Arne Berndt Zwischenmenschliche Konflikte als Anstoß für Wandel in Organisationen
GABLER EDITION WISSENSCHAFT Interna...
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Arne Berndt Zwischenmenschliche Konflikte als Anstoß für Wandel in Organisationen
GABLER EDITION WISSENSCHAFT Internationalisierung und Management Herausgegeben von Professor Dr. Hans A. Wüthrich
Die Schriftenreihe präsentiert Ergebnisse der betriebswirtschaftlichen Forschung zu den Themengebieten Internationalisierung und Management. Im verbindenden Diskurs zwischen Theorie und Praxis verfolgt die Reihe das Ziel, Organisationen praxisnahe Lösungsansätze zu aktuellen Managementherausforderungen bereitzustellen und gleichzeitig einen Beitrag zur theoretischen Fundierung von Fragestellungen der Führungspraxis, nicht zuletzt im internationalen Kontext, zu leisten.
Arne Berndt
Zwischenmenschliche Konflikte als Anstoß für Wandel in Organisationen Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Hans A. Wüthrich
GABLER EDITION WISSENSCHAFT
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Dissertation Universität der Bundeswehr München, Neubiberg, 2009
1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © Gabler | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Claudia Jeske / Stefanie Loyal Gabler ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.gabler.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: Regine Zimmer, Dipl.-Designerin, Frankfurt/Main Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-8349-1714-0
Geleitwort Ein Abend, an dem sich alle Anwesenden einig sind, ist ein verlorener Abend. Albert Einstein In der durch Komplexität, Dynamik und Unsicherheit geprägten Wirtschaftswelt wird für Unternehmen die Fähigkeit zum organisationalen Wandel überlebensentscheidend. Es überrascht deshalb nicht, dass in den letzten Jahren eine Fülle an wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Publikationen zum Thema «Change Management» entstanden sind. Im Zentrum vieler dieser Arbeiten werden – ausgehend von einem exogenen Anpassungsdruck – die innerbetrieblichen Voraussetzungen für den organisationalen Wandel thematisiert. Mit der vorliegenden Arbeit richtet Herr Berndt den Fokus auf die innerbetrieblichen Potenziale. Mit seinem interdisziplinären Ansatz nutzt er Erkenntnisse der interindividuellen Konfliktforschung zur Erklärung des organisationalen Wandels. Ausgehend von einem konstruktivistisch-systemtheoretischen Organisationsverständnis formuliert Herr Berndt seine zentrale Forschungsfrage wie folgt: «Können zwischenmenschliche Konflikte in Organisationen zu Veränderungen von individuellen und organisationalen Wirklichkeitskonstruktionen führen, das Erkennen von Veränderungsnotwendigkeiten bzw. -potenzial ermöglichen oder erleichtern und dadurch die Auslösung und Initiierung von organisationalem Wandel unterstützen bzw. einen konstruktiven Beitrag für die Veränderungs- und Anpassungsfähigkeit von Organisationen leisten?» Einen interessanten Mehrwert liefern der gewählte interdisziplinäre Ansatz, mit dem Herr Arne Berndt den organisationalen Wandel mit der interindividuellen Konfliktforschung verbindet sowie die konsequent konstruktivistische Optik. Mit der vorliegenden Arbeit leistet Herr Berndt einen kreativen, theoretisch sorgfältig fundierten Beitrag im Themenfeld «Change Management» und ich wünsche der Arbeit eine große Verbreitung und Resonanz.
Univ.-Prof. Dr. Hans A. Wüthrich
V
Vorwort Die vorliegende Arbeit hatte ihren Ursprung in der Idee, sich dem Thema Change Management aus einer völlig neuen Perspektive zu nähern und dabei in einem interdisziplinären Ansatz die Betriebswirtschaft mit der Psychologie, meinem zweiten Studien- und Interessensgebiet, zu verbinden. In einer relativ langen Phase der Themensuche und Eingrenzung ist die intensive Beschäftigung mit der erkenntnistheoretischen Position des Konstruktivismus hinzugekommen. Diese Reflexion und Diskussion der Möglichkeiten und Grenzen von Erkenntnis und Handeln, insbesondere bezüglich der Beeinflussung anderer Menschen und der Veränderung sozialer Systeme, bildet für mich sicher die größte persönliche Bereicherung, die mich über diese Arbeit hinaus begleiten wird. Ich danke Professor Dr. Hans A. Wüthrich für die Inspiration und den Freiraum bei der Themenfindung und Bearbeitung der Forschungsfrage, für die Anregung zur Beschäftigung mit dem Konstruktivismus, für die Unterstützung bei der Erstellung der Arbeit und für die interessanten Gespräche, die meinen Beobachtungs- und Reflexionshorizont – auch und insbesondere über den Themenbereich dieser Arbeit hinaus – deutlich erweitert haben. Professor Dr. Bernd Weidenmann danke ich für die Übernahme des Zweitgutachtens, die Begleitung der Arbeit aus der psychologischen Perspektive und die Unterstützung des nicht mainstream-konformen wissenschaftstheoretischen Ansatzes. Darüber hinaus danke ich Dr. André Zobolski für die interessanten und hilfreichen Gespräche und die Unterstützung als „Leidensgenosse“ auf dem sicherlich nicht immer einfachen Weg der berufsbegleitenden Promotion. Mein besonderer Dank gilt meiner Frau Andrea Berndt, die mich während der langen Zeit immer unterstützt und motiviert, auf viele gemeinsame Stunden verzichtet und so manche Frustration ertragen hat.
Arne Berndt
VII
Inhaltsverzeichnis Geleitwort .................................................................................................................. V Vorwort .................................................................................................................... VII Abbildungsverzeichnis ......................................................................................... XIII TU
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Tabellenverzeichnis .............................................................................................. XIII TU
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1 TU
Einleitung ..................................................................................................... 1
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1.1
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Problemstellung und Zielsetzung .............................................................. 1
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1.2
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Radikaler Konstruktivismus als erkenntnistheoretische Position der Arbeit ..................................................................................................... 4
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1.3 TU
Forschungsdesign und Methodologie .................................................... 11
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2
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T
Das Modell der Wirklichkeitsräume von Frindte als Bezugsrahmen der Arbeit ................................................................................................... 16
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2.1
Der Sinnraum: Permanente Wirklichkeitskonstruktion und verfestigte Wirklichkeitsordnung als zwei Seiten einer Medaille.......... 21 2.1.1 Der permanente Prozess der Wirklichkeitskonstruktion als Anwendung bewährter Deutungsmuster ................................................ 21 2.1.2 Verfestigung der Deutungsmuster zur Wirklichkeitsordnung bei Viabilitätserfahrung ................................................................................ 23 2.1.3 Irritation verfestigter Deutungsmuster als Voraussetzung für individuelles Lernen ............................................................................... 25 2.1.4 Emotionen als Teil der individuellen Wirklichkeitsordnung und als soziale Rollen ................................................................................... 28 2.1.4.1 Die individuumsbezogene Affektlogik von Ciompi ........................... 28 2.1.4.2 Sozialkonstruktivistische Konzeption nach Averill ........................... 29 2.1.4.3 Synthese beider Ansätze ................................................................. 33 2.1.5 Zwischenfazit Individuum ....................................................................... 34
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2.2 U
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Der Interaktionsraum: Wirklichkeitskonstruktion in Interaktionsund Kommunikationsprozessen .............................................................. 37
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2.3
Organisationen im Bedeutungsraum: Stabilisierte Interaktionszusammenhänge werden zu Sozialsystemen mit emergenten Eigenschaften ...................................................................... 40 2.3.1 Organisationen als soziale Systeme kollektiver Wirklichkeiten .............. 40 2.3.1.1 Organisationen als verfestigte kollektive Deutungsmuster .............. 42
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IX
2.3.1.2 Organisationen als selbstorganisierende Sozialsysteme ................. 44 2.3.2 Der Mensch in der Organisation: Stütze und Störung des Systems ...... 49 2.3.3 Führung als Prozess und Ergebnis kollektiver Wirklichkeitskonstruktion im Interaktionsraum ....................................... 52 U
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2.4 U
Der Möglichkeitsraum: Vielfältige soziale Angebote für individuelle Wirklichkeitskonstruktion ........................................................................ 53
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2.5 U
Zwischenfazit: Der Bezugsrahmen der Arbeit ........................................ 54
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3
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Organisationaler Wandel als gemeinsame Modifikation der kollektiven Wirklichkeitsordnung ............................................................ 57
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3.1 U
Irritation verfestigter Deutungsmuster und ihre Thematisierung im Interaktionsraum als Voraussetzung für organisationalen Wandel ..... 57
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3.2
Organisationaler Wandel als Verknüpfung von Veränderungen im Sinn-, Interaktions- und Bedeutungsraum .............................................. 61 3.2.1 Das Indivividuum als Ausgangspunkt organisationalen Wandels .......... 62 3.2.2 Modifikation organisationaler Wirklichkeit im Interaktionsraum .............. 63 3.2.3 Verfestigung von Modifikationen im Bedeutungsraum ........................... 66
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3.3 U
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Organisationaler Wandel als Entstehungs- und Umsetzungsphase .... 68
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3.4 U
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Das Management von organisationalem Wandel: Ermöglichung statt Determinierung ................................................................................. 75
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3.5 U
Zwischenfazit: organisationaler Wandel ................................................. 77
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4
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Zwischenmenschliche Konflikte in Organisationen als Ausgangspunkt für organisationalen Wandel ........................................ 79
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4.1 Konstruktivistische Konfliktkonzeption dieser Arbeit ........................... 79 4.1.1 Konflikte als unvereinbare Deutungen im Interaktionsraum ................... 80 4.1.2 Konflikte als unvermeidbarer und wertneutraler Bestandteil sozialen Lebens: Entstehung, Verlauf und Auswirkungen ................................... 85 4.1.3 Konfliktmanagement als spezielle Form von Führung zur Nutzung und Beeinflussung von Konfliktinteraktionen ................................................ 92 4.1.4 Zwischenfazit: eine konstruktivistische Konfliktkonzeption .................... 96 U
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4.2
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Konflikte als Urpsrung von organissationalem Wandel – Initiierung von Wandel als Konflikt: Die zwei Perspektiven der Kernthese ........... 97 4.2.1 Entstehung von organisationalem Wandel in zwischenmenschlichen Konflikten ............................................................................................... 98 4.2.2 Initiierung organisationalen Wandels als zwischenmenschlicher Konflikt ................................................................................................. 104 4.2.3 Zusammenfassung der Kernthese ....................................................... 106
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Rahmenbedingungen für irritations- und lerntolerante Konflikte – Modell und Ableitungen für die betriebswirtschaftliche Praxis .......... 107
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5.1 Grundlagen der Modellentwicklung....................................................... 107 5.1.1 Theoretische Grundlagen .................................................................... 107 5.1.2 Experteninterviews als Beitrag zur Modellentwicklung ........................ 113 5.1.2.1 Zielsetzung und Grundlagen der Interviews .................................. 113 5.1.2.2 Die Gesprächspartner ................................................................... 115 5.1.2.3 Vorgehen, Leitfaden und Verlauf ................................................... 117 5.1.2.4 Auswertung der Interviews ............................................................ 118 5.1.2.5 Interviewaussagen zur Kernthese ................................................. 120 U
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5.2 Interaktionsübergreifende Einflussfaktoren ......................................... 124 5.2.1 Kooperative und konkurrierende Zielbeziehungen ............................... 124 5.2.2 Diversität in Gruppen ........................................................................... 127 5.2.3 Kommunikations- und Konfliktkultur ..................................................... 133 5.2.4 Individuelle Einstellungen, Erfahrungen und Fähigkeiten .................... 137 5.2.5 Führungsverhalten ............................................................................... 139 U
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5.3 Einflussfaktoren der Konfliktinteraktion ............................................... 147 5.3.1 Konflikttyp: aufgabenbezogene und beziehungsbezogene Konflikte ... 147 5.3.2 Konfliktthemen ..................................................................................... 153 5.3.3 Zeit- und Einigungsdruck ..................................................................... 158 5.3.4 Konfliktverlauf: Differenzierung vor Integration .................................... 161 5.3.5 Konfliktmanagement, dritte Partei und Konfliktstimulation ................... 163 U
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5.4 U
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Wechselwirkungen der Rahmenbedingungen im Modell .................... 169
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5.5 U
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Ableitung von Praxisempfehlungen für ein konstruktives Konfliktmanagement zur Erhöhung der organisationalen Lern- und Veränderungsfähigkeit ........................................................................... 172
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6 U
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Zusammenfassung ................................................................................. 185 U
U
Literaturverzeichnis ............................................................................................. 195 U
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XI
Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Gegenseitige Bereicherung von der Erforschung organisationalen Wandels und der Konfliktforschung ............................................................. 4 Abb. 2: Ablauf der Arbeit ........................................................................................ 15 Abb. 3: Systemebenen der Wirklichkeitskonstruktion............................................. 20 Abb. 4: Anschlussfähigkeit von Informationen ....................................................... 22 Abb. 5: Rekursive Verknüpfung von Wirklichkeitsordnung und Wirklichkeitskonstruktion............................................................................ 25 Abb. 6: Individuelle Wirklichkeitskonstruktion im Sinnraum.................................... 36 Abb. 7: Wechselseitige Anregung zur Wirklichkeitskonstruktion im Interaktionsraum ........................................................................................ 38 Abb. 8: Bedingungen organisationalen Wandels ................................................... 60 Abb. 9: Ebenen der Wirklichkeitskonstruktion im organisationalen Wandel ........... 61 Abb. 10: Der Prozess des organisationalen Wandels .............................................. 74 Abb. 11: Konfliktkonstellation aus konstruktivistischer Perspektive ......................... 82 Abb. 12: Optimales Konfliktniveau als Zusammenhang von Konfliktintensität und Leistung) .................................................................................................... 91 Abb. 13: Die Initiierung organisationalen Wandels und zwischenmenschliche Konflikte ..................................................................................................... 98 Abb. 14: Modell der Rahmenbedingungen für irritationstolerante und wandelförderliche Konflikte ...................................................................... 112 Abb. 15: Kooperative und kompetitive Zielbeziehungen ........................................ 126
Tabellenverzeichnis Tab. 1: U
Positive und negative Auswirkungen von zwischenmenschlichen Konflikten in Organisationen ..................................................................... 90 U
XIII
1
Einleitung
1.1
Problemstellung und Zielsetzung
Veränderungen von Organisationen sind seit langem ein zentraler Themenbereich der Organisations- und Managementforschung. Es existiert eine unüberschaubare Vielzahl sehr heterogener organisationswissenschaftlicher Ansätze und Theorien, anwendungsorientierter Modelle sowie Praxisempfehlungen in Management-Ratgebern.1 Grundsätzlich können dabei zwei Theorieebenen unterschieden werden:2 - Organisationstheoretische Ansätze zu Wandel thematisieren längerfristige Entwicklungen von Organisationen und Regelmäßigkeiten in ihren Lebensläufen,3 - Managementtheoretische Ansätze analysieren – i.d.R. unter der Bezeichnung „Change Management“ – den konkreten Veränderungsprozess als bewusst geplante, zielorientierte Intervention; hierbei stehen insbesondere Prozessmodelle, Implementierungsstrategien, Interventionstechniken und umfangreiche Managementkonzepte im Vordergrund.4 Innerhalb dieser Ansätze gibt es vielfältige Vorstellungen zu Ursachen und Quellen von Wandel. Die wesentlichen Treiber für die Notwendigkeit, aber auch für Chancen von Veränderungen werden in der Organisationsumwelt gesehen, insbesondere neue wissenschaftliche Entwicklungen und technologischer Fortschritt, politischrechtliche sowie sozio-kulturelle Veränderungen, die Globalisierung der Ökonomie, interkulturelle Zusammenarbeit, zunehmende Komplexität, verschärfter Wettbewerb sowie Veränderungen des Marktes und der Kundenbedürfnisse, aber auch interne Bestimmungsfaktoren wie z.B. der Lebenszyklus der Organisation, stark ansteigendes Wissen und zunehmende Komplexität sowie die Verknappung von Zeit und finanziellen Ressourcen.5 Eine wichtige Rolle wird zudem Krisen in der Organisation beigemessen.6 Offen bleibt dabei aber in vielen Ansätzen, wie diese organisationsinternen und externen Faktoren zu tatsächlichem Wandel innerhalb einer Organisation führen. Offensichtlich ist, dass nicht jede Umweltveränderung auch zu organisationalen Veränderungen führt. Ähnliche Situationen werden in einer Organisation als Chance TP
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Vgl. Holtbrügge 2000:101; Deeg/Weibler 2000:145 Vgl. Staehle 1991:541ff; Schreyögg/Noss 2000:35 Für die Vielfalt organisationstheoretischer Ansätze zu organisationalem Wandel existiert mittlerweile eine ebenfalls fast unübersehbare Anzahl von Systematisierungsversuchen: so unterscheidet z.B. Türk (1989:55) Selektions-, Entwicklungs- und Lernmodelle; Van de Ven/Pool (1995) Lebenszyklus-, Entwicklungs-, teleologische und dialektische Modelle; Perich (1992) Equilibriums-, Homöostase-, prädeterminierte Phasen- und offene Entwicklungsmodelle; Holtbrügge (2000) mechanische, Entwicklungs-, Evolutions- und Selbstorganisationsansätze. Vgl. z.B. Gomez/Müller-Stewens 1994; Krüger 1994;Thom 1995; Mohr 1997:72ff; Al-Ani/ Gattermeyer 2001; Doppler/Lauterburg 2002; Burr/Musil/Stephan/Werkmeister 2005:332ff Vgl. Probst 1994:297ff; Mohr 1997:4ff; Doppler/Lauterburg 2002:22ff; Burr/Musil/Stephan/ Werkmeister 2005:330ff Vgl. Greiner 1972; Staehle 1991:831ff; Thom 1995:871f; Wiegand 1996:158f; Domagk 1997
1
oder ernste Krise mit Handlungsbedarf interpretiert, in anderen jedoch gar nicht wahrgenommen. Voraussetzung ist zunächst einmal die Identifizierung von relevanten Entwicklungen und Problemen durch die Organisation.7 Wie diese Problematik der tatsächlichen Initiierung des Wandels in der Organisation konzipiert wird, ist abhängig von den erkenntnis- und organisationstheoretischen Grundlagen sowie den Erkenntniszielen der Ansätze.8 Oft wird – insbesondere in organisationstheoretischen Ansätzen – ein Automatismus unterstellt und diese Frage nicht weitergehend thematisiert.9 Ansätze des Change Management gehen i.d.R. von der Einleitung des Wandelprozesses durch das Top-Management oder den „changepromotor“ aus, sobald sich die Notwendigkeit für Veränderungen oder besondere Chancen ergeben. Die Umsetzung des Wandels in der Organisation gegen den zu erwartenden Widerstand der Mitglieder wird als ein herausragendes Problem des Change-Managements begriffen, dem mit kommunikativen, partizipativen und/oder kontrollierenden Maßnahmen zu begegnen ist.10 Damit bleibt in vielen Ansätzen zu organisationalem Wandel die Frage unbeantwortet, warum und wie das Auftreten organisationsinterner bzw. -externer Faktoren, welche Notwendigkeiten oder Chancen für Wandel der Organisation darstellen können, zu tatsächlichen organisationalen Veränderungsprozessen führt. In kognitivistischen, lerntheoretischen und konstruktivistischen Zugängen zu Organisation und Wandel werden organisationale Veränderungen als Modifikationen der individuellen und kollektiven Vorstellungen von der Organisation, ihrer Strategien, Prozesse, Systeme etc. verstanden. Als Ausgangspunkt und notwendigen ersten Schritt für Veränderungen sehen diese Ansätze Irritationen und Störungen bestehender Annahmen, Routinen und Gewissheiten, die durch wahrgenommene Widersprüche und Differenzen zwischen Erwartungen und Geschehen entstehen.11 An diesem Organisations- und Wandelverständnis setzt die vorliegende Arbeit an. Das Problemfeld der Initiierung organisationalen Wandels soll in dieser Arbeit aus einer neuen, disziplinübergreifenden Perspektive betrachtet werden, indem die sozial- und organisations-psychologische Konfliktforschung herangezogen wird. Die Verbindung beider Themenkomplexe liegt nahe, wenn Irritationen und Störungen bestehender Annahmen als notwendige Bedingung organisationalen Wandels TP
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Vgl. Staehle 1991:832; Kieser/Hegele/Klimmer 1998:7ff; Thommen/Achleitner 1998:743; Hornberger 2000:242f Vgl. Wiegand 1996:158; Frese 2005:623 So schreibt z.B. Krüger (1994:204): „Tiefgreifender Wandel in Unternehmungen wird häufig von externen Transformationen ausgelöst. Dies bedeutet in systemtheoretischer Interpretation, daß sich die Umweltkopplungen der Unternehmung grundlegend ändern.“. Insbesondere organisationstheoretische Ansätze, die auf Entwicklungs-, Selektions- oder Gleichgewichtsgedanken beruhen, thematisieren diesen Zusammenhang nicht; vgl. dazu u.a. die Darstellungen der organisationstheoretischen Wandelkonzepte bei Türk 1989:55ff; Van de Ven/Poole 1995; Mohr 1997:44ff; Holtbrügge 2000 Vgl. Übersichten zu Change-Management-Ansätzen bei Wiegand 1996:159; Mohr 1997:72ff; Lang/Alt 2003 Vgl. z.B. Baitsch 1993:33ff; Probst 1994:304f; Probst/Büchel 1994:49; Wilkesmann 1999:70ff; Klimecki/Laßleben/Thomae 2000:69f; Rüegg-Stürm 2001:269
angenommen werden. Es kann vermutet werden, dass die psychologischen Erkenntnisse über Konfliktentstehung, Verlauf, Bewältigung und Wirkung neue Einsichten und einen vertiefenden Klärungsbeitrag zur Initiierung von Veränderungsprozessen in Organisationen liefern können. Konkret soll in der Arbeit analysiert werden, - ob zwischenmenschliche Konflikte in Organisationen organisationalen Wandel auslösen können, - welche Voraussetzungen und Rahmenbedingungen dafür notwendig sind, - welcher Konfliktverlauf, welches Verhalten und welche Interventionen hilfreich oder notwendig sind, - ob diese Erkenntnisse über konstruktive Konfliktwirkungen im Change Management institutionalisiert und gefördert werden können. Als Grundlage für die Bearbeitung der Forschungszielsetzung werden eine radikal konstruktivistische Epistemologie sowie ein darauf basierendes konstruktivistischsystemtheoretisches Organisationsverständnis gewählt, welche in den folgenden Abschnitten hergeleitet werden.12 Vorgreifend auf diese Konzeption kann die zentrale Forschungsfrage der Arbeit wie folgt formuliert werden: TP
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Können zwischenmenschliche Konflikte in Organisationen zu Veränderungen von individuellen und organisationalen Wirklichkeitskonstruktionen führen, das Erkennen von Veränderungsnotwendigkeiten bzw. -potenzial ermöglichen oder erleichtern und dadurch die Auslösung und Initiierung von organisationalem Wandel unterstützen bzw. einen konstruktiven Beitrag für die Veränderungs- und Anpassungsfähigkeit von Organisationen leisten? Die zentrale Zielsetzung und damit der erwartete Output der Arbeit umfassen drei aufeinander aufbauende Teile: 1. die theoriegeleitete Beantwortung der zentralen Forschungsfrage, 2. die daraus abgeleitete Entwicklung und praktische Illustration eines Modells über die notwendigen bzw. förderlichen Bedingungen und Konstellationen für diese konstruktive Konfliktwirkung; 3. die Ableitung von Schlussfolgerungen für die betriebswirtschaftliche Praxis. Der interdisziplinäre Ansatz der Verbindung von organisationalem Wandel und interindividueller Konfliktforschung kann zur gegenseitigen Bereicherung beider Forschungsgebiete beitragen (siehe Abb. 1): - Einerseits können Erkenntnisse der psychologischen Konfliktforschung einen Erklärungsbeitrag zur Auslösung von Veränderungsprozessen leisten und entsprechende Interventions- und Bewältigungstechniken bereitstellen.
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12 PT
Vgl. Kap. 1.2 (Erkenntnistheoretische Position) und Kap. 2 (Bezugsrahmen der Arbeit)
3
-
Andererseits können diese Erkenntnisse zur Auslösung organisationaler Veränderungen ein produktives Wirkungsfeld für die konstruktive Konfliktbearbeitung vertiefend thematisieren und somit zu differenzierterem Verständnis von und bewussterem Umgang mit Konflikten in Organisationen beitragen. Die Arbeit ist dabei aber primär betriebswirtschaftlich orientiert, der Fokus liegt in erster Linie auf einem Erklärungsbeitrag für die Erforschung organisationalen Wandels.
Forschungsgebiet organisationaler Wandel/Change Management
Aufzeigen konstruktiver Konfliktwirkungen
Erklärung der Entstehung von Wandel
Sozial- und organisationspsychologische Konfliktforschung
Abb. 1: Gegenseitige Bereicherung von der Erforschung organisationalen Wandels und der Konfliktforschung
1.2
Radikaler Konstruktivismus als erkenntnistheoretische Position der Arbeit
Erkenntnistheorien thematisieren die Möglichkeiten, Bedingungen und Prozesse der allgemeinen menschlichen Erkenntnisgewinnung. Wissenschaftstheorie ist ein Teilbereich der Erkenntnistheorien, welcher sich mit der spezifischen Form der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung beschäftigt.13 Die explizite Auseinandersetzung mit dem erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Fundament einer Forschungsarbeit findet in der Betriebswirtschaftslehre wie auch in der Psychologie eher selten statt. In beiden Wissenschaften dominiert i.d.R. unreflektiert der kritische Rationalismus von Popper als eine Form realistischer Erkenntnistheorien. Zudem wird häufig unter Fokussierung auf die praktische Verwertbarkeit der Forschungsergebnisse völlig auf eine wissenschaftstheoretische Fundierung von Theorien und Forschungsarbeiten verzichtet.14 Im Gegensatz dazu wird in dieser Arbeit die Ansicht vertreten, dass auch und gerade beim Anspruch praktischer Verwertbarkeit von wissenschaftlichen Forschungsergebnissen eine erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Fundierung unabdingbar ist, um die Prämissen, Grenzen und Möglichkeiten der Ergebnisgewinnung nachvollziehbar zu machen und damit die TP
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13 TP
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4
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Vgl. Poser 2001:16; Eberhard 1999:14 Für die Sozialpsychologie vgl. u.a. Frindte 1998; Jost/Kruglanski 2002, für die BWL vgl. Winter 1999
Ergebnisse in einen wissenschaftlichen Diskussionszusammenhang verorten zu können.15 Die erkenntnistheoretische Basis der Arbeit bildet der radikale Konstruktivismus. Er ist ein neurobiologisch und -physiologisch sowie kybernetisch fundierter Diskurs in der Wissens- und Erkenntnistheorie.16 Grund für diese epistemologische Festlegung ist zum einen, dass der radikale Konstruktivismus auf konsistente und nachvollziehbare Weise an Erklärungsschwachstellen der realistischen Erkenntnispositionen (u.a. des kritischen Rationalismus) ansetzt und hierzu aufgrund seiner Fundierung eine überzeugende Alternative liefert.17 Zum anderen wurde bereits in der Problemstellung der Arbeit (Kap. 1.1) darauf hingewiesen, dass konstruktivistische Ansätze weiterführende Beiträge bei der Beantwortung der Forschungsfrage dieser Arbeit leisten können, die in anderen Organisations- und Konfliktverständnissen bisher nicht möglich waren.18 TP
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Als Ausgangspunkt für das Verständnis radikal konstruktivistischer Argumentationen kann die neurobiologische Erkenntnis dienen, dass das Gehirn ein operativ geschlossenes, selbstreferentielles und autonomes System ist und somit keinen direkten Zugang zur Außenwelt hat.19 Diese Konzeption des Gehirns geht auf die P
15 TP
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Vgl. Winter 1999:5f Der radikale Konstruktivismus ist keine homogene Schule, sondern ein Paradigma in einem interdisziplinären Denkzusammenhang (vgl. Schmidt 1992:9); er geht auf verschiedene Wurzeln mit unterschiedlichen Erklärungsbeiträgen zurück (vgl. Fried 2005:47; Tomaschek 1999:13f). Realistische Positionen gehen davon aus, dass eine objektive, vom Beobachter unabhängige Realität existiert, von der sich der Mensch ein Abbild machen und beides miteinander vergleichen kann. Ziel wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung ist es demnach, ein möglichst wahres Abbild dieser objektiven Realität zu erschaffen. Unerklärt bleibt, wer die objektive Realität wie beobachten können und mit dem subjektiven Abbild vergleichen soll, ohne selbst nur ein subjektives Abbild zum Vergleich zur Verfügung zu haben, m.a.W.: Welche übergeordnete Schiedsrichter-Instanz erkennt die objektive Realität „objektiv“ und nicht nur als ein subjektives Abbild und kann daraufhin einen objektiven Vergleich zwischen objektiver Realität und subjektivem Abbild erstellen? An diesem Argumentationsbruch setzen radikal konstruktivistische Positionen an und entwickeln eine erkenntnistheoretische Alternative, die den subjektiven Beobachter in dem Mittelpunkt stellt und einen Zugang zu irgendeiner objektiv vorhandenen Realität verneint (vgl. Winter 1999:26ff). Damit ist der radikale Konstruktivismus eine Form verschiedener, sehr heterogener konstruktivistischer Ansätze und Denkschulen, deren Gemeinsamkeit in der Ablehnung der derzeit dominierenden erkenntnistheoretischen Vorstellungen des Realismus (insb. in Form des kritischen Rationalismus nach Popper) und der Annahme der Konstruktivität von Wirklichkeit liegt (vgl. z.B. Fried 2005:34ff; Hejl 2000:33ff). Der radikale Konstruktivismus als streng indviduumsbezogene Perspektive liefert dabei einen Baustein für diesen Erklärungsbeitrag. Wie im Folgenden gezeigt wird, ist für das Verständnis von komplexen Sozialsystemen und von zwischenmenschlichen Konflikten diese konstruktivistische Denkrichtung allein nicht ausreichend und wird daher im Bezugsrahmen (Kap. 2) um sozialkonstruktivistische Ansätze ergänzt. Im Rahmen der erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Fundierung der Arbeit soll es an dieser Stelle aber zunächst nur um die Erkenntnismöglichkeiten des einzelnen Individuums gehen, die letztlich auch die Grundlage jeder kollektiven Erkenntnis und Kommunikation bilden. Vgl. Roth 1994:240f, 252. Frindte (1998:45) bezeichnet den strikten Bezug auf die neurobiologische Basis als „Markenzeichen“ des radikalen Konstruktivismus. Im Gegensatz dazu trennt Winter (1999:50f) klar zwischen radikalem Konstruktivismus und dem Autopoiesekonzept, nutzt aber beide als zwei von fünf Bausteinen seiner „Theorie des Beobachters“, einen radikal konstruktivistischen Epistemologie-Entwurf innerhalb der BWL.
5
„Theorie autopoietischer Systeme“ von Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela (1987) zurück. Autopoiese bedeutet die Fähigkeit lebender Systeme, sich aus sich selbst heraus zu erschaffen und zu reproduzieren, wobei erzeugendes und erzeugtes System identisch sind:20 TP
PT
„Die Grundfigur der Autopoiese ist die Zirkularität, die selbstreferentielle Geschlossenheit, die Selbsterzeugung und die Abgeschlossenheit im Selbstkontakt. Von hier aus (!) ist alles Allerweltswissen und Theoretisieren, alles Sagen und Meinen, alles Handeln und Unterlassen eine individuelle Leistung und nur individuell zu verantworten.“21 TP
PT
Die Sinnesorgane des Menschen werden durch Umwelteinflüsse gereizt, senden an das Gehirn jedoch nur bedeutungsfreie neuronale Impulse.22 Die Wahrnehmung unserer Umwelt erfolgt somit erst im Gehirn durch die Zuweisung von Bedeutung zu diesen Impulsen und ist von der Außenwelt völlig unabhängig: P
P
"Die Wahrnehmungsinhalte müssen daher vom Gehirn selbst konstituiert werden. Wahrnehmung ist demnach Bedeutungszuweisung zu an sich bedeutungsfreien neuronalen Prozessen, ist Konstruktion und Interpretation" 23 TP
PT
„Keine Information gelangt aus der Umwelt ins System und keine Information vermag an die Umwelt abgegeben zu werden. Die Vorstellung von Wahrnehmung als Input-Verarbeitungs-Output-Modell wird hinfällig. Die Umwelt, die wir wahrnehmen, ist unsere Erfindung“24 TP
PT
Daher ist die Erkenntnis einer objektiven, vom Subjekt unabhängigen, „absoluten“ Realität – wie es das Idealziel in realistischen Epistemologien ist – unmöglich; unsere Wahrnehmungen und Wirklichkeiten sind kognitive Konstruktionen des operativ geschlossenen, selbstreferentiellen Gehirns und somit individuell und subjektiv konstruiert:25 Mit diesem Kerngedanken des radikalen Konstruktivismus wird nicht die Existenz irgendeiner Realität an sich verneint, wir haben nur keinen Zugang zu ihr.26 TP
PT
TP
20 TP
PT
21 TP
PT
22 TP
PT
23 TP
PT
24 TP
PT
25 TP
PT
26 TP
PT
6
PT
Vgl. Maturana/Varela 1987:50f, 55f; Bardmann 1994:74ff; Fried 2005:48f; griech.: autos = selbst; poiein = machen (vgl. Maturana/Varela 1987:51) Bardmann 1994:84 Vgl. Roth 1992:285. V. Foerster bezeichnet dies als „Prinzip der undifferenzierten Enkodierung“: Die Nervenzelle encodiert lediglich die Intensität der Erregung, nicht aber die Natur des Erregers (vgl. v. Foerster 1994:137ff; 1996a:31; 1996b:273ff) Roth 1986:170 v. Foerster 1985:25 Vgl. Bardmann 1994:66ff, Fried 2005:47 Vgl. Tomaschek 1999:25
Obwohl die individuelle Wirklichkeitskonstruktion nicht von der Umwelt determiniert wird, erfolgt sie nicht willkürlich. Die Konstruktionsfreiräume werden begrenzt durch:27 TP
PT
1) den Bezug der Konstruktionen auf Erfahrungen aus der Vergangenheit 2) die Viabilitätsanforderung an Konstruktionen 3) kulturelle Rahmenbedingungen. zu 1.) Wirklichkeitskonstruktionen beziehen sich, wenn auch nicht notwendigerweise bewusst, auf individuelle Erfahrungen aus der Vergangenheit:28 TP
PT
"Der Grundgedanke besteht darin, daß kognitive Fähigkeiten untrennbar mit einer Lebensgeschichte verflochten sind, wie ein Weg, der als solcher nicht existiert, sondern durch den Prozeß des Gehens erst entsteht." 29 TP
PT
Damit kommt dem Gedächtnis eine wesentliche Funktion zu: "Die empfundene, erlebte Wahrnehmung ist jedoch nicht das Ergebnis der bloßen Zerlegung und Kombination von Sinnesdaten. Diese spielen in der normalen Wahrnehmung meist nur eine Rolle als Auslöser für sensorische Gedächtnisinhalte. Diese Gedächtnisinhalte ergänzen die sensorischen Fragmente zur kompletten Wahrnehmung nach internen Konsistenz- und Kohärenzprinzipien. Das Gedächtnis ist das wichtigste Sinnesorgan: das meiste, was wir wahrnehmen, stammt aus dem Gedächtnis. Wir nehmen stets durch die "Brille" unseres Gedächtnisses wahr, denn das, was wir wahrnehmen, ist durch frühere Wahrnehmung entscheidend mitbestimmt"30 P
P
zu 2.) Entsprechend den radikal-konstruktivistischen Grundannahmen können Wirklichkeitskonstruktionen nicht anhand der Kriterien Wahrheit oder Objektivität bewertet werden. Das entscheidende Kriterium ist die Nützlichkeit der Wirklichkeitskonstruktion für konkretes Handeln, was v. Glasersfeld mit dem Begriff „Viabilität“ bezeichnet.31 Wirklichkeitskonstruktionen müssen sich also in der Erfahrungswelt des P
27 TP
PT
28 TP
PT
29 TP
PT
30 TP
PT
TP
31 PT
P
Vgl. Hejl 2000:47ff Vgl. Hejl 2000:48 Varela 1990:110 Roth 1992:317; vgl. auch Roth 1994:235. Zur Entstehung von Wirklichkeit im Entwicklungsprozess des Menschen siehe Roth (2000); die Vertreter des radikalen Konstruktivismus greifen bei der Erklärung der Herausbildung und Veränderung von Wirklichkeitskonstruktion als Identität häufig auf die Arbeiten von Piaget zurück (vgl. z.B. v. Glasersfeld 1987; 1996:Kap. 3; Tomaschek 2001:21, Fußnote 25; Fried 2005:39) „Nach konstruktivistischer Denkweise ersetzt der Begriff der Viabilität im Bereich der Erfahrung den traditionellen philosophischen Wahrheitsbegriff, der eine "konkrete" Abbildung der Realität bestimmt." (v. Glasersfeld 1996:43).
7
Individuums bewähren und das Überleben des Systems bzw. Organismus gewährleisten.32 TP
PT
zu 3.) Obwohl der radikale Konstruktivismus aus individueller, neurobiologischkognitiver Perspektive argumentiert, werden auch kulturelle Traditionen und daraus entstehende soziale Deutungsmuster thematisiert: “Menschliches Erkennen als wirksames Handeln gehört also zum biologischen Bereich, aber es wird immer in einer kulturellen Tradition gelebt.“33 Das Individuum wird in eine bereits sinnvoll konstituierte Welt hineingeboren und entsprechend der vorgegebenen sozialen und kulturellen Bedingungen sozialisiert. Dabei wird Wissen über Problemlösungen, Möglichkeiten, Bewertungen, Handlungsweisen usw. durch spontane und organisierte Lernprozesse in einer Gesellschaft bzw. einer sozialen Gruppe weitergegeben. Viele dieser Bedingungen sind dem Menschen dabei gar nicht bewusst.34 TP
PT
TP
PT
Punkt 2 und 3 zeigen bereits, „... daß Selbstreferentialität nicht Isoliertheit bedeutet: selbstreferentielle Systeme sind in aller Regel durchaus von außen beeinflußbar oder modulierbar. Die Wirkungen dieses Einflusses, seine Quantität und Qualität, sind aber vollständig durch das selbstreferentielle System bestimmt“.35 TP
PT
Maturana und Varela bezeichnen die Beziehung zwischen einem autopoietischen System und seiner Umwelt als „strukturelle Kopplung“ und meinen damit „…Interaktionen zwischen Einheit und -Milieu…“, bei denen „... die Struktur des Milieus in den autopoietischen Einheiten Strukturveränderungen nur auslöst, diese also weder determiniert noch instruiert (vorschreibt), was auch umgekehrt für das Milieu gilt.“36 TP
PT
Somit sind im Erklärungskonstrukt des radikalen Konstruktivismus auch interpersonaler Austausch und soziale Phänomene möglich. Kommunikation kann dabei aber kein Nachrichtenaustausch im Sinne herkömmlicher Kommunikationsmodelle37 sein, sondern die Orientierung eines Individuums bei seiner individuellen Wirklichkeitskonstruktion an einem anderen Individuum aufgrund dessen Äußerungen und Verhaltens. Die Äußerungen eines Menschen haben zunächst nur für ihn selbst einen Sinn. Für die Umwelt inklusive der darin lebenden anderen Individuen stellen sie Störungen („Perturbationen“) dar, die ignoriert oder aber registriert und gedeutet werden können. Ob und wie eine Störung gedeutet wird, entscheidet der Kommunikationspartner selbst. Ein Individuum kann also durch Äußerungen anderer niemals informiert oder determiniert werden, sondern reagiert P
32 TP
PT
33 TP
PT
34 TP
PT
35 TP
PT
36 TP
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37 TP
PT
8
P
Vgl. v. Glasersfeld 1987:143; 1995:23ff, Roth 1992:281; Hejl 2000:48f Maturana/Varela 1987:261 Vgl. Schmidt 1995:239f; Hejl 2000:53f Roth 1994:241 Maturana/Varela 1987:85 Zum herkömmlichen Kommunikationsverständnis siehe Bardmann 1994:86ff
auf Störungen gemäß der eigenen Strukturdeterminiertheit. Eine ideale, störungsfreie und vollständige Kommunikation ist somit nicht möglich.38 Diese gegenseitige Orientierung von zwei kognitiv geschlossen operierenden Individuen bei der Wirklichkeitskonstruktion wird im radikalen Konstruktivismus als „konsensueller Bereich“ bezeichnet:39 P
TP
P
PT
"Als lebende Systeme existieren wir in vollständiger Einsamkeit innerhalb der Grenzen unserer individuellen Autopoiese. Nur dadurch, daß wir mit anderen durch konsensuelle Bereiche Welten schaffen, schaffen wir uns eine Existenz, die diese unsere fundamentale Einsamkeit übersteigt, ohne sie jedoch aufheben zu können."40 TP
PT
Ernst von Glasersfeld beschreibt diese Entstehung konsensueller Bereiche durch die Analogiebildung im jeweiligen Einzelbewusstsein, bei der ein lebender Organismus den anderen als „ichgleich“ betrachtet und ihm so seine eigenen Besonderheiten unterschiebt.41 Hejl führt dieses Konzept unter der Bezeichnung „parallelisierte Zustände“ weiter aus und erklärt so das Zustandekommen von sozialen Bereichen.42 Demnach führt ein „...Prozeß wechselseitiger Interaktionen und damit wechselseitiger Veränderungen […] zu einer partiellen „Parallelisierung“ der selbstreferentiellen Subsysteme […] der interagierenden Systeme“.43 Diese parallelisierten Zustände sind die Basis für gemeinsam erzeugte Wirklichkeitskonstruktionen und führen zu sozialen Bereichen, welche wiederum die Möglichkeit weiterer sozialer Interaktion und Kommunikation bieten. Daraus ergibt sich soziales Verhalten, also jene Verhaltensweisen, die aufgrund der sozial erzeugten Wirklichkeitskonstruktionen hervorgebracht werden bzw. diese bilden oder verändern.44 Aus diesen sozialen Bereichen heraus entstehen soziale Systeme. Sie stellen eine Menge von Individuen dar, die über gleiche Wirklichkeitskonstruktionen und denen zugeordnete Handlungsweisen verfügen und auch tatsächlich in Bezug auf diese Wirklichkeitskonstruktionen interagieren.45 TP
PT
P
TP
TP
TP
PT
39 TP
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40 TP
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41 TP
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42 TP
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44 TP
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45 PT
PT
PT
TP
38
P
PT
Dies stellt allerdings keine Verhinderung, sondern die Notwendigkeit für „nicht-symbiotische kooperative Interaktionen“ dar. Differenzen und Unabgestimmtheit ermöglichen Kommunikation erst; die operative Autonomie der Kommunikationspartner ist Voraussetzung für Entscheidungsfreiheit, Variabilität und Spontaneität (vgl. Bardmann 1994:95f). Vgl. Maturana/Varela 1987:212; Bardmann 1994:92ff; Rusch 1987:149 Maturana 1994:117 Vgl. v. Glasersfeld 1995:33ff Hejl erklärt das Zustandekommen von Interaktion und Kommunikation, sozialen Bereichen und schließlich Gesellschaften evolutionsbiologisch (vgl. Hejl 1994:119ff): „Menschen leben sozial aus biologischen Gründen und können biologisch sein, wie sie sind, weil sie sozial leben.“ (Hejl 1995:123; im Org. kursiv) Hejl 1995:124; im Org. kursiv Vgl. Hejl 1995:124f, 135f Vgl. Hejl 1992:191; 1994:113; 1995:126f
9
„Entsprechend der Definition sind Individuen nur soweit Komponenten eines sozialen Systems, als sie an dessen Interaktionen teilnehmen. Individuen sind also als solche einerseits Komponenten in einer Vielzahl von Sozialsystemen und gleichzeitig, wenn auch auf anderer analytischer Ebene, Systeme eigener Art. Stellen Individuen ihre Interaktionen in einem spezifischen Sozialsystem ein, so hören sie zwar auf, dessen Komponente zu sein, sie können aber oft mit fast der gleichen Menge kognitiver Konstrukte, Prozesse und Handlungsmöglichkeiten Komponente eines anderen Sozialsystems werden."46 TP
PT
Trotz dieser Überlegungen zu Kommunikation und sozialen Systemen bleibt die radikal-konstruktivistische Perspektive individuumsbezogen:47 P
P
„Die Analyse sozialer Phänomene kann nur dann erfolgreich sein, wenn sie sich vollkommen der Tatsache bewußt bleibt, daß der Verstand, der viable Begriffe und Schemas konstruiert, unter allen Umständen der Verstand eines Individuums ist. Auch „die anderen“ und „die Gesellschaft“ sind daher Begriffe, die von Individuen auf der Grundlage ihrer eigenen subjektiven Erfahrung konstruiert werden.“48 TP
PT
Diese radikal-konstruktivistische Perspektive als epistemologische Grundlage hat weitreichende Konsequenzen für die inhaltliche Bearbeitung der Forschungsfrage sowie für das Wissenschaftsverständnis. Inhaltlich bilden die Annahmen zu Beobachtungs-, Erkenntnis- und Wissensmöglichkeiten der Individuen Prämissen sowohl für das Verständnis von Organisationen und damit von Möglichkeiten und Bedingungen organisationalen Wandels als auch für das konstruktivistische Verständnis von zwischenmenschlichen Konflikten. Im Bezugsrahmen (Kap.2) werden aufbauend auf diesen erkenntnistheorischen Darstellungen die Prozesse und Möglichkeiten individueller und kollektiver Wirklichkeitskonstruktionen vertieft
46 TP
PT
47 TP
PT
TP
48 PT
10
Hejl 1992:194 (Fußnote weggelassen). Entsprechend sind soziale Systeme für Hejl nicht selbsterhaltend, selbstreferentiell oder selbstorganisierend, sondern „synreferentiell“ (vgl. Hejl 1995:130ff). Frindte (1995:112;1998:47) erkennt im radikalen Konstruktivismus zwei verschiedene Auffassungen vom „Sozialen“: zum einen eine rigorose Position (z.B. Maturana, Roth), nach der Menschen über koordiniertes Verhalten und strukturelle Kopplung Übereinstimmungen erzeugen; zum anderen eine gemäßigtere Position (z.B. Schmidt, Hejl), wonach lebende Systeme durch parallelisierte Zustände und darauf bezogene Interaktion soziale Systeme bilden. Allerdings betont auch letztere eindeutig die individuelle Konstruktion von Wirklichkeit. Schmidt betrachtet insbesondere die soziale Einflussnahme auf die Wirklichkeitskonstruktion und benutzt dabei sogar den Begriff des kollektiven Wissens, sieht aber trotzdem „...Individuen als empirische Orte der Konstruktion und der Anwendung kollektiven Wissens“ (Schmidt 1995:240; vgl. Schmidt 1994:31; 1995:239f.). V. Glasersfeld 1996:199
herausgearbeitet, welche das Fundament für die anschließende Bearbeitung der Forschungsfrage bilden.49 Die wissenschaftstheoretische Konsequenz des radikalen Konstruktivismus liegt vor allem in der Einsicht, dass wissenschaftliche „Erkenntnisse“ ebenfalls nur subjektabhängige Wirklichkeitskonstruktionen und keine objektiven Wahrheiten sind. Wissenschaft entwickelt aus radikal-konstruktivistischer Perspektive nur Vorschläge für die Beantwortung einer Forschungsfrage bzw. für die Lösung eines Problems. Auch die „empirische“ Überprüfung eines solchen Lösungsvorschlages ist nur eine subjektabhängige Konstruktion. Entscheidend ist die Viabilität der Konstruktion bei der Problemlösung:50 TP
TP
PT
PT
„Es gibt in der Wissenschaft keine außerhalb der menschlichen Erkenntnis stehende objektive Instanz, kein `Auge Gottes´, wodurch eindeutig festgelegt werden kann, was richtig und falsch ist. Vielmehr müssen wir uns die Erkenntnis eher als den Weg eines Blinden in einem Wald vorstellen, der zwar mit der Realität `zusammenstößt´, das heißt merkt, was möglich ist oder nicht, trotzdem aber nie den Wald sieht.“51 P
P
„Wissenschaftliche Interpretationen und Kommunikationen von und über Wirklichkeiten sind weder richtig noch falsch; sie existieren und sind auf Nützlichkeit und Passfähigkeit zu überprüfen. Jede wissenschaftliche Sicht auf die Welt ist zunächst einmal eine von vielen möglichen Sichtweisen. Und der Rekurs auf „rationale“ Kriterien und Prinzipien zur Beurteilung diverser wissenschaftlicher Interpretationen und Kommunikationen ist auch nur ein Aspekt des wissenschaftlichen Möglichkeitsraumes.“52 TP
1.3
PT
Forschungsdesign und Methodologie
Die erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Position einer Forschungsarbeit definiert den Anspruch und die Möglichkeiten des Forschungsprozesses. Aus der hier vertretenen epistemologischen Basis ergeben sich folgende Prämissen: Die eigenen Forschungsergebnisse, die in der Arbeit entwickelt werden, sowie der dabei ablaufende Forschungsprozess sind Wirklichkeitskonstruktionen, keine objektiven Erkenntnisse. 49 TP
PT
50 TP
PT
51 TP
PT
TP
52 PT
Wie bereits weiter oben ausgeführt wird dabei neben dem radikalen Konstruktivismus als epistemologische Grundlage auf sozialkonstruktivistische Positionen zurückgegriffen, da diese über die radikal konstruktivistischen Argumentationen hinaus soziale Wirklichkeitskonstruktionen und damit die für die Arbeit relevanten Phänomene „Organisationaler Wandel“ und „Zwischenmenschlicher Konflikt“ erklären können. Vgl. Roth 1992:279f; Hejl 1995:110ff; Frindte 1998:55ff; Tomaschek 1999:15 Baumgartner/Payr 1997:96 Frindte 1998:265
11
Die Subjektivität wissenschaftlichen Arbeitens und der erlangten Ergebnisse muss permanent bewusst sein und regelmäßig explizit thematisiert und reflektiert werden. Bewertungsmaßstab für die zu entwickelnden theoretischen Aussagen und Modelle sind nicht „klassische Gütekriterien“ empirischer Forschung (insbesondere die Objektivität und Reliabilität), sondern ihre Viabilität, ob sie also einen brauchbaren Erklärungs- bzw. Gestaltungsbeitrag leisten.
-
-
Innerhalb der Sozialforschung kann zwischen theoretischer und empirischer Sozialforschung unterschieden werden. Erstere will die Forschungsfrage beantworten, indem sie Folgen aus bestehenden Theorien ableitet und diese zu anderen bestehenden Theorien in Beziehung setzt. Letztere will aus der Beobachtung von Ausschnitten der sozialen Welt theoretische Schlüsse ziehen und so Forschungsfragen beantworten bzw. Theorien (weiter-)entwickeln.53 Der Forschungsansatz dieser Arbeit liegt in der theoretischen Sozialforschung, da bereits sowohl bewährte konstruktivistische Theorien zu organisationalem Wandel als auch eine Vielzahl von Theorien und Forschungsergebnissen zur interpersonellen Konfliktforschung existieren, die allerdings bisher nicht aus der Perspektive des formulierten Erkenntnisinteresses miteinander kombiniert wurden. Durch die Zusammenführung von individuums- und organisationsbezogenen konstruktivistischen sowie konflikttheoretischen Ansätzen sollen die drei definierten Zielsetzungen der Arbeit erreicht werden. Konkret bedeutet dies: Zur Beantwortung der zentralen Forschungsfrage werden eine vorab zu entwickelnde konstruktivistische Konfliktkonzeption und ein konstruktivistisches Verständnis von organisationalem Wandel zusammengeführt und entsprechende Schlussfolgerungen gezogen. Für das Modell der Rahmenbedingungen werden aus konstruktivistischer Perspektive Ableitungen aus den bestehenden Forschungsergebnissen und Theorien zu konstruktivem Konfliktmanagement und verwandten Theoriebereichen getroffen. Die Ableitungen für die betriebswirtschaftliche Praxis werden ebenfalls aus der bestehenden Konfliktforschung sowie aus konstruktivistischen Lern- und Organisationstheorien gezogen. TP
PT
Diese theoretische Arbeit wird durch einen praktischen Teil ergänzt. Dieser soll aber nicht im klassischen Verständnis der empirischen Sozialforschung zur empirischen Theoriegenerierung oder zur empirischen Überprüfung einer Theorie mit einem methodologisch begründeten Anspruch auf uneingeschränkte Generalisierbarkeit der Ergebnisse dienen, sondern die theoretischen Ergebnisse ergänzen und in ihrer Viabilität für die Praxis illustrieren. Diese praktische Illustration erfolgt durch offene,
TP
53 PT
12
Vgl. Gläser/Laudel 2004:22
leitfadengestützte Interviews mit Führungskräften und Organisationsberatern, die ihre eigenen Erfahrungen mit zwischenmenschlichen Konflikten in Organisationen und deren Konsequenzen rekonstruieren sowie mögliche Auswirkungen bestimmter Verhaltensweisen, Managementinterventionen und Rahmenbedingungen reflektieren und abschätzen können. Mit Blick auf die definierte Forschungszielsetzung dienen die Interviews der Ergänzung, Erweiterung und kritischen Würdigung der theoretisch hergeleiteten Rahmenbedingungen und ihrer Zusammenhänge im zu entwickelnden Modell sowie der Ableitung von konkreten Praxisempfehlungen für das Change- und Konfliktmanagement. Eine weitere methodologische Diskussion sowie die Entwicklung des Interviewleitfadens erfolgen in Kap. 5.1.2. Das Modell der Rahmenbedingungen soll eine möglichst ganzheitliche Betrachtung der Einflussfaktoren und ihrer Auswirkungen auf den Zusammenhang zwischen zwischenmenschlichen Konflikten und der Entstehung organisationalen Wandels umfassen. Das Ziel ist dabei nicht die detaillierte Untersuchung oder gar Quantifizierung des Einflusses einzelner Variablen, da solche Ergebnisse künstliche, stark situative Konstruktionen sind, deren Detailliertheit und vermeintliche Genauigkeit vor dem Hintergrund der Zielsetzung der Arbeit kaum praktische Anwendbarkeit aufweisen. Ausgehend von einem Verständnis der Betriebswirtschaftslehre als angewandte, praxisorientierte Wissenschaft ist es vielmehr das Ziel, ein theoretisch fundiertes Modell für die praktische Umsetzung in Organisationen zu liefern, um organisationalen Wandel und die prinzipielle Wandelfähigkeit zu reflektieren und zu unterstützen sowie einen weiteren Baustein für ein generell neutrales und potentiell konstruktives Konfliktverständnis zu konstruieren. In vielen Teilen der folgenden Arbeit, insbesondere bei der Entwicklung des konstruktivistischen Konfliktverständnisses sowie bei der Auseinandersetzung mit möglichen Rahmenbedingungen, wird auf andere Forschungsergebnisse und Theorien zurückgegriffen, die nicht auf der hier vertretenen konstruktivistischen Epistemologie basieren. Insbesondere die zwischen-menschliche Konfliktforschung innerhalb der Sozialpsychologie erfolgt nahezu ausschließlich (und i.d.R. unerwähnt und unreflektiert) auf dem Paradigma einer objektiven Erkenntnis des kritischen Rationalismus nach Popper und nutzt überwiegend quantitative empirische Sozialforschung zur Hypothesenprüfung. Auch wenn dieses Paradigma und die methodologischen Prinzipien für diese Arbeit abgelehnt werden, wird auf die Forschungsergebnisse trotzdem zurückgegriffen. Dies widerspricht nicht den Forschungsprinzipien dieser Arbeit, sondern entspricht der Akzeptanz einer Prinzipien-, Theorien- und Methodenpluralität, deren alleiniger Bewertungsmaßstab die Viabilität der Ergebnisse für wissenschaftliche Erklärungen und praktische Anwendbarkeit ist. Allerdings müssen die Rahmenbedingungen, unter denen diese Forschungsergebnisse zustande kamen (insoweit sie aus den Forschungsberichten ersichtlich sind), sowie die darauf beruhende Aussagekraft aus der Perspektive der 13
hier vertretenen erkenntnistheoretischen Diskussion reflektiert und relativiert in die eigene Konstruktion integriert werden. Zur Bearbeitung der Forschungsfragen wird im Forschungsprozess wie folgt vorgegangen (vgl. Abb. 2): - Zuerst wird im folgenden Kapitel der Bezugsrahmen der Arbeit entwickelt. Die Grundlage dafür bildet das Modell der Wirklichkeitsräume von Frindte als Synthese von radikal-konstruktivistischen und sozialkonstruktivistischen Positionen mit dem Sinnraum, Interaktionsraum, Bedeutungsraum und Möglichkeitsraum als Ebenen der individuellen und sozialen Wirklichkeitskonstruktion. Die Modellebenen werden mit weiteren Theorien angereichert, auf welche sich z.T. Frindte selbst bezieht, die z.T. aber auch das allgemein gehaltene Modell in den für die Forschungsfrage relevanten Themenbereichen spezifizieren sollen. Dies gilt insbesondere für die Ebenen der Bedeutungsräume, in die Organisationen einzuordnen sind (Kap. 2). - Aufbauend auf den individuums- und organisationstheoretischen Aussagen des Bezugsrahmens werden die Möglichkeiten und Voraussetzungen für organisationalen Wandel, der Veränderungsprozess selbst sowie die Rolle des Managements im Wandel hergeleitet. Der Schwerpunkt des Kapitels liegt gemäß der Forschungszielsetzung in der Entstehung bzw. Initiierung von organisationalen Veränderungen (Kap. 3). - Anschließend wird auf Grundlage des Bezugsrahmens ein eigenes, konstruktivistisches Konfliktverständnis entwickelt. Die Erforschung intraindividueller, interindividueller und makrosozialer Konflikte ist ein wesentlicher Schwerpunkt in vielen Wissenschaften. Eine konstruktivistische Perspektive auf diese Thematik gibt es aber m. W. bisher nicht. Daher wird es notwendig sein, bestehende – z.T. etablierte, z.T. neuere – Ansätze und Ergebnisse der Konfliktforschung aus konstruktivistischer Sicht zu „re-interpretieren“. Da vom gewählten epistemologischen Standpunkt aus jede wissenschaftliche Forschung eine individuelle und soziale Konstruktion ist, wird diese re-interpretierende Integration nicht-konstruktivistischer Ansätze möglich, solange die Konstruktivität sowohl der wissenschaftlichen Annahmen als auch der Methoden ihrer Prüfung permanent thematisiert und reflektiert werden. Die eigenen Konstruktionen zu interindividuellen Konflikten sollen Aussagen über die Konfliktdefinition, den Konfliktverlauf mit seinen Rahmenbedingungen und Auswirkungen sowie Möglichkeiten des Konfliktmanagements treffen (Kap. 4.1). Das Beurteilungskriterium für diese Ausführungen muss ihre Viabilität bilden, und zwar zum einen ihre Passfähigkeit und Konsistenz bezüglich des Bezugsrahmens der Arbeit, zum anderen ihre Nützlichkeit für die Bearbeitung der Problemstellung der Arbeit. - Durch die Zusammenführung dieser konstruktivistischen Konzeption von interindividuellen Konflikten mit den zuvor entwickelten Rahmenbedingungen organisationalen Wandels wird anschließend versucht, die zentrale Forschungs14
-
frage theoriegeleitet zu beantworten. Ziel ist es, mit Hilfe des eigenen Bezugsrahmens einen Erklärungsbeitrag zu liefern, warum zwischenmenschliche Konflikte hilfreich, vielleicht sogar notwendig sein können für die Initiierung organisationaler Veränderungen (Kap. 4.2). Anschließend wird aus den bestehenden Forschungsergebnissen (insbesondere der Konfliktforschung) sowie den Ergebnissen der durchgeführten Experteninterviews ein Modell entwickelt, das notwendige bzw. förderliche Rahmenbedingungen für diesen konstruktiven Konfliktverlauf im organisationalen Kontext zusammenfasst. Daraus sollen abschließend Ableitungen für die Übertragung von Erkenntnissen des Konfliktmanagements in das Change Management getroffen werden. Der Fokus liegt hierbei insbesondere auf der Frage nach den Möglichkeiten der Institutionalisierung von Methoden des Konfliktmanagements, der Stimulierung von Konflikten in Organisationen sowie der Bedeutung der Konfliktkultur im Rahmen der Organisationskultur zur Aufrechterhaltung und Erhöhung der Wandelfähigkeit der Organisationen (Kap. 5).
Die drei letztgenannten Teile – die theoriegeleitete Beantwortung der Forschungsfrage, das Modell der Rahmenbedingungen und die Ableitungen für die betriebswirtschaftliche Praxis – bilden den Kern der Arbeit.
Radikaler Konstruktivismus als wissenschafts- und erkenntnistheoretische Position (Kap. 1.2)
Bezugsrahmen (Kap. 2)
Organisationaler Wandel (Kap. 3)
Konstruktivistische Konfliktkonzeption (Kap. 4.1)
Zentrale Forschungsfrage: Zusammenhang von zwischenmenschlichen Konflikten und der Entstehung organisationaler Veränderungen (Kap. 4.2)
Modell der Rahmenbedingungen (Kap. 5.1-5.4) Experteninterviews Ableitungen für die Management-Praxis (Kap. 5.5)
Abb. 2: Ablauf der Arbeit
15
2
Das Modell der Wirklichkeitsräume von Frindte als Bezugsrahmen der Arbeit
Der Bezugsrahmen der Arbeit soll die individuellen und sozialen Prozesse der Konstruktion der komplexen und vielfältigen Wirklichkeitsordnung eines Menschen darstellen. Damit wird er die Erklärungsgrundlage für die Entstehung und Veränderung individueller und organisationaler Wirklichkeiten sowie für interindividuelle Konflikte bilden. Der radikale Konstruktivismus als erkenntnistheoretische Grundlage dieser Arbeit hat bereits wesentliche Aussagen über die Prozesse, Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Erkenntnis von der Welt getroffen. Allerdings liefert er nur begrenzt Aussagen über soziale Systeme und Prozesse, da der Fokus des Ansatzes auf der Wirklichkeitskonstruktion eines einzelnen Individuums als operativ geschlossenes, selbstreferentielles Bewusstseinssystem liegt. Die Aussagen zur Herausbildung von strukturellen Kopplungen, konsensuellen Bereichen oder parallelisierten Zuständen bilden zwar einen ersten Erklärungsansatz für den Eintritt sozialer Wirklichkeiten in die individuelle Perspektive eines Beobachters, können aber die Herausbildung und Funktionsweise komplexer sozialer Systeme und Wirklichkeiten noch nicht begründen. Daher wird als Bezugsrahmen der Arbeit auf das Modell der Wirklichkeitsräume von Frindte (1995, 1998) zurückgegriffen, eine explizit sozialpsychologische Konzeption, die in einer Synthese von radikalem Konstruktivismus und Sozialkonstruktivismus die erkenntnistheoretische Basis dieser Arbeit um soziale Wirklichkeiten erweitert.54 Beide Richtungen schließen sich nach TP
TP
54 PT
16
PT
Auch unter den Begriff Sozialkonstruktivismus fallen verschiedene Ansätze und Schulen. Ihre Gemeinsamkeiten liegen zum einen in der konstruktivistischen Grundlage, also der Ablehnung objektivistischer Annahmen des Realismus, zum anderen in der Fokussierung auf interindividuelle und gesellschaftliche Prozesse der Interaktion, Wirklichkeitskonstruktion und Verfestigung. Ihre gemeinsame Grundlage ist die Annahme, dass Wirklichkeiten sozial konstruiert sind, also zwischen Menschen entstehen. Das Individuum wird in eine bereits gedeutete und mit Wirklichkeiten belegte Welt hineingeboren, die ihm als faktische Realität gegenübertritt. Sozialkonstruktivismus ist damit in erster Linie nicht Wissens- und Erkenntnistheorie, sondern vor allem explizite Sozialpsychologie, d.h. ihr geht es im Gegensatz zum radikalen Konstruktivismus weniger um die Rechtfertigung der Annahme der Konstruktion von Wirklichkeit, sondern um ihre konkreten Entstehungsprozesse und ihre interpersonalen bzw. gesellschaftlichen Inhalte. Insbesondere zwei sozialkonstruktivistische Ansätze sind heute von Bedeutung: Der phänomenologische Sozialkonstruktivismus (Berger/Luckmann 1966/2000) betrachtet die Gesellschaft als soziale Praxis und hinterfragt, wie soziale Konstruktionen in ihr entstehen und weitergegeben werden. Im social constructionism (Gergen 1985, 1989, 1994, 1999; für das Organisationsverständnis siehe Dachler/Hosking 1995) bilden interpersonale kommunale Diskurse die soziale Praxis, in denen Wirklichkeiten konstruiert werden (vgl. Laucken 1998:304f, 322ff; Frindte 1998:41ff; Baecker et al. 1992:118; Kaduk 2002:38ff; Fried 2005:42ff, 52ff). Frindte bezieht sich in seiner Synthese explizit auf den social constructionism, in den Modellbausteinen und Begrifflichkeiten sind aber auch deutliche Anlehnungen an den phänomenologischen Sozialkonstruktivismus erkennbar. Auch der Ansatz der Bochumer Arbeitsgruppe (vgl. Baecker et al. 1992) versucht die Synthese zwischen radikalem Konstruktivismus und Sozialkonstruktivismus, kommt aber m.E. zu keinem verwertbaren Ergebnis. Daher erfolgt im Weiteren die ausschließliche Betrachtung des Ansatzes von Frindte.
Frindte nicht gegenseitig aus, sondern beziehen sich auf unterschiedliche Systeme der Wirklichkeitskonstruktion: das operativ geschlossene individuelle Bewusstsein beim radikalen Konstruktivismus und interpersonale bzw. gesamtgesellschaftliche kommunikative Beziehungen im sozialen Konstruktivismus.55 Durch diese Verbindung von individueller und sozialer Wirklichkeitskonstruktion bietet das Modell der Wirklichkeitsräume von Frindte einen passenden Rahmen für die Entwicklung des Bezugsrahmens der Arbeit, in den sich die wesentlichen Themenfelder der Forschungsfrage – organisationaler Wandel und interindividuelle Konflikte – verorten lassen. TP
PT
Im Modell der Wirklichkeitsräume erfolgt die Konstruktion der Vielfalt individueller und sozialer Wirklichkeiten in diversen personalen und sozialen Systemen, die auf vier Ebenen zusammengefasst werden: (1) Der Sinnraum umfasst die individuellen Wirklichkeitskonstruktionen. Individuelle Wirklichkeitskonstruktionen sind alle kognitiv-emotionalen Interpretationen der Welt sowie der eigenen Person in dieser Welt, die vor dem Hintergrund bereits gemachter Erfahrungen mit dem Ziel der Praktikabilität konstruiert werden. Hier gelten die operative Geschlossenheit und Selbstreferenz des individuellen Bewusstseins als Postulate des radikalen Konstruktivismus, gleichzeitig aber auch die Sprachgebundenheit des Sozialkonstruktivismus, da jede bewusste Deutung in Sprache gefasst sein muss. Als Sinn bezeichnet Frindte jene individuellen Wirklichkeitskonstruktionen, die zur selbstreflexiven Begründung von Deutungen über das eigene vergangene, gegenwärtige und zukünftige Leben dienen. Sie sind gleichzeitig Anknüpfungspunkte für weitere individuelle Konstruktionen. Der Sinnraum als erste Systemebene der Wirklichkeitskonstruktion ist somit ein psychisches Netzwerk für individuelle Motive, Handlungsgründe, Themen und Sinnmuster und umfasst alle potentiellen Begründungen für Deutungen.56 TP
PT
(2) Im Interaktionsraum erfolgt die soziale Konstruktion von Wirklichkeiten durch Interaktion und Kommunikation. Im Interaktionsraum tritt der Mensch in die Interaktion mit anderen Menschen. Interaktionen definiert Frindte als sinnvolle, wechselseitige, von Angesicht zu Angesicht stattfindende Anregung zur Konstruktion von Wirklichkeit. Sie ist damit eine spezifische, auf „Face-to-face“-Situationen begrenzte Form der Kommunikation, unter welcher Frindte jede wechselseitige Anregung zur Konstruktion von 55 TP
PT
TP
56 PT
Zu Vergleich und Synthese von radikalem Konstruktivismus und sozial konstruktivistischen Positionen vgl. Frindte 1995; 1998:41ff; Kaduk 2002:45ff Vgl. Frindte 1998:64, 67ff
17
Wirklichkeit zwischen Menschen bzw. sozialen Systemen versteht, also z.B. auch in schriftlicher Form. Hier greift Frindte auf die Begriffe der strukturellen Kopplung und des konsensuellen Bereiches aus dem radikalen Konstruktivismus zurück, verbindet sie aber mit den Positionen des Sozialkonstruktivismus. Interaktionsräume sind jene sozialen Bereiche, in denen Menschen ihre individuellen Wirklichkeitskonstruktionen auszudrücken („zu exteriorisieren“) versuchen. Dazu müssen – entsprechend den Postulaten des Sozialkonstruktivismus – die individuellen Wirklichkeitskonstruktionen der Beschaffenheit der Interaktionsform angepasst werden, d.h. sie müssen in einer solchen Sprache formuliert werden, dass sie für den Interaktionspartner verständlich sind. Dies führt bereits zur Veränderung der individuellen Wirklichkeitskonstruktionen, welche damit im Interaktionsraum nicht mehr als individuelle, sondern bereits als soziale Konstruktionen auftreten. Durch die wechselseitige Bezugnahme auf kommunikative Äußerungen werden die Aussagen im Interaktionsraum weiter verändert. Die Interaktion mit anderen bietet dem Menschen darüber hinaus die Möglichkeit, seine individuellen Wirklichkeitskonstruktionen zu überprüfen und zu validieren bzw. zu verändern und neu zu konstruieren. Interaktionsräume sind somit gleichzeitig Aneignungsräume, in denen sozial konstruierte Wirklichkeiten, welche durch die wechselseitige kommunikative Bezugnahme auf exteriorisierte individuelle Wirklichkeitskonstruktionen der beteiligten Interaktionspartner entstehen, vom Individuum interpretiert und als neue individuelle Wirklichkeitskonstruktionen interiorisiert werden. Diesen wechselseitigen Zusammenhang zwischen beiden Ebenen bezeichnet Frindte als primäre Sozialisation individueller Konstruktionen bzw. primäre Individuation sozialer Konstruktionen.57 Nach einer gewissen Interaktionszeit grenzen sich die Teilnehmer durch soziale Konstruktionen gegenüber ihrer Umwelt ab und bilden ein soziales System, in dem eigene soziale Wirklichkeiten konstruiert werden. Diese umfassen die gemeinsam geteilten und weitergegebenen Deutungen von der Welt einschließlich der eigenen Gemeinschaft. Hier findet sich der Übergang zur dritten Konstruktebene, dem sozialen Bedeutungsraum.58 TP
TP
PT
PT
(3) Der Bedeutungsraum beinhaltet stabile Gruppen mit tradierten sozialen Wirklichkeitskonstruktionen. Bedeutungsräume bilden den sozialen Hintergrund für individuelle und soziale Wirklichkeitskonstruktionen. Bedeutungen sind relativ stabile Inhalte sozialer Konstruktionen, die über Interaktionen entstehen und interindividuell weitgehend übereinstimmende Wirklichkeitskonstruktionen und Deutungsbegründungen liefern. Sie erfüllen damit in der sozialen Konstruktion eine ähnliche Funktion wie Sinn in der individuellen Wirklichkeitskonstruktion: Sie bieten konstante 57 TP
PT
TP
58 PT
18
Vgl. Frindte 1998:65, 72ff Vgl. Frindte 1998:77
Deutungsbegründungen und Anschlussfähigkeit für weitere Konstruktionen. Soziale Gruppen mit einem charakteristischen, interindividuell geteilten Bedeutungsraum (z.B. Teams, Organisationen, Vereine etc.) bezeichnet Frindte auch als Deutegemeinschaften. Die interindividuell geteilten Wirklichkeitsdeutungen dienen der Gruppe und ihren Mitgliedern zur Identitätsfindung über die Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen, die Tradierung und Veränderung sozialer Codes und den Vergleich mit anderen Gruppen. Gleichzeitig haben Deutegemeinschaften für ihre Mitglieder einen normativen Wert und erheben einen Anspruch auf normative Interpretation der Welt. Das Verhältnis zwischen individuellen Wirklichkeitskonstruktionen und der Bedeutungsebene sozialer Konstruktionen bezeichnet Frindte als sekundäre Sozialisation individueller Konstruktionen und sekundäre Individuation sozialer Konstruktionen. Individuen tragen durch ihre kommunizierten individuellen Wirklichkeitskonstruktionen einerseits zur Herausbildung und Veränderung dieser Bedeutungen bei, werden andererseits durch die Bedeutungen der sozialen Gruppen, denen sie angehören, in ihrer individuellen Wirklichkeitskonstruktion beeinflusst.59 TP
PT
(4) Der Möglichkeitsraum umfasst die makrosozialen, ebenfalls kommunikativ geschaffenen Möglichkeiten der individuellen und kollektiven Wirklichkeitskonstruktionen. Die Möglichkeitsräume bilden schließlich die Gesamtheit kommunikativ geschaffener, gesamtgesellschaftlich verfügbarer Angebote für soziale Wirklichkeitskonstruktionen. Sie umfassen Rituale, Traditionen, Konventionen, Mythen, gesellschaftliche Normen usw., also die gesamte kulturelle und gesellschaftliche Vielfalt, die für individuelle und soziale Wirklichkeitskonstruktionen zur Verfügung steht. Sie sind selbst soziale Konstruktionen, sind aber für den Einzelnen durch Kommunikation erfahrbar. Sie sind keine menschenunabhängigen, per se existierenden Tatbestände und bilden auch kein zwingendes Erfordernis für die Wirklichkeitskonstruktion; sie stellen lediglich einen Möglichkeitsraum dar. Die Wechselwirkung zwischen dem kulturell-gesellschaftlichen Möglichkeitsraum und dem individuellen Sinnraum bezeichnet Frindte schließlich als tertiäre Sozialisation individueller Wirklichkeitskonstruktionen und tertiäre Individuation sozialer Konstruktionen.60 TP
PT
Die vier Konstruktebenen sind als autonome, gleichzeitig miteinander vernetzte lebende Systeme konzipiert. Die Verknüpfung erfolgt mittels systemübergreifender Kommunikationen (vgl. Abb.3). Dabei können sich Menschen in bzw. zwischen sozialen Systemen mittels eines über Sprache vermittelten Diskurses zur
59 TP
PT
TP
60 PT
Vgl. Frindte 1998:66, 78ff Vgl. Frindte 1998:66, 92ff
19
wechselseitigen Informationsproduktion anregen und sich gegenseitig verstehen.61 Die hierarchische Anordnung der Systemebenen ist allerdings nicht so zu verstehen, dass ein System eine Teilmenge des übergeordneten Systems darstellt. Übergeordnete Systeme bieten dem Menschen als personales System Möglichkeiten und Anregungen für individuelle Wirklichkeitskonstruktionen (Individuation sozialer Konstruktionen), gleichzeitig tragen die jeweiligen Individuen mit ihren kommunizierten Wirklichkeitskonstruktionen zur sozialen Konstruktion bei (Sozialisation individueller Konstruktionen). Individuelle Sinnräume müssen aber nicht konsensfähig mit Interaktions- und Bedeutungsräumen sein und Interaktionen müssen nicht zwangsläufig aus Bedeutungen bestehen.62 TP
TP
Beispiele für Wirklichkeitskonstruktionen:
PT
Systemebenen:
-
Personale Identität Subjektive Theorien Handlungsziele Selbstkonzept
Individuelle Sinnräume
-
Gruppenidentität Gruppensprachen Gruppenrituale Intergruppenkonflikte
Interaktionsraum sozialer Konstruktionen
einzelne Menschen
Gruppen
Kommunikation
-
„Erzählfamilien“ Kommunaler Diskurs „Kollektives Gedächtnis“ Corporate Identity
Bedeutungsraum sozialer Konstruktionen
Deutegemeinschaften
Kommunikation -
Mythen Gesellschaftliche Normen Gesellschaftliches Wissen Nationale Identität
Möglichkeitsraum sozialer Konstruktionen
gesamtgesellschaftliche Angebote zur Wirklichkeitskonstruktion
Abb. 3: Systemebenen der Wirklichkeitskonstruktion (entnommen aus Frindte 1995:117)
61 TP
PT
TP
62 PT
20
Vgl. Frindte 1995:115 Vgl. Kaduk 2002:49
PT
2.1
Der Sinnraum: Permanente Wirklichkeitskonstruktion und verfestigte Wirklichkeitsordnung als zwei Seiten einer Medaille
In diesem Abschnitt wird das der Arbeit zugrunde liegende Verständnis von der Entstehung, Verfestigung und Modifikation individueller Wirklichkeitskonstruktionen eingehender beschrieben. Dem Sinnraum des Modells der Wirklichkeitsräume von Frindte (1998) werden die Annahmen des radikalen Konstruktivismus über die individuelle Konstruktion von Wirklichkeit zugrunde gelegt. Damit kann direkt an die erkenntnistheoretischen Grundlagen des Kap. 1 angeschlossen werden, die für die wissenschaftliche Erkenntnis genauso gelten wie für die alltägliche Erkenntnis. Das menschliche Bewusstsein arbeitet demnach selbstreferentiell, operativ geschlossen und autonom.
