutes Vehikel, die formalen Reize des Originals anschaulich zu machen. 6 Zur Tradition der Übersetzungsmaximen Nicht zu Unrecht gilt Cicero als Wegbereiter der Übersetzungstheorie; er hat jedenfalls zum ersten Male die Alternative formuliert, die seither wie nichts anderes alle übersetzerische Tätigkeit beherrscht.22 Er habe, bemerkt er in der „De optimo genere oratorum“ betitelten Einleitung zu seiner (nicht erhaltenen) Übersetzung des berühmten Redepaares von Aischines und Demosthenes, nicht wie ein Dolmetscher, sondern wie ein Redner übersetzt, unter Beibehaltung von Gehalt und rhetorischer Gestalt der Texte, jedoch in einer den Konventionen der lateinischen Sprache Rechnung tragenden Wortwahl: „Hierbei habe ich es nicht für erforderlich gehalten, für jedes Wort ein Wort zu bringen; ich habe vielmehr den Ausdruck im ganzen und seinen Sinn bewahrt. Ich meinte nämlich, daß es nicht darauf ankomme, dem Leser die Worte zuzuzählen, sondern vielmehr darauf, sie ihm gleichsam zuzuwägen.“ (§14)
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S. z. B. G. Mounin, Die Übersetzung. Geschichte, Theorie, Anwendung, München 1967, S. 24.
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Sententiae – verba: Hieronymus nimmt in seinem berühmten Brief 5723, „De optimo [18] genere interpretandi“, diesen Gegensatz auf und bringt dort (Kap. 5) das Dilemma allen Übersetzens auf die folgende Formel: Si ad verbum interpretor, absurde resonant; si ob necessitatem aliquid in ordine, in sermone mutavero, ab interpretis videbor officio recessisse.
Er entscheidet sich – abgesehen von den Heiligen Schriften, wo selbst die Wortfolge ein Mysterium sei – für das Prinzip non verbum e verbo, sed sensum exprimere de sensu. Diese ältesten Ansätze zu einer Übersetzungstheorie sind offenbar, wie die Antithese verba – sententiae vermuten läßt, aus der rhetorischen Auslegungslehre, aus der dort gängigen Unterscheidung von strenger und freier Gesetzesauslegung hervorgegangen; interpretari im Sinne von ‚Auslegen‘ und im Sinne von ‚Übersetzen‘ hängen eng miteinander zusammen. Eine modernere und differenziertere Umschreibung des Methodenkontrastes zwischen ‚wörtlich‘ und ‚sinngemäß‘ findet sich bei Goethe, der von seinem Freunde Wieland folgendes behauptet:24 Es gibt zwei Übersetzungsmaximen: die eine verlangt, daß der Autor einer fremden Nation zu uns herüber gebracht werde, dergestalt, daß wir ihn als den Unsrigen ansehen können; die andere hingegen macht an uns die Forderung, daß wir uns zu dem Fremden hinüber begeben und uns in seine Zustände, seine Sprachweise, seine Eigenheiten finden sollen … Unser Freund, der auch hier den Mittelweg suchte, war beide zu verbinden bemüht, doch zog er als Mann von Gefühl und Geschmack in zweifelhaften Fällen die erste Maxime vor.
Der fremde Autor wird zu uns herübergebracht: so verfährt die zielsprachenorientierte Methode; wir sollen uns zu dem fremden Autor hinüberbegeben: hierzu sucht die ausgangssprachenorientierte Übersetzung anzuleiten. Wieland hat in der Tat, wie es im 18. Jahrhundert allgemein üblich war, zielsprachenorientiert übersetzt: ihm galten Treue und Verständlichkeit als die obersten Prinzipien aller Übersetzung, doch im Konfliktfalle räumte er der Verständlichkeit den Vorrang vor der Treue ein.25 Als Goethe seine treffende Charakteristik der Übersetzungsmaximen Wielands niederschrieb, hatte sich in der Praxis des Übersetzens antiker Autoren bereits ein tiefgreifender Wandel vollzogen: man wandte sich ab von der unbefangenen Einverleibung in die eigene Sprache und die eigene Epoche; man suchte auch in dem deutschen Gewande möglichst viel Fremdheit zu bewahren.26 Historismus und Romantik hatten wie in allen Bereichen der Geschichte so auch bei den Sprachen und Literaturen das Prinzip der unwiederholbaren Individualität _____________ 23
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Eine – nicht immer zuverlässige – Übersetzung dieses Briefes eröffnet die im übrigen vorzügliche Quellensammlung, die H. J. Störig herausgegeben hat: Das Problem des Übersetzens (Wege der Forschung 8), Darmstadt 19734. Zu brüderlichem Andenken Wielands (1813), Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche Goethes, hrsg. von E. Beutler, Bd. 12, Zürich-Stuttgart 19622, S. 705. S. hierzu Chr. M. Wieland, Übersetzung des Horaz, hrsg. von M. Fuhrmann, Frankfurt/M. 1986, S. 1089 ff. Zum Folgenden vgl. M. Fuhrmann: Von Wieland bis Voss: Wie verdeutscht man antike Autoren? Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1987, S. 1–22.
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entdeckt, und hieraus schien zu resultieren, daß es unmöglich sei, Form und Inhalt eines Literaturwerks vom bedingenden Grunde des ursprünglichen Sprachsystems zu lösen und in ein anderes zu transponieren; folglich durfte man (so lautete die nunmehr maßgebliche Lehre) gar nicht erst versuchen wollen, durch zielsprachenorientiertes Übersetzen ein dem Original in etwa [19] ebenbürtiges Werk zu schaffen. Die Übersetzung sollte nur noch zum Original hinführen dürfen, indem sie die Eigentümlichkeiten des ursprünglichen Sprachgewandes im Medium der Zielsprache abzubilden suchte. Schleiermacher, neben Wilhelm von Humboldt der wichtigste Repräsentant der neuen Richtung, brachte dieses Postulat auf die Formel27: Das nämliche Bild, den nämlichen Eindruck, welchen er (der Übersetzer) selbst durch die Kenntnis der Ursprache von dem Werk, wie es ist, gewonnen, sucht er den Lesern mitzuteilen, und sie also an seine ihnen eigentlich fremde Stelle hinzubewegen.
Den Lesern sollte also die genuine Gestalt des übersetzten Werkes zugänglich gemacht werden, und zwar durch eine Methode des Übersetzens, welche die Zielsprache der Ausgangssprache anbiegt, soweit es die Regeln der Zielsprache nur irgend erlauben. Schleiermacher selbst, Voss seit der Neufassung der „Odyssee“ (1793) und viele nach ihnen haben diese Methode befolgt, und so verfestigte sich das ausgangssprachenorientierte Übersetzen zumal im Bereich der Dichtung zu einer Tradition, die bis zur Gegenwart reicht. Wer sich vor Augen führen will, welch radikaler Wandel zwischen Aufklärung und Goethezeit, zwischen Wieland und Voss stattgefunden hat, und wer sich andererseits von dem erstaunlichen Ausmaß an Kontinuität überzeugen möchte, das Produkte der Goethezeit mit denen der Gegenwart verbinden kann, der braucht nur drei Versionen desselben Textes – von Wieland, aus dem frühen 19. Jahrhundert, von heute – zu vergleichen, etwa den Anfang der Horaz-Satire 2,6: Hoc erat in votis, modus agri non ita magnus … Wieland gibt ihn so wieder: Mein höchster Wunsch war einst ein kleines Feld, ein Garten, eine Quelle nah am Hause, und etwas Wald dazu: die Götter haben mehr und Bessers mir gegeben: mir ist wohl, ich bitte weiter nichts, o Majens Sohn, als daß du mir erhaltest, was du gabst.
Bei Voss nehmen sich dieselben Verse so aus:28 Das war immer mein Wunsch, ein Äckerchen, nicht zu geräumig, wo ein Garten und nahe dem Haus ein lebender Quell sei, auch darüber ein wenig von Waldungen. Mehr noch und Bessers haben die Götter verliehn. Wohl ist! Nichts weiter erfleh’ ich, Majas Sohn, als daß du zu eigen mir dieses Geschenk machst.
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Methoden des Übersetzens (1813), in: Das Problem des Übersetzens, (s. Anm. 23), S. 48. [o. S. 66]. Q. Horatius Flaccus, Werke, von J. H. Voss, Braunschweig 18223, 2. Bd., S. 137.
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Und Karl Büchner hat diese Partie wie folgt verdeutscht:29 So war’s ersehnt von den Göttern: ein Stückchen Boden bescheiden, wo sich ein Garten, dem Hause benachbart die ständige Quelle und überdies etwas Wald sich befände. Sie haben es reicher, haben es besser gemacht. Es ist recht. Ich erbitte nichts weiter, Sohn der Maja, als daß dies Geschenk du zu eigen mir machest.
Es fällt sofort auf, daß der Hiat zwischen Wieland und seinen beiden Nachfolgern zuallererst durch das Versmaß bewirkt wird: Wieland mied – zielsprachenorientiert – den im Deutschen überaus problematischen Hexameter; Voss und Büchner suchten ihn – der Ausgangssprache folgend – zu retten. Alles andere, die Wortstellung und Wortwahl, scheint mehr oder weniger hierdurch bedingt zu sein. [20] Das humanistische Gymnasium humboldtscher Prägung hat gewiß erheblich dazu beigetragen, daß im 19. und noch im 20. Jahrhundert ausgangssprachenorientierte Übersetzungen antiker Autoren toleriert, ja bevorzugt wurden, im Unterschied zu anderen Größen der ‚Weltliteratur‘, zu Cervantes, zu Shakespeare oder zu Dostojewski: es gab eben ein ziemlich breites Publikum, das die Griechen und Römer im Original zu lesen vermochte und demzufolge Übersetzungen desto höher schätzte, je besser sie die Originale erschlossen, je mehr sie sich am Ausgangstext orientierten. Gleichwohl darf man sich die Übersetzungspraxis des 19. Jahrhunderts nicht so vorstellen, als sei damals monoton einzig und allein ausgangssprachenorientiert verfahren worden. Die berühmteste Ausnahme war Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff. Seine Übersetzungen griechischer Tragödien orientierten sich in extremem Maße an der Zielsprache, am Literaturdeutsch der Goethe-Epigonen und des Realismus.30 Er hat sich in dem erweiterten Vorwort zum euripideischen „Hippolytos“ zu seinem geradezu gewaltsamen Vorgehen bekannt; seine Darlegungen gipfeln in den Sätzen31: Es gilt auch hier, den Buchstaben verachten und dem Geist folgen, nicht Wörter noch Sätze übersetzen, sondern Gedanken und Gefühle aufnehmen und wiedergeben. Das Kleid muß neu werden, sein Inhalt bleiben. Jede rechte Übersetzung ist Travestie. Noch schärfer gesprochen, es bleibt die Seele, aber sie wechselt den Leib: die wahre Übersetzung ist Metempsychose.
Das Ergebnis dieses Ausbruchs in die Modernität war allerdings, wie Schadewaldt mit Recht feststellt, „ein seltsames Gemisch von Schiller, Geibel, protestantischem Kirchenlied, spätgoetheschen Rhythmen, Hebbelschem Dialog mit seltsamen Abstürzen in die Alltagssprache“ (s. Anm. 30). Noch aus einem ganz anderen Grunde muß man sich davor hüten, die Tradition des ausgangssprachenorientierten Übersetzens, wie sie sich im 19. und 20. Jahrhundert behauptet hat, schlechtweg für homogen zu halten. Denn einzig die Gründerfiguren _____________ 29 30
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Horaz, Sermones, Satiren, hrsg. von K. Büchner, Stuttgart 1972, S. 149. S. hierzu W. Schadewaldt: Antike Tragödie auf der modernen Bühne, in: Hellas und Hesperien, Bd. 2, S. 636; H. Flashar: Aufführungen von griechischen Dramen in der Übersetzung von Wilamowitz, in: W. M. Calder III/H. F. T. Lindken (Hg.): Wilamowitz nach 50 Jahren, Darmstadt 1985, S. 308 ff. = Eidola (s. Anm. 11), S. 651 ff. Was ist übersetzen, in: Reden und Vorträge, Bd. 1, Berlin 19254, S. 8. [o. S. 325–350].
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der Goethezeit, insbesondere Johann Heinrich Voss, konnten sich im prägnanten Sinne um ausgangssprachlich orientierte, in der Zielsprache fremdartig klingende Übersetzungen bemühen; diese aber wurden, sofern sie erfolgreich waren, alsbald zu Bestandteilen der Zielsprache, des Deutsch jener Tage, und die zahlreichen Nacheiferer orientierten sich in ihrem Übersetzungsstil weniger an den griechischen und lateinischen Originalen als an ihnen, zumal am Homer und den zahlreichen anderen Verdeutschungen von Voss. Die Qualität einer Übersetzung bemißt sich nicht nur nach ihrem Verhältnis zum fremdsprachlichen Original, sondern auch nach dem zu ihren Vorgängerinnen in der gleichen Sprache. Die vermeintliche Homogenität der Übersetzungspraxis von der Goethezeit bis heute ist in Wahrheit zuallererst Epigonentum. Insofern hat Schadewaldt recht daran getan, aus dieser Tradition auszubrechen und sich durch den Verzicht auf die strengen Versmaße der Originale Spielraum für eine neue, unverbrauchte Art ausgangssprachenorientierten Übersetzens zu verschaffen.
Michael von Albrecht Michael von Albrecht (geb. 1933) studierte, nachdem er bereits ein Musikstudium abgeschlossen hatte, in Tübingen und Paris Klassische Philologie und Indologie. Nach Promotion (1959) und Habilitation (1964) in Tübingen hatte er von 1964 bis 1998 einen Lehrstuhl für Klassische Philologie in Heidelberg inne. Sein umfangreiches wissenschaftliches Werk schließt eine viel benutzte zweibändige Geschichte der römischen Literatur ein (in erster Auflage 1992 erschienen; zahlreiche Übersetzungen in andere Sprachen). Daneben trat er als Übersetzer römischer Dichtung – Ovids Ars Amatoria (zuerst 1979) und Metamorphosen (zuerst 1981), Catulls Carmina (1995) und Vergils Bucolica (2001) –, aber auch einer spätantiken griechischen Prosaschrift – Iamblichs De vita Pythagorica liber – hervor. 2004 erhielt er den Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Von Albrecht hat sich wiederholt mit der Übersetzungsthematik beschäftigt. Im folgenden Text äußert er sich zur Übersetzung der Metamorphosen Ovids und erläutert seine Entscheidung für eine Prosaversion.
Zur vorliegenden Übersetzung Aus: Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. Lateinisch/Deutsch, übers. u. hg. v. M. v. Albrecht, Stuttgart 1994, 988–995.
[…] Soweit mir bekannt, ist dies der erste Versuch einer vollständigen Wiedergabe der Metamorphosen in deutscher Prosa1. Eine vortreffliche Prosaübersetzung gibt es aller[989]dings vom zehnten Buch, und zwar aus der Feder von E. Zinn2; leider ist sie weitgehend unbekannt geblieben. Das Abgehen von der bisherigen Praxis der Versübersetzung bedarf vielleicht einer Begründung. Vergleicht man eine beliebige metrische Übertragung mit dem Original, so beobachtet man oft, was schon W. Schadewaldt3 hervorgehoben hat, daß der Übersetzer früher mit dem Gedanken fertig ist als mit dem Vers. Die traditionelle Methode des Dolmetschens ist daher vielfach eine Kunst des Streckens und kommt nicht ohne Flickwörter und schmückende Zusätze aus. Sie verwandelt die schlanke ovidische Muse in _____________ 1
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Geschrieben 1981. Die alte Übersetzung von A. v. Rode ist mir erst nachträglich durch G. Finks selbständige Bearbeitung (München 1989) bekannt geworden. Meine Übertragung (erstmals 1981) ist von jener völlig unabhängig. Bei Henninger (s. S. 985, Anm. 27). [Ernst Zinn, Ovid: Metamorphosen. Buch 10: Mythen um Orpheus, Ill. von Manfred Henninger. Übers. von Ernst Zinn. Mit e. Einl. v. Karl Kerényi, Heidenheim 1969.] Homer, Die Odyssee, übersetzt in deutsche Prosa von W. Schadewaldt, Hamburg 1958, S. 321–326.
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eine etwas behäbige und betuliche Matrone. Die verbreitete Meinung, Ovid sei geschwätzig und wortreich, mag daher zum Teil durch derartige Übersetzungen hervorgerufen sein. Es gehört zu den Vorzügen einer Prosaübersetzung, nur dort ausführlich sein zu müssen, wo es der Sinn unbedingt erfordert. Vielleicht kann Prosa der unnachahmlichen Knappheit des lateinischen Stils wenigstens ein Stück näherkommen, als es der deutsche Hexameter mit seiner Atmosphäre von „Idyllik“ und „epischer Breite“ gestattet. Zudem kann der akzentuierende deutsche Hexameter nur sehr bedingt als Äquivalent des quantitierenden lateinischen Versmaßes gelten. Wenn er nicht mit dichterischer Meisterschaft gestaltet wird, schläfert dieser Vers den Leser durch Monotonie ein. Auch ist unsere lässige Handhabung der Zäsuren in der ersten Vershälfte und das Klappern der Daktylen in der zweiten der denkbar schlechteste Ersatz für die kunstvoll gespannte Wortarchitektur, die den klassischen lateinischen Vers – übrigens auch von dem bequemeren Gang homerischer Hexameter – unterscheidet. Wichtiger als [990] der Versuch, dem Leser die (ohnehin problematische) Illusion zu vermitteln, er höre ein antikes Metrum, scheint es, folgende Grundtatsache zu beachten: Bei einem Werk, das Sagen und Geschichten enthält, ist für den heutigen Leser die Prosaform die geläufige, da in den neuzeitlichen Literaturen längst der Roman die Nachfolge des Epos angetreten hat. Auch andere Literaturgattungen lösen sich zunehmend von Reim und Metrum, so daß eine Versübersetzung vielen Lesern als Anachronismus erscheinen könnte. Hinzu kommt die Eigenart der Metamorphosen: Einerseits stehen sie dem antiken Roman nahe, andererseits macht sich in ihnen der Einfluß von Rhetorik bemerkbar; so haben sie eine doppelte Beziehung zur Prosa. Einen weiteren Grund, neue Pfade zu begehen, liefert folgende Überlegung: Homers Odyssee ist durch die Übersetzung von Johann Heinrich Voß zu einem Bestandteil der deutschen Literatur geworden. An Versuchen, auch die große römische Dichtung in seiner Nachfolge zu übertragen, hat es nicht gefehlt. Doch sind sie beim deutschen Leserpublikum nicht auf gleiche Gegenliebe gestoßen. Dies ist gewiß nicht nur Schuld der Übersetzer, sondern hängt auch mit dem deutschen Philhellenismus zusammen; immerhin sollte man die Frage nicht scheuen, ob der von Voß gewiesene Weg der allein seligmachende ist, zumal sich schon recht früh kritische Stimmen erhoben haben. Hören wir die Klagen eines Gelehrten, dem das „Übersetzerrotwelsch“ schon vor hundertfünfzig Jahren schwer verständlich und veraltet vorkam4: „A. W. Schlegels5 Urteil über die Voßschen Übersetzungen (in den Studien und Kritiken) ist bekannt. Alles, was er an [991] dem Voßschen Homer gerügt hat – und nun lese man erst den Aristophanes von Voß! –, ist noch bis auf den heutigen Tag (man sehe zum Beispiel H. Müllers Übersetzung des Aristophanes an) nicht zu den Ohren, _____________ 4 5
Aristophanes’ Werke, übers. von L. Seeger (1845–48), neue Aufl., Stuttgart/Berlin 1910, Bd. 1, S. 27 f. A. W. v. Schlegel, „Rezension über: Homers Werke von Johann Heinrich Voß“, (Altona 1793; erstmals erschienen) in: Jenaische allgemeine Litteraturzeitung 1796. [o. S. 3–38]. Wiederabgedr. in: A. W. von Schlegels sämmtliche Werke, hrsg. von E. Böcking, Bd. 10 (Vermischte und kritische Schriften, Bd. 4), Nachdr. der Ausg. Leipzig 1846, Hildesheim/New York 1971, S. 115 ff. – In einer Anmerkung zum zweiten Abdruck des Aufsatzes 1801 revidiert Schlegel die Kritik etwas, im Nachwort zum dritten Abdruck 1827 kehrt er zu seinen ursprünglichen Ansichten zurück.
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noch weniger in das Bewußtsein der Übersetzer gedrungen. Drei- und vierfach zusammengesetzte Beiwörter und Partizipien, unzählige Zeitwörter mit der Vorsilbe ent, zum Beispiel entzittern, oft noch mit hinweg verbunden; mit um, zum Beispiel von Mühlsteinen umprallt, die Troer umschlug schwerlastender Kummer; gewaltsame Verkürzungen wie: gestrengt für angestrengt; absolute Genitive wie: die herrliche, langes Gewandes; die Schreibung des e, wo der Usus es längst gestrichen: gefüllete; das aktive Partizip in den härtesten, unverständlichsten Verknüpfungen, unerlaubte Inversionen, falsche Stellung der Negation, trennbare und untrennbare Partikeln am Verb willkürlich verbunden oder abseits gestellt: ganz den Tag hinflog ich, und: stets nachtobte des Kriegs Wut: – all das – und das Sündenregister ließe sich noch ins Unendliche vermehren – ist Observanz geworden unter den philologischen Übersetzern, keiner denkt mehr bei solch unnatürlichen Wörtern, Wendungen und Konstruktionen daran, daß er der Sprache mit grober Faust ins Gesicht schlägt. Unsere Sprache ist biegsam, nun ja, biegt sie, aber brecht ihr nicht das Genick.“ Ohne die klassischen Leistungen von J. H. Voß herabsetzen zu wollen, muß man doch feststellen, daß auf dem von ihm beschrittenen Wege eine weitere Entwicklung kaum mehr möglich scheint. Die innere Einheitlichkeit seines Stils hat kaum einer seiner Nachfolger mehr erreicht. Je moderner die Versübersetzungen der Metamorphosen, um so störender wird der Kontrast zwischen dem traditionsbedingt ar-[992]chaischen Vokabular und dem neuzeitlichen Sprachgefühl, das der Übersetzer doch nicht verleugnen kann und darf. Auch das feine Gehör, das zum Bau deutscher Hexameter unerläßlich ist und das Voß in hohem Maße besaß, hat heute Seltenheitswert. Ein Kenner wie Walther Kraus6 hat gerade bei der Besprechung der beiden besten neueren Versübersetzungen der Metamorphosen auf den prosaischen Charakter ihrer Hexameter hingewiesen. So ist es vielleicht nur konsequent, auf die Versform ganz zu verzichten. Ein Vorteil der Prosaform ist es zweifellos, eine sinngetreue Wiedergabe nicht durch die Fesseln der Form zu erschweren. Vor allem in einem Punkt dürfte die vorliegende Übersetzung genauer sein als alle bisherigen: Sie beachtet die künstlerische Verwendung der Erzähltempora und spiegelt so die Feinstruktur der ovidischen Erzählung wider. Ovid erzielt durch den abwechselnden Gebrauch des historischen Perfekts und des historischen Präsens Reliefwirkungen. Oft wird eine Haupttätigkeit im Perfekt berichtet, die Einzelausführung oder die Folgen im Präsens. So hat der Dichter gewissermaßen zwei Möglichkeiten, seine „Kamera“ einzustellen. Dies läßt sich im Deutschen durch den von den bisherigen Übersetzern gescheuten Wechsel von Vergangenheit und Gegenwart nachahmen, eine Möglichkeit, die sich selbstverständlich weitgehend auf Hauptsätze beschränkt, da die Tempora in den Nebensätzen oft durch die Regeln der Grammatik festgelegt sind, was eine buchstäbliche Wiedergabe kaum sinnvoll erscheinen läßt. Nicht nachbilden läßt sich im Deutschen auch die aspekt- und strukturbedingte Abwechslung von Imperfekt und Perfekt, die im Lateinischen eine Scheidung von „Hintergrund“ und „Vordergrund“ ermöglicht. _____________ 6