2.1.1 Der permanente Prozess der Wirklichkeitskonstruktion als Anwendung bewährter Deutungsmuster Die den Menschen umgebende Umwelt ist für ihn zunächst nur ein permanenter, formloser Strom von Alltagsgeschehen, der keine beobachter-unabhängigen, kausal aufgezwungenen Bedeutungen enthält.63 In diesen Alltagsstrom ist der Mensch auf zwei Ebenen eingebunden. Zum einen leistet er durch eigenes Verhalten Beiträge zu diesem Strom, wobei es bei wechselseitig wahrgenommener Anwesenheit anderer Personen unmöglich ist, sich nicht nicht zu verhalten. Zum anderen ist er Beobachter dieses Alltagsgeschehens, um ihm einen Sinn zu geben und vernünftige, d.h. Erfolg versprechende und passende Verhaltensbeiträge zu finden.64 Der Prozess der Beobachtung lässt sich analytisch in Wahrnehmung und Interpretation unterteilen. In der Wahrnehmung werden durch selektive Ausrichtung von Aufmerksamkeit einzelne Teile des Alltagsstromes eingeklammert, die als Ereignisse in das menschliche Bewusstsein eintreten.65 Ereignisse sind Unterschiede in der Zeit, die für den Beobachter relevante Informationen enthalten, also einen tatsächlichen Unterschied machen.66 Die Auswahl von Teilen des Alltagsstroms für die Einklammerung erfolgt durch die Anwendung bestehender Deutungsmuster, wobei die eingeklammerten Elemente einerseits eine gewisse Vertrautheit mit diesen Deutungsmustern aufweisen müssen, um von ihnen überhaupt erfasst werden zu TP
PT
TP
TP
TP
63 TP
PT
64 TP
PT
65 TP
PT
TP
66 PT
PT
PT
PT
Vgl. v. Glasersfeld 1987:114; Rüegg-Stürm 2001:186ff. Rüegg-Stürm beschreibt den Alltagsstrom als „…rollende Endlos-Zeitung, in der das gesamte Geschehen unseres Alltags – auch unsere eigenen Beiträge zu diesem Geschehen – lückenlos, zeitverzugslos, kontinuierlich, sozusagen simultan abgedruckt…“ ist (2001:169f), v. Glasersfeld bezeichnet ihn als amorphen Strom von Empfindungen (vgl. 1987:114). Vgl. Frindte 1998:67ff; Rüegg-Stürm 2001:160ff, 182f. Die Aussage, dass es unmöglich ist, sich in Interaktionssituationen nicht zu verhalten, ist vom 1. Axiom der Kommunikation von Watzlawick/Beavin/ Jackson (1990:50ff) abgeleitet (siehe 2.2). Vgl. v. Glasersfeld 1987:121, 155; Rüegg-Stürm 2001:168f Vgl. Bateson 1982:123; 1985:585
21
können, andererseits aber auch nicht völlig bekannt sein dürfen, damit sie noch relevante Informationen für den Beobachter enthalten (vgl. Abb. 4).67 Das durch die Einklammerung im Bewusstsein des Menschen entstandene Ereignis ist bezüglich des möglichen weiteren Verlaufes zunächst unbestimmt und interpretationswürdig. Durch aktive und reflexive Such- und Vergleichsprozesse im diskursiven Bewusstsein des Menschen wird dem Ereignis retrospektiv Sinn zugewiesen, indem es mit bereits vorhandenen Deutungsmustern als abstrahierte Erfahrungen aus früheren interpretierten Ereignissen unter Berücksichtigung des Kontextes verglichen und in Beziehung gesetzt wird.68 Sinn als Ergebnis dieses Interpretations- bzw. Deutungsprozesses ist somit die individuell konstruierte Begründung für das eigene Erleben und Verhalten und gleichzeitig Anknüpfungspunkt für weitere Deutungsprozesse im permanenten Alltagsstrom. 69 TP
TP
PT
PT
TP
PT
Pragmatische Information
Chaos 100% Erstmaligkeit
Bekanntheit der Information Redundanz 100% Erwartbarkeit
Abb. 4: Anschlussfähigkeit von Informationen (modifiziert entnommen aus Rüegg-Stürm 2001:83; dort in Anlehnung an Weizsäcker 1986:99 und Buschor 1996:41)
Die Interpretation eines Ereignisses ist umso eindeutiger und bestimmter, je weniger vorhandene Deutungsmuster dem Ereignis auferlegt werden können und je bewährter diese Deutungsmuster sind. Je mehr Deutungsmuster auf eine Einklammerung passen und je weniger bewährt diese sind, desto uneindeutiger und unbestimmter ist die Interpretation. Entsprechend ist die Intensität und Intentionalität der bewussten Interpretation verschieden. Eindeutige Einklammerungen lassen i.d.R. ohne bewusste Verarbeitungsprozesse Schlussfolgerungen über das weitere Geschehen und damit Ableitungen über mögliches Anschlussverhalten zu. Weniger eindeutige Einklammerungen müssen aufwendiger und bewusst interpretiert werden.70 TP
PT
Verhalten ist jede individuelle Äußerungsform, die von anderen Individuen beobachtet werden kann, also zu Unterschieden führt, die für andere einen 67 TP
PT
68 TP
PT
69 TP
PT
TP
70 PT
22
Vgl. Rüegg-Stürm 2001:163ff Vgl. Weick 1995:46, 109ff; v. Glasersfeld 1987:121, 155, 208; Rüegg-Stürm 2001:168f, 193, 197 Vgl. Frindte 1998:69ff Vgl. Rüegg-Stürm 2001:168f, 194f
Unterschied machen. Dazu gehören Handlungen, aber auch Kommunikationen.71 Es bildet somit den Beitrag des Individuums zum Alltagsgeschehen. Bei der Auswahl des Verhaltens stützt sich das Individuum auf seine Beobachtungen des Alltagsstroms, indem es aufgrund der situativen Interpretationen sowie der eigenen Handlungsziele und der Erwartungen über den weiteren Verlauf potentiell sinnvolles Anschlussverhalten identifiziert. Prinzipiell ist das Individuum in seinem Anschlussverhalten aber von der Beobachtung des Ereignisstroms unabhängig, es wird nicht dadurch determiniert. Das Individuum hat eine Wahlfreiheit.72 TP
TP
PT
PT
2.1.2 Verfestigung der Deutungsmuster zur Wirklichkeitsordnung bei Viabilitätserfahrung Haben sich bestimmte Deutungsmuster in ihrer Anwendung bewährt, d.h. hat sich das Geschehen entsprechend den Erwartungen weiterentwickelt bzw. war das eigene Anschlussverhalten erfolgreich, werden diese abstrahiert im Gedächtnis als Teil der Wirklichkeitsordnung abgespeichert und in späteren ähnlichen Situationen wieder verwendet.73 Dieser Aufbau von Wissensvorräten ist an drei Voraussetzungen gebunden:74 - Erstens verfügt der Mensch über gewisse angeborene Gedächtnis- und Erinnerungsfunktionen sowie die Fähigkeit, zwischen gegenwärtigen Ereignissen und den Aufzeichnungen vergangener Ereignisse umzuschalten, um überhaupt den interpretierenden Vergleich zwischen aktuellem Geschehen und bekannten Deutungsmustern durchführen zu können. - Zweitens operiert das menschliche Bewusstsein induktiv, d.h. es geht von der Annahme aus, dass es Regelmäßigkeiten und Wiederholungen gibt. Anderweitig wäre jedes Lernen sinnlos und unmöglich. - Drittens ist beim Vergleich von gegenwärtigen Ereignissen mit Erinnerungen an vergangene Ereignisse Abstraktionsfähigkeit notwendig. Der Mensch unterstellt dem Ereignisfluss eine gewisse Regelmäßigkeit und Invarianz, die es ihm ermöglicht, aus früheren Erfahrungen Ableitungen für aktuelles Folgegeschehen und damit Erfolg versprechendes Anschlussverhalten zu ziehen. Diese Regelmäßigkeiten und Wiederholungen sind aber keine tatsächlichen Merkmale des Alltagsstroms selbst, sondern Konstruktionen des Beobachters. Kein Ereignis ist einem anderen wirklich gleich. Nur eine „unscharfe“, d.h. abstrahierende TP
PT
TP
71 TP
PT
72 TP
PT
73 TP
PT
TP
74 PT
PT
Vgl. Rüegg-Stürm 2001: 174f, 363. Die Definition von Verhalten bei Rüegg-Stürm bezieht sich auf den potentiellen Unterschied für andere Personen. Dieses Begriffsverständnis kann aber auch erweitert werden auf die Selbstbeobachtung bzw. die Beobachtung der Wirkungen des eigenen Verhaltens, z.B. in Form materieller Veränderungen. Vgl. Rüegg-Stürm 2001:198ff Vgl. v. Glasersfeld 1987:140f, 182ff Vgl. v. Glasersfeld 1987:114, 146ff, 284; Ciompi 1988:141ff; Simon 1993:151ff
23
Beobachtung mit dem Übersehen unrelevanter Unterschiede ermöglicht den Aufbau kognitiver Strukturen über Invarianzen und Ordnung. Indem das Individuum in seinen Einklammerungs- und Interpretationsprozessen der Beobachtung permanent auf bestehende Deutungsmuster Bezug nimmt, werden diese weiter ausdifferenziert und rekursiv miteinander verknüpft und verfestigt. Es entsteht ein komplexes Netzwerk bewährter Deutungsmuster, das zusammengenommen den Wissensvorrat des Menschen bildet und seine Wirklichkeitsordnung verkörpert.75 Frindte bezeichnet dieses komplexe psychische Netz individueller Wirklichkeiten (inkl. individueller Werte, Überzeugungen, Einstellungen, Motive, Handlungsgründe, subjektiver Theorien, Schemata) als den Sinnraum einer Person, also als Sammlung potentieller Begründungen für die eigene Deutung.76 TP
PT
TP
PT
Analytisch kann somit unterschieden werden zwischen dem permanent ablaufenden Prozess der Konstruktion von Wirklichkeit, also der aktuellen Sinnstiftung bzw. dem Deuten des Geschehens einerseits, und der vorhandenen Wirklichkeitsordnung als Sammlung generalisierter Verfestigungen früherer Erfahrungen andererseits. Beide sind rekursiv miteinander verknüpft. Während der aktuellen Deutung der Umwelt durch Wahrnehmung und Interpretation greift das Individuum aufgrund seiner operativen Geschlossenheit ausschließlich auf bestehende Deutungsmuster zurück. Diese werden wiederum durch jede viable Anwendung bestätigt und weiter verfestigt (vgl. Abb. 5).77 Diese rekursive Verfestigung der Wirklichkeitsordnung wird durch zwei Prozesse begünstigt. Zum einen steuert – wie dargestellt – die bestehende Wirklichkeitsordnung die aktuelle Wahrnehmung. Eingeklammert wird nur, was durch die vorhandenen Deutungsmuster erfasst werden kann. Zum anderen modifiziert das diskursive Bewusstsein im Interpretationsprozess die eingeklammerten Ereignisse so, dass sie den Erwartungen der Deutungsmuster entsprechen. Durch die Anwendung der Regelmäßigkeiten und Invarianten der Wirklichkeitsordnung konstruiert der Mensch also selbst die Wiederholungen im Alltagsstrom, genauso wie die Wiederholungen erst die Invarianten erzeugen. Diese Form der Anpassung der Wahrnehmung an die Wirklichkeitsordnung findet permanent und i.d.R. reibungslos und unbewusst statt. Sie wird nach Piaget Assimilation genannt.78 TP
PT
TP
PT
Mit zunehmender Bewährung der Deutungsmuster geht der Mensch schnell davon aus, dass diese der einzig mögliche Weg zur Beobachtung des Alltagsstroms und
75 TP
PT
76 TP
PT
77 TP
PT
TP
78 PT
24
Vgl. Rüegg-Stürm 2001:189 Vgl. Frindte 1998:64, 70 Vgl. Rüegg-Stürm 2001:187ff, 199, 367f; Rüegg-Stürm differenziert in Anlehnung an Giddens (1992) zwischen der Wirklichkeitskonstruktion als aktuell verlaufendem Prozess sowie der Wirklichkeitsordnung (-in-Bewegung) als verfestigtem Wissen, wobei dieses ebenfalls in permanenter Veränderung steht. Um eine klare begriffliche Abgrenzung und höhere Verständlichkeit zu erreichen, werde ich diese Unterscheidung übernehmen. Vgl. Piaget 1975:337ff; 1983:32; 1991:241ff; 1992:97; v. Glasersfeld 1987:142, 157; Siebert 1999:16ff, 122ff
zur Teilhabe an ihm sind. Er ist sich der Kontingenz seines Verhaltens und seiner Beobachtung oft nicht mehr bewusst:79 TP
PT
„Immer dann aber, wenn ein bestimmtes Ergebnis dieser Tätigkeiten sich als nützlich erweist (indem es erwünschte Erfahrungen herbeiführt oder unerwünschte ausschließt), vergessen wir rasch, daß wir natürlich auch ganz anders hätten segmentieren, vergleichen und beurteilen können. Hat ein Schema mehrere Male funktioniert, dann beginnen wir zu glauben, […] daß es gar nicht anders hätte sein können, und daß wir etwas über die wirkliche Welt entdeckt haben. In der Tat haben wir aber lediglich ein viables Verfahren der Organisation unserer Erfahrung gefunden.“ 80 TP
PT
Diese rekursive Verfestigung bestehender Deutungsmuster durch ihre Anwendung im Beobachtungsprozess und gleichzeitige Assimilation des Erlebten verdeutlicht, dass individuelle Wirklichkeitskonstruktionen sehr stabil sind und sich ihre Viabilität weitestmöglich selbst erzeugen. steuert Wahrnehmung und bildet Vergleichsgrundlage für Sinnstiftung Wirklichkeitsordnung
Wirklichkeitskonstruktion
(komplexes Netzwerk verknüpfter Deutungsmuster)
(Wahrnehmung und Interpretation; Verhalten)
verfestigt verwendete Deutungsmuster und differenziert sie weiter aus (bei Bewährung)
Abb. 5: Rekursive Verknüpfung von Wirklichkeitsordnung und Wirklichkeitskonstruktion T
2.1.3 Irritation verfestigter Deutungsmuster als Voraussetzung für individuelles Lernen Die in den beiden vorangegangenen Abschnitten beschriebene Konstruktion und Verfestigung individueller Wirklichkeitsordnung führt zum Begriff des individuellen Lernens. Lernen ist aus konstruktivistischer Perspektive eben dieser aktivschöpferische Prozess der Konstruktion individuellen Wissens und individueller Wirklichkeitsordnungen, also des Aufbaus und der Veränderung von kognitiven Strukturen, Deutungsmustern und Problemlösungsstrategien zu komplexen Wissensgebilden. Lernen ist erfahrungsbezogen, strukturdeterminiert und rekursiv, 79 TP
PT
TP
80 PT
Vgl. v. Glasersfeld 1987:143 v. Glasersfeld 1987:284
25
da der Aufbau und die Verfestigung neuer Teile der Wirklichkeitsordnung immer unter Bezugnahme auf bereits bestehende Teile erfolgt.81 Im Zusammenhang mit dieser Arbeit soll nicht der erstmalige Aufbau eines Wissensvorrates in der frühkindlichen Entwicklungsphase thematisiert werden,82 sondern die Veränderung bereits verfestigter, stabiler und relativ veränderungsresistenter Deutungsmuster. TP
TP
PT
PT
Bei der Konstruktion von Wirklichkeiten lassen sich in Anlehnung an Piaget zwei Arten von Lernen unterscheiden: das Assimilationslernen und das Akkomodationslernen.83 Das Assimilationslernen wurde bereits in Abschnitt 2.2.2 beschrieben. Es beinhaltet keine tatsächliche Veränderung der Wirklichkeitsordnung, sondern die Ausdifferenzierung und Verfestigung von Deutungsmustern durch die Anpassung des Ereignisstromes an dieselben. Der Prozess der Assimilation erklärt also, warum einmal verfestigte Deutungsmuster so veränderungsresistent sind: indem sie selbst den Bezugsrahmen für die Wahrnehmung und Interpretation des Alltagsgeschehens bilden, assimiliert der Mensch – i.d.R. völlig unbewusst und reibungslos – seine Umwelt an seine bestehende Wirklichkeitsordnung, soweit dies möglich ist. Erst wenn sie sich trotz Assimilation des Erlebten nicht mehr viabel erweisen, kommt es zur Störung bzw. Irritation der Wirklichkeitskonstruktion, die zu Akkomodationslernen führen kann. Erst bei diesen Lernprozessen werden bestehende Deutungsmuster modifiziert oder neue Deutungsmuster aufgebaut. Akkomodation führt also zur Veränderung von Teilen der Wirklichkeitsordnung.84 Unter Beachtung dieser Unterscheidung ist Lernen somit einerseits der permanent stattfindende Normalfall (in Form von Assimilation und Verfestigung von Wirklichkeitsstrukturen), andererseits die Ausnahme im strukturkonservativen Prozess der Wirklichkeitskonstruktion (als wirkliche Neukonstruktion oder Veränderung bestehender Deutungsmuster).85 Im Folgenden werde ich unter Lernen nur die tatsächliche Veränderung der Wirklichkeitsordnung im Sinne von Piagets Akkomodationslernen verstehen, also die Modifikation oder Neukonstruktion von Deutungsmustern. TP
PT
TP
TP
PT
PT
Auslöser solcher akkomodativen Lernprozesse sind Störungen und Irritationen im Prozess der alltäglichen Wirklichkeitskonstruktion. Bestehende Deutungsmuster erweisen sich im gegebenen Kontext als nicht mehr viabel. Diese Störungen können in der Auseinandersetzung des Individuums mit seiner Umwelt inklusive anderer Menschen, aber auch mit seiner eigenen Psyche entstehen. Störungen erfolgen i.d.R., wenn sich Erwartungen über das weitere Alltagsgeschehen oder über eigene Handlungskonsequenzen, die sich aus der Interpretation aufgrund der bestehenden Deutungsmuster ergeben, nicht eintreffen. Sie können aber auch auftreten, wenn 81 TP
PT
82 TP
PT
83 TP
PT
84 TP
PT
TP
85 PT
26
Vgl. v. Glasersfeld 1987:132; Arnold/Siebert 1995:98ff; Diesbergen 1998:76ff; Siebert 1999:17ff Dazu vgl. insbesondere Piaget 1975; 1991; v. Glasersfeld 1987; Ciompi 1988:167ff Vgl. Piaget 1975:337ff; 1983:32ff; 1991:241ff; v. Glasersfeld 1987:157f; Simon 1993:163f Vgl. v. Glasersfeld 1987:148, 157f, 216f; Siebert 1999:22 Vgl. Siebert 1999:16f
durch andere Personen in der Umwelt andere, ebenfalls mögliche und viable Wirklichkeitsdeutungen eingebracht werden, die dem Beobachter selbst bisher (zumindest in diesem Kontext) nicht bekannt waren, also die angenommene Einzigartigkeit der Deutungsmuster irritiert wird.86 Wichtig für die erfolgreiche Irritation der bestehenden Deutungsmuster als Ausgangspunkt individueller Lernprozesse ist die Anschlussfähigkeit der neuartigen, irritierenden Wahrnehmungen. Sie müssen zum einen Neuigkeitswert besitzen, dürfen also nicht völlig bekannt sein, um überhaupt zu irritieren und Aufmerksamkeit zu erhalten. Andererseits müssen sie aber auch eine gewisse Bekanntheit haben, um zumindest kleine Anknüpfungsmöglichkeiten zur bestehenden Wirklichkeitsordnung zu haben und somit durch bekannte Deutungsmuster überhaupt wahrnehmbar und interpretierbar zu sein (siehe Abb. 4, S. 26).87 Was tatsächlich als Irritation wahrgenommen wird, ist allerdings personen- und situationsabhängig. Das menschliche Bewusstsein ist operational geschlossen und kann von Umweltereignissen nur angeregt, nicht aber deterministisch beeinflusst werden. Auch die Störung der Wirklichkeitskonstruktion ist nur eine Konstruktion, die auch (bewusst oder unbewusst) übergangen werden kann.88 TP
TP
TP
PT
PT
PT
Nach Reich (2004) lassen sich drei verschiedene Typen „konstruktivistischen“ Lernens unterscheiden: (1) die Konstruktion neuer Wirklichkeiten, (2) die individuelle Rekonstruktion bestehender kollektiver Wirklichkeiten (Re-Interpretation kultureller und gesellschaftlicher Traditionen, milieuspezifischer Deutungsmuster etc.) als Anhaltspunkt für die individuelle Konstruktion, (3) die Dekonstruktion, also das Infragestellen verfestigter Überzeugungen, Dogmen und Gewissheiten.89 Dies benennt zwei weitere Merkmale des Lernens aus konstruktivistischer Perspektive: - Lernen ist trotz seiner Strukturdeterminiertheit aufgrund der operativen Geschlossenheit des individuellen Bewusstseins kein völlig isolierter Prozess, sondern erfolgt in einem sozialen Kontext und unter Bezugnahme auf soziale und gesellschaftliche Wirklichkeitskonstruktionen.90 - Das Konstruieren neuer Deutungsmuster erfordert zuerst einmal die Dekonstruktion bestehender Muster, also das „Verlernen“ eingelaufener Pfade. Dies heißt allerdings nicht, dass die bestehenden Deutungsmuster sofort ersetzt und vergessen werden, i.d.R. bleiben sie auch bei Bewährung der neuen Deutungsmuster eine gewisse Zeit vorhanden. Der unbewusste, zur Routine gewordene, „automatische“ Zugriff auf die bestehenden Deutungsmuster muss aber verlernt werden.91 TP
TP
TP
86 TP
PT
87 TP
PT
88 TP
PT
89 TP
PT
90 TP
PT
TP
91 PT
PT
PT
PT
Vgl. v. Glasersfeld 1987:147f; Arnold/Siebert 1995:115ff; Diesbergen 1998:77; Siebert 1999:38f, 120 Vgl. Siebert 1999:87ff; Rüegg-Stürm 2001:82ff Vgl. Diesbergen 1998:83; Siebert 1999:23 Vgl. Reich 2004:141ff Vgl. auch Weick 1995:18ff, 38ff; Arnold/Siebert 1995:92f; Siebert 1998:32ff Vgl. Siebert 1999:123
27
Dieses konstruktivistische Verständnis von Lernen hat weitreichende Auswirkungen auf das Lehrverständnis und damit die Möglichkeiten, Wissen und Wirklichkeit eines Menschen durch andere Personen, z.B. Führungskräfte in Unternehmen oder Trainer, zu beeinflussen. Da Lernen der strukturdeterminierte, rekursive Prozess des Aufbaus bzw. der Modifikation von Deutungsmustern im operativ geschlossenen, selbstreferentiellen Bewusstsein des Menschen ist, kann es auch keine Übertragung von Wissen nach klassischen Lehrvorstellungen geben. Jedes neue Wissen muss von jedem Individuum selbst konstruiert werden, eine deterministische Übertragung von Wissensstrukturen ist nicht möglich. Im Sinne einer Wissensvermittlung besteht somit nur die Möglichkeit, durch Kommunikationsbeiträge zur Irritation und Dekonstruktion bestehender Deutungsmuster beizutragen und zur Modifikation bzw. Neukonstruktion anzuregen:92 TP
PT
„Erwachsene – so scheint es – sind lernfähig, aber unbelehrbar.“93 P
P
2.1.4 Emotionen als Teil der individuellen Wirklichkeitsordnung und als soziale Rollen Die Thematisierung von Konflikten als Fragestellung der Arbeit erfordert eine konstruktivistische Konzeption von Emotionen. Der individuumsbezogene radikale Konstruktivismus hat sich dieses Themenfeldes jedoch lange Zeit gar nicht angenommen. Lediglich Ciompi (1988, 1992, 1997) beschäftigt sich mit der Verknüpfung von Kognition und Affekt und entwickelt unter Bezugnahme auf die genetische Epistemologie von Jean Piaget, die Systemtheorie und die Psychoanalyse das Konzept der Affektlogik.94 Eine sozialkonstruktivistische Konzeption von Emotionen hat Averill (1980, 1985, 1986) entwickelt. Beide Konzeptionen werden im Folgenden kurz umrissen und anschließend in einer für den Bezugsrahmen dieser Arbeit viablen Synthese zusammengeführt. TP
PT
2.1.4.1 Die individuumsbezogene Affektlogik von Ciompi Ciompi versteht unter Affekten „… globale psychophysische Zustände oder Befindlichkeiten von unterschiedlicher Dauer, Qualität und Bewusstseinsnähe. Ein Affekt ist, so definiert, ein ausgesprochener Oberbegriff, der sowohl rasch wechselnde bewusste Gefühle oder Emotionen […] wie auch lang dauernde bewusste oder unbewusste Stimmungen oder Gestimmtheiten mitsamt ihren mimischen, psychomotorischen, hormonalen und neurophysiologischen Kompo92 TP
PT
93 TP
PT
TP
94 PT
28
Vgl. v. Glasersfeld 1987:133; Siebert 1999:35ff Arnold/Siebert 1995:92. Vgl. Ciompi 1988:168; Endert 1997:17ff
nenten umfasst. Von besonderer Wichtigkeit ist bei der gewählten Definition die Implikation, dass man gar nie affektfrei sein kann, denn irgendwie gestimmt ist man schließlich immer: Auch Gleichgültigkeit oder Indifferenz ist, so gesehen, noch eine typische Affektstimmung mit ausgeprägten Wirkungen auf Denken wie Verhalten.“95 TP
PT
Affekte und Denken sind untrennbar miteinander verbunden. Ciompi bezeichnet die individuelle Wirklichkeitsordnung daher als affektiv-kognitives Bezugssystem, das sich aufbauend auf angeborenen Reflexen vom ersten Lebenstag an in der Auseinandersetzung mit der Alltagswelt ausdifferenziert. Jeder in der Beobachtung als bedeutsam wahrgenommene Unterschied wird in der Interpretation auch affektiv bewertet und mit dieser spezifischen affektiven Bewertung in die Wirklichkeitsordnung integriert. Die Affekte sind als biologisch und psychosozial sinnvolle Organisatoren und Komplexitätsreduktoren an der Auswahl und Verknüpfung von kognitiven Elementen maßgeblich beteiligt und übernehmen eine wichtige organischintegratorische Leistung, die Ciompi als Operatorwirkung des Affektes auf das Denken bezeichnet: sie mobilisieren und energetisieren die kognitiv-intellektuelle Dynamik, lenken Aufmerksamkeit und Wahrnehmung, bewirken eine affektabhängigselektive Nutzung von Wissen und verbinden emotional gleich oder ähnlich gefärbte Kognitionen zu affektiv einheitlich gefärbten Bereichen. Gefühle sind bei Ciompi damit gegenüber dem Denken primär; sie bilden einen ‚tragenden Untergrund’, eine Invarianz oder Grundstimmung, auf der dann durch das Denken erst eine Feinmodulation erfolgt. Allerdings tritt dieser Einfluss nur bei stärkeren Emotionen offen zutage. Im Alltagsdenken besteht eine mittlere affektive Befindlichkeit, in der die Denkabläufe eher automatisch erfolgen. Die ursprünglichen Affekte wirken aber bei der Anwendung affektiv-kognitiver Deutungsmuster auch dann noch weiter, wenn die anfänglich bewusste Beobachtung von Neuem und ggf. Aufregendem, die mit höherer affektiver Befindlichkeit einhergeht, mit zunehmender Wiederholung zur unbewussten Interpretation von Gewohntem wird. Zu dieser unbewusst wirkenden, affektgesteuerten Alltagslogik gehören auch zeit-, kultur- und persönlichkeitsspezifische ‚Selbstverständlichkeiten’ wie z.B. Mentalitäten, Vorurteile oder Denkmoden.96 TP
PT
2.1.4.2 Sozialkonstruktivistische Konzeption nach Averill In der sozialkonstruktivistischen Konzeption von Emotionen von Averill werden Emotionen weniger als biologische, evolutionär entwickelte Anpassungsmechanismen oder individuumsbezogene insight-Ausdrücke verstanden, sondern vielmehr als soziale Rollen, die von den Individuen in Interaktionskontexten und vor 95 TP
PT
TP
96 PT
Ciompi 2003:63; Ciompi verwendet die Begriffe „Emotion“, „Affekt“, „Gefühl“ und „Stimmung“ synonym (vgl. Ciompi 1988:189; siehe auch Endert 1997:73) Vgl. Ciompi 1988:167ff; 1992:68ff; 1997:46ff; 2003:62ff
29
einem kulturell konstruierten und sozial organisierten Hintergrund eingenommen werden. Sie sind Optionen menschlichen Verhaltens gegenüber sozialen und kulturellen Anforderungen, die in der menschlichen Kulturgeschichte entstanden sind und einen sozialen Hintergrund haben, auch wenn sie individuell erlebt werden.97 Averill definiert Emotionen zugleich als sozial konstituierte Syndrome und vorübergehende soziale Rollen: TP
PT
"An emotion is a transitory social role (a socially constituted syndrome) that includes an individual´s appraisal of the situation and that is interpreted as a passion rather than as an action."98 TP
PT
Der Syndrombegriff soll verdeutlichen, dass eine Emotion verschiedene physiologische, mimische, gestische, verhaltens- und erlebnisbezogene Komponenten umfasst, die in einem systemischen Zusammenhang stehen, von denen aber keine allein notwendig oder hinreichend für die Emotion selbst als kohärentes Ganzes ist.99 Die Konstruktion von Emotionen als vorübergehend eingenommene, soziale Rollen verdeutlicht, dass diese Syndrome gesellschaftlich etablierte Interpretations- und Verhaltensmuster bezüglich bestimmter sozialer Situationen sind, die den Menschen befähigen, adäquat zu den sozialen Erwartungen und Anforderungen der Situation zu agieren, und ihm zugleich die Möglichkeit bieten, Handlungen durchzuführen oder zumindest kommunikativ anzuzeigen, für die er nicht die volle Verantwortung übernehmen muss. Soziale Normen und geteilte Erwartungen bestimmen, wie eine Emotion als Syndrom zusammengesetzt und welches Verhalten situativ passend ist. Um die Rolle adäquat einnehmen zu können, muss sich das Individuum daher selbstreflexiv betrachten können. Das role-taking erfolgt dabei auf zwei Ebenen: zum einen in einer konkreten Interaktion unter Berücksichtigung des situativen Kontextes und der anwesenden Personen, zum anderen gegenüber einem „generalized other“, also den Erwartungen einer kulturellen Gruppe. I.d.R. erfolgt dieser Prozess der Rolleneinnahme unbewusst und intuitiv.100 Daher erlebt der Mensch Emotionen meist als etwas, das ihm passiert, und nicht etwas, das er selbst tut. Die Beschreibung und Selbstwahrnehmung von Emotionen als passiv ist jedoch ebenfalls eine individuelle und soziale Konstruktion. Die Einnahme der sozialen Rolle ist eine aktive Handlung, die aber als passive interpretiert wird: TP
TP
PT
PT
"...the classification of a response as either an action or a passion involves an interpretation: Actions are responses that are interpreted as self-initiated; 97 TP
PT
98 TP
PT
TP
99 PT
TP
100 PT
30
Vgl. Eiselen/Sichler 2001:49 Averill 1980:312 (i.O. kursiv) Vgl. Averill 1980:307f; 1985:94; 1986:100; Eiselen/Sichler 2001:51. “Syndrom” versteht Averill nicht im medizinischen oder biologischen Sinne, sondern als “…a set of responses that covary in a systematic fashion.“ (1980:307) Vgl. Averill 1980:308f, 314f; Eiselen/Sichler 2001:51
passions are responses that are interpreted as beyond self-control. [...] In short, the experience of passivity (of being "overcome" by emotion) is not intrinsic to the response, as most biologically orientated theories imply. Rather, it is an interpretation of behavior."101 TP
PT
Diese aktive Handlung der Rollenübernahme ist prinzipiell reflexiv, auch wenn eine bewusste Reflexion oft nicht erfolgt. Averill unterscheidet bei der Verhaltenskontrolle zwischen „first-order-monitoring“ bzw. „prereflective experiences“ einerseits und „second-order-monitoring“ bzw. „reflective experiences“ andererseits. Emotionen gehören zu letzterer Kategorie. Ihre Wahrnehmung und Interpretation bei sich selbst und anderen sowie die Einnahme der Rolle erfolgt aufgrund erlernter Bedeutungen und zugehöriger Verhaltensweisen.102 Emotionen sind aus sozialkonstruktivistischer Sicht immer objektbezogene Situationsinterpretationen. Sie sind zum einen nicht unabhängig vom Beobachter, also dem interpretierenden und die Rolle einnehmenden Individuum, denkbar, zum anderen immer auf ein bestimmtes Objekt, d.h. eine Situation bzw. eine andere Person, bezogen.103 Die biologischen Grundlagen von Emotionen werden in dieser Konzeption aber nicht als falsch aufgefasst und zurückgewiesen. Emotionen als Syndrome enthalten auch biologische Elemente, die je nach Emotion und Situation unterschiedlich stark ausgeprägt sind. In der sozial-kulturellen Welt der Menschen sind sie aber für die Erklärung von emotionalem Verhalten nicht ausreichend. Erst durch eine soziale Betrachtung sind Emotionen versteh- und erklärbar. Während diese primär sozialkulturelle Konzeption von Emotionen ihre Grenzen somit bei menschlichen Ausnahmesituationen, z.B. bei Angst in Lebensgefahr, findet, ist sie im sozialen und insbesondere organisationalen Alltag hilfreich für die Erklärung des Zustandekommens von emotionalen Verhaltensweisen und für die Anregung zur Reflexion der eigenen Emotionen.104 Bei der Einnahme der verschiedenen Rollen ist das Involvement der Individuen unterschiedlich. Nach Averill ist es kein dichotomes „Alles-oder-Nichts“-Merkmal, sondern ein Kontinuum, für welches er zum besseren Verständnis und zur Illustration drei Level als Referenzpunkte beschreibt. Beim niedrigen Involvement ist die Einnahme der Rolle und rollenkonformes Verhalten eher formal und beruht meist auf einer interpretierten Notwendigkeit oder Angemessenheit im sozialen Kontext. Als Beispiel werden Lehrer oder Eltern angeführt, die Kinder tadeln „müssen“, obwohl deren Verhalten eher amüsant ist. Beim mittleren Involvement steigen physiologische Reaktionen und der Verhaltensausdruck. Beim hohen Involvement ist das Individuum so stark in der Rolle „versunken“, dass es scheinbar keine Kontrolle über sein TP
PT
TP
TP
101 TP
PT
102 TP
PT
103 TP
PT
TP
104 PT
PT
PT
Averill 1980:312 Vgl. Averill 1980:315f. Zur Unterscheidung merkt Averill zudem an: „Completely prereflective experience is a myth, at least on the human level. All experience is filtered, organized, and given meaning by the categories of reflective thought.” (ebd.) Vgl. Averill 1980:309ff; Eiselen/Sichler 2001:51 Vgl. Averill 1980:309, 328f; Eiselen/Sichler 2001:49ff
31
Verhalten mehr hat. Beispielhaft sind Beschreibungen wie „Ich wusste nicht, was ich tat“ oder „Ich war nicht mehr ich selbst“. Dennoch ist diese scheinbare Passivität nur eine Interpretation; Emotionen sind bewusst und aktiv eingenommene Rollen.105 Wann welche Rolle wie und mit welchem Involvement eingenommen wird, ist von verschiedenen Rahmenbedingungen abhängig, von denen Averill vier als wesentlich herausarbeitet: die Motivation, frühere Erfahrungen, Kapazitäten und Fähigkeiten sowie das physische und soziale Setting. Aus konstruktivistischer Perspektive sind Emotionen immer motiviert, da das zu einer „Emotionen-Rolle“ gehörende Verhalten übergeordneten individuellen Zielen dient, auch wenn dies nicht immer bewusst sein muss. Die früheren Erfahrungen sind deshalb relevant, weil Emotionen wie jede Form komplexen Sozialverhaltens erlernt werden müssen, vor allem die Bedeutung der Rolle im sozialen Kontext, die damit erreichbaren Ziele sowie das passende Verhalten. Insbesondere frühe Lernerfahrungen prägen dabei den Umgang mit der Rolle, später erfolgt die Rolleneinnahme scheinbar automatisch. Die notwendigen Kapazitäten und Fähigkeiten, eine Rolle einzunehmen, sind nach Averill Ergebnis genetischer Begabung und früher Erfahrungen und erklären inter-personelle Unterschiede im Verhalten. Das physische und soziale Setting als Rahmenbedingung – also Ort, Anlass, Beteiligte etc. – verdeutlicht am stärksten die soziale Konstruiertheit und Interpretationsleistung der Rolleneinnahme. Dies illustriert Averill mit dem Beispiel, dass den meisten Menschen ein Wutausbruch in einer Kneipe leichter fällt als in einer Kirche. Einige Emotionen beziehen sich zudem auf andere Personen, z.B. Liebe, Ärger oder Hass. Aber auch bei „Solo-Rollen“ ist die Wirkung auf das Publikum entscheidend.106 Die Emotionen als soziale Rollen lernt der Mensch bereits als Kind parallel zu seiner kognitiven Entwicklung. Die biologische Grundausstattung bietet dafür die Basis. Das Kind kann bereits eine Reihe von Reaktionen bei Zufriedenheit oder Unzufriedenheit, Angst etc. zeigen. Der tatsächliche Umfang und die adäquate Anwendbarkeit der Syndrome werden aber erst später in Interaktionskontexten gelernt. In diesen lernt das Kind, welche Verhaltensweisen zusammenpassen, in welchen Situationen sie passend angewandt werden können, was sich damit ausdrücken und erreichen lässt und wie die Emotion genannt wird. Dabei vermitteln sprachliche soziale „Spielregeln“ in Form von individuell verinnerlichten sozialen Normen und Werten die Konstitution des Gefühlslebens.107 Emotionen können somit als soziale Improvisationen des einzelnen Individuums beschrieben werden. Sie haben sozial gesetzte Rahmen und Grenzen, bieten jedem Einzelnen aber auch genügend Spielraum. Für das Verständnis von und den reflexiven Umgang mit Emotionalität ist zum einen die Analyse des sozialen TP
TP
TP
105 TP
PT
106 TP
PT
TP
107 PT
32
PT
PT
PT
Vgl. Averill 1980:316f Vgl. Averill 1980:319ff Averill 1980:306, 321; 1986:101ff; Eiselen/Sichler 2001:49ff. Eiselen/Sichler (2001:54f) skizzieren drei aufeinander folgende Entwicklungsphasen reflexiver menschlicher Emotionalität: die affektivimpulsive, die repressive und die reflexive Einstellung.
Kontextes von entscheidender Bedeutung, zum anderen aber auch das Bewusstsein für die soziale Konstruiertheit, Motivation und aktive Ausgestaltung der Rollen. Das sozialkonstruktivistische Konzept von Emotionen als aktiv eingenommenen Rollen impliziert, dass jeder Mensch prinzipiell zu einem reflexiven Umgang mit seinen Emotionen fähig ist. In emotional schwierigen Interaktionen ist es daher oft sinnvoll, die einzelnen „Rollenanweisungen“ oder das ganze „Stück“ zu reflektieren und zu hinterfragen.108 TP
PT
2.1.4.3 Synthese beider Ansätze Beide Konzeptionen, die Affektlogik von Ciompi mit dem individuumsbezogenen affektiv-kognitiven Bezugsrahmen und die sozial-konstruktivistische Konzeption von Emotionen als sozialen Rollen und sozial konstruierten Syndromen von Averill, erscheinen auf den ersten Blick inkompatibel, ergänzen sich aber ähnlich wie radikaler und sozialer Konstruktivismus – welche die epistemologischen Grundlagen dieser Emotionstheorien bilden – in der Synthese von Frindte und lassen sich viabel kombinieren. Beide Ansätze verstehen Emotionen als ganzheitliche Phänomene mit physiologischen, mimischen, gestischen, Erlebens- und Befindenskomponenten, deren entstehungsgeschichtliche Grundlage in ihrer ursprünglichen biologischen Bedeutung liegt, die aber ab der frühkindlichen Entwicklung in Lernprozessen ausdifferenziert und mit dem kognitiven System verbunden werden. Beide Konzeptionen postulieren zudem, dass Emotionen häufig unbewusst wirken. Der Unterschied zwischen den beiden Ansätzen liegt zum einen im Betrachtungsfokus. Während sich Ciompi primär auf die Verbindung von Kognition und Affekt, die individuelle Grundstimmung und das Innenleben des einzelnen Menschen fokussiert, liegt der Betrachtungsschwerpunkt bei Averill in den – meist sozial geäußerten – Verhaltensweisen, die wir im Alltag mit den Begriffen „Emotionen“ oder „Gefühle“ verbinden. Und während Ciompi auf die permanent wirksame, maßgebliche Einflussnahme der Emotionen auf die Kognitionen – also Wahrnehmung und Interpretation – hinweist, welche meist unbewusst und unreflektiert erfolgt, betont Averill die prinzipielle Reflektierbarkeit von Emotionen sowie die Wahlfreiheit, Nichtdeterminiertheit und soziale Konstruiertheit der Verhaltensweisen. Beide Konzepte beinhalten aber Schnittstellen zur jeweils anderen Perspektive, die die Möglichkeit der viablen Verknüpfung aufzeigen. Averill erkennt an, dass es unabhängig vom sozial erlernten und in sozialen Situationen wiedergegebenen, reflektier- und kontrollierbaren Rollenverhalten auch ganz grundlegende biologische Wurzeln und Funktionen der Emotionen gibt, z.B. Angst, Trauer oder Liebe, deren Verhaltensauswirkungen aber gesellschaftlich und sozial geprägt sind. Ein auf Emotionen aufbauender Verhaltensreflex, z.B. in Todesangst, ist in unseren
TP
108 PT
Vgl. Eiselen/Sichler 2001:49ff; Averill 1980:311; 1986:100
33
entwickelten Zivilgesellschaften, mehr im Organisationsalltag, die Ausnahme. Ciompi wiederum zählt zur affektiven Alltagslogik auch i.d.R. unbewusst wirkende zeit- und kulturspezifische, also soziale und gesellschaftliche Einflüsse wie Vorurteile oder Denkmoden. Beide Konzepte sind somit komplementär und lassen sich an zwei Stellen verbinden. Zum einen können sie in der Kette Wahrnehmung – Interpretation – Verhaltensauswahl der individuellen Wirklichkeitskonstruktion verknüpft werden. Während Emotionen in der Wahrnehmung und Interpretation eine Operatorwirkung auf die Kognitionen im Sinne der Affektlogik haben, indem sie eine Grundstimmung erzeugen, ähnliche Kognitionen verknüpfen und aktivieren, die Wahrnehmung einfärben und die Aufmerksamkeit steuern, ist das daraus resultierende Verhalten von Menschen (in den normalen Alltagssituationen) eine sozial erlernte und kontextbezogen angewandte Rolle im Sinne Averills und damit grundsätzlich kontingent, reflektierbar und individuell frei bestimmbar. Zum anderen können beide Konzepte auch im Aufbau und der Modifikation der individuellen Wirklichkeitsordnung, also dem affektiv-kognitiven Bezugssystems bei Ciompi, viabel verbunden werden. Gemäß der Affektlogik verknüpft der Mensch beim Lernen die bei der Wahrnehmung situativ gefühlten Emotionen mit den kognitiven Teilen der Beobachtung und speichert diese affektiv-kognitiven Konstruktionen in der Wirklichkeitsordnung. Die in den Beobachtungen wahrgenommenen Ereignisse sind aber oftmals soziale Geschehnisse, also die Beobachtung des Verhaltens anderer Menschen. Somit lernt der Mensch bereits vom Kindesalter an die Kombination von selbst erlebten affektiven Stimmungen mit gesellschaftlich typischen und akzeptierten Verhaltensweisen. Zusammenfassend kann zur viablen Verbindung beider Konzepte somit gesagt werden: Die Beobachtung von Kontextereignissen im Rahmen der permanenten Wirklichkeitskonstruktion ist mit emotionalen Einfärbungen verbunden und wird durch diese beeinflusst, das daraus resultierende Verhalten ist aber (mit wenigen Ausnahmen) grundsätzlich kontingent, reflektier- und kontrollierbar, orientiert sich aber – oft unbewusst – an sozial erlerntem Rollenverhalten.
2.1.5 Zwischenfazit Individuum Über die individuelle Konstruktion, Verfestigung und Modifikation von Wirklichkeit kann zusammenfassend gesagt werden (vgl. Abb. 6): -
34
In der Konstruktivität der individuellen Wirklichkeit kann unterschieden werden zwischen dem permanenten Prozess der Wirklichkeitskonstruktion und der aktuellen, temporären Struktur der Wirklichkeitsordnung (bestehend aus einer Vielzahl vernetzter Deutungsmuster). Beide beeinflussen sich wechselseitig.
-
-
-
-
-
Die den Menschen umgebende Welt ist ein permanenter, zunächst sinnfreier Ereignisstrom, zu dem er aufgrund der operativen Geschlossenheit des menschlichen Bewusstseins keinen direkten Zugang hat. Der permanente Prozess der Konstruktion von Wirklichkeit erfolgt durch beobachtende und handelnde Teilhabe an diesem Ereignisstrom. x Bei der Beobachtung werden unter Bezugnahme auf bestehende Deutungsmuster (als Teile der individuellen Wirklichkeitsordnung) einzelne Ereignisse wahrgenommen („eingeklammert“) und situativ interpretiert, also kontextabhängig mit individuellem Sinn belegt. Um überhaupt wahrgenommen werden zu können, müssen die Teile des Ereignisstroms für das Individuum einerseits eine gewisse Bekanntheit, also Anschlussfähigkeit an bestehende Deutungsmuster aufweisen, andererseits aber auch nicht völlig vertraut, sondern interpretationswürdig sein. Die Interpretation eines eingeklammerten Ereignisses ist umso eindeutiger, je weniger Deutungsmuster zur Wahrnehmung passen und je bewährter diese Deutungsmuster sind. x Durch sein Verhalten (Kommunikation oder körperliches Handeln) leistet der Mensch selbst einen Beitrag zu diesem Ereignisstrom, wobei es unter wechselseitig wahrgenommener Anwesenheit anderer Personen unmöglich ist, sich nicht zu verhalten. x Das entscheidende Bewertungskriterium für die individuellen Konstruktionen ist ihre Viabilität bei der Interpretation der Situation und der Auswahl des eigenen Anschlussverhaltens. Wahrnehmbar wird die Viabilität darin, ob sich das Alltagsgeschehen entsprechend der Erwartungen weiterentwickelt bzw. das eigene Anschlussverhalten die individuellen Ziele erreicht. Durch ihre Anwendung in den Beobachtungsprozessen werden die individuellen Deutungsmuster weiter ausdifferenziert und rekursiv verfestigt. Die Wahrnehmung des Alltagsstromes wird, soweit dies möglich ist, an die bestehenden Deutungsmuster angepasst (Assimilationslernen). Dies führt zu einer hohen Stabilität der Wirklichkeitsordnung und zur tendenziellen Lernresistenz von Menschen. Durch die permanente rekursive Bestätigung der Deutungsmuster der individuellen Wirklichkeitsordnung werden diese und die darauf basierenden Wahrnehmungen und Interpretationen von den Menschen i.d.R. als die einzig möglichen und „richtigen“ gesehen. Die Kontingenz der Wirklichkeitskonstruktion und -ordnung ist im Alltag nicht bewusst. Lernen als tatsächliche Veränderung von bestehenden Deutungsmustern bzw. als Aufbau neuer Deutungsmuster kann ausgelöst werden, wenn es in der Anwendung der bestehenden Deutungsmuster zu Irritationen und Störungen kommt. Dies ist möglich, wenn Interpretation oder Anschlussverhalten nicht zu den erwarteten Ergebnissen führen, Widersprüche auftreten oder die Kontingenz der Wirklichkeitskonstruktion, z.B. durch andere Personen, bewusst wird. Dieses Akkomodationslernen ist eher der Ausnahmefall im Prozess der Wirklichkeits35
-
konstruktion, da die Assimilation zuerst zur weitestgehenden Anpassung der Wahrnehmung an die Deutungsmuster führt. Emotionen sind genauso wie Kognitionen Bestandteil der Wirklichkeitsordnung und haben darin eine strukturierende und komplexitätsreduzierende Wirkung. Beim Erlernen von neuen Deutungsmustern werden diese auch affektiv bewertet. Diese affektive Bewertung ist bei der späteren Anwendung der Deutungsmuster i.d.R. unbewusst wirksam. Das herkömmlicherweise als emotional bezeichnete Verhalten ist aber die individuelle Einnahme sozial erlernter Rollen; es ist grundsätzlich kontingent, reflektierbar und frei bestimmbar. verfestigt stabil
aktuell temporär
INDIVIDUUM
ALLTAGSSTROM Bestätigung und Verfestigung bei Viabilität Irritation und ggf. Akkomodation bei Nicht-Viabilität Alltagsereignisse
Wirklichkeitsordnung
„Unterschiede, die einen Unterschied machen“
Individuelle Sinnund Deutungsmuster
= permanente Wirklichkeitskonstruktion Viabilität: Entsprechen Alltagsgeschehen, Verhalten und Verhaltensauswirkungen den Zielen/Erwartungen?
Bezugsrahmen der Beobachtung
bestimmt
Selbstreflexion
Erwartungen Handlungsorientierung Motive/Ziele/ Handlungsgründe
Einklammerung, Auflegung von Deutungsmustern, Assimilation; Interpretation
Beobachtung
Verhaltenssteuerung
Individuelle Reinterpretationen kollektiver Wirklichkeiten und lokaler Theorien
Verhalten
Verhaltensauswirkung Materielle Wirkung; Verhalten anderer Personen
führt zu
Handlung; Kommunikation (potenzielles) Ereignis
Die Beobachtung (inkl. Selbstreflexion) besteht aus: Einklammerung, Auflegung von Deutungsmustern, Assimilation (Das Ereignis wird nur für den Beobachter verändert) Interpretation (Beobachtungsergebnis)
Abb. 6: Individuelle Wirklichkeitskonstruktion im Sinnraum
36
2.2
Der Interaktionsraum: Wirklichkeitskonstruktion in Interaktions- und Kommunikationsprozessen
Obwohl die individuelle Wirklichkeitskonstruktion nur im autonomen, operativ geschlossenen, selbstreferentiellen Bewusstsein erfolgt, spielen Kommunikation und Interaktion eine wesentliche Rolle. Der Mensch befindet sich zu einem Großteil seines Lebens in Interaktionsräumen, also in Situationen mit anderen Personen, so auch als Organisationsmitglied. Diese Interaktionen haben einen wesentlichen Einfluss auf die individuellen Wirklichkeitskonstruktionen.109 Der soziale Konstruktivismus postuliert sogar, dass Wirklichkeiten nur über Kommunikations- und Interaktionsprozesse mit anderen Menschen konstruiert werden, da Menschen von Anbeginn ihres Lebens in soziale Kontexte eingebettet sind und sich ihre Umwelt über interindividuelle Lernprozesse und Sozialisation erschließen.110 Aufgrund der operativen Geschlossenheit des autopoietischen kognitiven Systems werden in der konstruktivistischen Perspektive klassische Vorstellungen und Theorien von Kommunikation als idealtypisch störungsfreie Informationsübertragung in Sender-Empfänger-Modellen abgelehnt.111 Aus der Perspektive des individuellen, operativ geschlossenen Bewusstseins, wie sie der radikale Konstruktivismus vertritt, hat das kognitive System keinen direkten Zugang zur Umwelt. Daher sind auch andere Menschen als potentielle Interaktionspartner nur individuelle, beobachterabhängige Konstruktionen, denen bestimmte Eigenschaften, Zielsetzungen, Handlungsabsichten etc. unterstellt werden. Gleichzeitig wird implizit angenommen, dass auch der Interaktionspartner diese Eigenschaften etc. erwartet. Nur durch diese wechselseitige individuelle Konstruktion von Analogien zwischen Menschen ist soziale Interaktion möglich.112 Die Kommunikationsbeiträge anderer Personen sind für jedes Individuum zunächst nur einfache Bestandteile des Alltagsstromes, die wahrgenommen und als eingeklammerte Ereignisse durch Vergleich mit Erfahrungen interpretiert werden müssen.113 Diese Interpretation erfolgt immer subjektiv aufgrund der individuellen Wirklichkeitsordnung, eine direkte zwischenmenschliche Übertragung von Bedeutungen ist nicht möglich. Die Interaktion zwischen zwei Personen ist daher nur als wechselseitige Perturbation, Irritation oder Anregung vorstellbar, nicht aber als Information, Instruktion oder gar Determination.114 Mit Frindte soll Kommunikation TP
PT
TP
TP
TP
TP
PT
PT
PT
TP
109 TP
PT
110 TP
PT
111 TP
PT
112 TP
PT
113 TP
PT
TP
114 PT
PT
PT
Vgl. Hejl 1995:117ff; Weick 1995:18ff; Frindte 1998:72f; Fried 2005:36 Vgl. Baecker et al. 1992:118; Frindte 1998:41ff; Kaduk 2002:38ff; Fried 2005:42ff, 52ff Vgl. Bardmann 1994:86ff; Hejl 2000:54f Vgl. v. Glasersfeld 1995:33ff, Bardmann 1994:99. Hejl (1995:124) spricht von Parallelisierung oder sozialen Bereichen. Der Mensch ist in der Lage, den Kommunikationsbeitrag anderer Menschen auch als solchen zu erkennen, d.h. die darin vorhandene inhaltliche Aussage wird nicht als „wirklich“ im Sinne einer eigenen Beobachtung wahrgenommen, sondern als Kommunikationsbeitrag einer bestimmten Person. So wird z.B. die Aussage „Morgen wird es regnen“ nicht mit der tatsächlichen Beobachtung von Regen gleichgesetzt (vgl. v. Glasersfeld 1987:284f). Vgl. Bardmann 1994:94f; v. Glasersfeld 1987:218f, 282f; 2001:9
37
daher als sinnvolle Anregung zur Wirklichkeitskonstruktion zwischen mindestens zwei Personen definiert werden (vgl. Abb. 7). Interaktion wird als Spezialfall der direkten Face-to-face-Kommunikation verstanden.115 In Interaktionssituationen, also der wechselseitig wahrnehmbaren und wahrgenommenen Anwesenheit des/der anderen, ist es unmöglich, nicht zu kommunizieren; auch Schweigen wird als Kommunikationsbeitrag gewertet, wenn ein Beitrag erwartet wird.116 TP
PT
TP
INDIVIDUUM B
INDIVIDUUM A
Beobachtung
Individuelle Sinn- und Deutungsmuster
= permanente Wirklichkeitskonstruktion
bestimmt
Selbstreflktxion
Bezugsrahmen der Beobachtung
Verhaltenssteuerung
Erwartungen Handlungsorientierung Motive/Ziele/ Handlungsgründe
(Einklammerung, Auflegung von Deutungsmustern, Assimilation, Interpretation)
„Unterschiede, die einen Unterschied machen“
Beobachtung
Wirklichkeitsordnung
= permanente Wirklichkeitskonstruktion
Individuelle Sinn-und Deutungsmuster
(Einklammerung, Auflegung von Deutungsmustern, Assimilation, Interpretation)
Selbstreflktxion
Wirklichkeitsordnung
Alltagsereignisse
Bestätigung und Verfestigung bei Viabilität Irritation und ggf. Akkomodation bei Nicht-Viabilität
Verhaltenssteuerung
Bestätigung und Verfestigung bei Viabilität Irritation und ggf. Akkomodation bei Nicht-Viabilität
Individuelle Reinterpretationen kollektiver Wirklichkeiten und lokaler Theorien
Individuelle Reinterpretationen kollektiver Wirklichkeiten und lokaler Theorien Erwartungen Handlungsorientierung Motive/Ziele/ Handlungsgründe
Bezugsrahmen der Beobachtung
Verhalten
Verhalten
Handlung Kommunikation
Handlung Kommunikation
bestimmt
ALLTAGSSTROM A
ALLTAGSSTROM B (potenzielles) Ereignis
PT
Die Beobachtung (inkl. Selbstreflexion) besteht aus: Einklammerung, Auflegung von Deutungsmustern, Assimilation (Das tatsächliche Ereignis wird nur für den Beobachter verändert) Interpretation (Beobachtungsergebnis)
Abb. 7: Wechselseitige Anregung zur Wirklichkeitskonstruktion im Interaktionsraum
115 TP
PT
TP
116 PT
38
Vgl. Frindte 1998:73f Vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 1990:50ff; Bardmann 1994:96
Verstehen ist in diesem Kommunikationsverständnis weder die störungsfreie Übertragung von Informationen noch die völlige Übereinstimmung der individuellen Gedanken und Konstruktionen, sondern ein psychischer und sozialer Prozess, der die Vielfalt der Anschlusshandlungsmöglichkeiten einschränkt und somit einen absichtsvollen und zielgerichteten Fortgang der Interaktion ermöglicht. Durch Reflexion und Thematisierung der individuellen Interpretationen in zirkulären Kommunikationsprozessen kann eine Angleichung des Verständnisses soweit erreicht werden, dass die daraus resultierenden (sprachlichen oder nichtsprachlichen) Verhaltensbeiträge in der entsprechenden Situation nicht augenscheinlich mit den Erwartungen des anderen kollidieren. Gelungenes Verstehen ist somit abhängig davon, ob der Zuhörer den beobachteten Interaktionsbeitrag des Sprechers in seine individuelle Wirklichkeit einordnen kann und das sich daraus ergebende Anschlussverhalten den Erwartungen des anderen entspricht. Verstehen ergibt sich also aus der wechselseitigen Passfähigkeit der im Interaktionsraum unter Bezugnahme aufeinander konstruierten Wirklichkeiten.117 TP
PT
Obwohl die Kommunikationsbeiträge anderer Personen nur zur individuellen Wirklichkeitskonstruktion anregen, diese aber niemals determinieren können, spielen die Interaktionsräume für die individuelle Wirklichkeitskonstruktion eine entscheidende Rolle:118 - Der Mensch erschließt sich seine Welt im Rahmen seiner Sozialisation von Anbeginn nahezu ausschließlich in Interaktion und Kommunikation mit anderen Menschen; der weit überwiegende Teil der individuellen Wirklichkeitskonstruktion wird in interpersonellen Situationen durch soziale Lernmechanismen (z.B. soziales Lernen am Modell, sozialer Vergleich) erlernt, insbesondere das sprachliche und soziale Wissen. - In Kommunikationsprozessen werden die individuellen Wirklichkeitskonstruktionen exteriorisiert, d.h. im Interaktionsraum anderen Personen dargestellt. x Dadurch werden sie gleichzeitig an die Regeln des Kommunikationsmediums, also der Sprache (Begriffe, Grammatik, Linearität), und an die für den Interaktionsraum typischen Erzählweisen angepasst.119 x Gleichzeitig dient die Exteriorisierung der individuellen Wirklichkeitskonstruktionen der Viabilitätsprüfung. Da ein Großteil des menschlichen Lebens in sozialen Situationen stattfindet und viele individuelle Handlungsziele nur interindividuell zu erreichen sind (z.B. in Gruppen, Organisationen, Partnerschaften oder Familien), ist die Passfähigkeit und Nützlichkeit der TP
PT
TP
117 TP
PT
118 TP
PT
TP
119 PT
PT
Vgl. v. Glasersfeld 1987:218f, 282ff; Frindte 1998:103ff Vgl. Frindte 1998:74ff Weick (1995:38ff) verweist darauf, dass der Mensch sogar bei der individuellen Sinnerzeugung, in Selbstgesprächen und geistigen Monologen auf Sprache und ein fiktives Publikum angewiesen ist: "Sensemaking is never solitary because what a person does internally is contingent on others. Even monologues and one-way communications presume an audience. And the monologue changes if the audience changes." (1995:40); vgl. auch Frindte 1998:71
39
x
x
eigenen Wirklichkeitskonstruktionen oftmals abhängig von der Verständlichkeit, Akzeptanz und Zielerreichung in sozialen Situationen. Zudem führt die Exteriorisierung der individuellen Wirklichkeit meist zu ihrer Variierung in Interaktionsprozessen. Andere Personen greifen die Kommunikationsbeiträge einer Person auf, interpretieren nach ihren individuellen Deutungsmustern und Assoziationen und leisten entsprechend eigene individuelle Kommunikationsbeiträge. So verändern sich die ursprünglich individuellen Konstruktionen durch Exteriorisierung und Kommunikation, werden angereichert und variiert. Durch die Interiorisierung dieser Beiträge verändern sich wiederum die individuellen Wirklichkeitskonstruktionen. Finden diese Prozesse des interindividuellen Austausches zu bestimmten Themenbereichen regelmäßig statt, ergibt sich eine gewisse Stabilität, in der gemeinsam konstruierte und geteilte Wirklichkeitsbereiche entstehen. Durch die Interiorisierung im Kommunikationsprozess werden diese zum Bestandteil der individuellen Wirklichkeitskonstruktion der Beteiligten.
Kommunikationsprozesse führen somit einerseits zum Aufbau, zur Modifikation und zur Viabilitätsprüfung individueller Deutungsmuster, andererseits zur Herausbildung gemeinsam konstruierter, interindividuell geteilter Wirklichkeitsbereiche. Weder individuelle noch soziale Konstruktionen können ohne die jeweils anderen produziert und funktionalisiert werden. Frindte spricht daher von der Sozialisation individueller Konstruktionen bzw. der Individuation sozialer Konstruktionen.120 Die Erzeugung von Wirklichkeit ist somit „…ein fortlaufender, kontingenter Konstruktionsprozeß, der aus einer komplexen Verkopplung individueller Wahrnehmungsvorgänge und sozialer, d.h. kommunikativer Aushandlungsprozesse hervorgeht“.121 TP
TP
2.3
PT
PT
Organisationen im Bedeutungsraum: Stabilisierte Interaktionszusammenhänge werden zu Sozialsystemen mit emergenten Eigenschaften
2.3.1 Organisationen als soziale Systeme kollektiver Wirklichkeiten In der Organisationsforschung gibt es keine homogene konstruktivistische Theorie, sondern eine Vielzahl verschiedener Ansätze, die organisationale Phänomene aus konstruktivistischer Perspektive untersuchen.122 Jede Festlegung auf ein bestimmtes Organisationsverständnis kann dabei immer nur eine willkürliche Bestimmung sein, die nicht an einem objektiven Wahrheitsgehalt, sondern nur an ihrer Viabilität für die TP
120 TP
PT
121 TP
PT
TP
122 PT
40
Vgl. Frindte 1998:77f Rüegg-Stürm 2000:201 Vgl. Kieser 2001:296ff
PT
Organisationsanalyse bei der Beantwortung der Fragestellung gemessen werden kann.123 Der Organisationsbegriff kann in einer instrumentalen und einer institutionalen Auslegung genutzt werden.124 Die Organisation als Institution wird als Oberbegriff für soziale Gebilde wie z.B. Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Institutionen, Universitäten, Nichtregierungsorganisationen, gemeinnützige Vereine usw. verstanden. Aus instrumentaler Sicht hingegen versteht man unter Organisation die Ordnung im sozialen System, also das relativ stabile Interaktionsmuster zwischen den Komponenten. Diese Begriffsauffassung hat eine statisch-strukturelle und eine dynamisch-prozessuale Komponente, die sich gegenseitig bedingen und beeinflussen. Organisation ist in dieser Perspektive alles, was Ordnung im System abbildet, „organisieren“ meint jede dazu führende Tätigkeit.125 Die meisten Autoren, auf die im Folgenden Bezug genommen wird, nutzen den instrumentalen Organisationsbegriff, d.h. die Organisation als Gesamtheit der Ordnungsstrukturen und der Prozesse zur Herausbildung dieser Ordnung. Das institutionelle Organisationsverständnis wird mit Bezeichnungen wie z.B. Unternehmen oder – abstrakter – Sozialsystem umschrieben.126 Bei anderen Autoren wird der Organisationsbegriff mehrdeutig verwendet bzw. nicht deutlich gekennzeichnet.127 Ich werde, soweit dies nicht eindeutig anders bezeichnet wird, den institutionalen Organisationsbegriff verwenden, d.h. eine Organisation als Überbegriff für Zusammenschlüsse von Menschen, z.B. Unternehmen, Behörden, Nichtregierungsorganisationen, Vereinen etc. verstehen, da ich diesen Sprachgebrauch als stärker verbreitet erachte und Missverständnissen vorbeugen will. Das instrumentale Organisationsverständnis bezeichne ich im Folgenden als Interaktionsmuster, Systemstruktur oder Ordnung.128 Unter einer Organisation verstehe ich daher ein Sozialsystem im Sinne eines Zusammenschlusses von Menschen, die in relativ stabilen Interaktionsprozessen gemeinsam soziale Wirklichkeit konstruieren und verfestigen, um durch koordiniertes Handeln (Arbeitsteilung, Delegation, Spezialisierung) bestimmte Zielsetzungen zu erreichen.129 Die Organisation ist somit durch zwei wesentliche Definitionsmerkmale charakterisiert:130 TP
PT
TP
PT
TP
TP
PT
PT
TP
TP
TP
TP
PT
124 TP
PT
125 TP
PT
126 TP
PT
127 TP
PT
128 TP
PT
129 TP
PT
TP
130 PT
PT
PT
TP
123
PT
PT
Vgl. Hejl 1995:109ff; Hejl/Stahl 2000b:100; Probst 2001:173 Vgl. Thommen/Achleitner 1998:674; Schreyögg 2003:4ff Vgl. Probst 1987:9; 2001:173; Hejl/Stahl 2000a:16 Vgl. Hejl/Stahl 2000a:16f; Probst 1987:9; Gomez 2001:301 Vgl. Frindte 1998:84ff; Kieser 2001:297ff; Rüegg-Stürm 2000:198; 2001:7 Vgl. auch Baitsch 1993:17f, Rüegg-Stürm 2000:198. Mit dem institutionalen Organisationsbegriff soll aber keine ausschließliche Festlegung auf juristisch fixierte Institutionen erfolgen. Der dauerhafte und stabile Zusammenschluss von Individuen zur zweckbezogenen Interaktion kann auch in juristisch nicht fixierten Institutionen erfolgen, z.B. regelmäßigen Gesprächsrunden, verfestigten Kunden-Lieferanten-Beziehungen o.ä. Vgl. Probst 1987:69ff; Frindte 1998:84ff; Baitsch 1993:20f; Hejl/Stahl 2000a:16f; 2000b:109, 124. Vgl. Fried 2005:54f; Hejl/Stahl 2000a:16; Probst/Naujoks 1993:13f; Probst 1987:71f; Probst 2001:173; Baitsch 1993:1ff
41
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Sie ist eine Deutegemeinschaft, d.h. sie beruht auf gemeinsamen Konstruktionsprozessen und geteilten Wirklichkeitsordnungen. - Sie ist ein komplexes, selbstorganisierendes Sozialsystem, d.h. sie ist durch Eigenschaften und Verhalten gekennzeichnet, die sich nicht durch die beteiligten Individuen allein erklären lassen. Diese beiden wesentlichen Definitionsmerkmale werden im Folgenden näher erläutert.
2.3.1.1 Organisationen als verfestigte kollektive Deutungsmuster Die Konzeption des Organisationsbegriffs als kollektives Deutungsmuster ergibt sich direkt aus der konstruktivistischen Perspektive der Arbeit: „Konstruktivistische Ansätze in der Organisationstheorie gehen von der Vorstellung aus, daß „Organisation in den Köpfen der Organisationsmitglieder stattfindet“, d.h., daß die in Organisationen gültigen Interaktionsmuster sich auf dem Weg der Verständigung zwischen Interaktionspartnern herausbilden“.131 TP
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„Organisationen konstituieren sich durch Kommunikation und Handeln (Interaktionen). Sie werden ständig durch Kommunikationen intersubjektiv interpretiert, auch neu interpretiert, und damit stabilisiert beziehungsweise verändert. Insofern sind Organisationsstrukturen sozial und nicht technisch konstruiert.“132 TP
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Frindte (1998) beschreibt Organisationen als „Deutegemeinschaften“, d.h. als soziale Gruppierungen, in denen Menschen aufgrund gemeinsam konstruierter, geteilter und weitergegebener, interindividuell übereinstimmender Wirklichkeitsordnungen (einschließlich Deutungsmuster über ihre eigene Gemeinschaft) die Welt in interindividuell ähnlicher Weise interpretieren und miteinander kommunizieren. Die relativ stabilen (da konventionalisierten, tradierten und kristallierten) Inhalte dieser sozialen Wirklichkeitskonstruktionen bezeichnet Frindte als Bedeutungen, mit denen Mitglieder der Deutegemeinschaften ihre Interaktionen und Kommunikationen begründen. Sie erfüllen somit auf kollektiver Ebene die gleiche Funktion wie Sinn auf individueller Ebene und ermöglichen die Definition von Gruppenzugehörigkeit, Gruppenabgrenzung und damit sozialer Identität. Bedeutungen als konventionalisierte und tradierte soziale Wirklichkeitskonstrukte entstehen, wenn Beziehungen von Personen im Interaktionsraum eine gewisse zeitliche und räumliche Stabilität aufweisen und die sich dabei herausbildenden sozialen 131 TP
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Konstruktionen die fortlaufenden Interaktionen wiederum stabilisieren und strukturieren können, wodurch daran anschließende soziale Deutungen ermöglicht werden.133 In den zukünftigen Interaktionen zwischen den Organisationsmitgliedern werden diese kollektiven Deutungsmuster wechselseitig vorausgesetzt und erwartet.134 Die entstehenden kollektiven Wirklichkeitsordnungen können als implizite lokale Theorien bezeichnet werden. Diese umfassen die weitestgehend konsensuellen, organisationsspezifischen Glaubens- und Verhaltensweisen sowie ihre Legitimationen.135 Hejl und Stahl (2000b) betonen, dass Personen als Organisationsmitglieder die sozialen Wirklichkeitsordnungen nicht nur ausgebildet haben, sondern auch tatsächlich mit Bezug auf diese im organisationalen Kontext handeln und interagieren müssen.136 Die sozialen Wirklichkeitskonstruktionen werden z.T. in formalen Fixierungen bzw. Materialisierungen festgeschrieben. Diese können als Ergebnisprotokoll des Konstruktionsprozesses verstanden werden, indem dazu befugte Organisationsmitglieder ihre individuellen Rekonstruktionen der gültigen bzw. gewollten sozialen Konstruktionen (also erwünschte Denk-, Interpretations- und Verhaltensweisen) symbolisch festschreiben. Zu diesen Fixierungen gehören u.a. Strategien, Vorschriften, Regelungen, Aufgabenzuteilungen und Stellenbeschreibungen; aber auch materielle Festlegungen wie z.B. Gebäude, Büroeinrichtungen und Maschinenausstattungen sind letztlich Ergebnisse sozialer Konstruktionen. Diese Fixierungen verkürzen und erleichtern die permanent notwendige Interpretationsarbeit in den Kommunikations- und Interaktionsprozessen zwischen den Organisationsmitgliedern, indem sie einen gemeinsamen Bezugsrahmen schaffen, mögliche Deutungen des Geschehens anbieten, die Thematisierung abweichenden Verhaltens ermöglichen und den Kommunikationsprozess strukturieren. Darüber hinaus bieten sie insbesondere neuen Mitgliedern Anknüpfungspunkte für die Entwicklung ihrer eigenen organisationsbezogenen Deutungsmuster. Formale Fixierungen können die Interpretation des aktuellen Geschehens aber nicht ersetzen, sondern bleiben selbst immer interpretationsbedürftig, da sie als Abstraktionen nie objektiv und eindeutig einzelne Situationen klären können. Bei der Interpretation der Regelungen greifen die Organisationsmitglieder wieder auf ihre lokalen Theorien zurück. Insbesondere bei Abstimmungsbedarf zwischen mehreren Personen werden hierbei verschiedene individuelle ReInterpretationen kollektiver Deutungsmuster und Fixierungen auftreten, die dann TP
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Vgl. Frindte 1998:76ff Vgl. Probst 1987:73; Hejl/Stahl 2000b:111; Rüegg-Stürm 2001:201ff. Die Bedeutung von Erwartungen in Sozialsystemen stellt Luhmann (1984) besonders ausführlich dar, allerdings basierend auf seiner Systemperspektive, die von der hier verwendeten abweicht. Vgl. Baitsch 1993:25ff; 38f; Kieser 2001:303ff. Probst/Büchel (1994:23f) unterteilen diese lokalen Theorien (hier Handlungstheorien) in „Bekenntnistheorien“ als formale Fixierungen und „Gebrauchstheorien“ als inoffizielle Sammlung individueller und kollektiver Erfahrungen. Vgl. Hejl/Stahl 2000b:110. Erst dadurch unterscheidet sich ein Organisationsmitglied von Nichtmitgliedern, die durch Beobachtung ebenfalls die kollektiven Deutungsmuster kennen können, z.B. Wissenschaftler oder Berater (vgl. Hejl/Stahl 2000b:132, Anmerkung 18).