W. Kraus, „Forschungsbericht über Ovid, Metamorphosen“, in: Anzeiger für die Altertumswissenschaft 16 (1963), Sp. 1–14.
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Eine weitere Chance einer Prosaübersetzung dürfte es sein, die ursprüngliche Abfolge der Vorstellungen zu bewahren. Hier treten jedoch Schwierigkeiten auf, die teils in der [993] Eigenart der deutschen Sprache, teils im Wesen des Prosastils liegen. Auch sie seien nicht verschwiegen. Einmal ist der lateinische Satzbau vom deutschen sehr verschieden. Dies gilt sogar von der poetischen Syntax, die darin der unseren ähnelt, daß sie lieber bei- als unterordnet. Trotz aller Parataxe sind die uns aus Caesar ach so wohlbekannten Temporalsätze mit „nachdem“ oder „sobald“ auch in lateinischer Poesie alles andere als dünn gesät. Die Zahl der Nebensätze vermehrt sich im Deutschen noch ganz erheblich durch die Notwendigkeit, lateinische Partizipialkonstruktionen aufzulösen. Die eigentliche Schwierigkeit bei der Wiedergabe lateinischer – und vor allem ovidischer – Sätze liegt darin, daß im Original sehr oft nebensächliche Bestimmungen den wichtigeren vorausgeschickt werden, so daß sich die Vorstellungen erst am Ende zu einer Einheit zusammenfügen. Dieses psychologisch und poetisch äußerst reizvolle Vorgehen läßt sich nicht immer übertragen, da wir meistens die Beziehung der Teile zum Ganzen nicht so lange in der Schwebe lassen können. Ein bezeichnendes Beispiel sind Relativsätze, die ihrem Beziehungswort voranstehen, eine bei Ovid sehr beliebte Reihenfolge, die unsere Sprache nicht kennt. Überhaupt unterliegt die deutsche Wortfolge erheblich strengeren – und vor allem ganz anderen – Gesetzen als die lateinische. Folgt im Deutschen auf einen vorausgeschickten Nebensatz ein Hauptverbum, muß es am Anfang des Hauptsatzes stehen. Die meisten lateinischen Perioden beginnen mit Nebensätzen; ihr Hauptverbum steht aber erst ganz am Ende des Hauptsatzes. Sie lassen sich also im Deutschen nicht genau nachbilden. Auch im einzelnen ist es leider oft nicht möglich, die lateinische Wortfolge beizubehalten, ohne dem Leser ganz erheblich das Verständnis zu erschweren. Zum andern – und hier liegen die spezifischen Probleme einer Prosaübersetzung – ist in ungebundener Rede die Wortfolge strenger geregelt als in Versen. Was in Poesie als Schönheit empfunden wird – so die expressive Anfangsstel-[994]lung des Verbs: „auf steigt der Strahl“ –, kann in Prosa manieriert oder befremdlich wirken. Versucht man aber, zugleich die Gedankenfolge des Originals und die Gesetze des Prosastils zu beachten, so wird der deutsche Text matt und weitschweifig, und der energische Lakonismus des Lateinischen geht verloren. Deshalb muß man trotz der prosaischen Form nicht selten zum poetischen Ausdruck greifen. So habe ich im Vertrauen auf die Findigkeit des Lesers Metaphern und Enallagen, so oft es ging, stehen lassen und et getrost mit „und“ übersetzt, auch wo ein Gegensatz vorlag. Überhaupt wird das Übersetzen durch den Verzicht auf das Metrum nur scheinbar erleichtert. Metrische Entschuldigungsgründe für altertümliche, geschraubte und undeutsche Ausdrücke fallen weg. Aber auch in bezug auf an sich durchaus sprachgemäße Kühnheiten ist der Kreis der poetischen Freiheit enger gezogen. Auch fehlt es für deutsche Prosaübersetzungen an einem Gattungsstil, an einer Tradition, an die man – sei es bejahend oder rebellierend – anknüpfen könnte. W. Schadewaldts Prinzip des „dokumentarischen Übersetzens“ hat für die Aneignung griechischer Texte in Deutschland Maßstäbe gesetzt, obwohl sein Charisma schwer nachzuahmen ist. Auf das Übersetzen aus dem Lateinischen läßt sich seine Methode nicht restlos übertragen, weil das Lateinische dem Deutschen viel ferner steht als das Griechische. Eine wörtliche Über-
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setzung aus dem Griechischen kann naiv und ursprünglich, eine solche aus dem Lateinischen barbarisch und stillos klingen. Nun aber gehören Urbanität und Stil nicht nur akzidentiell, sondern wesenhaft zur römischen Dichtung. So ist der Übersetzer darauf angewiesen, einen eigenen Stil zu finden, der dem Wortlaut des Originals so treu wie möglich bleibt, aber auch spüren läßt, daß Ovid für großstädtische Leser schreibt. Zwischen der Scylla steifen Archaisierens und der Charybdis moderner Travestie bleibt der Stil des Originaltextes der alleinige Leitstern, nach dem man sich richtet, ohne ihn je zu erreichen. So zwingt gerade die [995] Prosaform den Übersetzer, mit seiner Muttersprache noch rücksichtsvoller und pfleglicher umzugehen, als dies bei einer Versübertragung notwendig wäre. Antike Literatur war zum lauten Lesen, zum Vorlesen bestimmt, Ovid schon zu Lebzeiten der meistgelesene lateinische Autor. Hauptziel einer Übertragung wird es daher sein, sich nicht störend zwischen den Dichter und seine Leser zu stellen. Die Metamorphosen verdienen einen großen Leserkreis. Mögen sie ihn erreichen!
Raoul Schrott Raoul Schrott (geb. 1964), Schriftsteller und Übersetzer, studierte Literatur- und Sprachwissenschaft in Norwich, Paris, Berlin und Innsbruck. Nach der Promotion (1988) in Innsbruck und einer Tätigkeit als Lektor für Deutsch in Neapel (1990–1993) habilitierte er sich 1996 in Innsbruck für Komparatistik. Sein literarisches Werk umfasst Lyrik, Romane und Essays. Als Übersetzer trat er zunächst 1997 mit der Anthologie Die Erfindung der Poesie. Gedichte aus den ersten vier Jahrtausenden hervor, die von sumerischer (3. Jahrtausend) über griechische und lateinische bis zu walisischer Dichtung aus dem Mittelalter führt. 1999 folgten die Bakchen des Euripides für das Wiener Burgtheater, 2004 erschien seine Übersetzung des Gilgamesch-Epos. Seit 2005 arbeitete er an einer Übersetzung der Ilias Homers, die 2008 erschienen ist (einzelne Gesänge waren schon zuvor publiziert worden). Schrott hat sich wiederholt zu Prinzipien seiner Übersetzertätigkeit geäußert. Der folgende Text ist dem ersten Teilabdruck der Ilias-Übersetzung, dem ersten Gesang, vorangestellt. Zweihundert Jahre nach Schleiermacher ist hier dessen übersetzungstheoretisches Konzept dezidiert aufgegeben. Schrott will „Homer von dem letztlich imaginär bleibenden Ufer vor Ilios abholen, um ihn hierher – ins Heute zu bringen“. Die epische Formelsprache als Reflex der Mündlichkeit sei heute funktionslos, ihre „Notwendigkeit nicht mehr gegeben“.
Sieben Prämissen einer neuen Übersetzung der Ilias Aus: Akzente 53, 3 (2006), 193–201.
1. Ein Bekannter von mir, seines Zeichens Verlagslektor, nimmt sich die Ilias manchmal aus dem Regal, nur um ein paar Verse zu lesen. Diese Sprache!, sagt er, sie übt mit ihrer seltsamen Fremdheit einen ganz eigenen Reiz aus: Er sandte verderbliche Seuche durchs Heer, und es sanken die Völker … Schnell von den Höhn des Olympos enteilte er, zürnenden Herzens, Über der Schulter der Bogen und ringsverschlossenen Köcher. Hell umklirrten die Pfeile dem zürnenden Gotte die Schultern.1
Das ist wohl deine morgendliche Dosis Surrealismus, antworte ich ihm: eine Seuche mit Verfallsdatum? Vor der die Völker sinken?? Ist damit eine zweite, alles schiffliche Leben austilgende Sintflut gemeint, oder fehlen da die Knie – genauso wie dem Bogen jeder Halt an der Schulter, wenn er über ihr schwebt? Und glaubst du wirklich, die trugen seitlich offene Köcher? Nein, die wurden wohl eher oben mit einem Deckel verschlossen – aber ist ja auch egal, in der nächsten Zeile fallen sie sowieso wieder raus, _____________ 1
[Hom., Il. 1, 10 und 1, 44–46.]
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Raoul Schrott
um Apollon überall am Rücken zu haften, als wäre er magnetisch. Nicht einmal der Hexameter ist sauber… Seit Voss lesen sich ja alle unsere Übersetzungen so, manche mehr, manche weniger. Sie befleißigen sich eines Deutschs, das wieder zurück ans homerische Ufer will – dafür zimmern sie sich einen Kahn nach den alten griechischen Satzplänen, ungeachtet dessen, daß er schon nach zwei Ruderschlägen leckt, man bald bis zu den Knien im Wasser sitzt und sinkt. Der hexametrischen Bootsform wegen biegt man sich eine Syntax voller Inversionen, Elisionen, Ellipsen, Genitive und falscher Idiome zurecht, fügt ein und um, daß man erst einmal herausfinden muß, wo Bug und Heck ist. Und dem Rudersmann setzt man eine gepuderte Perücke auf und legt ihm ein antiquiertes Vokabular in den Mund, wie es so weder Goethe noch Schiller gesprochen hätten, als genüge diese nachgemachte Klassik, um einem die Antike vor Augen zu führen. [194] Gewiß, auch die Sprache Homers bediente sich Archaismen und Anachronismen, eines Vokabulars aus verschiedenen Sprachschichten und Dialekten, das bereits die frühesten Redaktoren der Manuskripte mit Glossen versahen und die ersten griechischen Schüler schon wieder studieren mußten. Insofern verschafft diese Art der Übersetzung wirklich eine Ahnung von der Formelhaftigkeit des Epischen – obwohl sie solch synthetisch fabrizierte Phrasen nur als Travestie wiederzugeben vermögen. Denn die eigentliche crux liegt tiefer: unser Sprachgebrauch ist kategoriell anders als der Homers. Bewirkt hat dies einer der größten Umbrüche in der Menschheitsgeschichte – die Einführung der Schrift. Sie hat den Sprachfluß des Oralen gewissermaßen trocken gelegt, indem sie gesprochenen Klang zu Worten werden ließ, die man dinghaft vor Augen hat. Das brachte eine Analytik ein, die nicht nur zu einem ungleich größeren Maß an Selbstreflexivität, semantischer Differenzierung und syntaktischer Hierarchisierung führte – wie wir sie heute für selbstverständlich halten –, sondern mittelbar auch zur Herausbildung der Logik, der Wissenschaften und eines modernen Ichbegriffs beitrug. Mit der Verbreitung des Alphabets (die etwa zeitgleich zum Aufkommen der Atomistik steht) löste das bildhafte Ganzheitliche von Formeln sich nunmehr in einer detaillierenden Sprache auf. Aus der Suche nach einem stimmigen idiomatischen Ausdruck wurde die Suche nach dem passenden Begriff: dem mot juste in einer klaren Relation von Subjekt und Objekt. So eingeprägt sich das hat, sosehr kommt es uns nun in die Quere, wenn wir uns solchen Versen gegenübersehen, die alle durch die Schrift gewonnenen Bezüglichkeiten wieder auftrennen, um formelhafte Epiphrasen sui generis herzustellen. Wir nehmen nur mehr ein Mißverhältnis von Form und Inhalt wahr; statt den eigentlichen Sinngehalt zu durchschauen, sind wir mehr damit beschäftigt, eine zerrissene Syntax und ihr disparates Vokabular wieder zusammenzusetzen. Fakt ist jedenfalls, daß vor allem deshalb kaum noch jemand von der Ilias mehr als ein paar Verse kennt. Vielleicht ändert sich das, wenn man nicht mehr hin zu Homer will, sondern ihn unter diesen geänderten Vorzeichen her zu uns holt: ihn lesbar zu machen, ist das Anliegen dieser Fassung. [195] 2. Gerade die Funktionalität zwischen Form und Inhalt war einmal der Grund für die homerische Diktion gewesen. Entstanden in einer Zeit, die noch keine Schrift kannte,
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bot eine musikalisch gebundene Sprache die einzige Möglichkeit, Wissen bestmöglich erinnerbar zu machen: nur dazu wurde die Poesie ja erfunden. Ausgewählt, um in das Raster des Hexameters zu passen, verbanden sich die Worte dabei zu Formeln – sprachlichen Fertigkeiten, aus denen sich beim Vortrag dann Zehntausende von Versen bauen ließen, rhythmische Blöcke, auf denen ganze Erzählgebäude errichtet werden konnten. Was sich in diesen Versen sagen ließ, war – dem Wesen des Formelhaften entsprechend – tendenziell eher um- als beschreibend: sie waren Ausdrucksformen der Antonomasie. Der Rahmen der Formel spannte eine Bildfläche auf, in der das Dargestellte nur schematisch umrissen wurde: detaillierte Konturen verlieh ihm erst die Intonation des Rhapsoden, der Kontext und ein Publikum, das diese Maltechnik gewohnt war und einzelne Linien selber zu vervollständigen wußte. Zu Redewendungen festgefügt und mit einer melodischen Kontur versehen, waren diese Formeln jedoch leicht memorisierbar – ein Liedtext ist immer weit umfassender im Gedächtnis zu behalten als Prosa. Damit wurden sie auch zur Basis des extemporierenden Epen-Vortrags: wobei keine Fassung der anderen glich, sie je nach Laune des Rhapsoden und des Publikums voneinander abwichen. Obwohl das, was wir vorliegen haben, schon ein Text ist – ob ursprünglich von ‚Homer‘ niedergeschrieben oder von anderen über längere Strecken und Zeiträume aufgezeichnet, tut hier weniger zur Sache – findet sich darin dennoch eine orale Performance fixiert. Mündlich gedacht und konzipiert, war sie auch als Gesang komponiert: die Sprachmelodie umfaßte dabei drei verschiedene Tonhöhen, unterschiedliche Tonlängen von langen und kurzen Silben sowie einen Iktus, der überdies noch durch ein rhythmisch angeschlagenes Saiteninstrument verstärkt werden konnte. Die Mnemotechnik der Schrift hat schließlich jene der homerischen Diktion verdrängt; erst durch sie ließ sich das, was wir meinen, auch mit der entsprechenden Ausdrucksvielfalt wiedergeben: in ungleich breiteren Stilregistern. Verloren haben wir dabei jedoch das polyphon Melodische des griechischen Hexameters: mit unserer monotonen Prosodie, die nur mehr den Iktus von betonten Silben kennt, läßt er sich nicht einmal ansatzweise mehr nachahmen. [196] Über den Fluß der Zeit zu setzen, bedarf es viel: was den ursprünglichen Horizont der Ilias rekonstruieren hilft, ist – wie die Kommentare zeigen – Hunderte Male umfangreicher als der eigentliche Text. Um mehr als nur ein Standbein in der Troas zu haben, müßte man Gräzist, Literaturwissenschaftler, Linguist, Historiker und Archäologe in Personalunion sein – selbst dann aber werden alle Erkenntnisse erst verständlich, wenn sie sich auch in unseren Worten ausdrücken lassen. Will man sich nicht einer funktionslosen Sprache bedienen, muß deshalb die Textur des Epos heute anders aussehen. Die Notwendigkeit einer Formelsprache ist nicht mehr gegeben. Und auch für den Hexameter – der beim Übersetzen überdies zu einem Prokrustesbett wird, das den natürlichen Duktus des Deutschen verstümmelt – gibt es keinen Grund mehr; an seine Stelle lassen sich flexiblere Rhythmen setzen, die sein schwebendes Singen stimmig machen: innerhalb typographischer Grenzen nun. Unter diesen Prämissen will die vorliegende Fassung Homer von dem letztlich imaginär bleibenden Ufer vor Ilios abholen, um ihn hierher, ins Heute zu bringen. Sie kann
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sich dabei auf eine andere Art von Treue berufen. Auch Homer hat einen damals schon uralten Stoff für seine Zeit neu gewoben, ihn den musikalischen Schnittmustern seiner Sprache gemäß zurechtgeschneidert und seinen Vortrag für sein jeweiliges Publikum zugeschnitten. Diese rhapsodische Tradition wieder aufnehmend, indem man nach 3000 Jahren auf eine andere Zeit, eine andere Sprache und ein anderes Publikum eingeht, ist diese Fassung also nur eine neue Performance. 3. Die musikalische Normierung der Sprache durch den Hexameter hat Homers Diktion ein hohes Maß an Artifizialität verliehen – kein Mensch hat je so gesprochen. Sie bedingte nicht nur eine spezielle Idiomatik, sondern auch eine oft sperrige Grammatik von Satzblöcken, deren Bezüge eher konjektural ausfielen. Wo sie ihre Informationen im für jede orale Kultur typisch parataktischen Stil aneinanderreihte, bei- und nachstellte, um komplexe Sachverhalte darzulegen, erlaubt ein Text heute ein größeres Maß an Unterordnung, Variation und Konzision. Wo der Rhapsode durch oftmaliges Wiederholen auf die Aufmerksamkeitsspanne eines Zuhörers Rücksicht nahm, erschweren so viele Rückverweise jedoch das Lesen: sie wirken nunmehr redundant und hemmen. Dazu kommt, daß das der Memorisierbarkeit wegen begrenzte Re-[197]pertoire an Formeln seinen Zweck nur erfüllte, wenn diese vielseitig verwendbar waren. Ihre Ausdrucksfähigkeit ist deshalb auch beschränkt – hätte die orale Tradition für jedes emotionale Register einen eigenen Vorrat an Phrasen herausbilden wollen, das ohnehin erstaunliche Erinnerungsvermögen eines Rhapsoden (der mit diesen ‚Wortflicken‘ sein Epos ‚zusammennähte‘) wäre überfordert gewesen. Sie bevorzugt deshalb ein neutrales Stilregister; die meist nur angedeuteten Tonlagen von Sarkasmus, Ironie, Provokation, Verächtlichkeit oder Weinerlichkeit weiter auszugestalten, dazu war der Vortragende da – er konnte dem Gesagten über Intonation, Mimik und Gestik Prägnanz verleihen. Diese im Original bloß skizzierte Intentionalität versucht diese Fassung deshalb voll auszumalen – wobei ihr auch die Wiederholungen ermöglichen, Stilregister zu wechseln und zu modulieren. Sie kann dabei aber auf ein Erbe zurückgreifen, das uns die Tradition des Mündlichen hinterlassen hat: jenen an die 15 000 Formeln umfassenden Sprachschatz an Redensarten, von ‚Honig ums Maul schmieren‘ bis zu ‚vom Hocker hauen‘. Den für eine Situation passenden Ausdruck zu finden beruht natürlich auch auf einer Interpretation des Kontextes. Stützen kann sie sich dabei auf jene hermeneutischen Auslegungen, wie sie die Glossen zur Ilias entwerfen, von Ameis’ Schulausgabe angefangen über Leaf, Willcock, Jones, dem umfassenden Anmerkungsapparat Kirks und besonders auf Latacz’ für die ersten Gesänge vorliegenden Bände des ‚Basler HomerKommentars‘. Das Wissen um die Realien, Materialien, Deutungen und Anspielungen fließt von daher in die Fassung mit ein; der Erklärungsbedarf einer Vokabel oder eines Verses findet sich folglich hier möglichst knapp paraphrasiert wieder: diese Fassung schreibt das mit, was wir heute über den Text und seine Hintergründe wissen. 4. Wir suchen das Alte, um das Andere zu entdecken – und finden dabei das Eigene wieder: es macht uns das Fremde erst als solches bewußt, rückt uns dadurch aber auch das Eigene in ein neues Licht. Der überzeitliche Bezugspunkt dabei ist jedoch das allge-