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wiederum im Interaktionsprozess verhandelt werden müssen. Ziel ist hierbei jedoch nicht die völlige Übereinstimmung der Interpretationen, sondern lediglich der Eindruck, dass kein ungewollter Dissens vorliegt.137 Da es sich trotz aller gemeinsamen Konstruktions- und Vergewisserungsprozesse von Wirklichkeit aber immer um individuelle Re-Interpretationen vor dem Hintergrund des individuellen, einzigartigen Bezugsrahmens der individuellen Wirklichkeitsordnung handelt, bleibt eine Organisation immer ein Gefüge vieler verschiedener Wirklichkeiten.138 TP
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2.3.1.2 Organisationen als selbstorganisierende Sozialsysteme Die Entscheidung, Organisationen als selbstorganisierende Sozialsysteme zu verstehen, ist aus konstruktivistischer Sicht kein Nachvollzug objektiver Tatsachen, sondern eine Festlegung, von der sich bestimmte Einblicke in die Organisationsprozesse erhofft werden. Die Perspektive ermöglicht es, Organisationen ganzheitlich und mit abstrakten und flexiblen Begrifflichkeiten zu beschreiben, um damit ihrer Komplexität und Eigendynamik besser gerecht zu werden.139 Allerdings sind weder die Systemtheorie noch die Theorie der Selbstorganisation ein homogenes Theoriegebäude, sondern spezifische Denk- und Beobachtungsweisen, die beide ursprünglich den Naturwissenschaften entstammen und in verschiedenen Theorien und Ansätzen in die Sozialwissenschaften übertragen wurden.140 Ich verstehe grundsätzlich unter einem System eine Einheit von einzelnen Komponenten, die in einem relativ stabilen Muster miteinander interagieren und dabei das Systemverhalten erzeugen: TP
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„Ein System ist ein dynamisches Ganzes, das als solches bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen besitzt. Es besteht aus Teilen, die so miteinander verknüpft sind, dass kein Teil unabhängig ist von andern Teilen und das Verhalten des Ganzen beeinflusst wird vom Zusammenwirken aller Teile.“141 TP
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Die Zuschreibung von Systemcharakter zu einer Einheit von Komponenten ist dabei eine beobachterabhängige Konstruktion. Sie beruht auf der Wahrnehmung von Regelmäßigkeiten in den Interaktionen, die den Anschein einer starren Ordnung erwecken, aber auf der Dynamik permanent wiederkehrender Interaktionen der Komponenten beruhen.142 Diese Systemkonzeption wird u.a. im St. Galler TP
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Vgl. Baitsch 1993:38ff; Kieser/Hegele/Klimmer 1998:139ff; Kieser 2001:303ff Vgl. Probst 1987:71; Hejl/Stahl 2000a:15f Vgl. Baitsch 1993:9; Hejl/Stahl 2000a:16ff; 2000b:100ff; Ulrich/Probst 1991:21ff Vgl. Probst 1987:16ff; Jutzi/Aderhold 2003:245ff; Aderhold/Jutzi 2003:125 Ulrich/Probst 1991:34, i.O. kursiv Vgl. Probst 1987:11, 68; Hejl/Stahl 2000a:16; 2000b:113
Managementansatz (Probst 1987, Ulrich/ Probst 1991), dem Ansatz von Hejl (1994, 1995, Hejl/Stahl 2000a, 2000b) und dem arbeits- und organisationspsychologischen Ansatz von Baitsch (1993) vertreten.143 Der Vorteil dieser Perspektive liegt in der Betonung der Rolle des Individuums in einem Sozialsystem, insbesondere für die Systementstehung, -aktivität und -veränderbarkeit.144 Sie ermöglicht die Betrachtung von Wechselwirkungen zwischen den Individuen als Systemkomponenten und ihrer Interaktionsstruktur als Systemorganisation und damit die Analyse von emergenten Systemeigenschaften und eigenständigem Systemverhalten, die bei der Einzelbetrachtung von Komponenten und Struktur nicht erkenntlich wäre.145 TP
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Die Ansätze unterscheiden sich z.T. in der Festlegung der Systemkomponenten und in der Begriffsverwendung für die Systemeigenschaften (insbesondere bei der Übertragung ursprünglich naturwissenschaftlicher Begriffe), kommen aber zu gleichen Aussagen über die Eigenschaften von Organisationen als System, insbesondere zur Systemstabilität und zu Möglichkeiten der Führung und Veränderung von Organisationen. Daher wird das Organisationsverständnis in dieser Arbeit im Folgenden auf den Gemeinsamkeiten der Ansätze aufbauen; wesentliche Unterschiede der Ansätze werden in Fußnoten angemerkt und erläutert. Darin unterscheidet sich diese Perspektive insbesondere vom derzeit populärsten systemtheoretischen Ansatz, der autopoietischen Systemtheorie von Luhmann, in welcher Sozialsysteme aus ‚Kommunikationen’ und Organisationen aus ‚Entscheidungen’ bestehen. Vgl. Luhmann 1984, 2000. Zur Popularität vgl. u.a. Aderhold/Jutzi 2003; Aderhold 2003; Rüegg-Stürm 1998, 2001:77ff. Vgl. Ulrich/Probst 1991:31ff; Hejl/Stahl 2000b:113, 116. Folgende Hauptkritikpunkte werden an dieser systemtheoretischen Konzeption geäußert: (1) das System wird nur unklar von seiner Umwelt abgegrenzt, (2) die tatsächliche Beschaffenheit der Systemelemente kann nicht ausreichend bestimmt werden, (3) es kann nur schwer erklärt werden, worin die eigenständigen, über die Summe der Komponenteneigenschaften hinausgehenden Merkmale des Systems als Ganzheit bestehen (vgl. Luhmann 1984:20ff; Aderhold 2003:158; Aderhold/Jutzi 2003:125f). Diese Kritikpunkte treffen auf die Ansätze, auf die die Arbeit Bezug nimmt, jedoch nur begrenzt zu und sind in Abwägung mit den Vorteilen z.T. hinzunehmen, solange die Viabilität des Ansatzes für die eigene Forschungsfrage nicht eingeschränkt wird: (1) die Abgrenzung des Systems von seiner Umwelt wird als beobachterabhängige Konstruktion und damit in der Tat als interindividuell uneindeutig verstanden. (2) Die Systemelemente werden in den hier zugrunde gelegten Ansätzen – wie bereits erwähnt – tatsächlich unterschiedlich und auf verschiedenen Abstraktionsniveaus beschrieben, wobei aber die Ableitungen der charakteristischen Systemeigenschaften gleich sind, wodurch die Viabilität dieser Perspektive für die Arbeit gegeben ist. (3) Die systemeigenen, vom einzelnen Element unabhängigen Eigenschaften werden in diesen Ansätzen als sog. „emergente“ Eigenschaften aus dem Konzept der Selbstorganisation abgeleitet. (zu allen drei eigenen Anmerkungen s.u.). Weiterhin wird kritisiert, dass diese Perspektive den Manager als einzelne Person aus dem System herausnimmt und ihn als externen Beobachter und Gestalter im Sinne einer Subjekt-Objekt-Beziehung konzipiert (vgl. Rüegg-Stürm 2001:78f). Dies ist dahingehend richtig, als dass die Perspektive Sozialsysteme grundsätzlich als von Menschen geschaffen und durch sie beeinflussbar versteht und somit dem einzelnen Individuum als Organisationsmitglied eine zentrale Rolle einräumt sowie ihm die Fähigkeit zuspricht, Systeme reflektierend zu beobachten und darüber zu kommunizieren. Gleichzeitig betont sie aber die polyzentrisch verteilte Eingebundenheit der Steuerungskompetenz in das Sozialsystem, die vom einzelnen Individuum unabhängigen Selbstorganisationsprozesse im System und damit die Unmöglichkeit einer deterministischen Steuerung durch einzelne Individuen (s.u., vgl. Baitsch 1993:30f; Probst 1987:68, 76; Hejl/Stahl 2000b:125f). Darüber hinaus wird z.T. der Eindruck erweckt, dass ausschließlich die Systemtheorie von Luhmann auf der radikal konstruktivistischen Position, wie sie von Maturana, Varela, v. Foerster, v. Glasersfeld etc. vertreten wird, beruht (vgl. Rüegg-Stürm 1998; 2001:79f; Aderhold 2003; Aderhold/Jutzi 2003). Das stimmt aber nur dahingehend, als dass Luhmann das ursprünglich auf ein individuelles Bewusstsein bezogene Konzept der Autopoiese auf soziale Systeme überträgt. Der systemtheoretische Ansatz, auf den in dieser Arbeit Bezug genommen wird, konzipiert Individuen als Organisationsmitglieder ebenfalls entsprechend den Positionen des radikalen Konstrukti-
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Unter einer Organisation als Sozialsystem verstehe ich eine Einheit von Menschen, die zur Handlungskoordination und Zielerreichung in einem bestimmten, relativ stabilen Muster miteinander interagieren und sich dabei auf innerhalb dieses Interaktionsmusters entwickelte Wirklichkeitsordnungen beziehen.146 Das System entsteht im Verlauf der Zeit aus zunächst relativ losen Interaktionsgemeinschaften. Eine Gruppe von Individuen will durch gemeinsames Handeln, Arbeitsteilung und Delegation individuelle und gemeinsame Ziele (besser) erreichen.147 Die dazu notwendigen Kommunikations- und Interaktionsprozesse werden anfänglich bewusst durch einzelne Menschen konzipiert und eingerichtet.148 Das dabei entstehende Interaktionsnetzwerk und die darin entwickelten sozialen Wirklichkeitskonstruktionen werden im Falle ihrer Viabilität rekursiv verfestigt und in Materialisierungen formal fixiert. Im Laufe der Zeit und mit zunehmender Anzahl der Organisationsmitglieder entwickelt dieses lose Interaktionsnetzwerk eine steigende Komplexität, Redundanz und Eigendynamik und wird zu einem Sozialsystem mit emergenten, d.h. nicht durch die Summe der einzelnen Komponenten erklärbaren Eigenschaften.149 Die Wahrnehmungen, das Verhalten und die Wirklichkeitskonstruktionen im System einschließlich dieser emergenten Systemeigenschaften ergeben sich durch die Wechselwirkungen zwischen den Komponenten und ihrem Interaktionsmuster, also der Systemordnung. Trotzdem bleibt der Mensch immer das letztlich entscheidende Element, da nur er tatsächlich als Systemkomponente handeln kann: TP
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„Die Wahrnehmung eines Systems ist also von seinen Komponenten und von seiner Organisation [eig. Anm.: im Sinne Systemordnung] abhängig. Betrachtet man den Prozess zwischen einem Ereignis und der Reaktion des Systems darauf, so ist klar, dass das resultierende Verhalten vollständig davon abhängt, welche Komponenten mit welchen Handlungen in welcher Reihenfolge beteiligt
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vismus, lehnt aber ihre Übernahme dieser Autopoiese-Annahme auf Sozialsysteme ab (s.u.; vgl. auch Baitsch 1993:9ff, 43f; Hejl 1995; Hejl/Stahl 2000a:14f; 2000b:112; Fallgatter/Koch 2000:80). Vgl. Hejl 1995:127f; Hejl/Stahl 2000a:16f, 2000b:109f; Systemkomponenten können ebenfalls Gruppen von Menschen sein, die selbst komplexe Subsysteme bilden. Das Basiselement bleibt aber letztlich immer das Individuum (vgl. Hejl/Stahl 2000b:112). Baitsch (1993) weist zusätzlich zu den Organisationsmitgliedern die immateriellen Elemente (lokale Theorien, kollektive Deutungsmuster), auf die sich nach der Definition von Hejl und Stahl das Verhalten von Systemmitgliedern beziehen muss, sowie deren Fixierungen in materiellen Strukturen explizit als Systemelemente aus. Der Mensch ist aber auch in dieser Konzeption das wesentliche Element des Systems. Probst (1987) und Ulrich/Probst (1991) behandeln Sozialsysteme auf abstrakterem Niveau, wobei nicht deutlich wird, ob neben den Menschen auch andere Systemelemente bestehen. Nach Weick (1985:132ff) schließen sich Menschen in Arbeitsorganisationen zusammen, um durch gemeinsames, koordiniertes Handeln individuelle Ziele zu erreichen; die Herausbildung kollektiv geteilter Ziele erfolgt erst später aufgrund dieser Handlungskoordinierung und ist für das einzelne Individuum sekundär. Organisationen entstehen nicht spontan und sind daher keine autopoietischen Systeme im Sinne von Maturana/Varela; mit zunehmender Komplexität weisen sie aber alle weiteren Merkmale autopoietischer Systeme auf (vgl. Baitsch 1993:18ff). Hejl (1994:113; 1995:136) und Hejl/Stahl (2000b:110) bezeichnen sie deshalb als synreferentiell. Vgl. Probst 1987:69; Baitsch 1993:22ff; Frindte 1998:77; Hejl/Stahl 2000b:109
sind. Änderte man die Organisation, ohne die Komponenten zu verändern, so entstünde ein anderes Systemverhalten. Damit wird ein weiterer wichtiger Zusammenhang erkennbar: „Sozialsysteme handeln“ durch ihre Teilsysteme und letztlich durch ihre Komponenten. Die Rede vom „Handeln der Systeme“ ist nur dann legitim, wenn darunter ein Handeln der Systemkomponenten im Rahmen der Systemorganisation verstanden wird.“ 150 TP
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Auch die Grenze des Sozialsystems „Organisation“ und damit seine Umwelt sind aus konstruktivistisch-systemtheoretischer Perspektive beobachterabhängige Konstruktionen, die prinzipiell auch anders möglich sind. Die Organisation entscheidet also selbst, was sie als ihre Umwelt definiert, welche Relevanz diese für sie hat, wie sie sie beobachtet und wie sie die als Systemumwelt definierten Interaktionsbereiche qualitativ und quantitativ gestaltet. Diese systemeigenen Konstruktionen von Umwelt müssen sich als viable Entscheidungs- und Handlungsgrundlage bewähren.151 Organisationen sind somit gegenüber ihrer Umwelt zugleich offene und geschlossene Systeme. Einerseits sind sie nicht autark von ihrer Umwelt, sondern über verschiedene Interaktionen mit ihr verbunden und von ihr abhängig, z.B. bezüglich Energie, Informationen, Produkt- und Zahlungsströme oder auch Menschen als Komponenten. Die tatsächliche Viabilität des verwendeten Umweltkonstruktes erweist sich erst in diesen Interaktionen mit der Umwelt (z.B. durch Aufträge oder Zahlungseingänge für das Unternehmen). Andererseits sind Organisationen aber operativ geschlossen, d.h. die Art der Wahrnehmung von Umwelt, die Auseinandersetzung mit diesen Wahrnehmungen und die daraus resultierenden Systemhandlungen sind nicht durch die Umwelt definiert, sondern grundsätzlich nur durch die sozialen Wirklichkeitskonstruktionen in systeminternen Interaktionsprozessen bestimmt.152 TP
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Sozialsysteme werden als selbstorganisierend verstanden, d.h. die systeminterne Ordnung in Form der relativ stabilen Interaktionsstruktur zwischen den Komponenten wird im System selbst erzeugt. Das Ergebnis dieses Organisationsprozesses lässt sich weder durch externe Einflüsse noch allein durch die Individuen als Systemkomponenten erklären, sondern ergibt sich als emergente Systemeigenschaft aus der Interaktion zwischen Komponenten und Struktur. Grundlage dieser Selbstorganisation sind die hohe Komplexität, Redundanz, Autonomie und Selbstreferenz als wesentliche Merkmale des sozialen Systems.153 TP
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Hejl/Stahl 2000b:115f; vgl. auch Probst 1987:13; Hejl/Stahl 2000a:16 Vgl. Probst 1987:27ff, 69; Ulrich/Probst 1991:36ff; Baitsch 1993:27ff; Hejl 1995:129f; Hejl/Stahl 2000a:17f, 24; Vgl. Probst/Naujoks 1993:10f; Baitsch 1993:27ff Vgl. Baitsch 1993:18, 40; Probst 1987:11ff, 68ff; Jutzi/Aderhold 2003:244ff; 271; Hejl/Stahl 2000b:117. Hejl (1995:130f) spricht sozialen Systemen die Fähigkeit zur Selbstorganisation ab, da ihnen die Wiederholbarkeit spezifischer Strukturen und die Spontaneität fehlen. Dabei bezieht er sich aber auf ein physikalisch-chemisches Begriffsverständnis und sieht dieses durch die Äquivalenzannahme von lebenden und sozialen Systemen überstrapaziert (vgl. auch
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Die Komplexität von Sozialsystemen ergibt sich aus der relativ großen Zahl ihrer Komponenten und der daraus resultierenden Vielfalt an rekursiv wirksamen Interaktionsmöglichkeiten zwischen diesen. Das System kann dadurch eine unüberschaubare Vielzahl an Organisationsstrukturen annehmen und diese dynamisch verändern, womit das System und sein Verhalten nur noch begrenzt beschreibbar und vorhersehbar sind.154 Die Steuerungs- und Interaktionsmöglichkeiten der sozialen Deutungsprozesse und des systemischen Verhaltens sind im System polyzentrisch, redundant und heterarchisch verteilt, wenn auch i.d.R. sehr ungleichmäßig. Aufgrund der Vielfalt wechselseitig wirksamer Interaktionen bilden formal vorgegebene Steuerungshierarchien nur einen begrenzten Teil der tatsächlichen Interaktions-, Deutungsund Lenkungsmuster ab.155 Sozialsysteme sind gegenüber ihrer Umwelt und einzelnen Personen als Systemkomponenten autonom. Die bereits beschriebene systemeigene Konstruktion von Grenzen und Umwelt sowie die operative Geschlossenheit bei Wahrnehmung und Verhalten begründet die weitgehende Autonomie des Systems gegenüber seiner Umwelt. Die Organisation ist zwar nicht unabhängig von den Gegebenheiten und Entwicklungen in ihrer Umwelt, hat aber hohe, selbst konstruierte Freiheitsgrade in den Handlungsmöglichkeiten und kann von der Umwelt nicht gesteuert werden.156 Auch gegenüber seinen Organisationsmitgliedern besitzt das System eine weitreichende Autonomie. Das Handeln des Sozialsystems ist zwar ausschließlich durch das Handeln seiner Komponenten, also letztlich immer einzelner Individuen, möglich. Zum einen ist dieses individuelle Handeln aber aufgrund der verfestigten lokalen Theorien sowie materiellen und formalen Fixierungen weitgehend vorstrukturiert und damit primär Systemhandeln und nur sekundär individuelles Handeln.157 Zum anderen ist die Systemsteuerungskompetenz polyzentrisch und redundant im System verteilt (s.o.). Das System ist damit von einzelnen Personen unabhängig. Das systembezogene Interpretieren, Interagieren und Handeln bezieht sich auf in diesen Interaktionsmustern gemeinsam konstruierte, geteilte und in materiellen Strukturen fixierte Wirklichkeiten. Verhaltensänderungen einzelner Organisationsmitglieder führen daher i.d.R. nicht zur Veränderung des Systemverhaltens. Somit kann zum einen eine Organisation auch beim sukzessiven Austausch seiner Mitglieder weiter bestehen. Zum anderen ist aus systemtheoretischTP
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Jutzi/Aderhold 2003:264). In Hejl/Stahl (2000b:117) wird Sozialsystemen hingegen die Fähigkeit zur Selbstorganisation im Sinne der internen Erschaffung von Systemordnung zugesprochen. Vgl. Ulrich/Probst 1991:58ff; Baitsch 1993:13f; Probst 1987:76ff Vgl. Baitsch 1993:30; Probst 1987:81 Vgl. Probst/Naujoks 1993:11f, Probst 1987:82ff Vgl. Baitsch 1993:22f
konstruktivistischer Perspektive eine zentral-deterministische Steuerung der Organisation durch einzelne Personen nicht möglich.158 Sozialsysteme sind weitestgehend selbstreferentiell, d.h. das Verhalten des Systems bezieht sich ganz überwiegend auf die im System selbst erzeugte, sozial erschaffene und geteilte Wirklichkeitsordnung, sobald diese ihre Viabilität gezeigt hat. Damit verfestigen sich die der Organisation zugrunde liegenden sozialen Wirklichkeitskonstruktionen rekursiv, ähnlich wie dies bei individuellen Wirklichkeitskonstruktionen beschrieben wurde. Die Selbstreferenz eines Sozialsystems ergibt sich zum einen durch die Selbstreferenz des Menschen als kognitivbiologisches System, da er selbst als handelnde Komponente nur auf bestehende individuelle Wirklichkeitskonstruktionen, zu denen auch von ihm geteilte soziale Wirklichkeitskonstruktionen zählen, zurückgreifen kann. Zum anderen gibt es in sozialen Systemen eine Reihe von Mechanismen, die eine Verhaltensabweichung eines Individuums von der kollektiven Wirklichkeitsordnung thematisieren und ggf. sanktionieren. Erleichtert wird diese Selbstreferenz durch die materielle und formale Fixierung von Wirklichkeitskonstruktionen.159 TP
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Die durch selbstorganisierte Prozesse entwickelte Systemordnung in Form relativ stabiler Interaktionsmuster ist zudem durch Selektivität gekennzeichnet. Die Interaktion zwischen allen Komponenten eines Systems ist insbesondere bei hoher Komplexität der absolute Grenzfall, i.d.R. interagiert jede Komponente nur mit einer bestimmten Anzahl anderer Systemkomponenten, begründet durch ein Überangebot an Interaktionsmöglichkeiten sowie durch räumliche und zeitliche Differenzen. Die Selektivität nimmt mit fortschreitender interner Differenzierung und Spezialisierung zu und führt ihrerseits selbst zur rekursiven Verfestigung dieser Interaktionsmuster, da sie meist weitergenutzt werden, solange sie ihre Nützlichkeit erweisen.160 TP
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2.3.2 Der Mensch in der Organisation: Stütze und Störung des Systems Aus den bisherigen Ausführungen zum Organisationsverständnis in dieser Arbeit geht hervor, dass Menschen die wesentlichen Elemente von Organisationen sind. 158 TP
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Vgl. Baitsch 1993:30; Hejl/Stahl 2000b:114. Hejl/Stahl sprechen von Autonomisierung statt Autonomie, um zu betonen, dass das System letztlich doch nur durch die Interaktionen der Mitglieder existiert und eine Änderung des Systemverhaltens vom Verhalten der Individuen abhängt. Vgl. Baitsch 1993:23f; Hejl 1995:135f; Hejl/Stahl 2000b:110ff; Probst 1987:79ff. Hejl (1995:133ff) und Hejl/Stahl (2000b:110f) sprechen von „Synreferentialität“ statt „Selbstreferentialität“, um die Analogie zu biologischen Systemen nicht zu überstrapazieren und die Bedeutung des Individuums nicht unangemessen zu verringern. Im Gegensatz zu selbstreferentiellen biologischen Systemen erzeugen soziale Systeme die Zustände ihrer Komponenten, also der Individuen, nicht ausschließlich selbst. Soziale Systeme zeichnen sich gerade dadurch aus, dass ihre Komponenten in verschiedenen Systemen integriert sind und ihr Zustand damit auch durch andere Systeme beeinflusst werden kann. Vgl. Hejl/Stahl 2000b:114f
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Zum einen sind sie die Träger und Produzenten der sozialen Wirklichkeitsordnung, die die Organisation aus konstruktivistischer Perspektive ausmacht. Zum anderen sind sie die Elemente des Sozialsystems „Organisation“ und damit der entscheidende, wenn auch nicht einzige Faktor für die Systemeigenschaften und das Systemverhalten. Dabei ist der Mensch als Komponente des Sozialsystems zugleich Stütze und Störung des Systems.161 Aufgrund der Vorstrukturierung des organisationalen Verhaltensrepertoires durch die organisationsbezogenen geteilten Wirklichkeitskonstruktionen und deren teilweise Materialisierung in Fixierungen und Regeln ist das Verhalten eines Organisationsmitgliedes primär Systemäußerung und nur noch sekundär Ausdruck personalen Handelns.162 Zudem bezieht sich der Mensch in seiner permanenten aktuellen Wirklichkeitsdeutung selbstreferentiell auf seine bestehende Wirklichkeitsordnung, zu der auch die individuellen Re-Interpretationen der sozialen organisationsbezogenen Wirklichkeitskonstruktionen gehören. Als selbstreferentielles kognitives System neigt der Mensch somit selbst dazu, die bestehenden organisationalen Deutungsmuster permanent zu wiederholen und bei Viabilität rekursiv zu verfestigen.163 Der einzelne Mensch ist aber immer nur mit einem Teil seiner Möglichkeiten und Wirklichkeitskonstruktionen als Komponente an einem Sozialsystem beteiligt, gleichzeitig ist er Mitglied in mehreren anderen sozialen Systemen (z.B. Familie, Freundeskreis etc.). Damit ist er zugleich Innenwelt und Umwelt des Sozialsystems „Organisation“ und bildet die Schnittstelle zu anderen Systemen.164 Da er zudem die Fähigkeit zur autonomen Selbstreflexion und damit zur Selbst- und Fremdbeobachtung von Systemen besitzt und als komplexes, autonomes und selbstreferentielles kognitiv-biologisches System ein existentielles Interesse an der Selbsterhaltung und Wahrung der eigenen Identität hat, ist er als Systemelement in der Organisation weder vollständig berechenbar noch deterministisch steuerbar, sondern unzuverlässig und potentiell störend. Dies erfordert permanente Integrationsbemühungen durch das System, die durch kollektive Sinnerzeugungsund -versicherungsprozesse in kommunikativen Prozessen (direkt) und bei der Bezugnahme auf Materialisierungen (indirekt) erfolgen.165 Zudem verfügt das Sozialsystem als Netzwerk von miteinander interagierenden Individuen über eine Reihe sozialer Integrationsmöglichkeiten, die abweichendes Verhalten thematisieren und ggf. sanktionieren.166 TP
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Vgl. Baitsch 1993:30 Vgl. Baitsch 1993:22ff Vgl. Hejl 1995:136ff, siehe auch Kap. 2.2 Vgl. Hejl 1995:129f; Hejl/Stahl 2000b:111ff, 123, Baitsch 1993:31. Dies entspricht dem Konzept des partiellen Einschlusses von Allport (1962). Vgl. Baitsch 1993:30ff Vgl. Hejl 1995:138f
Besonders deutlich werden die charakteristischen Merkmale des Individuums als Organisationsmitglied, also seine gleichzeitig stützende und störende Rolle sowie die Notwendigkeiten und Möglichkeiten der Integration, beim Eintritt neuer Mitglieder in die Organisation. Das Individuum besitzt beim Eintritt in die Organisation eine verfestigte, bisher bewährte Wirklichkeitsordnung, zu der auch individuelle Re-Interpretationen sozialer Deutungsmuster aus anderen Sozialsystemen sowie eine Reihe ausgebildeter Fähigkeiten und Erfahrungen zählen, die z.T. relevant für die Rolle in der neuen Organisation sind. Zudem hat es i.d.R. erste konkrete Vorstellungen von der neuen Organisation und seiner eigenen Rolle in ihr. Der Beitritt erfolgt aufgrund bestimmter individueller Zielsetzungen, die es sich durch die Mitgliedschaft zu erfüllen hofft. Dies alles bildet das Referenzsystem für die individuelle Deutung des Erlebten und das Verhalten der Person. Allerdings sind diese individuellen Motive und Ziele für die Organisation i.d.R. wenig relevant, da sie schon vorher existierte und ohne den Beitritt des Individuums auch weiter existiert hätte; die Perturbation durch den Organisationsbeitritt ist also für das Individuum wesentlich höher als für die Organisation. Das neue Organisations-mitglied sieht sich einer unbekannten und komplexen Umgebung gegenüber, die es durch die Konstruktion subjektiver Theorien zu ordnen und sich anzueignen versucht. Dies erfolgt schrittweise durch die Auseinandersetzung mit den Arbeitsaufgaben, den Materialisierungen sowie Kontaktpersonen (hauptsächlich Kollegen und Vorgesetzen). Die Konstruktion dieser Wirklichkeit erfolgt dabei weder durch ausschließlich solipsistische Reflexion noch durch einfache Übernahme bestehender kollektiver Wirklichkeitskonstruktionen. Einerseits orientiert sich das Individuum an subjektiv relevanten Eigenschaften der Umgebung und nimmt sie wahr auf der Basis der eigenen kognitiven Möglichkeiten und des individuellen Bezugssystems, das u.a. stark durch frühere Erfahrungen geprägt ist. Gleichzeitig prüft es die individuellen Partizipations- und Kontrollpotenziale. Andererseits haben die vorhandenen Interpretationsmuster aber eine starke Definitionsmacht, da sie schon durch ihre faktische Existenz der Organisation als viabel legitimiert sind. Sie begegnen dem neuen Organisationsmitglied in den vorhandenen Materialisierungen und insbesondere in den Interaktionen mit den Kollegen und Vorgesetzten und nehmen einen starken Einfluss auf die individuelle Wirklichkeitskonstruktion. Die Konstruktion der organisationalen Wirklichkeit durch das neue Organisationsmitglied ist also eher konservativ und rückwärtsorientiert; für die Organisation als System wird das Neumitglied erst durch die Aneignung dieser Deutungsmuster, Regeln und Gesetzmäßigkeiten zum verlässlichen Organisationsmitglied.167 TP
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Vgl. Baitsch 1993:61ff. Rüegg-Stürm 2001:157ff
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2.3.3 Führung als Prozess und Ergebnis kollektiver Wirklichkeitskonstruktion im Interaktionsraum Das traditionelle instrumentale Führungsverständnis, beruhend auf Vorstellungen kausaler Ursachen-Wirkungsketten und der Subjekt-Objekt-Perspektive, unterstellt eine nahezu deterministische Steuerbarkeit von Organisationen und betrachtet sie als Instrument zur Umsetzung spezifischer Zielvorstellungen der Unternehmensführung. Diese Perspektive vernachlässigt aber die Konstruiertheit von Wirklichkeit sowie die Komplexität und Selbstorganisation von Sozialsystemen, überfordert mit ihrem Machbarkeitsanspruch die Organisationsführung, schränkt die möglichen Perspektiven auf die Organisation und seine Umwelt ein, unterstellt eine notwendigerweise deterministische Anpassung an eine vorgegebene Unternehmensumwelt mit entsprechend eingeschränkten Entscheidungs- und Handlungsspielräumen und lässt systeminterne Potenziale ungenutzt.168 Die systemtheoretischkonstruktivistische Perspektive verneint zwar nicht die Existenz von Machtunterschieden und Hierarchien sowie die Beeinflussbarkeit von Menschen und Systemen, verweist aber auf die polyzentrische Verteilung der Steuerungs- und Gestaltungsmöglichkeiten im System und versteht die Organisationsführung als ein Teilsystem bzw. den Manager als Komponente des Gesamtsystems, wenn auch i.d.R. mit höheren Gestaltungs- und Einflussmöglichkeiten als andere Organisationsmitglieder. Die Perspektive des scheinbar außerhalb der Organisation stehenden Managers ist nur aufgrund der menschlichen Beobachtungs- und Reflexionsfähigkeiten möglich. Führung als intentionale Gestaltung des Systems ist immer Bestandteil der Ordnungsentwicklungsprozesse in Systemen, unterliegt in der weiteren Entwicklung aber den systemischen Selbstorganisationsprozessen; eine deterministische Durchsetzbarkeit ist nicht möglich.169 TP
TP
PT
PT
Führung in einem Sozialsystem ist immer Prozess und Ergebnis sowohl individueller als auch sozialer Wirklichkeitskonstruktionen und vollzieht sich in interpersonalen Beziehungen. Die Beteiligten konstruieren unter Bezugnahme auf ihre individuellen Wirklichkeitsordnungen einerseits und die verfestigten kollektiven Wirklichkeiten der Deutegemeinschaft „Organisation“ andererseits ein gemeinsames Führungsverständnis, das als Führungskultur im Gesamtsystem bzw. im entsprechenden Subsystem (Team, Abteilung etc.) verstanden werden kann.170 Auf Grundlage dieses gemeinsamen Führungsverständnisses sowie wiederum unter Bezugnahme auf die individuellen Wirklichkeitsordnungen und die kollektiven Deutungsmuster erfolgt Führung als permanenter interaktiver Prozess der interpersonalen Wirklichkeitsdeutung, verortet im Interaktionsraum des Modells der Wirklichkeitsräume von Frindte (1998). Die Möglichkeiten der Einflussnahme auf diesen Prozess der sozialen TP
168 TP
PT
169 TP
PT
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170 PT
52
PT
Vgl. Probst 1987:85ff; Hejl/Stahl 2000a:25, 2000b:100ff; Kaduk 2002:59f Vgl. Probst 1987:10, 68, 86; Hejl/Stahl 2000a:25; 2000b:100, 125; Baitsch 1993:30f; Vgl. Kaduk 2002:60f
Wirklichkeitskonstruktion bzw. auf ihre Fixierung in Regelungen, Anweisungen etc. sind in Abhängigkeit vom gemeinsamen Führungsverständnis zwischen den Beteiligten unterschiedlich verteilt. Dieser permanente Prozess der kollektiven Wirklichkeitsdeutung wirkt wiederum auf das gemeinsame Führungsverständnis zurück. Obwohl die systemtheoretisch-konstruktivistische Perspektive auf Organisationen den Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum von Führung einerseits aufgrund der kollektiven Wirklichkeitskonstruktion und der Selbstorganisationsprozesse einschränkt, erweitert sie ihn andererseits durch ihr Verständnis von Systemgrenzen und -umwelten als beobachterabhängige Konstruktionen. Die Zielsetzung von Führung liegt somit nicht in der Anpassung des Systems an eine objektiv vorhandene Umwelt, die im deterministischen Sinn Notwendigkeiten zum Überleben der Organisation vorgibt. Vielmehr wird der Fokus auf systeminterne Konstruktions- und Entscheidungsprozesse zur Entwicklung von potentiellen Umwelten sowie auf diese ausgerichtete Handlungsprogramme gelenkt. Dies meint zwar keine uneingeschränkte, Willkür ermöglichende bzw. erlaubende Gestaltungsfreiheit, da die Eigendynamik der Organisation und notwendige Austauschbeziehungen mit der Systemumwelt bestehen bleiben. Die Möglichkeit der Einflussnahme auf die organisationale Entwicklung erhält aber neue Freiheitsgrade, womit sich auch die Verantwortung der Organisationsführung verschiebt.171 Aus systemtheoretisch-konstruktivistischer Perspektive liegt die Aufgabe von Führung einerseits in der Schaffung von Kontexten für eine möglichst offene Wirklichkeitskonstruktion im System, z.B. durch die Ermöglichung von Freiräumen, Wahlmöglichkeiten, Pluralität, Individualität und Selbstentwicklung der Beteiligten sowie durch die Erzeugung von Kreativität, Unruhe und Unsicherheit. Andererseits muss die Organisationsführung aber auch Selektionen und Entscheidungen herbeiführen, um zumindest vorläufige Ordnung und Kontinuität zu bewirken und damit ein zielbezogenes systemisches Handeln zu ermöglichen.172 TP
PT
TP
2.4
PT
Der Möglichkeitsraum: Vielfältige soziale Angebote für individuelle Wirklichkeitskonstruktion
Soziale Systeme, z.B. Organisationen, sind Teile von umfassenderen gesellschaftlichen Systemen.173 Diese beinhalten u.a. politische, ökonomische, wissenschaftliche und kulturelle Strukturen und Prozesse, Traditionen, Mythen, Rituale und gesellschaftliche Normen. Sie bilden damit den Möglichkeitsraum, d.h. den Kombinationshorizont gesamtgesellschaftlich verfügbarer Angebote zur individuellen und sozialen Wirklichkeitskonstruktion. Diese gesellschaftlichen Möglichkeiten sind weder objektive, vom Menschen unabhängige Tatbestände, noch TP
171 TP
PT
172 TP
PT
TP
173 PT
PT
Vgl. Hejl/Stahl 2000a:25f Vgl. Hejl 1995:136f; Hejl/Stahl 2000a:26f; Probst 1987:113 Vgl. Probst 1987:69
53
führen sie direkt zu bestimmten individuellen und sozialen Wirklichkeitskonstruktionen oder erzwingen diese sogar. Vielmehr sind sie selbst soziale Konstruktionen, die in ihrer jeweiligen individuellen und kollektiven Re-Interpretation eine vieldimensionale Kontingenz beinhalten.174 Der für das einzelne Individuum bzw. die jeweilige Deutegemeinschaft tatsächlich nutzbare Möglichkeitsraum wird aufgrund der notwendigen Anschlussfähigkeit von Beobachtung und Verhalten allerdings eingeschränkt durch die gewachsenen Wirklichkeitsordnungen, den Kontext und die in der fortlaufenden Interaktion bereits erzeugten Bedingungen und unterstellten Erwartungen.175 Im Bereich der betriebswirtschaftlichen Praxis und damit auch im Change Management spielen insbesondere wirtschafts- und organisations-wissenschaftliche Trends und Tendenzen eine wesentliche Rolle. Vor allem aktuelle Managementmoden aus Beratung und Fachliteratur (z.B. Schlagwörter wie „Global Player“, „Shareholder Value“, „lean production“ etc.) sowie wirtschaftsbezogene Themen der gesamtgesellschaftlichen Diskussion (z.B. „Globalisierung“, „Management-Ethik“) strukturieren insbesondere die interaktionalen und organisationalen Deutungsprozesse, wobei häufig der Anschein entsteht, dass die soziale Konstruiertheit der Trends und die verbleibende Kontingenz der Entscheidungen vernachlässigt werden. TP
TP
2.5
PT
PT
Zwischenfazit: Der Bezugsrahmen der Arbeit
Der in diesem Kapitel entwickelte Bezugsrahmen der Arbeit basiert auf dem Modell der Wirklichkeitsräume von Frindte (1995, 1998), das durch die Synthese von radikalem Konstruktivismus und Sozialkonstruktivismus (insbesondere social constructionism) eine sozialpsychologische Konzeption der individuellen und sozialen Wirklichkeitskonstruktion darstellt. Es umfasst vier Ebenen der individuellen und kollektiven Wirklichkeitskonstruktion: Sinnraum, Interaktionsraum, Bedeutungsraum und Möglichkeitsraum. Alle vier Ebenen sind durch zwischenmenschliche Kommunikation miteinander verbunden. Innerhalb dieses Gerüstes wurden die drei für die Arbeit relevanten Systemebenen (Sinnraum, Interaktionsraum, Bedeutungsraum) neben den Darstellungen von Frindte mit weiteren Theorien und Konzeptionen ausgefüllt, auf die sich z.T. Frindte selbst bezieht, die aber z.T. auch darüber hinausgehen. Im Mittelpunkt des Bezugsrahmens steht der einzelne Mensch als operativ geschlossenes kognitives System, der im Sinnraum als individuelle Modellebene seine Wirklichkeit konstruiert, indem er aus dem ihn umgebenden Alltagsgeschehen relevante Ereignisse wahrnimmt („einklammert“) und interpretiert. Dabei bezieht er sich auf seine bestehende, durch bisherige Erfahrungen aufgebaute Wirklichkeitsordnung und verfestigt diese dadurch rekursiv, solange sich die aktuelle 174 TP
PT
TP
175 PT
54
Vgl. Frindte 1998:93f Vgl. Probst 1987:73; Rüegg-Stürm 2001:270
Wirklichkeitskonstruktion als viabel erweist, d.h. zutreffende Annahmen für das weitere Alltagsgeschehen bzw. erfolgreiche Auswahl von Anschlussverhalten ermöglicht. Die Viabilität, Verfestigung und damit Stabilität der bestehenden Wirklichkeitsordnung wird zusätzlich erhöht, indem der Mensch in seinen Wahrnehmungsprozessen das Alltagsgeschehen durch Assimilationsprozesse an seine bestehende Wirklichkeitsordnung anpasst, soweit dies möglich ist. Erst die Irritation der individuellen Wirklichkeitsordnung – entweder durch ihre wahrgenommene NichtViabilität oder durch die Wahrnehmung alternativer, bisher nicht bekannter/ verwendeter Interpretationsmöglichkeiten, z.B. durch Interaktion mit anderen Menschen – ermöglicht individuelles Akkomodationslernen, d.h. die Dekonstruktion, Modifikation und Neukonstruktion von Deutungsmustern in der Wirklichkeitsordnung. Das Individuum ist umgeben von drei Ebenen sozialer Wirklichkeiten: den Interaktionsräumen, den Bedeutungsräumen und den Möglichkeitsräumen. Innerhalb dieser Räume erhalten Menschen Anregungen für individuelle Wirklichkeitskonstruktionen und erzeugen gleichzeitig durch Interaktionen soziale Wirklichkeiten. Im Interaktionsraum regen sich Menschen wechselseitig zur Konstruktion von Wirklichkeit an und konstruieren gemeinsam soziale Wirklichkeiten, indem sie ihre individuellen Wirklichkeiten exteriorisieren, sie dabei an Bedingungen und Möglichkeiten des Sprachgebrauches und die bisherige Interaktionsgeschichte adaptieren, Interaktionsbeiträge anderer Personen aufgreifen und modifizieren sowie diese kollektiv entwickelten Wirklichkeiten – individuell re-interpretiert – interiorisieren. Eine deterministische Beeinflussung der individuellen Wirklichkeitskonstruktion anderer Personen oder die „Übertragung“ von Informationen ist nicht möglich, jedes Individuum ist in seinen Konstruktionsprozessen operativ geschlossen und autonom. Verstehen in Interaktionen bedeutet daher auch nicht die interindividuelle Übereinstimmung von Interpretationen, sondern die hinreichende Viabilität der individuellen und sozialen Konstruktionen für erwartungsgemäßes Anschlussverhalten. Bedeutungsräume beinhalten stabile soziale Deutungsmuster und Wirklichkeitsordnungen, die sich in regelmäßigen, selbstreferentiellen Interaktionen verfestigen und einen kollektiv geteilten, einheitlichen Beobachtungs- und Verhaltensbezugsrahmen für eine Gruppe von Individuen (Deutegemeinschaft) bilden. Auch Organisationen gehören zu den Deutegemeinschaften. Sie können im Zeitverlauf und mit zunehmender Ausdifferenzierung, Komplexität und Redundanz als selbstorganisierende soziale Systeme aufgefasst werden, welche emergente Eigenschaften besitzen und weder durch einzelne Individuen noch durch ihre Umwelt deterministisch gesteuert werden können. Organisationen sind zugleich offene und geschlossene Systeme, da sie einerseits von den bestehenden Interaktionen mit ihrer Umwelt existentiell abhängig sind (z.B. Aufträge, Zahlungseingänge, Personal), andererseits aber bei den Deutungen von sich selbst und ihrer Umwelt selbstreferentiell operieren. Der einzelne Mensch ist gleichzeitig Mitglied in mehreren Deutegemeinschaften, aber jeweils nur mit einem Teil seiner Persönlichkeit („partieller Einschluss“). Da er zudem fähig zur Selbstreflexion und zur Beobachtung 55
des Systems ist, bildet er zugleich Komponente und Umwelt des Sozialsystems ´Organisation´ und damit zeitgleich dessen Stütze und Störung. Durch seine Beteiligung an sozialen Konstruktionsprozessen und die Bezugnahme auf die soziale Wirklichkeitsordnung trägt er einerseits zur Stabilisierung der Organisation bei, kann aber andererseits organisationale Deutungsprozesse reflektieren sowie Interpretationsangebote aus anderen Bereichen seiner Wirklichkeitsordnung einbringen. Führung ist in Organisationen nicht als deterministische Lenkung und Steuerung des Systems und einzelner Menschen vorstellbar, da Organisationen als selbstorganisierte Sozialsysteme autonom gegenüber einzelnen Individuen sind und Individuen als operativ geschlossene Bewusstseinssysteme nicht determinierbar sind. Führung durch das Management einer Organisation ist selbst ein Beitrag zu der Selbstorganisation des Systems, kann aber das Systemverhalten nicht festlegen, sondern lediglich ermöglichen, anregen und beeinflussen. Der Möglichkeitsraum als vierte Ebene der Wirklichkeitskonstruktion definiert als umfassendes gesellschaftliches System mit seinen politischen, ökonomischen, wissenschaftlichen und kulturellen Strukturen, Traditionen, Normen und Entwicklungen den Kombinationshorizont potentieller Wirklichkeitsangebote mit seinen Möglichkeiten, aber auch Begrenzungen. Im weiteren Vorgehen können die einzelnen Themenbereiche, die zur Bearbeitung der Forschungsfrage betrachtet werden, in dieses Modell eingeordnet und auf die entsprechenden Theorien Bezug genommen werden. Von Relevanz werden sein: - der Bedeutungsraum als Modellebene der Organisationen und damit des organisationalen Wandels - der Interaktionsraum als Modellebene interindividueller Konflikte - der Sinnraum als Ebene der individuellen Wirklichkeiten sowie ihrer Irritation und Veränderung im individuellen und interaktionalen Lernen.
56
3
Organisationaler Wandel als gemeinsame Modifikation der kollektiven Wirklichkeitsordnung
3.1
Irritation verfestigter Deutungsmuster und ihre Thematisierung im Interaktionsraum als Voraussetzung für organisationalen Wandel
Organisationen werden im Bezugsrahmen als Deutegemeinschaften und selbstorganisierende Sozialsysteme definiert. Das Selbstverständnis einer Organisation, ihre Grenzen, Anspruchsgruppen, internen Strukturen und Prozesse etc. sind systeminterne Wirklichkeitskonstruktionen, die sich bei Bewährung in ihrer Anwendung rekursiv verfestigen. Da Organisationen zudem selbstorganisierende Sozialsysteme sind, können ihre Wirklichkeitskonstruktionen weder durch systemexterne Faktoren noch durch einzelne Personen determiniert werden. Die Organisationsmitglieder als Träger und Anwender der organisationalen Wirklichkeiten haben diese kollektiven Deutungsmuster individuell re-interpretiert und in ihre Wirklichkeitsordnungen integriert. Organisationale Beobachtung und organisationales Handeln sind nur über Organisationsmitglieder möglich, die in ihren individuellen Beobachtungen und Handlungen die kollektiven Deutungsmuster anwenden. Diese organisationalen Deutungsmuster sind aber nur ein Teil der individuellen Wirklichkeitsordnung eines Organisationsmitgliedes. Letztere umfasst gleichzeitig eine Vielzahl anderer individueller und sozialer Deutungsmuster, die miteinander vernetzt sind. Individuen sind damit nur partiell in Organisationen integriert. Organisationaler Wandel ist aus systemtheoretisch-konstruktivistischer Perspektive die kollektive, systemeigene Veränderung und Neukonstruktion der organisationalen Wirklichkeitsordnung und ihrer Materialisierungen, einschließlich der Konstruktionen über die Systemordnung und die Systemumwelt als wesentlicher Teil der Wirklichkeitsordnung.176 Organisationaler Wandel ist notwendig für das langfristige Überleben der Organisation. Obwohl das Selbstbild und die Umwelt systemeigene Konstruktionen sind, entscheiden die auf diesen Wirklichkeitskonstruktionen und den entsprechenden Verhaltensweisen basierenden Austauschprozesse mit der Umwelt über die Viabilität der organisationalen Wirklichkeitskonstruktion. Indem sich andere, ebenfalls operativ geschlossene, autonome Akteure (Individuen, Sozialsysteme), mit denen die Organisation in Austauschprozessen steht, in ihren WirklichkeitsTP
TP
176 PT
PT
Vgl. Rüegg-Stürm 2001:263; Hejl/Stahl 2000a:21; 2000b:124. Mein Begriffsverständnis von organisationalem Wandel umfasst auch das vielfältig thematisierte organisationale Lernen als Veränderung/Erweiterung der organisationalen Wissensbasis, Problemlösungsund Handlungskompetenz sowie als Veränderung des gemeinsamen organisationalen Bezugsrahmens (vgl. Probst/Büchel 1994:17; Schreyögg 2003:550), insofern diese als kollektive Konstruktionen verstanden werden, bzw. als soziale Wirklichkeitskonstruktion (vgl. Klimecki/Laßleben/Thomae 2000:66). Organisationales Lernen ist (genauso wie bei Individuen) der Veränderungsprozess der kollektiven Wirklichkeitsordnung; die Manifestation von organisationalem Lernen liegt in veränderten Wirklichkeiten. Zu Theorien und Konzepten organisationalen Lernens vgl. z.B. Probst/Büchel 1994; Nonaka/Takeuchi 1995; Wilkesmann 1999; Klimecki/Laßleben/Thomae 2000; Pawlowsky/Geppert 2005.
57
konstruktionen und Verhaltensweisen ändern, kann es zur Veränderung dieser Austauschbeziehungen kommen, auf die die Organisation keinen Einfluss hat, von denen sie aber existentiell abhängig ist. Eine Organisation kann ihre relevanten Umwelten zwar für sich definieren, aber nicht vollständig kontrollieren. Daher muss sich jede Organisation entsprechend den Veränderungen in ihren relevanten Umwelten selbst verändern und entwickeln, um überleben zu können.177 Organisationaler Wandel kann aber auch Chancen für die Organisation enthalten, die nicht unbedingt über die langfristige Überlebensfähigkeit entscheiden, aber das Potenzial enthalten, durch eine andere organisationale Sichtweise auf die eigene Umwelt, durch verändertes organisationales Beobachten und Handeln Dinge erfolgreicher zu gestalten und die sinnstiftenden Zielsetzungen der Organisation besser zu erreichen. TP
PT
Organisationen als selbstorganisierende Sozialsysteme sind jedoch tendenziell konservativ, d.h. sie wiederholen in ihren Prozessen der Wirklichkeitskonstruktion die bestehenden Deutungsmuster und Systemordnungen und verfestigen diese dadurch rekursiv.178 Die Gründe für diesen Systemkonservatismus liegen im Individuum als Systemkomponente und im System selbst: - Wie in Kap. 2.1 gezeigt wurde, ist das menschliche Bewusstsein ein operativ geschlossenes, selbstreferentielles, autonomes kognitives System und damit selbst konservativ. Der Mensch bezieht sich in seinen Deutungen des Alltags letztlich immer auf seine bestehende Wirklichkeitsordnung und verfestigt diese rekursiv durch die wiederholte Anwendung, solange sie sich als viabel erweist. Ein Neu- oder Umlernen kann nur stattfinden, wenn die bestehenden Deutungsmuster so stark irritiert werden, dass eine Assimilation der Wahrnehmung bzw. ein Verdrängen nicht mehr möglich ist.179 Zudem werden mögliche Irritationen der sozialen Deutungsmuster individuell verschieden wahrgenommen. So kann es z.T. zur Verdrängung, Fremdattribution oder Selbstwahrnehmung in einer Opferrolle kommen. Darüber hinaus verfolgt jedes Organisationsmitglied als autonomes Individuum bestimmte Motive und Handlungsabsichten, die von den Zielen der Organisation abweichen können. Der bestehende Status Quo mit den entsprechenden Deutungsmustern und Systemstrukturen ist für einen Teil der Organisationsmitglieder vorteilhaft, welcher daher wahrscheinlich wenig Interesse an der Veränderung der organisationalen Wirklichkeit hat. Zusätzlich bindet jede Form intentionaler organisationaler und damit auch individueller Veränderung persönliche Zeit und Energie.180 - Zu diesen im Individuum liegenden Ursachen gibt es auch spezifische systemische Ursachen für den Konservatismus. Aufgrund der systeminhärenten TP
PT
TP
TP
177 TP
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178 TP
PT
179 TP
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180 PT
58
PT
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Vgl. Probst 1987:82ff; Baitsch 1993:27ff; Hejl/Stahl 2000a:17; 2000b:124. Zur Notwendigkeit des Wandels von Unternehmen/Organisationen vgl. u.a. Probst/Büchel 1994:3ff; Pawlowsy/Geppert 2005:261 Vgl. Hejl/Stahl 2000a:22; Rüegg-Stürm 2001:270; Manella 2003:122f Vgl. Hejl/Stahl 2000a:22; 2000b:114 Vgl. Probst/Büchel 1994:73ff; Rüegg-Stürm 2001:282f
Eigenschaften der Redundanz, Autonomie, Komplexität und Selbstreferentialität sowie der sich daraus ergebenden emergenten Selbstorganisation (vgl. Kap. 2.3.1.2) reproduziert das System seine Wirklichkeitsordnung einschließlich der eigenen Grenzen und Ordnung und verfestigt sie rekursiv, wobei es autonom ist von einzelnen Individuen und seiner Umwelt. Unterstützt wird diese Stabilisierung der bestehenden sozialen Wirklichkeiten zum einen durch ihre Materialisierungen in Regeln, Vorschriften, Organigrammen etc., zum anderen durch die informalen und formalen sozialen Kontrollmechanismen im Sozialsystem (z.B. Gespräche und Zurechtweisungen, Isolation, formale Sanktionen), die Organisationsmitgliedern anzeigen, dass sie im Begriff sind, die geteilten Wirklichkeitsordnungen und das entsprechende Verhaltensrepertoire zu verlassen.181 Auch beim Eintritt neuer Organisationsmitglieder behält die Organisation, vertreten durch die Kontaktpersonen und die Materialisierungen, in der Situation beiderseitiger Irritation bestehender Wirklichkeitsordnungen i.d.R. die Deutungshoheit über die organisationsrelativen Wahrnehmungen und Konstruktionen, da sie allein schon durch ihre faktische Existenz die zumindest bisherige Viabilität ihrer sozialen Wirklichkeitsordnung „beweist“.182 Darüber hinaus führen Veränderungen in den organisationalen Wirklichkeitskonstruktionen und den systemischen Interaktionsmustern zumindest anfänglich immer zu Kommunikations- und Verständigungsproblemen im System, weshalb organisationale Veränderungen letztlich aufwendig und im Ergebnis unsicher sind.183 TP
TP
PT
PT
TP
PT
Trotz dieses Konservatismus in der Wirklichkeitskonstruktion als Eigenschaft von Individuen und Sozialsystemen ist jede individuelle und kollektive Deutung und Wirklichkeitskonstruktion grundsätzlich kontingent, d.h. sie ist niemals ein zwingender Anschluss an etwas Bestehendes, sondern immer auch anders möglich.184 Hierin liegt das Potenzial organisationalen Wandels. Um den Konservatismus der Organisation zu durchbrechen, ist organisationaler Wandel jedoch an zwei Bedingungen geknüpft (vgl. Abb. 8): 1. Es bedarf der Irritation der verfestigten kollektiven Deutungsmuster, die bei der Konstruktion systemischer Wirklichkeit und bei systemischem Handeln routinemäßig und i.d.R. unhinterfragt Anwendung finden, um den aktuellen oder zukünftig antizipierten routinierten Alltagsvollzug (Wahrnehmung, Interpretation, Handlung) infrage zu stellen und eine Modifikation der Wirklichkeitsordnung zu ermöglichen. Diese Irritationen können auftretende Widersprüche, Konflikte oder Friktionen sein, aber auch unausgeschöpfte Nutzungspotenziale und kreative Entwicklungsimpulse in der Organisation im Sinne alternativer Deutungs- und TP
181 TP
PT
182 TP
PT
183 TP
PT
TP
184 PT
PT
Vgl. Baitsch 1993:23ff; Hejl 1995:138f; Rüegg-Stürm 2001:270 Vgl. Baitsch 1993:61ff Vgl. Hejl/Stahl 2000a:22 Vgl. Rüegg-Stürm 2001:270; Hejl/Stahl 2000a:15f
59
Handlungsmöglichkeiten.185 Solche Irritationen treten in Organisationen permanent auf, da sie komplexe Sozialsysteme in Interaktion mit ihrer Umwelt sind, die sich aus miteinander interagierenden Menschen zusammensetzen, welche wiederum als autonome und selbstreferentielle Systeme gleichzeitig verschiedenen Sozialsystemen angehören, also zugleich System- und Umweltelement sind.186 2. Die aufgetretenen Irritationen und Störungen des alltäglichen Wirklichkeitsvollzugs müssen in der Organisation auch Resonanz finden, d.h. sie müssen von den einzelnen Personen und in den interaktionalen Prozessen innerhalb der Organisation tatsächlich als relevant wahrgenommen, akzeptiert und thematisiert werden. Der Wandelprozess ist die kommunikativ-interpretative Abarbeitung dieser Irritationen und Störungen.187 TP
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Prämissen aus dem Bezugsrahmen der Arbeit Organisationaler Konservatismus • Wirklichkeitsordnung individuell und sozial konstruiert • Verfestigung bewährter Deutungsmuster durch Viabilität in Anwendung • Assimilation der Wahrnehmung durch bewährte Deutungsmuster • Annahme der Einzigartigkeit bewährter Deutungsmuster Wandel nur aus dem System heraus möglich • organisationaler Wandel = gemeinsame Veränderung kollektiver Deutungsmuster durch Kommunikation und Interaktion • organisationaler Wandel ist häufig notwendig zur langfristigen Überlebensfähigkeit, aber nicht extern oder durch einzelne Personen deterministisch auslös- und steuerbar
Bedingungen für organisationalen Wandel
organisationaler Wandel braucht: 1. die Irritation bewährter organisationaler Deutungsmuster bzw. ihrer Einzigartigkeit als auslösendes Moment 2. die Thematisierung und reflexive Diskussion dieser Irritation in sozialen Konstruktionsprozessen
Abb. 8: Bedingungen organisationalen Wandels
185 TP
PT
186 TP
PT
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187 PT
60
Vgl. Rüegg-Stürm 2001:269f; Baitsch 1993:33. Rüegg-Stürm bezieht sich hierbei auf das Konzept unerschlossener Nutzenpotenziale von Pümpin (1992:19ff) und verweist an anderer Stelle (2001:282, Fußnote 647) nochmals explizit darauf, dass diese Irritationen und Störungen nicht unbedingt Defizite der organisationalen Wirklichkeitsordnung sein müssen, sondern auch neue, kreative Ideen o.ä. für Bereiche sein können, für die bereits Deutungsmuster und Routinen bestehen. Auch Probst/Büchel (1994:49ff) sehen neben Störungen und Konflikten als Lernauslöser ebenfalls Ressourcenüberfluss („slack“) auf organisationaler Ebene als möglichen Auslöser von Veränderungen. Vgl. Baitsch 1993:33ff; Rüegg-Stürm 2001:315 Vgl. Rüegg-Stürm 2001:270f, 282
3.2
Organisationaler Wandel als Verknüpfung von Veränderungen im Sinn-, Interaktions- und Bedeutungsraum
Organisationen sind als Deutegemeinschaften im Bedeutungsraum des Modells der Wirklichkeitsräume von Frindte angesiedelt. Sie sind gekennzeichnet durch bewährte und verfestigte Deutungsmuster, die von den Mitgliedern geteilt werden und ihnen den Bezugsrahmen für kollektives, aufeinander abgestimmtes Beobachten und Handeln bieten. Die Dimensionen des organisationalen Konservatismus sowie die Bedingungen der Veränderung organisationaler Deutungsmuster zeigen aber bereits, dass eine ausschließliche Betrachtung organisationalen Wandels auf der Ebene des Bedeutungsraumes unzureichend ist und den Prozess des Wandels sowie seine Voraussetzungen nicht ausreichend erfasst. Organisationaler Wandel ist nur als Verknüpfung von individuellen Lernprozessen und organisationalen Interaktions- und Konstruktionsprozessen möglich.188 Der individuelle Sinnraum eines jeden einzelnen Organisationsmitgliedes sowie der Interaktionsraum als die Ebene der kollektiven Wirklichkeitskonstruktion spielen eine entscheidende Rolle bei der Initiierung und Umsetzung organisationalen Wandels. Beide Ebenen werden im Folgenden genauer betrachtet, der Zusammenhang der Ebenen wird in Abb. 9 dargestellt. TP
PT
Bestehende organisationale Wirklichkeitsordnung wirkt auf die Wandelfähigkeit der Organisation
Sinnraum Irritation der verfestigten organisationalen Deutungsmuster Konstruktion alternativer Interpretationen und Deutungsmuster Exteriorisierungen
Beobachtung
Modifikation der organisationalen Bestandteile der individuellen Wirklichkeitsordnung entsprechend der gemeinsamen Konstruktion Interiorisierung der gemeinsamen Wirklichkeitskonstruktion
Bedeutungsraum
Viabilitätsbeobachtung in der Anwendung der neuen Deutungsmuster
Verfestigung
Veränderung der organisationalen Wirklichkeits -ordnung
Interaktionsraum
Reflexive Diskussion der Irritationen und alternativen Konstruktionen
Gemeinsame Konstruktion einer geteilten Wirklichkeit und neuer Deutungsmuster durch wechselseitige Bezugnahme auf Exteriorisierungen
Bestehende organisationale Wirklichkeitsordnung wirkt auf die Wandelfähigkeit der Organisation
Abb. 9: Ebenen der Wirklichkeitskonstruktion im organisationalen Wandel TP
188 PT
Vgl. Probst/Büchel 1994:17ff; Baitsch 1993:37f; Hejl/Stahl 2000b:116ff; Pawlowsky/Geppert 2005:261f
61
3.2.1 Das Individuum als Ausgangspunkt organisationalen Wandels Im Bezugsrahmen wurde gezeigt, dass Beobachtung und Handeln des Sozialsystems „Organisation“ nur durch die Anwendung organisationaler Deutungsmuster im individuellen Beobachten und Handeln der Organisationsmitglieder möglich ist. Daher spielen sie und ihre Sinnräume der individuellen Wirklichkeitskonstruktion eine entscheidende Rolle im organisationalen Wandel. Zum einen kann die systemische Wahrnehmung von Irritationen kollektiver Deutungsmuster nur in der individuellen Beobachtung der Organisationsmitglieder erfolgen. Durch ihre Fähigkeit zur reflexiven Selbst- und Fremdbeobachtung und ihre Zugehörigkeit zu verschiedenen Sozialsystemen sind Organisationsmitglieder in der Lage, sich individuell oder in Interaktionen mit anderen Menschen innerhalb und außerhalb des Systems mit den kollektiven Deutungsmustern auseinanderzusetzen, sie als nicht mehr viabel oder als nicht alternativlos wahrzunehmen, alternative Deutungs- und Verhaltensmöglichkeiten zu konstruieren und diese durch Exteriorisierung in Interaktionsprozessen in die Organisation hineinzubringen. Zum anderen ist die tatsächliche Modifikation der organisationalen Wirklichkeitsordnung im Bedeutungsraum nur möglich, wenn viele bzw. alle Organisationsmitglieder als Träger und Anwender der organisationalen Deutungsmuster die Modifikationen tatsächlich in ihre individuelle Wirklichkeitsordnung interiorisieren und die neuen Deutungsmuster anwenden.189 Das einzelne Individuum als Organisationsmitglied ist somit immer Ausgangs- und Endpunkt organisationalen Wandels. Im Bezugsrahmen (Kap. 2.1.3) wurden die Bedingungen für individuelles Lernen, also die Modifikation der individuellen Wirklichkeitsordnung, beschrieben. Auslöser individuellen Akkomodationslernens sind Störungen und Irritationen im Prozess der Wirklichkeitskonstruktion, bei denen sich bestehende Deutungsmuster als nicht mehr viabel erweisen, da sich das wahrgenommene Alltagsgeschehen nicht in erwarteter Weise weiterentwickelt bzw. die eigenen Handlungen nicht die erwarteten Konsequenzen haben, oder indem alternative Deutungsmöglichkeiten wahrgenommen werden, die bisher zumindest in diesem Kontext nicht Bestandteil der individuellen Wirklichkeitskonstruktion waren. Die Beobachtungen dieser Störungen können in Interaktionen mit anderen Menschen oder in der gedanklichen Auseinandersetzung eines Individuums mit sich selbst und seiner Umwelt erfolgen. Allerdings ist auch die Wahrnehmung von Irritationen aufgrund der operationalen Geschlossenheit des menschlichen Bewusstseins nur eine individuelle Wirklichkeitskonstruktion, die personen- und situationsabhängig ist. Ereignisse der Umwelt, so auch Interaktionsbeiträge anderer Menschen, können nur zur Wirklichkeitskonstruktion und Perturbation anstoßen, diese aber nicht deterministisch auslösen. TP
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189 PT
62
Vgl. Baitsch 1993:30ff
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Aus dieser zentralen Rolle der Individuen im Prozess des organisationalen Wandels leiten sich wichtige Bedingungen für erfolgreichen Wandel ab. Zum einen bedarf es der Fähigkeit und Bereitschaft der Organisationsmitglieder, Störungen, Irritationen und Kontingenzen wahrzunehmen, individuelle Modifikationen und Alternativen zu konstruierten (individuelles Lernen) und diese in organisationalen Interaktionsprozessen so zu exteriorisieren, dass sie für andere Interaktionsteilnehmer verständlich sind und eine interaktionale Thematisierung möglich wird. Entscheidend ist dabei vor allem der organisationale Partizipations- und Gestaltungsspielraum.190 Zudem ist es förderlich, wenn innerhalb der Organisation ein großes Repertoire unterschiedlichster individueller und kollektiver Wirklichkeitsordnungen mit vielfältigen Überschneidungen in andere Sozialsysteme besteht, da sich dadurch die Wahrscheinlichkeit der Wahrnehmung von Irritationen und alternativen Deutungen durch die Organisationsmitglieder erhöht. Allerdings muss die Vielfalt der sich daraus ergebenden Wirklichkeitskonstruktionen im organisationalen Alltag noch handhabbar sein, d.h. die Balance zwischen Irritation und Stabilität sowie zwischen individueller Unterschiedlichkeit und kollektiver Gemeinsamkeit muss gewahrt sein, ohne dass sich ein optimales Level quantifizieren ließe.191 Die Vielfalt der individuellen und sozialen Wirklichkeitsordnungen allein reicht aber nicht; die Individuen müssen auch die Fähigkeit, Bereitschaft und Möglichkeit haben, Deutungsmuster anderer Wirklichkeitsordnungen in die organisationale Wirklichkeitskonstruktion zu transferieren. Hierbei sind neben interaktionalen und organisationalen Rahmenbedingungen wieder die individuelle Reflexionsfähigkeit und -bereitschaft relevant. Diese Rahmenbedingungen werden in Kap. 5 bei der Modellentwicklung weiter thematisiert. TP
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PT
3.2.2 Modifikation organisationaler Wirklichkeit im Interaktionsraum Die Irritation und Modifikation organisationaler Deutungsmuster nur im Sinnraum einzelner Individuen ist nicht ausreichend für tatsächlichen organisationalen Wandel. Die organisationale Wirklichkeitsordnung wird von allen Organisationsmitgliedern – in ihrer jeweiligen individuell re-interpretierten und interiorisierten Form – getragen und angewandt. Daher ist für die Modifikation dieser Wirklichkeitsordnung die Veränderung bei vielen bzw. allen Organisationsmitgliedern notwendig. Diese individuellen Lernprozesse müssen dabei aufeinander abgestimmt sein und zu so ähnlichen Ergebnissen führen, dass ein gemeinsames Verständnis von der modifizierten Wirklichkeitsordnung vorhanden ist, d.h. dass koordiniertes kollektives Beobachten und Handeln im System „Organisation“ weiterhin möglich ist. Dafür bedarf es der Thematisierung der Irritationen und Modifikationen im systemeigenen, organisationalen Interaktionsraum, da nur hier organisationale Wirklichkeiten kollektiv konstruiert und von den Beteiligten interiorisiert werden. 190 TP
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191 PT
Vgl. Baitsch 1993:37f Vgl. Hejl/Stahl 2000a:23f
63
Ähnlich wie bei der individuellen Wirklichkeitskonstruktion im Sinnraum können auch bei der kollektiven Wirklichkeitsdeutung in den Interaktionsprozessen zwischen Organisationsmitgliedern auftretende Irritationen verarbeitet werden, indem sie entweder durch Assimilation an die bestehende Wirklichkeitsordnung ignoriert werden (Leugnung oder Pseudo-Auseinandersetzung) oder indem die organisationalen Deutungsmuster durch Akkomodationsprozesse tatsächlich verändert werden.192 Ob die Irritationen tatsächlich wahrgenommen und thematisiert werden, hängt dabei von der Organisation selbst ab. Aufgrund ihrer Autonomie können weder externe Anlässe noch einzelne Individuen die Organisation zur Wahrnehmung und Thematisierung von Irritationen zwingen; diese können nur im Rahmen der organisationstypischen Wahrnehmungs- und Deutungsmuster erkannt und aufgegriffen werden. Damit wird die Bedeutung der systeminternen Interaktionen und Kommunikationen für organisationalen Wandel deutlich. Sie sind keine Begleitaktivität in der Umsetzung von Wandel, sondern ein komplexes Beziehungsgeschehen der kollektiven Wirklichkeitskonstruktion. Organisationaler Wandel ist ein kommunikativer Erfindungs- und Vergewisserungsprozess, ein kommunikativinterpretatives Thematisieren von Irritationen und Störungen. Erst wenn durch kollektive Beobachtung und reflektierende Diskussion die bestehenden Deutungsmuster und ihre Erwartungsgewissheiten bei vielen Organisationsmitgliedern irritiert werden, ihre Kontingenz bewusst wird und sie ins Driften geraten, ist reflexives soziales Lernen und die Veränderung organisationaler Wirklichkeiten möglich. Damit werden auch die bestehenden Kommunikationsroutinen zu einem wesentlichen Einflussfaktor für die organisationale Wandelfähigkeit.193 TP
PT
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Die organisationalen Interaktionsräume beinhalten aber ein wesentliches Problem im Zusammenhang mit organisationalem Wandel. Als Bedingung für organisationale Veränderungen wurde die Irritation der kollektiven Deutungsmuster genannt, für die eine Möglichkeit darin besteht, dass sich die Deutungsmuster als nicht mehr viabel bzw. andere Deutungsmuster als ebenfalls viabel oder sogar passender erweisen. Die Feststellung der Viabilität bzw. Nicht-Viabilität ist jedoch eine beobachterabhängige Konstruktion, die damit letztendlich auch auf den bestehenden Deutungsmustern beruht. Je unmittelbarer und eindeutiger die Auswirkung eines Deutungsmusters in seiner Anwendung beobachtet werden kann und je höher die Bedeutung dieser Konsequenz für den Beobachter ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Nicht-Viabilität tatsächlich bewusst wahrgenommen und nicht assimiliert wird. In organisationalen Interaktionsräumen gibt es jedoch verschiedene Viabilitäten der individuellen und sozialen Wirklichkeitskonstruktionen. Es kann unterschieden werden zwischen - einer langfristigen organisationalen Viabilität: eine soziale Wirklichkeitskonstruktion aus einem organisationalen Interaktionsraum bewährt sich in ihrer 192 TP
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193 PT
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Vgl. Baitsch 1993:35f Vgl. Rüegg-Stürm 2001:264, 271f, 280f; Ford/Ford 1995
Anwendung als systemisches Handeln, d.h. die damit für die Organisation verbundenen Erwartungen und Ziele werden erfüllt, - einer kurzfristigen individuellen Viabilität im Interaktionsraum: der Interaktionsbeitrag des einzelnen Individuums erweist sich als viabel, wenn er von den anderen Interaktionsteilnehmern verstanden, akzeptiert und in den weiteren Interaktionsbeiträgen als Bezugspunkt genutzt wird, d.h. wenn das Individuum seine Deutungen in die soziale Wirklichkeitskonstruktion einbringen kann. Beide Viabilitäten sind nicht zwangsläufig deckungsgleich. Wirklichkeitskonstruktionen können sich kurzfristig als viabel, langfristig aber als nicht viabel erweisen und umgekehrt. Gerade bei Irritationen verfestigter Deutungsmuster als Voraussetzung für organisationalen Wandel zeigt sich dieser Widerspruch. Die langfristige organisationale Viabilität einer alternativen organisationalen Deutung kann im Moment der Exteriorisierung im Interaktionsraum nur hypothetisch konstruiert werden, sie ist erst nach der Anwendung in einem gewissen zeitlichen Abstand und i.d.R. nur indirekt wahrnehmbar.194 Die kurzfristige Viabilität im Interaktionsraum lässt sich hingegen meist besser durch die Bezugnahme auf bewährte, verfestigte organisationale Deutungsmuster erreichen, da sie von den anderen Interaktionsteilnehmern verstanden und akzeptiert werden und eben nicht zur Perturbation der individuellen bzw. kollektiven Wirklichkeitskonstruktionen und der Interaktion führen. Diese kurzfristige Viabilität unterstützt somit oftmals den Konservatismus der Organisation und behindert notwendige oder chancenreiche Alternativdeutungen, die möglicherweise von Interaktionsteilnehmern im Sinnraum konstruiert, aber nicht exteriorisiert werden. Für tatsächlichen organisationalen Wandel muss diese kurzfristige interaktionale Viabilität exteriorisierter individueller Deutungen überwunden werden, indem sie bewusst gemacht und reflektiert wird. Nur so besteht die Möglichkeit, auch alternativen Deutungen die notwendige Resonanz im organisationalen Interaktionsraum zu verschaffen. TP
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Damit individuelle Irritationen der organisationalen Wirklichkeitsordnung tatsächlich zu Perturbationen im Interaktionsraum führen und das Potenzial der Alternativkonstruktion aller Interaktionbeteiligten genutzt wird, sind folgende Rahmenbedingungen für organisationalen Wandel im Interaktionsraum wichtig: - Die beteiligten Individuen müssen die Möglichkeit haben, Irritationen und Alternativen zu exteriorisieren, ohne negative Konsequenzen zu erwarten. - Perturbationen in den routinierten Interaktionen müssen von den Beteiligten tatsächlich beachtet und thematisiert werden.
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194 PT
Auch diese spätere Feststellung der Viabilität einer angewandten alternativen Deutung (also die Erfolgsbewertung organisationaler Veränderungen) ist nur eine beobachterabhängige Konstruktion, die zum einen von individuellen Deutungsmustern, Erfahrungen, Interessen und Zielsetzungen abhängig ist, zum anderen i.d.R. als soziale Wirklichkeitskonstruktion in organisationalen Interaktionen erfolgt, sodass hier ebenfalls die kurzfristige Viabilität als eine Art „Wahrnehmungsfilter“ fungiert.
65
-
Die reflexiven Diskurse müssen ergebnisoffen verlaufen, um nicht schon vorher die möglichen neuen Deutungen zu unterbrechen. Damit mögliche Irritationen und Alternativkonstruktionen der Interaktion auch im organisationalen Rahmen umgesetzt werden können, müssen zudem zumindest einige der Interaktionsbeteiligten genügend Deutungsmacht in der Organisation haben, um über die Interaktion hinaus organisationale Wirklichkeit mitgestalten zu können.
3.2.3 Verfestigung von Modifikationen im Bedeutungsraum Um tatsächlich von erfolgreichem organisationalen Wandel sprechen zu können, müssen die modifizierten Deutungsmuster in der verfestigten kollektiven Wirklichkeitsordnung im Bedeutungsraum verankert werden, d.h. sie müssen von den Organisationsmitgliedern tatsächlich in der systemischen Beobachtung, Interaktion und Handlung angewandt werden, sich dabei als viabel erweisen, eine gewisse Stabilität in den organisationalen Interaktionen und Kommunikationen erlangen und von den Organisationsmitgliedern wechselseitig vorausgesetzt und erwartet werden. Dazu gehört in komplexeren Organisationen i.d.R. auch die formale Fixierung der neuen Deutungsmuster.195 TP
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Im organisationalen Bedeutungsraum findet sich aber nicht nur das Ergebnis des organisationalen Wandels wieder, er beeinflusst auch den Entstehungsprozess des organisationalen Wandels bzw. die Wandelfähigkeit der Organisation, da bestehende organisationale Deutungsmuster darüber entscheiden, ob und wie die genannten Bedingungen und Prozesse organisationalen Wandels innerhalb des organisationalen Beobachtens und Handelns möglich und erwünscht sind. Jene Teile der kollektiven Wirklichkeitsordnung, die sich auf die generelle Entwicklungs- und Wandelfähigkeit der Organisation beziehen, bilden somit die Rahmenbedingungen des organisationalen Wandels. Rüegg-Stürm bezeichnet sie als Ordnungsmomente 2. Ordnung, bestehend aus „systemischer Irritationstoleranz“ und „Organisationsbewusstheit“.196 Systemische Irritationstoleranz ist „…die Fähigkeit, Störungen und Widersprüche, die im System einen Unterschied machen, als Information weiter zu verwenden, seien dies Friktionen des Alltags oder kreative Entwicklungsimpulse“197; „...eine Qualität der laufenden Beziehungs- und Kommunikationsprozesse. Damit gemeint ist die gemeinsam geteilte, selbstverständliche Erwartung und Haltung, dass es grundsätzlich jederzeit legitim und wünschenswert ist, ungewohnte Ideen oder TP
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Vgl. Kap. 2.4.1.1 Vgl. Rüegg-Stürm 2001:313; Baitsch (1993:319) verwendet den Begriff der „diagnostischen Kapazität“. Ähnlich ist der Begriff des Prozesslernens bei Probst/Büchel (1994:37ff) in Anlehnung an Argyris/Schön (1978) zu verstehen. Rüegg-Stürm 2001:270
unangenehme Beobachtungen und Widersprüche zu thematisieren und Einspruch einzuwenden.“198 TP
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Sie umfasst die bereits im vorherigen Abschnitt angesprochenen Kommunikationsund Interaktionsroutinen in der Organisation, die zugleich Ausdruck und Formgeber der verfestigten Wirklichkeitsordnung sind und die Wandelfähigkeit der Organisation wesentlich beeinflussen. In irritations-toleranten Organisationen zeichnen sich ablaufende Kommunikationen durch hohe Empfänglichkeit und Resonanzfähigkeit für Irritationen, Störungen und Widersprüche aus. Die Kommunikationskultur erlaubt einen offenen, respektvollen Dialog, gemeinsames Hinterfragen und ehrliches Feedback. Zudem müssen die gemeinsamen Erwartungserwartungen als Ergebnis und Stabilisierung der verfestigten Wirklichkeitsordnung enttäuschungsbereit spezifiziert sein, d.h. es existieren keine thematischen Tabuzonen, Widerspruch wird nicht sofort als persönlicher Widerstand bewertet. Die systemische Irritationstoleranz basiert aber auch auf einem reichhaltigen Reservoir potentieller Bilder-, Begriffs- und Gefühlswelten, die bei auftretenden Irritationen alternative Konstruktionsmöglichkeiten bieten. Sichtbar wird die systemische Irritationstoleranz einer Organisation am deutlichsten im Umgang mit neuen Organisationsmitgliedern. Während irritationstolerante Organisationen die entstehenden Bruchstellen zur Selbstreflexion und Alternativkonstruktion nutzen, überbetonen irritationsintolerante Organisationen die Bedeutung der gemachten Erfahrungen und der bewährten Wirklichkeit und streben eine schnellstmögliche Assimilation des neuen Mitglieds an.199 Unter Organisationsbewusstheit versteht Rüegg-Stürm mit Bezugnahme auf Heintel und Krainz (1994) die Fähigkeit der Organisation bzw. ihrer Mitglieder (als Bündel von Kompetenzen), auftretende Irritationen, Schwierigkeiten, Störungen und Konflikte nicht zu personalisieren, also individuelle Schuld zuzuschreiben, sondern Organisationen bewusst als komplexe, selbstorganisierende Sozialsysteme mit emergenten Eigenschaften zu verstehen, in denen auftretende Friktionen in erster Linie organisational bedingt sind und somit auch organisational-systemisch thematisiert und bearbeitet werden müssen:200 TP
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„Man muß Schwierigkeiten und Konflikte aufgreifen und analysieren lernen, muß über die „Sozialgesetze“ von Gruppen und Organisationen einigermaßen Bescheid wissen und sich über die strukturellen, organisatorischen, sozialen und emotionalen Bedingungen von Verhaltens- und Handlungsweisen informieren. Das bewährte Verfahren, bei jedem Problem einen Schuldigen zu suchen, Organisationsprobleme also bequemlichkeitshalber zu individua-
198 TP
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199 TP
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Rüegg-Stürm 2001:317 Vgl. Rüegg-Stürm 2001:316ff Vgl. Rüegg-Stürm 2001:323ff
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lisieren, würde dann allmählich der übergeordneten Frage nach Ursachen in Gesamtumgebungskonstellationen weichen.“201 TP
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Der Bedeutungsraum spielt somit in zweierlei Hinsicht eine entscheidende Rolle für organisationalen Wandel: Er ist zum einen das Ziel der Veränderung, da nur die Modifikation der bestehenden, verfestigten organisationalen Wirklichkeitsordnung zu tatsächlichem organisationalen Wandel führt, also das systemische Beobachten und Verhalten verändert wird. Zum anderen beeinflusst die bestehende Wirklichkeitsordnung die Wandelfähigkeit der Organisation in besonders starkem Maße, da sie letztlich definiert, ob und wie Irritationen und Störungen wahrgenommen, thematisiert und diskutiert werden.