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mein Menschliche; seine Triebhaftigkeit hat sich quer durch die Zeiten nur unwesentlich verändert – es findet sich zwar in jeder Kultur anders gefaßt, unterschiedlich akzentuiert und zensuriert wieder, aber es bleibt dennoch das, was uns Zugang zu ihren hinterlassenen Zeugnissen verschafft. [198] In der Ilias wird nicht nur gekämpft und vergewaltigt, vor allem wird gestritten, gelitten, beleidigt, lamentiert, provoziert und die Götter werden kritisiert; eher ausnahmsweise kommen auch Frauen, Diener und mit Thersites auch einmal ein Revoluzzer weit niedereren Adels zu Wort; und alles Lügen und Jammern der Menschen ist dabei nichts gegen den voyeuristischen Zynismus der Götter – bei all dem wahrt das Original jedoch sein Dekorum. Das liegt nicht nur am Thema der Aggression (Simone Weil hat das Epos ein poème de la force genannt), die nur solange dominant bleibt, wie sie Sexualität sublimiert, oder am neutralen Register seiner Diktion. Dafür verantwortlich sind auch die Moralvorstellungen des gehobenen Publikums, für das der Text bestimmt war, und wohl auch seine standardisierende Redaktion unter Peisistratos und seinen Söhnen im 6. Jahrhundert v. u. Z., den Tyrannen von Athen, für die der Besitz von Dichtung in den ersten ‚Büchereien‘ – und damit ihre Kontrolle – Zeichen von Prestige und Macht war. Insofern drückt sich in diesem Dekorum die Zensur und Selbstzensur jeder höfischen Standesdichtung aus. Heute unerheblich geworden, benennt diese Fassung deshalb dort, wo nur umschrieben und angedeutet wird, das eigentlich Implizierte etwas deutlicher. Wo Agamemnon als ‚Weinschlauch‘ bezeichnet wird, der es mit ‚den schamlosen Augen eines Hundes‘ auf Achilleus’ Beutefrau abgesehen hat, nennt die ihn einen ‚Saufkopf ‘, der nicht nur diebisch gierig auf einen Knochen aus, sondern – dem Satyrischen des Weins gemäß – auch ‚geil‘ ist. Das sind Ausnahmefälle. Ihre Sprache gewinnt diese Fassung viel öfter dem situativen Kontext und der darin angelegten Haltung der Figuren ab. Wo die homerische Diktion ihr fremdbestimmtes Ich von außen beschreibt, durch Epitheta stereotypisiert und es weniger dadurch zeigt, wie sie sprechen, als durch das, was sie tun, setzt sie innen an und paßt das Gesagte an die Situation an, um ihnen so Körperlichkeit und eine stimmige Psychologie zu verleihen: das ist der Referenzpunkt, an dem wir heute die Wahrheit einer Figur messen. Wenn es um jene Wortgefechte zwischen Agamemnon und Achilleus geht, die das ganze Drama der Ilias begründen, ist deshalb nicht nur der Inhalt über- und untergriffig, sondern wird es auch die Wortwahl. Sie erfindet dabei nichts hinzu, obwohl sie manchmal dem idiomatischen Bogen des Deutschen etwas weiter folgt; sie akzentuiert nur genauer als es Dekorum und Formelsprache zugelassen hätten. Gerade das Artifizum der homerischen Diktion führt vor, daß sie ein Medium war: das jedoch wie jedes Medium Dinge möglichst eindrück-[199]lich vor Augen führen will, ungeachtet seiner Eigenarten. Was nur formelhaft sagbar ist, verzerrt notgedrungen alles eigentlich Gemeinte: es läßt sich darin nur überzeichnet und mit einer gewissen Unschärfe abbilden. Um das zu übersetzen, was sie sagt, muß man deshalb zuerst einmal die in ihnen gefaßten Bilder sehen. Vom Oralen zum Schriftlichen verändert sich dann jedoch der Ablichtungsprozeß: wo die homerische Diktion einem Mosaik ähnelt, ist ein Text heute eher mit einer
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Fotografie vergleichbar. Die Tesserae der Worte sind zwar immer noch da, aber es sind daraus graduell schattiertere und farblich nuanciertere Pixel geworden. Wie man bei jedem Foto aber bald die Körnigkeit vergißt und die Figuren darin zu erkennen beginnt, ist wohl auch dem Publikum damals hinter dem Formelhaften des Mediums das Erzählte real geworden. Es wurde in den Köpfen der Zuhörer so lebendig wie uns heute ein Film im Kino, bei dem wir gar nicht mehr merken, daß jede Bewegung nur durch eine Abfolge von einzelnen Standfotos suggeriert ist. Das war jedenfalls die erste Überraschung bei der Übersetzung: wie spannend der Text sich darstellt, sobald die einzelnen Bilder Kontur erhalten. 5. Das führt zu einem speziellen Problem des Epos: den Epitheta. Achilleus ist ‚schnellfüßig‘ – egal ob er steht oder liegt; Hera hat die großen Augen einer Kuh und die weißen Arme allen untätigen Adels – gleich welchen Blick sie aufsetzt und wie sehr sie sich die Hände im Schlachtverlauf schmutzig macht. Es sind unablösbare Wesenseigenschaften, die – herkömmlicher Lehrmeinung nach – trotz eklatantester logischer Widersprüche stehenbleiben, weil sie nur schmückende Funktion haben und keinem aktuellen Zweck dienen. Da sie mit dem Nomen eine Formel bilden, hätten Sänger wie Publikum den Widerspruch zwischen ihnen und dem Kontext gar nicht empfunden, ihn gewissermaßen ausgeblendet, wie man bei Sätzen wie ‚Der liebe Gott hat mich gestraft‘ das ‚liebe‘ überhört. Eine zweite Überraschung bei der Arbeit an der Ilias war, daß dies so nicht zutrifft. Eine Fassung erlaubt ja die Freiheit, diese Epitheta auch wegzulassen, weil sie das Narrative brechen. Doch dabei zeigt sich, daß damit ein nicht zu unterschätzendes Element epischer Resonanz verlorengeht: wenn sie genealogisch sind, dann verweisen sie jedesmal auch [200] über das Epos hinaus. Wird Zeus als ‚Sohn des Kronos‘ betitelt, dann um je nach Kontext seine Verschlagenheit, seine urweltliche Macht oder seinen Herrschaftsanspruch über die Götter zu betonen; Agamemnon als ‚Sohn des Atreus‘ zu bezeichnen, bringt immer auch seine brutale und zerrissene Familiengeschichte mit ein und erklärt dadurch zusätzlich seine impulsiv aggressive Art. Das Epitheton tippt damit einen dem Publikum bekannten Hintergrund an, einen anderen Mythos – gleichsam als Vorform von Intertextualität. Zum anderen präsentieren die Epitheta Eigenschaften in miniaturhafter Bildlichkeit. Ihre Stereotypisierung verleiht damit auch dem ganzen Vers eine indirekte Charakterisierung; das Statuarische an ihnen läßt sich dann oft an einer Handlung auch verbalisieren. In diesem Sinne läßt sich der Satz ‚Der schnellfüssige Achilleus trat in die Mitte der Versammlung‘ auch begreifen als ‚Achilleus trat mit einem schnellen Schritt in die Mitte der Versammlung‘ – es liegt ja in seiner Natur. Im Bausteinhaften der homerischen Diktion sind Epitheta nur die schematischste und sprachlich unaufwendigste Art, wie sich eine Eigenschaft ausdrücken läßt – der Kombinatorik dieser Sprache gemäß ist sie aber durchaus auf den Gesamtzusammenhang applizierbar. Die Entdeckung der Formelsprache der griechischen Epen hat die Mechanik ihrer Gedächtnisleistung offengelegt – das heißt aber nicht, daß Homer deren Zwängen hilflos ausgeliefert gewesen wäre und seine Verse extemporiert hätte, als würde er einen
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Spielautomaten bedienen, dessen Symbole willkürlich nacheinander einrasten. Sein antrainiertes Assoziationsvermögen ruft vielmehr auch jene Epitheta auf, die für eine Aussage von Bedeutung sind – im selben Maß wie der Assoziationsgehalt eines Epithetons ihm dann auch zum Trittstein werden kann, der ihm vorgibt, in welche Richtung der nächste Schritt gesetzt wird. Selbst wenn die Konnotationen dabei nicht unmittelbar vom Vers aufgenommen werden, so klingen sie doch mit. Denkt Achilleus ans Kämpfen, werden die Troianer mit langen Lanzen vorgestellt; steht Hephaistos seiner Mutter geschickt zur Seite, wird er als gewandter Handwerker betitelt. Zu glauben, der Symbol- und Informationsgehalt der Epitheta würde dabei einfach übergangen, ist, als behauptete man, bei einem Gedicht nur den Wohlklang der Reime zu hören, ihren Wortsinn aber zu ignorieren. Wir können schon wahrnehmungspsychologisch gar nicht anders, als beides in einem gestalthaften Ganzen zu integrieren: selbst bei einer Phrase wie dem ‚strafenden lieben Gott‘ wird uns eine contradictio in adiecto bewußt, die wir sinnvoll aufzulösen bemüht sind – die kon[201]krete Bildlichkeit der Epitheta ist da noch um einiges präsenter. Sie bewirken gewissermaßen eine interpretative Korrektur des gesamten Kontextes einer Aussage, ein rezeptives Realisieren ihrer implizit vorhandenen Symbolik. Wie zwangsläufig diese Reaktion ist, zeigen jedenfalls bereits die ersten Scholiasten der Ilias. Sagt der Flußgott Skamander nach der Schlacht ‚Voller Leichen sind mir die lieblichen Fluten‘, erläutern sie dieses offensichtliche Paradoxon mit: ‚das Epitheton ist gut gewählt; es demonstriert die Klage, daß es solche Fluten sind, die da besudelt werden‘. Fallen die Griechen auf die Ebene vor Troia ein, die seit neun Jahren nur mehr ein Schlachtfeld ist, heißt es bei Homer: ‚Sie machten halt auf der Wiese des Skamander, der blumenreichen‘ – worauf die Glosse erklärt: ‚auf der Wiese, die früher Blumen trug‘. 6. Zu glauben, diese Art von Kontextsensitivität hätten weder Homer noch sein Publikum besessen, heißt die Intelligenz beider zu unterschätzen – und zu übersehen, daß der Reihungsstil der homerischen Diktion Punkte setzte, die die Zuhörer zur Figur verbanden. Diese Linien nachzuzeichnen, bemüht sich die vorliegende Fassung. Die üblichen ‚Geflügelten Worte‘ finden sich deshalb in ihr nicht: damit war eigentlich das Gefiederte von Pfeilen gemeint – die direkt und schnell ihr Ziel erreichen, durch ihre Schärfe verletzen oder ins Schwarze treffen. […]
Fehlerverzeichnis Das Verzeichnis notiert jeweils an erster Stelle die korrigierte Version der vorliegenden Ausgabe, an zweiter den fehlerhaften Text der Vorlage. Die Seitenzahlen sind die der Druckvorlage. In der Voss-Rezension von August Wilhelm Schlegel sind die griechischen Passagen im zugrundegelegten Zeitschriftendruck – vermutlich wegen mangelnder Sprachkenntnisse des Setzers – sehr fehlerhaft. Da unbekannt ist, welche Ausgabe Schlegel benutzte, und es sich fast ausschließlich um fehlende oder falsche diakritische Zeichen und kleine Differenzen der Schreibweisen handelt, haben wir uns entschlossen, bei Zitaten grundsätzlich die modernen Ausgaben von Helmut van Thiel (Odyssee, 1991) und Martin L. West (Ilias, 1998/2000) zugrundezulegen und bei einzelnen Wörtern die Akzentsetzung überall zu vereinheitlichen. August Wilhelm Schlegel Sp. 477 die wir aber nicht entscheiden Sp. 477 Κὰδ δέ Sp. 478 Ὃς δέ κ’ἀνὴρ ἀπὸ ὧν ὀχέων ἕτερ’ ἅρμαθ’ ἵκηται Sp. 479 Θέμιστες Sp. 480 Il. XIX, 177 Sp. 482 θυμός Sp. 482 θυμοῦ δευομένους Sp. 482 ψυχή Sp. 483 ὀσσόμενος πατέρ’ ἐσθλὸν ἐνὶ φρεσίν Sp. 483 αἱρείτω Sp. 483 ἐών Sp. 484 ὃ δ’ ἤϊε νυκτὶ ἐοικώς Sp. 484 ὀκρυόεντος Sp. 484 πυρὸς ὁρμῇ Sp. 484 μετελθών Sp. 484 ἐρυθρόν
statt statt statt statt statt statt statt statt statt statt statt statt statt statt statt statt
die aber nicht entscheiden Καδδέ Ὅς δέ κ’ἀνὴρ ἀπὸ ὧν ὀχέων ἕτερ’ ἅρματ’ ἵκηται Θεμιστες Il. XIX, 117 θυμος (2x) θυμου δευομενους ψυχὴ (2x) ὀσσoμένος πατέρ’ ἐσθλὸν ἐνὶ φρεσὶν ἁιρείτω ἐων ὁ δ’ἤϊε νυκσὶ ἐοικώς ὀκρύοεντος πυρός ὁρμῆ μετελθὼν ἐρυθρὸν
508 Sp. 484 Sp. 484 Sp. 484 Sp. 491 Sp. 491 Sp. 491 Sp. 491 Sp. 491 Sp. 491 Sp. 493 Sp. 493 Sp. 494 Sp. 494 Sp. 495 Sp. 495 Sp. 497 Sp. 499 Sp. 500 Sp. 501 Sp. 501 Sp. 501 Sp. 501 Sp. 501 Sp. 501 Sp. 501 Sp. 501 Sp. 502 Sp. 502 Sp. 502 Sp. 502 f. Sp. 506 Sp. 509 Sp. 509 Sp. 510 Sp. 517 Sp. 518 Sp. 518
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πολὺ μεῖζόν τηλεθόωσα στῆσαν harter Ausdruck σοὶ δὲ γάμος σχεδόν ἐστιν ὅτι 37. und 38. Verses ἄγῃσι eines Frachtwagens Im 46. V. noch etwas weit Bedeutenderes ἅλς ἱκέτης dem wohlklingenderen αἰδοίοισιν wäre Gewinn. τανύπεπλοι die gernaustheilende Mutter, das schwerhinwandelnde Hornvieh ἀτρυγέτοιο ἀργυρότοξε ῥοδοδάκτυλος Ἠώς πόλιν εὐρυάγυιαν an andern Stellen Häuser einer Stadt können der Gäul’, κλυτοπώλῳ entruderten.“ z. B. Il. V. 353 Getümmel“; von Mühlsteinen ἕλε θοὰς ἐπὶ νῆας in die Schiffe gelang’ er“? εἰλίποδας ἕλικας Οὕνεκα τὸν Χρύσην ἠτίμησ’ dūmpf aūfbāllt des nächsten Fußes fällt, z. B.
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πολύ μεῖζόν θηλεθόωσα ξῆσαν harter, Ausdruck σοὶ δὲ γάμος σχεδόν ἐξιν ὁτι 37 und 38 Verses ἄγησι einse Frachtwagens Im 40 V. nach etwas weit Bedeutenderes ἃλς ἱκετης dem wohlklingenderem ἀιδοιοισιν wäre Gewinn, τανυπεπλοι die gern austheilende Mutter, das schwe rhinwandelnde Hornvieh ατρυγέτοιο ἀργυροτοξε ῥοδοδακτυλος Ἠως πολιν ἐυρυαγυιαν andern Stellen Häuser einer Stadt kännen der Gäul,’ κλυτοπωλῳ entruderten. z. B. Il. V, 353 Getümmel; von von Mühlsteinen ἑλε θοας ἐπι νηας in die Schiffe gelang’ er?“ ἐιλίποδας ἓλικας Ὅυνεκα τὸν χρύσην ἠτίμης’ dūmpf aūfbāllt des nächsten Fußes fällt, Z. B.
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Karl Wilhelm Ferdinand Solger S. der Bote in den Persern XLVIII
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der Bote in den Personen
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher S. 69 Auf der anderen Seite S. 81 wenn man sich diese Freude S. 84 daß wir keine bessere Formel
statt statt statt
Auf der andere Seite wenn sich diese Freude wir keine bessere Formel
Karl Heinrich (?) Pudor S. 106 Schöpfungen alter Kunst S. 107 des 19ten Jahrhunderts S. 108 z. B. ein Thucydides S. 109 schriftlichen Ueberresten S. 111 wer aber durch gründliches S. 112 sich vernehmen läßt S. 119 Schleiermacher, v. Raumer
statt statt statt statt statt statt statt
Schöpfungen altrr Kunst des 19ten Jahrhunderes z. B. ein Thucidydes schriftlichen Uebeeresten wir aber durch gründliches sich vernebmen läßt Schleiermacher v. Raumer
Wilhelm von Humboldt S. XV den Begriff etwas anders S. XIX das genialischste Werk S. XXXV andren Versarten unterscheiden
statt statt statt
den Begriff etwas andres das genialischte Werk andren Versarten unterschieden
Carl Schäfer S. 12 in der nämlichen Physiognomie
statt
in der nämlichen Physionomie
Robert Prutz Sp. 488 Venice preserv’d Sp. 491 Shakspeareromanie Sp. 494 aufgeworfen werden Sp. 503 gewesen sein würden. Solger
statt statt statt statt
Venice preseród Shakespeareomane aufgeworfen worden gewesen sein würden Solger
Ludwig Seeger S. 7 Versmaaße S. 11 tyrannische Machtsprüche S. 15 dialogischen Versmaaße
statt statt statt
Versmase tyranische Machtsprüche dialogischen Versmaase
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Tycho Mommsen [Quellen- Fünfzehntes angabe] Julius Keller [Titel] mit Berücksichtigung S. 5 Französisch S. 4 Und was ist es anderes S. 11 seine Gedanken S. 14 die sie bezeichnen S. 19 ratio, mens, ingenium, consilium S. 20 mit den Sinnen wahrnehmbar S. 21 könnte in jedem einzelnen Falle S. 23 im weitesten Umfang S. 29 das Shakespeare’sche Wortspiel S. 31 Möglichkeiten nicht gerecht werden S. 31 Gerundivum S. 31 non possum quin S. 32 Übersetzung [analog zur sonst verwendeten Schreibweise] S. 34 v. Wilamowitz S. 34 diese Art, ein Original kennen zu lernen, […] S. 36 bei Dauerlauten wie W, M, S u. a. S. 41 Den fremden Begriff S. 41 eigenes Leben S. 57 ἄρα S. 75 „The science of thought“
statt
Funfzehntes
statt statt statt statt statt statt
mit Berucksichtigung Französish Und was ist es anders sein Gedanken die sie bezeichen ratio mens, ingenium, consilium
statt statt statt statt statt
mit den Sinnen wahrnembar konnte in jedem einzelnen Falle im weitestem Umfang das Shakepeare’sche Wortspiel Möglichkeiten, nicht gerecht werden Gerundium von possum quin Uebersetzung
statt statt statt
statt statt statt statt
v. Willamowitz diese Art ein Original kennen zu lernen, […] bei Dauerlauten wie W, M, S. u. a. Dem fremden Begriff einiges Leben ἂρα „The science of thaught“
Rudolf Hunziker S. 72 U. v. Wilamowitz-Moellendorff
statt
U. v. Wilamowitz-Moellendorf
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff S. 18 πάντες γὰρ ὅσοι
statt
πάντες γάρ ὁσοι
statt statt statt
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S. 18 S. 19 (Anm.) S. 22 S. 23 S. 26 S. 26 S. 31 S. 36
καί κεν also wußte, daß diese Treue
statt statt
καὶ κεν also wußte, das diese Treue
ἄψορρον klassische Lyrik χἠ χὤς ἀνεβλάστησε ἀσύλων
statt statt statt statt statt statt
ἀψορρὸν klassiche Lyrik χἡ χὥς ἀνέβλαστησε ασύλων
statt statt
Opitz Hölderlin S. 24
statt
„Triff noch einmal‘
Richard Newald S. 197 Lachmann-Muncker S. 197 Baudelaire S. 204 mythische
statt statt statt
Ladmann-Muncker Beaudelaire mytische
Rudolf Alexander Schröder S. 602 ihrer S. 605 Heiligtum S. 609 Partizipialkonstruktionen S. 618 („Eigen-Sprachen“) S. 627 ausschließlich
statt statt statt statt statt
ihres Heilligtum Partizipalkonstruktionen („Eigen-Sprachen)“ ausschließlicht
Wolfgang Schadewaldt S. 35 etwas S. 23 Staiger S. 39 der Plastik, der Malerei
statt statt statt
ewas Stacher der Plastik der Malerei
Dietrich Ebener S. 587 Höchststand S. 589 unerho΅ rtes Geschéhnis
statt statt
Höchstand unerhórtes Geschéhnis
Wolfgang Schildknecht S. 28 Opitz, Hölderlin S. 29 S. 21 (Anm. 7) S. 30 „Triff noch einmal“
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Volker Ebersbach S. 12 philologischen S. 20 Rhythmus
statt statt
phililogischen Rhytmus
Raoul Schrott S. 194 Menschheitsgeschichte S. 199 bald die Körnigkeit S. 199 nicht mehr merken S. 200 begreifen S. 200 von Bedeutung sind
statt statt statt statt statt
Menscheitsgeschichte bald auf die Körnigkeit nicht mehr zu merken begreifbar von Bedeutung ist
Personenregister Addison, Joseph 152 Adelung, Johann Christoph 85, 88 Aischines 122, 136, 487 Aischylos 42–45, 95–113, 138 f., 167, 174, 185, 190, 201, 290, 305, 309, 320, 322, 343, 386, 429, 443, 447, 453, 477 Albrecht, Michael von 493–497 Alexander der Große 118 al-Hariri (Abu Muhammad al-Qasim ibn Ali ibn Muhammad ibn Uthman ibn al-Hariri al-Basri) 188 Alkaios 135 Amelung, Walther 357 Anakreon 150 f., 163, 173, 190, 339 Anna Amalia, Herzogin von SachsenWeimar-Eisenach 176 f. Annenskij, Innokentij 447 Anouilh, Jean 447 Aratos von Soloi 135 f. Archilochos 322 Ariosto, Ludovico (Ariost) 124 f., 134, 167, 181, 185, 187, 190, 201, 290, 331 Aristainetos 197 Aristides 333 Aristophanes 5, 109, 122, 133, 135, 139, 142, 155 f., 163–177, 188, 201, 214, 322, 328, 339, 342, 369, 402, 431 Aristoteles 43, 49, 91, 142, 168, 256, 258, 260, 269, 473 Arnim, Achim von 199 Arnim, Hans von 453 f. Arnold, Matthew 396 Ast, Friedrich 41 Augustus 4, 317
Bach, Johann Sebastian 49, 398 Bacon, Francis 119 Balde, Johann Jakob 309 Bardt, Carl 367 Baudelaire, Charles 369, 462 Bebel, Heinrich 473 Becker, August 163 Becker, Karl Friedrich 68, 189 Belger, Christian 305 Bentley, Richard 185 Béranger, Pierre-Jean de 163 Bergk, Theodor 142 Bernays, Michael 279, 295, 305, 310, 370 f. Beyer, Conrad 305, 363 Biese, Alfred 307 f. Bion 5 Birch-Pfeiffer, Charlotte 165 Blackwell, Thomas 41 Blankenburg, Christian Friedrich von 149 Bloesch, Hans 299 Blümner, Hugo 309 Boccaccio, Giovanni 181, 184 Bodmer, Johann Jakob 5, 151, 154, 380 f. Boeckh, August 127, 188, 199–204 Boor, Helmut de 361 Bopp, Franz 183 Borberg, Karl Friedrich 172 Borchardt, Rudolf 351, 357 f., 391 Borck, Caspar Wilhelm von 152, 185 Boutens, Peter Cornelis 396 Brecht, Bertolt 447, 468 Breitinger, Johann Jakob 380 Brentano, Clemens 199 Brockes, Barthold Hinrich 152, 181
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Personenregister