3.3
Organisationaler Wandel als Entstehungs- und Umsetzungsphase
Organisationaler Wandel kann als Prozess in zwei Phasen unterteilt werden: eine Entstehungsphase und eine Umsetzungsphase. In der ersten Phase muss die Irritation der bisherigen Deutungsmuster und die Idee einer Modifikation bzw. alternativen Konstruktion überhaupt erst einmal in die Organisation, d.h. die in ihr ablaufenden Deutungs- und Interaktionsprozesse, eingebracht werden. Hier liegt also die „Wiege“, der Ausgangspunkt des organisationalen Wandels. In der zweiten Phase geht es um die Umsetzung einer Veränderung, d.h. um die gemeinsame Entwicklung und Veränderung der Organisation aufgrund der bereits (ggf. in fixierter Form) vorliegenden Alternative für die verfestigten Deutungsmuster (Ideenpräsentation, Thesenpapier, Verbesserungsvorschlag, Strategieentwurf etc.) in Kommunikations- und Interaktionsprozessen. Das auslösende Moment der erstmaligen Irritation und Ideengeneration hat aber bereits stattgefunden. Das Interesse dieser Forschungsarbeit liegt daher in der ersten Phase organisationalen Wandels. Die oben genannten Bedingungen für die erfolgreiche Modifikation der organisationalen Wirklichkeitsordnung müssen aber in beiden Phasen erfüllt sein, allerdings auf unterschiedliche Art. In der Entstehungsphase tritt eine Irritation kollektiver Deutungsmuster bzw. ihre Alternativdeutung zum ersten Mal Erfolg versprechend in die organisationalen Wirklichkeitskonstruktionen ein. In dieser Phase muss die Barriere organisationalen Wandels, die durch den organisationalen Konservatismus gegeben ist, erstmalig überwunden werden. Erfolg versprechendes Eintreten heißt nicht, dass bereits tatsächlich eine Modifikation organisationaler Deutungsmuster erfolgen muss. Nicht jede neue Idee wird sich im Vergleich zu Bewährtem als viabler erweisen; nicht jede neue Idee kann umgesetzt werden, um ihre Nützlichkeit in der praktischen
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201 PT
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Heintel/Krainz 1994:12
Anwendung zu prüfen. Im Bezugsrahmen wurde auch gezeigt, dass die Stabilität und Kontinuität der Wirklichkeitsordnung notwendig ist, um überhaupt individuelles und systemisches Beobachten und Verhalten zu ermöglichen. Auch innerhalb einer Organisation muss ein gewisses Maß an Stabilität erreicht werden, um die Handlungsfähigkeit des Systems zu gewährleisten. Wichtig ist aber Wandelfähigkeit der Organisation, d.h. ihre Fähigkeit, Notwendigkeiten oder Chancen für organisationale Veränderungen zu erkennen und die bestehenden und alternativen Deutungen sowie die dahinter stehende Wirklichkeitsordnung ergebnisoffen zu thematisieren, zu diskutieren und zu reflektieren. Was Erfolg versprechend ist, kann daher nicht eindeutig definiert, sondern nur anhand von Beispielen illustriert werden. Der entscheidende Faktor ist die konkrete, situative Deutungsmacht derjenigen, die an dieser Entstehungsphase beteiligt sind. Wenn z.B. ein Praktikant eine Idee hat, wie sich ein Unternehmen durch bestimmte Veränderungen im systemischen Verhalten neue Potenziale erschließen kann, so wird dies nicht zu organisationalen Veränderungen führen, wenn dieser Praktikant – wovon ausgegangen werden kann – selbst nicht die Macht innerhalb der Organisation besitzt, diese Veränderung anzustoßen, er aber auch keine Möglichkeit hat, seine Idee in Interaktionen mit Personen zu exteriorisieren, die diese Deutungsmacht haben. Eine konstruktive Gesprächsrunde über alternative Deutungsmöglichkeiten zwischen zwei Praktikanten wird kaum Auswirkungen auf die organisationale Wirklichkeitsordnung haben, ein Gespräch zwischen diesen Praktikanten und einer einflussreichen Führungskraft u.U. schon. Dieses Beispiel verdeutlicht zudem erneut, dass die Potenziale für Perturbationen verfestigter Wirklichkeiten und für alternative Konstruktionen im gesamten System verteilt sind, da jedes Organisationsmitglied partiell in mehreren Sozialsystemen vertreten ist und eine einzigartige, vielfältige Wirklichkeitsordnung hat. Daraus lässt sich die normative Forderung ableiten, im Sinne der Potenzialnutzung in der Organisation allen Mitgliedern zumindest die aktive Beteiligung an Prozessen kollektiver Wirklichkeitskonstruktion zu ermöglichen und dies aktiv zu fördern. Gerade Organisationsmitglieder, die noch nicht durch langjährige „Erfahrungen“ organisational in ihrer Wirklichkeitsordnung geprägt sind, können diese systemische Wirklichkeit eher reflektieren und irritieren. Meist haben gerade diese Organisationsmitglieder aber den geringsten Zugang zu gestalterischen Prozessen organisationaler Wirklichkeitskonstruktion. In größeren, komplexen Organisationen ist es i.d.R. sowohl unmöglich, alle Organisationsmitglieder aktiv an der Entstehungsphase eines organisationalen Lernprozesses in Form einer Interaktion teilhaben zu lassen, als auch, alle Organisationsmitglieder durch direkte zwischenmenschliche Interaktionen über die Veränderungen und ihre Gründe zu informieren und sie so zur individuellen Modifikation der organisationalen Bestandteile ihrer individuellen Wirklichkeitsordnung anzustoßen. 69
Die Entstehung der Modifikation, d.h. die erstmalige Irritation und darauf aufbauende Rekonstruktion kollektiver Deutungsmuster, erfolgt entweder im Sinnraum eines einzelnen Individuums, wenn dieses genug Deutungsmacht hat, oder in organisationalen Interaktionen, an denen ein begrenzter Personenkreis teilnimmt. Am Ende der Entstehungsphase wird in Organisationen i.d.R. eine Fixierung (z.B. in Form einer schriftlichen Anweisung) stehen, mit deren Hilfe im Interaktionsraum der Organisation die Modifikation der organisationalen Deutungsmuster durch gezielte, intentionale Interaktion und Kommunikation weiterverbreitet und somit umgesetzt werden soll. Diese Fixierung bildet den Übergang von der Entstehungs- in die Umsetzungsphase. Es ist davon auszugehen, dass insbesondere in größeren Organisationen individuelle Irritationen zuerst in direkten Interaktionen zwischen verschiedenen Organisationsmitgliedern thematisiert werden, bevor eine Fixierung, z.B. in schriftlichen Anweisungen, Strategiepapieren etc., erfolgt. Aufgrund der systemischen Selbstorganisation der Organisation und der polyzentrischen Machtverteilung ist es auch einzelnen Organisationsmitgliedern mit hoher Definitionsmacht nur in sehr begrenztem Maße möglich, individuelle Modifikationen organisationaler Deutungsmuster nur durch einseitige Kommunikationen als Anweisung an andere Organisationsmitglieder in geteilte, organisationale Wirklichkeiten umzusetzen. Zudem würde ein solch einseitiges Vorgehen das Potenzial an alternativen Deutungsmöglichkeiten, das durch die vielfältigen individuellen Wirklichkeitskonstruktionen in der Organisation vorhanden ist, vernachlässigen und ungenutzt lassen. In beiden Fällen bildet aber das Individuum den Ausgangspunkt für organisationale Veränderungen. Organisationale Wirklichkeitskonstruktion, also systemisches Beobachten und Handeln, ist nur durch individuelles Beobachten und Handeln möglich. Nur im individuellen Sinnraum können Irritationen und Störungen des Prozesses der Wirklichkeitskonstruktion wahrgenommen und alternative Deutungen entwickelt werden. Die Irritation verfestigter organisationaler Deutungsmuster bei einzelnen Individuen ist aber nicht ausreichend. Diese Irritationen bzw. alternativen Deutungen müssen auch in den organisationalen Interaktionsraum gelangen, da dort organisationale Wirklichkeit sozial konstruiert und modifiziert wird. In der Umsetzungsphase sollen diese im Sinnraum eines Individuums oder in Interaktionen eines kleineren Personenkreises neu konstruierten oder modifizierten Deutungsmuster in der Organisation verbreitet werden. Dazu müssen durch direkte Interaktionsprozesse und indirekte Kommunikation über Materialisierungen bei zumindest der Mehrzahl der relevanten Organisations-mitglieder, also den Personen, die die betroffenen Deutungsmuster im systemischen Beobachten und Verhalten anwenden, Prozesse der Wirklichkeitskonstruktion angeregt werden, die zu ähnlichen Interiorisierungen und individuellen Neukonstruktionen dieser organisa-
70
tionalen Deutungsmuster führen. 202 Diese Phase bildet den Schwerpunkt der Change-Management-Forschung, ist aber nicht der Forschungsgegenstand dieser Arbeit und wird daher nicht weitergehend verfolgt. Dennoch sei hier erneut betont, dass der angestrebte Wandel nicht durch Kommunikation im Sinne einer Botschaftenübermittlung erfolgt, sondern als kollektive und individuelle Wirklichkeitskonstruktion, die durch Kommunikationen und Interaktionen interpersonell angeregt und beeinflusst, aber nicht determiniert werden. Dies ist ein langfristiger, vielfältiger und komplexer Prozess, in dem eine Vielzahl individueller Irritations- und Lernprozesse erreicht werden muss.203 TP
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Beide dargestellten Phasen ergeben zusammengenommen einen idealtypischen Prozess organisationalen Wandels. Er ist im Folgenden dargestellt, wobei der Betrachtungsschwerpunkt entsprechend der Themenstellung der Arbeit auf der Initiierungsphase liegt. Diese kann, wie beschrieben, entweder im Sinnraum eines Organisationsmitgliedes oder im organisationalen Interaktionsraum stattfinden, wobei letztere Variante in komplexen Organisationen wahrscheinlicher ist. Abb. 10 fasst den Prozess zusammen. 1. Phase: Initiierung organisationalen Wandels 1. Ein Organisationsmitglied nimmt Irritationen bei der Anwendung organisationaler Deutungsmuster in der Beobachtung eines (organisationsbezogenen) Ereignisses wahr, die sich durch die Nicht-Viabilität des Deutungsmusters oder durch alternative, bisher nicht genutzte Deutungsmöglichkeiten ergeben. Im Fall einer Interaktion kann dies entweder ein Ereignis außerhalb der Interaktion selbst sein, über das gesprochen wird, aber auch ein Interaktionsbeitrag eines anderen Teilnehmers. a) Weiterer Verlauf innerhalb einer Interaktion 2a. Das Organisationsmitglied exteriorisiert diese Irritation und ggf. seine modifizierte Deutung des Ereignisses im Interaktionsraum der Organisation (Gruppe, Meeting, informelle Situation etc.). 3. Die Exteriorisierung führt zur Irritation der organisationalen Deutungsmuster bei den anderen Interaktionsteilnehmern. 202 TP
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203 PT
So mag z.B. die Veränderung einer Verfahrenstechnologie in der Produktion für den Personalbereich eines Unternehmens nicht unbedingt von Bedeutung sein, da sich die Vertreter der Personalabteilung bei ihren systemischen Deutungen und Handlungen (also als Mitglied der Organisation) i.d.R. nicht auf diese Teile der organisationalen Wirklichkeitsordnung beziehen. Daher ist es in dieser Situation nicht wichtig, ob die Personalabteilung diese Veränderung der organisationalen Wirklichkeit mit vollzieht. Anders sieht dies aus, wenn die Verfahrensänderung relevant für die Personalauswahl und -entwicklung wird, da hier systemisches Handeln unter Bezugnahme auf die modifizierte organisationale Wirklichkeit notwendig ist. Vgl. Rüegg-Stürm 2001:281
71
4. Es kommt zur Thematisierung der Irritationen. Deutungen und dahinter stehende Deutungsmuster, Grundannahmen etc. werden reflexiv diskutiert, indem alle Interaktionsbeteiligten ihre individuellen Deutungen exteriorisieren, andere Beiträge interpretieren, variieren und in ihren Exteriorisierungen darauf Bezug nehmen. Dadurch wird soziale Wirklichkeit konstruiert. 5. Die Interaktionsgruppe kommt zu einer gemeinsamen Deutung der Situation, in der aufgrund der Verarbeitung der Irritation bestehende Deutungsmuster modifiziert und relativiert sowie ggf. neue, alternative Deutungsmuster entwickelt wurden. Grundlage für diese Einigung ist ein gemeinsames Verständnis, also nicht die individuell übereinstimmende Interpretation, sondern die Angleichung soweit, dass die daraus resultierenden Exteriorisierungen in der Wahrnehmung der Beteiligten nicht ihren Erwartungen widersprechen. Die gemeinsam entwickelte Wirklichkeitsdeutung und die modifizierten bzw. neuen organisationalen Deutungsmuster werden durch die Beteiligten interiorisiert. (Diese Interiorisierung findet natürlich während des gesamten sozialen Konstruktionsprozesses statt; für den organisationalen Wandel ist die Interiorisierung am Ende des Prozesses mit dem gemeinsamen Ergebnis entscheidend; die Interiorisierung des abgelaufenen Prozesses ist aber für das Verständnis der Ergebnisentwicklung inkl. der Argumentation wichtig.) b) Weiterer Verlauf ohne Interaktion 2b. Das Organisationsmitglied hat genügend individuelle Deutungsmacht innerhalb der Organisation, um eine erfolgreiche organisationale Veränderung nur über die Kommunikation mittels Fixierungen im Interaktionsraum anzustoßen (z.B. ein Firmenchef in einem kleineren, inhabergeführten Unternehmen). Dieses Organisationsmitglied reflektiert die bisherigen, bewährten Deutungen und dahinter stehenden Deutungsmuster, Grundannahmen etc. und konstruiert eine alternative Wirklichkeitsdeutung sowie modifizierte Deutungsmuster, von denen es eine höhere Viabilität in der organisationalen Anwendung erwartet. 2. Phase: Umsetzung organisationaler Veränderungen 6. Im Folgenden muss das Ergebnis der individuellen oder sozialen Wirklichkeitskonstruktion in der gesamten Organisation verbreitet werden, zumindest bei den Mitgliedern, die sich in ihrem systemischen Handeln auf die thematisierten Deutungsmuster beziehen. Entscheidend dafür ist, dass die Deutungsmacht der einzelnen Person bzw. der an der Interaktion Beteiligten innerhalb der Organisation groß genug ist, um andere Organisationsmitglieder gezielt zur Reflexion und Modifikation ihrer individuellen Wirklichkeitsordnung anzustoßen. Die Verbreitung kann zum einen über Interaktionen erfolgen, also die Thematisierung der Irritationen und Veränderungen in Face-to-face-Situationen mit anderen OrganisaU
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tionsmitgliedern, zum anderen über indirekte Kommunikationen mittels Fixierungen und Materialisierungen der Veränderungen. Diese indirekten Kommunikationen werden in komplexen Systemen i.d.R. zu weiteren Interaktionsprozessen führen, in denen sich organisationsinterne Gruppen über ihre individuellen Interpretationen dieser Fixierungen austauschen und somit ebenfalls soziale Wirklichkeiten konstruieren. Die Komplexität und Vielfalt dieser organisationsinternen Konstruktionsprozesse über Interaktionen und Kommunikationen führt zu der Selbstorganisiertheit der Organisation und, wie in Kap. 2.3.3 beschrieben, zur Nicht-Determinierbarkeit organisationaler Veränderungen. 7. Die organisationale Veränderung hat sich vorläufig vollzogen, wenn die Betroffenen die modifizierten bzw. neuen Deutungsmuster individuell reinterpretiert in ihre eigene Wirklichkeitskonstruktion übernommen haben und in ihren organisationalen Beobachtungen und Handlungen verwenden. 8. Um tatsächlich verfestigter Bestandteil der organisationalen Wirklichkeit zu werden, müssen sich die neuen bzw. modifizierten Deutungsmuster als viabel erweisen und sich so rekursiv verfestigen. Interaktionen bilden somit den Kern organisationalen Wandels, da die Veränderung der kollektiven Wirklichkeitsordnung nur über gemeinsame Konstruktionsprozesse möglich ist.
73
Beobachtung
Beobachtung
Ereignis mit Organisationsbezug
1 Individuelle Irritation organisationaler Deutungsmuster bzw. Deutung organistionaler Kontextereignisse mit nicht-organisationalen Deutungsmustern
Individuelle Iritation der verfestigten organisationalen Deutungsmuster bei den anderen Interaktionsteilnehmern 3
Exteriorisierung
2
Interaktionsbeitrag als Ereignis im Interaktionsraum
Beobachtung
Jeweils individuelle Deutung der Beobachtung/Irritation unter Bezugnahme auf individuelle und organisationale Wirklichkeitsordnung 4 Beobachtung Exteriorisierung
Zirkuläre Interaktionen als Ereignisse im Interaktionsraum; Thematisierung und reflexive Diskussion der Deutungen und Deutungsmuster
Beobachtung Exteriorisierung
5
Phase I Phase II
Soziale Konstruktion; Kollektive Entscheidung; Wahrgenommene Übereinstimmung in den individuellen Deutungen 6
Kommunikation über Fixierung und Materialisierung der Entscheidung Vielzahl systeminterner Interaktionen
7 Verfestigung in organisationaler Wirklichkeitsordnung Anwendung in Systemwahrnehmung und Systemverhalten 8
Beobachtung der Auswirkungen Konstruktion der Viabilität
Auswirkungen = Ereignisse mit Organisationsbezug
Abb. 10: Der Prozess des organisationalen Wandels
74
3.4
Das Management von organisationalem Wandel: Ermöglichung statt Determinierung
Im Kapitel 2.3.3 wurde gezeigt, dass Organisationen als komplexe selbstorganisierende Sozialsysteme nicht im deterministischen Sinn geführt und gesteuert werden können. Diese Feststellung gilt auch für das Management von organisationalem Wandel. Die Veränderung der Organisation als Veränderung der kollektiven Wirklichkeitskonstruktionen ergibt sich im Interaktions- und im Bedeutungsraum und unterliegt den emergenten Systemeigenschaften sowie dem Konservatismus der Organisation. Sie kann vom Management gefördert und beeinflusst, nicht aber Insbesondere Ansätze des Change deterministisch gesteuert werden.204 Management, die auf der Prämisse der überlegenen Deutungskompetenz der Organisationsführung basieren (z.B. sog. „Bombenwurf“-Strategie, Top-DownStrategie) und die Selbstorganisationsprozesse des Sozialsystems vernachlässigen, werden i.d.R. nicht erfolgreich in der Zielsetzung sein, organisationale Wirklichkeiten zu verordnen und durchzusetzen, die im kleinen Personenkreis „hinter verschlossenen Türen“ entwickelt wurden.205 Das Management von komplexen Sozialsystemen kann aus der konstruktivistisch-systemtheoretischen Perspektive nicht deterministisch erfolgen: TP
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„Erfolg beim Management von Wandel hängt immer und meistens in erheblichem Ausmaß von Glücksbedingungen und günstigen Konstellationen ab. Gelingen und Misslingen liegen oft viel näher beieinander als ein oberflächlicher Einblick zu vermitteln vermag. Dies hat auch Implikationen für ein angemessenes Verständnis des Management von Wandel. Ein aufmerksamer Umgang mit den Grenzen der Machbarkeit tut Not, denn systemische Irritationstoleranz, Organisationsbewusstheit und Vertrauen lassen sich nicht gestalten und entwickeln wie z.B. ein zweckmäßiges Produktlayout. Meistens muss eine unüberblickbare Zahl an Ereignisströmen, Beziehungs- und Kommunikationsprozessen synergetisch zusammenwirken, damit Wandel konstruktiv voranschreitet.“206 TP
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Das Management hat im Rahmen der organisationalen Entwicklung aber die Möglichkeit und Aufgabe, durch die Bewusstmachung der Kontingenz des Alltagsgeschehens, die systematische Aktivierung des diskursiven Bewusstseins und die permanente kommunikative Reflexion des laufenden Geschehens die ständige Hinterfragung der bestehenden Deutungsmuster aktiv zu fördern, das organisationsinterne Repertoire alternativer Wirklichkeitskonstruktionen und Handlungsmöglichkeiten zu erhöhen und dadurch die Prozesse individuellen und organisationalen 204 TP
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205 TP
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Vgl. Probst 1987:84ff; Manella 2003:120ff Vgl. Hejl/Stahl 2000a:22; Rüegg-Stürm 2000 Vgl. Rüegg-Stürm 2001:344
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Lernens sowie organisationaler Entwicklung zu unterstützen.207 Insbesondere die individuellen Freiräume sowie die Diskussionskultur in der Organisation sind dabei von entscheidender Bedeutung.208 Über diese Gestaltung der Rahmenbedingungen für die generelle Entwicklungsfähigkeit in der gesamten Organisation hinaus liegt die Aufgabe des Management aber auch darin, selbst wesentlicher Treiber und Initiator von Veränderungsprozessen zu sein, indem es permanent die Prämissen des eigenen Handelns und Entscheidens hinterfragt und nach alternativen Wirklichkeitskonstruktionen sucht.209 Daher ist der oben dargestellte Prozess des organisationalen Wandels im Interaktionsraum auch nicht im herkömmlichen Sinn zu verstehen, dass die direkte Interaktion der Phase 1 ausschließlich im TopManagement einer Organisation stattfindet, welches dann eine getroffene Entscheidung zur Umsetzung „nach unten“ kommuniziert. Vielmehr können solche Thematisierungen von individuellen Irritationen überall in der Organisation stattfinden und auch tatsächlich Wandel auslösend sein, wenn dies in der Organisation zugelassen wird, d.h. wenn auch Organisationsmitglieder ohne große formale Definitionsmacht entsprechende Partizipationsmöglichkeiten an den Prozessen kollektiver organisationaler Wirklichkeitskonstruktion haben. TP
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Jene Teile der kollektiven Wirklichkeitsordnung, die sich auf die generelle Entwicklungs- und Wandelfähigkeit der Organisation beziehen und als Ordnungsmomente 2. Ordnung bezeichnet wurden,210 können als Wandel 2. Ordnung selbst Teil organisationaler Veränderungen sein. 211 Auch dieser Wandel 2. Ordnung unterliegt den Bedingungen des selbstorganisierenden Sozialsystems, d.h. Einflussnahme und Förderung durch einzelne Personen im Allgemeinen bzw. das Management im Besonderen sind zwar möglich, stellen aber nur einen Beitrag im Gesamtkontext der Selbstorganisation dar. Das Management kann somit durch intentionale Interventionen versuchen, die Wandelfähigkeit der Organisation zu erhöhen (dies ist sogar eine der wesentlichen Aufgaben des Managements, s.o.), ist in den weiteren Entwicklungen und Ergebnissen aber von den Systementwicklungen abhängig. Insbesondere die in früheren Episoden von Wandel erster Ordnung gemachten individuellen und kollektiven Erfahrungen der Organisationsmitglieder zu Möglichkeiten und Grenzen organisationaler Veränderung sowie der eigenen Partizipation daran hinterlassen wichtige Spuren in der Wandelfähigkeit der Organisation. So können sich vermeintlich erfolgreiche kurz- bis mittelfristige Veränderungen erster Ordnung längerfristig als Fehlschläge herausstellen, wenn aufgrund der Durchführung dieser Veränderungen die individuelle und TP
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Vgl. Rüegg-Stürm 2001:280f; Hejl/Stahl 2000a:23ff Vgl. Baitsch 1993:37f; Rüegg-Stürm 2000:227f; 2001:271 Vgl. Probst 1987:113ff; Hejl/Stahl 2000b:125f Vgl. Kap. 4.1.2.3 Der Begriff Wandel 2. Ordnung wird hier als Wandel der Wandelfähigkeit verwendet, abweichend von herkömmlichen Verwendungen des Begriffes als tiefgreifender/einschneidender Wandel mit Veränderung des Bezugssystems (vgl. z.B. Staehle 1991:829; Krüger 1994:203)
organisationale Bereitschaft bzw. Fähigkeit zu Lernen und Veränderung (z.B. durch Vertrauensverlust oder erlebte fehlende Partizipationsmöglichkeiten) abgenommen hat. Eine entwicklungsorientierte, systemisch-konstruktivistische Managementperspektive sollte daher insbesondere auch die Auswirkungen des eigenen Handelns auf die organisationale Wandelfähigkeit beachten.212 TP
3.5
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Zwischenfazit: organisationaler Wandel
Die Voraussetzungen und Möglichkeiten organisationalen Wandels organisationaler Wandelfähigkeit lassen sich wie folgt zusammenfassen: -
Organisationaler Wandel ist die Modifikation der organisationalen Wirklichkeitsordnung durch De-, Re- und Neukonstruktion von kollektiven Deutungsmustern in intraorganisationalen Interaktionsprozessen und ihre rekursive Verfestigung durch viable Anwendung. Organisationen sind grundsätzlich konservativ, da zum einen das einzelne Mitglied ein operativ geschlossenes, selbstreferentielles (vergangenheitsgebundenes) kognitives System ist, welches Wahrnehmungen in Assimilationsprozessen weitgehend an die bestehende Wirklichkeitsordnung anpassen kann, zum anderen durch die Anwendung und Weitergabe sowie Sanktionierung von Abweichungen die verfestigte Wirklichkeitsordnung in sozialen Systemen fortgeführt und bewahrt wird. Gleichzeitig ist organisationales Beobachten und Handeln aber immer kontingent, es gibt keine deterministischen Sachzwänge, sondern immer Deutungs- und Entscheidungsalternativen. Quelle dieser Kontingenz und potentiellen Veränderung sind ebenfalls die Organisationsmitglieder, da sie nur partiell in das Sozialsystem Organisation eingeschlossen sind, gleichzeitig aber in vielen anderen Sozialsystemen „Mitglied“ sind; daher bestehen ihre individuellen Wirklichkeitsordnungen aus Deutungsmustern verschiedenster Sozialsysteme, die sie in den Prozess organisationaler Wirklichkeitskonstruktion mit einbringen. Als selbstreferentielle Systeme re-interpretieren, übernehmen und verbinden sie zudem die verschiedenen sozialen Deutungsmuster in ihrer Wirklichkeitskonstruktion individuell einzigartig, was in kollektiven Prozessen der Wirklichkeitskonstruktion ebenfalls zu neuartigen Deutungen und Irritationen führen kann. Um den organisationalen (und individuellen) Konservatismus zu überwinden und organisationale Deutungsmuster zu modifizieren, bedarf es aber einer nicht assimilierten Irritation dieser Deutungsmuster und Störung des Konstruktionsprozesses, indem sich die Deutungsmuster als nicht viabel oder als nicht
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212 TP
und
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Vgl. Baitsch 1993:34f; Rüegg-Stürm 2001:312f
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einzigartig erweisen. Zudem muss diese Irritation und Störung in organisationalen Interaktionsprozessen thematisiert werden, da nur in ihnen kollektive Wirklichkeit konstruiert wird. In diesen Thematisierungen müssen die der gestörten Wirklichkeitskonstruktion zugrunde liegenden, verfestigen kollektiven Deutungsmuster reflektiert und – um von Wandel sprechen zu können – modifiziert werden. Organisationale Wandelfähigkeit meint in diesem Zusammenhang somit die Fähigkeit der Organisationen, potentiell vorhandene Störungen und Irritationen zu erkennen, zu thematisieren und ergebnisoffen zu reflektieren. Die Irritation der verfestigten organisationalen Deutungsmuster kann nur von Individuen wahrgenommen und als Exteriorisierung in organisationale Interaktionsräume eingebracht werden. Die tatsächliche Hinterfragung und ggf. Modifikation der kollektiven Deutungsmuster ist wiederum nur durch ihre Thematisierung und Reflexion in Prozessen der sozialen Wirklichkeitskonstruktionen durch interpersonale Kommunikation und Interaktion im organisationalen Interaktionsraum möglich. Erst wenn sich die modifizierten Deutungsmuster in wiederholter Anwendung als viabel erweisen, verfestigen sie sich rekursiv in der organisationalen Wirklichkeitsordnung und vollenden den Lern- und Veränderungsprozess. Dabei müssen ältere Deutungsmuster und Routinen aber nicht zwangsläufig verlernt werden, sondern können als Alternativen in der organisationalen Wirklichkeitsordnung bestehen bleiben.
4
Zwischenmenschliche Konflikte in Organisationen als Ausgangspunkt für organisationalen Wandel
Im vorangegangenen Kapitel wurde gezeigt, dass organisationaler Wandel als Ausgangspunkt die nicht assimilierte Irritation bestehender organisationaler Deutungsmuster bei einzelnen Individuen sowie die Einbringung und Thematisierung dieser Irritationen in organisationalen Interaktionen voraussetzt. Diese Irritation und ihre Thematisierung kann durch einzelne Personen mit starken Einflussmöglichkeiten oder durch Interaktionen in kleineren Gruppen erreicht werden. Im Folgenden soll die zentrale Forschungsthese dieser Arbeit geprüft werden, ob und unter welchen Bedingungen zwischenmenschliche Konflikte als eine Form der Interaktion solche Irritationen und deren Thematisierung in Gruppen auslösen bzw. beinhalten kann. Zuvor wird als Voraussetzung dafür eine Konfliktkonzeption entwickelt, der aufbauend auf dem Bezugsrahmen der Arbeit das Begriffsverständnis, die Entstehung, den Verlauf und die Konsequenzen von zwischenmenschlichen Konflikten sowie das Konfliktmanagement aus konstruktivistischer Sicht herleitet.
4.1
Konstruktivistische Konfliktkonzeption dieser Arbeit T
Einen auf einer konstruktivistischen Epistemologie basierenden konflikt-theoretischen Ansatz gibt es bisher meines Wissens nicht. Dennoch wurde bereits in einigen Veröffentlichungen explizit oder implizit auf die Konstruktivität von Konflikten und Konfliktforschung hingewiesen. So bezeichnet z.B. Berkel (1984) Konflikte als Interpretationen und Konflikttheorien als Interpretationsschemata, die je nach Perspektive einen Konflikt unterschiedlich deuten und interpretieren. Selbst der Begriff „Konflikt“ ist damit ein Interpretationsschema, da es keine einheitliche Definition gibt.213 Kognitive Perspektiven betonen die Bedeutung der individuellen Wahrnehmung und Deutung des Geschehens (inkl. der Attribution von Zielen der anderen Konfliktpartei aus deren Verhalten) für das Verhalten eines Individuums in Konflikten.214 Fietkau (2000) bezeichnet den Begriff „Konflikt“ explizit als gedankliche, soziale Konstruktion, die keinen beobachtbaren Sachverhalt darstellt, sondern eine nicht beobachtbare Beziehung zwischen Menschen.215 TP
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Grundsätzlich sind Konflikte aus konstruktivistischer Perspektive in mehrerer Hinsicht Konstrukte:
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Vgl. Berkel 1984:60f: Allerdings verwendet Berkel die Begriffe in Anführungszeichen, legt ihnen keine konstruktivistische Epistemologie zugrunde und greift sie auch in späteren Veröffentlichungen nicht mehr auf (vgl. Berkel 1987, 1995, 2003, 2005) Vgl. z.B. Pinkley 1990, Pinkley/Northcraft 1994, Baron 1997 Vgl. Fietkau 2000:34
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Das Erleben einer Interaktion als Konflikt im Prozess der (Selbst-) Beobachtung und Interpretation ist eine subjektive Konstruktion. So kann es vorkommen, dass Beteiligte eine Interaktion unterschiedlich interpretieren, ein Beteiligter bspw. einen Konflikt wahrnimmt, ein anderer nicht. Die Wahrnehmung und Interpretation einer Interaktion zwischen anderen Akteuren als Konflikt durch einen außenstehenden Beobachter ist ebenfalls nur eine beobachterabhängige Konstruktion, die von den wahrgenommenen Konfliktparteien oder anderen Beobachtern ggf. anders gedeutet wird. Zudem ist der Beobachter, solange er durch die anderen Interaktionsbeteiligten wahrgenommen wird, selbst aktiver Bestandteil der Interaktion, da NichtKommunikation bei wechselseitig wahrgenommener Anwesenheit unmöglich ist. Einen objektiven Außenstehenden gibt es somit nicht. Dies ist insbesondere bei der Konfliktmoderation oder Mediation durch Führungskräfte bzw. eine sog. dritte Partei wichtig. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Konflikten ist ebenfalls ein Konstruktionsprozess; Definitionen, Typologien, Struktur- und Prozessmodelle sowie Interventionsmethoden sind Konstrukte, die vom Forschungsstandpunkt, der Zielsetzung, der Zugehörigkeit zu einer wissenschaftlichen Community usw. abhängig sind. Alle Modelle zum Konfliktprozess sind (i.d.R. wissenschaftliche) individuelle und ggf. kollektive Konstruktionen, die einer bestimmten Intention, einer individuellen Wirklichkeitsordnung des Theoretikers sowie einer sozialen Wirklichkeitsordnung der wissenschaftlichen Community entspringen. Ihre Berechtigung ergibt sich aus ihrer Viabilität für die Beschreibung, Erklärung und normative Bearbeitung von zwischenmenschlichen Phänomenen, die als zwischenmenschlicher Konflikt definiert werden.
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Im Folgenden wird zunächst basierend auf dem Bezugsrahmen sowie der bestehenden Konfliktforschung ein konstruktivistisches Konfliktverständnis für diese Arbeit hergeleitet, um darauf aufbauend die Kernthese der Arbeit zu prüfen (Kap. 4.2).
4.1.1 Konflikte als unvereinbare Deutungen im Interaktionsraum In der bisherigen Konfliktforschung existiert keine allgemein akzeptierte Definition von zwischenmenschlichen Konflikten, sondern eine Vielzahl von Ansätzen und Theorien, die unterschiedliche Vorstellungen über die Merkmale der Konfliktsituation und des Konfliktverlaufes, die Ursachen und Rahmenbedingungen sowie Auswirkungen und Interventionsmöglichkeiten zum Ausdruck bringen.216 Die TP
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Vgl. Grunwald 1981:52f; Thomas 1992:653; Frank/Frey 2002:120; Glasl 2004:14ff; Rüttinger/Sauer 2000:5; Konfliktforschung wird in verschiedenen Wissenschaften (z.B. Psychologie, Soziologie, Politologie und Betriebswirtschaftlehre) mit unterschiedlichen Ziel-
Gemeinsamkeit aller Konfliktdefinitionen liegt in der Unvereinbarkeit bzw. Differenz zwischen zwei Dingen in einem bestimmten Zeitpunkt.217 Der Duden beschreibt den Begriff Konflikt als „(lat. „Zusammenstoß“) Zwiespalt, (Wider)streit“218 bzw. „1. a) (bewaffnete, militärische) Auseinandersetzung zwischen Staaten; b) Streit, Zerwürfnis; 2. Widerstreit der Motive, Zwiespalt“.219 Zwischenmenschliche Konflikte werden dementsprechend definiert als Gegensätzlichkeiten bzw. Unvereinbarkeiten zwischen Interessen, Zielen, Handlungstendenzen/-plänen, Meinungen, Wahrnehmungen, Gefühlen, Wertvorstellungen, Auffassungen, Zukunftsperspektiven und/oder Handlungen und Verhalten von mindestens zwei Menschen, die wechselseitig voneinander abhängig sind, also ihre Konfliktpositionen nicht beide gleichzeitig durchsetzen können.220 Aus der konstruktivistischen Perspektive dieser Arbeit ist ein zwischen-menschlicher Konflikt grundsätzlich eine Interaktion zwischen mindestens zwei Personen, also im Modell der Wirklichkeitsräume von Frindte im Interaktionsraum verortet. Die Beteiligten regen sich durch ihre Interaktionsbeiträge wechselseitig zur Konstruktion von Wirklichkeit an, indem sie ihre individuellen Deutungen exteriorisieren und dabei auf vorherige Interaktionsbeiträge anderer Bezug nehmen, sie modifizieren, kommentieren und erweitern. Durch diese permanente zirkuläre Bezugnahme auf die in der Interaktion geleisteten Exteriorisierungen konstruieren die Beteiligten gemeinsam eine soziale Wirklichkeit, die sie, individuell re-interpretiert, in die individuelle Wirklichkeitsordnung integrieren. Dementsprechend definiere ich einen Konflikt als eine spezielle Interaktion, in der zumindest ein Beteiligter a) eine Unvereinbarkeit der exteriorisierten Deutungen mindestens eines anderen Interaktionspartners mit seinen eigenen Deutungen (inkl. daraus abgeleiteter Zielsetzungen und Handlungsintentionen) wahrnimmt, b) gleichzeitig eine Interdependenz zwischen den Interaktionsbeteiligten annimmt, d.h. die Notwendigkeit, zu einer gemeinsam entwickelten und übereinstimmend geteilten kollektiven Wirklichkeitskonstruktion zu gelangen, c) aufgrund dieser individuellen Deutung eigene Exteriorisierungen (kommunikatives Verhalten) wählt, die zur Durchsetzung seiner individuellen Deutung im sozialen Konstruktionsprozess führen sollen (vgl. Abb. 11). TP
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setzungen, Denkweisen und auf unterschiedlichen Analyseebenen betrieben. Daher existiert eine enorme Vielfalt und Heterogenität an Begriffsdefinitionen und -konzeptionen, die Konflikte als intra- und interpersonales, intra- und intergruppales, intra- und interorganisationales, innergesellschaftliches und/oder internationales Phänomen begreifen (vgl. Deutsch 1976:18f; Grunwald 1981:50; Bieder 1988:58; Glasl 2004:57ff; Bosshard 1988:43; Bonacker 1996:16; Regnet 2001:7; Frank/Frey 2002:120f; Hugo-Becker/Becker 1996:87f). Entsprechend der Problemstellung wird in der vorliegenden Arbeit der Forschungsbereich auf zwischenmenschliche Konflikte in Organisationen eingeschränkt. Vgl. Bieder 1988:60f; Berkel 1984:54; 1995:270; Grunwald 1981:52; Thomas 1992:653 Duden: Deutsche Rechtschreibung Duden: Fremdwörterbuch Vgl. z.B. Schmidt/Kochan 1972:361; Dorow/Grunwald 1980:510ff; Rüttinger 1980:22; Berkel 1987:153; 2003:399; 2005:194; Thomas 1992:653; Rüttinger/Sauer 2000:7f; v. Rosenstiel 2003:301; Glasl 2004:17
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INDIVIDUUM B
Ereignis
INDIVIDUUM A
Beobachtung
WirklichkeitsOrdnung
Beobachtung
Exteriorisierte Deutung von B ist nicht mit eigenen Deutungen des Interaktionsthemas und eigenen Zielen vereinbar
Wahrnehmung und Interpretation des Ereignisses (Interaktionsthemas) 2.
verfestigte Deutungsmuster 3.
Verhalten
Interaktionsbeitrag/ Exteriorisierung mit dem Ziel, die eigene Deutung durchzusetzen (Widerspruch, Argumentation)
Wirklichkeitsordnung verfestigte Deutungsmuster
1. Verhalten Interaktionsbeitrag/ Exteriorisierung
ALLTAGSSTROM B ALLTAGSSTROM A
Abb. 11: Konfliktkonstellation aus konstruktivistischer Perspektive
Die drei Definitionsmerkmale sollen im Folgenden etwas detaillierter ausgeführt werden. a) Wahrnehmung von Unvereinbarkeiten in Wirklichkeitskonstruktionen Jeder Beteiligte einer Interaktion konstruiert auf Basis seiner Wirklichkeitsordnung (inkl. seiner Erfahrungen, Werte, Einstellungen, Motiven, Handlungsziele, Interessen) eine individuelle Wirklichkeit vom Thema der Interaktion und von der Interaktion selbst, vom idealen Interaktionsverlauf und vom optimalen Interaktionsergebnis, also der gemeinsamen, sozialen Wirklichkeitskonstruktion. Gleichzeitig sind die Interaktionspartner und damit auch deren vermutete Wirklichkeitskonstruktionen und Handlungsabsichten individuelle, beobachterabhängige Konstruktionen. Sie stützen sich auf die Beobachtung des Verhaltens der Interaktionspartner, die generalisierten und memorisierten Erfahrungen (mit dieser oder anderen Personen, in ähnlichen oder völlig anderen Situationen) in der individuellen Wirklichkeitsordnung sowie die selbstreflexiven Sinnzuschreibungen, also die implizite ich-gleiche Unterstellung von Eigenschaften, Einstellungen, Normen, Werten usw. Bei einem Konflikt beobachtet ein Interaktionsteilnehmer eine Unvereinbarkeit zwischen der eigenen Wirklichkeits82
deutung und Handlungsabsicht und den Konstruktionen über die Deutungen und Handlungsabsichten der anderen Beteiligten, d.h. seine Idealvorstellung von einer kollektiven Wirklichkeitskonstruktion und den daraus folgenden Handlungsabsichten kann nicht gleichzeitig mit anderen exteriorisierten Deutungen und Handlungsabsichten Ergebnis einer gemeinsamen Konstruktion sein. In der klassischen Konfliktforschung gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, ob die Wahrnehmung der Gegensätzlichkeit oder Unvereinbarkeit notwendig ist, um von einem Konflikt sprechen zu können. Während ein Teil der Definitionen die Wahrnehmung der Unvereinbarkeit durch die Konfliktparteien als notwendige Bedingung für einen Konflikt ansieht,221 sprechen andere Definitionen bereits beim Vorliegen bestimmter Kriterien von Konflikten und nennen die Wahrnehmung der Unvereinbarkeit durch die Konfliktparteien nicht explizit als Voraussetzung.222 Einige Definitionen bezeichnen es sogar explizit als nicht notwendig, dass sich die Parteien der Unvereinbarkeit ihrer Konfliktgegenstände bewusst sind.223 Unter den Definitionen, die die Wahrnehmung der Unvereinbarkeit als notwendig ansehen, vertreten einige wiederum die Ansicht, dass sich beide bzw. alle Beteiligten der Unvereinbarkeit bewusst sein müssen,224 während für die meisten Definitionen die Wahrnehmung einer Unvereinbarkeit durch eine Partei ausreichend ist, um von einem Konflikt zu sprechen.225 Aus der konstruktivistischen Perspektive dieser Arbeit ist diese Frage eindeutig: nur die Wahrnehmung und Interpretation eines Ereignisses durch ein Individuum ist ausschlaggebend. Wird durch das Individuum im Alltagsstrom keine Unvereinbarkeit in den Wirklichkeitskonstruktionen wahrgenommen, kann auch kein Konflikt vorliegen. Es gibt keine „unechten“ bzw. „nicht realen“ Konflikte im Sinn einer Vergleichbarkeit mit irgendeiner objektiven Realität. Davon unbenommen bleibt, dass Beteiligte oder ein externer Beobachter den Konfliktgegenstand als „objektiv“ nicht vorhanden und somit einen Konflikt als „unecht“ oder „verschoben“ definiert (und ggf. in Konfliktbewältigungsmaßnahmen die Konfliktparteien davon überzeugt). Umgekehrt kann ein Dritter als Beobachter auch eine Situation zwischen zwei anderen Personen als potentiellen Konflikt konstruieren. Solange diese die Situation aber nicht so wahrnehmen, kann aus konstruktivistischer Sicht auch nicht von einem zwischenmenschlichen Konflikt gesprochen werden; er ist keine beobachtete und verhaltensrelevante Wirklichkeit der Beteiligten. TP
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Vgl. Schmidt/Kochan 1972:361; Kriesberg 1998:2; Dorow/Grunwald 1980:510; Prein 1982:1 (aus dem Holländischen übersetzt und zitiert in Glasl 2004:16); Glasl 2003:123; 2004:17; Thomas 1992:653; Regnet 2001:9; Wottawa/Gluminski 1995:101 Vgl. Mack/Snyder 1957:218f; Krüger 1973:17f; Deutsch 1976:18; Bieder 1988:69f; Brommer 1994:14; Höher/Höher 2002:49; Rüttinger 1989; Berkel 1984:55; 1987:153; 2003:399; 2005:194 Vgl. z.B. Dahrendorf 1961:201f. Hugo-Becker/Becker 1996:90f. Allerdings ist anzumerken, dass Dahrendorf eher soziologische Konflikte thematisiert. Hugo-Becker/Becker sprechen von schwelenden oder unbewussten Konflikten. Vgl. z.B. Rüttinger 1980:22ff; Rüttinger/Sauer 2000:10; v. Rosenstiel 2003:301 Vgl. z.B. Glasl 2003:123; 2004:17; Thomas 1992:653; Wottawa/Gluminski 1995:101; Regnet 2001:9f; Prein 1982:1 (aus dem Holländischen übersetzt und zitiert in Glasl 2004:16)
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b) Wahrnehmung einer Interdependenz Der Beteiligte, der die Unvereinbarkeit der Deutungen wahrnimmt, glaubt gleichzeitig an die Notwendigkeit einer gemeinsamen sozialen Konstruktion, die von allen Beteiligten als kollektives Interaktionsergebnis akzeptiert wird und entsprechende Handlungskonsequenzen enthält. Die Beteiligten sind somit in der sozialen Wirklichkeitskonstruktion wechselseitig voneinander abhängig, widersprüchliche individuelle Deutungen können nicht gleichzeitig vollständig in einer kollektiven Deutung Einklang finden. Die wechselseitige Abhängigkeit ist ebenfalls eine individuelle Konstruktion und kann zusätzlich eine kollektive Konstruktion sein, wenn dies in der Interaktion thematisiert wurde oder Bestandteil einer verfestigten organisationalen Wirklichkeit ist. Die Notwendigkeit zur Einigung kann von den Interaktionspartnern bzw. Beobachtern unterschiedlich wahrgenommen werden. Relativ eindeutig ist eine Situation, in der ein gemeinsames Ergebnis und gemeinsames, aufeinander abgestimmtes Handeln explizite Erwartung der Interaktion sind, so z.B. in den meisten formalen Besprechungen im Unternehmenskontext. Möglich ist auch, dass zwei Personen in einer Interaktionssituation verschiedene individuelle Interpretationen und Wirklichkeitskonstruktionen exteriorisieren und sich dadurch wechselseitig irritierend zur Wirklichkeitskonstruktion anregen, beide aber nicht die Notwendigkeit einer Einigung sehen und die individuellen Konstruktionen parallel akzeptieren (Austausch von Positionen). In dieser Situation liegt kein Konflikt vor. Als dritte Möglichkeit kann es aber auch sein, dass eine der beteiligten Personen eine gemeinsame, geteilte Konstruktion als notwendig oder wünschenswert ansieht und anstrebt. Dies muss für andere Beteiligte oder Beobachter, die dies nicht so sehen, nicht unbedingt nachvollziehbar und begründbar sein. Die Wahrnehmung einer Einigungsnotwendigkeit oder das Bestreben nach Einigung bei einer Person kann auch auf persönlichen, z.T. nicht bewussten Gründen beruhen, z.B. dem Wunsch, sich in einer Interaktion mit einer anderen Person zu behaupten und ihre Sichtweise durchzusetzen. In Kap. 2.1 wurde gezeigt, dass mit der rekursiven Verfestigung der individuellen Wirklichkeitsordnung häufig die unreflektierte Annahme einhergeht, dass die eigenen Deutungsmuster die einzig viablen sind. Daher kann es bei unvereinbaren Deutungen aufgrund unterschiedlicher Deutungsmuster auch dann zu Überzeugungsversuchen kommen, wenn keine formale Notwendigkeit zu einer kollektiven Deutung besteht. c) Exteriorisierungen zur Durchsetzung der eigenen Deutung Während ein Teil der klassischen Konfliktansätze erst dann von zwischenmenschlichen Konflikten spricht, wenn sich die Widersprüche und Unvereinbarkeiten tatsächlich in Konfliktverhalten äußern, also zumindest einer der Akteure aufgrund der Konfliktsituation bzw. seiner Wahrnehmung in aktivem Verhalten versucht, seine 84
Handlungsziele (Intensionen, Absichten etc.) gegen die andere Partei durchzusetzen,226 definieren andere Ansätze bereits die Wahrnehmung von Gegensätzlichkeiten und Unvereinbarkeiten als Konflikt, ohne dass es zu konkretem Verhalten gegenüber der anderen Person kommt.227 Da Letzteres aber noch keinen Einfluss auf die kollektive Wirklichkeitskonstruktion im Interaktionsraum nimmt, liegt im konstruktivistischen Konfliktverständnis dieser Arbeit erst dann ein tatsächlicher interindividueller Konflikt vor, wenn die Person, welche eine Unvereinbarkeit zwischen ihrer Deutung/Handlungsabsicht und der Exteriorisierung anderer Personen sowie eine Notwendigkeit zur einheitlichen kollektiven Deutung wahrnimmt, selbst Exteriorisierungen einbringt, die darauf abzielen, die eigene Deutung und Handlungsabsicht in der sozialen Konstruktion umzusetzen. Nimmt die Person eine wechselseitige Abhängigkeit sowie eine Unvereinbarkeit wahr, exteriorisiert aber ihre abweichende individuelle Wirklichkeitskonstruktion nicht im Interaktionsprozess, kann aus einer Beobachterposition von einem potentiellen interindividuellen Konflikt sowie von einem intraindividuellen Konflikt gesprochen werden, nicht aber von einem tatsächlichen zwischenmenschlichen Konflikt. TP
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4.1.2 Konflikte als unvermeidbarer und wertneutraler Bestandteil sozialen Lebens: Entstehung, Verlauf und Auswirkungen Die bestehende Konfliktforschung hat eine Vielzahl organisationaler, situativer und personaler Bedingungen und Faktoren zusammengetragen, welche die Entstehung und den Verlauf von zwischenmenschlichen Konflikten beeinflussen. Gemäß der überwiegenden Zahl der neueren konflikttheoretischen Ansätze führen diese Faktoren und Bedingungen jedoch nicht automatisch zum Ausbruch von Konflikten, sondern bilden ein multivariables, rekursiv vernetztes Konfliktpotenzial; das einzelne Individuum besitzt aber immer Handlungsfreiheit.228 Diese Handlungsfreiheit ist aus TP
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Vgl. Glasl 2004:17f; Lilge 1984:197; Schmidt/Kochan 1972:363; Bosshard 1988:59; Wottawa/Gluminski 1995:101; Regnet 2001:9; Rüttinger 1980:22f; Kriesberg 1998:2f Vgl. Krüger 1973:17f; Thomas 1992:653f; Berkel 1987:153; 2003:399; Brommer 1994:14; Dorow/Grunwald 1980:510 Vgl. Berkel 1984:13ff; 1987:156; Glasl 2004:95ff; Rüttinger/Sauer 2000:57; Regnet 2001:26, 63. Genannte Ursachen und Einflussfaktoren sind bspw.: Variablen der konkreten Konfliktsituation (Art und Bedeutung des Konfliktgegenstandes; konkrete Zielsetzungen; Beziehung der Konfliktparteien zueinander, insbesondere Status, Macht, Hierarchieunterschiede, Beziehungsgeschichte; gewähltes Verhalten der Konfliktparteien); Teamvariablen (Teamzusammensetzung, insbesondere Größe, Heterogenität, Freiwilligkeit; Führungsverhalten im Team; Beziehung zur übergeordneten Ebene; Rollenerwartungen; Beziehung der Teammitglieder untereinander, z.B. Homogenität der individuellen Zielsetzungen, Vertrauen, Offenheit, Kommunikationsstil; Teamkohäsion, z.B. Normen, Regeln, sozialer Druck; bisherige Konflikterfahrungen im Team); Aufgabenvariablen (Kompetenz- und Entscheidungsspielräume; Anforderungen und Belastungen; Routinetätigkeiten oder neue Herausforderung; Anreizsysteme); organisationale Variablen (Größe, Anzahl der Hierarchieebenen und deren Distanz voneinander; organisationale Strukturen, Systeme und Prozesse; Entscheidungsprozeduren; organisationale Visionen, Zielsetzungen; Organisationskultur, Führungsphilosophie, organisationale Kommunikations- und Konfliktkultur; organisationale Normen und Regeln; verfügbare Ressourcen
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konstruktivistischer Sicht dieser Arbeit aufgrund der operativen Geschlossenheit und Autonomie der Individuen eine Kernaussage für die Konfliktentstehung: Ursprung eines zwischenmenschlichen Konfliktes ist letztlich immer ein Individuum, das in einer Interaktion die Unvereinbarkeit von Interpretationen wahrnimmt und sich zu entsprechenden Interaktionsbeiträgen zur Durchsetzung seiner eigenen Deutung entschließt. Dies bedeutet auch, dass nicht jede Wahrnehmung eines potentiellen Konfliktgrundes automatisch zu einem offen ausgetragenen Konflikt führt. Zum einen kann es sein, dass andere Beobachter in der Interaktion aufgrund ihrer Wirklichkeitsordnung eine Unvereinbarkeit von exteriorisierten Deutungen und damit einen „Konfliktgrund“ wahrnehmen, die ‚betroffene’, in ihren Zielen vermutlich eingeschränkte Person dies jedoch nicht so sieht, sondern die Exteriorisierung beispielsweise anders interpretiert oder entsprechend ihren Erwartungen assimiliert (auch die Wahrnehmung von Unvereinbarkeiten ist eine individuelle Konstruktion). Zum anderen ist die Wahl eines Verhaltens, mit dem die eigene Position durchgesetzt werden soll, letztlich immer eine kognitive Entscheidung des betroffenen Individuums, das sich stattdessen auch gegen offenes Konfliktverhalten und für das Ignorieren, Verdrängen oder Akzeptieren der Situation entscheiden kann. Ausschlaggebend für diese Entscheidung sind u.a. die individuelle Einschätzung der Lage und der eigenen Stärke, die zugrunde gelegten Prämissen und Annahmen sowie strategische und taktische Überlegungen, aber auch Persönlichkeitsdispositionen, frühere Erfahrungen und Angst vor Misserfolgen.229 Damit spielen die individuellen Wirklichkeitsordnungen und -konstruktionen der Interaktionsbeteiligten die entscheidende Rolle. Relevante Faktoren für die Entstehung und den weiteren Verlauf von Konflikten können aber auf allen Ebenen des Modells der Wirklichkeitsräume liegen, jedoch immer nur als re-interpretierter Teil der individuellen Wirklichkeitsordnung bzw. als in der Interaktion wahrgenommenes und interpretiertes Ereignis: - Da ein Konflikt eine spezifische Form der Interaktion ist, sind die Rahmenbedingungen der Interaktion, z.B. ihre Vorgeschichte, ihre Zielsetzung, Formalisierung, die Zusammensetzung der Interaktionsgruppe usw., wesentliche Faktoren. TP
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und deren Verteilung, z.B. Finanzen, Personal, Sachmittel, Aufmerksamkeit, Macht, individuelle Entwicklungs- und Aufstiegsmöglichkeiten) und individuelle Variablen (Wahrnehmungen, Einstellungen und Kognitionen, z.B. Attributionen und Stereotype; Kommunikationsfähigkeit, Flexibilität, Ambiguitätstoleranz; Aggressivität; frühere individuelle Konflikterfahrungen; Motivation und individuelle Zielsetzungen; individuelle Normen und Werte; Commitment mit der Organisation und der Gruppe; individuelle Handlungspläne und Verhaltensdispositionen) (vgl. Schmidt/Kochan 1972:361ff; Deutsch 1976:174ff; Berkel 1984:13ff; 1987:156; Baron 1997:179ff; De Dreu/De Vries 1997:76ff; Amason/Schweiger 1997:112; Jehn 1995:275; 1997:87ff; Glasl 2004:95ff; Rüttinger/Sauer 2000:57ff; Regnet 2001:26ff, 63) Zum letzten Punkt vgl. in der bestehenden Konfliktforschung u.a. Esser 1972:191ff; Berkel 1987:156; Thomas 1992:657; Regnet 2001:63 Sobald allerdings ein Konflikt offen in einer Interaktion thematisiert ist, also für alle Beteiligten wahrnehmbar ein Widerspruch zu einer Exteriorisierung geäußert wurde, ist es für Personen, von denen ein Verhaltensbeitrag erwartet wird, unmöglich, sich „nicht“ zu verhalten. Jedes Folgeverhalten, auch die Nichtbeteiligung an der Interaktion, wird als Verhalten interpretiert und entsprechende Schlüsse durch die Beobachter gezogen (vgl. Kap. 2.1.1 und 2.2).
- Organisationale Deutungsmuster des Bedeutungsraums werden bei der Wahrnehmung und Interpretation organisationsbezogener Ereignisse sowie bei der Auswahl organisationsbezogenen Verhaltens angewandt und bilden somit Rahmenbedingungen für organisationsbezogenes Konfliktverhalten, können aber gleichzeitig auch Thema von Konfliktinteraktionen sein. - Die im Möglichkeitsraum zur Verfügung stehenden kulturellen, gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Angebote zur Wirklichkeitskonstruktion sowie soziale Normen beeinflussen ebenfalls den generellen Umgang mit Konflikten sowie die Thematisierung bestimmter Konfliktthemen. Der weitere Verlauf und damit die Auswirkungen einer Konfliktinteraktion ergeben sich aus der wechselseitigen Wahrnehmung und Interpretation der Exteriorisierungen durch die Interaktionsteilnehmer sowie den jeweiligen Verhaltensentscheidungen in Form anschließender Exteriorisierungen im sozialen Prozess der Wirklichkeitskonstruktion. Dieser Fortgang der Interaktion ist weder vorhersagbar noch deterministisch durch einzelne Personen steuerbar bzw. von Umgebungsfaktoren determiniert, da jedes an der Interaktion beteiligte Individuum ein geschlossen operierendes, selbstreferentielles kognitiv-affektives System ist, das sich seine Umwelt inklusive der darin wahrnehmbaren Personen und Geschehnisse selbst konstruiert und eigene freie Verhaltensentscheidungen trifft. Den Konfliktparteien steht eine Vielzahl von Verhaltensweisen als Reaktion auf einen wahrgenommenen Widerspruch bzw. eine wahrgenommene Beeinträchtigung bei der Durchsetzung ihrer individuellen Deutungen in sozialen Wirklichkeitskonstruktionen zur Verfügung. Die bestehenden Forschungsergebnisse der Konfliktforschung weisen auf diese Vielfalt möglichen Konfliktverhaltens hin.230 Es kann von nonverbaler oder verbaler Kommunikation bis hin zu körperlichen Handlungen reichen. Im Rahmen dieser Arbeit kann Konfliktverhalten grundsätzlich auf kommunikatives Verhalten, also verbale und nonverbale, wahrnehmbare Exteriorisierungen im Interaktionsprozess eingeschränkt werden. Die psychologische Konfliktforschung geht davon aus, dass ein Konflikt von den Beteiligten fast ausschließlich als psychisches Spannungsmoment und physische Belastung erlebt wird, welche Wahrnehmung, Denken und Fühlen beeinträchtigen TP
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Mack und Snyder (1957:218ff) verstehen in einem älteren Ansatz unter Konfliktverhalten beispielsweise alle Verhaltensweisen, die darauf abzielen, die andere Partei zu zerstören, zu verletzen, zu hindern oder in anderer Weise zu kontrollieren. Berkel (2003:400) fasst etwas abgeschwächt unter Konfliktverhalten alle Verhaltensweisen zusammen, die die andere Partei von ihren Zielen abhalten soll. Thomas (1992:666ff) entwickelte eine häufig zitiertes Modell von Konfliktverhalten, welches auch die Kooperation mit der anderen Konfliktpartei berücksichtigt: es klassifiziert mögliches Konfliktverhalten anhand von zwei Dimensionen strategischer Intensionen in der Konfliktinterpretation: die „cooperativeness“ (Versuche, die Anliegen der anderen Partei zu befriedigen) und die „assertiveness“ (Versuche, die eigenen Anliegen zu befriedigen). Daraus ergeben sich fünf prototypische Verhaltensweisen: Anpassung, Vermeidung, Kompromiss, Machteinsatz oder Zusammenarbeit. Auch das Ausweichen aus Konfliktsituationen, also das Verdrängen, Übergehen und Ignorieren, wird z.T. als Konfliktverhalten gewertet, da es eine Reaktion auf die wahrgenommene Unvereinbarkeit bzw. Beeinträchtigung darstellt (vgl. z.B. Esser 1972:191ff; siehe auch Berkel 1984:21f)
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und entsprechend auf das Verhalten wirken. Diese Erlebens- und Verhaltensauswirkungen können in der Interaktion zu einem negativen, selbstverstärkenden Kreislauf mit destruktiven Nebenwirkungen auf individueller und organisationaler Ebene führen.231 Aus konstruktivistischer Perspektive ist das individuelle Erleben von Konflikten als Spannungsmoment und ggf. sogar als physische Belastung grundsätzlich ebenfalls sehr wahrscheinlich, da ein Konflikt die Wahrnehmung der Beeinträchtigung bei der Durchsetzung eigener Deutungen in sozialen Wirklichkeitskonstruktionen beinhaltet, wobei die Intensität dieser individuellen Spannungs- und Belastungsempfindung von verschiedenen personellen und situativen Faktoren und damit wiederum von der individuellen Wirklichkeitsordnung und aktuellen Beobachtung der Beteiligten abhängig ist. 232 Die Rückwirkungen dieser Beobachtungen und des affektiven Erlebens der Konfliktinteraktion auf die Verhaltensweisen der Interaktionsbeteiligten ist aber – wie bereits oben beschrieben – aus konstruktivistischer Sicht kein Automatismus, sondern grundsätzlich kontingent und frei gewählt. Daraus folgt unmittelbar, dass Konflikte zwar oft mit einer höheren Intensität und Wirksamkeit der affektiven Bestandteile der individuellen Wirklichkeitskonstruktion einhergehen, in der konstruktivistischen Konzeption dieser Arbeit aber nicht zwangsläufig an emotionale Intensität oder Eskalation gebunden sind. Damit steht das Begriffsverständnis dieser Arbeit im Widerspruch zu jenen Definitionen, die explizit nur solche Auseinandersetzungen zwischen Personen als Konflikt verstehen, bei denen der ablaufende Prozess destruktiv ist bzw. von den Beteiligten nicht allein TP
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Vgl. Berkel 1984:31; 1995:270; 2003:401; Glasl 2003:124ff; 2004:39ff; Regnet 2001:70ff; Grüne 1999; Baron (1997:179ff) verweist darauf, dass Menschen in der kognitiven Verarbeitung von Konfliktsituationen häufig auf Stereotype zurückgreifen bzw. Attributionsverzerrungen unterliegen. Insbesondere ´zu viel Denken´, attribuieren und ´in die Situation hineininterpretieren´ führen häufig zu starken Wahrnehmungs- und Bewertungsverzerrungen. Dazu kommt die wechselseitige Beeinflussung von momentanen Kognitionen und Affekten, die zur emotionalen Aufladung von Kognitionen sowie kognitiven Rationalisierung von Emotionen führt. Rüttinger (1989) verweist hierbei auf das sog. „Spiegelbild-Phänomen“, wonach Verhaltensweisen der anderen Konfliktparteien häufig kritischer bewertet werden als das eigene Verhalten, auch wenn es eigentlich das gleiche ist. So geht in der bestehenden Konfliktforschung bspw. die Kooperations-Konkurrenz-Theorie von Deutsch (1976) von tendenziell unterschiedlichen Erlebens- und Verhaltensweisen der Konfliktbeteiligten in Abhängigkeit von der Wahrnehmung übergeordneter Zielbeziehungen innerhalb der Interaktionsgruppe aus: Auf Kooperation beruhende Konfliktprozesse sind gekennzeichnet durch offene, aufrichtige und informationsorientierte Kommunikation, erhöhte Sensitivität für Ähnlichkeiten und gemeinsame Interessen, erhöhte Bereitschaft zur Hilfe, wechselseitige Anerkennung der Legitimität der Interessen sowie eine gemeinsame Problembetrachtung. Sie führen zu Förderung der Annäherung von Überzeugungen und Werten, vertrauensvollen und freundlichen wechselseitigen Einstellungen, gemeinsamen Anstrengungen zur Problemlösung und Einschränkung widerstreitender Handlungen. Konkurrenzprozesse sind hingegen geprägt durch mangelnde oder irreführende Kommunikation, erhöhte Sensitivität für Unterschiede und Gefahren sowie die fehlende Bereitschaft zum Eingehen auf die andere Partei und zur Hilfe. Sie führen zu misstrauischen und feindseligen Einstellungen, zur Verstärkung emotionaler Erregungen und zur Ausweitung des Konfliktes. (vgl. Deutsch 1976:33ff, 163ff). Diese Unterscheidung zwischen Konflikten in Kooperations- und Konkurrenzbeziehungen wurde im Weiteren von Tjosvold u.a. untersucht, die zu ähnlichen Ergebnissen kommen (vgl. Tjosvold 1990, 1991, 1993, 1997; Alper/Tjosvold/Law 1998; Tjosvold/Morishima 1999), und wird in der Modellentwicklung im Rahmen dieser Arbeit eine weitere Rolle spielen (Kap. 5.2.1)
gelöst werden kann. 233 Wie in 2.1.4 gezeigt wurde, ist emotionsbezogenes Verhalten immer die Anwendung erlernter sozialer Rollen, i.d.R. mit der unbewussten oder bewussten Absicht, eigene Zielsetzungen in der Interaktion durchzusetzen. Die Art der angewandten Emotionsrolle ist dabei von den bisherigen Viabilitätserfahrungen abhängig. Die emotionale Eskalation von Konflikten ist somit zum einen die bewusste oder unbewusste, aber in jedem Fall intentionale individuelle Anwendung sozialer Rollen, zum anderen eine daraus entstehende interaktionale Eigendynamik durch die wechselseitige Bezugnahme der Interaktionsbeteiligten aufeinander. Emotionale Eskalation bildet damit keinen definierenden Bestandteil von Konflikten, sondern eine potentielle Verlaufsform. Der Konflikt dauert an, bis eine gemeinsame Konstruktion gefunden ist, gegen die kein Beteiligter durch Exteriorisierungen vorgeht. Dies kann durch eine Einigung, durch Nachgeben von Interaktionspartnern oder durch Festlegungen von Personen mit höherer organisationaler Interpretationsmacht erfolgen. Auch der Abbruch einer Konfliktinteraktion durch Personen mit entsprechender Interpretationsmacht kann zum Konfliktende im Sinne der hier verwendeten interaktionsbezogenen Definition führen, ohne dass tatsächlich eine themenbezogene gemeinsame Wirklichkeitsdeutung konstruiert wurde. TP
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Neben diesen beschriebenen unmittelbaren Auswirkungen von Konfliktinteraktionen auf die Wahrnehmung und das Verhalten der Beteiligten haben abgelaufene Konfliktinteraktionen i.d.R. darüber hinausreichende Konsequenzen für die Gruppe/ Organisation sowohl inhaltlicher Art, also in Bezug auf das Konfliktthema, als auch bezüglich der Beziehung zwischen den Interaktionsteilnehmern. Während Konflikte in ihren langfristigen Konsequenzen in der früheren Konfliktforschung und Organisationspraxis meist als Störungen des reibungslosen Handlungsablaufes aufgefasst wurden und die Zielsetzung entsprechend in der Vermeidung bzw. schnellstmöglichen Beilegung von Konflikten lag, werden heute die Ambivalenz von längerfristigen Konfliktauswirkungen und ihre generell neutrale Bewertung weitestgehend anerkannt.234 Zum einen werden zwischenmenschliche Konflikte als ein unvermeidTP
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So ist beispielsweise für Glasl (2003) eine Differenz zwischen Personen erst dann ein Konflikt, wenn diese nicht in der Lage sind, den auftretenden Stress konstruktiv zu bewältigen. Ein Dialog über unterschiedliche Positionen, der zu einer akzeptablen Lösung führt, ist demnach noch kein Konflikt (vgl. Glasl 2003:123; ähnlich Regnet 2001:8). Für Prein (1982) ist ein Konflikt zwischen zwei Personen erst dann psychologische Wirklichkeit, wenn sich eine Person durch das Verhalten der anderen in der Verwirklichung der eigenen Ziele und Interessen frustriert fühlt und eine Feindseligkeit gegenüber der anderen Partei empfindet (vgl. Prein 1982:1; aus dem Holländischen übersetzt und zitiert in Glasl 2004:16). Für Hugo-Becker/Becker entstehen Konflikte erst, wenn objektive Sachverhalte eines Problems mit starken Emotionen zusammenwirken. Bloße Meinungsverschiedenheiten sind nur Scheinkonflikte; erst bei hoher emotionaler Involviertheit, rücksichtsloser Zielverfolgung und einer Win-lose-Perspektive wird vom Konflikt gesprochen (vgl. Hugo-Becker/Becker 1996:97, 102ff). Vgl. Pondy 1967:306ff; Walton 1969:2ff; Krüger 1973:13ff; Deutsch 1976:16f, 24f; Marr/Stitzel 1979:87ff; Rüttinger 1980:50ff; Berkel 1984:13, 28f; 1987:155f; Kolb/Putnam 1992:5ff; Oechsler 1992:1131f; Jehn 1995:256; 1997:87; De Dreu 1997:9ff; Kriesberg 1998:1; Grunwald 2000:19f; Regnet 2001:73; Rüttinger/Sauer 2000:42ff. In der unternehmerischen Praxis werden Konflikte
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barer und unverzichtbarer Bestandteil des sozialen Lebens mit unterschiedlichsten Auftretens- und Verlaufsformen akzeptiert. Zum anderen können Konflikte in Abhängigkeit von den Rahmenbedingungen, dem gewählten Verhalten und Bewältigungsstrategien, der Einstellung zu Konflikten allgemein, dem Konfliktinhalt usw. sowohl positive als auch negative Konsequenzen in verschiedenen Dimensionen und über verschiedene Zeithorizonte haben, z.B. in ihren Auswirkungen auf Leistung und Sozialgefüge, auf Individuum, Gruppe und Organisation etc.(vgl. Tab. 1). Positive Konfliktfolgen
Negative Konfliktfolgen Allgemein - Betonung von Unterschieden und Trennendem - Aufdeckung und Thematisierung von Problemen; Aufbau von Lösungsdruck - Reibungsverluste - Verbesserung des Problemverständnisses und - Stress, individuelle Unzufriedenheit und anderer Ansichten Frustration - Anregung von Interesse und Neugier - Zunehmende Emotionalisierung und reduzierte Rationalität bei Problembearbeitung Leistung (Individuum, Gruppe, Organisation) - Bessere Problemlösungsqualität, innovative - Störung des Prozesses der Lösungen, Ausnutzung des Leistungserbringung; Leistungs- und Kreativitätspotenzials Qualitätsminderung - Erhöhte Anpassungsfähigkeit der Organisation - Motivationsverlust - Klärung der Kompetenz-, Verantwortungs- und - Ressourcenbindung und -verschwendung Aufgabenbereiche - Unproduktiver interner Wettbewerb - Auslösung von Veränderungen, Verhinderung von Stagnation - Verhinderung von gefährlichem Harmoniestreben und Groupthink - Motivation der Konfliktparteien Soziale Beziehungen - Instabilität in der Gruppe bzw. Organisation - Thematisierung und ggf. Auflösung bestehender Spannungen, Verhinderung einer - Abnahme von Vertrauen und weiteren ‚stillen’ Eskalation, einhergehend mit Kooperationsbereitschaft der Beschädigung interpersoneller - Störung der Kommunikation und Kooperation Beziehungen - Ausbildung bzw. Bestätigung von Vorurteilen - Bei erfolgreicher Bewältigung: Erhöhung der und negativen Einstellungen Gruppenkohäsion und Festigung der - Verschlechterte Diskussions- und Gruppenidentität; Verbesserung der Konfliktfähigkeit Kooperations-, Diskussions- und Konfliktfähigkeit - Erhöhung der sozialen Sensibilität - Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse Tab. 1: Positive und negative Auswirkungen von zwischenmenschlichen Konflikten in Organisationen235 TP
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Auch in der konstruktivistischen Konfliktkonzeption dieser Arbeit werden zwischenmenschliche Konflikte grundsätzlich als wertneutraler, unvermeidbarer Bestandteil des Lebens im Interaktionsraum verstanden. Möglich sind – abhängig
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allerdings nach wie vor häufig als negativ und störend eingeschätzt (vgl. Grunwald 2000:19; Regnet 2001:74). Vgl. Walton 1969:5; Deutsch 1976:17f; Marr/Stitzel 1979:99; Thode 2003:85; Regnet 2001:70ff; De Dreu 1997:10ff; Rüttinger/Sauer 2000:45ff; Thomas 1992:682ff; Van de Vliert 1997
vom Interaktionsverlauf sowie von der Interpretation der Wahrnehmungen – sowohl positive als auch negative Konfliktauswirkungen, wie sie die bestehende Konfliktforschung herausgearbeitet hat. Die Wahrnehmung und Bewertung dieser Konfliktfolgen ist aber eine beobachterabhängige Konstruktion, bei der jeder Beobachter aufgrund seiner Wirklichkeitsordnung inkl. seiner Motive, Erfahrungen, Einstellungen, Normen, Ziele und Interessen individuell unterschiedlich wahrnimmt und interpretiert. Insbesondere individuelle und soziale Deutungsmuster zu Konflikten (Konflikterfahrungen, Konfliktakzeptanz, Konfliktkultur) spielen hierbei eine wichtige Rolle. Aufgrund dieses ambivalenten Potenzials an Konfliktfolgewirkungen sprechen einige Autoren von einem optimalen mittleren Konfliktniveau, dass in einer Gruppe oder Organisation ggf. auch durch Konfliktstimulierung erreicht werden sollte, um einerseits die konstruktiven Konfliktfolgen nutzen zu können, andererseits destruktive Konfliktverläufe möglichst einzudämmen (vgl. Abb. 12). Dieses optimale Konfliktniveau wird abstrakt auf ein mittleres Konfliktniveau festgelegt, ohne operationalisiert zu werden.236 Andere Autoren verweisen auf das hohe Risiko dieser Vorgehensweise und auf die Notwendigkeit eines funktionierenden Konfliktmanagements sowie des entsprechenden Verhaltenrepertoires bei den Beteiligten.237 TP
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Performance
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Low
High Conflict Intensity
Abb. 12: Optimales Konfliktniveau als Zusammenhang von Konfliktintensität und Leistung (entnommen aus De Dreu 1997:14; ähnlich Walton 1969:112; Krüger 1973:22)
236 TP
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Vgl. Walton 1969:111ff; 1987:97ff; Kast/Rosenzweig 1985:344f; Krüger 1973:21f; De Dreu 1997:13f; 2006; Turner/Pratkanis 1997:63ff; Van de Vliert 1997; Thode 2003:85f; Rüttinger/Sauer 2000:47f Vgl. Berkel 1987:165; Regnet 2001:74
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Diese Überlegungen zu einem optimalen Konfliktniveau sind aus konstruktivistischer Sicht zunächst einmal ebenfalls Konstruktionen (im Wesentlichen von Wissenschaftlern), deren theoretische Viabilität davon abhängig ist, ob man als Prämisse akzeptiert, dass Konflikte positive wie negative Konsequenzen haben können. Da dies in dem hier entwickelten konstruktivistischen Verständnis grundsätzlich der Fall ist, kann ein Beobachter zumindest abstrakt konstruieren, ob die Anzahl, Art und der Verlauf von Konflikten in einer Gruppe oder Organisation überwiegend positive oder negative Konsequenzen hat oder ob es gar nicht bzw. kaum zu Konflikten kommt und welche Konsequenzen dies hat. Allerdings ist diese Interpretation und Bewertung von potentiellen und beobachteten Konfliktfolgen abhängig von den individuellen Vorstellungen und Zielen des Beobachters. Prinzipiell kann somit auch aus konstruktivistischer Sicht ein zumindest abstraktes optimales Konfliktlevel angenommen werden, das sich allerdings nicht konkret definieren oder quantifizieren lässt. Die Konstruktion soll vielmehr als eine Denkanregung für die Reflexion und das Management von Konflikten in Gruppen und Organisationen verstanden werden und wird im Rahmen dieser Arbeit unter dem Stichwort „Konfliktstimulation“ im folgenden Abschnitt sowie in der Modellkonstruktion (Kap. 5.3.5) eine Rolle spielen. Neben den Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit einer Gruppe bzw. Organisation müssen aber auch die Konsequenzen für die Konfliktfähigkeit der Beteiligten, der Gruppe und der Organisation als Konfliktfolge berücksichtigt werden. Die ablaufende Konfliktinteraktion ist durch vorhergehende Interaktionen und ggf. Konflikte (Beziehungs- und Konfliktgeschichte der Beteiligten) beeinflusst und beeinflusst ihrerseits die künftigen Interaktionen der Beteiligten. Diese früheren (Konflikt-) Interaktionen wurden von jedem Interaktionsbeteiligten individuell einzigartig konstruiert und in die Wirklichkeitsordnung integriert, wodurch sie die Interpretation der aktuellen Interaktion und die entsprechenden Verhaltensbeiträge bewusst oder unbewusst beeinflussen. Einzelne Konfliktinteraktionen können daher nicht isoliert betrachtet werden, die Beziehungsgeschichte bildet einen relevanten Kontext für das Verständnis von konkreten Konflikten. 238 TP
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4.1.3 Konfliktmanagement als spezielle Form von Führung zur Nutzung und Beeinflussung von Konfliktinteraktionen Unter dem Begriff Konfliktmanagement werden in der Konfliktliteratur meist all jene Maßnahmen und Techniken zusammengefasst, die innerhalb einer Organisation im weitesten Sinne zum Umgang mit bzw. zur Bewältigung von Konflikten eingesetzt
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In der bestehenden Konfliktforschung wird diese Abhängigkeit eines Konfliktes von vorhergehenden Konflikten sowie seine Wirkung auf nachfolgende Konflikte in den häufig zitierten Phasenmodellen von Pondy (1967:299ff), Walton (1969:71ff) und Thomas (1992:656ff) abgebildet; vgl. u.a. auch Berkel 1984:22ff; 1987:115; Regnet 2001:20
werden.239 Ähnlich sollen auch in dieser Arbeit unter Konfliktmanagement alle intentionalen Maßnahmen verstanden werden, die darauf abzielen, (potentielle) Konfliktinteraktionen so zu beeinflussen, dass die Ergebnisse den Zielsetzungen der beteiligten Individuen bzw. der Organisation entsprechen. Grundsätzliches Ziel ist es aus konstruktivistischer Sicht dabei, zu einer gemeinsamen sozialen Konstruktion der Wirklichkeit bezüglich des Konfliktthemas zu gelangen, die viabel für die im Vordergrund stehenden Ziele der Individuen, der Gruppe und der Organisation ist. Als begleitende Zielsetzung sollte aufgrund der in der bisherigen Konfliktforschung aufgezeigten Gefahren zudem eine emotionale Eskalation von Konfliktinteraktionen möglichst vermieden oder eingegrenzt werden.240 TP
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Konfliktmanagement ist eine Form der Führung in Organisationen und unterliegt den im Bezugsrahmen aufgestellten Grundannahmen (vgl. Kap. 2.3.3). Von Bedeutung für das Konfliktmanagement sind somit zwei wesentliche Prämissen: (1) die Selbstorganisiertheit von Individuen und Organisationen sowie (2) die Konstruiertheit von Konflikten und Interventionen. Zu (1): Individuen sind operativ geschlossene, selbstreferentielle kognitiv-affektive Systeme, die nicht deterministisch beeinflusst werden können. Da sie mit ihren Wahrnehmungen und Exteriorisierungen den Verlauf einer Interaktion bestimmen, kann somit auch die Einflussnahme darauf nicht deterministisch erfolgen. Zudem werden Interaktionen im organisationalen Rahmen durch organisationale Wirklichkeiten mit beeinflusst, welche in ihrer Entwicklung und Wirkung wiederum komplex und selbstorganisierend sind. Auch wenn 239 TP
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Vgl. Berkel 1984:35; 1995:273; Glasl (2004:20ff) empfiehlt, die verschiedenen Begriffe für den Umgang mit Konflikten differenziert zu verwenden. Der allgemeine und neutrale Überbegriff für jegliche Interventionsarten ist die Konfliktbehandlung. Konfliktlösungen sollen die Quellen eines Konfliktes beseitigen; Konfliktmanagement ist primär auf den Prozess ausgerichtet und soll einen positiven bzw. weniger destruktiven Verlauf ermöglichen. Konfliktkontrolle bzw. Konfliktbeherrschung zielen auf die Unterbindung bzw. Minimierung schädlicher Konfliktfolgen ab. Die konkrete externe Beeinflussung des Verhaltens der Konfliktparteien durch gegenseitig vereinbarte oder generelle Regelungen wird als Konfliktregelung, -regulierung, -überbrückung oder -kanalisierung bezeichnet. Konfliktreduktion, -unterdrückung und -vermeidung steht (meist polemisch) für die Abschwächungen von Konfliktäußerungen. Schließlich stehen Konfliktsubstitution, -ersatz oder -verschiebung für Bedeutungsreduzierung bzw. Umleitung von Konflikten. In der bestehenden Konfliktliteratur lassen sich die Zielsetzungen des Konfliktmanagements nach Konfliktvermeidung, Konfliktbewältigung und Konfliktstimulation unterscheiden, wobei der Schwerpunkt in der Literatur auf der Konfliktbewältigung liegt, die darauf abzielt, den Konflikt einzugrenzen, seine mögliche Eskalation zu reduzieren und ihn steuerbar zu machen. Der Konfliktstimulation wird wenig Beachtung beigemessen. (vgl. Berkel 1987:163ff; 1995:270ff; 2005:198); Rüttinger und Sauer nennen Konfliktvermeidung, Konfliktunterdrückung, Konfliktlösung und Konfliktüberbrückung als mögliche Ziele der Konflikthandhabung. (vgl. Rüttinger/Sauer 2000:205ff). Glasl unterscheidet zwischen präventiver und kurativer sowie eskalierender und deeskalierender Konfliktintervention, wobei eskalierende Konfliktinterventionen im Sinne einer Konfliktstimulation der Thematisierung kalter Konflikte und ihrer Umwandlung in heiße Konflikte dienen soll, um sie dauerhaft lösen zu können. (vgl. Glasl 2004:313ff) Thomas (1992) nennt als zusätzliche Bewertungskriterien für den Erfolg von Konfliktmanagement neben der Zielerreichung die wahrgenommene Fairness und Gerechtigkeit, die Qualität der Entscheidung, die Ressourcenbindung während der Konfliktlösung, die Zufriedenheit der Parteien sowie die Auswirkungen auf die Arbeitsbeziehungen. (vgl. Thomas 1992:685f)
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Interaktionen selbst keine hochkomplexen Sozialsysteme sind, werden sie mit den Individuen einerseits und der Organisation andererseits doch durch zwei selbstorganisierende Systeme bestimmt. Ein linear-kausales Denken in Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen bei der Analyse von Konflikten und der Ableitung von möglichen Interventionsmaßnahmen würde somit an der Komplexität der Situation vorbeiführen. Zu (2): Wie bereits mehrfach betont, sind alle Wahrnehmungen und Bewertungen des Konfliktverlaufes, der Folgen und damit auch der Interventionsergebnisse und -auswirkungen individuelle und ggf. kollektive Wirklichkeitskonstruktionen. Auch alle wissenschaftlichen Erkenntnisse und praktischen Erfahrungen über das Konfliktmanagement sind Konstruktionen, die situativ und beobachterabhängig sind und von individuellen und kollektiven Wirklichkeitsordnungen und Zielsetzungen (z.B. der scientific community oder der organisationalen Wirklichkeit) bestimmt werden. Innerhalb einer verfestigten Gruppe werden die Vorstellungen über das Konfliktmanagement (ähnlich wie das Führungsverständnis, vgl. Kap. 2.4.3) in den Interaktionen sozial konstruiert, wobei zum einen die Interpretationshoheit unterschiedlich zwischen den Beteiligten verteilt ist, zum anderen die organisationale Wirklichkeit als Vorgabe re-interpretiert Einfluss auf die soziale Interaktion nimmt. Konfliktmanagement als Summe intentionaler Konfliktbewältigungsmaßnahmen ist sowohl durch Konfliktbeteiligte als auch durch eine sog. dritte Partei, z.B. Führungskräfte in Gruppen oder professionelle Moderatoren bzw. Mediatoren, möglich.241 Eine „dritte Partei“ ist im Verständnis dieser Arbeit ein Interaktionsteilnehmer, der nicht unmittelbar in die wahrgenommene und exteriorisierte Unvereinbarkeit der Wirklichkeitsdeutungen involviert ist. Er ist aber kein neutraler Außenstehender, sondern ein Beteiligter der Interaktion. Zum einen konstruiert er seine Umwelt und damit die ablaufende Interaktion ebenfalls durch Wahrnehmung und Interpretation aufgrund seiner Wirklichkeitsordnung (Erfahrungen, Grundannahmen, Ziele, Einstellungen etc.), zum anderen gestaltet er durch seine Exteriorisierungen die Interaktion mit und wird von den Konfliktparteien auch als aktiver Teilnehmer wahrgenommen, dessen Verhalten ebenfalls bezüglich Wirklichkeitskonstruktionen, dahinter stehenden Zielsetzungen, Annahmen und Motiven interpretiert wird und gegenüber dem Erwartungen bezüglich seines Verhaltens bestehen. Für eine erfolgreiche Intervention in eine Konfliktinteraktion ist es wichtig, dass sich eine dritte Partei der Konstruktivität ihrer Wahrnehmung und Interpretation sowie TP
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Dies kann ein Manager in der Organisation, ein externer Berater oder ein speziell geschulter interner oder externer Mediator sein. (vgl. Thomas 1992:690; Berkel 2003:410ff) In der bestehenden Konfliktliteratur wird unter Konfliktmanagement häufig explizit oder implizit der Eingriff einer außenstehenden dritten Partei verstanden (vgl. Berkel 1984:35; Glasl 2003:128), obwohl in der Praxis der Großteil der Konflikthandhabung durch die betroffenen Konfliktparteien selbst erfolgt. (vgl. Thomas 1992:686)
ihrer eigenen Grundannahmen, Motive, Interessen etc. bewusst ist. 242 Zudem muss sie beachten, dass jeder Konfliktbeteiligte (sie selbst eingeschlossen) die Konsequenzen individuell unterschiedlich konstruiert und von den Deutungen der anderen zunächst nichts weiß. So kann z.B. ein Gruppenleiter das Ergebnis einer Konfliktinteraktion als positiv bewerten, weil ein Streitpunkt in der Gruppe durch seine Intervention geklärt wurde, während sich ein Beteiligter ungerecht behandelt fühlt und „gelernt“ hat, eine offene Konfliktaustragung zukünftig zu vermeiden. Dieses Beispiel verdeutlich zudem, dass Interventionen ebenfalls Konfliktgeschehen sind und damit über die konkrete Konfliktinteraktion hinaus Auswirkungen auf die Beziehung der Beteiligten untereinander und sowie deren Einstellungen z.B. zu Konflikten in der Gruppe haben können, wie dies im vorangegangenen Abschnitt gezeigt wurde. Konfliktmanagement kann in Gruppen und Organisationen institutionalisiert sein oder spontan erfolgen. Institutionalisiertes Konfliktmanagement ist expliziter, formal fixierter Teil der kollektiven bzw. organisationalen Wirklichkeitsordnung. Spontanes Konfliktmanagement kann sich ebenfalls auf Teile einer kollektiven oder organisationalen Wirklichkeitsordnung beziehen, die normative oder methodische Anhaltspunkte bieten. In beiden Fällen spielt jedoch die individuelle Wirklichkeitsordnung als Grundlage der Beobachtung des Interaktionsgeschehens sowie als ReInterpretationsrahmen für Bestandteile kollektiver Wirklichkeiten die übergeordnete Rolle. TP
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In einigen existierenden Konfliktmanagementansätzen wird unter bestimmten Umständen die Stimulierung von Konflikten befürwortet. Glasl (2004) sieht in der bewussten Konflikteskalation ein Mittel zur Thematisierung kalter Konflikte im Rahmen der Eskalationsverhütung und Konfliktlösung.243 Häufig soll die Konfliktstimulierung aber dazu dienen, Trägheit und Routine in Organisationen zu überwinden, Groupthink zu vermeiden, Kreativität und Innovation zu fördern, die Entscheidungsqualität zu verbessern und somit die Leistung von Gruppen und Organisation zu steigern.244 Da im Konfliktverständnis dieser Arbeit Konflikte grundsätzlich als neutral betrachtet werden und sowohl positive als auch negative Auswirkungen möglich sind, soll auch die bewusste, zielgerichtete Stimulation von Konflikten zum Konfliktmanagement gehören. Dabei ist allerdings besonders zu beachten, dass die anderen Interaktionsteilnehmer die Verhaltensbeiträge der intervenierenden Person aufgrund ihrer Wirklichkeitsordnung wahrnehmen und interpretieren, also zu ganz anderen Deutungen gelangen können, als es die TP
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Einige Autoren der Konfliktforschung betonen entsprechend, dass es für die erfolgreiche Intervention einer dritten Partei wichtig ist, dass sich diese über ihre eigenen Einstellungen zu verschiedenen Konflikten und den Parteien sowie ihre Reaktionen auf bestimmte Ereignisse und Prozesse bewusst ist. (vgl. Rüttinger/Sauer 2000:206f; Glasl 2004:316f) Vgl. Glasl 2004:76ff Vgl. Berkel 1987:163; 2005:199; De Dreu 1997:10ff; Van de Vliert 1997:209f; Turner/Pratkanis 1997:63ff, siehe auch positive Konfliktauswirkungen in Kap.3.4
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Intention des exteriorisierenden Interaktionsteilnehmers war. So können solche Stimulationsinterventionen z.B. im Sinne der individuellen und kollektiven Selbstorganisation eskalierend wirken oder aber als Manipulation verstanden werden und kontraproduktiv sein. Im Rahmen der Zielsetzung dieser Arbeit, also der konstruktiven Nutzung von Konflikten für organisationale Veränderungen, wird die Konfliktstimulation als Instrument des Konfliktmanagements eine wesentliche Rolle spielen und im Kap. 5.3.5 eingehender betrachtet. Letztlich gibt es für den Umgang mit Konflikten in Gruppen und Organisationen keinen Königsweg. Für jede Situation muss entsprechend der Rahmenbedingungen, der Ursachen und des Verlaufes eine spezifische Lösung gefunden werden.245 TP
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4.1.4 Zwischenfazit: eine konstruktivistische Konfliktkonzeption Zwischenmenschliche Konflikte sind spezielle Interaktionen und damit zunächst einmal Prozesse, in denen sich mindestens zwei Personen wechselseitig zur Wirklichkeitskonstruktion anregen, individuelle Konstruktionen exteriorisieren, dabei wechselseitig auf vorherige Interaktionsbeiträge anderer Bezug nehmen, diese modifizieren, kommentieren und erweitern und dadurch gemeinsam eine soziale Wirklichkeit konstruieren, die sie wiederum individuell re-interpretieren und in ihre individuelle Wirklichkeitsordnung integrieren. Ein Konflikt entsteht, wenn ein Interaktionsteilnehmer eine Unvereinbarkeit der exteriorisierten Deutungen mindestens eines anderen Interaktionspartners mit seinen eigenen Deutungen wahrnimmt, die Notwendigkeit sieht, zu einer gemeinsam entwickelten und übereinstimmend geteilten kollektiven Wirklichkeitskonstruktion zu gelangen, und eigene Interaktionsbeiträge wählt, mit denen er seine individuellen Deutungen im sozialen Konstruktionsprozess durchsetzen will, also i.d.R. durch Widerspruch gegen die geäußerte Deutung und Argumentation für die eigene Interpretation. Entscheidend ist dabei die Wahrnehmung und Interpretation der Situation durch die Beteiligten. Die Bezeichnung einer Interaktion als Konflikt ist eine beobachterabhängige Konstruktion, die man thematisieren kann und über die in sozialer Interaktion eine Verständigung möglich ist; real ist ein Konflikt aber immer dann und nur dann, wenn er wahrgenommen und verhaltensrelevant wird. Relevante Einflussfaktoren für Konfliktentstehung und -verlauf können in Bezug auf das Modell der Wirklichkeitsräume von Frindte in allen Ebenen der Wirklichkeitskonstruktion verortet werden, z.B. individuelle Einstellungen, Motive und Erfahrungen, Vorgeschichte und Merkmale der Interaktion, organisationale Rahmenbedingungen sowie kulturelle und soziale Normen der Konflikthandhabung.