Brosin, Oskar 311 Brunck, Richard François Philipp 56 Büchner, Georg 163, 490 Büchner, Karl 490 Bürger, Gottfried August 5, 9–11, 14–16, 24 f., 135, 154, 185, 304, 395 Bulle, Constantin 309, 311 Burckhardt, Jakob 313, 321 Buschor, Ernst 438, 440 f., 448 f., 453, 456 f. Butler, Samuel 375 Byron, Lord George Gordon 180, 185, 188, 190, 331 f. Caesar, Gaius Iulius 243, 317, 482– 484 Calderón de la Barca, Pedro 3, 125, 134, 167, 187, 190, 290, 331 f., 384 Canitz, Friedrich Rudolph Ludwig von 181 Caprivi, Georg Leo von 295 Carducci, Giosuè 397 Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach 142 Cato 136, 152, 292 Catullus, Gaius Valerius 136, 190, 202, 461, 465, 467, 493 Cauer, Paul 287, 290, 292, 309, 364, 367 Cervantes Saavedra, Miguel de 184, 202, 203, 318, 375, 462, 490 Chamfort, Nicolas 176 Chamisso, Adalbert von 180, 186 f. Chaucer, Geoffrey 181, 191 Christ, Johann Friedrich 149 Chrysostomos, Johannes 177 Cicero, Marcus Tullius 91, 122, 136, 140, 155, 168, 184, 271 f., 293– 295, 317, 363, 473, 475, 480–482, 487 Claudel, Paul 447 Coleridge, Samuel Taylor 185 Corneille, Pierre 275
Corssen, Wilhelm 337 Creech, Thomas 204 Creuzer, Friedrich 199 Dacier, Anne 44, 176 Dahn, Felix 293 Damm, Christian Tobias 122 Dante Alighieri 3, 181, 185, 187, 189, 223, 319, 322, 331, 384, 387 Degen, Johann Friedrich 92, 148 Demosthenes 88, 90, 93, 122, 136, 184, 293–296, 336, 487 Denner, Balthasar 169 Diez, Heinrich Friedrich von 183 Dionysius von Halikarnassos 36 Donner, Johann Jakob Christian 145, 160 f., 172, 188, 199, 201, 220, 330, 453 Dörpfeld, Wilhelm 393 Dostojewski, Fjodor M. 490 Drerup, Engelbert 370 Droysen, Johann Gustav 138 f., 141 f., 165, 167, 179, 201, 328, 342, 369, 380 Dryden, John 427 f. Dyck, Johann Gottfried 149 Ebener, Dietrich 443–459 Ebers, Georg Moritz 302 Ebersbach, Volker 461–471 Ebert, Johann Arnold 152 Eckermann, Johann Peter 140 Ehrenthal, Franz Wilhelm 290 Eichendorff, Joseph von 428 f. Eliot, T. S. 391 Enders, Carl 351 Engel, Johann Jacob 90 Ennius, Quintus 292, 315 Erfurdt, Karl Gottlob August 56 Ermatinger, Emil 299 Ernesti, Johann August 149 Eschenburg, Johann Joachim 67, 184 Euripides 42–45, 97, 109, 122, 135, 159, 173, 201, 205–215, 278, 289, 306, 322, 325, 332, 343, 352, 379,
Personenregister
393, 413, 422, 443, 447, 453, 455, 458, 499 Fabricius, Johann Albert 149 Fähse, Gottfried 41, 356 Fairfax, Edward 182, 185 Fehrle, Eugen 485–487 Fink, Gerhard 493 Firdusi (Abū l-Qāsem-e Firdausī) 331, 384 Fischart, Johann 140, 269, 369 Foersom, Peter 185 Forster, Georg 188 Fraenkel, Eduard 313–323 Freiligrath, Ferdinand 180, 187 Freytag, Gustav 293 Friedländer, Ludwig 308 Friedrich der Große 75 Friedrich I., gen. Barbarossa 184 Frisch, Max 464 Fritze, Franz 172 Frommann, Hermann 306 Fuhrmann, Manfred 473–491 Gabelentz, Georg von der 237 f. Galsworthy, John 362 Garve, Christian 90, 122 Geibel, Emanuel 311, 330, 379, 428 f., 490 Gellert, Christian Fürchtegott 140 Gellius, Aulus 45 George, Stefan 319, 351 f., 359, 363, 369, 387, 462 Gesner, Johann Matthias 149 Gessner, Salomon 151 Gildemeister, Otto 331 f. Giusti, Giuseppe 331 f. Goethe, August von 115 Goethe, Johann Wolfgang von 67 f., 83, 87, 90, 95, 115, 124–126, 134 f., 139 f., 142, 148 f., 151, 153–156, 158, 161, 170 f., 173 f., 176, 181, 183–190, 199, 211 f., 270, 274, 278 f., 287 f., 290, 297, 300 f., 303 f., 306–308, 318 f., 323, 325, 330–332, 336–338,
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340–343, 346–349, 352 f., 376 f., 380, 384, 388, 397, 399, 402, 406, 410, 422 f., 428 f., 431, 440, 467 f., 477, 488 f., 500 Goldhagen, Eustachius Moritz 152 Gottsched, Johann Christoph 150– 152, 180, 275, 277 Götz, Johann Nikolaus 151, 184 Gries, Johann Diederich 115, 124 f., 187 Grimm, Herman 309 Grimm, Jacob 183, 378 Grimm, Wilhelm 183 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von 462 Grotius, Hugo 75 Gruppe, Otto Friedrich 201, 363 Gundolf, Friedrich 315, 321, 351, 379 Gurlitt, Johannes 184 Haller, Albrecht von 180, 246, 423 Hardie, William Ross 339 Hasenclever, Walter 356 Haupt, Moriz 297, 305, 329 Haydn, Joseph 152 Headlam, Walter 339 Hebbel, Friedrich 434, 477 Hebel, Johann Peter 244–247 Hegewisch, Dietrich Hermann 90 Heidegger, Martin 477 Heilmann, Johann David 122 Heine, Heinrich 180, 339 f., 429, 469 Heinze, Johann Michael 122 Hellingrath, Norbert von 351 Herakleides Pontikos 333 Herder, Johann Gottfried 39, 41, 151, 153 f., 160, 185–188, 309, 375, 377, 387 Hermann, Gottfried 32, 37, 43, 48, 56, 95, 104 f., 173, 183, 343 Herodot 83–93, 100, 117, 140, 166, 292 f., 418 Hertzberg, Wilhelm 304, 309
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Personenregister
Herwegh, Georg 163 Hesiod 7, 135 Heusinger, Johann Michael 149 Heusler, Andreas 373 Heyne, Christian Gottlob 95, 149 f., 156, 183 Heyse, Paul 331 f. Hieronymus 473, 475, 488 Hofmannsthal, Hugo von 351–353, 356, 358, 391 Hölderlin, Friedrich 41 f., 351–353, 356, 358, 369, 386 f., 397, 404, 410, 422 f., 433, 467 f. Homer 3–38, 41, 48, 67, 120, 122, 133, 135, 148, 150 f., 154 f., 167, 181, 185–187, 190, 200 f., 203, 217–235, 241, 249 f., 252–255, 269, 271, 275, 278 f., 283, 287 f., 290–292, 297, 303, 305, 309, 319, 330 f., 333–335, 364, 370, 375, 386–388, 391, 393 f., 396 f., 402 f., 408–417, 422, 425, 429, 432, 443, 447, 463, 469, 499–505, 493 f. Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 5, 122 f., 132 f., 135, 140, 150 f., 155, 168, 182, 185–187, 190, 193, 301 f., 305, 308 f., 317 f., 337, 362, 369, 374, 391, 393 f., 412, 423, 463, 489 Hottinger, Johann Jakob 122 Huch, Ricarda 306 Hugo, Victor 183 Humboldt, Alexander von 145 Humboldt, Wilhelm von 5, 83, 91, 95–113, 115, 183, 186 f., 196, 201, 203, 237 f., 259–261, 266, 287, 290, 292, 295, 302, 309, 331, 378–380, 386 f., 425, 431, 489 Hunziker, Rudolf 299–311 Hutten, Ulrich von 83, 89, 180 Iamblichos 493 Imelmann, Johannes 362 Isidor von Sevilla 371
Jacobi, Carl Wigand Maximilian 91, 93 Jacobs, Friedrich Christian Wilhelm 93, 135, 138, 142, 196 Jacobs, Therese von 378 Jaeger, Werner 425 Jahn, Friedrich Ludwig 90 Jahn, Otto 179 Jean Paul 86, 166 Jenisch, Daniel 90 Johnson, Samuel 35 Jordan, Wilhelm 217–235, 249, 309 Joyce, James 434 Juvenal (Decimus Iunius Iuvenalis) 309 Kallimachos 331 Kant, Immanuel 190 Karl der Große 89 Keller, Julius 237–285, 287, 291, 305 f., 308–310 Kirchner, Karl 168 Kleist, Ewald Christian von 232 Kleist, Heinrich von 434 Klöden, Karl Friedrich 341 Klopstock, Friedrich Gottlieb 5, 14, 53, 103, 115, 123, 136, 150–154, 159, 167, 180 f., 185–188, 193, 279, 290, 331 f., 384, 395, 397, 406, 422, 467 f. Knebel, Karl Ludwig von 176–177 Kobell, Franz von 247 Koch, Victor Hugo 306 Kochanowski, Jan 461 Kopp, Waldemar 311 Krummacher, Friedrich Adolph 90 f. Ktesias 117 Lachmann, Karl 183, 333 f. Lachner, Franz 205 Laclos, Pierre Choderlos de 462 Lamartine, Alphonse de 183 Lange, Friedrich 83–93, 140, 292 Lange, Samuel Gotthold 150 Latacz, Joachim 502 Leibniz, Gottfried Wilhelm 75, 149
Personenregister
Lejeune Dirichlet, Georg 237, 287– 297, 310 Leppla, Rupprecht 363 Lessing, Gotthold Ephraim 57, 90, 136, 150, 153, 180 f., 183, 187 f., 190 f., 241, 246, 368, 373, 376 Lichtenberg, Georg Christoph 328 Livius Andronicus 4 Livius, Titus 297 Löbel, Renatus Gotthelf 84 Logau, Friedrich von 191 Longos 333 Lotze, Hermann 259 Lukan (Marcus Annaeus Lucanus) 369, 374, 443 Lukian 122, 140, 155 Lukrez (Titus Lucretius Carus) 204, 423, 443 Luther, Martin 28, 83, 89–91, 115, 121, 140, 180, 182, 184, 203, 246, 279, 288, 292, 314, 320, 372, 374, 376, 380, 388, 394, 399, 412, 417, 431 Maaß, Johann Gebhard Ehrenreich 149 Macchiavelli, Niccolò 184 Mann, Heinrich 462 Mann, Thomas 466 Marbach, Gotthard Oswald 145, 161, 213 Marlowe, Christopher 181 Menander 322 Mendelssohn Bartholdy, Felix 172, 203, 205, 209 Mendelssohn, Moses 91 Meyer, Friedrich Ludwig Wilhelm 154 Michaelis, Johann David 150 Michelangelo Buonarroti 339 Milton, John 152, 181, 189, 381 Minckwitz, Johannes 148, 201 Molière, Jean-Baptiste 391 Mommsen, Theodor 179