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Vgl. Glasl 2004:313; Rüttinger/Sauer 2000:205
Der weitere Verlauf der Konfliktinteraktion ist abhängig von den Wahrnehmungen, Interpretationen und Verhaltensentscheidungen der Interaktionspartner. Jedes Individuum ist in seinen Interpretationen und Verhaltensentscheidungen frei, sodass weder eine Determination noch eine sichere Vorhersage möglich ist. Jeder Konflikt verläuft einzigartig und speziell. Konflikte sind nicht automatisch mit emotionaler Eskalation verbunden. Emotionsbezogenes Verhalten und auch Eskalationen sind soziale Rollen, die von Individuen im sozialen Kontext intentional eingenommen werden und grundsätzlich reflexiv sind, also von den Betroffenen beobachtet, kontrolliert und in Interaktionen thematisiert werden können. Dementsprechend können auch die Auswirkungen von Konflikten sowohl positiv als auch negativ sein, wobei ihre Wahrnehmung und Bewertung ebenfalls beobachterabhängige Konstruktionen sind. Konfliktmanagement umfasst alle intentionalen Maßnahmen zur Beeinflussung (potenzieller) Konfliktinteraktionen, die darauf abzielen, kollektiv eine soziale Wirklichkeitskonstruktion zum Konfliktthema zu erreichen, die viabel für die individuellen, gemeinsamen und organisationalen Ziele erscheint. Zudem sollte eine emotionale Eskalation von Konfliktinteraktionen vermieden oder eingegrenzt werden. Konfliktintervention als eine spezifische Form der Führung in Gruppen und Organisationen kann dabei keine deterministische Beeinflussung und Kontrolle der Individuen oder des Interaktionsverlaufes ausüben, sondern ist als Exteriorisierung selbst ein Teil der Interaktion und somit als Beobachtung durch andere Interaktionsteilnehmer wechselseitig mit den anderen Interaktionsbeiträgen verbunden. Auch eine sog. „dritte Partei“ ist niemals ein neutraler außenstehender Beobachter, sondern konstruiert sich seine Wirklichkeit aufgrund der individuellen Wirklichkeitsordnung, gestaltet durch Exteriorisierungen den Verlauf des Konfliktes mit und wird von den anderen Konfliktbeteiligten als aktiver, Ziele verfolgender Teilnehmer wahrgenommen. Konfliktinterventionen können spontan in der Situation erfolgen oder als Teil der kollektiven Wirklichkeitsordnung fixiert sein. Auch Konfliktstimulation ist als Konfliktmanagementansatz vorstellbar, allerdings ist hierbei besonders die NichtDeterminierbarkeit von Personen, Interaktionen und Organisationen zu beachten.
4.2
Konflikte als Ursprung von organisationalem Wandel – Initiierung von Wandel als Konflikt: Die zwei Perspektiven der Kernthese
Nachdem die theoretischen Vorstellungen dieser Arbeit über organisationalen Wandel und über zwischenmenschliche Konflikte konstruiert wurden, können diese jetzt zusammengeführt und verglichen werden, um die zentrale Forschungsfrage zu beantworten, ob zwischenmenschliche Konflikte organisationale Veränderungen anstoßen können.
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In Kapitel 3 wurde hergeleitet, dass organisationale Veränderungen vorab der Störung individueller und kollektiver Prozesse der Wirklichkeitskonstruktion und der Irritation verfestigter organisationaler Deutungsmuster sowie deren Thematisierung und Reflexion in intraorganisationalen Interaktionen bedürfen. Zwischenmenschliche Konflikte sind wiederum soziale Interaktionen, in denen Beteiligte die exteriorisierten Deutungen anderer Teilnehmer als unvereinbar mit ihren eigenen wahrnehmen, diesen widersprechen und versuchen, durch eigene Interaktionsbeiträge ihre Interpretationen und Handlungsabsichten in der sozialen Wirklichkeitskonstruktion durchzusetzen. Der Zusammenhang zwischen zwischenmenschlichen Konflikten und der Entstehung von organisationalem Wandel lässt sich aus zwei Perspektiven konstruieren (vgl. Abb. 13): 1) Zwischenmenschliche Konflikte enthalten das Potenzial für die Störung verfestigter, routinemäßiger Prozesse sozialer Wirklichkeitskonstruktion sowie die Irritation der organisationalen Wirklichkeitsordnung und können daher das Entstehungsforum für organisationale Veränderungen sein. 2) Die Exteriorisierung von neuartigen, irritierenden Deutungsmöglichkeiten im organisationalen Interaktionsraum als Voraussetzung für die Initiierung organisationalen Wandels führt zumindest im ersten Moment häufig zu Widerspruch und zwischenmenschlichen Konflikten; d.h. Wandel initiierende Interaktionen gehen meist mit Konflikten einher. Beide Perspektiven werden im Folgenden eingehend dargestellt.
Initiierung organisationalen Wandels (auslösendes Moment)
… kann Potential enthalten für die …
… geht häufig einher mit …
Zwischenmenschlicher Konflikt
Abb. 13: Die Initiierung organisationalen Wandels und zwischenmenschliche Konflikte
4.2.1 Entstehung von organisationalem Wandel in zwischenmenschlichen Konflikten Zwischenmenschliche Konflikte erfüllen unter bestimmten Bedingungen die geschilderten Voraussetzungen für die Entstehung organisationalen Wandels. Die Exteriorisierung widersprüchlicher, nicht miteinander vereinbarer Deutungen kann zur Störung der oftmals routinierten sozialen Konstruktion organisationaler 98
Wirklichkeit und zur Irritation zugrunde liegender individueller und kollektiver Deutungsmuster führen. Die Thematisierung und Diskussion dieser Irritationen und Störungen im organisationalen Interaktionsraum ermöglicht die Reflexion und ggf. kollektive Modifikation der zugrunde liegenden organisationalen Wirklichkeitsordnung in sozialen Konstruktionsprozessen. Zwischenmenschliche Konflikte können damit geeignete organisationsinterne Interaktionen sein, in denen die Entstehungsphase organisationalen Wandels ablaufen und der organisationale Konservatismus überwunden werden kann. Den Ausgangspunkt solcher Konflikte bilden Interaktionen, in denen soziale Wirklichkeit unter Bezugnahme auf Deutungsmuster der organisationalen Wirklichkeitsordnung konstruiert wird. Dabei muss nicht jeder Beteiligte notwendigerweise Organisationsmitglied sein. Wichtig ist aber, dass alle über zumindest so ähnliche Deutungsmuster bezüglich des Interaktionsthemas verfügen, dass das wechselseitige Verstehen und viables Anschlussverhalten möglich ist. Der Wandel ermöglichende Konflikt entsteht, wenn ein Interaktionspartner in seiner Wahrnehmung und Interpretation eines Ereignisses mit Organisationsbezug auf Deutungsmuster seiner individuellen Wirklichkeitsordnung zurückgreift, die entweder kein Bestandteil der verfestigten organisationalen Wirklichkeitsordnung sind oder bisher zumindest nicht in diesem Beobachtungs- und Interaktionskontext Anwendung fanden,246 während die anderen Interaktionsteilnehmer bei der Wahrnehmung und Interpretation der Situation die in diesem Kontext bisher genutzten, verfestigten organisationalen Deutungsmuster anwenden und zu erwartbaren, ggf. routinierten Deutungen und Verhaltensabsichten gelangen. Wie in Kapitel 3 beschrieben ist diese interindividuell unterschiedliche Deutung möglich, weil jeder Mensch zum einen Mitglied in verschiedenen Interaktions- und Deutungsräumen sowie im übergeordneten Möglichkeitsraum ist, zum anderen als operativ geschlossenes, selbstreferentielles Bewusstseinssystem soziale Wirklichkeitskonstruktionen nur als individuelle, auf der eigenen Wirklichkeitsordnung basierende Re-Interpretation interiorisiert. Jede individuelle Wirklichkeitsordnung der Organisationsmitglieder besteht daher nur zu einem Teil aus kollektiven, d.h. interindividuell ähnlichen Deutungsmustern der Organisation, welche in Kombination mit Deutungsmustern anderer kollektiver Wirklichkeiten und individuellen Lernerfahrungen zur Einzigartigkeit der individuellen Wirklichkeitsordnung führen. Daher können Konflikte, die neue, alternative, irritierende und störende Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten in den Prozess der kollektiven Wirklichkeitskonstruktion bringen, nahezu immer und überall im organisationalen Kontext auftreten.247 TP
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Dies können Deutungsmuster sein, die durchaus bewährter Bestandteil der kollektiven Wirklichkeitsordnung sind, aber bisher in einem anderen Kontext oder in anderen Subsystemen, z.B. Abteilungen, Fachbereichen etc, angewandt wurden. So kann z.B. ein kundenorientierter Denkansatz, der im Marketing eines Unternehmens normal ist, für die F&E- oder Produktionsabteilung durchaus neu und irritierend sein. Vgl. Baitsch 1993:33ff; Rüegg-Stürm 2001:315
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Es ist aber nicht jeder Konflikt in Organisationen geeignet, Reflexion und organisationalen Wandel anzustoßen. Folgende Voraussetzungen müssen erfüllt sein: 1) Bezug zur organisationalen Wirklichkeitsordnung Nur jene organisationsinternen Interaktionen (Besprechungen, informelle Treffen etc.) und damit Konflikte sind von Relevanz, in denen die Thematik tatsächlich in einem Zusammenhang mit der organisationalen Wirklichkeitsordnung steht und zu der bereits bewährte, verfestigte organisationale Deutungsmuster bestehen. Dies kann sämtliche Bereiche der vielfältigen und komplexen organisationalen Wirklichkeit betreffen, z.B. Arbeitsprozesse, Organisationsstrukturen, Strategien, Produkte, Kunden und Märkte, Führungsphilosophien usw. In solchen organisationsbezogenen Interaktionen kann davon ausgegangen werden, dass alle Beteiligten eine gemeinsame Wirklichkeitskonstruktion (d.h. eine Entscheidung) als Ergebnis des Interaktionsprozesses explizit oder implizit als notwendig oder wünschenswert erachten. Dies schließt Konflikte aus, die persönliche Themen zum Inhalt haben bzw. sich nicht auf organisationale Deutungsmuster beziehen, beispielsweise Konflikte über bestimmte Verhaltensweisen zwischen Kollegen (z.B. zu lautes Telefonieren, Rauchen, Unpünktlichkeit o.ä.). Allerdings ist dabei zu beachten, dass auch die Wahrnehmung und Kategorisierung von Konfliktinhalten individuelle, beobachterabhängige Wirklichkeitskonstruktionen sind. Konflikte, die sich auf den „ersten Blick“ auf persönliche, nicht-organisationale Themen beziehen, können bei einer anderen Beobachtungsperspektive u.U. durchaus als organisationsrelevant wahrgenommen werden. Insbesondere Beobachtungen und Bewertungen von Verhaltensweisen von Mitarbeitern erfolgen aufgrund expliziter oder impliziter Verhaltensnormen, die organisationale und / oder individuelle Deutungsmuster sein können. Ein Konflikt um Unpünktlichkeit kann z.B. durchaus zur Reflexion darüber einladen, ob pünktliches Erscheinen am Arbeitsplatz tatsächlich notwendig ist oder ob z.B. Terminplanungen in der Organisation zu eng gesetzt werden. Ein vorschnelles Abstempeln von interpersonalen Konflikten als rein persönlich kann somit Chancen zur Irritation und Veränderungsanregung eingrenzen. Letztlich hilft hier nur die bewusste individuelle und kollektive Reflexion der Wahrnehmungen und Deutungen. 2) Irritation der verfestigten Wirklichkeitsordnung Die im Konflikt exteriorisierten Deutungen müssen auf die Beteiligten tatsächlich irritierend wirken. Grundsätzlich ist dies möglich, wenn sich die bisher bewährten und verfestigten Deutungsmuster in ihrer Anwendung als nicht mehr viabel erweisen oder wenn alternative Deutungsmöglichkeiten wahrgenommen werden, die ebenfalls viabel erscheinen. Im hier interessierenden Fall zwischenmenschlicher Konflikte erfolgt die Irritation im Interaktionsraum dadurch, dass einer der Beteiligten explizit oder implizit eine Alternativdeutung in den sozialen Konstruktionsprozess einbringt 100
und damit die Einzigartigkeitsannahme der verfestigten Deutungsmuster irritiert.248 Das Potenzial für Störungen ist somit in den meisten Konflikten – insbesondere bei bewährten, routinierten Prozessen sozialer, organisationsbezogener Wirklichkeitskonstruktion – zu erwarten, da häufig nur ein kollektives Deutungsmuster verfestigte Routine bezüglich eines organisationalen Kontextereignisses ist, welches durch die Exteriorisierung einer widersprüchlichen Deutung irritiert wird. Ob ein zwischenmenschlicher Konflikt tatsächlich irritierend auf die individuelle und soziale Wirklichkeitsordnung wirkt, hängt aber u.a. von den Erwartungen der Beteiligten ab, die wiederum Teil der individuellen Wirklichkeitsordnung, also selbst Deutungsmuster sind. Erwartet eine an der Interaktion beteiligte Person, dass die anderen Beteiligten ein organisationsbezogenes Ereignis genauso wahrnehmen und deuten wie sie und daraus entsprechend gleiches Anschlussverhalten ableiten, so ist es irritierend, wenn zumindest einer der Beteiligten eine ganz andere Deutung oder Handlungsalternative exteriorisiert bzw. der eigenen Exteriorisierung widerspricht. Nicht irritierend wirkt ein Widerspruch, wenn die abweichende Deutung von den Interaktionsbeteiligten erwartet wurde. Dies ist dann z.B. der Fall, wenn zwischen beiden Beteiligten aufgrund ihrer persönlichen Beziehungsgeschichte oder aufgrund der Rollen und Funktionen, die sie in der Organisation bekleiden, ein Widerspruch in den Deutungen bereits verfestigt und institutionalisiert ist. In diesem Fall wird mit einiger Wahrscheinlichkeit die Zustimmung einer Person zu den Exteriorisierungen der anderen irritierend für alle Interaktionsteilnehmer wirken. Zudem müssen die Störung des Prozesses der sozialen Wirklichkeitskonstruktion und die Irritation der Deutungsmuster durch die Widersprüchlichkeit und Kontingenz der Deutungen auch tatsächlich wahrgenommen werden, d.h. die Interaktionsbeteiligten dürfen die neuartige, irritierende Exteriorisierung zu Konfliktbeginn nicht einfach in ihrer Wahrnehmung unbewusst assimilieren oder bewusst ignorieren. Ab wann eine mögliche Irritation verfestigter Deutungsmuster durch ein Individuum tatsächlich wahrgenommen und bewusst reflektiert wird, lässt sich nicht exakt bestimmen oder gar quantifizieren. Esser (1972) hat in seinem Modell der individuellen Konfliktverarbeitung einen sog. „Randschwellenbereich“ beschrieben, in dem Konfliktpotenzial nicht in tatsächliches Konfliktverhalten mündet.249 Dieser wird bei Esser bestimmt durch Bewusstwerdungsprozesse, die subjektive Betroffenheit und die individuelle Konflikttoleranz. Aus konstruktivistischer Sicht ergibt sich dieser „Randschwellenbereich“ aus den Assimilationsprozessen der Beobachtung, d.h. der TP
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Bei dem Interaktionsmitglied, welches die neue Deutung in den Interaktionsraum einbringt, kann diese entweder das in der individuellen Wirklichkeitsordnung bewährte und verfestigte Deutungsmuster sein, d.h. ihm ist die Neuartigkeit dieses Deutungsmusters nicht unbedingt bewusst (z.B. neue Organisationsmitglieder, Externe, Mitarbeiter anderer Organisationseinheiten), oder es hat das neue Deutungsmuster selbst in individuellen Lernprozessen, ausgelöst durch Störungen der individuellen Wirklichkeitskonstruktion aufgrund wahrgenommener Nicht-Viabilität oder Kontingenz der bewährten Deutungsmuster, erlernt. Vgl. Esser 1972:191ff; vgl. auch Berkel 1984:21f; siehe auch Kap. 4.1.2; Zu „Konfliktverhalten“ gehört bei Esser auch bewusstes ´Nicht-Handeln´, also das Versickern oder Ignorieren des Konfliktes; dieses gehört daher nicht zum „Randschwellenbereich“.
101
„Anpassung“ des eingeklammerten Ereignisses an die vorhandenen Deutungsmuster. Die Wahrnehmung der Unvereinbarkeit ist eine individuelle Konstruktion, die, solange sie nicht erfolgt, auch nicht existiert. Von einem zwischen-menschlichen Konflikt kann aus der konstruktivistischen Perspektive somit erst gesprochen werden, wenn mindestens ein anderer Interaktionsteilnehmer den Widerspruch bzw. die Unvereinbarkeit der Deutungen wahrnimmt und entsprechend reagiert. Solange die anderen Interaktionsbeteiligten einen Widerspruch assimilieren oder ignorieren, aber nicht durch eigene Interaktionsbeiträge auf ihn eingehen, liegt kein Konflikt vor. Die Notwendigkeit der Störung der kollektiven Wirklichkeitskonstruktion im Interaktionsprozess bedeutet aber nicht, dass den Beteiligten im Moment der Irritation und Konfliktentstehung bereits bewusst ist oder bewusst sein muss, dass der Konflikt Teile der verfestigten organisationalen Wirklichkeitsordnung infrage stellt und alternative Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten thematisiert. Diese Reflexion des Konfliktes muss im weiteren Verlauf der Interaktion erfolgen. 3) Konstruktive Interaktion Das Auftreten einer Konfliktinteraktion über verschiedenartige Deutungen eines organisationsbezogenen Ereignisses allein reicht noch nicht für mögliche organisationale Veränderungen. Die verschiedenen Wahrnehmungs-, Deutungs- und Verhaltensmöglichkeiten müssen in der Interaktion auch thematisiert werden, um bei den Beteiligten zur Irritation und bewussten Reflexion der verfestigten kollektiven Deutungsmuster zu führen. Erst dann können potentielle Änderungen der organisationalen Wirklichkeitsordnung diskutiert und kann gemeinsam Wirklichkeit konstruiert werden. Dafür bedarf es einer ergebnisoffenen, toleranten und reflektierenden Diskussion der verschiedenen Deutungsalternativen und der Hinterfragung der ihnen zugrunde liegenden Grundannahmen in den jeweiligen individuellen und organisationalen Wirklichkeitsordnungen. 4) Organisationale Deutungsmacht der Beteiligten Aber auch die offene und reflektierende Diskussion von Irritationen und die Konstruktion alternativer Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten sind noch nicht hinreichend für den tatsächlichen Anstoß von organisationalem Wandel. Dafür ist abschließend notwendig, dass zumindest ein Beteiligter innerhalb der Organisation genügend Deutungsmacht besitzt, um mögliche Irritationen und gemeinsam konstruierte Modifikationen organisationaler Deutungsmuster als Ergebnis der Interaktion auch in der Organisation weiter zu thematisieren, zu fixieren und zu verbreiten, um so den Prozess der Systemveränderung weiter voranzutreiben und im Prozessmodell für organisationalen Wandel (vgl. Abb. 10) den Übergang von Phase I („Entstehungsphase“) zu Phase II („Umsetzungsphase“) zu vollziehen. 102
Sowohl die in Kapitel 4.1.3 dargestellten negativen Konfliktauswirkungen als auch die persönlichen Erfahrungen, die wohl jeder schon einmal in Organisationen gesammelt hat, verdeutlichen, dass nicht jeder Konflikt, der sich zwischen Menschen in Organisationen ergibt, Entstehungsarena für organisationalen Wandel sein kann, auch wenn die genannten Bedingungen in einer Gruppe oder Organisation immer erfüllt wären. Folgende Gründe sprechen dagegen: - Konfliktinteraktionen binden Zeit, Aufmerksamkeit und ggf. weitere Ressourcen. - Grundannahmen und Entscheidungen können nicht permanent infrage gestellt und reflektiert werden. Zum einen erfüllen verfestigte, bewährte Deutungsmuster für Organisationen genauso wie für Individuen eine wesentliche Stabilisierungsfunktion, ohne die Lernen und entsprechend erfahrungsgeleitetes Handeln unmöglich wären. Zum anderen sind grundsätzlich alle Entscheidungen kontingent und damit auch anders möglich. Permanente Reflexion würde also eine endlose Schleife ergeben, in der jede einmal getroffene Entscheidung sofort wieder infrage gestellt wäre. In Kap. 2.3.3 wurde darauf verwiesen, dass Führung in Organisationen eben auch und vor allem bedeutet, eine Balance zwischen stabilisierender Festlegung und Verfestigung einerseits sowie Irritation und Reflexion andererseits zu finden. - Nicht jede Konfliktkonstellation ist für konstruktive Konflikte und kooperatives Vorgehen geeignet. Wenn bspw. die Deutungen eines Interaktionsmitgliedes in inakzeptabler Weise gegen grundlegende Wertvorstellungen der Organisation verstoßen, kommt eine Modifikation der organisationalen Wirklichkeitsordnung aus normativen oder ethischen Gründen nicht infrage.250 Allerdings darf bei dieser Einschränkung nicht übersehen werden, dass normative Rahmenbedingungen oder begrenzte Ressourcen, um die Konflikte stattfinden können, ebenfalls verfestigte organisationale Konstruktionen sind, deren Hinterfragung z.T. hilfreich und wandelförderlich sein kann. Eine Entscheidung darüber kann nur für den Einzelfall getroffen werden und sollte dabei bewusst reflektiert sein. - Schließlich führt auch jeder Konflikt i.d.R. zu psychischen (und meist auch physischen) Anspannungen bei den Beteiligten und sollte im Interaktionsraum daher kein Dauerzustand sein.251 TP
TP
PT
PT
Somit kann und soll nicht jeder Konflikt, der in organisationalen Interaktionsräumen entsteht, auf die zugrunde liegenden Deutungsmuster hinterfragt und nach Störungsund Wandelpotenzial hin untersucht werden. Die relativ schnelle, möglichst unproblematische Konfliktlösung oder Beilegung wird in Interaktionen immer auftreten und notwendig sein, zumal die konstruktivistische Konfliktdefinition dieser Arbeit jede Form exteriorisierten und thematisierten Widerspruches als Konflikt versteht. Es liegt letztlich in der Entscheidung der Interaktionsbeteiligten und insbesondere der verantwortlichen Führungskraft, ob ein entstehender Konflikt als 250 TP
PT
TP
251 PT
Vgl. Tjosvold 1993:10f Vgl. Berkel 1984:31; 1995:270; 2003:401; Glasl 2004:39; Regnet 2001:73; Grüne 1999
103
Reflexions- und Diskussionsrahmen kollektiver Wirklichkeitskonstruktionen genutzt wird oder nicht. Dabei ist aber zu beachten, dass der Umgang mit Konflikten und den Beteiligten bei dieser schnellen Beilegung immer Auswirkungen über die Interaktion hinaus hat, indem er auf die Konflikterfahrungen der Beteiligten und damit auf die Organisations-, Kommunikations- und Konfliktkultur wirkt, was letztlich Konsequenzen für die Konflikt- und damit Wandelfähigkeit der Organisation hat.
4.2.2 Initiierung organisationalen Wandels als zwischenmenschlicher Konflikt Die Initiierung organisationalen Wandels setzt die Störung der kollektiven Prozesse der Wirklichkeitskonstruktion und die Irritation der verfestigten organisationalen Deutungsmuster sowie die Thematisierung und offene, reflektierende Diskussion dieser Störungen und der zugrunde liegenden Wirklichkeitsordnung voraus. Da Beobachtung und Verhalten des Sozialsystems „Organisation“ nur durch die Organisationsmitglieder möglich sind, können auch diese Störungen des Konstruktionsprozesses und ggf. alternative Deutungsmöglichkeiten nur durch einzelne Individuen in die Organisation eingebracht werden, indem diese NichtViabilitäten oder alternative Wirklichkeitskonstruktionen beobachten und im organisationalen Interaktionsraum exteriorisieren.252 TP
PT
Dabei ist es sehr unwahrscheinlich, dass alle Interaktionsbeteiligten dieser neuen, irritierenden Deutung sofort zustimmen werden. Dies wäre nur in zwei Fällen möglich: - Der Exteriorisierende besitzt – zumindest bezüglich des Themas – eine so hohe Deutungsmacht innerhalb der Organisation (z.B. durch anerkannte Fachkompetenz oder Position), dass seine Alternativkonstruktionen widerspruchslos von den anderen Beteiligten akzeptiert und tatsächlich als soziale Wirklichkeit interiorisiert und angewandt werden. Dies bedeutet aber gleichzeitig, dass bezüglich dieses Themas nur die Wahrnehmungen, Interpretationen und Handlungsabsichten dieser einen Person in die organisationale Wirklichkeitsordnung eingehen und das Potenzial alternativer Beobachtungen und Deutungen aufgrund der Vielfalt individueller Wirklichkeitsordnungen in der Organisation nicht genutzt wird.
TP
252 PT
Vgl. Kap. 4.1. I.d.R. erfolgt diese erstmalige Exteriorisierung einer irritierenden Alternativdeutung in Interaktionen (also Face-to-face, z.B. in Besprechungen). Möglich ist ebenfalls die schriftliche Exteriorisierung (Kommunikation), falls der Exteriorisierende genügend organisationale Deutungsmacht besitzt, solche Veränderungen selbständig zu fixieren. In jedem Fall erfolgt eine tatsächliche organisationale Veränderung im Bedeutungsraum aber nur, wenn durch die Exteriorisierung Prozesse sozialer Wirklichkeitskonstruktion angestoßen werden, die dazu führen, dass die Alternativdeutung bzw. das entsprechende Deutungsmuster als soziale Konstruktion von den relevanten Beteiligten interiorisiert und angewandt wird.
104
-
Ein organisationsbezogenes Kontextereignis führt bei allen Beteiligten gleichzeitig zu ähnlichen Beobachtungen von Nicht-Viabilität oder Kontingenz der organisationalen Wirklichkeitsordnung und damit zur Störung der individuellen Wirklichkeitskonstruktion und Irritation kollektiver Deutungsmuster. Dieses Szenario ist vorstellbar bei besonderen Kontextereignissen, die innerhalb der organisationalen Wirklichkeitsordnung als hoch relevant gelten und den Beteiligten wenig Interpretationsspielraum lassen. Solche Ereignisse können z.B. schlechte Unternehmenskennzahlen oder besondere Marktentwicklungen und Schritte von Konkurrenten sein. Selbst dann ist es aber eher unwahrscheinlich, dass alle Beteiligten die gleiche Alternativdeutung konstruierten und dieser in der Interaktion auf Anhieb zustimmen.
Die Wahrscheinlichkeit ist also sehr hoch, dass die erstmalige Exteriorisierung von alternativen Deutungsmöglichkeiten und die damit verbundene Störung des Prozesses sozialer Wirklichkeitskonstruktion eine zunächst einseitige individuelle Wirklichkeitskonstruktion ist. Im Interaktionsprozess, in dem kollektive Wirklichkeit konstruiert wird, muss diese Exteriorisierung – mit Ausnahme der beiden o.g. Situationen – beinahe zwangsläufig entweder zum Ignorieren oder Assimilieren durch die anderen Interaktionsteilnehmer oder aber zu deren Widerspruch führen, da sie ihre – i.d.R. bewährten und verfestigten – Deutungsmuster in der aktuellen sozialen Wirklichkeitskonstruktion durchsetzen wollen.253 Daher impliziert die Ursprungssituation organisationaler Veränderungen, die irritierende Exteriorisierung von Deutungs- und Verhaltensalternativen, fast immer die Grundkonstellation zwischenmenschlicher Konflikte: in einer Interaktionssituation, in der eine gemeinsam konstruierte, geteilte Wirklichkeit das explizite oder implizite Ziel ist, steht eine neue Interpretation in einem zunächst unvereinbaren Widerspruch zu der bewährten Deutung eines organisationalen Kontextereignisses. Dies verdeutlicht, dass der Umgang mit Konflikten und Widerspruch eine entscheidende Bedeutung für die Reflexions- und Wandelfähigkeit einer Organisation hat: die Möglichkeit, durch die Exteriorisierung irritierender, neuartiger Deutungen den Prozess der sozialen Wirklichkeitskonstruktion zu stören und dabei auch Konflikte um die Viabilitäten sowie Vor- und Nachteile der Deutungen auszulösen und konstruktiv auszutragen, ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass der prinzipielle Konservatismus in der Wirklichkeitskonstruktion von Organisationen gestört werden kann und neuartige Beobachtungs- und Handlungsmuster Eingang in das System finden. Beobachten TP
TP
253 PT
PT
Eine weitere Ausnahme bilden Interaktionssituationen, in denen bewusst nach alternativen Deutungsmöglichkeiten gesucht wird. Dies können z.B. Strategietreffen sein, aber auch normale Besprechungen, wenn die Organisations- und Kommunikationskultur dies zulässt. In diesen Fällen konstruieren zwar nicht alle Beteiligten aufgrund der Beobachtung eines Kontextereignisses eine ähnliche Wirklichkeit, der Widerspruch in der Interaktion wird aber aufgeschoben, um Diskussionen alternativer Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten später durchzuführen und Entscheidungen anschließend zu treffen. Solche bewusst kontingent gehaltenen Interaktionen können ein Instrument des Change Management sein und werden im weiteren Verlauf der Arbeit explizit thematisiert (vgl. Kap. 4.3.3).
105
Organisationsmitglieder, dass Konflikte häufig oder für den Einzelnen unberechenbar unterdrückt, sanktioniert oder mit vorschnellen Kompromisslösungen beendet werden, exteriorisieren diese mit hoher Wahrscheinlichkeit alternative Deutungen und neue Ideen weniger oder überhaupt nicht mehr. Da aber nur durch Organisationsmitglieder als beobachtende und handelnde Systemelemente Alternativdeutungen in den organisationalen Prozess der Wirklichkeitskonstruktion eingebracht werden können, reduziert sich das Irritations- und Störungspotenzial in der Organisation mit jedem Organisationsmitglied, das keine abweichenden Interpretationen mehr exteriorisiert.
4.2.3 Zusammenfassung der Kernthese Beide dargestellten Perspektiven verdeutlichen: Voraussetzungen für organisationale Veränderungen sind die Irritation bisher bewährter und verfestigter Deutungsmuster der organisationalen Wirklichkeitsordnung, indem entweder ihre Nicht-Viabilität oder alternative Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten wahrgenommen werden, sowie die Thematisierung dieser Irritationen im organisationalen Interaktionsraum. Zwischenmenschliche Konflikte als Interaktionen über nicht miteinander vereinbare Wirklichkeitskonstruktionen und Handlungsabsichten sind eine mögliche Interaktionsart, in der beide Bedingungen erfüllt sein können. Gleichzeitig führt die Exteriorisierung neuartiger Deutungsmöglichkeiten in organisationalen Interaktionsräumen mit hoher Wahrscheinlichkeit zu zumindest anfänglichem Widerstand bei anderen Interaktionsbeteiligten, da diese die bewährten Deutungsmuster zur Interpretation nutzen. Das für Wandel notwendige, erstmalige Einbringen alternativer Deutungen durch einzelne Individuen führt somit in dem meisten Fällen zu Konflikten oder konfliktähnlichen Interaktionen. Die ursprüngliche Entstehung von organisationalen Veränderungen kann demzufolge in intraorganisationalen zwischenmenschlichen Konflikten stattfinden und ist gleichzeitig ohne einen bewussten und konstruktiven Umgang mit Konflikten sehr unwahrscheinlich. Die Überwindung des organisationalen Konservatismus und die Nutzung der vielfältigen Irritations- und alternativen Deutungspotenziale, die die Organisationsmitglieder in das System einbringen, sind ohne die Konfrontation von neuartigen und verfestigen Deutungen kaum möglich. Damit geht die Kernaussage dieser Arbeit weit über die bisherigen wissenschaftlichen Konstruktionen zur Rolle zwischenmenschlicher Konflikte im Change Management hinaus; sie bieten nicht nur eine Möglichkeit für Kreativität und Innovation, sondern sind elementar mit der interaktional thematisierten Irritation der verfestigten organisationalen Wirklichkeitsordnung als Voraussetzung für Wandel verbunden. Der Umgang mit Konflikten ist ein entscheidender Faktor für die generelle Reflexions- und Veränderungsfähigkeit der Organisation sowie für das Erkennen und Nutzen von Irritations- und Wandelchancen in konkreten Interaktionen. 106
5
Rahmenbedingungen für irritations- und lerntolerante Konflikte – Modell und Ableitungen für die betriebswirtschaftliche Praxis
5.1
Grundlagen der Modellentwicklung
5.1.1 Theoretische Grundlagen Im Folgenden werden Rahmenbedingungen betrachtet, die Einfluss darauf nehmen, ob in zwischenmenschlichen Konflikten oder potentiell konfliktären Situationen von den Beteiligten alternative, der verfestigten organisationalen Wirklichkeit widersprechende Deutungen und Handlungsabsichten im organisationalen Interaktionsraum eingebracht werden, dort tatsächlich aufgenommen und ergebnisoffen thematisiert werden und letztlich zur Reflexion der organisationalen Wirklichkeitsordnung und ihrer Alternativen führen. Diese Rahmenbedingungen beeinflussen somit den Verlauf und die Ergebnisse von intraorganisationalen Konflikten, die Konsequenzen der Exteriorisierung von Veränderungsideen und die generelle Wandelfähigkeit der Organisation. Dabei sei erneut darauf hingewiesen, dass zwischen Konfliktinteraktionen, den darzustellenden Faktoren und der Initiierung organisationaler Veränderungen kein unikausaler, deterministischer Zusammenhang besteht. Der tatsächliche Verlauf solcher Interaktionen hängt von den Wirklichkeitskonstruktionen und vom Verhalten der beteiligten Individuen ab, die zum einen frei über ihr Verhalten entscheiden und durch Regeln, Vorgaben und Führung nicht determiniert, sondern höchstens beeinflusst werden können, deren interaktionales Zusammenwirken aus wechselseitigen Beobachtungen und Verhaltensbeiträgen zum anderen eine Eigendynamik entwickelt, die ebenfalls nicht durch einzelne Personen (z.B. verantwortliche Führungskräfte) deterministisch gesteuert werden kann. Daher sind folgende Rahmenbedingungen Faktoren, die die Wahrscheinlichkeit konstruktiver Konfliktverläufe und erfolgreicher Irritationen im Interaktionsraum erhöhen und damit Möglichkeiten der Reflexion und Veränderung schaffen, aber keine Gesetzmäßigkeiten im Sinne konkreter „Stellräder“, deren Bedienung vorhersagbare und sichere Konsequenzen bringt. Konflikte sind im Verständnis dieser Arbeit Interaktionen, lassen sich also im Bezugsrahmen, dem Modell der Wirklichkeitsräume, als Prozess sozialer Wirklichkeitskonstruktion im Interaktionsraum verorten. Gleichzeitig wurde im Bezugsrahmen der Arbeit gezeigt, dass das situative Verhalten der Individuen im Interaktionsraum von deren Wahrnehmungen und Interpretationen abhängig ist und damit durch die bestehenden individuellen Wirklichkeitsordnungen bestimmt wird, auch wenn die Verhaltensentscheidungen letztlich frei fallen. Um die Einflussfaktoren auf den Konfliktverlauf und seine Konsequenzen zu verstehen, müssen diese daher sowohl in situativen Faktoren im Interaktionsraum gesucht werden als auch in 107
längerfristigen, interaktions-übergreifenden Faktoren und Rahmenbedingungen, die Beobachtung und Verhalten der Individuen im Interaktionsraum beeinflussen. Zu diesen längerfristigen Rahmenbedingungen zählen zum einen verfestigte organisationale Deutungsmuster im Bedeutungsraum, zum anderen individuelle Deutungsmuster im Sinnraum der Beteiligten, die sie nicht gemeinsam mit den anderen Organisationsmitgliedern entwickelt haben, sondern aus anderen Bereichen der individuellen und sozialen Wirklichkeitskonstruktion stammen. Ein Modell, das Rahmenbedingungen für konstruktive zwischenmenschliche Konflikte als Ort für die Irritation, Reflexion und ggf. Modifikation verfestigter organisationaler Deutungsmuster theoretisch fundiert und praktisch umsetzbar herleitet und beschreibt, gibt es bisher m.W. nicht. Daher kann in der Modellentwicklung dieser Arbeit nicht auf einen vorhandenen Ansatz aufgebaut werden. Die existierende Konfliktforschung sowie einige angrenzende Forschungsgebiete der sozialpsychologischen Gruppen- und Konfliktforschung haben sich aber mit Fragestellungen beschäftigt, die Anregungen, Anhaltspunkte und verwendbare Forschungsergebnisse für die Generierung und Bewertung der Rahmenbedingungen für konstruktive, Reflexion und Wandel auslösende Konflikte im Sinne der Forschungsfrage dieser Arbeit liefern können, auch wenn sie nicht mit Wandelfähigkeit von Individuen oder Organisation i.e.S. thematisieren. Diese Forschungsgebiete sind neben der Konfliktforschung die sozialpsychologische Erforschung von Entscheidungsprozessen in Gruppen, die „Minority dissent“-Forschung und die Groupthink-Forschung.254 Zur Entwicklung des Modells der Rahmenbedingungen für irritations- und lerntolerante Konflikte soll daher auf die Forschungsergebnisse dieser Bereiche zurückgegriffen werden, indem sie aus der konstruktivistischen Perspektive dieser Arbeit in Hinblick auf die Forschungszielsetzung diskutiert, ggf. erweitert und durch Experteninterviews ergänzt werden, in denen Praktiker ihre Sichtweise und Erfahrungen zu diesen Rahmenbedingungen schildern (siehe Kap. 5.1.2). Aus der Vielfalt an Variablen, die in diesen Forschungsfeldern untersucht wurden, sollen aber nur solche Faktoren herangezogen werden, die für die Forschungszielsetzung dieser Arbeit relevant und im Rahmen der organisationalen Führung und Interaktionsgestaltung tatsächlich beeinflussbar sind.255 TP
PT
P
254 TP
PT
TP
255 PT
P
Die Theoriebereiche sind miteinander verwandt und überlappen sich z.T. in den Untersuchungsfeldern und Vertretern. Die Unterscheidung in die vier Bereiche orientiert sich an ihrer originären Forschungszielsetzung und dient der besseren Einordnung der im Folgenden generierten und dargestellten Rahmenbedingungen. Ein Einflussfaktor, der in vielen Forschungsarbeiten untersucht wurde und im Folgenden auch betrachtet wird, ist bspw. die Wirkung der Gruppenzusammensetzung auf den Konfliktverlauf und die Meinungsbildung in Gruppen. In der existierenden Forschung wurde die Zusammensetzung jedoch teilweise hinsichtlich Geschlechtes, Alter und Ethnie als Variable genutzt. Diese Faktoren sind aber in Gruppen im organisationalen Alltag aus praktischen und/oder ethischen Gründen i.d.R. nicht variierbar und werden bei der Betrachtung der Rahmenbedingungen nicht berücksichtigt.
108
a) Erforschung konstruktiver Konflikte in der Konfliktforschung In Kap. 4.1.2 wurde bereits gezeigt, dass in der bisherigen Konfliktforschung auch konstruktive Konfliktauswirkungen untersucht wurden, z.B. mögliche Effektivitätsund Effizienzsteigerungen, verbesserte Problemlösungs- und Entscheidungsqualität sowie erhöhte Akzeptanz getroffener Entscheidungen, das Aufzeigen von Problemen und der Abbau von Spannungen, die Verbesserung der Konfliktbewältigungskompetenzen usw. Teilweise wurde dabei auch die gezielte Stimulation von Konflikten thematisiert. Bei der Frage nach Bedingungen und Faktoren, die Einfluss auf die Möglichkeiten konstruktiver Konfliktverläufe und -ergebnisse nehmen, stehen insbesondere das Führungsverhalten und das Konfliktmanagement (inklusive der Rolle einer dritten Partei sowie der Konfliktstimulation), die Interessens- und Zielabhängigkeit der Konfliktparteien untereinander, die Kommunikations- und Konfliktnormen, die Art der Gruppenaufgabe sowie der Konflikttyp (affektiv oder kognitiv) im Mittelpunkt der Forschungen.256 TP
PT
b) Groupthink-Forschung Die Groupthink-Forschung geht auf Janis (1982) zurück. Er untersuchte ex post verschiedene reale Fehlentscheidungen von Gruppen mit fatalen, oft weitreichenden Konsequenzen, z.B. die Schweinebucht-Invasion oder die Challenger-Katastrophe. Daraus konstruierte er das Groupthink-Phänomen, bei dem übertriebenes Streben nach Übereinstimmung, verursacht durch eine hohe Gruppenkohäsion, organisationale Strukturmängel und einen provokativen situativen Kontext, zur Selbstüberschätzung der Gruppe, Konformitätsdruck und Ausblenden von Alternativen führen und damit die Wahrscheinlichkeit für fehlerhafte Entscheidungsprozesse in Gruppen steigt. Das Modell wurde aus konzeptionellen und methodischen Gründen kritisiert und vielfach modifiziert bzw. gänzlich neu konstruiert. Die Mehrzahl der Forscher stimmt aber darin überein, dass es grundsätzlich ein Gruppenkonformitätsphänomen dieser Art gibt, umstritten sind vor allem die von Janis konstruierten kausalen Zusammenhängen zwischen auslösenden bzw. beeinflussenden Faktoren und Wirkung. Für die Forschungsfrage dieser Arbeit ist insbesondere interessant, wie diese überzogene Gruppenkonformität und die daraus resultierenden Fehlentscheidungen aus Sicht der GroupthinkForschung verhindert werden sollen, denn auch die Nutzung von Konflikten zur Irritation und Reflexion verfestigter kollektiver Wirklichkeit soll Konformität aufbrechen und wird zugleich durch deren Ursachen und Rahmenbedingungen eingeschränkt und behindert. In der Groupthink-Forschung untersuchte Faktoren, Bedingungen und Ansatzpunkte zur Reduktion der Konformität, die sich auf die Forschungsfrage dieser Arbeit übertragen lassen, sind die Zusammensetzung der Gruppe bezüglich ihrer TP
TP
256 PT
PT
Vgl. Deutsch 1976; 1994; 2000; Tjosvold 1990; 1997; Jehn 1994; 1995; 1997; 1999; Amason/Schweiger 1997; De Dreu/De Vries 1997; Van de Vliert 1997
109
Homogenität, die Methoden zur Stimulation von Widerspruch, die Trennung der Interaktion in eine Differenzierungs- und eine Integrationsphase, die Auswirkung von Einigungs- und Entscheidungsdruck sowie die Kommunikationsnormen der Gruppe.257 TP
PT
c) Erforschung strategischer Entscheidungsprozesse in Gruppen In diesem Bereich der sozialpsychologischen Kleingruppenforschung werden das Zustandekommen von Gruppenentscheidungen und dabei auftretende Wahrnehmungs- und Beurteilungsverzerrungen, meinungsbeeinflussende Faktoren sowie Konformitätstendenzen untersucht. Damit bietet auch dieses Forschungsgebiet interessante Anregungen und Forschungsergebnisse zu der Frage, wie in Gruppenentscheidungsprozessen verschiedene Meinungen und neue bzw. abweichende Ideen berücksichtigt werden bzw. wie es zu Verzerrungen, Konformität und der Ignorierung oder Verdrängung alternativer Sichtweisen kommt. Als Einflussfaktoren wurden in den Forschungsarbeiten die Diversität in der Gruppenzusammensetzung, die Trennung zwischen einer Differenzierungs- und einer Integrationsphase, die Kommunikationsnormen und die Methoden der künstlichen Dissenserzeugung betrachtet, welche sich in die Forschungszielsetzung dieser Arbeit integrieren lassen.258 TP
PT
d) Minority dissent-Forschung Die Minority dissent-Forschung hat ihren Ursprung in der Theorie vom sozialen Einfluss und sozialen Wandel von Moscovici (1976) sowie in der Konversionstheorie, ebenfalls von Moscovici (1980, 1985), und wurde u.a. von Nemeth (1986) und De Vries et al. (1996) weiterentwickelt. Dieser Forschungsbereich geht der Frage nach, wie und unter welchen Bedingungen Meinungsminderheiten in Gruppen Einfluss auf die Meinungsbildung und Entscheidungsfindung nehmen können. Für die Forschungsfrage dieser Arbeit sind die Ergebnisse interessant, da auch die Exteriorisierung irritierender, den verfestigten Deutungsmustern widersprechender Interpretationen in organisationalen Konfliktinteraktionen meist aus einer Einzel- oder Minderheitenposition heraus erfolgt, während die Mehrheit der Interaktionsteilnehmer zumindest zunächst die verfestigte und bewährte Deutung sieht (vgl. Kernthese Teil 2, Kap. 4.2.2). Untersuchte Einflussfaktoren auf die Chancen der Minderheit, ihre Position in der Gruppe einzubringen und ggf. durchzusetzen, welche auch für die Forschungszielsetzung dieser Arbeit von Relevanz sein können, sind
257 TP
PT
TP
258 PT
Vgl. Janis 1982, Lüthgens 1997; Schulz-Hardt 1997 Vgl. z.B. De Dreu/De Vries 1993; Schulz-Hardt et al. 1999, 2000; Brodbeck et al. 2002; SchulzHardt/Jochims/Frey 2002
110
das Verhalten der Minderheit in der Interaktion, die Auswirkung von Zeit- und Einigungsdruck sowie die Normen in der Gruppe.259 TP
PT
Fasst man die existierenden Ergebnisse aus den herangezogenen relevanten Forschungsgebieten zusammen, können insgesamt zehn Einflussfaktoren herauskristallisiert werden, die wesentlichen Einfluss darauf nehmen, ob in einer Organisation konstruktive, Irritation und Reflexion verfestigter Wirklichkeiten ermöglichende Konflikte wahrscheinlich sind und wie solche Konflikte in der konkreten Situation ausgetragen werden (vgl. Abb. 14).260 Als interaktionsübergreifende Rahmenbedingungen, die Einfluss auf das Zustandekommen und den Verlauf von Konflikten nehmen, werden daher im Folgenden untersucht: - die Beziehung der individuellen Zielsetzungen der Gruppenmitglieder zueinander (Kap. 5.2.1) - die Zusammensetzung von Gruppen in der Organisation bezüglich ihrer Diversität (Kap. 5.2.2) - die Kommunikations- und Konfliktkultur in der Gruppe/Organisation (Kap. 5.2.3) - die individuellen Fähigkeiten und Einstellungen (Kap. 5.2.4) - der Führungsstil und das Führungsverhalten der Führungskraft in der Interaktion. (Kap. 5.2.5) TP
PT
Die ersten drei Determinanten lassen sich im Modell der Wirklichkeitsräume in den Bedeutungsraum verfestigter kollektiver Wirklichkeiten einordnen, letztere in den Sinnraum individueller Wirklichkeiten. Relevante Rahmenbedingungen der konkreten Konfliktinteraktion sind - der Konflikttyp, unterschieden in kognitive oder affektive Konflikte (Kap. 5.3.1) - die Aufgabenart bzw. das Konfliktthema, insbesondere bezüglich „Tabuthemen“ sowie der Unterscheidung zwischen Routineaufgaben und neuartigen Aufgaben (Kap. 5.3.2) - der Zeit- und Einigungsdruck in der Interaktion (Kap. 5.3.3) - die Trennung des Interaktions-/Konfliktverlaufes in eine Differenzierungs- und eine Integrationsphase (Kap. 5.3.4) - das Konfliktmanagement inklusive der Involvierung einer ‚dritten Partei’ und der Konfliktstimulation. (Kap. 5.3.5)
259 TP
PT
TP
260 PT
Neben den genannten Quellen vgl. auch Maass/Clark 1984; Martin/Hewstone 2003 Die Auswahl von als relevant und beeinflussbar eingestuften Rahmenbedingungen, ihre Abgrenzung untereinander und die Einordnung in ein Modell hätte natürlich auch anders erfolgen können. Das konstruktivistische Postulat der Konstruiertheit und Kontingenz jeder Wirklichkeit und damit auch wissenschaftlicher Arbeit gilt auch hier. Die hier gewählte Gliederung und Einordnung bildet aber m.E. die aktuelle Forschungslage in Bezug auf die Forschungsfrage der Arbeit sinnvoll und nutzbar ab.
111
Sinnraum
Interaktionsraum
Bedeutungsraum
Die ausgewählten Faktoren sind nicht unabhängig voneinander, sondern beeinflussen sich teilweise wechselseitig. Diese Interdependenzen werden in Kap. 5.4 kurz besprochen. Alle Variablen zusammen beeinflussen die Wahrnehmung und Interpretation der Individuen in der Konfliktinteraktion und das individuelle Verhalten im Interaktionsraum. Gleichzeitig wirkt sich das Verhalten der Konfliktbeteiligten auch umgekehrt auf die situativen Rahmenbedingungen aus, da diese letztlich ebenfalls nur Konstrukte individueller Wahrnehmung von Verhaltensweisen anderer Interaktionsbeteiligter im Interaktionsraum sind. So äußert sich bspw. wahrgenommener Zeitdruck oder die Phaseneinteilung der Interaktion durch die Exteriorisierungen der Gesprächsteilnehmer, vor allem der Führungskraft. Die Interaktionsbeteiligten beeinflussen sich wiederum untereinander wechselseitig durch ihre Exteriorisierungen, die für die anderen Gesprächsteilnehmer wahrgenommene Ereignisse im Interaktionsraum sind, die ebenfalls interpretiert werden und auf die Verhaltensauswahl wirken.
Kommunikationsund Konfliktkultur Zielbeziehung der Beteiligten
Konflikttyp
Diversität in Gruppen
Zeit- und Einigungsdruck
Differenzierung vor Integration
Konfliktmanagement
Konfliktinteraktion
Thema/ Routine
Individuelle Einstellungen und Fähigkeiten
Führungsverhalten
Beobachtung und Verhalten der Individuen in der Konfliktinteraktion
Abb. 14: Modell der Rahmenbedingungen für irritationstolerante und wandelförderliche Konflikte
Die im Folgenden detailliert dargestellten Ergebnisse der o.g. Forschungsbereiche zu den zehn Rahmenbedingungen beruhen nahezu ausnahmslos, aber i.d.R. unreflektiert, auf der erkenntnistheoretischen Position des kritischen Rationalismus und der quantitativen Methodologie, welche in der Psychologie nach wie vor dominieren. Dies führt dazu, dass zum einen die teilweise komplexen Faktoren oft auf stark vereinfachende Art operationalisiert und häufig in Laborexperimenten und 112
künstlichen Situationen untersucht worden sind, zum anderen interessante und z.T. nahe liegende Variablen (z.B. die Beziehungsgeschichte der Beteiligten, ihre Beziehung zu anderen Personen und Gruppen in Organisationen, die Bedeutung und Geschichte des diskutierten Themas in der Organisation usw.) ausgelassen wurden, vermutlich weil sie aufgrund ihrer Komplexität und langfristigen Wirkung schwer zu operationalisieren und erheben waren. Die Ergebnisse erwecken in den Forschungspublikationen oftmals den Eindruck unidirektionaler, deterministischer Kausalzusammenhänge und sollen objektiv sein. Aus der erkenntnistheoretischen Perspektive dieser Arbeit sind die in diesen Untersuchungen ‚gefundenen’ Ergebnisse jedoch theoretisch hergeleitete, subjektive Konstruktionen von Forschern bzw. wissenschaftlichen communities, die sich bei der Anwendung in den Experimentalsituationen aufgrund der Beobachtungs- und Auswertungsprinzipien, die ebenfalls Konstruktionen der wissenschaftlichen communities sind, als viabel interpretieren ließen. Sie bilden aber keine Erkenntnisse über irgendeine objektive Realität in Individuen, Interaktionen, Gruppen oder Organisationen ab. Die Subjektivität der Beobachtungen und Interpretationen lässt sich nicht aufheben. Zudem sind die mit quantitativen Verfahren ermittelten Zusammenhänge zwischen den Faktoren weder unikausal noch deterministisch, sondern i.d.R. Teile komplexer Wechselwirkungen, in denen aber die einzelnen Individuen durch ihre Handlungsfreiheit nicht determinierbar, sondern höchstens beeinflussbar sind. Wie in Kap. 1.3 (Forschungsdesign und Methodologie) bereits beschrieben, werden die Ergebnisse dieser Forschungsbereiche dennoch für die Modellentwicklung und Diskussion der Rahmenbedingungen herangezogen, ihre Konstruiertheit und die NichtDeterminiertheit menschlichen und zwischenmenschlichen Handelns muss dabei jedoch bewusst bleiben und die übernommenen Forschungsergebnisse dahingehend kritisch geprüft werden.
5.1.2 Experteninterviews als Beitrag zur Modellentwicklung 5.1.2.1 Zielsetzung und Grundlagen der Interviews „Das“ Experteninterview gibt es nicht. Im Rahmen der Methodik der qualitativen Sozialforschung ist umstritten, ob es sich überhaupt um eine eigenständige Methode handelt. Die bestehenden theoretischen Ansätze zum Experteninterview als eigenständiger Methode beinhalten wiederum unterschiedliche Kriterien darüber, wer Experte ist und welches Wissen von diesen Experten mit welcher Zielsetzung erfragt werden kann.261 I.d.R. wird unter einem Experteninterview ein offenes, P
TP
261 PT
P
Vgl. Meuser/Nagel 1991:441f; Bogner/Menz 2005a, 2005b; Kassner/Wassermann 2005; Pfadenhauer 2005
113
leitfadengestütztes Interview mit Personen verstanden, die aufgrund bestimmter Kriterien als Experten bezeichnet werden.262 P
P
Die Zielsetzung von Experteninterviews ist i.d.R. „...die Rekonstruktion von besonderen Wissensbeständen bzw. von besonders exklusivem, detailliertem oder umfassendem Wissen über besondere Wissensbestände und Praktiken, kurz: [...] die Rekonstruktion von Expertenwissen“263 sowie die darauf basierende Rekonstruktion sozialer Situationen und Prozesse, um ihre kausalen Zusammenhänge zu erklären.264 Pfadenhauer bemerkt dazu allerdings, dass sich das Experteninterview vorwiegend für die Rekonstruktion von explizierbarem Wissen eignet, jedoch die Möglichkeiten der Rekonstruktion von implizitem und habituellem Wissen, welches in der praktischen Tätigkeit des Experten im Forschungsgebiet zweifelsohne eine wichtige Rolle spielt, sehr begrenzt sind, da dieses den Experten nicht oder nur begrenzt reflexiv zur Verfügung steht.265 Meuser und Nagel (1991) unterscheiden bezüglich der Bedeutung im Forschungsdesign zwischen einer zentralen und einer Randstellung von Experteninterviews. Bei einer zentralen Stellung soll das Experteninterview als einzige Methode oder als wichtiger Bestandteil innerhalb eines Methodenmixes zur Klärung der Forschungsfrage beitragen, wobei die Experten entweder selbst die Zielgruppe der Untersuchung sind oder aber eine komplementäre Handlungseinheit repräsentieren und den Zugang zu ihr ermöglichen. Eine Randstellung nehmen Experteninterviews ein, wenn sie bspw. zur Exploration des Forschungsfeldes, zur Erfassung von Hintergrundwissen und Augenzeugenberichten oder zur Illustration und Kommentierung anderweitig gewonnener Forschungsergebnisse dienen sollen.266 Da die Experteninterviews in dieser Arbeit ‚nur’ der Illustration und Ergänzung der theoretischen Ergebnisse sowie ihrer Viabilitätsprüfung in der Praxis dienen, haben sie nach dieser Einteilung eine Randstellung inne. P
P
P
P
P
P
P
Der Vorteil des offenen, leitfadengestützten Experteninterviews, insbesondere gegenüber standardisierten Interviewverfahren, liegt in der Flexibilität und Kontextsensibilität. Es ermöglicht die Berücksichtigung sowohl der spezifischen, individuellen Alltagswelt des Befragten, in der er sich mit den jeweiligen Relevanzstrukturen bewegt, als auch der konkreten Interviewsituation. Voraussetzung dafür ist die Offenheit der Kommunikation und ihre Anpassung an die
262 TP
PT
263 TP
PT
264 TP
PT
265 TP
PT
TP
266 PT
Vgl. Meuser/Nagel 1991:441f; Trinczek 2005:209. Im Gegensatz dazu sehen Gläser und Laudel die Abgrenzung dieses Interviews zu anderen Formen gerade nicht im besonderen Status des Interviewers oder in einer bestimmten Interviewform, z.B. dem Leitfadeninterview, sondern leiten diese vielmehr über die Untersuchungszielsetzung, den Zweck des Interviews und die Rolle des Interviewpartners ab. (2004:11) Pfadenbauer 2005:113 Vgl. Gläser/Laudel 2004:10f Vgl. Pfadenhauer 2005:113f Vgl. Meuser/Nagel 1991:445
114
alltagsweltlichen Regeln im Forschungsbereich.267 Der Experte kann seine Sichtweisen und Deutungen frei äußern, ohne durch ein standardisiertes Korsett in seinen Gedankengängen und Äußerungen eingeschränkt zu werden; gleichzeitig kann der Interviewer durch gezieltes Nachfragen aufgrund seiner Vorbereitung und des Interviewleitfadens den Gesprächsverlauf weitgehend steuern und größere ungewollte Themenabweichungen vermeiden. Durch die Einarbeitung in die Thematik und Vorbereitung des Interviewleitfadens sind Interviewer und Experte i.d.R. auf einem ähnlichen Wissensstand und sprechen eine ähnliche Sprache. Dadurch wird die Methode sowohl dem Interesse des Forschers als auch des Experten gerecht.268 Dem gegenüber steht die häufig geäußerte Kritik, das offene, leitfaden-gestützte Interview sei eine methodisch „unsaubere“ Vorgehensweise, die keine verlässlichen und für die Theoriengenerierung und -überprüfung verwertbaren Ergebnisse produziere. Zudem wird den Vorgehensweisen, die unter dem Begriff subsumiert werden, häufig fehlende methodische Reflexion vorgeworfen.269 P
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Die Zielsetzung der Experteninterviews im Rahmen dieser Forschungsarbeit ist die Viabilitätsprüfung, Illustration und Ergänzung der theoretisch gewonnenen Erkenntnisse. Der Schwerpunkt liegt hierbei in der in diesem Kapitel erfolgenden Entwicklung eines Modells für Rahmenbedingungen und Interventionsmöglichkeiten konstruktiver irritierender Konfliktinteraktionen, die den Ausgangspunkt für organisationalen Wandel darstellen können. Aber auch die Kernthese aus Kap. 4.2 wird in den Interviews thematisiert, sodass auch hier Illustrationen und Viabilitätsprüfung möglich sind. Diese Aussagen werden in Abschnitt 5.1.2.5 kurz dargestellt und interpretiert. Grundsätzlich sollen die Interviews dazu dienen, die konkreten und verallgemeinerten Erfahrungen der Gesprächspartner bezüglich erlebter Konflikte oder konfliktähnlicher Situationen zu reflektieren und ihre damit verbundenen Beobachtungen und Deutungen zu rekonstruieren sowie Generalisierungen zu den Themen zu formulieren.
5.1.2.2 Die Gesprächspartner Einig sind sich die meisten Ansätze zum Experteninterview, dass „der Experte“ eine relative, forscherabhängige Konstruktion ist, d.h. dass der Forscher aufgrund seiner Themenstellung entscheidet, wer als Experte infrage kommt, dass er zumindest aber Teil des zu untersuchenden Handlungsfeldes ist.270 Darüber hinaus gibt es aber sehr unterschiedliche Definitionen und Eingrenzungen des Expertenbegriffes.271 P
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Vgl. Trinczek 2005:209f Vgl. Meuser/Nagel 1991:448; Pfadenhauer 2005 :117 Vgl. Trinczek 2005:209f Vgl. Meuser/Nagel 1991:443; Gläser/Laudel 2004:113 Vgl. Bogner/Menz 2005b:39ff; Gläser/Laudel 2004:11; Froschauer/Lueger 2005:226ff
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Gläser und Laudel (2004) bezeichnen in ihrem Ansatz jene Menschen als Experten, die besonderes Wissen über bestimmte soziale Sachverhalte haben, da sie an ihnen beteiligt sind. Dies kann somit letztlich jeder Teilnehmer in einer bestimmten sozialen Situation bzw. an einem sozialen Prozess sein. Der Experte ist für den Forscher nur Zugangsmedium zum Forschungsfeld, nicht aber selbst Objekt des Forschungsinteresses. Ziel der Interviews ist es, die Variablen eines zuvor theoretisch hergeleiteten hypothetischen Modells empirisch zu erheben, um die Kausalmechanismen in den Variationen der Variablen nachzuweisen.272 Der Ansatz entspricht in seiner Forschungsstruktur somit der quantitativen Forschung, wobei die komplexen sozialen Variablen nicht auf Zahlen reduziert, sondern verbal erfasst werden sollen. Meuser und Nagel (1991) definieren hingegen Experten als jene Menschen, die im Forschungsfeld (i.d.R. Organisation oder Institution) eine hervorgehobene Stellung innehaben, repräsentative Funktions- und Verantwortungsträger sind und privilegierten Informationszugang sowie einen besonderen Wissensbestand haben. Das Wissen dieser Experten wird in Kontext- und Betriebswissen unterschieden. Bei der Erhebung des Betriebswissens sind die Experten selbst der Forschungsgegenstand (z.B. Elitenforschung). Hierbei kann das Experteninterview allein als ausreichende Methode für die empirische Forschung gelten. Bei der Erhebung des Kontextwissens hingegen repräsentieren die Experten lediglich eine komplementäre Handlungseinheit, die der eigentliche Untersuchungsgegenstand ist. Hierbei können Experteninterviews nur flankieren, der Nachweis kausaler Zusammenhänge ist damit allein nicht möglich.273 Bogner und Menz (2005) sehen in ihrem Ansatz zum theoriegenerierenden Experteninterview die Wirksamkeit der Person als relevantes Kriterium für Experten an, d.h. die von ihrem spezifischen Praxis- oder Erfahrungswissen ausgehende Möglichkeit, das soziale Handlungsfeld mit ihren Deutungen zu beeinflussen und zu gestalten. Ziel des Experteninterviews ist es, das Deutungswissen (subjektive Relevanzen, Regeln, Sichtweisen und Interpretationen) dieser Experten zu erheben und zu rekonstruieren, da dieses Wissen als Bezugsrahmen der Expertenhandlungen/-entscheidungen im Forschungsfeld praxiswirksam wird.274 Auch Pfadenhauer (2005) verbindet den exklusiven Wissensstand mit der verantwortlichen Zuständigkeit für problemlösungsbezogene Entscheidungen als definierendes Kriterium für Experten.275 P
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In dieser Arbeit sollen die Interviewpartner Aussagen über persönliche Erfahrungen mit zwischenmenschlichen Konflikten und Veränderungsprozessen in Organisationen treffen können, diese aufgrund ihres Know-hows und ihrer Position reflektieren und in 272 TP
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Vgl. Gläser/Laudel 2004:9ff Vgl. Meuser/Nagel 1991:442ff Vgl. Bogner/Menz 2005b:45f Vgl. Pfadenhauer 2005:115ff
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einen organisationalen Gesamtkontext stellen können und dadurch auch Generalisierungen und normative Aussagen zu Rahmenbedingungen und Zusammenhängen formulieren können. Zudem sollen sie in ihrer Position Möglichkeiten innehaben, an der Ausgestaltung der organisationalen Wirklichkeit im Allgemeinen und Konfliktinteraktionen im Speziellen verantwortlich mitzuwirken, also genügend Definitionsmacht innerhalb der Organisation besitzen, um alternative Deutungsmöglichkeiten in weiteren organisationalen Interaktionen zu thematisieren bzw. sie in konsensual akzeptierter Form zu fixieren. Als Experten kommen damit zum einen Führungskräfte in Organisationen in Betracht, zum anderen aber auch Organisations- und Führungskräfteberater, die o.a. Kriterien erfüllen bzw. durch ihre beratende Tätigkeit Vorschlags- und Gestaltungsmöglichkeiten bezüglich der relevanten Themenstellungen haben. Für diese Arbeit wurden insgesamt sechs Interviews durchgeführt. Dabei wurden zwei Organisationsberater bzw. Führungskräftecoaches, drei Führungskräfte in größeren Unternehmen und ein Interimsmanager befragt. 276 TP
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5.1.2.3 Vorgehen, Leitfaden und Verlauf Ein zentrales Merkmal und wesentlicher Vorteil offener, leitfadengestützter Interviews ist der prinzipiell freie Verlauf, der durch einen vom Forscher entwickelten Leitfaden grob strukturiert und in thematischen Bahnen gehalten wird, in seinem Ablauf aber den Interaktionsgeschehnissen und insbesondere den Einlassungen des Interviewten flexibel folgt. Der Interviewte wird nicht durch ein vorgegebenes standardisiertes Relevanzsystem in seinen Gedankengängen und Reflexionen eingeschränkt, sondern kann diese frei entwickeln und formulieren.277 Ein gelungenes Experteninterview geht häufig von der Neugierde des Interviewten für die Forschungsthematik und die Zielsetzung aus und gibt ihm die Möglichkeit, seine Sichtweisen darzulegen bzw. in einen Gedankenaustausch mit dem Interviewer einzutreten. Misslingen kann ein Interview, wenn der Gesprächspartner blockiert, weil er entweder der falsche Ansprechpartner ist oder sich auf die formalistische Betrachtung des Themas zurückzieht und nicht seine persönlichen Erfahrungen und Sichtweisen darlegt, wenn er vom Thema abweicht und die Interaktion dazu nutzt, Interna oder Unrelevantes darzulegen und „mal auszupacken“, oder wenn er häufig P
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Gesprächspartner waren: - ein Interims-Manager, Managing Partner einer Management-Beratung und Vorsitzender eines Verbandes Deutscher Interimsmanager - ein Führungskräftecoach und Berater für Organisationsentwicklung - der stellvertretender Geschäftsführer eines mittelständischen Medienunternehmens - ein geschäftsführender Berater einer mittelgroßen Management-Beratung - ein Geschäftsbereichsleiter eines großen internationalen Industrieunternehmens ein Leiter „HR Führungskräfte“ bei einem großen Energieunternehmen Vgl. Meuser/Nagel 1991:448; Pfadenhauer 2005:117
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die Rollen wechselt.278 Der Leitfaden begrenzt den Horizont der interessierenden Themen und fokussiert den Gesprächsverlauf.279 Idealerweise verinnerlicht der Interviewer die relevanten und interessierenden Themen und Fragestellungen in der Vorbereitung der Interviews und Erstellung des Leitfadens soweit, dass der Leitfaden während des Interviews gar nicht mehr oder allenfalls als gelegentliche Gedankenstütze genutzt werden braucht.280 Er sollte in jedem Fall nicht als zwingendes Ablaufmodell des Interviews angewendet werden.281 P
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Für diese Arbeit ergab sich der Aufbau des Interviewleitfadens aus den im vorigen Abschnitt theoretisch generierten Rahmenbedingungen für konstruktive Konfliktverläufe und einen irritations- und lerntoleranten Konfliktumgang. Der Einstieg wurde möglichst offen gewählt, indem dem Interviewpartner i.d.R. zunächst die Forschungszielsetzung umschrieben und er um eine freie Entwicklung des Themas gebeten wurde. Auf die im weiteren Gesprächsverlauf angesprochenen Themenbereiche des Leitfadens wurde vertiefend eingegangen bzw. nicht angesprochene Bereiche aktiv thematisiert. Die Interviews fanden als persönliche Gespräche im Arbeitsumfeld der Gesprächspartner statt, dauerten ca. 1 – 1 ½ Stunden und wurden elektronisch aufgezeichnet.
5.1.2.4 Auswertung der Interviews Die Interviewaufzeichnungen wurden zunächst in Transkriptionen umgewandelt, anschließend wurden die Aussagen der Interviews entsprechend den theoretisch generierten Rahmenbedingungen sortiert und in der Entwicklung dieser Rahmenbedingungen im folgenden Teil weiterverarbeitet. Dort werden die Aussagen der Gesprächspartner größtenteils wörtlich zitiert, um die theoretischen Erkenntnisse mit praktischen Erfahrungen und Reflexionen zu illustrieren. Für die Viabilitätsprüfung und ggf. Ergänzung oder Einschränkung der theoretischen Erkenntnisse mittels der Interviews wurden die gewählten Zitate, wo nötig, nochmals durch eigene Aussagen interpretiert. Die Subjektivität und Konstruktivität dieser Interviews muss dabei erneut verdeutlicht werden. Zum einen ist der gesamte Prozess der Interviewvorbereitung, Durchführung und Interpretation eine forscherabhängige, individuelle Konstruktion, die sich auf nachvollziehbare Art an bestehenden Ergebnissen der Forschung orientieren soll, aber letztlich immer subjektiv bleibt. Die Interviews selbst sind Interaktionen zwischen zwei Personen, in denen durch wechselseitige, aufeinander bezogene Exteriorisierungen eine gemeinsame Wirklichkeit konstruiert wird. Das Verständnis 278 TP
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Vgl. Meuser/Nagel 1991:449ff Vgl. Meuser/Nagel 1991:453 Vgl. Pfadenhauer 2005:121 Vgl. Meuser/Nagel 1991:449
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von dieser gemeinsamen Wirklichkeit ist bei beiden Gesprächsbeteiligten wiederum nur subjektiv aufgrund der individuellen Deutung möglich, wechselseitiges Verstehen ist immer nur soweit notwendig und nachvollziehbar, wie die anschließenden Äußerungen der anderen Person nicht den Erwartungen widersprechen. Wie aber getätigte Äußerungen beim jeweiligen Zuhörer interpretiert und in die Wirklichkeitsordnung eingeordnet werden, ist subjektiv und nicht steuerbar. Dementsprechend ist auch die Interviewauswertung und Interpretation wiederum nur eine subjektive Interpretation. Dies führt dazu, dass Missverständnisse in dem Sinne nicht ausgeschlossen werden können, dass Interpretationen anders erfolgen, als sie vom Interviewpartner beabsichtigt waren. Wo immer dies im Interviewprozess selbst auffiel, wurde es thematisiert. Zudem wurden die Interviewtranskriptionen den Gesprächspartnern zur Prüfung, ggf. Korrektur und Freigabe vorgelegt, um offensichtliche Missverständnisse und mögliche Quellen von Fehlinterpretationen auszuräumen. Dies ändert jedoch nichts daran, dass auch die Interpretation der niedergeschriebenen Gespräche bei jedem Leser völlig subjektiv aufgrund der individuellen Wirklichkeitsordnung erfolgt. Ein interindividuell identisches Verständnis von den getätigten Aussagen ist unmöglich. Daher wird der überwiegende Teil der Interviewaussagen – wo immer dies möglich ist – als Originalzitate aus den Transkriptionen in die Auswertung übernommen und erst anschließend bei Bedarf weitergehend interpretiert. Ein Problem während der Interviews war das individuelle Verständnis vom Konfliktbegriff. Wie in Kap. 4.1.1 gezeigt wurde, existiert in Wissenschaft und Praxis eine Vielzahl verschiedener Begriffsauffassungen, eine einheitliche Definition gibt es nicht. Dementsprechend war auch in den Interviews keine von vornherein interindividuell übereinstimmende Auffassung zu erwarten. Jedes Individuum verbindet mit dem Begriff seine eigenen Assoziationen und konstruiert eine eigene Wirklichkeit. Wo immer im Gesprächsverlauf Unterschiede im Begriffsverständnis auftraten, die für die Interpretation relevant erschienen, wurde beiderseitig versucht, dies zu thematisieren. Einige Gesprächspartner verbanden Konflikte explizit oder implizit mit emotionaler Involviertheit oder sogar Eskalation. In diesen Fällen ließ sich das hier gewählte Begriffsverständnis zu einem besseren gemeinsamen Verständnis eher mit Diskussion oder Kontroverse umschreiben. Durch die Thematisierung wurde in diesen Gesprächen eine Annäherung im Begriffsverständnis erreicht. Zwei Aussagen aus den Interviews verdeutlichen die Problematik: „In anderen Unternehmen, in denen eine Vertrauenskultur herrscht, würden die Leute wahrscheinlich gar nicht von Konflikten reden, sondern sagen „Wir haben unterschiedliche Meinungen, lasst uns doch mal sehen, was wir daraus machen können“. Sie würden nicht das Label Konflikt daran hängen, denn der Begriff „Konflikt“ ist für mich negativ belegt. In einer Kultur, in der vertikal wie horizontal Vertrauen herrscht, wird man wahrscheinlich viele 119
Dinge, die andernorts als Konflikt wahrgenommen würden, in der Selbstwahrnehmung gar nicht als Konflikt einordnen, sondern es als ganz normal ansehen, dass zwei Personen unterschiedliche Auffassungen haben. In solchen Unternehmen ist es kulturimmanent, dass dies eben nicht zum Problem wird, sondern dass man sagt „Toll, dass das so ist, lasst uns doch mal schauen, was wir daraus machen können.“. Die Frage ist, ob es eine neutrale Formulierung, eine neutrale Beschreibung gibt für das, was man gemeinhin als Konflikt bezeichnet.“282 TP
PT
„Mit dem Begriff Konflikt habe ich dabei allerdings Probleme, er ist höchstens eine Facette. Wenn Sie den Begriff weiter fassen im Sinne vom ‚Sand im Getriebe’, der bewusst gesetzte Stachel, der zugelassene andere Blickwinkel, dann stimme ich dem zu.“283 TP
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Für die Bearbeitung der Rahmenbedingungen für einen konstruktiven und irritationstoleranten Konfliktverlauf wirkt sich dieses unterschiedliche Begriffsverständnis aber nicht einschränkend oder negativ aus, da die Erfahrungen und Ansichten zur konstruktiven Bewältigung eigentlich destruktiver Konflikte ebenfalls relevante Informationen für das Modell dieser Arbeit bieten können.
5.1.2.5 Interviewaussagen zur Kernthese Die Experteninterviews dienten primär nicht der Viabilitätsprüfung der Kernthese, sondern der Generierung, Prüfung und Illustration der Rahmenbedingungen. Dennoch war die Kernthese ein Gesprächsthema und wurde von den Interviewpartnern bewertet und mit eigenen Erfahrungen illustriert, u.a. auch, weil die Interviews meist mit der Darstellung des Forschungsinteresses eröffnet wurden, wodurch die Kernthese der Arbeit explizit oder implizit kommuniziert wurde. Grundsätzlich wurde die Forschungsthese von den Interviewpartnern unterstützt: „Ich würde Ihre Ausgangsfrage per se mit ja beantworten, da Veränderungspotenzial nur dann entsteht, wenn irgendeine unbefriedigende Situation eintritt, sei es für die Mitarbeiter, für die Kunden oder für die Gesellschafter. Konflikte können eine solche Situation erzeugen.“284 „Wenn Sie andererseits das System grundsätzlich ändern wollen, dann brauchen Sie externe oder interne Impulse, die verstärkt werden und das ganze System in Schwingung versetzen. Solche Impulse können produktive Unruhe sein. Nehmen Sie aus dem Sport das Beispiel Hochsprung: der TP
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Interview Geschäftsführender Berater einer mittelgroßen Management-Beratung Interview Leiter Führungskräfte Energieunternehmen Interview Interimsmanager
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Fosbury ist ja auch nicht aus der Optimierung des Bestehenden entstanden, sondern weil nach etwas Neuem gesucht wurde. Wenn Sie also sehen, dass Ihr System so, wie es existiert, an Grenzen gerät, weil Sie beispielsweise ausoptimiert sind und dies trotzdem nicht reicht, dann müssen Sie überlegen, wie Sie das Ganze neu gestalten können. Dazu müssen Sie das Bestehende infrage stellen. Ein Konflikt kann durchaus ein Auslöser dafür sein, wenn man dies versteht und ihn auch als Chance erkennt. Der Konflikt ist aber höchstens Auslöser, niemals Mittel für solche Veränderungen.“285 TP
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„Zunächst einmal kann ich Ihre These, dass Konflikte zu Veränderungen führen können, generell unterstützen. Ich denke, dass Konflikte dort, wo sie auftauchen, ein Hinweis auf ein Verbesserungs-potenzial sein können. […] Wenn aber z.B. ein Team keine ausreichende Entscheidungsbefugnis hat und jedes Mal höhere Vorgesetzte eingeschaltet werden müssen, um eine Entscheidung zu bekommen, und es dadurch immer wieder zu Verzögerungen kommt und das Team seine Aufgaben nicht richtig erfüllen kann, dann wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Konflikten kommen, die einen Anlass dazu bieten können und sollten, einmal zu hinterfragen, ob Prozessstruktur und Entscheidungsbefugnis richtig gestaltet sind oder nicht ggf. verbessert werden können.“286 TP
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Wie in Kap. 4.2 dargestellt ist die Kernthese der Arbeit aber zum einen nichtdeterministisch, zum anderen durchaus teilweise normativ ausgerichtet. Daher ergaben sich in den Interviews erwartungsgemäß auch Einschränkungen in der Bestätigung der Kernthese der Arbeit. Diese Interviewteile sind bewusst in der Arbeit enthalten. Sie zeigen die Kontingenz der These sowohl bezüglich der Konfliktfolgen als auch bezüglich der Wandelauslöser: „Ich denke allerdings, dass Konflikte nur ein möglicher Auslöser für Veränderungsprozesse sind. Es gibt viele Veränderungsprozesse, die nicht durch einen Konflikt entstehen, sondern beispielsweise durch einen Gesellschafterwechsel verursacht werden. Aber natürlich gibt es auch die Situation, in der man entweder in einem Konflikt Veränderungspotenzial erkennt oder durch einen initiierten Streit oder Konflikt Veränderungspotenzial oder eine Veränderungsnotwendigkeit transparent macht. […] Ich glaube, Sie müssen in der Praxis vielmehr versuchen, bestehende Konflikte zu lösen bzw. verkrustete Strukturen aufzulösen, die durch Konflikte entstanden sind, als durch Konflikte Situationen oder Ziele zu erreichen.“287 TP
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Interview Leiter Führungskräfte Energieunternehmen Interview Führungskräftecoach und Berater für Organisationsentwicklung Interview Interimsmanager
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„Dabei muss man natürlich nach der Art des Konfliktes unterscheiden. Zum einen gibt es in Teams sicherlich zwischenmenschliche Konflikte auf persönlicher Ebene, die ihre Ursache z.B. in Neid, Missgunst, Kompetenzübergriffen in andere Bereiche usw. haben. Dann ist es vom Umgang der Beteiligten miteinander und ihrer Kommunikations- und Konfliktlösekompetenz abhängig, ob der Konflikt destruktiv verläuft, es also bspw. zu Lästern und Lagerbildung kommt, individuelle Interessen gegen andere verfolgt werden usw., wie es meiner Erfahrung nach leider Berufsalltag ist. Dies kann, glaube ich, kein Ausgangspunkt für organisationalen Wandel sein, da muss man eher versuchen, die Konfliktlösekompetenz der Gruppenmitglieder zu verbessern. […] Generell würde ich Ihre These also unterstützen; Konflikte können Verbesserungspotenzial anzeigen, man muss aber genau hinschauen, was die Ursachen des Konfliktes sind und welche Informationen in ihm stecken.“288 TP
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Einige Interviewpartner beschrieben in ihren ersten Assoziationen zum Thema bzw. auf Nachfrage auch Beispiele aus ihrem Erfahrungsbereich, die ihrer Meinung nach die Kernthese illustrieren und unterstützen: „Ich habe beispielsweise einmal ein Mandat bei einem kleineren Bio-ScienceUnternehmen betreut, in dem es unterschiedliche Auffassungen in der Geschäftsführung und unter den Inhabern über das grundsätzliche Geschäftsmodell gab, die in einem Konflikt mündeten. Erst durch das Hinzuziehen eines Dritten zur Konfliktregelung wurde erkannt, dass es dringenden Veränderungsbedarf im Geschäftsmodell gab, um überhaupt das Überleben der Firma sicherzustellen. […] Man kann Konflikte meines Erachtens durchaus in der Phase der Ideenfindung einsetzen. Wir haben zum Beispiel bei einem meiner Kunden mehrere Führungskräftetagungen durchgeführt. Dabei haben wir Konfliktsituationen nachgespielt, um Veränderungspotenzial transparent zu machen. Viele Unternehmen, z.B. dieses, sind nicht aufgebaut in Abteilungen, sondern in „AB – Teilungen“. Dieses Problem lösen Sie nur, indem Sie dort manche Mauer einreißen und dahinter schauen. Dazu müssen Sie auf der Konfliktebene eine gewisse Streitkultur erzeugen. Wenn Sie den Konflikt dort als strategisches Instrument einsetzen, kann er, richtig gesteuert, eine gewisse befruchtende Instanz in diesem Veränderungsprozess sein.“289 TP
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„Wir hatten bei uns bspw. vor kurzem einen Strategieworkshop über 2 ½ Tage veranstaltet. Dabei gab es eine heftige Auseinandersetzung zwischen zwei Positionen. Die eine Seite sagte „Vergesst die Strategie, jetzt gilt es, die 288 TP
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Interview Führungskräftecoach und Berater für Organisationsentwicklung Interview Interimsmanager
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Ärmel hochzukrempeln und die Probleme anzupacken.“, die wollten also zwei, drei schnelle Entscheidungen und dann die Organisation umstellen. Die andere Gruppe wollte es ruhiger angehen und zunächst eine Markt- und Ressourcenbetrachtung anstellen, die Aufbau- und Ablauforganisation bearbeiten usw. und nach einem halben Jahr ein solides Fundament aus neuer Strategie und Organisation haben, auf dem weiter aufgebaut werden kann. Da haben wir 2 ½ Tage intensiv dran gearbeitet, auch mit heftigen Auseinandersetzungen über die Wichtigkeit verschiedener Dinge. Am Ende haben wir uns geeinigt und fahren jetzt auch diese Linie. Aber während des Prozesses fielen auch Sätze wie „Du willst eh immer nur alles überorganisieren!“, „Ihr macht den Laden kaputt, wenn ihr so hektisch seid!“ usw., also nicht gerade sachliche Argumente. Aber im Grunde genommen hatte ich immer das Gefühl, dass wir alle das gleiche Ziel hatten, nur unterschiedliche Vorgehensweisen für die richtige Lösung sahen. In komplexen Umfeldern ist es nun mal so, dass es nicht die eine richtige Lösung gibt und alles andere falsch und schlecht ist.“290 TP
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„Ich hatte z.B. einmal bei einem großen Finanzdienstleister mit einem Team einen Workshop zur Verbesserung des Customer Relationship Management durchgeführt. Der lief ganz hervorragend, bis es darum ging, Maßnahmen zu vereinbaren und Verantwortliche dafür festzulegen; plötzlich war Schweigen. Ich sitze das normalerweise aus; wenn alle schweigen, schweige ich auch und sehe mal, was so passiert. In diesem Fall blieb das dann erst einmal eine ganze Weile so, bis irgendwann jemand sagte „Genau das passiert doch immer bei uns! Wenn es darum geht, dass mal jemand die Verantwortung übernimmt, dann macht das wieder keiner!“. Andere guckten dann betreten zu Boden. Dabei wurde ganz deutlich, dass diese Gruppe dringend einen Teamentwicklungsprozess brauchte, um solche Dinge besprechbar zu machen. Plötzlich wurde in dem Workshop nämlich darüber diskutiert, dass man mal darüber diskutieren sollte. Am Ende hatten wir dann ein ganz anderes Ergebnis als geplant: Wir hatten zwar nicht das tolle Konzept für das CRM entwickelt, aber wir hatten die Erkenntnis und einen Plan, wie man die Zusammenarbeit untereinander erst einmal anders organisieren und verbessern müsste. Ein halbes Jahr später haben wir dann einen Teamentwicklungsprozess gemacht. […] Ich hatte letztens eine Führungskräfteentwicklung für ganz junge Führungskräfte im Unternehmen, die nicht länger als zwei Jahre in ihrer Position waren. In dem Seminar ging es um Selbstmanagement und Persönlichkeit. Die meisten sahen sich dort zum ersten Mal, einige kannten sich auch schon flüchtig. Die kamen dann plötzlich auf das Thema zu
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Interview Geschäftsbereichsleiter internationales Industrieunternehmen
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sprechen, welche Rolle eigentlich die Hierarchie in ihrem Unternehmen spielt und wie die gelebt wird. Vor allem ging es um die wahrgenommene Diskrepanz zwischen formeller und informeller Struktur. Der eine meinte, das müsse so sein und man müsse seine eigenen Netzwerke bilden; der andere meinte, dass es doch nicht sein könne, dass er die Struktur erst unterminieren müsse, um seinen Job überhaupt gut zu machen, da müsse sich doch die offizielle Struktur ändern und nicht neben der offiziellen noch eine inoffizielle entstehen. Dabei entbrannte eine lebhafte Diskussion, in der dann die Idee entstand, dass einer der Gruppe einmal mit dem Geschäftsführer seines Bereiches reden und dort vorschlagen sollte, dieses Problem einmal für das gesamte Unternehmen zu thematisieren.“291 TP
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Die zitierten Bestätigungen, Relativierungen und Beispiele zeigen, dass die in Kap. 4.2 theoretisch entwickelte Kernthese der Arbeit von Praktikern durchaus als passend und nützlich bewertet wird. Zwischenmenschliche Konflikte im Begriffsverständnis dieser Arbeit können nach überwiegender Meinung der Gesprächspartner Ausgangspunkt für organisationale Veränderungen sein, Veränderungsbedarf oder -möglichkeiten aufzeigen und zu deren Thematisierung in der Gruppe oder Organisation führen. Gleichzeitig bestätigt sich, dass diese These nicht uneingeschränkt und absolut gültig ist, sondern eine konstruierte Abstraktion darstellt, die grundsätzlich kontingent ist und deren Viabilität in der Praxis für jeden Einzelfall geprüft werden muss, da sie neben den im Folgenden untersuchten Rahmenbedingungen auch von weiteren situativen und auch zufälligen Einflussfaktoren der konkreten Konfliktinteraktion und des organisationalen Kontextes abhängig ist. Die Kernthese der Arbeit und das im nächsten Abschnitt entwickelte Modell der Rahmenbedingungen sind somit als Reflexionsangebote und Anhaltspunkte für organisationale Gestaltung und Führungsverhalten zu verstehen, nicht aber als objektive, reliable und allgemein gültige Gesetzmäßigkeiten im Sinne deterministischer Ursachen-Wirkungs-Zusammenhänge.
5.2
Interaktionsübergreifende Einflussfaktoren
5.2.1 Kooperative und konkurrierende Zielbeziehungen In der bestehenden Konfliktforschung wurde der Art der Zielbeziehung zwischen den Konfliktparteien als wesentliche Einflussgröße für das gewählte Verhalten in Konfliktinteraktionen und damit für den Verlauf und die Folgewirkungen von Konflikten herausgearbeitet. Diese Forschungen nehmen im Wesentlichen Bezug auf die
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291 PT
Interview Führungskräftecoach und Berater für Organisationsentwicklung
124
Kooperations-Konkurrenz-Theorie von Deutsch (1976, 2000).292 Demnach werden die Ziele von den Interaktionsbeteiligten als unabhängig, als gleichgerichtet abhängig (kooperativ) oder als entgegengesetzt abhängig (kompetitiv) wahrgenommen. In der Praxis zwischenmenschlicher Beziehungen treten diese Typen nur selten in Reinform auf, i.d.R. gibt es zwischen den komplexen individuellen Zielsystemen sowohl gleichgerichtete als auch gegensätzliche oder unabhängige Zielbeziehungen. Entscheidend ist die situative Wahrnehmung und Interpretation der Interaktion durch die Beteiligten.293 Aufbauend auf dieser Grundlage haben Tjosvold u.a. die Bedeutung der Zielbeziehungen zwischen den Konfliktparteien für einen konstruktiven Konfliktverlauf und produktive Konsequenzen eingehend untersucht. In verschiedenen qualitativen und quantitativen empirischen Untersuchungen kommen sie zum Ergebnis, dass kooperativ wahrgenommene Zielzusammenhänge im Gegensatz zur verbreiteten Meinung nicht unbedingt zu Harmonie und Konfliktvermeidung führen (müssen), sondern vielmehr die Voraussetzung für konstruktives und produktives Konfliktverhalten der Beteiligten sind. Tjosvold bezeichnet solche Konfliktinteraktionen als „constructive controversy“. In Konfliktsituationen mit wahrgenommener gleichgerichteter Zielinterdependenz ist die Bereitschaft der Beteiligten höher, sich überhaupt in Kontroversen zu engagieren, die Richtigkeit der eigenen Position zu hinterfragen, sich mit anderen Meinungen und Ideen offen auseinanderzusetzen, diese ggf. zu akzeptieren und in die Diskussion einzubinden. Dadurch können die Beteiligten verschiedene Ideen und Sichtweisen kombinieren und gemeinsam weiterentwickeln, wodurch sie in der Konfliktbearbeitung und Entscheidungsfindung kreativer sind und bessere Lösungen erreichen. Zudem bewirkt eine kooperative Konfliktkommunikation auf emotionaler Seite positive Gefühle und eine höhere Zufriedenheit mit der Interaktion, wodurch sich die Konfliktparteien auf die gemeinsame Aufgabe bzw. den sachlichen Konfliktgegenstand konzentrieren können, in der Aufgabenbearbeitung schneller vorankommen und letztlich effizienter sind. Die erfolgreiche Bewältigung von Konfliktsituationen stärkt wiederum das Selbstvertrauen, auch in Zukunft Konflikte konstruktiv bewältigen und gut zusammenarbeiten zu können. Somit stellt die konstruktive Kontroverse auch eine Dynamik innerhalb von Gruppen dar, die über konkrete Interaktionssituationen hinaus das Gruppenklima beeinflusst und positiv selbstverstärkend wirken kann. Charakteristisch für Konflikte in kompetitiven Zielbeziehungen sind nach Tjosvold hingegen ein Misstrauensklima zwischen den Beteiligten, Win-lose-Verhalten, also die Durchsetzung der eigenen Ziele auf Kosten der anderen Partei, Frustration bei als gut bewerteten Interaktionsbeiträgen anderer Teilnehmer sowie schwierige, verschlossene Kommunikation. Eine offene Konfliktaustragung wird entweder gemieden oder aber emotional und aggressiv geführt, sodass es zur Eskalation kommt. Bei wahrgenommener Unabhängigkeit der Ziele TP
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Vgl. Deutsch 1976:18f, 26ff; 1981:21ff; 1994; 2000; Grunwald 1981; Tjosvold 1990; 1997; Frank/Frey 2002:13ff; Rüttinger/Sauer 2000:26ff Vgl. Deutsch 1976:18f, 26ff; 2000; vgl. auch Tjosvold 1997:23ff
125
besteht erhöhte interpersonale Distanz, die Fokussierung auf individuelle Ziele sowie die Neigung zur Konfliktvermeidung (vgl. Abb. 15). 294 TP
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Entscheidende Voraussetzung für die Entstehung dieser selbstverstärkenden Prozesse ist die Wahrnehmung der Zielbeziehung durch die Konfliktbeteiligten. Dabei sollte die kooperative Konfliktbeziehung durch die Interaktionsbeteiligten möglichst selbst „entdeckt“ werden und nicht vorgegeben sein. Weitere wichtige Voraussetzungen für konstruktive Kontroversen sind neben der kooperativen Zielwahrnehmung die Kommunikationsfähigkeiten der Interaktionsteilnehmer, persönliche Verhaltensweisen, insbesondere die Vermeidung feindseligen Verhaltens, und die permanente Aufrechterhaltung des gegenseitigen Respekts. Dies wird auch durch die Arbeitskonditionen beeinflusst. Gruppenaufgaben, komplementäre Rollen innerhalb der Gruppe, gemeinsame Belohnungen und geteilte Zielsetzungen der Arbeit sind wichtige Rahmenbedingungen für die Wahrnehmung von positiver Zielinterdependenz. Win-lose-Belohnungskonstellationen sind der Hauptgrund für kompetitives Verhalten, während voneinander unabhängige Aufgabenstellungen die Wahrnehmung von Zielunabhängigkeit unterstützen. Diesbezüglich beeinflussen auch die Struktur und Kultur der Organisation die Wahrnehmung der Zielbeziehung.295 TP
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Cooperative goals
Move forward together
Trust and rely
Discuss and win-win
Competitive goals
Setbacks and fragile victories
Suspect and doubt
Avoid and win-lose
Abb. 15: Kooperative und kompetitive Zielbeziehungen (entnommen aus Tjosvold 1993:45)
Auch in den Experteninterviews wurde die Bedeutung gemeinsamer Zielsetzungen und der darauf ausgerichteten Ausgestaltung des Belohnungssystems betont. Diese gemeinsamen Zielsetzungen müssen aber auch kommuniziert werden und allen Beteiligten klar sein, was nach Einschätzung einiger Interviewpartner in der Praxis nicht immer der Fall ist. Dabei meinen Belohnungen nicht zwangsläufig monetäre 294 TP
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Vgl. Tjosvold 1990; 1991:37ff; 1993:43ff; 1997; Alper/Tjosvold/Law 1998; Tjosvold/Morishima 1999; Johnson/Johnson/Tjosvold 2000; Jehn 1997:94f; Die Minority dissent-Forschung kommt ebenfalls zum Ergebnis, dass Klarheit über die Gruppenziele die individuelle Bereitschaft zum alleinigen Widerspruch erhöht (vgl. De Dreu/Beersma 2001:261). Vgl. Tjosvold 1990:25f; Amason/Schweiger 1997:108ff
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Anreize, sondern zunächst einmal die verbale und nonverbale Bestätigung in den zwischenmenschlichen Prozessen, insbesondere durch die Führungskraft. 296 Ein Interviewpartner sah es zudem als vorteilhaft und erstrebenswert an, die gemeinsame Zielsetzung auch gemeinsam in der Gruppe zu definieren, wobei die Führungskraft – entsprechend dem Führungsverständnis dieser Arbeit – als Teil der Gruppe an diesem Prozess beteiligt ist und Rahmenbedingungen setzt, ihn aber nicht determiniert: TP
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„Die Gruppe muss zusammen erarbeiten, was das gemeinsame Ziel ist. Dies kann natürlich von der Führungskraft als Teil des Teams mitgestaltet werden, auch indem sie Rahmenbedingungen vorgibt. Wenn es mir aber nicht gelingt, die ausführende Ebene von der Sinnhaftigkeit des Tuns zu überzeugen, werden die Leute meiner Erfahrung nach immer Wege finden, dagegen zu arbeiten, und ich kann gar nicht genug Kraft aufwenden, um das umzukehren. Ich halte es für ganz wichtig, dass man die Leute integriert bei der Zieldefinition und -ausgestaltung. Da kann – wie gesagt – durchaus einiges vorgegeben sein, aber es muss auch Beteiligungs- und Gestaltungsspielraum da sein.“297 TP
PT
5.2.2 Diversität in Gruppen Als wichtiger Faktor für das Zustandekommen und die Folgen zwischenmenschlicher Konflikte in Interaktionen und Gruppen wurde in den betrachteten Forschungsgebieten die Diversität des Teilnehmerkreises untersucht. Dabei zeigte sich erwartungsgemäß, dass in heterogenen Gruppen mehr aufgabenbezogene, aber auch beziehungsbezogene Konflikte entstehen als in homogenen Gruppen.298 Zum besseren Verständnis des Zusammenhanges untersuchten Jehn et al. die Diversität bezüglich verschiedener Merkmale.299 Sie unterschieden dabei zwischen Informationsdiversität und Wertediversität.300 Informationsdiversität bezieht sich auf Unterschiede in Wissen, Erfahrungen und Expertisen, die Mitglieder in eine Gruppe einbringen. Solche Differenzen erhöhen die Wahrscheinlichkeit für unterschiedliche TP
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Vgl. Interview Interimsmanager; Geschäftsführender Berater einer mittelgroßen ManagementBeratung; Geschäftsbereichsleiter internationales Industrieunternehmen Interview Geschäftsbereichsleiter internationales Industrieunternehmen Vgl. Schulz-Hardt/Jochims/Frey 2002:566f; Amason/Schweiger 1997:108; Jehn 1994:233f; 1997:97 In vielen Untersuchungen der psychologischen Konfliktforschungen wurde die Heterogenität als ein einziges, nicht weiter differenziertes Merkmal untersucht. Jehn/Northcraft/Neale (1999:759) sehen darin den Grund für die Uneinheitlichkeit und geringe Aussagekraft der Ergebnisse (vgl. z.B. Überblick bei Amason/Schweiger 1997:108 und Jehn 1997:89; Thomas 1999:120). Vgl. Jehn 1997:90f; 1999:7f; Jehn/Northcraft/Neale 1999; Neal/Northcraft/Jehn 1999. Zusätzlich wurde auch die soziale Diversität (z.B. ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht etc.) untersucht, die aber keine wesentlichen Auswirkungen auf die Gruppe hat. Ich beziehe diese Merkmale auch deshalb nicht in meine Betrachtungen ein, da sie m.E. keine gestaltbaren Variablen für das Konflikt- und Change Management sind bzw. aus ethischen Gründen sein dürfen.
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Perspektiven und Meinungen und damit für verstärkte aufgabenbezogene Konflikte. Allerdings fallen die Ergebnisse in empirischen Untersuchungen sehr unterschiedlich aus. Z.T. zeigten sich cross-funktionale Teams ineffizient und unfähig, die theoretischen Potenziale der Heterogenität tatsächlich für Leistungssteigerungen und Kreativität zu nutzen. Gruppenmitglieder zeigten sich oft frustriert über Zeit- und Ressourcenverschwendung, sogar in Gruppen, die Leistungsvorteile durch die Diversität erzielen konnten. Wertediversität bezieht sich auf die unterschiedlichen Vorstellungen der Gruppenmitglieder über den Sinn bzw. die Mission der Gruppe, ihre Ziele und Aufgaben (z.B. Innovativität, Vorsicht bei Entscheidungen, Wahrung der Autonomie etc.). Nach Ansicht von Jehn u.a. erhöht sie zwar die Wahrscheinlichkeit für aufgabenbezogene Konflikte, aber gleichzeitig auch für Beziehungskonflikte.301 Umgekehrt ergeben sich in sehr homogenen Gruppen mit ähnlichen arbeitsund gruppenbezogenen Wertvorstellungen weniger aufgabenbezogene und beziehungsbezogene Konflikte. Zudem wird Wertediversität als Moderatorvariable für die Auswirkungen der Informationsdiversität auf die Gruppenleistung gesehen, d.h. positive Wirkungen der Heterogenität in Wissen und Erfahrungen ist umso wahrscheinlicher und höher, je höher die Wertehomogenität in der Gruppe ist. Jehn, Northcraft und Neale empfehlen daher: „For group members to be willing to engage in the difficult and conflictful processes that may lead to innovative performance, it seems that group members must have similar values.“ 302 TP
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An anderer Stelle empfiehlt Jehn für ein hohes Leistungslevel hingegen die Zusammensetzung der Gruppe aus Personen mit unterschiedlichen Wertvorstellungen. Dann müsse der Prozess, in dem sich diese Differenzen manifestieren, aber sorgfältig geführt und begleitet werden, um konstruktive Auseinandersetzungen zu erreichen und affektive zwischenmenschliche Spannungen zu verhindern.303 Die Erklärung für den vermeintlichen Widerspruch kann in der Art der Werte gesehen werden. Während arbeitsbezogene Werteheterogenität eine wichtige Antezedenzbedingung für das Entstehen kognitiver Konflikte zu sein scheint, werden die Konfliktnormen der Gruppe als Moderatorvariable für den Zusammenhang von Konflikt und Gruppeneffektivität bezeichnet.304 Aus der konstruktivistischen Perspektive dieser Arbeit ist die Erklärung nachvollziehbar. Individuelle und kollektive Werte sind besonders verfestigte, oft unbewusste Deutungsmuster, die überwiegend bereits in der Erziehung und Sozialisation entwickelt werden. Arbeits- und organisationsbezogene Wertvorstellungen, die wesentlich eine Organisations- und Gruppenkultur TP
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Ob eher kognitive oder eher affektive Konflikte entstehen, ist gerade in heterogen zusammengesetzten Gruppen besonders stark von der Existenz einer gemeinsamen übergeordneten Zielsetzung und entsprechender ´reward interdependence´ abhängig (vgl. Milliken/Bartel/Kurtzberg 2003:54) Jehn/Northcraft/Neale 1999:759 Vgl. Jehn 1997:97 Vgl. Jehn 1994, 1997
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prägen, sind ursprünglich kollektiv erzeugte Wirklichkeitskonstruktionen, die zu besonders verfestigen Deutungsmustern der organisationalen Wirklichkeitsordnung wurden und das organisationsbezogene Beobachten und Handeln der einzelnen Individuen – bewusst oder unbewusst – stark beeinflussen. Gerade deren Reflexion kann zu neuartigen Sichtweisen in der Beobachtung des Systems und seiner Umwelt führen, was allerdings die Irritation dieser verfestigten Wertvorstellungen voraussetzt. In Gruppen, die in Bezug auf die Wertvorstellungen ihrer Mitglieder heterogen sind, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit einer solchen Irritation in Interaktionen. Die Normen und Wertvorstellungen der Beteiligten zum Umgang mit Konflikten bilden in diesen irritierenden Interaktionsprozessen jedoch die Rahmenbedingungen bzw. die Meta-Ebene und stellen damit eine entscheidende Moderatorvariable für die Zusammenhänge zwischen Rahmenbedingungen, Konfliktentstehung, Konflikttyp und Auswirkungen dar. Natürlich können und müssen auch diese ggf. reflektiert werden, wobei sie in dieser interaktionalen Thematisierung ebenfalls wirksam sind. Auch Thomas (1999) bezeichnet in diesem Zusammenhang eine gemeinsame, einheitliche und von allen geteilte sowie praktizierte Verhaltensstrategie als geeignete Basis, um durch die notwendige, aber begrenzte und akzeptierte Homogenisierung ein hohes Maß an Heterogenität zu ertragen und produktiv zu nutzen.305 Eine solche gemeinsame Verhaltensstrategie beruht auf gemeinsamen Verhaltensnormen für die Interaktion und für Konflikte, welche im folgenden Abschnitt eingehend diskutiert werden. TP
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Schulz-Hardt et al. (2002) empfehlen, die Heterogenität der Gruppen möglichst entlang der oganisationsinternen Funktion sowie des Bildungshintergrundes der Beteiligten zu gestalten, da für diese Merkmale in empirischen Untersuchungen keine negativen Effekte auf der Beziehungsebene festgestellt wurden.306 In einer früheren Studie wurde die Präferenzheterogenität, also bereits vor der Gruppeninteraktion bestehende, unterschiedliche Entscheidungspräferenzen, als wirksame Heterogenitätsausprägung gegen Verzerrungen und Einschränkungen bei der Informationssuche in Gruppenentscheidungsprozessen (information seeking bias) gefunden.307 Wie allerdings die Bildungsheterogenität konkret ausgestaltet werden soll, also z.B. nach Fachrichtung, nach Abschlusslevel oder nach Berufserfahrung, wird nicht weiter ausgeführt. In den für diese Arbeit durchgeführten Interviews wurde von einigen Gesprächspartnern darauf hingewiesen, dass unterschiedliches bzw. ein niedriges Bildungsniveau ihrer Erfahrung nach die Wahrscheinlichkeit für destruktive Konflikte erhöht: TP
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Vgl. Thomas 1999:123 Vgl. Schulz-Hardt/Jochims/Frey 2002:582f Vgl. Schulz-Hardt et al. 1999; Schulz-Hardt/Frey 2000; Auch nach Jehn (1999:16) führt Diversität von Bildung, Erfahrung und Funktionen in Teams häufiger zu konstruktiven, aufgabenbezogenen Konflikten; Jehn/Northcraft/ Neale (1999:743) fassen Bildungshintergrund, Expertise, Ausbildung und Arbeitserfahrung als Informationsdiversität zusammen, welche wiederum das Auftreten aufgabenbezogener Konflikte wahrscheinlicher macht.
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„Denn ich glaube schon, dass das auch was mit Bildung und Erziehung zu tun hat, wie ich mit Konflikten umgehe. Wenn ich mir anschaue, wie mit Konflikten auf dem Bau umgegangen wird, dann hat das eine andere Qualität als in einem produzierenden Unternehmen, und noch mal eine andere in einem Unternehmen, das sich nur mit geistigen Dingen, mit Wissen beschäftigt. Das ist kein Werturteil, sondern nur eine Beschreibung meiner Wahrnehmung. Wenn ich mir überlege, wie sich Menschen in einer einfachen Umgebung austauschen, wenn es konfliktär wird, da kann es auch mal zu körperlichen Auseinandersetzungen führen, das wäre bei uns unvorstellbar. Eine Rahmenbedingung ist also in meinen Augen Bildung.“308 TP
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„Zum Stichwort Bildung habe ich nicht allzu viele Erfahrungen mit Mitarbeitern niedrigerer Bildungsschichten gesammelt, da ich ja auf Führungskräfteentwicklung spezialisiert bin und viel mit Fachexperten zusammenarbeite. Dadurch sind das oft Akademiker oder zumindest Leute, die sich durch eine sehr gute Berufsausbildung hochgearbeitet haben. Aber der gesunde Menschenverstand lässt vermuten, dass es dort sehr wahrscheinlich zu zusätzlichen, andersartigen Konflikten kommt aufgrund mangelnden Verständnisses füreinander, z.B. allein aufgrund der Wortwahl.“309 TP
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Es ist also durchaus fraglich, ob verschiedene Bildungsniveaus in Gruppen tatsächlich die Wahrscheinlichkeit konstruktiver Konflikte erhöhen. In jedem Fall stellt eine solche Gruppenzusammensetzung zusätzliche Anforderungen an die Gruppenführung und an das Verhalten der einzelnen Gruppenmitglieder (siehe dazu Kap. 5.2.4 und 5.2.5), insbesondere bezüglich Toleranz, Reflexivität und Sensitivität für die Interaktionsprozesse. Aus den dargestellten Erkenntnissen zur Diversität in Gruppen lassen sich Anforderungen an die Zusammenstellung und an die Führung von Gruppen ableiten. Die grundsätzliche Herausforderung liegt in der Balance zwischen einer Homogenisierung einerseits, die die Zusammenarbeit und Entscheidungsfähigkeit überhaupt erst ermöglicht, und einer Heterogenitätsakzeptanz andererseits, die leistungsbezogene Vorteile aus den diversen fachlichen Kompetenzen, Wertvorstellungen und Perspektiven der Beteiligten möglich macht. Ziel der Zusammensetzung und der Prozessgestaltung ist es, in Gruppen gleichzeitig die Motivation der Beteiligten, die Kohäsion der Gruppe, die Befriedigung sozio-emotionaler Bedürfnisse sowie die Aufgabenerfüllung und Zielerreichung möglichst optimal auszugestalten.310 TP
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Interview Geschäftsführender Berater einer mittelgroßen Management-Beratung Interview Führungskräftecoach und Berater für Organisationsentwicklung Vgl. Thomas 1999:122f
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Gruppen, die sich freiwillig bzw. selbstorganisiert formieren, sind tendenziell sehr homogen.311 Auch Führungskräfte neigen dazu, eher homogene Gruppen zusammenzustellen.312 Um die Vorteile der Diversität zu nutzen, sollten demnach insbesondere in organisationalen Prozessen, die explizit für Kreativitäts-, Innovations- und Lern- und Veränderungseffekte konzipiert sind, die Gruppenmitglieder bezüglich ihrer Präferenzen und Erfahrungen bewusst gemixt, die Zusammensetzung ggf. variiert und Interaktionsmitglieder mit abweichenden Meinungen bewusst integriert werden.313 Auch in den Interviews dieser Arbeit plädierten die Gesprächspartner grundsätzlich für heterogene Gruppen als wichtigen Faktor für die Lern- und Veränderungsmöglichkeiten: TP
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„In wichtigen Fragen, in denen es z.B. darum geht, ganz neue Geschäftsmodelle zu denken und bestehende Modelle zu hinterfragen – beispielsweise „Warum machen wir das überhaupt selbst? Ist das überhaupt wertschöpfend? Kann man das nicht einkaufen?“ – würde ich es, abhängig vom Thema, schon befürworten, Heterogenität in die Teams bewusst hineinzubringen, um durch einen Konflikt und unterschiedliche Meinungen einen höheren Qualitätsoutput zu haben.“314 TP
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„Der kluge Top-Manager hat ja Menschen um sich, die nicht immer seiner Meinung sind und die ihm das auch sagen dürfen, auch wenn das unangenehm ist. Das ist schwer genug. […] Aber generell ist es dort wichtig, dass z.B. ein Vorstand, um es mal zu personalisieren, solche Führungskräfte um sich versammelt, die unterschiedliche Sichtweisen hereinbringen und nicht nur alles ganz toll finden und ihn bestärken, ohne auch mal kritisch zu hinterfragen oder einen anderen Blick hineinzubringen.“315 TP
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„Wichtige Faktoren sind hier die generelle Unternehmenssituation und die Aufgabe der Gruppe. Danach entscheidet sich meiner Meinung nach, wie die Gruppe zusammengesetzt werden sollte, d.h. mit wie viel Unterschiedlichkeit sie besetzt sein sollte und welche Typen vertreten sein sollten. Dafür gibt es in der Literatur ja reichlich Beispiele, z.B. Francis/Young mit den TeamErfolgsfaktoren oder Belbin mit den Teamtypen, die ja relativ klar belegen, wo hier Chancen und Risiken liegen. Wir arbeiten sehr viel mit dem Riemann/Thomann-Kreuz mit den Dimensionen `Nähe-Distanz´ und `Kontinuität-Wechsel´. Mit solchen Modellen versuchen wir, den Menschen bewusst zu machen, dass im Unterschied Potenzial liegt, dass es für ein 311 TP
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Vgl. Jehn/Northcraft/Neale 1999:743f Vgl. De Dreu/De Vries 1997:76 Vgl. Schulz-Hardt/Frey 2000:401; Tjosvold 1993:86 Interview Interimsmanager Interview Leiter Führungskräfte Energieunternehmen
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gemeinsames Ziel u.U. sogar schädlich ist, wenn alle gleich sind. Das sind allerdings nur Grundmodelle, auf die ich die Menschen immer wieder zurückrufen kann.“316 TP
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„Aus meiner Sicht sind Teams mit einer gewissen Mischung erfolgreicher, in denen sich die Leute mit ihren Fähigkeiten gegenseitig bereichern. Der eine ist dann eher der Organisator, der andere eher Buchhalter, ein Dritter der Kreative usw. Deswegen bin ich ein Verfechter gemischter Teams.“317 TP
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„Bezüglich der Gruppenzusammenstellung sagt die Theorie und zeigt auch die Praxis, dass heterogene Teams langfristig sehr erfolgreich zusammenarbeiten können, wenn die Mitglieder eine Arbeitskultur miteinander finden; auch viel erfolgreicher als homogene Teams. Sie vereinen viel mehr Kompetenzen und ergänzen sich besser; das Entwicklungsfeld des einen ist die Stärke des anderen. Ich plädiere in meiner Beratungstätigkeit immer dafür, nicht nur Leute in ein Team zu stecken, die aus einem Holz geschnitzt sind. Ich glaube, das ergibt gähnende Langeweile und senkt die Produktivität. Ein wenig Reibung ist ganz wichtig, insbesondere für Entwicklung, Fortschritt und organisationales Lernen; das funktioniert nur durch Heterogenität.“318 TP
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Die Grenzen der Heterogenität werden von den Interviewpartnern zum einen in den notwendigen gemeinsamen Grundlagen für Zusammenhalt gesehen, wie sie oben unter dem Stichwort Werteheterogenität diskutiert wurden. So wird die Notwendigkeit einer gemeinsamen Arbeitskultur, akzeptierter gemeinsamer Regeln, wechselseitigen Verständnisses und Toleranz sowie eines Grundkonsenses über die generelle Zielsetzung der Organisation herausgestellt.319 Zum anderen hängt die Vorteilhaftigkeit von Diversität auch von der Arbeitsanforderung an die Gruppe ab. Während in Phasen der Kreativität, Ideensuche und Reflexion Heterogenität Erfolg versprechend ist, werden in Umsetzungsphasen beschlossener Maßnahmen eher homogene Teams bevorzugt, in denen nicht jede Entscheidung sofort erneut infrage gestellt wird.320 Da es im betrieblichen Alltag aber oftmals in beiden Phasen die gleichen Teams sind, liegt hierin eher die Herausforderung an die Führungskraft, die unterschiedlichen Anforderungen zu kommunizieren. Diese Faktoren werden in den folgenden Abschnitten detaillierter dargestellt. TP
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Interview Geschäftsführender Berater einer mittelgroßen Management-Beratung Interview Geschäftsbereichsleiter internationales Industrieunternehmen Interview Führungskräftecoach und Berater für Organisationsentwicklung Vgl. Interviews Führungskräftecoach und Berater für Organisationsentwicklung; Stellvertretender Geschäftsführer Medienunternehmen; Geschäftsbereichsleiter internationales Industrieunternehmen; Leiter Führungskräfte Energieunternehmen Vgl. Interview Stellvertretender Geschäftsführer Medienunternehmen; Leiter Führungskräfte Energieunternehmen
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5.2.3 Kommunikations- und Konfliktkultur Von unmittelbarer Bedeutung für die Fähigkeit zum konstruktiven und reflektierenden Umgang mit Konflikten ist die generelle Kommunikations- und Konfliktkultur in der Gruppe bzw. Organisation. Sie beeinflusst den Verlauf konkreter Konflikte, indem sie auf nahezu alle anderen nachfolgend dargestellten Einflussfaktoren wirkt, z.B. das individuelle Konfliktverhalten, das Führungsverhalten, die Wahrnehmungen und die Einstellungen, die Kommunikation oder die Trennung von affektiven und kognitiven Konflikten. Aus der konstruktivistischen Perspektive dieser Arbeit kann die Gruppenoder Organisationskultur allgemein als der Teil der kollektiven Wirklichkeitsordnung bezeichnet werden, der den Umgang miteinander bestimmt. Sie ist stark mit den gelebten Werten und akzeptierten Normen und Regeln verbunden. Normen sind in der Sozialpsychologie Regeln für soziales Verhalten, die Orientierungen für die Verhaltensauswahl bei Unsicherheiten bieten, das Spektrum möglicher Verhaltensweisen eingrenzen, Verhalten stabilisieren, damit erwartbar machen und somit Verhaltenskoordination ermöglichen.321 Aus konstruktivistischer Perspektive sind sie zudem stark verfestigte Teile der individuellen und kollektiven Wirklichkeitsordnung, die Einfluss auf die Beobachtung und das Verhalten nehmen, also Deutungsmuster, die zur Beurteilung anderer Deutungsmuster, Deutungen und Verhaltensweisen dienen. Sie sind soziale Konstrukte, die innerhalb einer Gruppe, Organisation oder Gesellschaft irgendwann im Rahmen kollektiver Prozesse entwickelt, von den Teilnehmern interiorisiert, angewandt und weitergegeben wurden. Kollektiv geteilte oder soziale Normen erfüllen zudem die Funktion, interindividuell ähnliche Beurteilungskriterien für Beobachtungen und Verhaltensweisen zugrunde zu legen. TP
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Die besondere Bedeutung von offen kommunizierten, klaren und transparenten Normen und Regeln wurde in den durchgeführten Interviews von den Gesprächspartnern vor allem darin gesehen, dass sie insbesondere in Konfliktsituationen Verhaltenssicherheit bieten: „…wenn es in der Sache konfliktträchtig wird, ist es sehr wichtig, dass in der Form Verhaltenssicherheit herrscht und jeder weiß, was ihn erwartet und wo die Grenzen sind. Der äußere Rahmen muss umso statischer, fester, berechenbarer sein, je mehr ich inhaltlich flexibel sein will.“322 TP
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„Wichtig sind einfach die Normen, Werte und Regeln, also z.B. Respekt, Rücksicht, Wertschätzung, Toleranz. Wenn sich diese bei den Leuten verfestigt haben, habe ich eine höhere Chance, dass im Prozess [eig. Anm.: gemeint ist ein eskalierender Konfliktprozess] jemand aufsteht und sagt 321 TP
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Vgl. Fischer/Wiswede 2002:543ff Interview Stellvertretender Geschäftsführer Medienunternehmen
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„Leute, was tun wir hier eigentlich? Ich habe gerade den Eindruck, dass wir die Regeln verlassen, die wir gemeinsam festgelegt haben“.“323 TP
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Auch in der bisherigen Konfliktforschung wird den gemeinsamen Normen eine entscheidende Rolle für die Trennung von affektiven und kognitiven Konflikten zugeschrieben, da in Konfliktinteraktionen selbst die permanente reflexive Trennung von affektiven und kognitiven Wahrnehmungs- und Verhaltensanteilen schwerfallen kann. Gruppennormen, die einen offenen und toleranten, aber sachlichen Umgang miteinander fixieren, können Interaktionen stabilisieren, da sie i.d.R. individuell und kollektiv stark verfestigt sind und von allen Interaktionsmitgliedern in Interaktion „überwacht“ werden können, insbesondere wenn sie explizit fixiert sind.324 Bezüglich der Heterogenität in Gruppen, die als Rahmenbedingung für die Konflikthäufigkeit im vorherigen Abschnitt dargestellt wurde, sind gemeinsame Verhaltensnormen zudem wichtig, um die Balance zwischen der notwendigen Homogenisierung der Interaktionsbeteiligten und der Aufrechterhaltung leistungs-, kreativitäts- und irritationsfördernder Heterogenität zu erreichen.325 TP
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Inhaltlich lassen sich sowohl aus der bisherigen Konfliktforschung, der Kreativitätsforschung und der Minority dissent-Forschung als auch aus den geführten Interviews ähnliche Anforderungen an die Kommunikations- und Konfliktkultur in Gruppen und Organisationen für einen konstruktiven Verlauf von Konfliktinteraktionen und die Möglichkeit lernauslösender Thematisierung von Irritationen ableiten. Wichtig ist die individuelle und kollektive Bereitschaft, offene Diskussionen zu tolerieren, sich aktiv an ihnen zu beteiligen und andere ggf. dazu zu ermutigen. Innerhalb der Interaktionsgruppe muss die Offenheit, Akzeptanz von Widerspruch, Toleranz gegenüber anderen Sichtweisen und Positionen die Norm sein. Die Interaktionsbeteiligten müssen zuhören können und versuchen, andere Standpunkte tatsächlich zu verstehen. Abweichende Meinungen dürfen in den Diskussions- und Entscheidungsprozess eingebracht werden, es besteht weder Konformitätsdruck seitens der Gruppe noch Bewertungsangst bei den Gruppenmitgliedern. Sachbezogene Konflikte werden als völlig normaler Bestandteil des Gruppenlebens akzeptiert. Interaktionsbeiträge sind sach- und ergebnisorientiert und dürfen weder persönliche Attacken auf andere Beteiligte oder politische Manöver zur indirekten Durchsetzung eigener Interessen gegen das Gruppeninteresse sein.326 Rüegg-Stürm (2001) beschreibt irritations- und lerntolerante Organisationen als solche, in denen Widerspruch nicht nur geduldet wird, sondern erwünscht ist und als konstruktives Hinterfragen von Selbstverständlichkeiten erwartet wird, in denen Kritik respektvoll und AuseinanderTP
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Interview Geschäftsführender Berater einer mittelgroßen Management-Beratung Vgl. Amason/Schweiger 1997:110 Vgl. Thomas 1999:123 Vgl. Tjosvold 1990:26; Jehn 1995:262f; 1997:95; Amason/Schweiger 1997:112; Wack/Detlinger/ Grothoff 1998:18ff; West 1999:32ff; Schulz-Hardt/Frey 2000:401; Schulz-Hardt/Jochims/Frey 2002:583
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setzungen lösungsfokussiert erfolgen, die Thematisierung von Widersprüchen nicht als Schwäche, sondern als Stärke wahrgenommen wird und Widerspruch nicht vorschnell als persönlicher Widerstand gebrandmarkt und abgelehnt wird. Eine entscheidende Voraussetzung für dieses Verhalten ist das Vertrauen zwischen den Mitgliedern, welches sich aber nicht künstlich implementieren oder gar erzwingen lässt, sondern nur durch gelebte Verlässlichkeit der Interaktionsnormen entsteht.327 TP
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Auch in den Experteninterviews wurden ähnliche Normen und Werte als essentiell für den konstruktiven und lernbereiten Umgang mit Konflikten beschrieben. Die Gruppenmitglieder müssen sich gegenseitig zuhören können und ausreden lassen sowie aufgeschlossen und tolerant gegenüber anderen Meinungen sein. Kritisches Feedback und die Äußerung abweichender Meinungen dürfen nicht negativ sanktioniert werden. Jegliche Äußerungen sollten möglichst sach- und ergebnisorientiert sein und dürfen nicht persönlich verletzen. Feedback sollte grundsätzlich direkt adressiert und anlassbezogen, also nicht verallgemeinert und generell sein. Der wechselseitige Respekt füreinander ist hierbei ein entscheidender Grundwert.328 Folgende Aussagen aus den Interviews illustrieren diese Anforderungen: TP
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„Ich halte es für ungemein wichtig, dass die Mitarbeiter das wirkliche Gefühl haben, dass der Prozess ergebnisoffen ist, und dass sie ihn als faire Diskussion wahrnehmen. Dann kann eine Situation entstehen, in der die Teammitglieder wirklich miteinander reden, untereinander tatsächlich nach Problemlösungen suchen und zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen.“329 TP
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„Eine weitere Grundbedingung hier in unserem Führungsteam ist, dass der persönliche Respekt absolut gegeben ist. Jeder macht sicherlich Dinge anders, aber es gibt keinen, der über einen anderen sagt „Der kann nichts“, „Der macht das alles völlig falsch“ oder „Der spielt falsch“ o.ä.“330 TP
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„Wenn es also an die Persönlichkeit eines Menschen geht, sollte man vermeiden, ihn zu verletzen. Und das gelingt meines Erachtens wiederum nur, wenn man klare, transparente, offen kommunizierte Regeln definiert hat, an die sich dann auch beide oder alle Konfliktparteien halten. Man sollte immer sachorientiert argumentieren, den Absender immer sehr persönlich wahrnehmen, also nicht verallgemeinernd argumentieren, und das Thema konstruktiv und zielgerichtet fassen, also nicht nur sagen: „Das passt mir 327 TP
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Vgl. Rüegg-Stürm 2001:317ff Vgl. Interviews Interimsmanager; Führungskräftecoach und Berater für Organisationsentwicklung; Stellvertretender Geschäftsführer Medienunternehmen; Geschäftsführender Berater einer mittelgroßen Management-Beratung; Geschäftsbereichsleiter internationales Industrieunternehmen Interview Geschäftsbereichsleiter internationales Industrieunternehmen Interview Geschäftsbereichsleiter internationales Industrieunternehmen
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nicht!“, sondern auch sagen: „Das passt mir nicht, weil … , und besser wäre es, wenn…“, das Ganze also auch auflösen.“331 TP
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„Feedback muss möglich sein, jederzeit, in jede Richtung, vom Praktikanten zu Geschäftsführer und umgekehrt. Immer sachorientiert, immer konkret sagen „Du hast in dieser Situation nach meiner Ansicht das und das nicht richtig gemacht“ oder „Du hast dort das und das gemacht, das hat mir nicht gefallen“ usw. Aber nicht sagen „Alle wissen doch in der Firma, dass du das und das nicht kannst“ oder so, das wäre genau so eine Regelverletzung. Das sind also die ganz normalen Feedback- und Kommunikationsregeln. Das ist eigentlich trivial, man muss nur den Mut und die Disziplin haben, es auch zu machen.“332 TP
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„Ebenfalls ein ganz wichtiger Punkt ist die Frage, ob man sich gegenseitig Feedback geben kann. Kann ich bspw. zu meinem Kollegen sagen: „Ich habe dich gerade am Telefon mit dem Kunden gehört. Du hast ihm den einen Sachverhalt so kompliziert erklärt, dass ich nicht glaube, dass er das verstanden hat und wir den Auftrag kriegen.“? Ist das erlaubt oder verpönt? Fängt derjenige, der das Feedback bekommen hat, sofort an, sich zu rechtfertigen, oder sagt er „Mensch, danke für den Hinweis. Ich sehe mal, dass ich das das nächste Mal besser hinkriege.“ Das alles sind die kleinen Aspekte der Zusammenarbeit, die ein Team erst einmal miteinander ausprobieren und vereinbaren muss, sodass es überhaupt erst möglich wird, das besprechbar zu machen.“333 TP
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„Oftmals sind ja gerade kompetente Leute sehr unbequem. Auch die so genannten High Potenzials oder Hochbegabte weisen i.d.R. eine solche Persönlichkeitsstruktur auf, die von anderen als nervig wahrgenommen wird. Die stellen ständig Fragen, die hinterfragen alles, die wollen ständig Dinge verbessern und anders machen. Das ist erst einmal unbequem, aber ganz notwendig. Wenn ich eine solche Person im Team habe, ist es natürlich ganz wichtig, denjenigen zu Wort kommen zu lassen, ihn erklären zu lassen, was er meint und welche Idee er hat. Ich muss erst einmal versuchen, ihn zu verstehen, und muss es dann ggf. überprüfen und entscheiden, ob ich daran glaube.“334 TP
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Bei der Gestaltung und Veränderung der Kommunikations- und Konfliktkultur und der Interaktionsnormen und -regeln ist generell zu bedenken, dieser Prozess sehr 331 TP
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Interview Stellvertretender Geschäftsführer Medienunternehmen Interview Stellvertretender Geschäftsführer Medienunternehmen Interview Führungskräftecoach und Berater für Organisationsentwicklung Interview Führungskräftecoach und Berater für Organisationsentwicklung
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langwierig ist, viel Geduld erfordert und exemplarisches Vorleben durch die Führungskräfte als unerlässliche Bedingung voraussetzt.335 TP
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5.2.4 Individuelle Einstellungen, Erfahrungen und Fähigkeiten Die individuellen Einstellungen zu den Gruppenmitgliedern, der Organisation, der Aufgabe und zu Konflikten, die Kommunikations-, Reflexions- und Konfliktbewältigungsfähigkeiten sowie die bisherigen Erfahrungen mit Konflikten im Allgemeinen sowie in der Organisation im Speziellen sind wichtige Bestimmungsfaktoren für die Wahrnehmung und das Verhalten der Gruppenmitglieder in Konfliktinteraktionen. Die Einstellungen und Fähigkeiten der Gruppenmitglieder müssen die im vorigen Abschnitt dargestellten Normen und Regeln des Umgangs miteinander im individuellen Verhalten widerspiegeln, d.h. die Interaktionsbeteiligten müssen Toleranz und Respekt gegenüber anderen Personen aufbringen, aufgeschlossen gegenüber anderen Meinungen und Argumentationen sein, zur offenen, sachlich-konstruktiven, lösungsorientierten und nicht persönlich angreifenden Kommunikation fähig und gewillt sein, Reflexionsvermögen besitzen und bereit sein, Feedback konstruktiv zu geben und selbst anzunehmen.336 Die Einstellungen als verfestigte Deutungsmuster der individuellen Wirklichkeitsordnung steuern die Beobachtung und Verhaltensauswahl eines Individuums. Ein grundsätzlich wertneutrales Verständnis von Konflikten und ihre Akzeptanz als unvermeidbarer Teil zwischenmenschlicher Interaktionen (siehe Kap. 4.1 „Konfliktkonzeption“) ist eine wichtige Bedingung für einen konstruktiven Umgang mit Konflikten und die Bereitschaft, sich selbst aktiv und ergebnisoffen an ihnen zu beteiligen. Dann erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass in den Interaktionen die Schuld für die Konfliktentstehung weder bei sich noch bei anderen gesucht wird, Handlungsziele und Interessen als grundsätzlich vereinbar wahrgenommen werden und eine Win-win-Lösung angestrebt wird. Aber auch im negativen Fall können die Konflikteinstellungen als self-fullfilling prophecies wirken, wenn sie von den Beteiligten nicht selbst wahrgenommen und reflektiert werden. So beeinflusst die allgemeine Einstellung oder situativ konkrete Wahrnehmung eines Interaktionsbeteiligten, ein Konflikt sei grundsätzlich ein Win-lose-Konstellation, Interessen nicht vereinbar und eigene Ziele nur gegen andere Personen durchzusetzen, mit hoher Wahrscheinlichkeit das Verhalten dieser Person, was bei den anderen Beteiligten zur Interpretation führen kann, dass tatsächlich eine kompetitive ZielTP
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Vgl. Interviews Interimsmanager; Führungskräftecoach und Berater für Organisationsentwicklung; Stellvertretender Geschäftsführer Medienunternehmen; zu letzterem Punkt siehe Kap. 5.2.5 (Führungsverhalten) Vgl. Kap. 4.3.2.3; Deutsch 1994:24; Interviews Interimsmanager; Stellvertretender Geschäftsführer Medienunternehmen; Geschäftsführender Berater einer mittelgroßen Management-Beratung, Leiter Führungskräfte Energieunternehmen
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konstellation vorliegt und ein konstruktiver Konfliktumgang nicht möglich ist. Das darauf ausgerichtete Verhalten der anderen Konfliktbeteiligten bestätigt dann das ursprüngliche Bild der ersten Person. Durch die wechselseitige Beeinflussung von Beobachtung und Verhalten in der Interaktion schaukelt sich die Konfliktinteraktion auf und verläuft mit hoher Wahrscheinlichkeit destruktiv. Der gleiche Mechanismus selbsterfüllender Prophezeiungen gilt für die Einstellung gegenüber anderen Konfliktbeteiligten und insbesondere für die Unterstellungen bezüglich ihrer Motive und Handlungsabsichten.337 TP
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Die Einstellungen zu Konflikten und Fähigkeiten zur konstruktiven Konfliktaustragung stehen in einem wechselseitigen Verhältnis zu den bisherigen Erfahrungen, die die Beteiligten bisher allgemein und in der Organisation bzw. Gruppe bei der Konfliktbewältigung gesammelt haben: „We learn much from conflict. If handled cooperatively, we learn valuable lessons about ourselves, our partners, and how to solve problems and feel confident and powerful. But, if mishandled, we can reinforce misleading stereotypes and lower our views of ourselves and our conflict partners.”338 TP
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Positive Erfahrungen im Umgang mit konstruktiv geführten Konflikten können die Sensibilität der Gruppenmitglieder reduzieren, Widerspruch und Konflikte als persönliche Angriffe aufzufassen, und erhöhen die Bereitschaft, sich konstruktiv an Konflikten zu beteiligen.339 Umgekehrt kann die Vermeidung, schnelle Beilegung oder Unterdrückung von Konflikten, die im organisationalen Alltag häufig angebracht erscheinen mag, weil sie Zeit- und Effizienzvorteile verschafft oder einfach nur bequemer ist, die Rahmenbedingungen für den konstruktiven Umgang mit zukünftigen Konflikten langfristig verschlechtern.340 Van de Vliert und De Dreu (1994) bemerken dazu: TP
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“In organizations, “the present is eating the future” much too often. Notably, in case of conflict a short-sighted of giving in or compromising may damage the collective interest in a longer run.”341 TP
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Insbesondere die negative Sanktionierung von abweichenden Meinungen führt meist zu schnellen „Lerneffekten“ bei den Betroffenen und reduziert die Bereitschaft zur konstruktiv-kritischen Beteiligung an Interaktionen.342 TP
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Vgl. Tjosvold 1993:7ff, 19f, 23f Tjosvold 1993:23 Amason/Schweiger 1997:109 Vgl. Thomas 1992:688ff; Van de Vliert/De Dreu 1994:213 Van de Vliert/De Dreu 1994:213 Vgl. De Dreu/Beersma 2001:268, Thomas 1999:123; Levine/Kaarbo 2001:239f
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Ein Interviewpartner hat zudem darauf hingewiesen, dass neben diesen Konflikterfahrungen in der Organisation auch bereits wesentlich früher gesammelte Fähigkeiten und Erfahrungen den heutigen Umgang mit Konflikten beeinflussen: „Das fängt viel früher an, schon in der Kindheit. Ich kenne sehr viele Leute – und bei uns war es im Grunde genommen ähnlich –, bei denen es keine Konflikte gab bzw. keine Konflikte ausgelebt wurden. Dadurch hatte ich z.B. nie eine Streitkultur gelernt, das musste ich mühsam später lernen. Diese Wurzel wird also schon sehr früh in den Familien gelegt.“343 TP
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Diese Erfahrungen und erlernten Fähigkeiten aus der persönlichen Entwicklung sind zwar im organisationalen Alltag nicht gestaltbar und damit für das Konfliktmanagement zunächst nicht relevant, sie verdeutlichen aber die individuellen Unterschiede in den Einstellungen zu Konflikten und in den Konfliktbewältigungsfähigkeiten, deren sich eine Führungskraft bewusst sein muss.344 TP
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5.2.5 Führungsverhalten Das Verhalten von Führungskräften im alltäglichen Gruppen- und Organisationsgeschehen sowie in konkreten Konfliktinteraktionen bildet einen entscheidenden Faktor für die Ausgestaltung und Einhaltung der Diskussionskultur und setzt damit die Rahmenbedingungen für das Konfliktverhalten der anderen Gruppenmitglieder. Führung wurde im Bezugsrahmen der Arbeit als Prozess und Ergebnis der individuellen und sozialen Wirklichkeitskonstruktion beschrieben. Status, Kompetenzen und Akzeptanz einer Führungskraft sind Ergebnisse sozialer Wirklichkeitskonstruktion, die als Teil der individuellen und kollektiven Wirklichkeitsordnung die Wahrnehmung, Interpretation und Verhaltensweisen der Beteiligten beeinflussen. In konkreten Interaktionen äußert sich Führung in Exteriorisierungen der Führungskraft, die für die anderen Interaktionsteilnehmer i.d.R. eine besondere Bedeutung haben und somit die soziale Wirklichkeitskonstruktion stärker beeinflussen als andere Interaktionsbeiträge. Führung ist aber nicht die deterministische Steuerung des Prozesses der sozialen Wirklichkeitskonstruktion oder die deterministische Gestaltung der Wirklichkeitsordnung.345 Konfliktmanagement als ein Teil der Führung in Organisationen umfasst alle intentionalen Maßnahmen, die darauf abzielen, aktuelle oder potentielle Konfliktinteraktionen zielgerichtet zu beeinflussen.346 TP
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Interview Interimsmanager Diese in der Kindheit bzw. außerhalb der Organisation gesammelten Erfahrungen sind insbesondere für das Management im interkulturellen Kontext relevant, wenn Menschen mit gesellschaftlich bzw. kulturell unterschiedlich geprägten Konfliktauffassungen zusammenarbeiten. Vgl. Kap. 2.3.3 Vgl. Kap. 4.1.3
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Zunächst gelten für die Führungskraft als Teil der Gruppe und Organisation natürlich dieselben im vorigen Abschnitt beschriebenen Aussagen zum allgemeinen Konfliktverhalten wie für jeden anderen Mitarbeiter auch, allerdings mit der Besonderheit, dass die Führungskraft als Vorbild- und Referenzperson für die anderen Mitarbeiter fungiert und damit deren Verhalten im besonderen Maße mit beeinflusst. Daher muss die Führungskraft diese Merkmale offener, konstruktiver und lernförderlicher Konfliktkultur vorleben. Sie sollte durch ihr Verhalten zur offenen Diskussion und zur Hinterfragung des Gruppenkonsenses ermutigen, die Exteriorisierung unterschiedlicher Sichtweisen aktiv fördern, vorschnelle Einschränkungen und Ablehnungen verhindern und selbst vermeiden sowie allen Beteiligten die Sicherheit eines fairen Diskussionsprozesses geben, der ergebnisoffen und irritationstolerant ist und keine Benachteiligungen bei abweichenden Meinungsäußerungen beinhaltet. Gleichzeitig muss sie die Gemeinsamkeiten der Beteiligten, insbesondere die Ziel- und ggf. Arbeitsabhängigkeit und damit ein gemeinsames übergeordnetes Interesse, im Bewusstsein halten und Win-win-Lösungen anstreben, auch um eine zunehmende Emotionalisierung des Konfliktes und die Verhärtung der Fronten zu verhindern. Neben dem Vorleben im eigenen Verhalten kommt der Führungskraft zudem die besondere Verantwortung zu, die Normen und Regeln der Interaktion (ggf. gemeinsam mit dem Team) festzulegen und deren Einhaltung zu überwachen. Durch Interventionen in ablaufende Interaktion zeigt die Führungskraft, welches Verhalten sie toleriert, unterstützt oder ablehnt. Sie muss bei Eskalationen des Konfliktes darüber hinaus die Kompetenz besitzen, den Konfliktverlauf auf der Metaebene zu reflektieren und in der Gruppe zu thematisieren.347 Zur Förderung eines offenen, dissensfreudigen Klimas ist es neben der expliziten Ermutigung zur Äußerung bzw. der aktiven Abfrage von abweichenden Meinungen zudem meist ratsam, die eigene Meinung bzw. Präferenz zurückzuhalten, um eine ungewollte Vorfestlegung zu verhindern.348 Selbstreflexion und Organisationsbewusstheit können nur in einigermaßen herrschaftsfreien Diskursen erfolgen. In diesem Zusammenhang wirkt vor allem die starke Betonung von Hierarchien im Führungsverhalten stark einschränkend auf die Kreativität der Mitarbeiter sowie die Bereitschaft, abweichende Meinungen und neue Ideen zu exteriorisieren.349 TP
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Auch in den durchgeführten Interviews bestätigten die Gesprächspartner die herausgehobene Bedeutung der Führungskräfte für die Gruppeninteraktionen im Allgemeinen und Konflikte im Besonderen sowie die oben skizzierten Anforderungen an das Führungsverhalten:
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Vgl. Amason/Schweiger 1997:109f; Schulz-Hardt/Frey 2000:401; Tjosvold 1993:85ff; Jehn 1994:232; 1999:16f Vgl. Schulz-Hardt/Jochims/Frey 2002:583 Vgl. Rüegg-Stürm 2001:342 ; Williams/Yang 2006 :375f
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„Das Management muss solche Regeln [eig. Anm.: für den Umgang mit Konflikten] für sich beschließen und sie dann auch leben, und den Mitarbeitern müssen Sie klarmachen, dass sie diese Regeln von ihren Vorgesetzten auch einfordern. Ein weiterer Vorteil von Konflikten ist ja, dass Sie sehen können, wer überhaupt konfliktfähig ist, das sind viele nämlich nicht. Sie brauchen aber konfliktfähige Führungskräfte, die auch konstruktiv kritisch diskutieren können. […] Dort gilt das sicherlich schon sehr abgedroschene Sprichwort „Der Fisch fängt am Kopf an zu stinken“. Das heißt, wenn der Manager keine Konfliktfähigkeit in einer wertschätzenden Atmosphäre vorleben kann, dann kann er auch nicht erwarten, dass es in der Organisation gelebt wird.“350 TP
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„Da sind mehrere Eigenschaften und Fähigkeiten gefragt. Das Wichtigste ist, dass sich die Führungskraft selbst über das Ziel klar ist. Wenn sie selbst keine Klarheit darüber hat, wohin die Reise geht, kann sie bei divergierenden Interessen auch nicht mit jemandem über den richtigen Weg diskutieren. Ein zweiter Punkt ist die Fähigkeit, auch unangenehme Konfliktsituationen anzusprechen, also diese vielleicht natürliche Scheu zu überwinden, einen Konflikt auch zu benennen. Dabei benenne ich ja nicht nur Themen, sondern auch Menschen. Und an dieser Stelle beginnt dann das Fingerspitzengefühl. Wenn ich einen Konflikt lösen will, heißt das, dass ich mich auch in die Akteure hineinversetzen können muss. Ich muss ein gewisses Maß an Empathie haben, um zu erkennen, warum jemand etwas macht. Wenn ich dort nur mit meinem eigenen Raster herangehe und sage „Ach, der Querulant!“, dann habe ich einen Stereotypen im Kopf, mit dem ich mir die Sache höchstens scheinbar einfach mache, indem ich ihm ein Etikett anhefte. Hier ist es wichtig, auch mal zu hinterfragen, warum jemand so etwas macht und sich so verhält. Dann sehe ich da noch die Fähigkeit als notwendig an, den Konflikt durch eigenes Verhalten nicht so anzuheizen, dass ein anderer nur noch unter Gesichtsverlust mitgehen könnte. Menschen sind ja nicht nur rational, sondern auch emotional geprägt, auch in einem solchen Unternehmen. Wenn ich jemanden vor eine scheinbar rationale Entscheidung stelle, die aber für diese Person in deren Kontext einen Gesichtsverlust bedeuten würde, dann muss ich vorsichtig sein, dass ich sie nicht offen bloßstelle. Damit verbaue ich mir Wege, die vielleicht auch helfen könnten. Dann muss ich mir aber auch ein Bild darüber machen können, wie viel Zeit ein solcher Konflikt kostet und wie lange er gehen darf. Zudem muss ich mir darüber Gedanken machen, welche Auswirkungen ein Konflikt darüber hinausgehend für die Mitarbeiter hat, welche Schäden er ggf. im Umfeld verursacht. Solche Konflikte können zu einer starken Verunsicherung der
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Interview Interimsmanager
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Mitarbeiter führen, und verunsicherte Menschen sind i.d.R. nicht produktiv oder konstruktiv bei Konfliktlösungen. Ein Konflikt ist vielleicht wie eine Krankheit: Er kann die Abwehrkräfte stärken, er kann aber auch einen Organismus beschädigen. Wenn man einen Konflikt zu lange laufen lässt, kommt es zu Schäden; dann wird darüber diskutiert und gemutmaßt, wer was gesagt und gemeint hat, was das bedeutet, ob da noch mehr dahintersteckt usw. Man muss also im Blick behalten, welche „Kollateralschäden“ – um hier einmal dieses Unwort zu verwenden – und Kosten ein Konflikt verursacht. Das sind die Facetten, die ich als notwendig erachte, damit eine Führungskraft Konflikte führen kann. Das sind also ganz verschiedenartige Fähigkeiten, von der ganz rationalen Einschätzung der zu verfolgenden Ziele und der Abschätzung von Folgeschäden bis hin zum Hineinversetzen in andere Menschen und die Fähigkeit, eigene Emotionen, die ja auch eine Rolle spielen, wahrzunehmen. […] Das halte ich diesbezüglich für die größten Herausforderungen an eine Führungskraft, sich erstens selbst einzugestehen, dass man Emotionen hat und nicht der „coole“ Manager ist, der immer ganz rational handelt und nur die Fakten sieht; zweitens dann auch mit diesem Emotionen umgehen zu können; und sich drittens bewusst zu sein, dass auch bei Anderen Emotionen ausgelöst werden und eine Rolle spielen. Dann haben Sie gute Voraussetzungen, mit einem Konflikt produktiver umgehen zu können.“ 351 P
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„Man muss es aber vorleben als Führungskraft, man muss Kritik auch zulassen. Man muss auch den Konflikt nicht scheuen, sich selbst infrage zu stellen und sich selbst zu erklären, transparent zu machen, was man tut und denkt, und die Leute zu überzeugen und mitzunehmen. Das kann ja auch ganz schnell in einem Konflikt münden, wenn es auf der anderen Seite andere Vorstellungen gibt.“ 352 TP
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„Eine große Blockade ist es, wenn die Mitarbeiter in einem Team von ihrem Chef glauben, dass er ein Machtmensch ist, der erst einmal alle ein wenig zappeln lässt und dann durchsetzt, was er für richtig hält. Dann versuchen alle zu erahnen, was er will, und sich entsprechend zu verhalten. Da ist es dann auch egal, ob der Chef sagt, er sei völlig ergebnisoffen. Wenn die Leute darunter glauben, er hat eigentlich schon seine Lösung im Kopf, dann entstehen zwischen den Mitarbeitern negative Konflikte, weil sie nur versuchen herauszufinden, was sein Plan ist, und sich zu positionieren, um am Ende nicht der Verlierer zu sein. […] Entscheidend ist, dass die Führungskraft wirklich ergebnisoffen ist oder zumindest in wesentlichen Elementen, und dann aber auch sagt, worüber geredet werden kann und was 351 TP
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Interview Leiter Führungskräfte Energieunternehmen Interview Stellvertretender Geschäftsführer Medienunternehmen
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nicht zur Diskussion steht. [Antwort auf die Frage, wie die Führungskräfte dies erreichen können:] Indem man es vorlebt. Die Leute haben ein extrem gutes Gespür dafür, ob der Chef das wirklich offen gestaltet oder nicht. Hier läuft sehr viel über nicht sichtbare, indirekte Regeln.“353 TP
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„Die Beteiligten müssen miteinander reden. Dabei ist natürlich vor allem die Führungskraft gefragt. Wenn sie merkt, dass es Reibereien gibt, muss sie solange nachfragen und der Sache auf den Grund gehen, bis sie die Hintergründe verstanden zu haben glaubt. Gute Führungskräfte beherrschen das, die kennen ihre Leute und die wissen auch, was im Team los ist. Ich denke, das unterscheidet erfolgreiche von weniger erfolgreichen Führungskräften. Weniger erfolgreiche Führungskräfte sehen weg, wenn Konflikte entstehen. Die fragen nicht weiter nach, weil sie Angst haben, dass sie mit der Situation nicht umgehen können, dass der Konflikt etwas mit ihnen selbst zu tun haben könnte oder dass für sie Handlungs- und Verbesserungsbedarf entsteht. Diese Führungskräfte tendieren dazu wegzusehen; die sind gar nicht besonders harmoniesüchtig, sondern haben Angst, dass sie mit dem Ergebnis nicht umgehen können. Andersherum schauen gute Führungskräfte bewusst auf solche Konflikte und versuchen, sie zu verstehen. Dafür ist meines Erachtens persönliche Ansprache, also der persönliche Kontakt und das Gespräch mit den Mitarbeitern wichtig. […] Ebenfalls sehr destruktiv ist das öffentliche, personifizierte Anprangern von Fehlern im Team. Wenn jemand einen Fehler gemacht hat, dann muss das unter vier Augen geklärt werden. Es kann dann nicht sein – und das habe ich durchaus schon erlebt –, dass jemand vor der gesamten Gruppe zusammengestaucht wird nach dem Motto „Seht nur diesen Fehler, wir alle sollten jetzt daraus lernen“. Da wird dann jemand zum totalen Trottel degradiert mit der vermeintlich guten Absicht, alle könnten etwas daraus lernen. Das ist für die betroffene Person völlig inakzeptabel und alle anderen wissen auch nicht so recht, wie sie damit umgesehen sollen. Wenn ich die Erkenntnisse und Schlussfolgerungen aus einem Fehler oder einem Konflikt in der Gruppe oder Organisation nutzen will, muss ich diese schon allen zugänglich machen, aber ich muss es entpersonifizieren. Eine Organisation kann natürlich nur lernen, wenn alle an diesem Wissen teilhaben können. Aber es ist eben nicht förderlich, wenn dies an einer einzelnen Person festgemacht und diese an den Pranger gestellt wird. Ein weiteres „No Go“ ist dieses Wegschauen. Die wenigsten Konflikte verschwinden ja von allein. Das mag es auch mal geben, dass sich ein Konflikt von selbst erledigt oder die Betroffenen untereinander eine Lösung finden, aber meiner Erfahrung nach