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Mommsen, Tycho 179–198, 287– 291, 306, 310, 374 f. Mörike, Eduard 330, 380, 423, 428 Moritz, Karl Philipp 52 f. Moschos 5 Motte-Fouqué, Friedrich de la 83 Mügeln, Heinrich von 372 Müller, Hieronymus 165, 167, 494 Müller, Johannes von 86, 90, 141 Müller, Max 259 f. Müller, Otfried 201 Nadler, Karl Gottfried 247 Napoleon Bonaparte 184 Neumann, Wilhelm 83 Newald, Richard 361–378 Nickel, Rainer 474 Nicolai, Friedrich 368 Nietzsche, Friedrich 320, 351, 434 Nikandros aus Kolophon (Nikander) 135 Nikodemus 352 Nonnos 443 Notker der Deutsche 371 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 376 f. Opitz, Martin 83, 90, 115, 121, 150 f., 153, 159, 161, 180, 185, 351–353, 356, 395, 398 f., 422 f. Otfried von Weißenburg 89 Otway, Thomas 152 Ovid (Publius Ovidius Naso) 5, 133, 170, 309, 311, 331, 461, 463, 493–497 Pannonius, Janus 461 Paul, Hermann 307 Perikles 181 Persius (Aulus Persius Flaccus) 309 Petersen, Julius 364, 378 Petrarca, Francesco 181, 190, 437 Petronius, Titus 461, 465 Philochoros 45 Philostratos 333 Phylarchos 333
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Personenregister
Pindar 56, 95, 97, 101, 122, 151 f., 155, 163, 167, 173, 179, 184, 188, 190, 201, 204, 318, 331, 342, 384, 386 f., 393, 423 Pitt, Christopher 184 Platen, August von 183, 185–188, 193 Platon 45, 59, 78 f., 132, 168, 175, 199, 201, 204, 258, 266, 268, 270, 272, 294, 315, 319, 330, 369, 385 f., 473 Plautus, Titus Maccius 190, 437 Plinius der Jüngere 140 Plüß, Theodor 308 Plutarch 430, 437 Pochhammer, Paul 331 Poliziano, Angelo 419 Pope, Alexander 7, 35, 154, 185, 391 Porson, Richard 108 Pott, August Friedrich 183 Prellwitz, Gertrud 357 Properz (Sextus Propertius) 290, 423 Proust, Marcel 437 Prudenz (Aurelius Prudentius Clemens) 473 Prutz, Robert 145–161, 170 f. Pudor, [Karl Heinrich] 83–93 Pulci, Luigi 185 Pyra, Jakob Immanuel 150 Rabanus Maurus 89 Rabelais, François 140, 369 Rabener, Gottfried Wilhelm 175 Racine, Jean 275, 391 Raffael 190, 203 Ramler, Karl Wilhelm 115, 123, 151–153, 185–187 Raumer, Friedrich von 88, 93 Raupach, Ernst 165 Reinhard, Franz Volkmar 90 Reinhardt, Karl 453 Reinick, Robert 244 Reiske, Johann Jakob 122, 336 Reuchlin, Johannes 182
Riemer, Friedrich Wilhelm 115– 126, 135 Rilke, Rainer Maria 434 Rode, August von 493 Roethe, Gustav 425 Ronge, Herbert 485–487 Ronsard, Pierre de 152, 396 Rothfuchs, Julius 288 Rückert, Friedrich 183, 187 f., 194, 306 Rüdiger, Horst 379–389 Ruge, Arnold 142, 145, 153, 159, 163 Runeberg, Johan Ludvig 307 Sackville, Thomas 181 Sacy, Silvestre de 183 Sallust (Gaius Sallustius Crispus) 293, 296 Sanders, Daniel 176 Sappho 135, 322, 428 Sartre, Jean-Paul 447 Sauer, August 370 Schadewaldt, Wolfgang 376 f., 419, 421, 425–435, 438–441, 443, 450, 458, 475, 477–479, 490 f., 493, 496 Schäfer, Johann Albrecht Karl 140 Schäfer, Karl 127–143, 151, 200, 365 Scheffel, Joseph Victor von 289, 333 Scherenberg, Christian Friedrich 333 Schildknecht, Wolfgang 351–359 Schiller, Friedrich 87, 95, 132, 135, 154, 156, 159, 173, 181, 183–187, 190, 212, 246, 274, 278, 290, 304 f., 310 f., 322, 325, 331, 343– 346, 354 f., 369, 397, 417, 422, 429, 447, 467, 477, 490, 500 Schlegel, August Wilhelm 3–38, 49, 67 f., 91, 115, 125, 134, 148, 156, 167, 171, 179, 183, 186 f., 189, 199, 201, 278 f., 295, 305, 314,
Personenregister
318 f., 321, 331 f., 369, 375, 378, 386, 494 Schlegel, Johann Elias 153, 159 Schlegel, Friedrich 3, 59, 90 f., 148, 183 Schlegel, Johann Heinrich 153 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 59–81, 83, 90, 93, 95, 127–143, 145 f., 148, 154, 156, 199–201, 330, 364 f., 369, 377–379, 385 f., 425, 431, 489 Schliemann, Heinrich 393 Schlosser, Johann Georg 174 f. Schmidt, Erich 342 Schneider, Engelbert 259 Schottel(ius), Justus Georgius 366, 374 f. Schottlaender, Rudolf 437–441, 451, 454 f., 457 Schreyvogel, Joseph 332 Schröder, Rudolf Alexander 319, 391–418 Schrott, Raoul 499–505 Schütz, Christian Gottfried 142 Schumann, Robert 304, 310 Schwab, Gustav 469 Schwartzkopff, Georg 91 Scott, Walter 181 Seckendorff, Veit Ludwig von 369, 374 Seeger, Ludwig 163–177, 494 Seneca, Lucius Annaeus 122, 185, 422, 473 Shakespeare, William 3, 67 f., 122, 133 f., 152–156, 167, 179, 185, 187, 190 f., 198, 217, 268 f., 278 f., 288, 290, 295, 299, 302, 305, 314, 318, 321 f., 331–333, 369, 375, 386 f., 391, 490 Simrock, Karl Joseph 183 Snell, Bruno 454 Sokrates 45, 197, 258
519
Solger, Karl Wilhelm Ferdinand 39– 57, 83, 95, 135, 139, 156–158, 160, 167, 179, 188, 356, 358 Sophokles 39–57, 95, 97, 101, 108 f., 145–161, 163, 165–167, 172 f., 185, 188 f., 201, 203, 205– 215, 217, 246, 275, 278 f., 282, 321, 351, 353, 356–358, 359, 369, 419, 421–423, 425 f., 428 f., 437– 439, 441, 443, 448 f., 450 f., 453– 457, 477 Spangenberg, Wolfhart 356 Spenser, Edmund 181 f., 188 Spranger, Eduard 425 Staël, Anne Louise Germaine de 3 Stahr, Adolf 168 Staiger, Emil 419–423, 425 f., 428, 432 f., 437, 439 f., 453 Stegemann, Hermann 302, 308 Stein, Heinrich 292 Stesichoros 333 Stoeßl, Franz 453 Stolberg, Christian Graf zu 153, 159, 173, 185, 356 Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu 5, 375 Strauß, David Friedrich 375 Strauß, Victor von 428 Strombeck, Friedrich Karl von 137 Sulzer, Johann Georg 149 Swieten, Gottfried van 152 Tacitus, Publius Cornelius 74, 84, 138, 203, 473, 484 f. Tasso, Torquato 124, 134, 181, 185, 187, 290, 419 Tatian 371 Teller, Wilhelm Abraham 90 Tennyson, Alfred 330, 377, 396 Terenz (Publius Terentius Afer) 370, 437, 443 Teuffel, Wilhelm Sigmund 307 Theokrit 5, 133, 135, 443 Theophrast 122, 443 Thibaut, Anton Friedrich Justus 203
520
Personenregister
Thiersch, Friedrich 167 Thomasius, Christian 149 Thomson, James 152 f. Thudichum, Georg 145, 160, 358 Thukydides 87, 184, 122, 272, 321 Tibullus, Albus 5, 133 Tieck, Ludwig 125, 134, 172, 179, 187, 189, 202, 278 f., 295, 305, 318 Tischbein, Johann Heinrich Wilhelm 321 Tizian 190 Tralow, Johannes 447 Tytler, Alexander Fraser 84 Uhland, Ludwig 172, 180, 183, 293 Uschner, Karl 220 Usener, Hermann 326 Uz, Johann Peter 151 Velleius Paterculus 93 Venzky, Georg 382 Vergil, Publius Vergilius Maro 5, 32 f., 133, 135, 150 f., 185, 232, 284, 291–293, 303–305, 310 f., 322, 369, 391, 393, 397, 399, 402, 419, 423, 427 f., 443, 461, 463, 469 f., 493 Vogel, Max 307 Voss, Abraham 133 Voss, Heinrich 39 Voss, Johann Heinrich 3–38, 39, 48, 52–54, 67, 84, 87, 103, 106, 115, 123, 128, 132–135, 142, 148, 151, 154–156, 159, 163, 165, 167, 169 f., 183, 186 f., 201–203, 220, 255, 278 f., 287, 289–293, 304, 310, 330 f., 341, 375, 377, 384, 386–388, 395, 397, 403, 410, 415, 422 f., 432, 447, 463, 467, 489, 491, 494 f., 500 Walch, Georg Ludwig 203 Walther von der Vogelweide 342 Waser, Johann Heinrich 375 Weck, Gustav 362 Weil, Simone 503
Weiße, Christian Felix 152 Werder, Dietrich von dem 185 Werfel, Franz 447 Wernicke, Christian 191 Wiedasch, Ernst 220 Wieland, Christoph Martin 6, 19, 23, 67, 93, 122, 124 f., 135, 140, 154 f., 169 f., 173, 176, 184 f., 200, 288, 369, 376, 488–490 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 274, 278 f., 287, 289 f., 297, 300 f., 303 f., 306 f., 309 f., 313, 315, 318, 320, 325–349, 351, 357 f., 363, 379–385, 388, 425, 427–430, 447, 453, 490 Wilbrandt, Adolf 205–215, 217, 330, 447 Wilhelm, Friedrich 371 Wilmanns, Wilhelm 334 Winckelmann, Johann Joachim 85, 149 f., 156 Wolde, Ludwig 453 Wolf, Friedrich August 9 f., 33, 39 f., 89, 95, 115, 135, 142, 156, 167, 169, 183, 185, 187, 199, 201, 203, 331, 340 f., 380 Woltmann, Karl Ludwig von 138 Woyte, Curt 453, 455, 457 Wyneken, Gustav Adolf 318 Young, Edward 152 Zinn, Ernst 493