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Interview Geschäftsbereichsleiter internationales Industrieunternehmen
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schaukeln sie sich mit der Zeit meistens auf. Wenn die Organisation oder Führungskraft wegschaut, verstärkt sich das also eher.“354 TP
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Ein Gesprächspartner illustriert die negativen Auswirkungen destruktiven Interaktions- und Konfliktverhaltens von Führungskräften an zwei Beispielen aus der eigenen Coachingarbeit: „Ein Beispiel: bei einem Beratungsmandat beklagt sich der Vorstandsvorsitzende darüber, dass in den Meetings niemals jemand aufsteht und seine Meinung sagt, sondern immer alle nur dasitzen und sich anhören, was vorne gesagt wird. Er selbst hatte keine Erklärung dafür. Als ich mich erkundigte, wie diese Meetings in der Vergangenheit abliefen, stellte sich sehr schnell heraus, dass, wann immer jemand aufgestanden war, um seine Meinung zu sagen, dieser vom Vorstandsvorsitzenden dafür bloßgestellt wurde. Also erstens war das schon mal eine verzerrte Wahrnehmung und Erinnerung vom Vorstandsvorsitzenden, dass nie jemand aufsteht, denn aus der Wahrnehmung der anderen Teilnehmer war das etwas anders. Und nachdem das zwei-, dreimal passiert war, hatte niemand mehr Lust, sich diesem zu stellen. D.h., hier hatten wir ganz klar ein Persönlichkeitsproblem auf der höchsten Leitungsebene, beim Vorstandsvorsitzenden, ein Wahrnehmungsproblem: Er nahm gar nicht wahr, was um ihn herum geschah, und beurteilte seine gesamte Leitungsmannschaft pauschal als unfähig. Dass er selbst maßgeblich dazu beigetragen hat, war ihm überhaupt nicht bewusst; und es gab natürlich auch niemanden, der ihm das gesagt hat. So stabilisieren sich solche Systeme häufig; man hört, was von oben kommt, kritisiert das horizontal, aber nicht im direkten Dialog. Dieses Kritisieren trifft beim Vorstand als undefinierbares Grummeln auf, aber er kann es nicht greifen; er bekommt nur irgendwelche Unzufriedenheit mit, die dann bagatellisiert wird. Das ist für mich ein typisches Beispiel für eine Umgebung, in der Konflikte schwelen, aber von der obersten Leitung unbewusst verhindert wird, dass daraus tatsächlich Entwicklung und Vorwärtsbewegung wird. Voraussetzung wäre, dass sich diese Führungskraft selbst in ihrem Verhalten infrage stellt.“355 TP
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„Ich arbeite derzeit an einem Projekt mit einem Kunden, der hat gerade zum wiederholten Male fusioniert. Das Management hat eingeladen zu wöchentlichen so genannten Führungsdialogen. Ein super Instrument, das im Grunde genommen hervorragend geeignet wäre, im Sinne Ihrer These Konfliktpotenzial in positive, konstruktive Veränderungsenergie umzuwandeln, indem ich ein Forum schaffe, in dem die Mitarbeiter ungestraft 354 TP
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Interview Führungskräftecoach und Berater für Organisationsentwicklung Interview Geschäftsführender Berater einer mittelgroßen Management-Beratung
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alles sagen können, was sie denken. Das ist aber Utopie, und genau das hat dieses Unternehmen wieder bewiesen. Es hat zwar dieses Forum auf Anraten des externen Beraters geschaffen. Dann hat die erste Runde stattgefunden mit über 100 Leuten, von denen zwei etwas gesagt haben, worauf die anwesende Geschäftsführung den einen Mitarbeiter rüde zurechtgewiesen hat, wie unwahr seine Äußerung sei, und im anderen Fall eine lange Rechtfertigung gegeben wurde, warum das Vorgehen der Geschäftsführung richtig sei. Daraufhin kamen beim nächsten Treffen schon nur noch 60 oder 70 Mitarbeiter, bei dem es ähnlich lief. Nach dem fünften oder sechsten Versuch, bei dem nur noch eine Handvoll Mitarbeiter kam, ist das Ganze eingestellt worden, da ja die Mitarbeiter kein Interesse daran hätten. Das ist leider betriebliche Realität und kein Einzelfall. Das heißt bezüglich der Frage nach den Möglichkeiten zur Schaffung eines konstruktiven Konfliktklimas, dass solche Methoden, die eigentlich geeignet wären, als Rahmenbedingung Entscheider voraussetzen, die so etwas nicht einführen, weil der externe Berater gesagt hat, dass das gut sei, sondern die mit einer authentischen Glaubwürdigkeit und Überzeugung in eine solche Veranstaltung gehen, dass sie dort etwas lernen können, und nicht mit der Grundeinstellung, dass sie dort persönlich angegriffen werden und sich rechtfertigen zu müssen. Es kommt also ganz entscheidend auf die Haltung der Führungskräfte an.“356 TP
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Die Gesprächspartner aus der Coaching- und Team- bzw. Organisationsentwicklungspraxis stellten zudem ihre Ansichten zu den Möglichkeiten und Grenzen des Trainings der Konfliktfähigkeit im Rahmen der Führungskräfteentwicklung dar: „Das beginnt damit, dass ich als Führungskraft zunächst reflektieren und mir darüber klar werden muss, wie ich zu Konflikten stehe. Ist das für mich ein unangenehmes Thema? Mag ich Konflikte? Bin ich jemand, der Konflikte schürt und anregt? Oder bin ich jemand, der Konflikte vermeidet und eindämmt? Das muss ich erst einmal wissen. Was bin ich in meinem bisherigen Leben gewohnt gewesen? Welche Erfahrungen habe ich damit gemacht und wie bin ich damit umgegangen? Es ist immer der erste Schritt in jeglicher Führungskräfteentwicklung, dass sich der Mensch erst einmal selbst reflektieren muss. Und dann muss ich sehen, ob es dort einen Handlungsbedarf gibt. Nehmen wir einmal an, ich bin ein Konfliktvermeider, dann muss ich mich fragen: Ist das gut so, will ich das so lassen? Oder kann ich das vielleicht ändern? Und wenn ja, wie? Das ist natürlich alles einfach gesagt. Es bringt ja nichts, der Führungskraft zu sagen, sie solle beim nächsten Konflikt offen darauf zugehen und sich mit dem Mitarbeiter
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Interview Geschäftsführender Berater einer mittelgroßen Management-Beratung
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mindestens 20 Minuten hinsetzen und darüber reden, wenn die Führungskraft eigentlich so strukturiert ist, dass ihr das unangenehm ist und sie Konflikte lieber vermeidet. Deswegen muss man immer erst bei der Person selbst beginnen. […] In der Führungskräfteentwicklung kann man dann die Erfahrungen der Leute mit solchen Situationen besprechen, also darüber reden, was für Konflikte die Leute in ihren Teams und Abteilungen schon erlebt haben, wie sie damit umgegangen sind, wie man alternativ damit hätte umgehen können usw. Dadurch macht man die jeweiligen Erfahrungen für alle besprechbar und erlebbar, so dass sie auch ausgetauscht werden können. In diesem Rahmen kann ich z.B. auch verschiedenen Untergruppen konträre Standpunkte zu einem Problem vorgeben, sie daran üben lassen, miteinander zu diskutieren, sich zu besprechen und zu einigen, also den gesamten Prozess der Konfliktbearbeitung gemeinsam erlebbar machen. […] Sehr gut wäre es zusätzlich, eine Führungskraft noch einmal persönlich in einem Teammeeting zu begleiten, in dem sie versucht, als Moderator Meinungsverschiedenheiten zu kanalisieren, sichtbar, offen und besprechbar zu machen. Dies zu beobachten und in einem Feedbackgespräch gemeinsam zu reflektieren wäre sehr hilfreich.“357 TP
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„Was in der Grundanlage eines Menschen nicht vorhanden ist, kann ich schwerlich in jemanden hineintransportieren. Da stoßen wir sicherlich auch mit unseren Systemen der Personalentwicklung an Grenzen. Ich kann nicht beliebig Konfliktfähigkeit lehren. Wer in seinem Wertesystem egozentrisch geprägt ist, wird nie wirklich in der Lage sein, Individualität zuzulassen, sondern andere immer daran messen, wie vergleichbar sie mit ihm selbst sind, inwieweit sie seinen eigenen Wertmaßstäben gerecht werden. Diese Leute haben einen blinden Fleck so groß wie ein Fußballfeld, aber die gibt es und wird es immer geben.“358 TP
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Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Ergebnisse aus der theoretischen Forschung und den Interviews übereinstimmend die herausragende Bedeutung des langfristigen, interaktions-übergreifenden Führungsverhaltens zeigen. Es beeinflusst die Erwartungen der Gruppenmitglieder an Konfliktinteraktionen und damit ihre Verhaltensweisen. Je nachdem, ob abweichende Meinungen und produktive Konflikte als willkommen akzeptiert oder aber vermieden und abgelehnt werden, sind die Gruppenmitglieder eher oder weniger bereit, sich aktiv und konstruktiv an sachlichen Diskussionen und Konflikten zu beteiligen und abweichende Meinungen, Widerspruch und neue Ideen einzubringen. Die Führungskraft hat hierbei eine entscheidende Einfluss- und Vorbildfunktion. 357 TP
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Interview Führungskräftecoach und Berater für Organisationsentwicklung Interview Geschäftsführender Berater einer mittelgroßen Management-Beratung
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5.3
Einflussfaktoren der Konfliktinteraktion
5.3.1 Konflikttyp: aufgabenbezogene und beziehungsbezogene Konflikte Die Unterscheidung zwischen aufgabenbezogenen Konfliktthemen (auch als kognitive Konflikte bezeichnet) und beziehungsbezogenen Konfliktthemen (auch als emotionale oder affektive Konflikte bezeichnet) wird in der Konfliktforschung als ein Schlüsselfaktor für die Erklärung von konstruktiven und destruktiven Konfliktfolgen gesehen.359 Unter kognitiven oder aufgaben-bezogenen Konflikten werden inkompatible Ideen, Meinungen, Sichtweisen und Einschätzungen zu Aufgabeninhalt und Lösungswegen verstanden. Emotionale, affektive bzw. beziehungsbezogene Konflikte beinhalten Friktionen, Frustrationen und Auseinandersetzungen aufgrund von Unvereinbarkeiten und Ablehnungen auf persönlicher und zwischenmenschlicher Ebene.360 Kognitive Konflikte in Gruppen werden sowohl in der theoretischen Auseinandersetzung als auch aufgrund empirischer Untersuchungsergebnisse überwiegend als leistungsförderlich eingeschätzt. Sie können zu qualitativ besseren Gruppenentscheidungen, höherer Gruppenproduktivität, Kreativität und Innovation sowie zur Re-Evaluation des Status quo und zu dessen Anpassung führen. In der Beschäftigung mit aufgabenbezogenen Konfliktthemen wählen die Beteiligten eher konstruktive, problemlösungs-orientierte Verhaltensweisen und können so in der intensiven Auseinandersetzung mit den verschiedenen Sichtweisen und Argumentationen ein besseres Verständnis für die Aufgaben und damit verbundenen Probleme sowie die Argumente und zugrunde liegenden Grundannahmen der eigenen und widersprechender Positionen entwickeln.361 Die Auswirkungen kognitiver Konflikte auf die individuelle Zufriedenheit und affektive Akzeptanz in Entscheidungsprozessen werden in Untersuchungen jedoch unterschiedlich bewertet. Einerseits ist die natürliche affektive Reaktion auch auf rationalen, aufgabenbezogenen Widerspruch i.d.R. zuerst eine intuitive Anspannung, Unzufriedenheit und Ablehnung. Andere Forschungsergebnisse lassen aber auch den Schluss zu, dass kognitive Konflikte unter bestimmten Umständen die individuelle Zufriedenheit mit der Interaktions- und Entscheidungssituation sowie den Entscheidungskonsens in der Gruppe sogar erhöhen können, da die Möglichkeit zur offenen Meinungsäußerung und Diskussion das Gefühl einer fairen und passenden Entscheidungsfindung vermittelt.362 TP
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Vgl. Jehn 1994:232; Amason/Schweiger 1994:245; De Dreu 1997:16 Vgl. Jehn 1995:258; 1997:88; 1999:8; Amason/Schweiger 1994:245f; 1997:105f; De Dreu 1997:16 Vgl. Amason 1996:141f; Amason/Schweiger 1997:105f; Jehn 1994:230ff; 1995:271ff; Tjosvold 1991:93ff; De Dreu 1997; Allerdings ist die leistungsfördernde Wirkung aufgabenbezogener Konflikte nicht unumstritten. So können z.B. De Dreu/Weingart 2003 in einer Meta-Analyse der bisherigen Untersuchungen keinen signifikanten Zusammenhang feststellen. Vgl. Amason/Schweiger 1994:245f; 1997:106; Amason 1996:142; Jehn 1994:230ff; 1995:259, 276; 1997:92f; Medina et al. 2005
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Emotionale Konflikte führten in den Untersuchungen durchgehend zu negativen Konfliktauswirkungen sowohl bei den individuellen und kollektiven Leistungen als auch bei der individuellen Zufriedenheit und dem Gruppenklima. Sie betreffen die Selbstidentität des Individuums, werden als persönliche Gefahr wahrgenommen und sind somit stark mit negativen Emotionen verbunden. Dadurch wird die Interaktion aggressiver und kognitive Ressourcen werden für die individuelle emotionale Konfliktbearbeitung und zum Identitätsschutz gebunden. Damit werden konstruktive, aufgabenbezogene Interaktionen unwahrscheinlicher. Zudem sind Individuen in emotionalen Konfliktsituationen weniger bereit, sich mit Ideen und Sichtweisen anderer Personen auseinanderzusetzen und diese in die eigenen Überlegungen zu integrieren. Ebenfalls möglich ist der psychologische oder physiologische Rückzug der Beteiligten aus solchen Interaktionssituationen, wodurch das Leistungspotenzial einer Gruppe ebenfalls nicht ausgeschöpft werden kann. 363 TP
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Auch in den Experteninterviews wurde zwischen Sach- und Beziehungskonflikten unterschieden: „Dabei muss man natürlich nach der Art des Konfliktes unterscheiden. Zum einen gibt es in Teams sicherlich zwischenmenschliche Konflikte auf persönlicher Ebene, die ihre Ursache z.B. in Neid, Missgunst, Kompetenzübergriffen in andere Bereiche usw. haben. Dann ist es vom Umgang der Beteiligten miteinander und ihrer Kommunikations- und Konfliktlösekompetenz abhängig, ob der Konflikt destruktiv verläuft, es also bspw. zu Lästern und Lagerbildung kommt, individuelle Interessen gegen andere verfolgt werden usw., wie es meiner Erfahrung nach leider Berufsalltag ist. Dies kann, glaube ich, kein Ausgangspunkt für organisationalen Wandel sein, da muss man eher versuchen, die Konfliktlösekompetenz der Gruppenmitglieder zu verbessern. Und die Führungskraft muss, wenn sie so etwas feststellt, natürlich intervenieren und darauf achten, dass die Gruppenleistung nicht darunter leidet. Solche persönlichen Konflikte oder eine gesunde Konkurrenz im Team können unter bestimmten Umständen auch zu Leistungssteigerungen führen, die Betonung liegt aber auf ‚können’. Sie sind z.B. nicht förderlich in Bereichen, die auf eine gut funktionierende Interaktion angewiesen sind. Wenn dann wegen Konflikten zwischen Untergruppen Informationen nicht ausreichend oder rechtzeitig weitergegeben werden, wird das natürlich i.d.R. die Arbeitsergebnisse verschlechtern und zu weiteren negativen Auswirkungen führen. Bei persönlichen, zwischenmenschlichen Konflikten kann man also prinzipiell sagen, dass diese mit hoher Wahrscheinlichkeit zu destruktiven Folgen und Leistungsverschlechterung führen. Wenn aber z.B. ein Team keine ausreichende EntscheidungsTP
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Vgl. Jehn 1994:230ff; 1995:258f, 276; 1997:92; Amason 1996:142; Amason/Schweiger 1997:106ff; De Dreu 1997:16ff; Medina et al. 2005:226f
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befugnis hat und jedes Mal höhere Vorgesetzte eingeschaltet werden müssen, um eine Entscheidung zu bekommen, und es dadurch immer wieder zu Verzögerungen kommt und das Team seine Aufgaben nicht richtig erfüllen kann, dann wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Konflikten kommen, die einen Anlass dazu bieten können und sollten, einmal zu hinterfragen, ob Prozessstruktur und Entscheidungsbefugnis richtig gestaltet sind oder nicht ggf. verbessert werden können.“364 TP
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Obwohl der Zusammenhang zwischen Konflikttyp und Auswirkung auf Leistung und Zufriedenheit fast ausschließlich linear in eine Richtung untersucht wurde, weisen einige Autoren auch auf mögliche zirkuläre Kausalitäten zwischen den Variablen hin. Zum einen stehen der Konflikttyp und das Konfliktverhalten in einer Wechselwirkung: aufgabenbezogene, sachliche Konfliktthemen führen aus o.g. Gründen mit höherer Wahrscheinlichkeit zu konstruktivem Konfliktverhalten der Beteiligten, während affektive Konfliktthemen eher zu destruktivem Verhalten führen; diese Verhaltensauswahl bestimmt wiederum selbst das Konfliktthema in der Wahrnehmung der anderen Beteiligten mit.365 Zum anderen kann auch ein Einfluss der bisherigen Gruppenleistung auf die Konfliktthemenauswahl und das Konfliktverhalten vermutet werden: bisherige erfolglose Gruppenarbeit oder Ineffizienz kann frustrierend und stressig sein, was beim Auftreten von Konfliktinteraktionen tendenziell zu destruktivem emotionalen Konfliktverhalten führt.366 Problematisch ist allerdings die praktische Trennung beider Konflikttypen, da kognitive Konflikte zu affektiven Konflikten führen können, z.B. wenn aufgabenbezogener Widerspruch als persönliche Kritik aufgefasst bzw. missverstanden wird, kognitive Konflikte über längere Zeit ergebnislos verlaufen und dadurch Frustration erzeugen oder die Beteiligten ihre individuellen Sichtweisen und Präferenzen nicht vollständig rational erklären und begründen können, wodurch bei anderen Konfliktbeteiligten möglicherweise Misstrauen bezüglich der Handlungsintensionen entsteht, insbesondere in Konfliktsituationen, in denen das Thema von großer Bedeutung und mit hohen potentiellen Gewinnen oder Verlusten für die Beteiligten verbunden ist.367 Empirische Untersuchungen in der Konfliktforschung kommen aber zu dem Ergebnis, dass beide Konflikttypen grundsätzlich unabhängig voneinander sind und somit die Nutzung der Vorteile kognitiver Konflikte bei gleichzeitiger Vermeidung affektiver Konflikte möglich ist. Entscheidend ist jedoch, dass die Beteiligten in der Konfliktsituation selbst in der Lage sind, beide Konflikttypen zu erkennen und zu unterscheiden, emotionalen Eskalationen entgegenzuwirken und aufgabenbezogene Konflikte konstruktiv zu gestalten. Insbesondere positive Erfahrungen mit früheren TP
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Interview Führungskräftecoach und Berater für Organisationsentwicklung Vgl. De Dreu 1997 Vgl. Jehn 1997:96; De Dreu/Weingart 2003:747 Vgl. Amason/Schweiger 1997:106ff; Van de Vliert/De Dreu 1994:214; Jehn 1994:233; Amason 1996:142
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Konflikten, die Ermutigung zur offenen Diskussion, die Betonung von Gemeinsamkeiten sowie die symbolische Versicherung eines fairen Diskussionsprozesses durch die Gruppenführung erleichtern den Interaktionsbeteiligten die bewusste Trennung von kognitiven und affektiven Konfliktthemen und -beiträgen.368 Diese Rahmenbedingungen für konstruktive, aufgabenbezogene Konflikte wurden bereits diskutiert. TP
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Diese Forschungsergebnisse könnten zu dem Schluss führen, dass Emotionen in Konfliktprozessen unterdrückt, zurückgehalten oder ignoriert werden sollten.369 Allerdings wird auch darauf verwiesen, dass der Umgang mit aufkommenden Emotionen während eines Konfliktes entscheidend für dessen Wahrnehmung durch die Beteiligten und damit für den weiteren Verlauf ist. Emotionen müssen artikuliert und thematisiert werden können, gerade damit aufgabenbezogene, kognitive Konflikte nicht in emotionale Eskalationen umschlagen. Dazu bedarf es bei allen Beteiligten der Bereitschaft und Fähigkeit, Emotionen bei sich und anderen zu erkennen und möglichst überlegt und reflektiert auszudrücken.370 Die Konzeption von Emotionen im Bezugsrahmen der Arbeit (Kap. 2.1.4) zeigte zudem, dass die emotionale Einfärbung von Wahrnehmungen aufgrund der Verbindung von Affekt und Kognition in der individuellen Wirklichkeitsordnung (kognitiv-affektives Bezugssystem) normal ist. Da viele – auch außerorganisationale – Konflikterfahrungen von Menschen tendenziell zumindest unterschwellig mit unangenehmen Emotionen (Unsicherheit, Anspannung, Belastung) erlebt und daher beim Aufbau bzw. der Veränderung der Wirklichkeitsordnung mit diesen verknüpft werden (vgl. Kap. 4.1.2), muss man zunächst akzeptieren, dass Konflikte bei vielen Menschen zumindest im ersten Moment und unterschwellig als unangenehm wahrgenommen werden und mit negativen Emotionen wie z.B. Angst oder Unsicherheit einhergehen. Gleichzeitig zeigte sich aber auch, dass emotionales Verhalten eine sozial konstruierte und erlernte Rolle ist, die bewusst reflektiert werden kann. Emotional eskalierendes Verhalten kann also von jedem Interaktionsbeteiligten vermieden werden. Auch in den Interviews wurde bestätigt, dass einerseits ein möglichst rationaler und sachbezogener Umgang mit dem Konfliktthema für einen konstruktiven Verlauf notwendig ist, andererseits Emotionen zu Konflikten dazugehören und nicht unterdrückt oder vermieden werden sollten. TP
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„Wenn so etwas aus der Situation heraus entsteht, also im Vorfeld nicht absehbar war, dann würde ich sagen „So what?“, dann muss man akzeptieren, dass es solche Situationen immer geben wird, die lassen sich 368 TP
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Vgl. Jehn 1994:232f Amason/Schweiger 1997:108ff; De Dreu 1997:16 So empfehlen z.B. De Dreu/Viannen (2001), zugunsten der Gruppenleistung aufkommende affektive Konfliktthemen zu ignorieren und sich weiter auf aufgabenbezogene Konfliktinhalte zu konzentrieren. Vgl. Tjosvold 1993:106f
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mit keinem Instrument der Welt ausschalten. Die Frage ist dann ja wieder, welche Konfliktkultur eine Organisation hat oder haben will. Betrachtet man solche Situationen als störend oder akzeptiert man, dass es auch mal zu emotionalen Reaktionen kommt und die Gefühle mal rausmüssen. Die Frage ist dann ja, ob es in einer Organisationskultur ehrverletzend ist, Gefühle zu zeigen. Ich habe selbst schon Meetings erlebt, da habe ich Tränen in den Augen gehabt. Aber das ist kein Problem bei uns. Die Frage ist also, was habe ich für ein kulturelles Umfeld? Darf so etwas passieren, ohne dass ich als Manager oder Geschäftsführer danach demontiert bin? Oder wird das sogar im Gegenteil von den Mitarbeitern wohlwollend wahrgenommen, weil es mich in meiner Rolle menschlicher macht? Vermeiden lässt sich das, glaube ich, nicht, oder ich würde es zumindest nicht darauf ankommen lassen.“371 TP
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„Einen echten Konflikt würde ich immer mit Emotionen verbinden. Es gibt sicher auch gespielte Konflikte oder Leute, die Konflikte als „Stilmittel“ in Gesprächen verwenden. Aber für mein Verständnis hat Konflikt schon immer auch etwas mit ‚Blutdruck’ zu tun, mit einer emotionalen Beteiligung am Gespräch. Das können bspw. Ängste sein oder auch ein starker Wille, dass etwas passieren muss. […] Ob diese Emotionen immer offen zutage treten, ist eine andere Frage. In der Ingenieurwelt, in der wir hier sind, ist es sehr selten, Emotionen zu zeigen, vielleicht auch verpönt. Hier versucht man immer, sich stark an den Fakten festzuhalten. Emotionen sind für mich aber gar nichts Negatives, sondern ein Ausdruck dafür, dass jemandem eine Sache wichtig ist. Das kann ja auch eine positive Emotion sein in dem Sinne, dass er etwas unbedingt will, z.B. weil er ein Projekt unbedingt zum Erfolg führen will und auf Widerstände trifft. Aus dem Wunsch heraus, dieses Thema oder Projekt voranzutreiben, steigt er bewusst in Konflikte ein. Das ist ja nichts Negatives oder Zerstörendes, sondern eine Triebfeder. Es kommt aber auch darauf an, wie sich dies äußert. Wenn jemand herumschreit, ist das für mich zunächst einmal kein Gradmesser für Emotion, sondern für seine persönliche Art, sich zu beteiligen und zu äußern. Jemand anderes sagt vielleicht nichts und verharrt in Schweigen, weil er z.B. Angst hat und sich nicht traut, etwas zu sagen. Der frisst alles in sich hinein, leidet vielleicht an Schlafstörungen oder Magengeschwüren, wird dann aber als emotionslos bezeichnet. Für mich ist das auch ein Zeichen von Emotion, die sich hier eben in Stille äußert. Es ist also die Frage, was man unter dem Begriff Emotion versteht. Ich sehe Emotionen u.a. als ein Zeichen von Beteiligung,
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also wie wichtig jemandem eine Sache ist, und nicht unbedingt als etwas Negatives.“372 TP
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„Aber ein bisschen Emotion ist gut. Wir arbeiten ja in der Medienbranche, dort ist Emotion alles, ohne Emotion passiert gar nichts im Gehirn; Stichwort multisensorische Ansprache usw. Erst darüber kann man überhaupt Inhalte platzieren und im besten Fall zu Verhaltensänderungen kommen. Es ist wie bei einem Medikament: die Dosierung ist alles. Ich halte Emotionen für sehr wichtig, ohne geht es nicht. Nur es kippt natürlich, wenn es brüskierend oder destruktiv wird.“373 TP
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„Zunächst einmal bin ich eine Freundin von Emotionen, weil Emotionen wichtige Informationen über einen selbst und über andere geben. In der Selbstwahrnehmung merke ich z.B., dass ich mich über irgendetwas ärgere, und schöpfe daraus vielleicht die Energie, den Mund aufzumachen. Sobald uns Emotionen Informationen geben, halte ich sie für sehr nützlich. Ich finde, man sollte lernen, seine Emotionen zu verstehen, auch in ihren Feinheiten, um zu wissen, was sie einem sagen und wie man mit ihnen umgeht. Emotionen hängen stark mit Intuition zusammen; ich spüre in mir intuitiv, was jetzt zu tun wäre. […] Aber ich habe auch erlebt, dass Emotionen – gerade die negativen Kategorien wie Wut oder Hass – natürlich sehr destruktiv wirken können. Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Empfänger dieser emotional gefütterten Nachricht diese persönlich nimmt, sich also persönlich angegriffen fühlt. Hier macht vor allem der Ton die Musik. Ich finde, reine Sachlichkeit muss nicht sein, man darf schon Emotionen und ein bestimmtes Erregungsniveau spüren. Die Leute dürfen sich bspw. durchaus mal echauffieren oder begeistert von einer Sache schwärmen oder aber ihre Gefühle aussprechen, z.B. „Das macht mich wütend!“ oder „Das ärgert mich!“ Dann sind Emotionen O.K. Aber in dem Moment, in dem sie als Vorwürfe oder Angriffe gegen andere Personen gerichtet sind, z.B. „Du hast immer …“, halte ich sie für sehr schwierig und problematisch. In einer solchen Situation den Anspruch an den Empfänger zu hegen, er möge darauf doch bitte auf eine sachliche und verantwortungsvolle Weise und nur auf der inhaltlichen Ebene reagieren, ist wohl etwas zu viel verlangt. Hier kommt es wohl nahezu unausweichlich zur Eskalation. Für Emotionen in Gruppenprozessen muss man also ein gesundes Mittelmaß finden.“374 TP
372 TP
PT
373 TP
PT
TP
374 PT
PT
Interview Geschäftsbereichsleiter internationales Industrieunternehmen Interview Stellvertretender Geschäftsführer Medienunternehmen Interview Führungskräftecoach und Berater für Organisationsentwicklung
152
5.3.2 Konfliktthemen Bei der Untersuchung von Rahmenbedingungen für konstruktive zwischenmenschliche Konfliktinteraktionen, die durch Irritation und Reflexion verfestigter Wirklichkeitskonstruktionen zu organisationalem Lernen führen sollen, stellt sich u.a. die Frage, bei welchen Konfliktthemen eine solche konstruktive Diskussion nicht oder nur eingeschränkt möglich ist. Einige Untersuchungen der Konfliktforschung haben die Art der Aufgabenstellung, mit der die Gruppe betraut ist – unterschieden in Routineaufgaben und neuartige Nicht-Routineaufgaben –, als Moderatorvariable im positiven Zusammenhang zwischen aufgabenbezogenen Konflikten und gesteigerter Gruppenleistung ermittelt. In Nicht-Routine-Situationen, in denen Lösungen für neue Probleme gefordert sind, wirken die Kombination unterschiedlichen Know-hows und verschiedener Perspektiven, deren gemeinsame Weiterentwicklung und dabei auftretende aufgabenbezogene Konflikte meist leistungssteigernd. In Routinesituationen hingegen, in denen die Variabilität der Aufgabenerfüllung gering ist, wird die Leistungsauswirkung von kognitiven Konflikten als gering eingestuft, da die Vorteile der Perspektivenkombination nicht wirksam werden. In solchen Konflikten besteht eher die Gefahr, dass die Interaktion in emotionale Themen umschlägt.375 In begleitenden Interviews dieser primär mit quantitativen Methoden durchgeführten Forschungen wird dieses Ergebnis hinterlegt durch Aussagen wie „We do discuss different codes and the details of some things, but it just seems to interfere with getting things done and we all just do it the way we had been doing it anyway. It´s kind of counterproductive. […] We seem to fight about these things and they typically can´t be changed because that´s the way the job has to be done. So the arguments just seem to get in the way of work.”376 TP
TP
PT
PT
Allerdings zeigte die Untersuchung von Jehn (1995) auch, dass in Routinesituationen ebenfalls ein geringes Konfliktniveau angebracht sein kann, um insbesondere in Hinblick auf die Effizienz der Arbeit feste Standards und Prozesse von Zeit zu Zeit zu re-evaluieren und ggf. zu re-adjustieren.377 TP
PT
Vor dem Hintergrund der Zielsetzung und bisherigen theoretischen Ergebnisse dieser Arbeit ist die Aussage, dass bei Routineaufgaben kognitive Konflikte wenig leistungsfördernd sind, dafür aber die Gefahr von emotionalen Konflikten beherbergen, in besonderem Maße diskussionswürdig. Routine bedeutet im Verständnis des Bezugsrahmens dieser Arbeit, dass bestimmte individuelle oder kollektive Deutungsmuster so verfestigt sind, dass sie in ihrer Anwendung nicht weiter reflektiert werden. Gerade hierin liegen aber eine starke Blockade gegen organisationalen Wandel und ein Grund für die Veränderungsresistenz von 375 TP
PT
376 TP
PT
TP
377 PT
Vgl. z.B. Jehn 1995; 1997:93f; Jehn/Northcraft/Neale 1999; Neale/Northcraft/Jehn 1999; Jehn 1995:272 Vgl. Jehn 1995:272f, 275
153
Organisationen, die es bewusst zu reflektieren und zu hinterfragen gilt. Die Tatsache, dass ein bestimmtes Deutungsmuster schon immer angewandt wurde und sich in der Vergangenheit in der Wahrnehmung der Organisationsmitglieder bewährt hat, heißt nicht, dass es keine besseren Alternativen gibt oder dass dieses Deutungsmuster auch in Zukunft, unter veränderten Bedingungen in der Organisationsumwelt, ebenfalls viabel sein wird. Routinen erfüllen zwar eine wichtige Funktion in der individuellen und kollektiven Wirklichkeitskonstruktion, indem sie bewährte Interpretationen verfestigen und somit die kognitive Beanspruchung der Individuen reduzieren. Kollektive Routinen ermöglichen es, gemeinsam konstruierte und bewährte Wirklichkeiten nicht jedes Mal neu verhandeln zu müssen, sondern diese in folgenden Interaktionen als gegebenen Konsens annehmen zu können. Dennoch ist gerade die regelmäßige, bewusst initiierte Reflexion von bewährten und verfestigten Routinen wichtig, damit die organisationale Wirklichkeitsordnung anpassungsfähig bleibt. Auch die Gesprächspartner in den Experteninterviews sahen eine Hinterfragung von Routinen grundsätzlich als notwendig und wünschenswert an: „Da muss man unterscheiden. Wenn ein Thema hundertmal diskutiert wurde und alle Möglichkeiten durchdacht wurden, dann braucht man es nicht noch einmal zu eskalieren. Ist es aber ein Thema, welches seit zwanzig Jahren so läuft und das niemand anfassen will, dann ist es eine Möglichkeit, das endlich einmal bewusst anzusprechen und zu thematisieren. Ich sehe das öfter in der Prozessberatung. Dann wollen die Mandanten Teile der alten Ist-Prozesse in den Soll-Prozess übernehmen, ohne diese überhaupt einmal zu hinterfragen. Denen sage ich dann: „Leute, ihr müsst gerade da hineingehen, wo es weh tut.“378 TP
PT
„Ich glaube schon, dass man auch – und gerade auch – in routinierten Prozessen oder in eingefahrenen Strukturen ruhig einmal, wenn man es vorsichtig und moderat angeht, eine konfliktähnliche Situation oder einen Konflikt schaffen kann, […]. Aber ich glaube schon, dass es leichte Konflikte oder konfliktähnliche Situationen gibt, die auch in einem routinierten Prozess konstruktiv sein können. […] Wenn jemand seit zehn Jahren einen sehr guten Job in seinem Bereich macht und jetzt ändern sich die Rahmenbedingungen, dann muss ich demjenigen auch sagen: „Pass auf, du machst seit langem einen bravourösen Job und ohne dich wären wir nicht da, wo wir sind. Aber Folgendes hat sich geändert und deswegen müssen wir das jetzt anders machen und eine Neujustierung vornehmen.“ Ist das jetzt ein Konflikt? Wenn der das beim ersten Mal nicht einsieht, kann das schnell einer werden. Soll ich deswegen jetzt warten? […] Wenn ich Wandel im Umfeld habe und etwas ändern muss, ist es mir egal, ob das ein Routineprozess ist oder ob ich
TP
378 PT
Interview Interimsmanager
154
daraus extra ein Sonderprozess mache, in den ich das implementiere. Die Frage ist ja auch sehr theoretisch, ich glaube, die würde ich mir in der Praxis nicht stellen; wenn etwas zu ändern ist, dann ändere ich es.“379 TP
PT
„Nur weil eine Sache seit Jahren gut läuft, heißt das ja nicht, dass sie nicht noch besser laufen kann. Wir müssen da noch mal definieren, was eigentlich eine Routine ist: Da ist ein momentan so gelebter Prozess, der von mehreren Leuten über einen längeren Zeitraum immer wieder auf dieselbe Art und Weise durchgeführt wird; das macht ihn zur Routine. Das heißt im Prinzip nur, dass er scheinbar funktioniert, aber noch lange nicht, dass er damit gut ist oder nicht verbesserungswürdig. Man kann trotzdem überlegen, ob es dort Optimierungspotenzial gibt, ob man das vielleicht schneller machen kann oder kostengünstiger, mit weniger Ressourcen, weil es z.B. neue Technologien gibt, usw. Ich glaube, ein Unternehmen ist einfach dumm, wenn es nicht immer wieder seine Prozesse auf Verbesserungspotenziale überprüft. […] Man kann das ja zumindest mal kurz besprechen. Wenn man dann gemeinsam zu der Erkenntnis kommt, dass eine Veränderung nichts bringt und es besser so bleibt, wie es ist, ist das ja o.k. Manchmal weiß man ja eine andere Lösung, die aber nicht realisierbar ist, weil sie z.B. zu teuer wäre oder weil man für die Implementierung den Arbeitsprozess für eine Weile unterbrechen müsste, was nicht ohne weiteres möglich ist.“380 TP
PT
Die Herausforderung an ein irritations- und lerntolerantes Konfliktmanagement liegt somit darin, eine Balance zwischen beiden Polen zu finden. Einerseits können in einer lern- und veränderungsfähigen Organisation verfestigte Routinen nicht unreflektiert akzeptiert werden, andererseits sind die Gefahren einer negativen Reaktion der Interaktionsmitglieder bei der Thematisierung von Routinethemen in Konflikten im Rahmen des Konfliktmanagements durch die Führungskräfte zu beachten. Eine Möglichkeit, beides zu vereinen, könnte es sein, veränderte externe Einflussfaktoren zu konstruieren und daraus eine Reflexions- und Veränderungsnotwendigkeit abzuleiten, wie ein Interviewpartner an einem Beispiel illustriert: „Wir hatten bei uns bspw. bisher historisch bedingt jeweils ein eigenes Modell der Serviceabwicklung in allen vier Geschäftsbereichen. Im Prinzip ist das ein Prozess, der als Geschäftsfall in allen vier Bereichen gleich aussieht: Der Kunde ruft mit seinem Problem an, es wird geprüft, ob er einen Servicevertrag hat, dann wird die Abwicklung gestartet und er bekommt abschließend eine Rechnung. Das ist eigentlich Standard und Routine, schon tausendmal gemacht. Lange Zeit wurden darüber intensive Diskussionen und 379 TP
PT
TP
380 PT
Interview Stellvertretender Geschäftsführer Medienunternehmen Interview Führungskräftecoach und Berater für Organisationsentwicklung
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Konflikte geführt, letztlich haben aber alle vier Modelle so weiter bestanden wie bisher, weil jeder dem anderen nachgewiesen hat, warum das andere Modell bei ihm nicht funktioniert usw., wir sind damit also nicht vorangekommen. Wenn Sie dort als Führungskraft ein einheitliches Modell entwickeln wollen, haben Sie plötzlich vier Gegner. Wenn Sie sich dann vielleicht einem Modell etwas annähern, schwenkt der eine plötzlich zum Befürworter um, die anderen drei sind aber umso erbitterter dagegen. Und alle argumentieren damit, dass sie an Prozesseffizienz verlieren, wenn ihnen etwas Neues aufgedrückt wird. Wir gehen jetzt einen neuen Ansatz, indem wir versuchen, einen komplett neuen Prozess zu entwickeln, der sich also nicht an den bestehenden Modellen orientiert und dessen Notwendigkeit wir mit externen Innovationen begründen. In diesem Fall sind das neue ITgestützte Möglichkeiten, die allen einen Vorteil bringen können. Dieser Ansatz hat zwei Vorteile: Indem ich einen völlig neuen Ansatz entwickle, habe ich nicht drei Gegner und einen Gewinner, sondern alle vier sehen sich im gleichen Maße als Verlierer – die empfinden das wirklich als Verlust. Und mit der externen Innovation oder externen Entwicklung, an die wir uns anpassen müssen, z.B. SAP, baue ich den nötigen Handlungsbedarf auf, da sich gegen Innovationen erst einmal nichts sagen lässt, weil der Begriff ja positiv belegt ist. Das wird natürlich z.T. auch missbraucht, aber man kann es auch positiv verwenden, weil solche externen Entwicklungen gute Anlässe sind, eingefahrene Prozesse und Routinen zu verändern.“381 TP
PT
Weitere Konfliktthemen, die eine konstruktive Auseinandersetzung erschweren, wurden von den Interviewpartnern in persönlich angreifenden Konfliktinhalten auf der Beziehungsebene der Beteiligten gesehen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit sofort zur emotionalen Eskalation führen. In solchen Fällen zwischenmenschlicher Konflikte auf der Beziehungsebene sind den Aussagen zufolge die „klassischen“ Rezepte der Konfliktbewältigung der passende Weg. Eine Thematisierung und konstruktive Nutzung des Konfliktes im Gruppenrahmen erscheint höchstens zur Reflexion und Diskussion der Konfliktaustragungskultur auf der Metaebene möglich: „Sicherlich alles, was im zwischenmenschlichen Bereich liegt, z.B. zwei Mitarbeiter, bei denen man weiß, die braucht man nicht zusammen in den Ring zu schicken, das liegt sofort auf der emotionalen Ebene. Das ist dann sehr personell und situativ bedingt. Ich hatte dort z.B. mal zwei Abteilungen, die sich bereits jahrelang bekämpft hatten, die konnte man nicht zusammen in einen Raum sperren, um eine gemeinsame Lösung zu finden.“382 TP
381 TP
PT
TP
382 PT
Interview Geschäftsbereichsleiter internationales Industrieunternehmen Interview Interimsmanager
156
PT
„Überall, wo Menschen zusammenarbeiten, gibt es die Beziehungsebene. Und da gibt es einfach Charaktere, die können nicht miteinander und die werden auch nie miteinander können. Da ist wieder das Thema eines Mediators überlegenswert. Es gibt einfach gewisse Charaktere, die sind so schwierig, wenn da bestimmte Knöpfe gedrückt werden, dann ist es vorbei. Das muss man wissen und damit muss man umgehen. Ich halte es für normal, dass bestimmte Typen und Personen einfach nicht zueinander passen und auch nie in der Lage sein werden, einen konstruktiven Konflikt miteinander auszutragen.“383 TP
PT
„Wenn zwei Leute ein persönliches Problem miteinander haben, müssen sie dieses unter vier Augen klären. Und wenn sie das nicht schaffen, muss sich die Führungskraft einschalten oder muss jemand Externen dazuholen, der das Problem dann mit den beiden löst. Und wenn das dann immer noch nicht geht, muss ich zumindest einen der beiden aus der Abteilung entfernen, sonst wirkt sich das ja auch destruktiv für alle anderen aus. Wenn überhaupt, dann kann ein solcher Konflikt höchstens eine Signalwirkung haben, indem er zeigt, wie ich als Führungskraft mit solchen Situationen umgehe und mir die Konfliktbewältigung vorstelle, z.B. indem ich sage: „Löst das untereinander, und wenn das nicht klappt, könnt ihr zu mir kommen, dann ich helfe auch gerne.“ Aber ich würde einen persönlichen Konflikt zwischen zwei Leuten niemals ins ganze Team tragen wollen, es sei denn, andere haben sich schon eingeschaltet oder sind Leidtragende.“384 TP
PT
„Wenn es persönlich verletzend wird oder wenn ein Thema starke Ängste, z.B. um den Arbeitsplatz, beinhaltet, dann ist dort, glaube ich, das Ende der Fahnenstange. Allerdings würde ich solche Konflikte nicht beenden, sondern nur die Diskussion um das Sachthema stoppen und den Konflikt auf die Metaebene heben, also versuchen, ihn mit den Beteiligten zu reflektieren, um z.B. herauszufinden, warum jemand so ausfallend geworden ist. Und dann muss man demjenigen natürlich auch klarmachen, dass eine solche Art der Konfliktaustragung nicht akzeptiert wird. Damit generiere ich quasi einen neuen Konflikt auf der Metaebene, um sicherzustellen, dass die Konflikte in einer fairen Art und Weise ablaufen.“385 TP
383 TP
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384 TP
PT
TP
385 PT
PT
Interview Stellvertretender Geschäftsführer Medienunternehmen Interview Führungskräftecoach und Berater für Organisationsentwicklung Interview Geschäftsbereichsleiter internationales Industrieunternehmen
157
5.3.3 Zeit- und Einigungsdruck Ein weiterer situativer Faktor, der den Umgang mit Konflikten bestimmt, ist der Zeitdruck für Einigungen und Lösungen in Konfliktinteraktionen. Dieser kann entweder explizit durch Beteiligte, z.B. den Teamleiter, exteriorisiert und damit sozial konstruiert sein oder auch nur individuell wahrgenommenen und gefühlt sein, ohne dass er explizit geäußert wurde. In beiden Fällen beeinflusst er aber das individuelle Beobachten und Verhalten eines einzelnen Interaktionsteilnehmers. Die Konfliktforschung zeigt, dass es für die konstruktive Nutzung von Diversität in Gruppen auch der Zeit und Möglichkeit bedarf, Alternativen zu generieren und verschiedene Positionen und Perspektiven einzunehmen und zu diskutieren. Hoher gefühlter oder explizit kommunizierter Einigungs- und Entscheidungsdruck behindert diese intensive Auseinandersetzung.386 Die Ergebnisse der Minority DissentForschung belegen, dass der Einfluss von Meinungsminderheiten in Gruppen meist zeitverzögert erfolgt, da i.d.R. erst ein längeres konsistentes Verhalten der Minderheit die Mehrheit zum Hinterfragen ihrer Position anregt. Interaktionen, die unter Zeitdruck und erlebtem Stress erfolgen, reduzieren somit die Chancen auf eine Äußerung von Widerspruch und abweichenden Meinungen und geben auch der Meinungsmehrheit in einer Gruppe wenig Raum für Perspektivenwechsel, Alternativensuche und Konfliktakzeptanz.387 Dies führt zu zunehmender Homogenität in der Gruppe.388 In der Groupthink-Forschung ist ein hoher Einigungsdruck ein entscheidender Faktor für das Zustandekommen des Groupthink-Phänomens, also der extrem hohen Konformität, Einseitigkeit und stark eingeschränkter Kritik- und Reflexionsfähigkeit.389 Für die organisationale Praxis stellt sich natürlich das Problem, dass arbeits- und organisationsbezogene Interaktionen letztlich dazu dienen, Entscheidungen zu treffen. Der Großteil dieser Interaktionen, seien es alltägliche Besprechungen oder einmalige Projekte, erfolgt zudem unter hohem Zeit- und Termindruck. Eine Beraterin für Coaching und Teamentwicklung beschreibt ihre Erfahrungen wie folgt: TP
TP
PT
TP
PT
PT
TP
PT
„Oft erlebe ich aber, dass Diskussionen aus Zeitgründen eingedämmt werden. Dann sind mal vier, fünf Leute zu Wort gekommen und schon wird zum nächsten Agendapunkt übergegangen. Ich glaube, der Termin- und Zeitdruck im Arbeitsalltag steht einer solchen offenen und intensiven Diskussion sehr konträr gegenüber. Selbst wenn jemand der Meinung ist, man sollte eigentlich einen auftretenden Konflikt einmal offen besprechen, ist das im Arbeitsalltag doch oft eher ein Kraftakt mit wenig Aussicht auf Erfolg. Ich erlebe es immer wieder, dass es in einem Team schon richtig ‚dampfen’ 386 TP
PT
387 TP
PT
388 TP
PT
TP
389 PT
Vgl. Amason/Schweiger 1994; Jehn 1995:260 Vgl. Maass/Clark 1984; Nemeth 1986:25; 1992:99; De Dreu/Beersma 2001 Vgl. Thomas 1999:123 Vgl. Janis 1982; Lüthgens 1997:8ff
158
und unangenehm werden muss, bevor mal jemand sagt: „So geht es nicht mehr weiter. Wir brauchen mal ein offside oder einen Workshop, wir müssen hier mal einen Tag raus, um über uns zu reden und darüber, wie wir weitermachen“.“390 TP
PT
Daher scheint die abgeleitete Empfehlung, den Entscheidungs- und Einigungsdruck zu reduzieren, in der Praxis nur bedingt erfüllbar. Eine Möglichkeit, regelmäßige Diskussionen und Konflikte für Irritation, Reflexion und Lernen zu ermöglichen, ist die Institutionalisierung von Streitgesprächen, FeedbackRunden oder Verhandlungen (bspw. zwischen Individuen oder Gruppen über knappe Ressourcen, Aufträge etc.), entweder im organisationalen Alltag oder herausgelöst in regelmäßigen Workshops, Klausurtagungen etc.391 Zwei Interviewpartner schildern ihre Erfahrungen mit eingesetzten Institutionalisierungen – vom Wochenmeeting mit Diskussionsfreiraum bis zu vierteljährlichen Workshops – beispielhaft wie folgt: TP
PT
„[…] Wir schaffen sogar systematisch Raum dafür durch Veranstaltungen, bei denen die Mitarbeiter aufgefordert werden, sich einzubringen, ihre Sichtweisen offenzulegen. Also nicht die pauschale Aufforderung „Sagt doch was, wenn euch etwas nicht passt!“ und dann gehe ich zurück zum „business as usual“, sondern wir veranstalten beispielsweise viermal im Jahr sogenannte Themenwerkstätten, zweimal zwei Tage und zweimal drei Tage, bei denen wir uns zu bestimmten Themen treffen, die wir ein Jahr im Voraus festgelegt haben. Im Rahmen dieser Veranstaltungen ist immer ein Forum vorgesehen, wo die Mitarbeiter die Gelegenheit haben, Dinge anzusprechen, mit denen sie unzufrieden sind, Vorschläge einzubringen. Damit kanalisieren wir quasi mögliches Konfliktpotenzial schon per se, systemisch sozusagen, in eine konstruktive Richtung.“392 TP
PT
„Wir haben einmal in der Woche einen Führungskräftezirkel eingerichtet (wir sind ja eher ein kleines Unternehmen mit 60 Mitarbeitern und acht Führungskräften); da kommen alle für ein, zwei Stunden unter Leitung der Geschäftsführung zusammen. Ich nenne das immer ‚unseren kleinen Bundestag’. Da kann, darf, soll gestritten werden, da wird präsentiert, da wird entschieden, da wird geworben, angegriffen, verteidigt usw. Da ist das Herz der Firma. Sogar mit Betriebsrat, die sollen dabei sein und wissen, was los ist.
390 TP
PT
391 TP
PT
TP
392 PT
Interview Führungskräftecoach und Berater für Organisationsentwicklung Vgl. Van de Vliert/De Dreu 1994:217; Interview Führungskräftecoach und Berater für Organisationsentwicklung Interview Geschäftsführender Berater einer mittelgroßen Management-Beratung
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Und einmal im Monat haben wir die große Runde mit allen Mitarbeitern der Firma bis zum Praktikanten. Das dient zum einen dazu, neue Sachen und Produkte vorzustellen, die in letzter Zeit fertig gestellt geworden sind, also Know-how-Austausch über die Geschäftsbereichsgrenzen hinweg. Zum anderen stellt sich die Geschäftsführung dort Fragen aller Art. Das wird natürlich vom Betriebsrat manchmal als Bühne genutzt, aber das ist in Ordnung. Da kann und soll alles zur Sprache kommen, was so auf dem Herzen liegt. […] Dann haben wir noch den ‚heißen Stuhl’ – so habe ich das mal genannt – implementiert. ‚Heißer Stuhl’ heißt, dass jeder Geschäftsbereich einmal im Quartal initiativ sagen kann, wir wollen die Geschäftsführung bei uns haben. Und dann kommt die Geschäftsführung mit roten Plastikstühlen, setzt sich dorthin und der Bereich hat exklusiv die Geschäftsführung bei sich und kann Fragen stellen, Erklärungen und Statements einfordern, so eine Art Klagemauer vielleicht. Das ist bottom-up, d.h. wir bieten das an und die Bereiche können sich überlegen, ob sie das wahrnehmen.“393 TP
PT
Wie letztlich mit Entscheidungsdruck in Gruppeninteraktionen umgegangen wird, ob bestimmte Themen aus dem organisationalen Alltag herausgezogen und in Ruhe z.B. in Klausurtagungen diskutiert werden, ist eine situative sowie themen- und organisationsabhängige Entscheidung, für die es kein Patentrezept gibt. Eine Führungskraft muss sich aber in der Ausgestaltung von Gruppenprozessen über die Wirkung von Zeitdruck und Stress auf die Fähigkeit zur ergebnisoffenen, irritationstoleranten und reflexiven Diskussion im Klaren sein. Auf eine andere Interpretation des Zeit- und Entscheidungsdrucks – nämlich im Sinne der Problemwahrnehmung – verweist ein Gesprächspartner im Interview. Vor allem bei langfristig wirkenden Entwicklungen, die von den Beteiligten nicht als akut wahrgenommen, verharmlost oder in ihrer Dringlichkeit verschoben werden, kann durch kommunizierten Zeit- und Entscheidungsdruck, ggf. sogar künstlich aufgebaut, oftmals überhaupt erst die Einsicht und Bereitschaft unter den Gruppenmitgliedern erzeugt werden, sich auch mit diesen Problemen zu beschäftigen: „Entscheidungsdruck ist ganz wichtig. Wenn ich auf eine Mauer zufahre, gibt es nichts Wirksameres, um jemanden zu einer Lenkbewegung zu verleiten, als wenn die Mauer schnell näher kommt und deutlich zu sehen ist, mit verbeulten Wracks davor. Dann ist eine Reaktion deutlich leichter zu vermitteln als zu sagen „Hinter den nächsten drei Kurven und einer Ampel
TP
393 PT
Interview Stellvertretender Geschäftsführer Medienunternehmen
160
kommt ein Feldweg und dort eine Mauer; und damit wir nicht dagegen fahren, biege ich jetzt rechts ab.“ Das zu vermitteln ist wesentlich schwieriger.“394 TP
PT
Hierbei wirkt die Verdeutlichung von Handlungsbedarf und Zeitdruck nicht als Konfliktunterdrückung, sondern kann sogar selbst zur Irritation und zur Stimulation von Konflikten beitragen (siehe auch Kap. 4.3.3.5).
5.3.4 Konfliktverlauf: Differenzierung vor Integration Im Zusammenhang mit dem Zeit- und Entscheidungsdruck wurde in der Erforschung konstruktiver Konflikte auch der ideale Ablauf solcher Interaktionen untersucht. Demnach sollte die Konfliktinteraktion selbst in zwei getrennten Phasen ablaufen, die den Teilnehmern auch bewusst sind. Die erste Phase dient dazu, die verschiedenen Standpunkte und Sichtweisen herauszuarbeiten, ohne sofort nach Entscheidungen, Kompromissen, Gemeinsamkeiten oder schnellen Lösungen zu suchen. Erst in der zweiten Phase werden die verschiedenen Alternativen geprüft und bewertet, Gemeinsamkeiten und Unterschiede analysiert und nach gemeinsamen Lösungen, ggf. durch Kompromisse, gesucht. Van de Vliert bezeichnet dies unter Bezugnahme auf das Konzept von Walton (1969) als „differentiation befor integration“. Die strikte Trennung soll vor vorschnellen und inadäquaten Lösungsversuchen und Kompromissen schützen, die das Leistungs- und Alternativenpotenzial einschränken. Den Interaktionsbeteiligten muss dabei bewusst sein, dass die Differenzierung die Vorphase für eine gemeinsame Lösungsphase ist, um die Gruppenidentität nicht zu gefährden und die Differenzierungsargumentation tatsächlich aufrechtzuerhalten. Bei Bedarf kann auch während der Integrationsphase zur Differenzierung zurückgekehrt werden, wenn sich herausstellt, dass weitere Differenzierungen und Alternativen und Argumentationen notwendig sind.395 Ähnlich beschreibt Tjosvold (1991, 1993) den Ablauf konstruktiver Konflikte in Problemlösungs- und Entscheidungsfindungsprozessen. In einer ersten Phase identifizieren und validieren die Beteiligten ihre Positionen durch die Suche nach Informationen und Argumenten sowie den Aufbau einer logischen und schlüssigen Argumentationsstruktur. In der zweiten Phase werden die Positionen und Argumente der jeweils anderen Konfliktparteien untersucht, hinterfragt, kritisiert und ggf. widerlegt. Dabei sollen sowohl auf Schwächen hingewiesen, aber auch potentielle Stärken der Positionen herausgestellt werden. Die wechselseitige kritische Beurteilung der jeweils anderen Positionen führt in konstruktiven Konflikten auch zur Hinterfragung der eigenen Position und ggf. zu Zweifeln an deren Richtigkeit. Die Beteiligten haben damit verschiedene Positionen und Perspektiven zum Konfliktthema untersucht und sind idealerweise offen für eine TP
394 TP
PT
TP
395 PT
PT
Interview Stellvertretender Geschäftsführer Medienunternehmen Vgl. Walton 1969:105ff; Van de Vliert 1985:24; 1997:212; Van de Vliert/De Dreu 1994:212f; Fisher 1997:200; Milliken/Bartel/Kurtzberg 2003:45
161
ausgewogene Entscheidungsfindung und nicht zu rigide auf ihre eigene Position fixiert. Erst in einer dritten Phase wird nach Integrationsmöglichkeiten der verschiedenen Positionen und Argumente, aber auch nach neuen Wegen und Mustern gesucht und abschließend eine Entscheidung getroffen.396 Dieses auf die Entscheidungsfindung bezogene Ablaufschema trennt somit ebenfalls zwischen einer Differenzierungsphase, in der die verschiedenen Positionen herausgearbeitet und ‚geschärft’ werden, und einer Integrationsphase, in der die vergleichende Zusammenführung und darüber hinausgehende Lösungsfindung betrieben wird. Auch die Erkenntnis der Minority dissent-Forschung, dass der Einfluss einer Minderheit auf eine Gruppenentscheidung nur dann wahrscheinlich ist, wenn diese Minderheit ihre Position konsistent über die Zeit vertritt, unterstützt die Forderung nach längergehender Aufrechterhaltung der unterschiedlichen Positionen. Gibt die Minderheit bereits zu Beginn des Konfliktes nach, wird ihre alternative Gedankenkonstruktion nicht weiter in der Interaktion berücksichtigt.397 TP
TP
PT
PT
Die Umsetzung dieser Phaseneinteilung liegt letztlich bei der Führungskraft oder dem Moderator, der die Interaktion leitet. Er muss die unterschiedlichen Phasen, ihre Regeln und Zielsetzungen klar kommunizieren und in der laufenden Interaktion durchsetzen: „Grundsätzlich ist es eine Frage der Zielsetzung, ob ich die Unterschiede zwischen den Meinungen fokussiere oder die Ähnlichkeiten. In jeder Kommunikation zwischen Menschen gibt es immer Unterschiede und Ähnlichkeiten. Wenn ich mir dessen bewusst bin und diese wahrnehme, kann ich sie auch herausarbeiten und nutzen. Dies erfordert zudem eine hohe Sensitivität für die Gesprächsführung und -beeinflussung bezüglich des Themas Lösungsorientierung vs. Problemorientierung. Dann kann ich eine Gruppe durch meine Moderation ganz gezielt auf Unterschiede fokussieren. Dies kann man dann z.B. noch visuell unterstützen und kategorisieren. Und genauso kann ich durch Moderation auch den Spieß umdrehen und den Fokus auf die Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten lenken. Wenn man dann abstrahiert, kommt man vielleicht zu gemeinsamen Werten oder Zielen. Es ist also eine Form der Wahrnehmungslenkung und Aufmerksamkeitsfokussierung auf bestimmte Aspekte. Ein geschulter Moderator und Coach kann das ganz bewusst lenken, da kommt es auch nicht zu einer Eskalation, es sei denn, zu einer gewollten.“398 TP
PT
Eine Möglichkeit, die Aufrechterhaltung der verschiedenen Positionen in der Differenzierungsphase zu unterstützen, bietet das Arbeiten in Subgruppen, die die 396 TP
PT
397 TP
PT
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398 PT
Vgl. Tjosvold 1991:94ff; 1993:82ff Vgl. Nemeth 1986:24; 1992:99 Interview Führungskräftecoach und Berater für Organisationsentwicklung
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gleiche Thematik weitestgehend vollständig bearbeiten, ohne sich zwischenzeitlich abzustimmen. So werden am Ende dieser Subgruppenarbeitsphase sehr wahrscheinlich unterschiedliche Denk-, Argumentations- und Lösungsansätze vorliegen, die nicht sofort negiert und verworfen werden können.399 P
P
5.3.5 Konfliktmanagement, dritte Partei und Konfliktstimulation Wie bereits betont, tragen die Führungskräfte durch ihre exponierte Stellung in der Interaktion (vgl. Kap. 2.3.3 und 3.4) eine besondere Verantwortung für den Konfliktverlauf. Durch ihr eigenes Verhalten, welches Vorbildfunktion für die anderen Interaktionsbeteiligten hat, und ihre Interventionen in den Konfliktverlauf können und müssen sie die Interaktion steuernd beeinflussen und die Rahmenbedingungen und Regeln setzen. Konfliktmanagement wurde in Kap. 4.1.3 definiert als Summe der intentionalen Maßnahmen zur Beeinflussung existierender oder potentieller Konfliktinteraktionen mit dem Ziel, zu einer gemeinsamen sozialen Wirklichkeitskonstruktion zum Konfliktthema zu kommen, die viabel für die organisationalen und individuellen Ziele ist. Bezüglich der Forschungsfrage und der Kernthese der Arbeit bedeutet dies, durch gezieltes Konfliktmanagement Irritations-, Reflexions- und Lernmöglichkeiten in organisationalen Interaktionen zu schaffen und zu nutzen, indem konstruktive, offen geführte Diskussionen und Konflikte um organisationsbezogene Sachthemen ermöglicht, initiiert, forciert, begleitet und zu einem Ergebnis gebracht werden, ohne emotionale Eskalationen mit schädlichen Wirkungen für Individuum und/oder Organisation zu verursachen oder zuzulassen: „Gerade in Zeiten beschleunigten Wandels ist es für eine Organisation unerlässlich, Strukturen und Prozesse so zu gestalten, dass sie die produktive Dynamik von Konflikten ermöglichen und befördern. Strukturelles Konfliktmanagement ist fundamentale Aufgabe von Führung. Sie richtig wahrzunehmen, setzt Klugheit voraus, das optimale Niveau an Konfliktspannung, weder zu viel noch zu wenig, der Organisation zuzumuten und auszubalancieren.“400 TP
PT
Die grundlegende Herausforderung liegt somit angesichts der möglichen Initiierung organisationaler Reflexion und Veränderung als positive Konfliktfolge einerseits, der möglichen Eskalation und Verschlechterung der Beziehungsebene zwischen den Beteiligten andererseits in der richtigen Balance zwischen der Förderung von Konflikten und Aufrechterhaltung eines angenehmen und kooperativen Gruppen- und Interaktionsklimas. Es bedarf sowohl der Initiierung, Forcierung und Unterstützung von Konflikten durch langfristig-strukturelle Maßnahmen (Kap. 5.2) und durch 399 TP
PT
TP
400 PT
Vgl. Schulz-Hardt/Frey 2000:401 Berkel 2005:199
163
unmittelbares Interaktionsverhalten, als auch der Eindämmung, schnellen Beendigung durch Kompromisse bzw. Führungsentscheidungen oder sogar der Verhinderung von Konflikten, wenn destruktive Verlaufsformen und Konsequenzen erscheinen bzw. wahrscheinlich sind oder ein ausgetragener Konflikt in der gegebenen Situation unpassend ist. Für diese Balance gibt es keine einzig richtige, ultimative Lösung. Jede Führungskraft muss mit ihrer Erfahrung und ihrem eigenen Stil eine situativ passende Vorgehensweise finden. Für das hier entwickelte Modell sind neben dem allgemeinen Verhalten der Führungskraft vor allem die Konfliktbegleitung durch eine dritte Partei und die Konfliktstimulation von Interesse. Dritte Partei Eine Möglichkeit der Konflikthandhabung, die in der psychologischen und politischen Konfliktforschung sehr hohe Beachtung findet, ist die Moderation der Interaktion bzw. die Mediation zwischen den Positionen durch eine sog. ‚dritte Partei’, also eine nicht vom Konfliktthema betroffene Person.401 Dieses Instrument bietet sich insbesondere an, wenn die Führungskraft als Teil des Teams selbst in den Konflikt verwickelt ist bzw. voraussichtlich sein wird und daher eine neutrale und ergebnisoffene Position nicht glaubwürdig vertreten kann. Voraussetzung für den proaktiven Einsatz dieses Instrumentes in Interaktionen ist es natürlich, dass der Konflikt vorhersehbar ist oder direkt stimuliert bzw. forciert werden soll. Im Sinne der Kernthese dieser Arbeit ist es auch für die dritte Partei die Zielsetzung der Konfliktbehandlung, Irritations-, Reflexions- und Lernmöglichkeiten in den Konfliktinteraktionen zu schaffen und zu nutzen, ohne destruktive emotionale Eskalationen zuzulassen. Auch einige Interviewpartner haben die Moderation durch eine dritte Partei explizit als eine Möglichkeit der Handhabung von Konfliktinteraktionen genannt und damit Erfahrungen in ihrer Arbeitspraxis gemacht, sowohl die interviewten Organisationsberater in der Rolle als hinzugeholte neutrale Partei als auch die interviewten Führungskräfte, die diese Möglichkeit nutzten oder erlebt haben:402 TP
PT
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PT
„Meine Erfahrung ist, dass gerade, wenn es um Konfliktbewältigung geht, ein Mediator eine sehr wichtige Rolle einnehmen kann. Wir merken das immer bei Führungskräftetrainings, wenn es zu Phasen der Aussprache kommt und unsere Mitarbeiter mal ‚Tacheles’ mit der Geschäftsführung reden, da kommt alles zur Sprache, das ist so eine Art „hot wash up“. Zum Teil kommen da vielleicht auch einige undifferenzierte Beiträge. […] Und dabei haben wir die Erfahrung gemacht, dass es immer gut ist, einen Führungskräftecoach 401 TP
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402 PT
Vgl. z.B. Berkel 1984: 35; Thomas 1992:690; Fietkau 2000:17; Glasl 2003:128; siehe Kap. 3.5 Vgl. Interview Geschäftsführender Berater einer mittelgroßen Management-Beratung; Geschäftsbereichsleiter internationales Industrieunternehmen
164
dabeizuhaben, der vermitteln kann und eine Moderatorenrolle einnehmen kann. Das würde ich also absolut befürworten, sobald man das institutionalisiert.“403 TP
PT
„Eine dritte Partei kann eine sehr, sehr wichtige Rolle haben. In Teamentwicklungen, die ich als Externe häufig durchführe, erlebe ich oft, dass es vorteilhaft ist, wenn nicht die Führungskraft oder jemand aus dem Team die Rolle des Moderators einnimmt, sondern auch die Führungskraft als Teil des Teams am Prozess teilnimmt. Solche neutralen Moderatoren und Mediatoren könnten natürlich auch Firmeninterne sein. Gerade in größeren Unternehmen gibt es ja häufig eigene Abteilungen dafür, beispielsweise die Unternehmensentwicklung, die auch Moderationskompetenzen haben, aber mit dem eigentlichen Team im Alltag nicht in Kontakt kommen. Den Einsatz einer dritten Partei halte ich also für sehr sinnvoll, wobei dies nicht immer ein Externer sein muss. Aber es sollte in jedem Fall jemand sein, der keine Berührungspunkte mit den Beteiligten hat, wenn er in dieser neutralen, vermittelnden oder moderierenden Funktion ist.“404 TP
PT
Die dritte Partei kann also entweder ein professioneller Berater mit Kompetenzen in Konfliktmanagement und Moderation sein oder aber ein anderes Organisationsmitglied, das entsprechende methodische Kompetenzen hat, nicht vom Streitthema betroffen ist und in seiner Beziehung zu den Interaktionsbeteiligten glaubhaft eine neutrale Stellung einnehmen kann.405 Grundsätzlich muss eine dritte Partei zunächst einmal – wie eine gruppeninterne Führungskraft auch – eine offene, vertrauens- und respektvolle Beziehung zu allen Interaktionsbeteiligten aufbauen und aufgrund ihrer persönlichen und professionellen Expertise und ihrer Neutralität von allen akzeptiert sein. Zudem muss sie innerhalb der Gruppe kooperative Einstellungen bei den Betroffenen und offene, kreative und diskussionsfreudige Gruppenprozesse etablieren.406 Dass sie den Gruppenmitgliedern zunächst fremd ist, stellt sie einerseits vor die Herausforderung, eine höhere Vertrauensbarriere zu haben, kann aber andererseits auch als Vorteil wirken, da eingefahrene Verhaltensweisen der Beteiligten und insbesondere auch der Führungskraft unvoreingenommen reflektiert und thematisiert werden können.407 Allerdings kann auch eine externe neutrale Partei bestehende Barrieren in der Unternehmens-, konkret Kommunikations- und Konfliktkultur, die sich bspw. in TP
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403 TP
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407 PT
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Interview Stellvertretender Geschäftsführer Medienunternehmen Interview Führungskräftecoach und Berater für Organisationsentwicklung Vgl. Walton 1969:138ff; 1987:115ff; Thomas 1992:690 Vgl. Walton 1969:131ff; 1987:111ff; Deutsch 1994:24; 2000:35ff; Fisher 1997:196ff Aussage im Interview Geschäftsführender Berater einer mittelgroßen Management-Beratung: „Wichtig ist dabei, dass der Prozess gestoppt wird und jeder die Gelegenheit erhält, einmal in Ruhe und ohne unterbrochen zu werden seine Position darzustellen. Dabei hilft vor allem ein neutraler Berater. Und der muss dann auch mal den Chef unterbrechen und ihn darauf hinweisen, dass jetzt jemand anderes dran ist.“
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Misstrauen, Rückzug, individueller Zielverfolgung oder Konkurrenzdenken äußern, nur mühsam oder gar nicht beseitigen. Die konkreten Strategien und Instrumente einer Konfliktmoderation oder Mediation durch eine neutrale Partei sollen an dieser Stelle nicht weiter thematisiert werden. Die Forschungs- und Literaturlage zu diesem Themenbereich ist sehr reichhaltig.408 Da im überwiegenden Teil dieser Konfliktbewältigungsansätze aber die schnelle Konfliktbeilegung und meist Kompromisslösung im Vordergrund steht, soll an dieser Stelle nochmals betont werden, dass im Sinne einer irritations- und lernförderlichen Konfliktkultur eben nicht dieser schnelle Kompromiss und eine Konsens- und Harmoniekultur hilfreich sind, sondern die offene, konstruktive und intensive Auseinandersetzung mit divergierenden Meinungen. Dies muss auch das Ziel einer dritten Partei in der Konfliktbewältigung sein, wenn Konflikte im Sinne der Kernthese dieser Arbeit konstruktiv als Wandelinitiierung genutzt werden sollen. TP
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Konfliktstimulation Eine oft vernachlässigte Möglichkeit des Konfliktmanagements ist die gezielte Stimulation von zwischenmenschlichen Konflikten in Gruppen.409 Diese wird häufig vermieden, weil die Führungskräfte und Gruppenteilnehmer negative Gefühle und unkontrollierbare Konsequenzen fürchten, die notwendigen Fähigkeiten für eine solche Konfliktbearbeitung nicht vorhanden sind, der damit verbundene bzw. vermutete Aufwand gescheut wird und die bewusste Konflikterzeugung der generellen Norm eines möglichst konfliktfreien Umgangs in Gesellschaft und Organisationen widerspricht.410 Auch in den Experteninterviews wurde die Einschätzung geteilt, dass Führungskräfte Konflikte tendenziell eher meiden, anstatt sie zu thematisieren oder sogar zu forcieren.411 Die theoretisch hergeleiteten Ergebnisse dieser Arbeit (vgl. Kap. 4.2.) und die bisherigen Ergebnisse in der Konflikt- und Groupthink-Forschung zum optimalen Konfliktniveau und zur Konfliktstimulation zeigen aber, dass die Forcierung von unterschiedlichen Standpunkten und ihre Diskussion für Kreativität und Innovation, Entscheidungsqualität und -akzeptanz und vor allem für die Lern- und Veränderungsfähigkeit in Gruppen und Organisationen sehr vorteilhaft sein kann, wenn diese Konfliktstimulation und die weiterführende Bearbeitung konstruktiv erfolgen.412 Van de Vliert unterscheidet vier mögliche Ansatzpunkte für die Konfliktstimulation im Konfliktprozess: die Rahmenbedingungen, die Konfliktthemen, das Konfliktverhalten TP
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412 PT
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Vgl. z.B. Hugo-Becker/Becker 1996; Rüttinger 1989; Berkel 1992; Rüttinger/Sauer 2000;Glasl 2004; Falk 2005; Schwarz 2005 Vgl. Berkel 1987:163; 1995:273 Vgl. Walton 1987:3f; De Dreu 1997:9ff; Van de Vliert 1985:20f; 1997:208f Vgl. Interviews Führungskräftecoach und Berater für Organisationsentwicklung; Stellvertretender Geschäftsführer Medienunternehmen; Geschäftsführender Berater einer mittelgroßen Management-Beratung; Leiter Führungskräfte Energieunternehmen Vgl. De Dreu 1997; Van de Vliert 1997; Turner/Pratkanis 1997; Fisher 1997; Schulz-Hardt/Frey 2000; Schulz-Hardt/Jochims/Frey 2002
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und die Konsequenzen. Zu den Rahmenbedingungen zählen die bisher dargestellten Faktoren, z.B. die Diversität bei der Gruppenzusammensetzung, die zeitliche Ermöglichung von Diskussionen und Konflikten im Organisationsalltag sowie eine Organisationskultur, die Konflikte akzeptiert und nicht Konfliktvermeidung und Harmonie überbetont. Konfliktthemen können entweder neu kreiert und thematisiert werden oder durch die Ausweitung und Schärfung bestehender Konfliktthemen entstehen, indem z.B. bisher ignorierte oder assimilierte Widersprüche herausgestellt oder bestehende Konflikte auf bisher konfliktfreie Bereiche ausgeweitet werden. In Gruppen und Organisationen bieten sich dafür bspw. Themenbereiche wie Ressourcenverteilung, Zielsetzungen, Prozessentscheidungen oder Rollenverteilungen an. Das Konfliktverhalten der beteiligten Parteien kann animiert werden, indem die Führungskraft oder dritte Partei zu konstruktiv-kritischem Verhalten ermuntert, sich selbst in Diskussionen und Konflikten engagiert oder für eine bisher ignorierte Minderheitenposition bewusst Partei ergreift (bei den letzten beiden Punkten muss der Moderator allerdings darauf achten, dass er keine Vorentscheidung bewirkt und weiterhin grundsätzlich als ergebnisoffen und neutral wahrgenommen wird). Auch die Vorgabe von unrealistischen Zielen oder die Verdeutlichung von negativen, gefährlichen Konsequenzen aus dem Status quo können der Stimulierung konstruktiver Diskussionen dienen:413 TP
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„Es kann helfen, ich halte es für ein legitimes Mittel. Dafür ist man vielleicht auch Führungskraft, dass man Entwicklungen, Bedrohungen, aber auch Chancen eher sieht oder eher glaubt zu sehen als jedermann. Da heiligt der Zweck ein wenig die Mittel. Um die – sagen wir es positiv – Chancen auch mitnehmen zu können und sich neu auszurichten, halte ich es durchaus für legitim, einen bestehenden Bereich schlechter zu reden, als er ist, oder dort Krisen oder Risiken hineinzuargumentieren. Um in unserem Bereich zu bleiben: den Leuten jetzt schon zu sagen, wir müssen mehr internetkompatibel produzieren, weil auf absehbare Zeit das normale, heutzutage gängige free broadcast TV nicht mehr so existieren wird, halte ich für legitim. Das wird in 10 Jahren auch noch existieren, aber allein die Aussage, dies infrage zu stellen, kann helfen, eine Ausrichtung auf Internet-TV hinzukriegen. Das ist eine Frage, wie man das angeht. Da darf man natürlich nicht überdramatisieren oder sogar lügen; aber Dinge ein wenig zugespitzt zu formulieren ist legitim, denke ich.“414 TP
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Eine klassische Methode der Konfliktstimulation ist das ‚Devil´s Advocate’-Verfahren, bei dem ein ausgewählter Interaktionsbeteiligter systematisch alle Vorschläge bzw. Entscheidungsvorlagen kritisch hinterfragt, die Nachteile und Schwachstellen 413 TP
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414 PT
Vgl. Van de Vliert 1985:25ff (hier noch fünf Ansatzpunkte durch Trennung conflict issues – parties); 1997:213ff; Van de Vliert/De Dreu 1994:216ff Interview Stellvertretender Geschäftsführer Medienunternehmen
167
aufzeigt und gegen diese Vorschläge argumentiert. Dieses Verfahren soll zu einer offenen Diskussion und der Berücksichtigung von Alternativen führen. Empirische Untersuchungen zeigen, dass das Verfahren grundsätzlich divergentes Denken in Gruppenentscheidungsprozessen erhöhen kann, echte Konflikte, in denen niemand eine Oppositionsrolle spielt, aber effektiver sind.415 Eine weitere Möglichkeit ist die Institutionalisierung von Diskussionen, Streit und Konflikten z.B. durch regelmäßig vorgegebene Verhandlungen zwischen Individuen und Gruppen über Ressourcen, Zielsetzungen etc. oder durch regelmäßige Feedback-Prozeduren, wie sie in Kap. 5.3.3 bereits dargelegt wurden.416 TP
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Die Gefahren der Konfliktstimulation dürfen allerdings nicht ausgeblendet werden. Forcierte kognitive Konflikte können aufgrund situativer Faktoren oder falscher Handhabung eskalieren, emotionalisiert werden und sich auf die Beziehungsebene ausweiten. Daher sollte ein Konfliktmoderator selbstverständlich auch Methoden und Möglichkeiten der Konfliktdeeskalation beherrschen.417 Eine Garantie dafür, dass bestehende, forcierte oder stimulierte Konflikte nicht eskalieren, gibt es aber nicht. Wie im Bezugsrahmen der Arbeit gezeigt, kann keine Führungskraft das Verhalten der Individuen und die durch Wechselwirkungen beeinflusste Interaktionsentwicklung deterministisch steuern. Letztlich ist der Erfolg einer Konfliktstimulation abhängig von vielen situativen Faktoren, u.a. dem Konfliktthema und bisherigen Verlauf, der Zusammensetzung und bisherigen Arbeitshistorie der Gruppe, dem Stil der Führungskraft und der gelebten Kommunikations-, Konflikt- und Lernkultur in der Organisation:418 TP
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„Das setzt voraus, dass die Mitarbeiter die Erlaubnis und Möglichkeit haben, kritische Meinungen zu äußern; das ist ja bei weitem nicht überall der Fall. Es gibt durchaus noch Unternehmen, in denen der Mitarbeiter zu allem, was von oben kommt, ‚Ja und Amen’ zu sagen und ansonsten seinen Mund zu halten hat. In solchen eher konservativen Kulturen wäre es sicherlich ein wahnsinniger Fortschritt, wenn man Streit und Konflikte tatsächlich als ‚Tools’ provozieren könnte und dürfte. In etwas dynamischeren Unternehmenskulturen sehe ich das etwas kritischer, da kann das auch nach hinten losgehen. In solchen Unternehmen, die ohnehin sehr schnelllebig sind, in denen das Geschäft durch den Markt sehr wechselhaft ist, in denen ständige Anpassung und Veränderung ohnehin gefordert ist, ist es an den Menschen, 415 TP
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416 TP
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417 TP
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418 PT
Vgl. Schwenk/Cosier 1980; Katzenstein 1996; De Dreu/De Vries 1997:74f; Nemeth/Brown/Rogers 2001; Schulz-Hard/Frey 2000:394f; Schulz-Hardt/Jochims/Frey 2002; Nemeth/Brown/Rogers (2001) finden in ihrer empirischen Untersuchung keine Verbesserung bei Entscheidung und Problemlösung durch die ‚Devil´s Advocate’-Methode. Vgl. Van de Vliert/De Dreu 1994:217; Interviews Stellvertretender Geschäftsführer Medienunternehmen; Geschäftsführender Berater einer mittelgroßen Management-Beratung Vgl. Walton 1969:96; Van de Vliert/De Dreu 1994:211; De Dreu 1997:17; Van de Vliert 1997:214, 219; Amason/Schweiger 1997:108f Vgl. Van de Vliert/De Dreu 1994:213ff
168
der ja an sich ein Bewahrer ist, schon eine sehr hohe Anforderung, mit einer solchen Schnelllebigkeit umzugehen. Wenn ich in einer solchen Organisation auch noch Konflikte provoziere, indem ich z. B. noch einmal deutlich herausstelle, wie unterschiedlich die Meinungen zu bestimmten Themen sind, um sie besprechbar zu machen, das könnte wirklich zu einer nicht mehr kontrollierbaren Eskalation führen. In solchen schnelllebigen Unternehmen kann es angebrachter sein, auf Gemeinsamkeiten hinzuweisen, um Identität und ein gewisses Stabilitätsgefühl zu stiften, also bspw. herauszustellen, in welchen Punkten man sich einig ist, was schon funktioniert und was man gemeinsam erreicht hat usw. Ich glaube, das ist umfeld- und kulturabhängig. Unter bestimmten Umständen kann eine Kanalisierung bestehender oder Provokation neuer Konflikte durchaus sinnvoll und förderlich sein.“419 TP
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„Wenn Sie den Konflikt dort als strategisches Instrument einsetzen, kann er, richtig gesteuert, eine gewisse befruchtende Instanz in diesem Veränderungsprozess sein. Dabei stellt sich allerdings die Frage, ob es überhaupt möglich ist, einen solchen Prozess in einem Unternehmen gesteuert anzustoßen. Es besteht die Gefahr und meines Erachtens auch ein Mangel an Methoden, dass der Konflikt nicht eskaliert und auch den richtigen Output hat. Entscheidend ist die Ausgangssituation des Unternehmens, eine Standardisierung fällt mir da sehr schwer.“420 TP
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Die ‚richtige’ Dosierung von Konfliktthematisierung und -nutzung, -stimulierung oder -deeskalation liegt letztlich in der Verantwortung der Interaktionsbeteiligten und insbesondere der Führungskraft bzw. dritten Partei. Ein Patentrezept gibt es dafür nicht.
5.4
Wechselwirkungen der Rahmenbedingungen im Modell
Die jeweils fünf untersuchten allgemeinen und situativen Rahmenbedingungen für konstruktive, irritationstolerante und potentiell veränderungsinitiierende Konflikte stellen sicher nur die wichtigsten Einflussfaktoren für den Verlauf von Konfliktinteraktionen dar, die sich aus der psychologischen Konfliktforschung und den anderen herangezogenen Forschungsgebieten herausfiltern ließen und durch die Interviews bestätigt wurden; letztlich beeinflusst eine unüberschaubare Vielzahl weiterer allgemeiner und situativer Faktoren das Verhalten der Beteiligten und damit den Konfliktverlauf. Die dargestellten Variablen stehen in einem komplexen Wirkungszusammenhang untereinander und mit den Konfliktkonsequenzen: 419 TP
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Interview Führungskräftecoach und Berater für Organisationsentwicklung Interview Interimsmanager
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Die langfristigen, interaktionsübergreifenden Variablen des Bedeutungs- und Sinnraumes beeinflussen die Variablen der konkreten Konfliktinteraktion, da Erstere durch wiederholte Beobachtung und Bestätigung von den Organisationsmitgliedern erlernt und als kollektive, organisationsbezogene bzw. individuelle Deutungsmuster in die individuelle Wirklichkeitsordnung eingegangen sind, wodurch sie die konkrete Wahrnehmung, Interpretation und das Verhalten in der aktuellen Konfliktsituation steuern. So werden bspw. die Mitarbeiter einer Führungskraft, die bisher als patriarchisch führend und desinteressiert an abweichenden Meinungen wahrgenommen wurde, in einem Meeting einer Aufforderung zur offenen Diskussion und zu Widerspruch kaum ernsthaft folgen. Gleiches gilt für Organisationen, in denen eine offene, hierarchieübergreifende Meinungsäußerung und Widerspruch nicht akzeptiert und vorgelebt wird. Wenn Toleranz, Respekt und gegenseitiges Zuhören nicht zu etablierten und gelebten Normen in einer Gruppe gehören, wird es in Konfliktinteraktionen eher zu affektiven Konfliktverläufen kommen. Gleiches gilt für kompetitive Zielbeziehungen zwischen den Beteiligten, da Konflikte in diesem Fall eher als Angriff und Bedrohung wahrgenommen werden und zu affektiven Reaktionen führen können. Aber auch die individuellen Kommunikations- und Konfliktfähigkeiten der Beteiligten bestimmen im großen Maße, ob Konflikte sachorientiert und ohne persönliche Verletzungen ausgetragen werden können und ob bspw. vorschnelle Bewertungen von Exteriorisierungen unterbleiben. Umgekehrt wirken aber auch die Variablen der konkreten Konfliktsituation langfristig auf die interaktionsübergreifenden Variablen, da die Konfliktinteraktion bei den Beteiligten zu organisationsbezogenen Wahrnehmungen führt, welche die bestehenden Deutungsmuster entweder bestätigen oder ggf. irritieren, was bei Wiederholungen zur Veränderung der individuellen organisationsbezogenen Deutungsmuster führen kann. So kann bspw. in einem Unternehmen, in dem bisher eine offene und diskussionsfreudige Kultur herrschte, wiederholt erlebter Zeitdruck und fehlender Diskussionsfreiraum bei Entscheidungen (z.B. aufgrund organisationaler Veränderungen oder Wechsel im Top-Management) zumindest langfristig zur Veränderung dieser Kommunikations- und Konfliktkultur und damit zur Abnahme irritationsthematisierender und reflektierender Diskussionen führen. Umgekehrt kann eine Führungskraft in einem Unternehmen, in dem offene Diskussionen bisher nicht praktiziert wurden, durch wiederholtes und konsistentes Einfordern, Akzeptieren und Vorleben von Offenheit, Widerspruch und Feedback eine Konfliktkultur langfristig zumindest in ihrem Bereich verändern. Genauso beeinflussen sich auch jeweils die langfristigen und situativen Faktoren untereinander wechselseitig. So wirken bspw. die Organisationskultur und die individuellen Fähigkeiten und Einstellungen der Gruppenmitglieder auf den Führungsstil eines Teamleiters, welcher wiederum mit seinem Führungsverhalten die Gruppenkultur und das Verhalten der einzelnen Gruppenmitglieder maßgeblich beeinflusst. Eine als kooperative Win-win-Konstellation wahrge-
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nommene Zielbeziehung zwischen den Beteiligten ist abhängig von der Organisations-, insbesondere der Kommunikations- und Konfliktkultur, sowie dem Führungsverhalten des Managements, welches durch Kommunikation, Sanktionierung und Bestätigung von Verhalten die Regeln der Organisation aus hervorgehobener Stellung signalisiert. Gleichzeitig beeinflusst die über Organisationsstrukturen und das Belohnungssystem definierte formale Zielbeziehung das Managementverhalten und die Kommunikationskultur. Die individuellen Fähigkeiten und Einstellungen sind wiederum elementare Dimensionen bei der Diversität von Gruppen. Gleiches gilt für die situativen Variablen: Ob ein Konflikt auf der kognitiven oder affektiven Ebene verläuft, ist u.a. vom Thema und dem Zeitdruck abhängig. Letzterer wiederum wird u.a. durch die Phasenaufteilung und -einhaltung mit beeinflusst. Das konkrete Konfliktmanagement wiederum wirkt auf alle situativen Faktoren. Die situativen und langfristigen Faktoren zusammen beeinflussen die individuellen Wahrnehmungen und Interpretation der ablaufenden Interaktion im Sinnraum durch die Beteiligten sowie deren Verhaltensbeiträge im Interaktionraum, wo es zu einer wechselseitigen interindivuellen Beeinflussung im Prozess der kollektiven Wirklichkeitskonstruktion kommt. Die Beobachtung dieses Konfliktgeschehens im Interaktionsraum durch die einzelnen Beteiligten wirkt wiederum unmittelbar auf die situativen und mittelbar auf die interaktions-übergreifenden Rahmenbedingungen aus, da diese letztlich ebenfalls nur Konstrukte individueller Wahrnehmung von Verhaltensweisen anderer Interaktionsbeteiligter im Interaktionsraum sind. Trotz aller dargestellten Rahmenbedingungen und wechselseitigen Wirkungszusammenhänge ist der Schlüsselfaktor für den konkreten Interaktionsverlauf aber letzten Endes immer das Verhalten der Beteiligten, also ihre verbalen und nonverbalen Exteriorisierungen. Jedes Individuum ist für sein Verhalten vollständig selbst verantwortlich. Die Selbstreferentialität des menschlichen Bewusstseins sowie die Selbstreflexionsfähigkeit des Menschen ermöglichen in jedem Beobachtungsund Verhaltensprozess Kontingenz, d.h. kein Interaktionsteilnehmer wird durch externe Rahmenbedingungen oder das Verhalten anderer Interaktionsteilnehmer zu bestimmten Verhaltensweisen gezwungen bzw. durch diese determiniert. Jede individuelle Verhaltensauswahl aufgrund der Beobachtung – und damit jede Exteriorisierung individueller Deutungen – ist immer auch anders möglich. Gerade wegen dieser Kontingenz und Nicht-Determinierbarkeit individuellen Verhaltens sowie der Abhängigkeit der Beobachtung und Deutung von den einzigartigen individuellen Wirklichkeitsordnungen ist der Verlauf von Interaktionen nicht vorhersehbar und nicht determinierbar.
171
5.5
Ableitung von Praxisempfehlungen für ein konstruktives Konfliktmanagement zur Erhöhung der organisationalen Lern- und Veränderungsfähigkeit
In den bisherigen Ausführungen wurden bereits explizit und implizit vielfältige Aussagen zum Management von organisationalem Wandel und von Konflikten als Ursprungsort potentieller Veränderungen getroffen, sei es in allgemeinen Aussagen zum konstruktivistischen Organisations- und Führungsverständnis (Kap. 2.3), in den Darstellungen zum Management organisationalen Wandels (Kap. 3), zum Konfliktmanagement (Kap. 4.1) oder zu konkreten Rahmenbedingungen im entwickelten Modell (Kap. 5.2 und 5.3). An dieser Stelle sollen diese praxisbezogenen Ableitungen aus den theoretischen Betrachtungen zu Organisation, Wandel und Konflikt sowie dem Modell der Rahmenbedingungen nochmals explizit als Reflexions- und Handlungsempfehlungen für das Management zusammengefasst werden. Führung ist eine herausgehobene Einflussnahme auf den Prozess der sozialen Wirklichkeitskonstruktion in organisationalen Interaktionsräumen. Diese besondere Deutungshoheit in den organisationalen Deutegemeinschaften (z.B. Teams, Abteilungen, Gesamtunternehmen) erlangt die Führungskraft zunächst durch formale Fixierungen (Organigramme, Stellenbeschreibungen, Befugnisse etc.) sowie deren interne Kommunikation in der Organisation. Durch das Verhalten der Führungskraft im Interaktionsraum entsteht und verfestigt sich dann innerhalb der jeweiligen Deutegemeinschaft ein Führungsverständnis bzw. eine Führungskultur, indem die Mitarbeiter für sich selbst interpretieren, welches Verhalten erwünscht und akzeptiert bzw. für sie erfolgversprechend in ihrer individuellen Zielerreichung ist. Durch die viable Anwendung dieser Deutungsmuster verfestigen sie sich rekursiv und werden relativ stabil und veränderungsresistent. Somit beeinflusst jede Führungskraft durch ihr eigenes Verhalten im besonderen Maße das Führungsverständnis in einer Gruppe und damit das Verhalten der Mitglieder in ihr. Gleichzeitig können diese Deutungsmuster, wenn sie einmal entstanden und verfestigt sind, nur schwer verändert werden. Führung kann die Wirklichkeitskonstruktionen von Menschen und deren Verhalten nicht im deterministischen Sinne steuern, sondern lediglich einen Einfluss darauf ausüben. Jedes Individuum ist in seinen Wirklichkeitskonstruktionen autonom und entscheidet über sein eigenes Verhalten. Das Management ist damit nur ein Teilsystem des Gesamtsystems Organisation, die einzelne Führungskraft nur eine Komponente; sie hat zwar i.d.R. höhere Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten als viele andere Mitarbeiter, kann aber das System nicht deterministisch bestimmen, da die Steuerungs- und Gestaltungsmöglichkeiten aufgrund der individuellen Autonomie polyzentrisch im Gesamtsystem verteilt sind und das System als solches durch Managementeingriffe nur gestört und angestoßen
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werden kann, in der tatsächlichen Entwicklung dann aber emergente Eigenschaften aufweist. 421 In Bezug auf organisationalen Wandel als zentrales Thema dieser Arbeit kann das Management Veränderungen in der Organisation somit nicht determinieren. Es hat aber Möglichkeit, Anregungen und Freiräume für Gestaltung und Veränderung zu schaffen und diese anzustoßen. Aus der konstruktivistischen Organisationsperspektive dieser Arbeit gibt es nicht die eine, objektive und richtige Sichtweise von Märkten, Wettbewerbern, Kunden etc., die einem Unternehmen bestimmte Wirklichkeitsdeutungen und Verhaltensweisen gesetzmäßig aufzwingt. Alle Beobachtungen und Interpretationen dieser Art haben sich durch ihre wahrgenommene Viabilität als Notwendigkeiten oder Gesetzmäßigkeiten verfestigt und etabliert, sind aber grundsätzlich kontingent und damit anders denkbar.422 Organisationaler Wandel setzt die Irritation dieser verfestigten organisationalen Deutungsmuster voraus, die entweder durch die Wahrnehmung von Nicht-Viabilität der bestehenden Deutungsmuster oder durch die Wahrnehmung alternativer Deutungen möglich ist. Die Irritation und ggf. Alternativdeutung ist allein aber nicht ausreichend, da sie zunächst einmal nur in der individuellen Beobachtung einzelner Organisationsmitglieder erfolgt. Die Veränderung der organisationalen Deutungsmuster setzt darüber hinaus die Thematisierung dieser Irritationen und alternativen Deutungsmöglichkeiten im organisationalen Interaktionsraum voraus, da nur hier organisationale Wirklichkeit konstruiert wird. Das Management muss zur Ermöglichung und Initiierung von Reflexion und Wandel somit zwei grundsätzliche Rahmenbedingungen setzen: es muss zum einen die Irritation ermöglichen bzw. das Potenzial für Alternativdeutungen schaffen, zum anderen dafür Sorge tragen, dass durch einzelne Individuen wahrgenommene Irritationen und Alternativdeutungen auch wirklich im organisationalen Interaktionsraum exteriorisiert und dort von den Beteiligten ergebnisoffen und konstruktiv thematisiert werden.423 Die Kernthese der Arbeit (Kap.4.2) hat gezeigt, dass gerade zwischen-menschliche Konflikte sehr geeignete Ausgangspunkte organisationalen Wandels sein können, da einerseits in ihnen Irritationen bewährter organisationaler Wirklichkeiten und deren Thematisierung enthalten sein können, andererseits die Exteriorisierung abweichender und irritierender Alternativdeutungen oftmals zu Konflikten im Interaktionsraum führen werden. Daher sind zum einen konflikttolerante Unternehmenskulturen ein wichtiger Baustein für die Lern- und Veränderungsfähigkeit der Organisation, zum anderen können Konflikte bewusst als Initiierungsarena für die Irritation und Hinterfragung organisationaler Wirklichkeiten genutzt werden. Die Managementempfehlungen des Modells dieser Arbeit zielen auf die Unterstützung einer solchen konflikttoleranten Unternehmenskultur im Allgemeinen sowie die TP
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Vgl. Kap. 2.3.3 Vgl. Kap. 2.3.1 Vgl. Kap. 3
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situative Ermöglichung konstruktiver, reflektierender und ergebnisoffener Konfliktinteraktionen ab. Zwei der im Modell abgebildeten Rahmenbedingungen sind unmittelbares Verhalten der Führungskräfte: das allgemeine Führungsverhalten als interaktionsübergreifende Rahmenbedingung sowie das Konfliktmanagement als interaktionaler Einflussfaktor. Wie gezeigt wirkt das Verhalten der Führungskräfte auf drei Ebenen: - Führungskräfte sind selbst Teil der Gruppe und tragen mit ihren Exteriorisierungen genauso wie jedes andere Interaktionsmitglied zum Prozess der kollektiven Wirklichkeitskonstruktion und damit zum Konfliktverlauf bei. - Durch ihre exponierte Stellung als Führungskraft haben sie aber gleichzeitig Vorbild- und Referenzfunktion für die anderen Gruppenmitglieder, d.h. durch ihr vorgelebtes Verhalten vermitteln sie den Interaktionsbeteiligten Anhaltspunkte über akzeptiertes/erwünschtes oder nicht akzeptiertes/erwünschtes Verhalten innerhalb der Interaktion. - Die Führungskraft setzt sowohl langfristig interaktionsübergreifend als auch unmittelbar in einer ablaufenden Interaktion die Rahmenbedingungen der Interaktion und kann über Interventionen, die aufgrund ihrer Rolle i.d.R. höhere Wirksamkeit auf die Wahrnehmung und Wirklichkeitskonstruktion der Interaktionsbeteiligten haben, maßgeblichen Einfluss auf den Interaktions- und damit Konfliktverlauf nehmen. In der Modellentwicklung wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass die Vorbildwirkung von Führungskräften in allen Interaktionen, gerade aber auch in Konflikten, nicht hoch genug eingeschätzt werden kann und daher große Beachtung seitens der Führungskräfte erhalten sollte. Jede Form der Ausgestaltung von Rahmenbedingungen und Intervention in Konfliktinteraktionen wird durch gegensätzliches Verhalten der Führungskraft konterkariert. Auf die anderen dargestellten Rahmenbedingungen nehmen die Führungskräfte in ihrer exponierten Rolle im Rahmen der sozialen Wirklichkeitskonstruktion innerhalb konkreter Interaktionen sowie bei der Verfestigung zu organisationaler Wirklichkeit besonderen Einfluss. Eine wichtige Rahmenbedingung für konstruktive Konfliktverläufe sind gemeinsame übergeordnete Ziele der Beteiligten. Den Interaktionsteilnehmern muss bewusst sein, dass die Diskussion letztlich um den „richtigen“ Weg zu einem gemeinsamen Ziel geht, welches nur in Kooperation erreicht werden kann. Dazu muss das Management zunächst einmal für einzelne Gruppen oder Interaktionszusammenhänge gemeinsame Zielsetzungen definieren. Dies kann z.B. durch gemeinsame konkrete Aufgabenstellungen, durch komplementäre, voneinander abhängige Rollen oder durch gemeinsame Belohnungen für bestimmte Zielerreichungen erfolgen. Entscheidend für die Wirkung der gemeinsamen Zielsetzungen auf das Konflikt174
verhalten ist aber die Wahrnehmung der Interaktionsteilnehmer. Daher ist es zum anderen von großer Bedeutung, wechselseitige Abhängigkeiten und gemeinsame Zielsetzungen auch regelmäßig zu kommunizieren und somit den Interaktionsteilnehmern bewusst zu machen. Insbesondere in intensiveren Konflikten kann eine zeitweilige Betonung gemeinsamer übergeordneter Ziele trotz aller Meinungsunterschiede notwendig und hilfreich sein, um destruktive Konfliktentwicklungen zu vermeiden, eine spätere Integration verschiedener Positionen bzw. die Akzeptanz einer Konfliktlösung zu ermöglichen und über die Konfliktinteraktion hinausführende negative Folgen auf die Kooperations-, Diskussions- und Konfliktfähigkeit in einer Gruppe oder Organisation zu verhindern.424 Wichtig ist zudem die Akzeptanz und Interiorisierung dieser gemeinsamen Zielsetzungen durch die Organisationsmitglieder, da sie nur so verhaltensrelevant sein können. Dabei ist es empfehlenswert, die Betroffenen an der Entwicklung der Ziele teilhaben zu lassen und nur Rahmenbedingungen vorzugeben, wo dies notwendig ist. Ein weiterer wesentlicher Baustein für die Wahrnehmung gemeinsamer Zielsetzungen der Organisationsmitglieder ist das gelebte Belohnungsverhalten in der Organisation. Damit ist nicht nur das monetäre Vergütungssystem gemeint. Es liegt auf der Hand, dass zunächst einmal gemeinsame Erfolge verbal honoriert und in irgendeiner Weise gemeinsam zelebriert werden müssen.425 Das Vergütungssystem sollte dann übergeordnete Ziele zumindest teilweise abbilden und darf für einen konstruktiven Konfliktverlauf, der zur Irritation und Reflexion verfestigter Wirklichkeiten führt, keine kompetitiven Anteile zwischen den Interaktionsbeteiligten enthalten. Zwei Mitarbeiter eines Unternehmens, deren Vergütung in inkompatibler Weise entgegengesetzt vom Konfliktthema abhängt und für die es keine Kompensation z.B. durch stärker wirksame gemeinsame Zielsetzungen gibt, werden kaum zu einer konstruktiven und ergebnisoffenen Diskussion fähig und gewillt sein. Dies gilt auch für Kenngrößen, die nicht unmittelbar in ein monetäres Incentivierungssystem einfließen, aber für die Bewertung der jeweiligen individuellen oder Bereichsleistung herangezogen werden. Ein konstruktiver Konflikt mit Veränderungen initiierender Auswirkung kann in solchen Konstellationen letztlich nur möglich sein, wenn diese strukturelle Konfliktsituation selbst zum Interaktionsthema gemacht und reflektiert wird. Die Modellaussagen zu übergeordneten Zielsetzungen zeigen aber auch, dass Konfliktinteraktionen, die in Konkurrenzkonstellationen auftreten, in denen also konkurrierende Zielsetzungen bzw. entgegengesetzte Abhängigkeiten bezüglich des Interaktionsthemas zwischen den Beteiligten vorliegen (also bspw. ein klassisches Nullsummenszenario um begrenzte Ressourcen oder Gewinne) und für die sich auch TP
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Vgl. Tjosvold 1990:24ff Vgl. Amason/Schweiger 1997:112; Tjosvold 1993:85ff
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keine wirksamen übergeordneten Zielsetzungen finden lassen,426 in aller Regel keine konstruktive, ergebnisoffene und reflektierende Diskussion ermöglichen werden. In diesem Fall ist die klassische Konfliktbewältigung, also einer schnellen Beilegung durch einen Kompromiss oder eine übergeordnete Entscheidung zugunsten einer Seite (ggf. mit entsprechenden personellen Konsequenzen) notwendig, um eine emotionale Eskalation des Konfliktes und ggf. Auswirkungen auf das Gruppen-/ Organisationsklima zu verhindern. TP
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Kommunikations- und Konfliktnormen als Teil der Unternehmenskultur haben eine außerordentlich hohe Wirkung auf das individuelle Konfliktverhalten der Interaktionsbeteiligten, da sie als verfestigte soziale Deutungsmuster unmittelbare Bezugspunkte für die Verhaltensauswahl sind. Die Kommunikations- und Konfliktkultur wird, wie in Kap. 2.3.2 gezeigt, von jedem Organisationsmitglied beim Eintritt in die Organisation gelernt und individuell re-interpretiert in die individuelle Wirklichkeitsordnung übernommen, wo sie wahrnehmungssteuernd und verhaltensrelevant wird. Die weiteren Konflikterfahrungen in der Organisation verfestigen oder verändern diese Deutungsmuster. Eine gezielte Beeinflussung und Veränderung der gelebten Normen durch das Management ist sehr schwierig, nur langfristig und nicht deterministisch möglich. Die große Herausforderung für das Management in der Praxis liegt in einer angemessenen Kombination von Zusammengehörigkeitsgefühl und kooperativer Zusammenarbeit einerseits und einer offenen, aktiven Diskussions- und Streitkultur andererseits. Beides schließt sich nicht gegenseitig aus, wie die KooperationsKonkurrenz-Theorie von Deutsch (1976) gezeigt hat. Vielmehr bedingt eine offene, konstruktive Kommunikations- und Konfliktkultur, die verfestigte Wirklichkeitsannahmen reflektieren und verändern kann, ein hohes Maß an Gemeinsamkeiten, Zusammengehörigkeitsgefühl, Vertrauen und Toleranz. Häufig wird letzteres aber in der Praxis mit Harmonie und die Abwesenheit von zwischenmenschlichen Konflikten gleichgesetzt und – zumindest implizit – als das Ideal oder zumindest der angenehmere Zustand angesehen. Um ein vertrauensvolles, aber zugleich offenes und aktives Kommunikations- und Konfliktklima zu schaffen und zu unterstützen, sollten Führungskräfte die von ihnen erwarteten Regeln und Normen in ihrem Bereich zunächst einmal klar definieren und kommunizieren. Wie in Kap. 5.2.3 gezeigt, müssen Offenheit für freie Meinungsäußerungen, Widerspruch und auch die Exteriorisierung ungewöhnlicher oder zunächst unausgereifter Ideen ebenso garantiert sein wie die Toleranz und der Respekt gegenüber allen Beteiligten. Diskussionen sollten sach- und lösungsorientiert erfolgen, Feedback sollte direkt und anlassbezogen sein, Äußerungen sollten auch tatsächlich wahrgenommen und beachtet werden. Konflikte sollten als normal, potentiell konstruktiv und produktiv akzeptiert sein. Das Ideal in Gruppen darf TP
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Realistischerweise wird dies häufig dann der Fall sein, wenn wichtige individuelle Ziele, z.B. Vergütung, Beförderungen, Status etc. zwischen zwei Personen kompetitiv und nicht miteinander vereinbar sind.
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nicht die Harmonie und Konformität sein, sondern die konstruktive Kontroverse und bereichernde, akzeptierte und geförderte Meinungsvielfalt. Smith, Johnson und Johnson (1984) haben folgende Interaktionsregeln für konstruktive Kontroversen in Gruppendiskussion aufgestellt, die diese Normen und Werte in konkreten „Handlungsanleitungen“ widerspiegeln:427 - kritisch sein gegenüber Ideen, nicht Personen - daran denken, dass alle im gleichen Boot sitzen - jeden zur Beteiligung ermutigen - jedermanns Ideen zuhören, auch wenn man ihnen nicht zustimmt - bei Unklarheiten nachfragen - versuchen, beide Seiten eines Themas zu verstehen - zuerst alle Ideen zusammentragen, erst dann mit ihnen auseinandersetzen. TP
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Die Definition dieser Regeln sollte möglichst gemeinsam mit den Betroffenen erfolgen, da auch hier die Akzeptanz dieser Regeln eine wichtige Voraussetzung für deren Einhaltung ist. Dem Management muss aber auch der Unterschied zwischen formell vorgegebenen, fixierten Normen und den tatsächlich gelebten und implizit kommunizierten Normen bewusst sein. Entscheidend für die individuelle Deutung der Kommunikations- und Konfliktkultur in einer Gruppe oder Organisation durch die Beteiligten und damit für deren Verhalten sind letztlich nicht die Absichtserklärungen oder niedergeschriebenen Regeln (z.B. in internen Richtlinien und Broschüren zu Leitbildern, Führungsverständnis und Unternehmenskultur), sondern die tatsächlich in Interaktionen als gültig wahrgenommenen Regeln und Normen. Daher muss das Management die aufgestellten Regeln auch selbst vorleben. Durch die Zusammensetzung der Gruppe kann das Management beeinflussen, welche verschiedenen Expertisen und Charaktere an Interaktionen beteiligt sind und wie viele unterschiedliche Perspektiven, abweichende Meinungen und alternative Konstruktionsmöglichkeiten generiert und exteriorisiert werden. Hier müssen Führungskräfte eine Balance zwischen konfliktförderlicher Heterogenität einerseits und zusammenhalts- sowie umsetzungsförderlicher Homogenität andererseits finden. Um die Chancen unterschiedlicher Standpunkte und konstruktiver, sachbezogener Konflikte zu erhöhen und zu starke Konformität in Gruppen zu meiden, sollten diese insbesondere in bewussten Prozessen der Ideengenerierung, Reflexion und Kreativität möglichst heterogen zusammengestellt werden. In den meisten (insbesondere größeren) Unternehmen hilft hierfür schon die Zusammenstellung interdisziplinärer, standortübergreifender oder ggf. internationaler Teams, da die Subkulturen und die bestehenden verfestigten Wirklichkeitsannahmen in einzelnen Funktionen, an einzelnen Standorten oder ggf. in unterschiedlichen Ländergesellschaften oftmals schon deutliche, möglicherweise konstruktiv nutzbare
TP
427 PT
Vgl. Smith/Johnson/Johnson 1984:202; ähnlich Turner/Pratkanis 1997:64f
177
Unterschiede aufweisen. Für Diversität an Wissen, Erfahrungen und Meinungen kann zudem auch die temporäre Einbeziehung von externen Personen aus völlig anderen Fach- und Arbeitsbereichen oder Lebenswelten sorgen.428 Wichtig ist bei dieser Diversität nur, den gemeinsamen Rahmen an Kommunikations- und Konfliktnormen kollektiv so zu definieren, dass ergebnisoffene, konstruktive und wechselseitig respektvolle sachliche Konflikte möglich sind. In Implementierungsprozessen wird oftmals eine höhere Homogenität angestrebt, um eine schnelle und einheitliche Umsetzung zu erreichen. Allerdings sollten auch hier abweichende Meinungen und Diskussionen nicht permanent unterdrückt werden, da dies zum einen langfristig auf die wahrgenommenen Konfliktnormen und damit auf die Konfliktkultur wirkt, zum anderen auch Umsetzungsprozesse Verbesserungspotenzial enthalten können, die nur durch erstmalige Exteriorisierungen von Irritationen und Alternativen entdeckt werden und nutzbar sind. Eine Ausnahme bei den Heterogenitätsvorteilen bilden die bereits angesprochenen Konfliktnormen. Hierbei muss in den Gruppen ein einheitliches Verständnis vorhanden sein und umgesetzt werden, um emotionale Eskalationen von Konflikten zu verhindern. Einheitliche Konfliktnormen und ihre Beachtung in Interaktionen bilden den notwendigen stabilisierenden Rahmen für die Vorteile von fachlicher und persönlicher Diversität. TP
PT
Die individuellen Einstellungen zu Konflikten, die Kommunikations- und Diskussionsfähigkeiten sowie dafür grundlegende Werte wie Toleranz und Offenheit der einzelnen Interaktionsteilnehmer bilden weitere wichtige Rahmenbedingungen für das jeweilige Konfliktverhalten und damit den Interaktionsverlauf, sind durch das Management aber kaum beeinflussbar, da sie zum einen durch langfristige Lernprozesse in der Persönlichkeitsentwicklung entstanden sind, zum anderen aufgrund der Autonomie und Selbstreferentialität des Menschen nicht deterministisch beeinflusst werden können. Führungskräfte sollten sich zunächst darüber bewusst sein und es akzeptieren, dass Menschen unterschiedliche Erfahrungen mit Konflikten gesammelt haben und entsprechend unterschiedliche Einstellungen dazu haben. Nicht jedes Gruppenmitglied empfindet intensive Diskussionen als angenehm und beteiligt sich an ihnen, nicht jeder kann Konflikte aushalten oder Feedback als konstruktiv annehmen. Führungskräfte sollten aber bewusst versuchen, möglichst alle Personen in solche konstruktiven organisationalen Diskussionen und Konflikte zu involvieren und zu Meinungsäußerungen zu ermutigen, da gerade solche Gruppenmitglieder, die sich bisher weniger aktiv an der gemeinsamen Konstruktion sozialer Wirklichkeit beteiligt haben, ggf. völlig neue Ansichten in den organisationalen Interaktionsraum einbringen und damit Potenzial für Reflexion und Veränderungen stiften können. Insbesondere solche für Personen, die sich entsprechend ihrer Persönlichkeitsstruktur selten an solchen Auseinandersetzungen
TP
428 PT
Vgl. z.B. Higgins/Wiese 1996:40f.
178
beteiligen, ist die konsequente Einhaltung der beschriebenen Kommunikationsregeln für einen toleranten und respektvollen Umgang miteinander als Vertrauensbasis und Verhaltenssicherheit besonders wichtig. Gerade der Zweifel an den eigenen Konfliktfähigkeiten ist oftmals der Grund für die Angst vor einer konstruktiven Konfliktbearbeitung.429 Durch das wiederholte Erleben von erfolgreichen konstruktiven Konfliktverläufen im organisationalen Umfeld und von eigenen Exteriorisierungen, die wahrgenommenen und in der sozialen Wirklichkeitskonstruktion berücksichtigt werden, kann es vor allem bei diesen Gruppenmitgliedern zur langsamen Veränderung ihrer Einstellungen und Fähigkeiten zu Konflikten kommen, wenn die bestehenden Deutungsmuster der individuellen Wirklichkeitsordnungen modifiziert und durch die Viabilitätserlebnisse verändert stabilisiert werden. Über diese aktive Einbeziehung aller Beteiligten hinaus können Führungskräfte auf das individuelle Verhalten der Gruppenmitglieder vor allem durch das konsequente Vorleben der angestrebten Konfliktkultur und durch die Sanktionierung von Abweichungen Einfluss nehmen. Die Möglichkeiten zur Veränderung der Konflikteinstellungen und -fähigkeiten einzelner Beteiligter durch Personalentwicklungsmaßnahmen wie Trainings oder Coaching sind durch die gleichen Bedingungen limitiert wie dies für die Führungskraft gilt: sie sind langfristig erlernt und können nicht determiniert werden. Da die Veränderung dieser individuellen Deutungsmuster aber ihre Irritation voraussetzt und durch alternative Deutungsangebote unterstützt werden kann, bieten die vielfältigen Varianten des Gruppen- und Einzeltrainings, in denen das Verhalten der Beteiligten beobachtet und mit ihnen besprochen wird, Ansatzpunkte zur Reflexion, Hinterfragung und ggf. Modifikation der individuellen Verhaltensweisen.430 TP
PT
TP
PT
Innerhalb der konkreten Konfliktinteraktion sind vor allem die Variablen Konflikttyp, Konfliktthema, Ablauf der Interaktion und Zeit-/Entscheidungsdruck Einflussfaktoren für den Konfliktverlauf mit Relevanz und Gestaltungsmöglichkeiten für das Management. Ein Schlüsselfaktor für den Verlauf von Konflikten ist die Unterscheidung zwischen kognitiven und affektiven Konflikten. Konstruktive Konflikte als Ausgangspunkt für organisationale Lern- und Veränderungsprozesse können nur kognitive, sachbezogene Konflikte sein. In ihnen diskutieren die Interaktions-mitglieder unterschiedliche Sichtweisen, Meinungen und Ideen zu fachlichen, organisationalen oder anderen sachbezogenen Themen, ohne andere Interaktionsteilnehmer persönlich anzugreifen. Affektive Konflikte sind hingegen durch emotionale Eskalation gekennzeichnet, werden von den Beteiligten als Bedrohung wahrge429 TP
PT
TP
430 PT
Vgl. Tjosvold 1993:23 Einen Überblick zu Personalentwicklung, Training und Coaching bieten u.a.: Geßner 2000; Schreyögg 2001; Backhausen/Thommen 2006
179
nommen und führen zu Frustrationen. Eine sachliche, ergebnisoffene und reflektierende Diskussion der Sachthemen ist in solchen Konfliktinteraktionen nicht mehr möglich. Das heißt jedoch nicht, dass solche Konflikte keine Emotionen enthalten dürfen oder diese unterdrückt werden sollen. Zum einen sind auch kognitive Konflikte meist mit emotionaler Involviertheit verbunden, zum anderen können Emotionen Probleme und Streitpunkte aufzeigen und damit Diskussionen und Konflikte einleiten. Es ist aber wichtig, Gefühle überlegt und möglichst reflektiert auszudrücken, ohne dabei andere zu verletzen. Hierbei kommt erneut der Einhaltung von Kommunikations- und Konfliktnormen in der Gruppe eine entscheidende Bedeutung zu. Die Unterscheidung zwischen kognitiven und affektiven Konflikten ist demnach nicht trennscharf; es gibt keine Checklisten oder klar ersichtlichen Anzeichen, wann eine Konfliktinteraktion zu kippen beginnt. Treten deutliche Symptome affektiver Konflikte auf, also hohe Emotionalität und Anspannung, wechselseitige Anfeindungen, Aggressivität u.s.w., ist es meist schon zu spät. Durch Reflexion des Konfliktverlaufes und des eigenen Verhaltens kann aber die emotionale Eskalation der Interaktion verhindert werden. Diese Herausforderung – Beteiligung am Konflikt und seine gleichzeitige Reflexion – stellt sich für alle Interaktionsmitglieder. Gerade die Führungskraft steht hier aber in der Verantwortung, das Geschehen im Interaktionsraum permanent zu hinterfragen und Ansätze emotionaler Eskalation, die von den Exteriorisierungen einzelner Beteiligter ausgehen, zu thematisieren und zu unterbinden. Ggf. kann es sinnvoll sein, eine Person als externen, unbeteiligten Beobachter einzusetzen, der bei Eskalationen interveniert, das Verhalten reflektiert und alternative Handlungsmöglichkeiten aufzeigt. Trotz aller Reflexionen und Interventionen wird es aber immer eskalierende Konflikte geben. Ist diese emotionale Eskalation von Konflikten nicht (mehr) zu verhindern, weil entweder zu spät interveniert wurde oder das Konfliktthema in Verbindung mit den Zielen, Einstellungen und Fähigkeiten der Konfliktbeteiligten keinen konstruktiven sachbezogenen Verlauf ermöglicht, sind klassische Methoden der psychologischen Konfliktforschung, wie z.B. die Mediation zwischen zwei Parteien, notwendig, im Extremfall auch eindeutige Führungsentscheidungen sowohl in inhaltlicher Hinsicht bezüglich des Konfliktthemas als auch hinsichtlich der Gruppenbeziehung, ggf. bishin zur Versetzung von Personen in andere Gruppen und Abteilungen. Eine Führungskraft sollte dabei aber allen Beteiligten ermöglichen, ihr Gesicht zu wahren, und die Probleme möglichst direkt mit den Betroffenen klären, ohne sie in die Gruppe zu tragen. Bei den Konfliktthemen sollte es im Sinne einer irritations- und lernbereiten Konfliktkultur grundsätzlich keine Tabuthemen geben. Eine Ausnahme bilden persönliche Attacken auf andere Interaktionsbeteiligte, was aber in den überwiegenden Fällen primär eine Frage der Formulierung und nicht des Inhaltes ist. Die psychologische Konfliktforschung kommt in Studien zu dem Ergebnis, dass 180
Konflikte um Routinethemen mit höherer Wahrscheinlichkeit negativ von den Beteiligten wahrgenommen und zu emotionalen Konfliktentwicklungen führen werden. Eine Führungskraft muss dies im Konfliktmanagement beachten, sollte aber trotz dessen nicht davor zurückscheuen, auch Routinen infrage zu stellen und zu diskutieren. Sie sind lediglich bisher praktizierte und (anscheinend) bewährte Vorgehensweisen, für die es aber durchaus bessere Alternativen geben kann. Gerade Routinen sind oftmals ein Ausdruck für Konservatismus und Veränderungsbarrieren in Organisationen. Daher sollten Manager im Sinne einer lernbereiten Unternehmenskultur gerade hierauf ein besonderes Augenmerk legen. Eine Möglichkeit zur Thematisierung von Routinen ohne Frustration bei den Mitarbeitern kann die Verdeutlichung von Diskussions- und Veränderungsbedarf durch die Darstellung von externen Veränderungen und deren Auswirkungen auf die Organisation sein. Wichtig für eine konstruktive Nutzung von Konflikten und die Thematisierung von abweichenden Meinungen sind zeitliche Freiräume in den organisationalen Interaktionsprozessen. Gerade wenn solche konfliktären Standpunkte und Diskussionen zur Reflexion verfestigter organisationaler Deutungsmuster führen sollen, muss dafür Zeit eingeräumt werden. Wie im Bezugsrahmen gezeigt, liegt die Funktion der Stabilisierung und Tradierung von Deutungsmustern in der Vereinfachung und damit auch Beschleunigung von alltäglichen Handlungen, indem Beobachtungen nicht permanent bewusst interpretiert und hinterfragt werden müssen. Gruppendiskussionen und Entscheidungsprozesse unter Zeitdruck werden daher mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Rückgriff auf diese verfestigten Wirklichkeiten führen. Die Reflexion der bestehenden Annahmen, ihre Wahrnehmung als von der Gruppe/Organisation konstruierte, aber nicht alternativlose Prämissen und die Suche nach alternativen Deutungsmöglichkeiten braucht Zeit. Genauso brauchen Meinungsminderheiten einen gewissen zeitlichen Freiraum in Interaktionen, um mit ihren vom Bestehenden abweichenden Ansichten im sozialen Interaktionsprozess Einfluss zu finden, wie die Minority dissent-Forschung gezeigt hat. Sätze wie „Dafür haben wir jetzt keine Zeit“ oder „Das können wir auch ein anderes Mal diskutieren“ sind solche „Killerphrasen“ aus der Praxis, die Reflexion und Veränderung auslösende Diskussionen und Konflikte unterdrücken. Da der Organisationsalltag diese Freiräume oft nicht spontan ermöglicht, sollte das Management diese Zeiträume in Form regelmäßiger Interaktionen im Alltagsgeschäft (z.B. wöchentliche Meetings) sowie außergewöhnlichen, aus dem Arbeitsalltag herausgelösten Veranstaltungen (z.B. Klausurtagungen, Workshops) institutionalisieren. Aber auch die freie und informelle Kommunikation zwischen Organisationsmitgliedern sowie die permanente Bereitschaft des Vorgesetzten, sich mit Ideen und Problemen der Mitarbeiter offen auseinanderzusetzen, kann solche irritationsthematisierenden und lernauslösenden Interaktionen ermöglichen. 181
Damit einhergehend ist es in konkreten Interaktionen, in denen unterschiedliche Positionen thematisiert werden, wichtig, bei der Konfliktbearbeitung deutlich zwischen einer Differenzierungs- und einer Integrationsphase zu unterscheiden, um einerseits vorschnelle Kompromisse oder Negierungen von Alternativpositionen, andererseits emotionale Eskalationen und die Unterminierung der Gruppenkohäsion zu vermeiden. In der Differenzierungsphase werden unterschiedliche Positionen generiert, geschärft und gegeneinander diskutiert, in der Integrationsphase wird dann gemeinsam nach einer optimalen Lösung gesucht. Die Führungskraft hat mit ihrem Verhalten und durch die offene Kommunikation der Diskussionsstrukturierung die Möglichkeit, in ablaufenden Interaktionen die soziale Wirklichkeitskonstruktion auf Unterschiede oder Gemeinsamkeiten zu fokussieren. Wenn der Diskussionsrahmen dies zulässt, kann es in der Differenzierungsphase sinnvoll sein, die widersprüchlichen Positionen nicht sofort im Interaktionsraum gegeneinander zu entwickeln und zu diskutieren, sondern beide Positionen zuerst getrennt voneinander auszuarbeiten, entweder in zwei bzw. mehreren Gruppen oder innerhalb der gesamten Gruppe unter bewusstem Verzicht auf Bewertungen. Durch dieses Vorgehen kann verhindert werden, dass verschiedene, auch zunächst abwegige oder scheinbar ungangbare Ideen vorschnell verworfen werden, wie dies gerade auch bei der Entwicklung und Thematisierung irritierender Deutungsalternativen für verfestigte und unhinterfragte Wirklichkeitskonstruktionen eine Gefahr ist. Dieses Vorgehen bietet sich an, wenn die unterschiedlichen Positionen von Gruppenteilnehmern bereits bekannt sind und der zeitliche Freiraum besteht, diese zu diskutieren.431 TP
PT
Die intentionale Stimulation von Konflikten bietet eine Möglichkeit, die aufgezeigten Chancen konstruktiver Konflikte für die Hinterfragung und Modifikation organisationaler Wirklichkeitsannahmen aktiv zu nutzen. In der psychologischen Konfliktforschung ist dieses Vorgehen nicht unumstritten, wie in Kap. 4.1.3 und 5.3.5 gezeigt wurde, da die Gefahren einer Eskalation des Konfliktes und über die Interaktion hinausreichender Folgen für die Gruppenbeziehung durchaus gegeben sind. Dies sollte aber eine Führungskraft nicht davon abhalten, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Entscheidend ist die Berücksichtigung der bisher genannten Rahmenbedingungen, insbesondere die Reflexion der ablaufenden Interaktion, die Einhaltung der Kommunikations- und Konfliktaustragungsnormen und die Verhinderung der emotionalen Eskalation. Als Ansatzpunkte für die Stimulation von Konflikten bieten sich natürlich zum einen die bisher diskutierten Rahmenbedingungen an, die ja letztlich genau darauf abzielen, ein diskussionsfreudiges und konflikttolerantes Klima in Gruppen und Organisationen zu etablieren und Konflikte künstlich heraus zu kristallisieren bzw. sie der Gruppe bewusst zu machen. Weitere Ansatzpunkte für die Konfliktstimulation
TP
431 PT
Vgl. Kap. 5.3.4
182
sind die Interaktionsthemen und das Verhalten der Führungskraft. Für die Initiierung einer konstruktiven, kritischen und reflektierenden Konfliktinteraktion empfehlen sich neben den in Kap. 5.2.5 aufgeführten allgemeinen Führungsgrundsätzen für eine moderierende Führungskraft folgende grundsätzliche Kommunikations- und Verhaltensprinzipien:432 - bezüglich des Diskussionsinhaltes zunächst möglichst neutral bleiben - Teilnehmer mit widersprechenden Sichtweisen konfrontieren und Opposition in Diskussionen herausarbeiten - auf Widersprüche und Inkonsistenzen in Argumentationen hinweisen - Teilnehmer ermutigen, Position zu beziehen - Teilnehmer aber auch darin bestätigen, wenn sie in ihrer Meinung offen und flexibel bleiben und bei neuen Argumenten und Beweisen bereit sind, sich überzeugen zu lassen und ihre Meinung zu ändern - Teilnehmer dazu ermutigen, Alternativen von anderen Standpunkten aus zu überlegen. TP
PT
Durch ihre herausgehobene Deutungsmacht in sozialen Interaktionen hat die Führungskraft die Möglichkeit des Agenda settings und damit auch die Chance, Themen in die Interaktion einzubringen, die sie für hinterfragenswert hält und als mögliche Ausgangspunkte alternativer Deutungen ansieht. Eine sehr einfache Variante, bestehende Deutungsmuster zu irritieren, Routinen zu stören und alternative Denkweisen anzuregen, besteht darin, bisherige Annahmen, Prozesse und Routinen immer weiter nach ihren Gründen, dem „Warum“ zu hinterfragen. Darüber hinaus gibt es in jeder Gruppe eine Reihe von Themen, zu denen unterschwellig unterschiedliche Meinungen und Interessenslagen bei ihren Mitgliedern bestehen. Diese kann ein Teamleiter bei Gelegenheit thematisieren und die verschiedenen Interessensvertreter bewusst auf ihren Standpunkt hin ansprechen. Auch die Verdeutlichung möglicher negativer Szenarien, die sich aus der Weiterführung des Status quo ergeben (z.B. mittels analoger Beispiele aus anderen Unternehmen oder Branchen), können zur Initiierung einer Diskussion über verfestigte Annahmen, Betrachtungsperspektiven und Routinen dienen, wobei ggf. auch Zuspitzungen und Übertreibungen ein passendes Mittel zur Irritation sein können. Die klassische Methode „Devil´s Advocate“, die insbesondere durch die Groupthink-Forschung populär wurde, ist bereits beschrieben worden. Dabei nimmt eine Person, ggf. die Führungskraft, permanent die Gegenposition zu im Interaktionsraum entwickelten sozialen Wirklichkeitskonstruktionen ein und zwingt damit zur Reflektion der bestehenden Annahmen und zeigt ggf. alternative Deutungsmöglichkeiten auf.
TP
432 PT
Vgl. Smith/Johnson/Johnson 1984:202
183
Die Führungskraft muss bei diesen künstlichen Konfliktinitiierungen natürlich darauf achten, dass die Interaktionen nicht eskalieren und die initiierten kognitiven Auseinandersetzungen in affektive Konflikte mit Ängsten, Frustrationen und gegenseitigen Verletzungen umschlagen. Hierbei ist letztlich wieder die Einhaltung der Konflikt- und Kommunikationsregeln sowie die Reflexions- und Deeskalationsfähigkeit der Führungskraft und aller Teammitglieder notwendig, die oben bereits mehrfach angesprochen wurde. Die dargestellten Managementempfehlungen, die aus den theoretischen Grundlagen der Arbeit und dem Modell der Rahmenbedingungen abgeleitet wurden, können und sollen keine konkreten Handlungsanweisungen, Checklisten oder Tools liefern, mit denen Führungskräfte garantiert konstruktive, nicht emotional eskalierende Konflikte in ihren Gruppen initiieren und durchführen und mit denen sie die Irritation, Reflexion und Modifikation verfestigter Deutungsmuster und Routinen erreichen. Wie bereits an mehreren Stellen der Arbeit betont wurde, gibt es keine Möglichkeit der deterministischen Führung von Menschen und Steuerung von Interaktionen, Gruppen und Organisationen. Vielmehr stellen Empfehlungen gedankliche Ableitungen aus den theoretischen Grundlagen und Erkenntnissen des Modells dar, die zur Reflexion des eigenen Führungsverhaltens anregen und alternative Beobachtungs- und Handlungsmöglichkeiten aufzeigen sollen.
184
6
Zusammenfassung
Die Arbeit beschäftigt sich mit der Fragestellung, ob zwischenmenschliche Konflikte der Ausgangspunkt und Anstoß für organisationale Veränderungen sein können. In der bisherigen Erforschung organisationalen Wandels wurde die eigentliche Entstehung der Veränderungsidee in der Organisation nur von wenigen Ansätzen thematisiert und ansonsten weitgehend ausgeblendet. Sowohl in organisationstheoretischen Modellen als auch in Change-Management-Ansätzen werden als Auslöser für Veränderungen meist externe Faktoren wie z.B. Marktveränderungen, Innovationen oder gesellschaftliche Entwicklungen angenommen. Wie diese Faktoren aber zur tatsächlichen Veränderung in der Organisation führen, bleibt oft unbeantwortet. Die Praxis zeigt, dass externe Entwicklungen von Organisationen und Managern unterschiedlich wahrgenommen und bewertet werden. Eine einzig richtige oder zwingend notwendige Bewertung und Handlungskonsequenz gibt es dabei nicht, eine Organisation ist in ihren Entscheidungen grundsätzlich frei. Externer Wandel ist somit kein automatischer Auslöser für organisationale Veränderungen. Konstruktivistische Organisationstheorien füllen diese Erklärungslücke, indem sie zeigen, dass organisationaler Wandel nur durch die Modifikation der individuellen und kollektiven Wirklichkeitskonstruktionen erfolgt, welche wiederum die Irritation und Störung der bestehenden Wirklichkeitsannahmen zur Voraussetzung hat. Dies führt zur Forschungsfrage, ob zwischenmenschliche Konflikte unter bestimmten Bedingungen zu Irritationen und damit Wandel führen können. Die Zielsetzung der Arbeit ist es, diese Fragestellung durch die Zusammenführung konstruktivistischer Organisationstheorien mit der psychologischen Konfliktforschung theoretisch zu beantworten und ein Modell für die praktische Umsetzung der Erkenntnisse in Organisationen zu entwickeln, welches durch Experteninterviews illustriert und in seiner Nützlichkeit geprüft werden sollte. Die erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundlage der Arbeit bildet der radikale Konstruktivismus. Er postuliert, dass der Mensch aufgrund der operativen Geschlossenheit seines Bewusstseins keinen Zugang zu einer objektiven, subjektunabhängigen Welt hat, sondern seine Wirklichkeit individuell konstruiert. Im Bezugsrahmen der Arbeit, der auf dem Modell der Wirklichkeitsräume von Frindte aufbaut, wird diese individuumsbezogene Grundlage um die sozialkonstruktivistische Perspektive ergänzt, wonach das Individuum bei dieser Konstruktion seiner Wirklichkeit in vielfältiger Weise von anderen Menschen und sozialen Systemen beeinflusst wird. Diese individuellen Wirklichkeitskonstruktionen erfolgen somit in vielfältigen personalen und kollektiven Systemen, die im Modell zu vier Ebenen zusammengefasst sind. Im Sinnraum, der ersten Modellebene, konstruiert der Mensch seine individuellen Wirklichkeiten, indem er durch die Anwendung seiner bestehenden Wirklichkeitsordnung im Alltagsstrom Ereignisse wahrnimmt und interpretiert. Alles Geschehen im Alltagsstrom einschließlich des Verhaltens anderer Menschen ist 185
zunächst bedeutungslos und erhält erst durch die Einklammerung und Interpretation einen Sinn. Bei der Anwendung der Wirklichkeitsordnung in der Beobachtung wird diese rekursiv verfestigt, solange die Interpretationen viabel erscheinen, sich das Anschlussgeschehen wie erwartet weiterentwickelt und eigene Handlungen als zielführend wahrgenommen werden. Unterstützt wird diese rekursive Verfestigung durch Assimilationsprozesse in der Wahrnehmung, bei denen die Ereignisse in der Beobachtung bereits an die Wirklichkeitsordnung angepasst werden. Die permanente rekursive Verfestigung der bestehenden Wirklichkeitsordnung führt zum Eindruck ihrer Alternativlosigkeit. Individuelles Lernen als Modifikation der Wirklichkeitsordnung ist erst möglich, wenn Irritationen durch Nicht-Viabilität von Interpretationen oder durch alternative Deutungsmöglichkeiten nicht assimiliert werden. Der Prozess der Wirklichkeitskonstruktion findet jedoch nicht isoliert, sondern fast ausschließlich in Interaktionen mit anderen Menschen statt. Im Interaktionsraum als zweiter Modellebene werden individuelle Wirklichkeitskonstruktionen exteriorisiert und dabei an bestehende Sprach- und Sozialregeln angepasst. Durch die wechselseitige Bezugnahme auf Interaktionsbeiträge anderer Personen entsteht eine soziale Wirklichkeitskonstruktion, die von den Beteiligten interiorisiert wird. Die Wahrnehmung und Interpretation der Interaktionsbeiträge anderer Personen und der entstehenden sozialen Wirklichkeit ist aber aufgrund der operativen Geschlossenheit des menschlichen Bewusstseins individuell einzigartig. Wechselseitiges Verstehen als Interaktionsziel ist nur als Angleichung der Konstruktionen für gemeinsames, viables Handeln möglich, nicht aber als Informationsweitergabe oder deterministische Beeinflussung anderer Personen. Durch regelmäßige Anwendung von und Bezugnahme auf konkrete soziale Wirklichkeitskonstruktionen verfestigen sich diese und führen zu stabilen Interaktionsräumen, die im Modell als Deutegemeinschaften bezeichnet werden und im Bedeutungsraum als dritte Modellebene angesiedelt sind. Organisationen sind solche Deutegemeinschaften, in denen sich Individuen bei der Wirklichkeitskonstruktion auf bewährte, gemeinsame und geteilte Deutungsmuster beziehen und somit aufeinander abgestimmt und zielgerichtet beobachten und handeln können. Deutegemeinschaften werden mit zunehmender Komplexität ihrer stabilen sozialen Wirklichkeitskonstruktionen zu selbstorganisierenden Sozialsystemen mit emergenten Eigenschaften. Der einzelne Mensch ist zwar die entscheidende Systemkomponente, die organisationales Beobachten und Verhalten ermöglicht; das System selbst entwickelt sich aber unabhängig und ist von einzelnen Personen nicht deterministisch zu steuern. Die vierte Modellebene, der Möglichkeitsraum, beinhaltet das umfassende gesellschaftliche System mit kulturellen, wirtschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Strukturen und Prozessen, die den Kombinationshorizont gesamtgesellschaftlicher Wirklichkeitsangebote bilden. Im Zentrum des Modells steht das Individuum mit seinem Sinnraum, in dem es autonom und nicht determinierbar seine individuelle Wirklichkeit auf der Basis seiner bisherigen Wirklichkeitsordnung konstruiert. Die vielen anderen Sozialsysteme, die in den Modellebenen Interaktions-, Bedeutungs- und Möglichkeitsraum zusammen186
gefasst sind, bieten Möglichkeiten der Wirklichkeitskonstruktion an, können aber weder das Individuum noch sich untereinander deterministisch beeinflussen. Basierend auf diesem Bezugsrahmen wurden eine konstruktivistische Konfliktkonzeption und ein konstruktivistisches Verständnis von organisationalem Wandel hergeleitet. Ein Konflikt ist aus der konstruktivistischen Perspektive dieser Arbeit eine spezielle Interaktion – also ein Prozess wechselseitiger Anregung zur Wirklichkeitskonstruktion – bei dem zumindest ein Interaktionspartner die Unvereinbarkeit einer exteriorisierten Wirklichkeitskonstruktion eines anderen mit seiner eigenen Deutungen wahrnimmt, eine gemeinsame soziale Wirklichkeitskonstruktion für notwendig erachtet und durch Exteriorisierungen versucht, die eigenen Deutungen gegen die der anderen Person in der sozialen Wirklichkeitskonstruktion durchzusetzen. Konflikte sind grundsätzlich verlaufs- und ergebnisoffen, d.h. sie sind nicht per se destruktiv, schädlich oder emotional eskalierend, sondern in ihrem Prozess und ihren Konsequenzen von der Beobachtung und dem Verhalten der Beteiligten im Interaktionsraum abhängig. Organisationaler Wandel ist im Verständnis dieser Arbeit als Veränderung der bestehenden geteilten Deutungsmuster nur durch die Verknüpfung von individuellen Lernprozessen und sozialen Interaktionsprozessen möglich. Chancen oder Notwendigkeiten alternativer organisationaler Deutungen können nur durch Individuen wahrgenommen und in die Organisation eingebracht werden; das Sozialsystem Organisation hat keine anderen Möglichkeiten der Beobachtung. Da das Sozialsystem gleichzeitig weitgehend unabhängig vom einzelnen Mitglied ist und von ihm nicht deterministisch geändert werden kann, bedarf es der Thematisierung dieser individuellen Deutungsalternativen im organisationalen Interaktionsraum. Dort können sie zu akzeptierten sozialen Wirklichkeitskonstruktionen werden, die von den anderen Interaktions- bzw. Organisationsmitgliedern interiorisiert, i.d.R. schriftlich fixiert oder anderweitig formalisiert und im organisationalen Beobachten und Handeln angewandt werden. Durch die Bestätigung dieses neuen Deutungsmusters in seiner Anwendung wird es auf Dauer rekursiv verfestigt und verändert die organisationale Wirklichkeitsordnung im Bedeutungsraum. Organisationen sind jedoch wegen der Selbstreferentialität ihrer Mitglieder und sanktionierender sozialer Regeln im Interaktionsraum grundsätzlich konservativ, d.h. in der fortlaufenden Konstruktion der organisationalen Wirklichkeit, welche u.a. das Selbstverständnis, die Bezugsgruppen, Grenzen, Strukturen, Prozesse etc. der Organisation umfasst, wird die bestehende Wirklichkeitsordnung angewandt und bei Viabilität, die auch durch Assimilationsprozesse unterstützt wird, rekursiv verfestigt. Organisationale Lern- und Veränderungsprozesse benötigen als Voraussetzung daher erstens Störungen und Irritationen der bewährten Konstruktionsprozesse und Deutungsmuster, welche nur durch Individuen im Sinnraum wahrnehmbar sind, und zweitens deren Thematisierung im organisationalen Interaktionsraum. 187
Eine solche Möglichkeit der Irritation und gleichzeitigen Thematisierung bieten zwischenmenschliche Konflikte im organisationalen Interaktionsraum mit organisationsbezogenen Themen. In ihnen werden mindestens zwei als nicht vereinbar wahrgenommene Deutungen thematisiert, sodass für ein verfestigtes organisationales Deutungsmuster zumindest eine potentielle Alternativdeutung individuell konstruiert und im Interaktionsraum exteriorisiert wurde. Gleichzeitig kann der Konflikt, also der Widerspruch gegen eine bestehende Deutung und die Exteriorisierung einer Alternativdeutung, für die anderen Interaktionsteilnehmer irritierend bezüglich der sicher und alternativlos geglaubten Wirklichkeitsannahmen wirken, solange der Widerspruch von den anderen Teilnehmern nicht z.B. aufgrund des früheren Verhaltens der widersprechenden Person oder ihrer Rolle erwartet wurde. Zwischenmenschliche Konflikte in organisationalen Interaktionen können somit alternative Möglichkeiten organisationsbezogener Deutungen enthalten, die durch konstruktive, sachliche und ergebnisoffene Konfliktaustragung zur Irritation der verfestigten Wirklichkeitsordnung, deren Thematisierung im organisationalen Interaktionsraum und schließlich ggf. zur Modifikation der organisationalen Wirklichkeitsordnung führen können. Der Zusammenhang zwischen organisationalem Wandel und zwischenmenschlichen Konflikten enthält aber auch aus umgekehrter Perspektive wichtige Implikationen für die Lern- und Veränderungsfähigkeit einer Organisation. Der notwendige Ausgangspunkt für organisationalen Wandel sind störende und irritierende Alternativdeutungen, die von einzelnen Individuen in organisationale Interaktionsprozesse eingebracht werden. Da im Moment der Exteriorisierung des Widerspruches gegen bewährte Deutungen und der irritierenden Alternativdeutungen die anderen Interaktionsbeteiligten i.d.R. die bewährten Deutungsmuster für viabel und richtig erachten und mit hoher Wahrscheinlichkeit durch die erstmalige Exteriorisierung nicht sofort vom Gegenteil überzeugt sind, entsteht hier gemäß Begriffsverständnis dieser Arbeit eine Konfliktinteraktion, deren weiterer Verlauf – bedingt durch das Verhalten der anderen Interaktionsbeteiligten – über die Wirksamkeit und weitere Bearbeitung der Alternativdeutung entscheidet. Die Fähigkeit und Bereitschaft der Organisationsmitglieder, abweichende Meinungen, Widerspruch und Konfliktinteraktionen zu akzeptieren und konstruktiv zu thematisieren, ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Individuen bereit sind, Irritationen und Alternativdeutungen als Grundlage von Wandel in organisationalen Interaktionen zu exteriorisieren. Die zentrale Kernthese der Arbeit ließ sich somit durch die Zusammenführung der konstruktivistischen Organisations- und Lerntheorien mit einer konstruktivistischen Konfliktkonzeption theoriegeleitet bestätigen: zum einen können zwischenmenschliche Konflikte bei konstruktiver und ergebnisoffener Bearbeitung der Ausgangspunkt organisationaler Veränderungen sein, zum anderen ist die Akzeptanz von und der Umgang mit Konflikten in Organisationen ein zentraler Einflussfaktor auf die Irritationstoleranz, Reflexions- und damit Lern- und 188
Veränderungsfähigkeit einer Organisation. Der Zusammenhang zwischen Konflikt und Wandel ist aber nicht deterministisch. Nicht jeder Konflikt enthält Irritations- und Veränderungspotenzial in Bezug auf die organisationale Wirklichkeitsordnung, nicht jeder Konflikt kann im Organisationsalltag zur Reflexion organisationaler Gewissheiten genutzt werden und nicht jede thematisierte und reflektierte Irritation in Konflikten wird tatsächlich zu organisationalen Veränderungen führen. Andererseits verändert sich eine Organisation aber nicht automatisch durch externe Einflussfaktoren oder das Agieren einzelner Personen. Die Wirklichkeit einer Organisation und damit auch deren Veränderung ist eine kollektive Konstruktion, die nur durch kollektive Lernprozesse im Interaktionsraum verändert werden kann, was die Thematisierung von Irritationen und die Reflexion der verfestigten organisationalen Wirklichkeitsordnung voraussetzt. Zwischenmenschliche Konfliktinteraktionen bieten dafür Möglichkeiten, die durch gezieltes Konfliktmanagement und konstruktives Verhalten aller Beteiligten gefördert werden können. Aus der Vielzahl situativer und situationsübergreifender Rahmenbedingungen, die Einfluss darauf nehmen, ob Organisationsmitglieder abweichende Meinungen und Widerspruch exteriorisieren und ob in zwischenmenschlichen Konflikten Irritationen und alternative Deutungsmöglichkeiten wahrgenommen und thematisiert werden, wurden zehn besonders bedeutsame ausgewählt und anhand der bestehenden Ergebnisse der Konfliktforschung und angrenzender Forschungsgebiete sowie der durchgeführten Experteninterviews detailliert betrachtet. Wichtige situationsübergreifende Faktoren sind die Kommunikations- und Konfliktkultur in der Organisation, die Zielbeziehung der Beteiligten, die Diversität in den Gruppen und Interaktionen, die individuellen Einstellungen und Fähigkeiten der Beteiligten sowie das generelle Führungsverhalten in der Gruppe bzw. Organisation. Eine offene, tolerante und respektvolle Kommunikations- und Konfliktkultur ist Grundlage für die Bereitschaft zur Exteriorisierung und Diskussion abweichender und irritierender Meinungen. Dabei sind weniger die formal fixierten Regeln einer Organisation relevant, als vielmehr die tatsächlich ge- und erlebten Werte, die durch Bestätigungen, Sanktionen und Interventionen von Führungskräften und anderen Konfliktbeteiligten im Interaktionsraum real werden und als Konflikterfahrungen das zukünftige Verhalten der Beteiligten beeinflussen. Klare, verbindliche und verlässlich durchgesetzte Regeln können insbesondere in kontroversen Diskussionen und Konflikten einen stabilen Rahmen bieten und trotz unvereinbarer Positionen und engagierter Interaktion eine emotionale Eskalation verhindern. Eine weitere wichtige Voraussetzung für die Bereitschaft zur vertrauens- und respektvollen, toleranten und ergebnisoffenen Konfliktaustragung sind wahrgenommene kooperative Zielbeziehungen zwischen den Beteiligten. Die Forschungsergebnisse und Interviews zeigten, dass das Bewusstsein einer wechselseitigen, gleichgerichteten Abhängigkeit in einer Win-win-Konstellation zu kooperativen Verhaltensweisen, dem wechselseitigen Zuhören und Verstehen sowie der gemeinsamen Suche nach einer besten Lösung führen. Insbesondere das 189
Management ist gefordert, solche kooperativen Zielbeziehungen herzustellen, zu unterstützen und immer wieder bewusst zu machen, um die Wahrscheinlichkeit konstruktiver Konfliktaustragungen um abweichende und irritierende Meinungen zu erhöhen. Die Zusammenstellung der Gruppe bezüglich ihrer Diversität beeinflusst die Konflikthäufigkeit. Je heterogener Gruppen insbesondere hinsichtlich Wissen, Fähigkeiten und Erfahrungen, aber auch bezüglich der Persönlichkeiten und Charaktere ihrer Mitglieder zusammengestellt sind, um so höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass neuartige, von der verfestigten organisationalen Wirklichkeitsordnung abweichende Deutungsmuster auftreten und in den Interaktionen exteriorisiert werden, also Konflikte entstehen. Daher sollte das Management im Sinne einer irritationstoleranten und lernbereiten Organisation Gruppen je nach Aufgabenstellung regelmäßig neu, vielfältig und überraschend zusammenstellen. Der Kontakt und Austausch auch mit organisationsexternen Personen aus einem völlig anderen Umfeld kann hierbei interessante Irritationen und Anregungen liefern. Die Grenze der Heterogenität liegt in der Irritationsthematisierung und Diskussion lediglich in den bereits erwähnten Kommunikationsund Konfliktnormen, die zugunsten einer offenen und toleranten Konfliktaustragung von allen Beteiligten geteilt, akzeptiert und befolgt werden sollten. Die individuellen Einstellungen der Konfliktbeteiligten gegenüber Konflikten im Allgemeinen, den anderen Interaktionsteilnehmern oder dem Interaktionsthema sowie ihre Fähigkeiten zur offenen und toleranten Kommunikation und Konfliktaustragung beeinflussen deren Verhalten in organisationalen Interaktionen unmittelbar und damit auch die Beziehungsgeschichte der Beteiligten, die Gruppen- und Organisationskultur und die konkrete Konfliktinteraktion. Individuelle Einstellungen und Fähigkeiten sind nur schwer veränderbar und ohne die Einsicht und Bereitschaft der Beteiligten unmöglich, wie die konstruktivistischen Lerntheorien zeigen. Den Interaktionsbeteiligten und vor allem den Führungskräften muss die Unterschiedlichkeit der Individuen und die Bedeutung dieses Faktors in Konflikten aber zumindest bewusst sein; ggf. kann durch Persönlichkeits- und Teamentwicklungsmaßnahmen konstruktives Verhalten aufgebaut und unterstützt sowie destruktives Verhalten reflektiert und eingeschränkt werden. Das Verhalten der Führungskraft im organisationalen Alltag ist ein entscheidender Faktor für die grundsätzliche Bereitschaft der Gruppen- und Organisationsmitglieder zur Exteriorisierung von Irritationen und zur ergebnisoffenen Diskussion. Nur durch konsistentes Verhalten, persönliches Vorleben, Einfordern von Meinungen und Widerspruch sowie bewusste Bestätigung von irritationserzeugendem Verhalten können Führungskräfte in ihren Gruppen und Organisationen eine kritik-, irritationsund konfliktoffene Kultur etablieren und somit die Reflexions- und Wandelfähigkeit erhöhen. Dabei muss jedem bewusst sein, dass bereits ein einmaliges abweichendes Verhalten, z.B. ein als unberechtigt wahrgenommenes Zurückweisen 190
von Kritik oder Widerspruch, alle zuvor formulierten und/oder gelebten Normen zunichte machen kann. In der konkreten Konfliktsituation wurden als besonders wichtige Faktoren der Konflikttyp, das Thema, der Prozessablauf, der Zeit- und Einigungsdruck sowie das Konfliktmanagement untersucht. Konflikte können nur konstruktiv im Sinne dieser Arbeit verlaufen, wenn sie möglichst sachlich geführt werden und nicht emotional eskalieren. Daher sind alle Beteiligten gehalten, das eigene Verhalten zu reflektieren und bewusst zu wählen, persönliche Angriffe, Beleidigungen etc. zu unterlassen, wahrgenommene Eskalationen zu thematisieren und möglichst sachlich und zielorientiert zu diskutieren. Dieses Verhalten wird natürlich erheblich durch die dargestellten situationsübergreifenden Rahmenbedingungen, vor allem die Kommunikations- und Konfliktkultur, das Führungsverhalten, die Zielbeziehung und die individuellen Einstellungen und Fähigkeiten beeinflusst. Allerdings sollten Emotionen nicht unterdrückt werden. Sie sind ein grundlegender Bestandteil der individuellen Wirklichkeitsordnung, bieten wichtige Informationen über sich selbst und andere Beteiligte und beleben die Diskussion. Emotionsbegründetes Verhalten ist aber prinzipiell reflektier- und kontrollierbar. Kein Mensch wird in seinem Verhalten durch Emotionen oder durch das Verhalten anderer Menschen determiniert, eine emotionale Eskalation von Konflikten ist daher niemals zwingend und kann vermieden werden. In einer irritations- und konflikttoleranten sowie reflexions- und lernbereiten Organisation sollte es keine Tabuthemen für abweichende Meinungen, Widerspruch und Kontroversen geben. Je stärker ein Teil der Wirklichkeitsordnung die Identität einer Organisation bestimmt, desto höher werden zwar die Widerstände gegen Veränderungsbestrebungen sein. Ein prinzipieller Ausschluss der Hinterfragung und Veränderung von Themenbereichen schränkt aber die Lernfähigkeit der Organisation unnötig ein. Auch die Vermeidung von Konflikten zu Routinethemen in Organisationen, wie sie in Teilen der psychologischen Konfliktforschung aus empirischen Ergebnissen abgeleitet wird, widerspricht der prinzipiellen Reflexionsund Lernfähigkeit von Organisationen. Gerade Routinen sind als verfestigte, oftmals unhinterfragt angewandte Deutungsmuster Ausdruck des organisationalen Konservatismus und sollten durch Irritationen und Alternativdeutungen reflektiert werden. Führungskräfte sollten sich aber in ihrem Konfliktmanagement darüber bewusst sein, dass die Thematisierung von Widersprüchen und Konflikten zu Routinethemen zur Ablehnung und Frustration zumindest bei einigen Interaktionsteilnehmern führen kann. Ein einschränkender, destruktiv wirkender Faktor für Wandel initiierende Konflikte kann zu starker Zeit- und Einigungsdruck sein. Die theoretischen Ergebnisse und durchgeführten Interviews zeigten, dass im organisationalen Alltag oftmals wenig Freiraum für Irritation, Diskussion und Reflexion gefunden wird. Dieser Freiraum ist aber notwendig, damit abweichende Meinungen überhaupt konstruiert, exteriorisiert und thematisiert werden können. Ggf. sollte dafür außerhalb des Arbeitsalltages 191
regelmäßig Freiraum geschaffen werden, z.B. in Workshops, Klausurtagungen, speziellen Reflexionstagen usw. Ebenfalls hilfreich für die bewusste Suche, Exteriorisierung und Thematisierung von abweichenden Meinungen und Widersprüchen ist die klare und kommunizierte Aufteilung der Interaktion in zwei (ggf. wiederkehrende Phasen), eine Differenzierungs- und eine Integrationsphase. Dies ermöglicht einerseits die bewusste Beschäftigung mit Irritationen und Alternativen, führt diese aber später zu einer gemeinsamen sozialen Konstruktion zusammen. Hier liegt die Verantwortung für die Kommunikation und Einhaltung dieser Unterteilung bei der Führungskraft. Im Konfliktmanagement, also dem intentionalen Führungsverhalten zur Gestaltung von Konfliktinteraktionen in Organisationen, müssen sich alle bisher dargestellten Rahmenbedingungen wiederfinden. Die Führungskraft kann einen Interaktionsverlauf und das Verhalten der Beteiligten nicht deterministisch steuern, sie hat aber durch ihre herausgehobene Stellung i.d.R. einen bedeutenden Einfluss auf die soziale Wirklichkeitskonstruktion und trägt daher eine besondere Verantwortung für die allgemeinen Rahmenbedingungen sowie den konkreten Konfliktverlauf. Bei antizipierbaren Konflikten, an denen die Führungskraft beteiligt ist, kann das Hinzuziehen einer neutralen dritten Partei eine Möglichkeit der konstruktiven Konfliktbearbeitung sein, die dann anstelle der Führungskraft die Konfliktmoderation übernimmt. Im Rahmen des Konfliktmanagements bietet die bestehende Konfliktforschung eine Vielzahl von Ansätzen, Methoden und Tools zur konstruktiven Konfliktaustragung und Verhinderung bzw. Beilegung von Eskalationen. Für die Zielsetzung dieser Arbeit, die Thematisierung von Irritationen und Alternativen zur Reflexion und Veränderung von organisationalen Gewissheiten, ist aber unbedingt zu beachten, dass in vielen Konfliktmanagementansätzen die Konfliktvermeidung und schnelle Konfliktbeilegung durch Ausgleich und Kompromisse im Vordergrund steht. Organisationaler Wandel braucht aber abweichende Meinungen, Irritationen, Kontroversen und konstruktiv ausgetragene Konflikte bzw. profitiert zumindest davon. Daher kann auch die Stimulation von konstruktiven, sachlichen Konflikten hilfreich sein. Zielsetzung eines irritationstoleranten und lernbereiten Konfliktmanagements muss einerseits die Suche nach und Thematisierung von Widersprüchen, Irritationen und Deutungsalternativen sein, andererseits aber auch die Ausgestaltung der Rahmenbedingungen und Interventionen im Sinne konstruktiver, win-win-orientierter Kontroversen ohne emotionale Eskalationen. Die dargestellten Faktoren beeinflussen sich wechselseitig untereinander sowie das Verhalten der Beteiligten in der Konfliktinteraktion. Der Konfliktverlauf ergibt sich durch die wechselseitige Wahrnehmung der Interaktionsbeteiligten sowie ihre wechselseitige Bezugnahme aufeinander in ihren Exteriorisierungen. Weder die Rahmenbedingungen noch das Verhalten der anderen Personen determinieren aber das Verhalten eines Individuums. Jeder ist in seinem Verhalten grundsätzlich frei und hat mehrere Alternativen. Damit liegt die Verantwortung für den Verlauf und die 192
Konsequenzen eines Konfliktes trotz aller Rahmenbedingungen letztlich immer bei jedem einzelnen Beteiligten. Zusammenfassend gesagt hat die Arbeit gezeigt, dass es sich für das Management und alle Organisationsmitglieder lohnt, Konflikte nicht zu vermeiden oder schnellstmöglich beizulegen, sondern sie als potentielle Räume für Irritationen, Alternativdeutungen und Reflexionen zu betrachten und damit als Ausgangspunkte für organisationale Lern- und Veränderungsprozesse zu nutzen. Nicht jede Veränderung entsteht in zwischenmenschlichen Konflikten und nicht jeder Konflikt ist Ausgangspunkt organisationalen Wandels. Konflikte enthalten aber das Potenzial, verfestigte Wirklichkeitsannahmen zu irritieren und Alternativen in die organisationale Wirklichkeitskonstruktion einzubringen, genauso wie der Umgang mit auftretenden Konflikten in Organisationen die Bereitschaft der Organisationsmitglieder beeinflusst, Alternativen in die Organisation einzubringen und verfestigte Wirklichkeiten zu hinterfragen und anzuzweifeln. Und ohne dies ist Wandel in Organisationen letztlich nicht möglich.
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